Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft: Ihre Bedeutung für den Menschen von heute 9783110895728, 9783110063363

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Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft: Ihre Bedeutung für den Menschen von heute
 9783110895728, 9783110063363

Table of contents :
I. Einführung
II. Orientierungsversuche des Menschen in frühgeschichtlicher Zeit
1. Das Problem
2. Weisheit im Alten Testament
3. Die Eigengesetzlichkeit der ägyptischen Kunst
4. Aspekte
III. Aufstieg und Problematik des neuhumanistischen Bildungsideals
1. Einleitung
2. Grundbegriffe von Niethammers Bildungsideal
3. Grundbegriffe von Humboldts Bildungsideal
4. Innere Problematik dieser Grundbegriffe
5. Das historische Schicksal des neuhumanistischen Bildungsideals
6. Die fortdauernde Gültigkeit der dem neuhumanistischen Bildungsideal zugrunde liegenden Fragen (Bildung und wirtschaftlicher Nutzen – Menschenbildung und Pädotechnologie)
7. Heutige Probleme einer humanistischen naturwissenschaftlichen Bildung
IV. Entstehung und Entwicklung der modernen Naturwissenschaften
1. Vorbemerkung
2. Das siebzehnte Jahrhundert (Die „neue Philosophie“: Gilbert, Galilei, Kepler)
3. Die Widerstände gegen die neue Naturerforschung
4. Die Konsolidierung der neuen Naturwissenschaft
5. Der Beginn der wissenschaftlichen Technik
6. Das achtzehnte Jahrhundert (Naturwissenschaft und Aufklärung – Die neue Technik: Watt’s Dampfmaschine)
7. Das neunzehnte Jahrhundert (Die Erweiterung der Sinnesorgane durch Apparate – Die erste Theorie des Lichts – Das Phänomen des „elektrischen Stroms“ – Elektromagnetische Induktion und Lichttheorie – Die Hertz’schen Wellen – Die Entwicklung der Elektrotechnik – Energiesatz und Atomistik – Das Leuchten der Atome)
8. Das zwanzigste Jahrhundert (Röntgenstrahlen – Kathodenstrahlung und Elektronik – Radioaktivität und künstliche Atomumwandlung – Elementarteilchen und Atomkernenergie – Die Kerntechnik – Quantentheorie und Welle-Dualismus)
V. Der Einbruch der Naturwissenschaft und Technik in unser heutiges Leben
VI. Das Menschenbild des Geisteswissenschaftlers
1. Einleitung
2. Die Kluft zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis
3. Erkenntnis und Interesse
4. Der Verzicht auf Menschenbilder
5. Verhalten und Handeln
6. Ansprechbarkeit
7. Wissenschaft und rationale Lebensführung
VII. Das Menschenbild des Naturwissenschaftlers
1. Einleitung
2. Methoden und erste Teilziele naturwissenschaftlicher Forschung
3. Über ein fundamentales Ziel naturwissenschaftlicher Forschung
4. Über die praktische Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und die sich daraus für die Naturwissenschaft ergebenden Probleme
5. Liefern naturwissenschaftliche Erkenntnisse bestimmte Wertmaßstäbe
6. Das Menschenbild des Naturwissenschaftlers
VIII. Zusammenschau und Perspektiven

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Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft

Geisteswissenschaft und

Naturwissenschaft Ihre Bedeutung für den Menschen von heute

Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von

Wolfgang Laskowski

Verlag Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970

© Copyright 1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp., Berlin 30 - Alle Rechte, einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vom Verlag vorbehalten. ArchivNr. 1401701 - Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 - Printed in Germany

Vorwort

Die Entwicklung der Wissenschaften hat zu einer besonders in Deutschland allgemein noch nicht überwundenen Trennung zwischen zwei Denkweisen geführt, die gekennzeichnet ist durch die Gegenüberstellung von Geistes- oder Kulturwissenschaften sowie Naturwissenschaften. Beide Wissenschaftsgruppen machen Aussagen über den Menschen und seine Umwelt und formen tiefgehend unser Leben. Während die Kulturwissenschaften, beeinflußt durch ein sich auf Fakten der klassischen Vergangenheit gründendes Bildungsideal, den Menschen zu deuten trachten, bemühen sich die Naturwissenschaften um eine experimentelle Analyse der Kräfte und Strukturen, die Belebtes und Unbelebtes - den Menschen und seine Umwelt - bedingen. Beide Wissenschaftsgruppen versuchen, bestimmte Teile der Wirklichkeit zu erkennen. Durch Einseitigkeiten und Mißverstehen hat sich jedoch im Bewußtsein der Allgemeinheit eine Kluft zwischen beiden aufgetan, die stark das Leben in unserer Gesellschaft beeinflußt und die zu überwinden dringend notwendig ist. Noch immer sehen Anhänger der Kulturwissenschaften in den Naturwissenschaften eine gefährliche Erscheinung, die mit quantitativen Methoden das wahre Wesen der Welt zu verdecken und die Beziehungen zwischen den Menschen negativ zu verändern drohen. Und Anhänger der Naturwissenschaften sind häufig gar zu geneigt, Kulturwissenschaftlern vorzuwerfen, ihre Bemühungen allzusehr ausschließlich auf die Vergangenheit und allenfalls die Gegenwart zu richten, ohne ein Gespür für Notwendigkeiten der Beurteilung zukünftiger Entwicklungen zu haben. Wie sehen nun diejenigen unter uns, die als Kultur- oder Naturwissenschaftler persönlich aktiv an der Weiterentwicklung der Wissenschaften beteiligt sind, diese Problematik? Gibt es objektive Zusammenhänge zwischen beiden Wissenschaftsgruppen? Welche Ansprüche und welche Erwartungen stellen Wissenschaftler an die Bildungsaufgaben ihrer Wissenschaft? Welche Hilfe-

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Vorwort

leistungen können die Wissenschaften dem heutigen Menschen bieten und welche Bedeutung kommt ihren Ergebnissen für unsere gegenwärtige und zukünftige Kultur zu? Diese für unsere gesellschaftliche Entwicklung sehr bedeutsamen Fragen lassen sich nicht von einem einzelnen, sei er Kultur- oder Naturwissenschaftler, umfassend beantworten. Nur Stellungnahmen von Vertretern beider Wissenschaftsgruppen ermöglichen es, ein nicht einseitig überbetontes Bild dieser brennenden Probleme zu entwerfen und gemeinsam zu diskutieren. Ein Versuch hierzu wurde im Rahmen der Abendvorträge der Freien Universität Berlin im Wintersemester 1969/70 unternommen. Die Stellungnahmen zu diesen Problemen von insgesamt sechs Kultur- und Naturwissenschaftlern werden hiermit einem größeren Kreis von Interessenten vorgelegt. Der Herausgeber dankt auch an dieser Stelle allen Beteiligten für ihre kritischen Bemühungen und hofft, dem interessierten Leser Ansätze zur Überwindung der für alle, die aufmerksam unsere kulturelle Situation beobachten, außerordentlich bedrückenden Problematik aufweisen zu können.

Berlin, im Mai 1970

W.L.

Inhalt

I. Einführung Prof. Dr. Wolfgang Laskowski,

Berlin

II. Orientierungsversuche des Menschen in frühgeschichtlicher Zeit Prof. Dr. Diethelm Michel, Berlin 1. Das Problem 2. Weisheit im Alten Testament 3. Die Eigengesetzlichkeit der ägyptischen Kunst 4. Aspekte III. Aufstieg und Problematik des neuhumanistischen Bildungsideals Prof. Dr. Johannes Flügge, Berlin 1. Einleitung 2. Grundbegriffe von Niethammers Bildungsideal 3. Grundbegriffe von Humboldts Bildungsideal 4. Innere Problematik dieser Grundbegriffe 5. Das historische Schicksal des neuhumanistischen Bildungsideals . . 6. Die fortdauernde Gültigkeit der dem neuhumanistischen Bildungsideal zugrunde liegenden Fragen (Bildung und wirtschaftlicher Nutzen - Menschenbildung und Pädotechnologie) 7. Heutige Probleme einer humanistischen naturwissenschaftlichen Bildung IV. Entstehung und Entwicklung der modernen Naturwissenschaften Prof. Dr. Walther Gerlach, München 1. Vorbemerkung 2. Das siebzehnte Jahrhundert (Die „neue Philosophie": Gilbert, Galilei, Kepler) 3. Die Widerstände gegen die neue Naturerforschung 4. Die Konsolidierung der neuen Naturwissenschaft 5. Der Beginn der wissenschaftlichen Technik 6. Das achtzehnte Jahrhundert (Naturwissenschaft und Aufklärung - Die neue Technik: Watt's Dampfmaschine) 7. Das neunzehnte Jahrhundert (Die Erweiterung der Sinnesorgane durch Apparate - Die erste Theorie des Lichts - Das Phänomen des „elektrischen Stroms" - Elektromagnetische Induktion und Lichttheorie - Die Hertz'schen Wellen - Die Entwicklung der

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Inhalt Elektrotechnik - Energiesatz und Atomistik - Das Leuchten der Atome) 8. Das zwanzigste Jahrhundert (Röntgenstrahlen - Kathodenstrahlung und Elektronik - Radioaktivität und künstliche Atomumwandlung - Elementarteilchen und Atomkernenergie - Die Kerntechnik - Quantentheorie und Welle-Dualismus)

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V. Der Einbruch der Naturwissenschaft und Technik in unser heutiges Leben 114 Dr. Robert Jungk, Berlin VI. Das Menschenbild des Geisteswissenschaftlers Prof. Dr. Klaus Schaller, Bochum 1. Einleitung 2. Die Kluft zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis 3. Erkenntnis und Interesse 4. Der Verzicht auf Menschenbilder 5. Verhalten und Handeln 6. Ansprechbarkeit 7. Wissenschaft und rationale Lebensführung

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VII. Das Menschenbild des Naturwissenschaftlers Prof. Dr. Wolf gang Laskowski, Berlin 1. Einleitung 2. Methoden und erste Teilziele naturwissenschaftlicher Forschung 3. Über ein fundamentales Ziel naturwissenschaftlicher Forschung . . 4. Über die praktische Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und die sich daraus für die Naturwissenschaft ergebenden Probleme 5. Liefern naturwissenschaftliche Erkenntnisse bestimmte Wertmaßstäbe 6. Das Menschenbild des Naturwissenschaftlers VIII. Zusammenschau und Perspektiven . •. Prof. Dr. Wolf gang Laskowski, Berlin

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I. Einführung Wolfgang Laskowski

Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften sind zunächst zwei recht klar voneinander abgrenzbare Wissenschaftsbereiche. Warum werden sie als Thema dieses Buches besonders einander gegenübergestellt, und warum wird nach ihrer Bedeutung für den Menschen von heute gefragt? Diese Fragen, vielfach aufgeworfen, kennzeichnen, daß der so Fragende noch nicht sieht, welche Bedeutung das Vorhandensein von geistes- und naturwissenschaftlichen Kenntnissen für die Gesellschaft in der wir leben, also für unsere heutige und zukünftige Gesellschaft, hat. Und er sieht sie - das sei hier freimütig behauptet - in vielen Fällen wohl deswegen nicht, weil ihm das Vorwiegen geisteswissenschaftlich begründeter Bildung ganz selbstverständlich erscheint. Nun gibt es zwar manche Meinungsdifferenzen darüber, was wohl unter einer geisteswissenschaftlich begründeten Bildung zu verstehen ist. Daher sei hier zunächst in aller Kürze festgestellt, daß damit eine Bildung skizziert werden soll, die sich im wesentlichen auf Philosophie, Geschichte, Philologie und Theologie, verbunden mit einer Vertrautheit mit Literatur und bildender Kunst, gründet. Z w a r sieht jeder die immer größere Bedeutung, die die Naturwissenschaft und ihr Folgeprodukt - die Technik - in unserer Gesellschaft spielen und in Zukunft stets weiter in steigendem Ausmaß spielen werden. Doch sind die meisten fast selbstverständlich davon überzeugt, daß die Denkweise der Naturwissenschaften, behaftet und vorangetrieben durch die Einführung einer Fülle von Abstraktionen, die in einer nur dem Spezialisten verständlichen Sprache ausgedrückt werden, auf einen kleinen Kreis von Spezialisten beschränkt bleiben kann. Wirklich naiv mutet es aber an, wenn dabei die Überzeugung aufrechterhalten bleibt, daß unter diesen Bedingungen unsere Gesellschaft weiterhin konkurrenzfähig bleiben könnte und damit eine lebenswürdige Um-

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Wolfgang Laskowski

welt gesichert sei. Niemand hat wohl diese Lage, die besonders die Naturwissenschaftler in der Bundesrepublik bedrückt, der Allgemeinheit deutlicher und nachdrücklicher ins Bewußtsein gerufen als Steinbuch in seinem Buch (1968) „Falsch programmiert". Er schreibt dort u. a. „Das für unser Land Typische dürfte darin liegen, daß die naturwissenschaftliche Kultur nicht bewußt wahrgenommen und artikuliert wird und daß sie die Barriere unseres Kommunikationsbetriebes kaum überwindet. Und wenn sie diese Barriere überwunden hat, die Aufnahmebereitschaft der Menschen unserer Gesellschaft bereits blockiert vorfindet: Blockiert von anerzogenen Mechanismen, welche auf die ,Schlüsselreize' der literarischen Kultur mit Zustimmung reagieren, auf die Informationen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich aber mit Unverständnis oder auch mit der Überheblichkeit, welche sagt: Die können uns doch nichts bieten, wir sind viel anspruchsvoller, wir haben unseren Bedarf an Wahrem, Gutem und Schönem schon an anderer Stelle gedeckt, und anderes interessiert uns nicht. Die naturwissenschaftliche Kultur hat in unserem Lande keine Chancen, solange unser Bildungswesen einseitig auf die Anerziehung solcher Scheuklappen-Reaktionen ausgerichtet ist. Hierzu gehört zum Beispiel, daß man in unserem Lande die Formulierung ,naturwissenschaftliche Kultur' bereits als eine Art Provokation ansieht. Kennzeichnend für diese Situation ist die Tatsache, daß wir bis vor wenigen Jahren keine für den Nichtspezialisten lesbare wissenschaftliche Zeitschrift hohen Niveaus hatten." Ähnliche Gedanken, wie sie K. Steinbuch mit großem Geschick den Deutschen eindringlich vor Augen führt, hat C. P. Snow bereits neun Jahre früher (1959) in einer berühmt gewordenen Vorlesung vorgetragen. Sie sind in Deutschland unter dem Titel „Die zwei Kulturen" inzwischen (1967) ebenfalls veröffentlicht worden. Aus diesem Buch wird später noch zitiert werden. Beide Bücher wurden von Autoren geschrieben, die Naturwissenschaftler oder genauer gesagt zumindest vorwiegend Naturwissenschaftler sind. Um die Beweggründe für die verschiedenartigen Verhaltensweisen von Angehörigen beider „Kulturbereiche" deutlicher zu machen, um relevante Entscheidungen und deren Konsequenzen

Einführung

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also transparenter erscheinen zu lassen, könnte eine Diskussion zwischen Vertretern beider „Kulturbereiche" einen nicht zu unterschätzenden Beitrag liefern. Daß die einen Diskussionspartner hierbei Naturwissenschaftler sind, bedarf keiner Erörterung. Wer aber kann den „literarischen Kulturkreis" in einer solchen Diskussion vertreten, seine Bildungsansprüche begründen und seine Stellungnahme zum Aufkommen der neuen naturwissenschaftlichen Kultur darlegen? Nach Abwägung vieler Möglichkeiten erscheinen hierzu Pädagogen unentbehrlich. Sie sind es, die sich mit kritischen Analysen von Bildungszielen besonders zu beschäftigen haben. Nun bedarf eine jede Diskussion, soll sie auch vom Leser mit Interesse zu Ende verfolgt werden, eines Leitfadens, der davor bewahrt, sich zu sehr in mannigfaltige Betrachtungsweisen zu verlieren, die sich bei so weit gestecktem Rahmen überall eröffnen. Beim Festlegen eines solchen Leitfadens sind natürlich subjektive Meinungen desjenigen, der sich bemüht, diesen Leitfaden zu entwickeln, unvermeidbar. Damit der Leser schon jetzt weiß, was er im wesentlichen zu erwarten hat, sei der „rote Faden", der die folgenden Erörterungen durchzieht, stark gestrafft hier ausgelegt. Ausgegangen wird von der Voraussetzung, daß der Mensch Wissenschaft betreibt, um möglichst zuverlässige Vorstellungen von sich, seiner Umwelt und den Beziehungen zwischen sich und der Umwelt zu erlangen. Die Summe möglichst zuverlässiger einzelner Vorstellungen kann sich zu einer Gesamtschau verdichten, die dem Menschen Orientierungen und Entscheidungen der verschiedensten Art ermöglicht und ihm damit zielgerichtete Handlungen, die nicht nur auf Nahziele beschränkt sein müssen, gestattet. Da der Mensch als einziger Organismus in der Lage ist, seine Gedanken weit in Vergangenheit und Zukunft zu projizieren, sind Orientierungshilfen, also zuverlässige Vorstellungen, für ihn ein notwendiges Hilfsmittel seiner Existenz. Welche Hilfsmittel als besonders notwendig für die Allgemeinheit einer bestimmten Gesellschaft angesehen werden, darüber geben uns Bildungspläne und Bildungsziele, die in dieser Gesellschaft diskutiert und realisiert werden, Vorstellungen.

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Wolfgang Laskowski

Natürlich sind die Bildungsziele in verschiedenen historischen Situationen verschieden. Das sollte uns heute besonders deutlich sein, da wir uns gerade am Beginn der Diskussion neuer Bildungsziele befinden. Einen Beitrag hierzu soll auch dieses Buch liefern. Um einen Eindruck von der Wandelbarkeit von Bildungsvorstellungen zu bekommen und Entwicklungen auf diesen Gebieten anzudeuten - Entwicklungen sind ja die Grundlage aller Lebensprozesse - so erschien es zweckmäßig, die Diskussion mit einer Skizzierung der Orientierungsversuche der Menschen in frühgeschichtlicher Zeit, also zu einer Zeit, als es noch keine Wissenschaft im heutigen Sinne gab, zu beginnen. Der Leser wird hier, von Diethelm Michel, der als Alttestamentier über besondere Erfahrungen in der Deutung alter Texte und Sinnsprüche verfügt, mit einer Orientierungsschau konfrontiert, die sich wesentlich von der uns heute geläufigen unterscheidet und die Weite möglicher menschlicher Orientierungsbemühungen besonders deutlich werden läßt. Natürlich ist es nicht möglich und auch nicht zweckmäßig, die Wandlungsprozesse in den Bildungsvorstellungen der menschlichen Gesellschaften kontinuierlich während ihrer Geschichte von 3000-4000 Jahren zu verfolgen. Nur einzelne symptomatische Perioden können herausgegriffen werden. Für die Beurteilung der uns interessierenden Entwicklungsvorgänge in Deutschland erscheint eine Diskussion der Entstehung des sogenannten neuhumanistischen Bildungsideals und seiner Problematik von besonderer Bedeutung. Johannes Flügge skizziert die Grundlagen, die errichtet wurden, und, wenn auch vielfältig abgewandelt, so doch bis in unsere heutige Zeit hinein eine Wirksamkeit verspüren lassen. Welche Probleme zu Veränderungen dieses Bildungsideals führten und welche Ansätze sich daraus für neue Entwicklungstendenzen ergeben, wird exemplarisch erörtert. Nach den Darlegungen zweier Geisteswissenschaftler bedarf nun der naturwissenschaftliche Beitrag zur Entwicklung der Bildungssituation einer Erörterung. Dabei wird so verfahren, daß zunächst die Entstehung und Entwicklung der modernen Naturwissenschaft skizziert wird. Von Walther Gerlach wird dabei

Ginführung

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besonderer Wert darauf gelegt, hinzuweisen auf das seit etwa 400 Jahren immer stärker beschleunigte Vermögen des Menschen, zu neuen und unvermuteten Erkenntnissen zu gelangen. Das kann natürlich wieder nur exemplarisch an Teilbereichen der Naturwissenschaften geschehen. Ihr Hauptgebiet, die Physik, bietet sich hierfür als besonders geeignet an. Es bleiben die Auswirkungen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und ihres direkten Folgeproduktes, der Technik, auf den heutigen und zukünftigen Menschen zu erörtern, sowie dessen Reaktionen auf seine sich immer mehr technisierende Umwelt. Die Problemlage läßt sich in vielfältiger Weise sehen und analysieren. Robert Jungk unterbreitet hierzu seine Vorstellungen. Das Verhältnis von Mensch und Umwelt, die sich durch seine eigene Aktivität immer stärker verändert, war Schwerpunkt der bisherigen Betrachtungen. Es ist Grundlage und notwendige Voraussetzung für die abschließende Skizzierung der heutigen und zukünftigen Situation, wie sie sich für einen Vertreter der Geisteswissenschaften sowie der Naturwissenschaften abzeichnen. Diese Aufgabe wird von Klaus Schaller und dem Herausgeber übernommen. Es wird sich erweisen, was manchem Leser zunächst vielleicht verwunderlich erscheint, daß die Vorstellungen von Wissenschaftlern beider Teilgebiete der Wissenschaften über den Menschen und seine Umwelt - also kurz gesagt ihr Menschenbild — gar nicht so stark divergieren, wie man aus der eingangs geschilderten unterschiedlichen Bewertung der Bildungsziele erwarten sollte. Diese teilweise Übereinstimmung in grundlegenden Fragen eröffnet hoffnungsvolle Wege und Möglichkeiten zur Bewältigung der ausstehenden Probleme. Über mögliche Schritte, diese in der nächsten Zukunft zu beschreiten, wird schließlich in einem abschließenden Ausblick nachzudenken sein.

II. Orientierungsversuche des Menschen in frühgeschichtlicher Zeit Diethelm Michel

1. Das Problem Mittels seiner Sprache kann der Mensch Erkenntnisse fixieren und damit lernbar machen. Auf diesem so simpel klingenden Phänomen ruht der ganze menschliche Fortschritt. Keiner von uns muß wie ein Tier immer genau das und nur das tun, was Tausende und Millionen von Artgenossen vor ihm immer auch schon getan haben. Wenn ich meinen Hund ausführe und er immer wieder an bestimmten Bäumen stehenbleibt, aufgeregt schnuppert und sein Bein hebt, dann möchte ich ihm manchmal sagen: „Das hat doch keinen Sinn! Du brauchst hier in Berlin nun wirklich nicht dein Jagdrevier durch Duftmarken zu kennzeichnen, damit andere Artgenossen wissen: Hier ist dein Reich! Hier bist du Herr! Das ist doch in Berlin wirklich Blödsinn! Und das ist auch deshalb Blödsinn, weil du hier ja gar nicht mehr jagen darfst." Ich kann ihm das leider nicht klarmachen, und so handelt mein Harras weiter so, wie Millionen seiner Artgenossen vor ihm gehandelt haben und wie seine Nachkommen auch noch handeln werden. Der Mensch dagegen kann die sprachlich fixierten Erkenntnisse anderer zu seinen eigenen machen; er kann, auf guten und schlechten Erfahrungen anderer aufbauend, sich immer besser in seiner Welt orientieren. Wir alle bergen so die Erfahrungen von Tausenden in uns, die uns durch die Sprache zugänglich geworden sind. Keiner von uns muß alles selber ausprobieren, keiner von uns muß alle Fehler erst einmal selber machen, um aus ihnen lernen zu können, keiner von uns muß alle Erfolgsrezepte selber finden, um weiterkommen zu können. Uns allen steht ein gewaltiger, sprachlich fixierter Vorrat an Erfahrungen zur Verfügung.

Orientierungsversuche des Menschen in frühgeschichtlicher Zeit

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Dieses Phänomen scheint ganz simpel zu sein. Was gibt es denn Selbstverständlicheres als eben dies, daß der Mensch sich sprechend mitteilen kann? Das lernt man als kleines Kind und das tut man sein Leben lang tagaus, tagein. Aber wenn man einmal angefangen hat, über dieses Simple nachzudenken, wird es immer rätselvoller und geheimnisvoller. Was befähigt eigentlich die menschliche Sprache dazu, etwas anderes mitteilbar zu machen? Wieso verstehen wir mittels der Sprache, wenn ein anderer uns etwas sagen will, was wir vorher noch nicht wissen? Wieso kann sprachlich fixierte Erfahrung eigene Erfahrung ersetzen? Wieso können wir die Erfahrungen und Erkenntnisse von Tausenden mittels der Sprache uns einverleiben? Das Thema „Orientierungsversuche des Menschen in frühgeschichtlicher Zeit" ist sehr weit gespannt. Mit nicht allzu viel Phantasie kann man unter „Orientierungsversuch" fast alles begreifen, was Menschen getan haben und tun. In dem zur Verfügung stehenden Rahmen müssen wir das Thema natürlich begrenzen und werden die oben gestellten Fragen nicht theoretisch zu beantworten versuchen, sondern betrachten, wie Menschen ihre Erfahrungen durch sprachliche Fixierungen handhabbar, weitergebbar und lernbar gemacht haben. Wir werden diesen Vorgang zu erfassen und einige Erwägungen über seine Hintergründe anzustellen versuchen. Wir werden uns mit dem beschäftigen, was in der Terminologie der Altorientalisten und der Alttestamentler „Weisheit" heißt. Das Phänomen der „Weisheit" ist international. Weisheit findet sich bei Ägyptern, Sumerern, Babyloniern, Israeliten. Weisheitssprüche finden sich aber auch in der Edda. Weisheit in dem hier zu behandelnden Sinn ist allgemein menschlich. Dieser allgemein menschliche Charakter der „Weisheit" gestattet es, daß ich mich - trotz des umfassend formulierten Themas - zunächst auf mein Fachgebiet beschränke und in einem ersten Teil kurz die alttestamentliche „Weisheit" vorführe. Entsprechendes gilt für alle anderen Erscheinungsformen der Weisheit im Alten Orient. In einem zweiten Teil werden wir dann sehen, daß einige Erkenntnisse aus der ägyptischen Kunst uns beim Verständnis des Phäno-

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Diethelm Michel

mens Weisheit hilfreich sein können. In einem dritten Teil sollen dann einige grundsätzliche Erwägungen angeschlossen werden.

2. Weisheit im Alten Testament1 Die erste Feststellung wird vielleicht manchen verwirren: „Weisheit" im Alten Testament und im Alten Orient ist keine Weisheit in dem Sinn, den wir heute in unserer Sprache mit diesem Wort verbinden. Kein geringerer als Thomas Mann hat das festgestellt. Er hat bemerkt 2 , in der deutschen Übersetzung bezeichne das Wort „Weisheit eine ins Schelmische gesteigerte Klugheit", und er hat damit genau den Kern des Problems getroffen. Für unser Sprachempfinden ist ja „Weisheit" etwas Tieferes, etwas Tiefsinnigeres als Klugheit. Wir können sagen, jemand handle zwar klug, aber nicht weise. Für unser Empfinden gilt eher die Umkehrung des Satzes von Thomas Mann: „Klugheit ist eine ins Schelmische gesteigerte Weisheit" 3 . Im Alten Testament wie im gesamten Alten Orient ist mit Weisheit gemeint: Sachverständige Tüchtigkeit, die Kunst des know-how. In diesem Sinn soll von jetzt an das Wort „Weisheit" verstanden werden. Wie geht nun solche „sachverständige Tüchtigkeit", solche Weisheit vor bei ihrem Unternehmen, sich in der Welt zu orientieren? Eine Flut von Eindrücken, Erfahrungen, Erscheinungen stürmt auf den Menschen der Frühzeit ein. Wenn er sich in ihnen zurechtfinden, wenn er sich orientieren will, muß er versuchen, in diesem Wirrwarr Ordnungen, Gesetzmäßigkeiten zu finden. Und er muß versuchen, diese erlebten Gesetzmäßigkeiten mittels der Sprache zu fixieren. Der Satz „Kommt Übermut, kommt Schande" (Spr. 11,2)4 ist ζ. B. sicherlich das Ergebnis einer langen Reihe aufmerksamer Beobachtungen, und dieses Ergebnis ist sicherlich nicht ohne leidvolle Erfahrungen gewonnen worden. Daß es sich hier um eine allgemein menschliche „Gesetzmäßigkeit" handelt, zeigt unser deutsches Sprichwort: „Hochmut kommt vor dem Fall", das die-

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selbe Erfahrung spiegelt. Entsprechende Formulierungen anderer Völker ließen sich leicht beibringen. - „Wer im Sommer sammelt, ist ein kluger Sohn; wer bei der Ernte schläft, ist ein schandbarer Sohn" (Spr. 10,5) - „Der Frevler erwirbt trügerischen Gewinn, aber wer Gerechtigkeit sät, beständigen Lohn" (Spr. 11,18). Deutsch: „Unrecht Gut gedeiht nicht." Jeder von uns kennt eine Fülle solcher Sprichwörter. Vielleicht hat mancher bei den eben zitierten die Empfindung, hier werde mit sehr viel Emphase eine Banalität, eine Platitüde, angeführt. Was ist denn schon besonderes an solchen Wörtern? Außerdem: Sie stimmen ja keineswegs immer. Morgenstund' hat ja gar nicht immer Gold im Mund. Lügen haben ja nicht immer kurze Beine. So kann nur empfinden, wer all solche Erfahrungen von Kindesbeinen an beigebracht bekommen und sie als selbstverständlich übernommen hat. Die Alten, die solche Sätze zum ersten Mal formulierten, haben die Allgemeingültigkeit sicher als befreiend empfunden. Gerade sie ermöglichte ja die sichere Orientierung in der verwirrenden Fülle der Erscheinungen. Gerhard von Rad, der diesen Charakter der hebräischen Weisheit als erster klar erkannt hat, weist sehr schön darauf hin, daß besonders die Sprüche, die etwas Paradoxes als allgemeine Gesetzmäßigkeit fixieren, den befreienden Charakter der allgemeinen Wahrheit deutlich spüren lassen. 5 „Der Satte tritt Honig mit Füßen, aber dem Hungrigen schmeckt alles Bittere süß" (Spr. 27,7) - es ist sicherlich zunächst höchst verwirrend, daß der eine Mensch Honig gering schätzt und einem anderen Bitteres süß schmeckt, bis man eben erkannt hat, daß das auf den ersten Blick unverständliche Verhalten gegenüber Honig und Bitterem wie eine Gesetzmäßigkeit aus Sattsein und Hunger folgt. In solchen Weisheitssprüchen manifestiert sich eine ganz „elementare Form der Lebensbemächtigung" 6 . Vermutlich geht es uns allen gleich: Wenn wir solche Sprüche hören, empfinden wir sehr stark ihren belehrenden Charakter. Sicherlich ist daran richtig, daß all diese Sprüche eine didaktische Funktion haben: sie sollen ja anderen eine erlebte und erkannte Ordnung mitteilbar machen. Aber die didaktische Funktion ist 2 Laskowski, Geisteswissenschaft

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nicht primär: zunächst einmal geht es um die Erkenntnis und Fixierung einer Ordnung. Alle mahnenden Sprüche, die wir in der Weisheit finden, sind deshalb als Transformationen von feststellenden zu verstehen: „Antworte dem Toren nicht nach seiner Torheit, damit du ihm nicht gleich wirst" geht sicher zurück auf: „Wer einem Toren nach seiner Torheit antwortet, wird ihm gleich." Das Didaktische, so wichtig es auch ist, ist sekundär gegenüber dem Konstatierenden. Betrachten wir nun diese Art der Lebensbemächtigung etwas genauer! „Wenn wir die Welt begreifen als eine Mannigfaltigkeit von Einzelwahrnehmungen und Einzelerlebnissen, ergeben zwar diese Wahrnehmungen und Erlebnisse, reihenweise erfaßt und zusammengefaßt, jeweilig die Erfahrung, aber auch die Summe dieser Erfahrungen bleibt eine Mannigfaltigkeit von Einzelheiten. Jede Erfahrung wird jedesmal selbständig begriffen, ein Erfahrungsschluß ist in dieser Weise und in dieser Welt nur in sich selbst und aus sich selbst bindend und wertbar." 7 Als Ergebnis dieser Art von Wahrheitssuche erhalten wir eine Sammlung von Wahrheiten, die nicht zu einem in sich einheitlichen und widerspruchslosen System zusammengearbeitet werden. Jede aus der Erfahrung gewonnene Wahrheit wird in ihrer Besonderheit gelassen. Das kann manchmal zu einem merkwürdigen Nebeneinander führen: Antworte dem Toren nicht nach seiner Torheit, damit du ihm nicht gleich wirst! Antworte dem Toren nach seiner Torheit, damit er sich nicht weise vorkommt! (Spr. 26,4-5) Offensichtlich stehen hinter diesen gegensätzlichen Ermahnungen zwei verschiedene Erfahrungen. Wenn man auf ein törichtes Argument in einer Diskussion eingeht, kann dabei herauskommen, daß man auf die Ebene des Toren hinabgezogen wird und selber als Tor erscheint. Es kann aber auch vorkommen, daß der Tor sich erhaben und klug vorkommt, wenn man ihm nicht antwortet und seine Torheit bloßlegt. Aus diesen beiden Erfahrungen resultieren die unterschiedlichen Ermahnungen, dem Toren nicht

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zu antworten und ihm zu antworten. Der Sachverhalt wird noch deutlicher, wenn wir die beiden Mahnungen auf Aussagesätze zurückführen: Wer einem Toren nach seiner Torheit antwortet, wird ihm gleich. "Wer einem Toren nach seiner Torheit nicht antwortet, macht, daß er sich klug vorkommen kann. In dieser Form sind die beiden Sätze zweifellos Fixierungen von Erlebnissen, von Erfahrungen. In dieser Form können sie auch für unser Empfinden mit Recht nebeneinander stehen. Aber bezeichnenderweise lassen die alten Weisen dieses Nebeneinander auch bestehen, wenn sie die Erfahrung in eine Mahnung ummünzen. Sie streben gar nicht nach einer Harmonisierung, die für unser Empfinden notwendig wird, weil hier zu gegensätzlichen Handlungen aufgefordert wird. Woran soll man sich denn halten? Die Antwort, die verbindliche Antwort auf diese Frage bleiben sie schuldig. Die hier greifbare Haltung, die Wahrheiten addierend nebeneinanderstellt, unterscheidet sich grundlegend von einer anderen, die Wahrheiten systematisch zu einer Gesamtschau zusammenarbeitet. Die addierende Wahrheitsaneignung der Weisheit beruht auf der reinen Empirie, die systematische, die wir aus Philosophie und Theologie, aber eben auch aus der modernen Naturwissenschaft kennen, beruht im Grunde auf der These, daß die Welt einheitlich ist und sich deshalb alle Wahrheiten zu einem lückenlosen System zusammenordnen lassen. Wir werden auf dieses Problem noch zurückkommen. Zunächst seien aber noch einige weitere Weisheitssprüche angeführt. Es liegt auf der Hand, daß für den Weisen die Erkenntnis einer Ordnung um so eindeutiger war, je mehr Beispiele er für sie anführen konnte. Besonders reizte es ihn anscheinend, Erscheinungen aus dem menschlichen und dem außermenschlichen Bereich zusammenzustellen. Er sah offensichtlich im außermenschlichen Bereich dieselben Ordnungen wirksam wie im menschlichen Bereich, deshalb reden wir für diese Zeit besser nicht von Natur, weil für uns mit diesem Wort sofort der Begriff der Naturgesetze verknüpft ist. Man kann zum Beispiel die Erfahrung machen, daß anscheinend untrügliche Vorzeichen doch trügen. Man kann diese Er2*

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fahrung im außermenschlichen Bereich machen, wenn der Himmel sich bewölkt und alles auf Regen hindeutet, er aber doch nicht kommt. Man kann diese Erfahrung im menschlichen Bereich machen, wenn jemand eine Gabe verspricht, sie aber nicht gibt. Der Weise bringt dann diese Erfahrungen, die anscheinend zunächst gar nichts miteinander zu tun haben, in einem Weisheitsspruch zusammen: Wolken und Wind - und kein Regen ein Mann, der mit Gaben prahlt, ohne sie zu geben. Durch die Zusammenstellung von anscheinend völlig verschiedenen Erscheinungen gewinnt die Erfahrung, die zur Orientierung im menschlichen Leben dienen soll, sicherlich größeres Gewicht, und vermutlich ist derjenige, der diese beiden Erscheinungen als erster zusammengebracht hat, auf seine Leistung stolz gewesen. Ähnliche Weisheitssprüche: Nordwind erzeugt Regen und verdrießliche Gesichter eine heimliche Zunge. (Spr. 25,23) Wenn die Holzscheite zu Ende sind, erlischt das Feuer, wenn kein Verleumder da ist, erlischt der Streit. (Spr. 26,20) Man packt einen vorüberlaufenden Hund bei den Ohren man mischt sich in einen fremden Streit. (Spr. 26,17) Typisch für diese Sprüche ist, daß sie mit dem Beispiel aus dem außermenschlichen Bereich beginnen und auf den menschlichen Bereich hinzielen. Ihm gilt das eigentliche Interesse; wenn eine „Ordnung" auch im außermenschlichen Bereich gilt, stützt sie dieselbe Ordnung im menschlichen. Man kann sogar einen irrealen Fall erfinden, um einen Fall aus dem menschlichen Bereich durch die Entsprechung zu beleuchten: Ein goldner Ring im Rüssel einer Sau eine Frau ist schön und weicht ab von Schicklichkeit. (Spr. 11,22) Noch wichtiger wird natürlich eine Ordnung, wenn sich mehr als zwei Belege für sie beibringen lassen. Dann fügt man sie in einem „Zahlenspruch" zusammen. So kann man durch Erfahrung lernen, daß sich allem Bemühen zum Trotz manche Erscheinungen

Orientierungsversache des Menschen in frühgeschichtlicher Zeit

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nicht vorherberechnen lassen, daß ihr „Weg" sich allem ordnenden, nach Orientierung strebenden Zugreifen entzieht. Wohin der Adler, der am Himmel schwebt, sich wenden wird, weiß niemand. Ebensowenig kann man vorhersagen, wohin die Schlange, die sich gerade auf einem Felsen windet, kriechen wird. Und wo ein Schiff, das von Wind und Wetter abhängig ist, an Land stoßen wird, wer kann das schon wissen? Das alles sind Erscheinungen, die sich dem Zugriff des Weisen entziehen. Was liegt näher, als auch sie zusammenzustellen ? Drei Dinge sind mir zu hoch, und vier kann ich nicht verstehen: der Weg des Adlers am Himmel, der Weg der Schlange auf dem Felsen, der Weg des Schiffes mitten auf dem Meer und nun kommt der Clou, für den diese drei Erfahrungen nur erklärende Beispiele sein sollten: der Weg eines jungen Mannes bei einer jungen Frau. (Spr. 30,18-19) Die letzten Beispiele enthielten zweifellos Elemente des Witzes. Wir dürfen uns also die alten Weisen nicht als Griesgrame vorstellen, die bei ihrem Unternehmen der Orientierungssuche keinen Sinn für Humor gehabt hätten. Im Gegenteil! Andererseits aber dürfen solche witzig formulierten Sprüche nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Unternehmen, sich mittels fixierter Erfahrungen in der Welt zu orientieren, eine ungemein ernste und für den menschlichen Fortschritt unentbehrliche Angelegenheit war. Bei seinem ordnenden, nach Orientierung strebenden Bemühen stößt nun der Weise darauf, daß bestimmte Handlungen bestimmte Folgen haben, daß man, wenn man etwas erreichen will, diesen Zusammenhang von Ursache und Wirkung erkennen muß. Wer seinen Acker bebaut, wird satt an Brot, wer nichtigen Dingen nachjagt, ist unsinnig. (Spr. 12,11) Wer seinen Mund hütet, bewahrt sein Leben, wer seine Lippen aufreißt, dem kommt Verderben. (Spr. 13,3)

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Wer seinen Feigenbaum pflanzt, ißt dessen Frucht, wer seines Herrn wartet, wird geehrt. (Spr. 27,18) Und da der Weise derjenige ist, der diese verborgenen Zusammenhänge durchschaut, kann man ganz allgemein sagen: Wer auf sein Herz vertraut, ist ein Tor, aber wer in Weisheit handelt, wird gerettet. (Spr. 28,26) Der Kluge sieht das Unheil und verbirgt sich, die Einfältigen gehen weiter und müssen es büßen. (Spr. 27,12) Wer also weise handelt, dem geht es gut, wer aber töricht handelt, dem geht es schlecht: Die Lehre des Weisen ist eine Quelle des Lebens, die Fallen des Todes zu vermeiden. (Spr. 13,14) Von solchen Sprüchen her hat man früher geglaubt, der Weisheit einen billigen Eudämonismus vorwerfen zu müssen, man hat von Utilitarismus und Nützlichkeitsethik geredet. Ganz falsch ist das nicht, denn der Weise will ja nun in der Tat die Gesetzmäßigkeiten finden, die sein Leben verbessern können - was soll daran schon Verachtenswertes sein? Die alten Weisen aber hätten sich sicherlich gegen diesen Vorwurf gewehrt. Für sie war die Ordnung nämlich nicht zufällig, sondern von Gott gesetzt. Wenn man sich um ihre immer bessere Erkenntnis bemühte, dann diente man nicht nur sich selber und seinem Vorteil (das tat man natürlich auch, warum denn nicht?), sondern man leistete seinen Beitrag zur Aufhellung der göttlichen Ordnung. Und wenn man entsprechend der Ordnung handelte, dann verwirklichte man die gottgewollte Ordnung und nicht nur seinen eigenen Vorteil. Das wird ζ. B. in Ägypten ganz deutlich, wo man diese Ordnung Maat nannte und in ihr die Weltordnung sah, die sogar das Handeln der Götter bestimmte. 8 Die Maat war als rechte Ordnung aller Dinge in der Urzeit zu den Menschen gekommen, sie war durch die bösen Anschläge des Seth gestört und durch Horus wiederhergestellt worden. Als Verkörperung des Horus setzte jeder König sie bei seiner Inthronisation wieder ein. 9 Kurz: Die Maat ist die Schöpfungsordnung, die den Bestand der Welt garantiert und die der Mensch

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seinerseits in seinen Handlungen zu garantieren hat. Wer die Maat tut, stärkt nach ägyptischem Glauben die göttliche, welterhaltende Kraft, und damit dient er letztlich auch sich selbst. Man kann geradezu sagen: Die Frage nach dem eigenen Nutzen wird eingeordnet unter die Frage, was für die gesamte Schöpfung nützlich ist. Und in Israel wurde Jahwe, der Gott Israels, als Garant dieser Ordnung angesehen: Allerorten sind Jahwes Augen, überwachend Gute und Böse. (Spr. 15,3) Der Gute erlangt Wohlgefallen von Jahwe, aber den tückischen Mann verdammt er. (Spr. 12,2) Freilich geriet in Israel diese Vorstellung von Gott als Garantem, um nicht zu sagen als Verkörperung dieser Ordnung, in Konflikt mit der Vorstellung vom in der Geschichte frei handelnden Gott aber das ist hier nicht unser Thema. Uns interessiert hier, daß die alten Weisen zwar nach immer besserer Orientierung in ihrem Leben strebten, daß sie durch Erkenntnis der verborgenen Ordnungen immer mehr die Welt in den Griff bekommen wollten, daß sie aber überzeugt waren, dabei mehr als ihren eigenen Vorteil zu suchen: sie wollten die gottgesetzte, die göttliche Ordnung aufspüren. Grundsätzlich aber wird man dennoch sagen müssen, daß diese Weisheit zutiefst anthropozentrisch war. Sie war getragen von einem optimistischen Glauben an die Möglichkeiten des menschlichen Verstandes. Die Erscheinungen der Welt mögen zwar verworren und unübersichtlich sein, aber mit genügender Energie und vielleicht auch mit genügendem Erleiden schmerzhafter Erfahrungen kann der Mensch Ordnungen aufdecken, die ihm in Zukunft helfen können und die man auch anderen vermitteln kann. So gehört notwendig neben den Glauben an die Möglichkeiten des menschlichen Verstandes der Glaube an Ordnungen, die den Geschehnissen der Welt zugrunde liegen und die sich vom Menschen entdecken lassen wollen. Erst bei diesen Ordnungen kommt für den Weisen Gott ins Spiel.

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Soweit eine grobe Skizze der Weisheit, in der wir den Niederschlag von Orientierungsversuchen der Menschen in frühgeschichtlicher Zeit haben. An einem Punkte sei aber kurz versucht, diese Skizze etwas auszumalen. Wir hatten gesehen, daß die Weisen ihre Erfahrungen nicht zu einem systematischen Gesamtbild zusammenfügen, sondern in ihrer jeweiligen Besonderheit stehen lassen. Ihre Wahrheitsaneignung besteht in einer Addierung von empirischen Erfahrungen, nicht aber im Versuch einer systematischen Gesamtschau. Diese Haltung gegenüber der Wahrheitsfrage finden wir nun nicht nur in der altorientalischen Weisheit, sondern in der gesamten Kultur des Alten Orients. Am Beispiel der ägyptischen Kunst sei versucht, das zu erläutern.

3. Die Eigengesetzlichkeit der ägyptischen Kunst Vermutlich hat jeder schon einmal altägyptische Bilder und Reliefs betrachtet, und sicherlich ist ihm dabei das aufgefallen, was uns als Menschen unserer Zeit und unseres Kulturkreises als erstes in die Augen springt: die ägyptischen Darstellungen kennen keine Perspektive. Vielleicht teilt mancher auch das weitverbreitete Urteil, diese Eigentümlichkeit sei als ein Mangel, als ein „Noch nicht" zu beurteilen. Denn, so lautet eine Ansicht, die man immer wieder hören kann, wenn die Ägypter die Perspektive entdeckt gehabt hätten, hätten sie sie doch wohl auch angewandt. Doch ist diese weitverbreitete Ansicht bei näherem Zusehen keineswegs so einleuchtend wie auf den ersten Blick. Daß ein Mensch, der einige hundert Meter von mir entfernt ist, mir kleiner erscheint als jemand, der direkt vor mir steht, ist eine so primitive Beobachtung, daß die Ägypter sie bestimmt auch gemacht haben. Warum aber sind sie dann nicht auf den - uns so naheliegenden Gedanken gekommen, diese Beobachtung in ihren Bildwerken darzustellen? Daß ihnen, die doch auf anderen Gebieten so erstaunliche geistige Leistungen vollbracht haben, dazu die Fähigkeiten gefehlt hätten, ist eine absurde Annahme. Die Frage drängt sich auf: Sollte ihnen vielleicht gar nicht so viel wie uns an diesem

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Gedanken gelegen haben? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuvor eine andere klären: Lassen sich in der ägyptischen Kunst selbst Elemente aufzeigen, die einen Verzicht auf perspektivische Darstellung erklären können? Kurz: Wir müssen nach der Eigengesetzlichkeit der ägyptischen Kunst fragen. Was im folgenden vorgetragen werden soll, stützt sich vor allem auf die Forschungen von Heinrich Schäfer, die er in seinem 1918 erschienenen Buch „Von ägyptischer Kunst" dargelegt hat 10 . Natürlich kann in diesem Rahmen auch kein umfassender Überblick über die ägyptische Kunst gegeben werden - abgesehen davon, daß der Autor dazu gar nicht kompetent wäre. Es sei lediglich versucht, Schäfers Entdeckungen über die in der ägyptischen Kunst sich aussprechende Denkstruktur in ihren wesentlichen Zügen zu referieren, und diese Darstellung sei auf die Flachkunst, also auf Zeichnungen und Reliefs, beschränkt. Beginnen wir unsere Erwägungen damit, daß wir uns an einem einfachen Beispiel Rechenschaft darüber geben, was eigentlich perspektivische Darstellung bedeutet. Wir zeichnen ζ. B. einen Tisch, der doch eine rechtwinklige Platte und vier gleichlange Beine hat, mit einer schiefwinkligen Platte und verkürzten ent-

fernteren Beinen. Der Grund ist klar: diese Darstellweise ist sehbildgetreu. So und nicht anders sehe ich den Tisch, deshalb stelle ich ihn auch so dar. Wenn ich meinen Standpunkt veränderte, würde sich auch mein Sehbild verändern, folglich müßte sich auch meine Darstellung verändern. Die perspektivische Darstellweise läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Ich zeichne den Tisch

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so, wie er mir von meinem augenblicklichen, zufälligen und vorübergehenden Standpunkt aus als Sehbild erscheint. Betrachten wir nun, wie ein Ägypter denselben Tisch gezeichnet haben könnte (wir müssen „könnte" sagen, weil für einen Ägypter mehrere Darstellmöglichkeiten bestanden, wie wir gleich sehen werden). Die rechtwinklige Platte wird auf jeden Fall rechtwinklig wiedergegeben. Die Beine sind, wenn alle vier dargestellt werden, auf jeden Fall gleichlang. Prüft man nun, wie eine solche Darstellung zustandekommt, so ergibt sich folgendes: Jeder Gegenstand oder Teil eines Gegenstandes wird in der für ihn typischen geraden Ansicht, also unter einem Blickwinkel von 90°, betrachtet. Die auf diese Weise gewonnenen typischen Ansichten werden dann zu einem Bild zusammengesetzt, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie in dieser Zusammenstellung jemals dem menschlichen Auge als Sehbild erscheinen können. Man muß ein solches Bild gewissermaßen lesen und in mehrere Aussagen auflösen: 1. der Tisch hat eine rechtwinklige Platte, 2. er hat vier gleichlange Beine. Maßgebend bei der Darstellung ist also nicht das Sehbild, sondern die Vorstellung, die der Künstler vom Wesen des darzustellenden Gegenstandes nach einer Prüfung von mehreren Standorten aus gewinnt. Heinrich Schäfer hat deshalb die Darstellweise der Ägypter „geradansichtig-vorstellig" oder „geradvorstellig" 11 genannt. Neuerdings ist von Emma Brunner-Traut die Bezeichnung „Aspektive" vorgeschlagen worden 12 , die mir sehr glücklich zu sein scheint und die im folgenden angewandt werden soll. Uberlegen wir einmal, wie nach den Regeln der Aspektive ein Mensch gezeichnet werden müßte. Typisch für den Kopf ist das Profil, typisch für das Auge dagegen die Vorderansicht. Also wird in das im Profil gezeichnete Gesicht das Auge in Vorderansicht eingetragen. Daß diese Zusammenstellung sehbildmäßig unmöglich ist, ist dabei völlig gleichgültig; es geht eben gar nicht um das als ein Ganzes sich bietende Sehbild, sondern um die typischen Ansichten einzelner Teile. - Typisch für die Schultern ist die Vorderansicht, also werden sie in Vorderansicht an das im Profil gezeichnete Gesicht angefügt. Daß es sich hierbei also nicht um eine „Verdrehung" handelt, wie man gelegentlich als naive Mei-

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nung in Gesprächen hören kann, dürfte wohl deutlich sein. Typisch für den Rumpf ist die Seitenansicht: so ist bei Frauendarstellungen die Brust an der Vorderseite (vorne = in Blickrichtung) am einfachsten darstellbar und bei Männern die Brustwarze. Der hintere Umriß stellt dann die Rückenlinie dar. Wenn sich allerdings Schmuck o. ä. auf der Brust befindet, wird er in Vorderansicht zwischen die als Seitenansichten aufgefaßten Umrißlinien eingetragen. Die Arme sind an die Schultern angefügt, die Hände zeigen in der Regel alle Finger. - Wichtig ist beim nackt dargestellten Menschen der Bauchnabel, beim bekleideten die Gürtelschnalle. Da der Rumpf in Seitenansicht dargestellt wird, könnten sie eigentlich vom Sehbild her nicht erscheinen. Man hilft sich, indem man sie in Vorderansicht nahe an der vorderen Umrißlinie anbringt. - Typisch für die Beine ist zunächst einmal, daß zwei von ihnen da sind: also müssen beide deutlich sichtbar sein. Man kann diese Zweiheit am einfachsten darstellen, indem man die Beine in eine leichte Schrittstellung bringt. Das ist die typische Darstellung bei Männern, die keineswegs ausdrücken soll, daß die dargestellte Person geht. Bei den Frauen werden normalerweise die Beine von einem bis auf die Knöchel reichenden Gewand

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verhüllt; das hat zur Folge, daß sie in den Darstellungen auch dort, wo sie durch das Gewand durchscheinen, in Staffelung geschlossen dargestellt werden. Diese Darstellungsweise findet sich keineswegs nur in Ägypten, sondern ist für den gesamten Alten Orient charakteristisch. Als Beispiel möge die Darstellung eines ein Lamm tragenden Kriegers aus Karatepe dienen (Abb. 3).

Abb. 3 Bewaffneter Krieger, der ein Lamm trägt. Halbrelief in Basalt, Originalgröße 1,25 m. Aus Karatepe, 8. Jahrhundert v. Chr.

Versuchen wir, das Dargelegte zu deuten. Klar ist, daß der Ägypter bei seiner Darstellung nicht vom Sehbild ausgeht, daß er einen zufälligen, augenblicklichen und vorübergehenden Standpunkt des Betrachters nicht beachtet - der „fruchtbare Augenblick" interessiert ihn nicht. Er versucht vielmehr, seinen Standpunkt so weit wie möglich auszuschalten und das darzustellen, was ihm am Darzustellenden als typisch erscheint. Wenn er dazu mehrere Standpunkte einnehmen muß, weil der Gegenstand in der Gesamtheit seiner typischen Ansichten nur von mehreren Standpunkten aus darzustellen ist, dann tut er das ohne Zögern und Skrupel. Man kann geradezu sagen: er versucht sich selbst als wahrnehmendes Subjekt so weit wie möglich auszuschalten und sich lediglich am Objekt zu orientieren. In diesem Sinne kann man sagen, daß die ägyptische Kunst objektsbezogen, unsere perspekti-

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vische Darstellweise dagegen subjektsbezogen ist (allerdings kann man fragen, ob die Begriffe „Subjekt" und „Objekt" hier überhaupt sachgemäß sind). Ein weiteres Beispiel mag das eben Gesagte verdeutlichen. Wenn wir in der perspektivischen Darstellweise gleich große Personen verschieden groß zeichnen, dann wollen wir damit ausdrücken, daß die kleinere vom darstellenden Künstler und damit auch vom Betrachter weiter entfernt ist. Maßstab ist wiederum das darstellende bzw. betrachtende Subjekt. - Auch in der Aspektive können gleich große Personen verschieden groß dargestellt werden. Doch hat das dann immer eine andere Funktion: es soll ausgedrückt werden, daß die größere Person die bedeutendere ist. Man spricht deshalb in diesem Fall von einem „Bedeutungsmaßstab". So wird ζ. B. der König größer gezeichnet als die Höflinge, die Eltern größer als die Kinder, auch wenn diese bereits erwachsen sind. Wiederum ist deutlich, daß eine in dem Dargestellten selbst liegende Qualität bei der Darstellung herrschend wird und nicht der Standpunkt des erkennenden und darstellenden Subjekts. Die Vorstellung, die der Künstler bei genauer, wertender Betrachtung gewonnen hat, bestimmt die Darstellung. Man kann deshalb geradezu sagen, der ägyptische Künstler schaffe nicht „Sehbilder", sondern „Denkbilder" 13 . Aus dem Dargelegten folgt nun aber auch, daß zwei verschiedene Künstler denselben Gegenstand verschieden darstellen können, wenn sie sich verschiedene Vorstellungen von ihm machen. Zwar haben sich im allgemeinen in der ägyptischen Kunst Idealtypen herausgebildet, von denen man glaubte, daß sie dem darzustellenden Gegenstand am besten gerecht würden und die man deshalb durchgehend darstellte. Grundsätzlich ist aber doch eine Verschiedenheit möglich. So könnte ζ. B. der eben skizzierte Tisch mit nur zwei Beinen gezeichnet werden, wenn der Künstler daran denkt, daß je zwei Beine hintereinander liegen (a). Oder die Beine können gestaffelt gezeichnet werden (b), wenn der Künstler zwar alle vier Beine zeichnen, aber auch das räumliche Hintereinander ausdrücken will. Es wäre sogar möglich, den Tisch nur in Vorderansicht zu zeigen (c), wenn es dem Künstler nur auf diese

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und nicht auf die Platte ankommt. Im einzelnen lassen sich hier Entwicklungen aufzeigen. So ist ζ. B. Beispiel b eine jüngere Form als Beispiel a. Doch kommt es darauf hier nicht an, sondern nur

a)

b)

c)

Abb. 4

darauf, daß in der Aspektive grundsätzlich mehrere Darstellmöglichkeiten bestehen. Es dürfte nun deutlich sein, daß wir mit der Erkenntnis der Aspektive den Schlüssel zum Verständnis der ägyptischen Kunst in Händen haben. Nicht lediglich als einen Mangel darf man das Fehlen der Perspektive beurteilen. Man muß die Aspektive sehen als Ausdruck einer eigenen, in sich geschlossenen, sinnvollen Verhaltensweise zur Umwelt, als Ausdruck einer eigenen Denkstruktur, die letztlich dadurch charakterisiert wird, daß das Subjekt sich nicht als Bezugspunkt absolut setzt und nicht alles an seinem Standpunkt orientiert. Deutlich ist außerdem, daß diese aspektivische Denkstruktur eine Grundschicht bildet, eine „Gerüstschicht" 14 , die unreflektiert den Darstellungen zugrunde liegt und selbst noch keinen künstlerischen Aussagewert hat. Von dieser Grundschicht ist die Ausdrucksschicht, in der erst das eigentlich Künstlerische sich auswirkt, klar zu trennen.

4. Aspekte Die vorgetragenen Ausführungen werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Denn wenn wirklich die grobe Skizze der Aspektive einigermaßen treffend ist, ergeben sich verwirrende Konse-

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quenzen. Zum Beispiel: Von der Grundhaltung der Aspektive aus kann „Zeit" nicht dasselbe bedeuten wie von der Perspektive aus - die perspektivische Zeitschau ist ja dadurch charakterisiert, daß das erkennende Subjekt seine Zeit als Maßstab setzt ( = Gegenwart) und von ihm aus Vergangenheit und Zukunft definiert. Die aspektivische Zeit kennt keinen solchen Fixpunkt - sie „erscheint dem historisch Orientierten geradezu wie das Beieinander sämtlicher Zeitformen" 15 , sie ist die Zeit, die im Mythos herrschend ist und von der her der Mythos erst verständlich wird. Doch kann diese Konsequenz hier nur angedeutet werden; weitere Erwägungen findet der Interessierte bei Emma Brunner-Traut im Nachwort der 4. Auflage des Buches von H. Schäfer, Von ägyptischer Kunst. Auch kann hier nur erwähnt und nicht ausgeführt werden, daß der ägyptische Polytheismus sich konsequent aus der aspektivischen Denkweise ergibt. Kurz andeuten aber müssen wir, daß für die Aspektive „Wahrheit" nicht dasselbe sein kann wie für die Perspektive. Im „perspektivischen Wahrheitsbegriff" wird eine Wahrheit dadurch wahr, daß sie sich mit anderen Wahrheiten widerspruchslos in ein Gesamtsystem einordnen läßt, in ein Gesamtsystem, das eine Schau des erkennenden Subjekts ist. In der Aspektive muß eine Wahrheit ihre Qualität offenbar von anderswoher gewinnen, da es in ihr eine solche Position des erkennenden Subjekts gar nicht gibt. Wenn ich recht sehe, fehlen hier noch gründliche Untersuchungen. Deutlich aber scheint mir zu sein, daß diese Qualität zusammenhängt mit der Bedeutsamkeit, die das Wahre für den Menschen haben muß: das Wahre muß sich im Lebensvollzug des Menschen als wirkungsmächtig erweisen, sonst ist es Lüge. Und von solchen wirkungsmächtigen Wahrheiten können durchaus mehrere nebeneinander stehen, die sich in einem perspektivischen Wahrheitsbegriff gegenseitig ausschließen. Das gilt ζ. B. für den ägyptischen Polytheismus, das gilt auch für die Addierung von „Wahrheiten" in der Weisheit. Damit hat sich der Kreis geschlossen und wir sind wieder bei den „Orientierungsversuchen des Menschen in frühgeschichtlicher Zeit" angelangt. Wir können jetzt die „Weisheit" im Alten Orient

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begreifen als eine Form der Weltbewältigung im Rahmen der aspektivischen Grundhaltung. Was aber heißt nun eigentlich „frühgeschichtlich"? Aufbauend auf der bekannten Erkenntnis, daß die Perspektive eine Entdeckung der Griechen ist, hat H. Schäfer gezeigt, daß überall dort, wohin der Einfluß griechischen Denkens noch nicht gekommen ist, die Aspektive herrscht. Das gilt von der Steinzeitmalerei und den großen Kulturen des Alten Orients ebenso wie von heutigen Naturvölkern und auch von unseren Kindern. Jedes Kind zeichnet zunächst aspektivisch und muß die Perspektive erst mühsam lernen. Das „Frühgeschichtliche" (H. Schäfer nannte es das „Vorgriechische") ist also auch heute noch lebendig, und man kann fragen, ob es nicht bei uns allen lebendiger ist, als wir zunächst glauben möchten. In der Wissenschaft freilich - gleichgültig ob Geisteswissenschaft oder Naturwissenschaft — arbeiten wir mit einem perspektivischen Wahrheitsbegriff. Eine Wahrheit muß sich mit anderen Wahrheiten widerspruchslos in ein Gesamtsystem einordnen lassen, sonst ist sie keine Wahrheit. Das gilt nicht nur für philosophische Systeme, sondern auch und erst recht für die Naturwissenschaften. Wenn die Ergebnisse eines Experimentes nicht mit einer Theorie zu vereinbaren sind, wackelt die ganze Theorie. Von unserer heutigen Praxis aus stellt sich die Frage, ob denn „Wissenschaft" auf dem Boden eines aspektivischen Denkens überhaupt möglich war. Wenn wir Wissenschaft per definitionem nur noch möglich sehen bei einem perspektivischen, alles in ein System einordnenden Wahrheitsbegriff, dann ist die Frage bereits negativ beantwortet. Dann aber müssen wir uns einen neuen Namen ausdenken für die Art von „Wissenschaft", der wir in der Weisheit begegnet sind. - Entsprechendes gilt für die Naturwissenschaft. Die Alten haben sich auch um eine Aufhellung der Natur bemüht - freilich mittels der empirisch-normativen, aspektivischen Denkweise. Man hat Listen von Naturerscheinungen zusammengestellt, man hat mittels fortgesetzter Versuche auf empirischem Wege mathematische Regeln aufgestellt. Man hat gelernt, technische Probleme zu bewältigen. Immer aber war für einen „natur-

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wissenschaftlichen" Satz nicht der Beweis das entscheidende Kriterium, sondern seine Anwendbarkeit, sein empirisch feststellbarer Erfolg. Manchmal könnte man fast neidisch werden, wenn man das bedenkt. Denn durch diese Art von „Wahrheitsbeweis" blieb alles Bemühen des Menschen, mag man es nun Wissenschaft nennen oder nicht, viel stärker auf den Menschen bezogen als bei uns. Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft - oder welches Etikett man immer für die entsprechenden Größen bei den Alten wählen mag — konnten sich gar nicht so weit auseinanderentwickeln wie bei uns, weil sie in ihrer Anwendbarkeit, in ihrem Nutzen für den Menschen ihr einigendes Band hatten. Doch wollen wir nicht wehmütig und romantisch auf die ferne Vergangenheit starren. Vermutlich hat die Wahrheitsaneignung nach Art der Aspektive bei uns doch noch größere Bedeutung, als man zunächst meinen möchte. Jedes Kind lernt doch wohl nach Art der alten Weisen, sich in der Welt zu orientieren. Und ich glaube auch, daß wir weder in der Kunst noch in zwischenmenschlichen Beziehungen noch in der Religion ohne die Haltung gegenüber dem anderen auskommen, der wir in der Aspektive begegneten. Doch das auszuführen, würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Eine Frage nur zum Schluß: Wenn sich Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften tatsächlich so sehr auseinandergelebt haben, daß sie einander kaum verstehen können, muß das dann zur Folge haben, daß man nur seine Art, der Wirklichkeit zu begegnen, für die richtige hält und die des anderen nicht nur mit Ignoranz, sondern auch mit Arroganz betrachtet, wie es heute weithin geschieht? Sollten wir nicht versuchen, von den alten Weisen zu lernen, beide als zwar getrennte, aber notwendige Wege menschlicher Orientierung nebeneinander stehenzulassen? Hat nicht hier auch heute noch die Aspektive ihr Recht und ihre Notwendigkeit?

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Laskowski, Geisteswissenschaft

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Literatur Bissing, Fr. W. Freiherr von: Altägyptische Lebensweisheit, Die Bibliothek der alten Welt. Zürich 1955. Rad, G. von: Theologie des Alten Testaments. Bd. 1. 4. Aufl. 1962. S. 430 ff. Schmid, Η. H.: Wesen und Geschichte der Weisheit. Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 101. 1966 (letzte gründliche Bearbeitung der altorientalischen und israelitischen Weisheit). Schäfer, H.: Von ägyptischer Kunst. 4., von Emma Brunner-Traut hrsg. Aufl. 1963. Schäfer, H.: Die Kunst des Alten Orients. Propyläen-Kunstgeschichte Bd. II. 3. Aufl. 1925. Wolf, W.: Die Kunst Ägyptens. 1957.

Anmerkungen 1 2 3

4

5 β 7 8 8

10

11 12 13 14 15

Vgl. G. von Rad, Theologie I, 4. Aufl., S. 430 ff. Joseph und seine Brüder, Stockholmer Gesamtausgabe, S. 1976. M. Noth, Die Bewährung von Salomos „göttlicher Weisheit", Supplements to Vetus Testamentum III, Leiden 1955, S. 225-237; S. 233. Die hier und im folgenden verwendete Abkürzung „Spr." ist ein Hinweis auf das Buch der Sprüche Salomos im Alten Testament. G. von Rad, Theologie I, 4. Aufl., S. 433. G. von Rad, Theologie I, 4. Aufl., S. 434. A. Jolles, Einfache Formen, 2. Aufl. Darmstadt 1958, S. 155. Vgl. ζ. B. S. Morenz, Ägyptische Religion, 1960, S. 120 ff. Vgl. auch H. Gese, Lehre und Wirklichkeit in der alten Weisheit, 1958, S. 11 ff. Jetzt vorliegend in der 4., von Emma Brunner-Traut herausgegebenen Aufl., 1963. Vgl. a. a. O. S. 99 ff. Vgl. a. a. O. S. 395 ff. W. Wolf, Die Kunst Ägyptens, 1957, S. 278 ff. Vgl. H. Schäfer, a. a. O. S. 346 ff. Emma Brunner-Traut in H. Schäfer, a. a. O. S. 406.

III. Aufstieg und Problematik des neuhumanistischen Bildungsideals Johannes Flügge

1. Einleitung Dem Thema „Aufstieg und Problematik des neuhumanistischen Bildungsideals" wird, im Zusammenhang mit den Beiträgen dieses Buches, ein Erwartungshorizont eröffnet, dem schwerlich ganz zu entsprechen ist. Dieses Thema läßt durch die gedankliche Verbindung mit dem Thema „Entstehung und Entwicklung der modernen Naturwissenschaften" eine Auseinandersetzung zwischen zwei kommensurablen Geistesströmungen erwarten. Die beiden letzten Beiträge stellen dann Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft einander gegenüber. Das neuhumanistische Bildungsideal findet aber in dieser Gegenüberstellung keinen Platz. Es ist keine Geisteswissenschaft; es ist ein Ideal, und zwar ein Ideal von Bildung, nicht von Wissenschaft. Die in meinem Thema genannte Problematik betrifft also nicht die Differenz von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Zudem ist der Neuhumanismus ein Wesen, das nicht mehr unter den Lebenden weilt. Als Humanist würde ich sagen, meine Aufgabe sei die Beschwörung eines Schattens. Aber ich hätte als Humanist das Vorurteil, daß Schatten Bedenkenswertes zu sagen haben können. Der Neuhumanismus, entstanden im späteren 18. Jahrhundert, wird durch seinen Namen gekennzeichnet als eine Geistesbewegung, die in Gegensatz zu sehen ist zu anderen Strömungen und in Zusammenhang zu sehen ist mit einem älteren und ihn zugleich überdauernden Humanismus. Im Jahre 1808 erschien ein Buch von Friedrich Immanuel Niethammer, „Königlich-Bayrischem Zentral-Schul- und Studienrat bei dem Geheimen Ministerium des Inneren" in München, das den Titel trug: „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs3»

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Unterrichts unserer Jahre." Hier taucht, wie Nachschlagewerke ergeben, zum erstenmal der Terminus „Humanismus" auf. Später, wohl erst gegen Ende des Jahrhunderts, erhielt die durch Niethammer in Bayern und durch Wilhelm von Humboldt in Preußen zur Grundlage der höheren Schul- und Universitätsbildung gemachte Geisteswelt den Namen „Neuhumanismus", zu einer Zeit, als er schon seinen Geist aufgegeben hatte. Im folgenden sei zunächst auf die Bildungskonzeptionen Niethammers und Humboldts eingegangen. Da die neuhumanistische Bildungskonzeption von vielen Seiten als Gegner aufgebaut und angegriffen wird, da man sich aber meistens mit einer Ahnung dessen begnügt, was damit gemeint sei, sei versucht, der Auseinandersetzung eine authentische Grundlage zu geben, indem die beiden Autoren in kurzen charakteristischen Texten selbst zu Wort kommen sollen. Diesen Texten sollen dann die für das neuhumanistische Bildungsideal entscheidenden Begriffe entnommen und deren fester innerer Zusammenhang deutlich gemacht werden. Danach ist kurz zu berichten, wie die Problematik dieses Bildungsideals in seinem historischen Schicksal zutage tritt. Schließlich müssen wir uns dann Rechenschaft geben: aber nicht darüber, was von ihm übrig geblieben ist, sondern welche Bildungsaufgaben, die der Neuhumanismus zu lösen versucht hat, weiterhin und heute von neuem der Lösung harren.

2. Grundbegriffe von Niethammers Bildungsideal Wenden wir uns zuerst Niethammer zu. Er steht, wie der Titel seiner Schrift zeigt, in Opposition zu einer pädagogischen Richtung, die den unglücklichen Namen „Philanthropinismus" trägt, nach einer weitberühmten „Philanthropin" genannten Musterschule in Dessau. Als den charakteristischen Fehler dieser Schulbildung sieht Niethammer den alles beherrschenden Gesichtspunkt der Nützlichkeit für das künftige Berufsleben an. Der wahre Urheber dieser pädagogischen Verirrung ist aber für Niethammer weder der Gründer jener Anstalt, Basedow, noch ihr großzügiger

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Förderer, der Fürst von Anhalt-Dessau, sondern Friedrich II. von Preußen, der den Geist der staatlich-ökonomischen Nützlichkeit zu einer vorwaltenden Tendenz des Zeitalters gemacht habe. Niethammer verkennt nicht, daß dieses neue preußisch-aufgeklärte Bildungsideal einen Fortschritt bedeutet gegenüber der alten Schule, insbesondere der alten Lateinschule. Aber das sich vom Philanthropin ausbreitende Bildungsideal hält er für eine falsche Antithese zur alten Lateinschule. Die Rücksicht auf die künftigen Berufe der Schüler verwirre durch ihre Vielfalt den Lehrplan und unterwerfe die Schüler einer despotischen Vorwegnahme ihrer Zukunft. Es könne sich bei der schulischen Grundbildung für alle Schüler nur darum handeln, daß man in ihnen das ausbildet, worin sie alle gleich sind, nämlich die Menschheit in den Individuen. Das schließt natürlich nicht aus, daß es auch Berufsschulen geben muß, nur muß der Berufsbildung bei jedem Kinde die Menschenbildung vorausgehen. Es gibt nach Niethammer überhaupt nur zwei Arten von Schulen: Erziehungsschulen und Berufsschulen, und entsprechend zwei Bildungsziele: Menschenbildung und Berufsbildung. Bei der Menschenbildung hat man den Gesichtspunkt der Nützlichkeit für das künftige Erwerbsleben völlig beiseite zu lassen. Daher ist die Menschenbildung in den Erziehungsschulen auch nicht als Vorbereitung für den Beruf des Gelehrten - wir würden heute sagen: des Wissenschaftlers - aufzufassen. „Menschenbildung ist nichts anderes als Bildung der Vernunft in dem Individuum" (S. 185), da „die Vernunft das Grundmerkmal der Menschheit" ist (S. 190). In dem Maße, wie man sich diesem Ideal nähert, gehört man zum „Stand der Gebildeten", der für das Gedeihen oder Verderben einer Nation von entscheidender Bedeutung ist. „Den Kern der Kultur einer Nation bildet und bewahrt die Zahl der glücklichen, von der Gottheit mit äußeren Mitteln und inneren Kräften begünstigten Staatsbürger, denen es eben durch diese Vorzüge vergönnt ist, das Ideal der freien Menschenbildung anzustreben: mögen sie dann sich dem Staatsdienst, der Wissenschaft, der Kunst oder was immer für einer Berufsbestimmung widmen, oder durch ihre Lage im Falle sein,

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ohne bestimmte Berufsbeschäftigung zu leben, - durch jene gemeinschaftliche freie Erziehung sind sie sich gleich und machen den Stand der Gebildeten aus, der, von allen Ständen und Klassen der Staatsbürger ausgehend, das geistige Leben der Nation, dessen Verderbnis also der geistige Tod derselben ist" (S. 193/4). Daraus ergibt sich das Bildungsideal: „Die vollendete allseitige und harmonische Ausbildung dieses Einen Ganzen ist das Ideal der Menschheit" (S. 190). Diese großen und kaum genau faßbaren Worte bekommen bei Niethammer einen etwas genaueren Sinn, wenn wir verstehen, daß es sich hier um einen Glauben an die Vernunft handelt; dieser Glaube stützt sich auf die Philosophie Kants, das Christentum und die Welt des sogenannten klassischen Altertums. Die Vernunft kommt, wie Niethammer sagt, zu Worte. „Das Wort ist nur die Form, in der sich die Ideen, die hier die Sachen sind, dem Bewußtsein darstellen" (S. 102). Es ergibt sich also für die Bildung der Vernunft „die Forderung, das Studium der Sprachen zu einem wesentlichen Mittel der freien Bildung zu machen" (S. 221). Die Auffassung der Ideen der Vernunft, deren Medium das Sprachenstudium im weitesten Sinne ist, bedarf der Klassizität der sprachlichen Dokumente, deren Studium zur Menschenbildung dient. Die für die Rechtfertigung des altsprachlichen Gymnasiums als der höchsten Form der Erziehungsschule grundlegende These lautet bei Niethammer wie folgt: „Die Unterrichtsgegenstände oder die Darstellung jener Ideen müssen eine durchaus klassische Form haben; die Auswahl derselben kann eben darum kein anderes Gebiet als das des Altertums finden, indem unleugbar wahre Klassizität, in allen Arten der Darstellung des Wahren, Guten und Schönen in ihrer größten Vollendung nur bei den klassischen Nationen des Altertums angetroffen wird" (S. 81). Dieser reichlich summarischen, aber im wesentlichen auf Niethammers Formulierungen sich stützenden Darstellung ist nun noch die Begründung hinzuzufügen, warum den Naturwissenschaften für die Erziehungsschule nur geringer Bildungswert zugemessen wird. Niethammer sieht die Naturwissenschaften im Zustand eines Kampfes mit den Elementen und zwischen den

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Richtungen der Naturforschung. „In diesem Zustand einer allgemeinen Gärung der Naturwissenschaften ist ein Punkt, an dem sich die Forscher orientieren mögen, unentbehrlich: in diesem 'allgemeinen Kampfe, dessen Versöhnung erst in einer fernen Zukunft zu hoffen steht, bedürfen die Kämpfer einen Ruhepunkt, der sie wenigstens zu momentaner Versöhnung vereinige. Welchen anderen Punkt aber, das unruhige Streben wenigstens auf Augenblicke zu besänftigen, könnten sie finden, als jene ruhige, noch nicht zum Streit entzündete Ansicht der Natur, die uns als Muster in den Uberresten der alten klassischen Zeit aufbewahrt ist" (S. 233). Diese Muster haben „den Vorzug der reinen Beobachtung, des ruhigen Naturblickes, der die Erscheinungen scharf faßt und durchdringt" (S. 232). Um der Auseinandersetzung mit der Bildungskonzeption des Neuhumanismus eine authentische und sichere Grundlage zu geben, seien die angeführten Zitate auf die Grundbegriffe reduziert und diese dann in einen einfachen Zusammenhang gebracht. Es ergibt sich dann: Menschenbildung ist Vernunftbildung (nicht: Berufsbildung, also auch nicht Bildung für wissenschaftliche Berufe). Vernunftbildung ist sprachliche Bildung (nicht: naturwissenschaftliche Bildung). Sprachliche Bildung ist Bildung an klassischen Sprachdokumenten des Altertums (nicht: an neusprachlichen Dokumenten). Die gemeinschaftliche und freie Erziehung bringt den Stand der Gebildeten hervor, der das geistige Leben der Nation verbürgt. Diese Uberzeugungen sind für Niethammer wohl begründet. Für uns, die seine Rhetorik nicht mehr erreicht, sind sie ein Credo mit vier Artikeln, dessen Geltung schon durch die Vielzahl anderer pädagogischer Glaubensbekenntnisse relativiert wird. Vergessen wir übrigens nicht, daß allen Bildungsidealen ein das letzte Fundament gebendes Credo zugrunde liegt, das nur durch die jeweils zeitgenössische Rhetorik verborgen wird, auch heute. Wir können Artikel 1 und Artikel 4 als die beiden den Rahmen bildenden Artikel auffassen: 1. Menschenbildung ist Vernunftbildung; 4. das öffentliche Interesse an der Ausbreitung der Bildung zielt auf das geistige Leben der Nation. Was man nun auch

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unter geistigem Leben verstehe, es ist für Niethammer jedenfalls nicht identisch mit der wirtschaftlichen Nützlichkeit. Sein Humanismus ist der Unterordnung der Menschenbildung unter die ökonomischen Interessen des aufgeklärten staatlichen Despotismus entgegengesetzt. Nur von diesem Sinnbezug der Menschenbildung zum geistigen Leben der Nation aus ist es zu verstehen, daß der wichtigste bildende Inhalt in einer so entlegenen Sache wie der lateinischen und griechischen Sprache und Literatur gefunden wird. Sicher ist für Niethammer allenfalls das Altertum gegen andere bildende Gehalte austauschbar, allenfalls und in äußerster Bedrängnis, nie aber hätte er jene Prinzipien aufgeben können, die durch die Worte „Menschenbildung - Vernunftbildung geistiges Leben der Nation" bezeichnet sind. Mit diesen Worten ist ein Lebensbereich umschrieben, der relativ autonom ist. Er entspringt und regeneriert sich ständig aus den Individuen, in denen die Vernunft erwacht. Sie erwacht in der Arbeit an einem entlegenen, von den aktuellen Ereignissen und Interessen unberührten Material. An der für die beiden vergangenen Jahrhunderte charakteristischen Tendenz zur Emanzipation der Menschen von überkommenen Herrschaftsansprüchen hat so dieses scheinbar nur an der Vergangenheit orientierte Bildungsideal ernstlichen Anteil. Dem Druck staatlicher Interessen sowohl wie öffentlicher materieller Interessen soll die „Menschenbildung" durchaus entzogen werden.

3. Grundbegriffe von Humboldts Bildungsideal Für die Interpretation des neuhumanistischen Bildungsideals habe ich mich zunächst auf Niethammer gestützt, um nicht nur immer den einen berühmten Humboldt als Zeugen anzurufen. Die Energie und die Abstraktheit seiner philosophischen Reflexion bewirkt es, daß Humboldt bis heute zum Mitdenken zwingt. Als er 1809 „Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion des Kultus und öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern in Königsberg und Berlin" wurde und nun in dem Bildungswesen in

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Preußen die neuhumanistische Bildungsidee verwirklichen durfte, war diese in abstrakter Form längst in ihm gereift. Seine Gedanken zur humanistischen Menschenbildung können wir in ihrem Werden verfolgen, insbesondere aus einer erst 1903 unter der Überschrift: „Theorie der Bildung des Menschen" veröffentlichten Niederschrift von 1783 und aus seinen Briefen. Es sei auch hier versucht, die Grundbegriffe des Bildungsideals und ihren inneren Zusammenhang aus einer Textstelle abzulesen. Humboldt schrieb am 19. Februar 1796 an Schiller: „Es müssen Forderungen zu machen sein, die man keinem, der sich einen Gebildeten nennt, nachlassen kann, ein Zusammenhang von Ideen, die er notwendig überschauen, und ein Kreis von factis, den er notwendig kennen muß, um diese Tatsachen jenen Ideen unterzulegen. Die ganze Summe der Erkenntnis (im allerweitesten Verstände) soll dazu dienen, dem Geiste Objekte zu seiner Übung und der Erhöhung seiner Kräfte zu geben. Einen andern letzten Zweck alles Wissens, Erkennens und Bildens kann ich mir wenigstens nicht denken. Die Erkenntnis ist also gemacht, auf den Geist zu wirken, der sie selbst hervorgebracht hat, und beide müssen in Wechselwirkung zueinander stehen. Diese wird in dem Grade reger und wohltätiger sein, in welchem die Erkenntnis dem Geiste selbst homogen ist, und da dies nur in ihrer Form sein kann, so wird die unmittelbare Wichtigkeit und Würde der Erkenntnis nur auf ihrer Form beruhen . . . Die wesentlichste Eigenschaft des Geistes ist die Einheit in der lebendigen Wirksamkeit aller seiner Kräfte. Soll also die Summe der Erkenntnis ihr homogen sein, so muß sie gleichfalls Vollständigkeit, Zusammenhang und Einheit besitzen. Dies ist das Allgemeine, worin alle gebildeten Köpfe einander vollkommen gleich sein müßten und worauf die Möglichkeit ihrer Vereinigung beruht." Aus diesem Text spricht eine andere Art, die Fragen der Menschenbildung anzusehen, als bei Niethammer. Humboldt geht aus von der inneren Struktur des Menschengeistes, und er fragt sich,

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wie der Menschengeist dahin gelangen könne, durch Erkenntnis und Erhöhung seiner Kräfte die Erfahrung seiner selbst in seiner erhöhten lebendigen "Wirksamkeit zu machen. Dem, der im Erkennen sich übt und bildet, ist es nur, wie es in der „Theorie der Bildung des Menschen" heißt, „um die Erhöhung seiner Kräfte und die Veredlung seiner Persönlichkeit zu tun". Was aber der Menschengeist ist, erfährt er nicht durch Selbstbetrachtung, sondern durch Arbeit an einem Bereich des Faktischen, der die dem Menschengeist eigenen Ideen zur Bewußtheit bringt. Diesen notwendigen Gang der Geistesbildung durch das dem Geiste zunächst Fremde, das Faktische, nennt Humboldt in der „Theorie der Bildung des Menschen" gelegentlich „Entfremdung". Der für die Deutung der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Prozesse heute, im Anschluß an Marx, so wichtige Begriff der „Entfremdung" begegnet uns also 1793 bei Humboldt zur Kennzeichnung einer unumgänglichen Bedingung aller Bildung und damit einer condition humaine schlechthin. Entfremdung muß aufgehoben werden, aber sie kann nicht umgangen werden, wenn die Kräfte des Menschen nicht völlig unentfaltet bleiben sollen. „Hier kommt es nun", sagt Humboldt, „darauf an, daß er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Inneres zurückstrahle." Kein Faktisches, das der Sich-Bildende vornimmt, ist so sehr geeignet, sein erhellendes Licht in den erkennenden Geist zurückzustrahlen, wie die griechische Sprache und Kultur. In ihr stellt sich in reinster und konzentriertester Form die Menschheit dar. In ihrem Spiegel erkennt der ihrem Studium Hingegebene sich selbst. Sie ist, mit der heutigen Didaktik zu sprechen, der größte Gegenstand exemplarischer Lehre. Das war gemeinsame Uberzeugung der Neuhumanisten, auch wenn sie die lateinische Sprache und Kultur nicht so weit hinter dem Griechischen zurückstehen lassen wollten wie Humboldt. Das war nicht nur gemeinsame Überzeugung, sondern auch gemeinsame Erfahrung, die die Neuhumanisten an sich selbst machten und die sie als Ermöglichung der „Vereinigung der Gebildeten" erlebten. Ihre Überzeugung

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war, daß das auch für andere gelte und zur Grundlage von Gymnasial· und Universitätsbildung gemacht werden könne. Die in dem Angeführten enthaltenen Grundbegriffe sind folgende: 1. der menschliche Geist als Einheit in der lebendigen Wirksamkeit aller seiner Kräfte, 2. das Faktische, das in das Innere des Geistes zurückstrahlen soll, 3. das Griechentum als das - wenn ich mich so unhumanistisch ausdrücken darf - den höchsten Bildungseffekt gewährende Faktische, 4. die Gebildeten. Diese vier Begriffe in ihrem Zusammenhang sind das feste innere Gerüst von Humboldts neuhumanistischem Bildungsideal. Sie fügen sich zu einer bewundernswerten formalen Einheit zusammen, in der nichts Zufälliges ist, nichts, was sich von außen, aus bloß traditionellen oder pragmatischen Gründen, angehängt hat. Ist es doch auch ihr Sinn, dem Gebildeten eine widerspruchsfreie Sphäre harmonischen inneren Lebens zu geben, ihm eine von den Bedrängnissen und Sinnwidrigkeiten der Arbeits- und Alltagswelt unabhängige geistige Existenz zu ermöglichen. Nicht daß der Gebildete, nach Humboldt, sich aus der Alltagswelt zurückziehen sollte. Vielmehr soll seine geistige Existenz ihm Kraft und Überlegenheit für seine alltäglichen Aufgaben schenken.

4. Innere Problematik dieser Grundbegriffe Selbst wenn man sich auf Humboldts Bildungsideal zunächst vorbehaltlos, ohne ihm sogleich seine eigenen Vorstellungen entgegenzusetzen, einläßt, gewahrt man aber doch einiges, was von seinen eigenen Voraussetzungen her fragwürdig scheint. Zunächst die Einstellung zu dem, was er „das Faktische" nennt. Es könnte sein, daß der Vorbehalt, man dürfe sich nicht daran

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verlieren, dem Geiste gerade das vorenthält, was er aus dem Umgang mit dem Faktischen gewinnen wollte. Dieser Vorbehalt läßt nur so viel erkennende innere Verbindung mit dem Faktischen zu, daß die erhellende und erwärmende Zurückstrahlung nicht verloren geht. Das Wagnis, sich erkennend an Realitäten zu verlieren, die durch die Tiefe der Entfremdung an die Grenze der Verzweiflung führen, aber auch neue Kräfte des erkennenden Geistes herausfordern, wird als die Bildung gefährdend zurückgewiesen. Deshalb wird in dem solcherart Gebildeten der Zweifel nie ganz verstummen, ob das Licht seines Geistes nicht nur ein erborgtes Licht sei, ein Wiedererkennen dessen, was er in frühen Jahren in anderer Form und unbewußt schon in sich aufgenommen hat. Das könnte aber heißen - das sei nur als eine des Nachdenkens werte Möglichkeit erwähnt - daß jene zurückstrahlenden Wirkungen des Studiums der Antike nur von denen erlebt werden, die von früher Kindheit an in einer entsprechenden Bildungssphäre aufgewachsen sind. Sodann schließt, schon im Entwurf, der Begriff der „Gebildeten" ein Problem ein. Sie unterscheiden sich von den Nichtgebildeten. Worin besteht das unterscheidende Merkmal? Ein Zusammenhang von Ideen, als Einheit überschaubar, ein homogener Kreis von Fakten, deren Kenntnis notwendig ist: darauf läßt sich wohl der Entwurf eines Bildungsganges gründen. Aber muß es dann nicht eine Pluralität von gleichwertigen Bildungssystemen geben, wie es sie ja tatsächlich gab und gibt, die jene Forderungen formal erfüllen, die aber auf der Kenntnis ganz verschiedener Kreise von Fakten beruhen? Kann dann noch von der vollkommenen Gleichheit aller Gebildeten Köpfe geredet werden? Umfassender noch muß man fragen, ob der in Humboldts Sinne wahrhaft Gebildete, bedacht auf Zusammenhang und Einheit, auf Harmonie des Geistes, offen sein kann für unbedingte, den Geist des Menschen zerreißende Forderungen, wie sie aus einem christlich gebundenen oder einem autonomen sittlichen Bewußtsein sich geltend machen können? Der Gebildete im Sinne Humboldts entspricht eher den monadischen Geistern von Leibniz, die den Erkenntnisinhalt, angeregt durch Wahrnehmung, aus sich entwickeln und in ihm

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den Weltinhalt haben, als der Kantschen Person, die sich ihren überindividuellen Gehalt durch Selbstüberwindung erwirbt. So ist denn auch die Vereinigung der Gebildeten nicht auf Handeln und Sittlichkeit gegründet, sondern auf der formalen geistigen Gleichheit als dem ungewollten, aber glücklichen Resultat der Selbstbildung. Problematisch an Humboldts Entwurf ist auch das eigentümlich zwiespältige Verhältnis zur Geschichte. Auf der einen Seite sorgfältiges Studium der geistigen Überlieferung. Auf der anderen Seite, anders als bei Niethammer, Vernachlässigung, ja Verständnislosigkeit gegenüber einer so wirkungsmächtigen geistigen Überlieferung wie dem Christentum. Gut, Humboldt kann die Pflege dieser Überlieferung anderen Instanzen überlassen, nämlich den Kirchen. Aber jedenfalls ist sein historisch rückwärts gewandter Blick nicht auf das geschichtliche Sein, sondern auf das der Geschichte enthobene, ewig stillstehende Bild des Griechentums gerichtet. Wahrscheinlich haben die humanistischen Studien im 19. Jahrhundert das Geschichtsbewußtsein sehr gefördert, aber gemeint war im neuhumanistischen Bildungsideal die Förderung des philosophischen, nicht des historischen Bewußtseins. Diese drei Einwendungen ergeben sich nicht aus heutigen Vorstellungen, sie ergeben sich aus dem Sich-Einlassen auf Humboldts Bildungsentwurf: Humboldt will Entfremdung des Geistes im Studium der Tatsachen, aber er hält den Geist auch wieder zurück von der Hingabe an Tatsachen. Er will auf die Vereinigung der Gebildeten hinaus, aber durch Abgrenzung eines bestimmten Bildungssystems trägt er bei zur Pluralität der Bildungssysteme. Er trägt Verlangen nach der geistigen Überlieferung, sofern sie ihm gemäß ist; sofern sie es nicht ist, vernimmt er sie nicht.

5. Das historische Schicksal des neuhumanistischen Bildungsideals Die Problematik des neuhumanistischen Bildungsideals tritt nun auch in seinem historischen Schicksal zutage. Es wäre ungerecht,

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wollte man übersehen, daß das humanistische Gymnasium vielen Menschen, die sich verschiedenste Berufe wählten, Bildungswerte vermittelt hat, für die sie ihr Leben lang dankbar waren. Es ist aber zugleich zu betonen, daß das humanistische Gymnasium wohl nur selten das war, was seine Gründer wollten. Zunächst bringt sich im 19. Jahrhundert das Faktische in anderer Weise zur Geltung, als es dem Bildungsentwurf nach sein dürfte. Die alten Sprachen setzen der geistigen Durchdringung einen immer härter spürbaren Widerstand entgegen. Das Lateinische dominiert schließlich wieder. Wenige nur empfangen die höheren Weihen, wo griechischer Geist in sie übergeht. Wenn so die Schüler dem großartigen ursprünglichen Bildungsentwurf nur wenig gewachsen sind, so verändert sich auch für die Lehrerschaft seit der Jahrhundertmitte deutlich der Sinn der Beschäftigung mit der Antike. Die kontemplativ-wissenschaftliche Einstellung weicht vielfach einem philologischen, spezialwissenschaftlichen Interesse; das Griechische wird stärker als zu Anfang des Jahrhunderts Gegenstand historisch-relativierender Studien. Die Vorstellung aber bleibt zunächst, daß man durch das Studium der alten Sprachen die Weihe der Humanität empfange. Richtet man aber nun seinen Blick auf die in der zweiten Jahrhunderthälfte erfolgende Rezeption neuer Bildungsgehalte, so ändert sich das Bild. Der Vorgang der Rezeption endet 1901 zunächst damit, daß neben das humanistische Gymnasium als gleichberechtigt das Realgymnasium tritt, ohne Griechisch, aber mit Latein, lebenden Sprachen, Real-, d. h. naturwissenschaftlichen Fächern; weiter die Oberrealschule mit Realfächern und ausschließlich mit lebenden Sprachen. In allen höheren Schulen nimmt inzwischen der Deutsch-Unterricht in Verbindung mit Geschichte und Erdkunde eine zentrale Stellung ein. In diesem schulpolitischen Vorgang spiegelte sich das Bedürfnis nach Schulen, die Bildungsgehalte bringen, die dem modernen Leben nahe sind. Sodann zeigte sich hier, daß der Glaube an die kanonische Geltung und die bildende Macht des Griechentums der hohen Zeit im Schwinden war. Der genannte schulpolitische Vorgang dokumentiert aber auch die ungebrochene Macht wenigstens

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eines Zuges in der neuhumanistischen Bildungskonzeption. "Wenn die Gesellschaft in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Vermittlung naturwissenschaftlicher Kenntnisse und den Unterricht in lebenden Sprachen verlangte, dann überwiegend um der Nützlichkeit solcher Kenntnisse willen. Und im Jahrhundert zuvor hatten Schulmänner wie Basedow oder auch Α. H. Francke gerade auf die Nützlichkeit der in ihren Anstalten vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten besonderen Wert gelegt. „Nützlichkeit" war nun im 19. Jahrhundert in der Schulpolitik kein günstiges Argument mehr. Neue Bildungsgehalte, mochten sie auch nebenbei nützlich sein, konnten in den Unterrichtsplänen höherer Schulen nur dann Aufnahme finden, wenn es gelang, ihren bildenden, und zwar nicht ihren speziell-bildenden, sondern ihren allgemeinbildenden Wert nachzuweisen. Humboldts Grundsatz war: „Durch die allgemeine (Bildung) sollen die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden." „Die Organisation der Schule bekümmert sich daher um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte." Dieser Grundsatz blieb für die Schulmänner in unangreifbarer Geltung. Mag man sich nun auch in vielen Auseinandersetzungen über die Unterrichtsfächer der höheren Schulen mit der bloßen Behauptung des allgemeinbildenden Wertes eines Faches begnügt haben, so hatte doch das unbestrittene Humboldtsche Dogma im ganzen eine bis heute bedeutende Wirkung. Unter seinem Einfluß mußten sich die Realfächer in die mathematisch-naturwissenschaftliche Fächergruppe umwandeln. Diese hat jetzt nicht mehr die Aufgabe, für bestimmte Berufsgruppen vorzuschulen, sondern in Denkweise und Denkformen der modernen naturwissenschaftlichen Weltinterpretation einzuführen. Ebenso findet unter der Forderung der Allgemeinbildung der neusprachliche Unterricht seine innere Gestalt und Aufgabe: nicht vorzüglich in der Umgangs- und Geschäftssprache zu schulen, sondern das Verständnis fremder und das tiefere Bewußtwerden der eigenen Kultur zu erschließen. Auch bei den Versuchen unseres Jahrhunderts, weitere Sachgebiete zu charakteristischen Inhalten neuer Zweige des Gymnasiums zu machen - Deutschkunde, Sozialkunde, künstlerische oder hand-

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werkliche Betätigungen, Wirtschaftskunde - ist die Forderung der Allgemeinbildung als den Stil des Unterrichts bestimmend anerkannt geblieben. Was ist nun aus dem „Stand der Gebildeten" geworden? Er wurde durch die Gymnasien tatsächlich hervorgebracht, aber in einem anderen als dem ursprünglich gemeinten Sinne. Die bloße und vielfach notdürftige Aneignung von Sprachkenntnissen, vorzüglich im Lateinischen, weniger und weniger im Griechischen, machte den Schüler nicht so philosophisch und so aufgeschlossen für „das Wahre, Gute und Schöne", wie Niethammer und Humboldt gehofft hatten. „Griechischer Geist geht in ihn über", hatte Humboldt postuliert. Wieweit das wirklich der Fall war, entzieht sich der Nachprüfung. Aber das war auch nicht mehr nötig, um sich zum Stande der Gebildeten rechnen zu dürfen. Wer das Maturitätsexamen bestanden hatte, zählte zu dem Stande der „Gebildeten", mit dem Vorteile und Ansprüche verbunden waren, dem aber gemeinsame Merkmale geistigen Ranges fehlten. Der Ausdruck „Stand der Gebildeten" ist außer Gebrauch gekommen, nicht aber die Ausdrücke „gebildet" und „ungebildet". Dieser letztere Ausdruck wird nach meinen Beobachtungen heute fast ausschließlich gebraucht, um das Mißverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei einem sogenannten, mit Bildungszertifikaten ausgestatteten Gebildeten zu treffen, nicht aber um Standes- oder Schichtendifferenzen zu bezeichnen. Ein solches Mißverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit kann uns berechtigen, den Begriff der Ideologie im Sinne eines falschen Bewußtseins hier anzuwenden. Die neuhumanistische Bildungsidee war für viele, die sich die notwendigen Zertifikate verschafft hatten, die wohlklingende Ideologie, die ihnen gesellschaftliches Ansehen und das Vorurteil sicherte, als seien sie dem Wahren, Guten und Schönen aufrichtig zugetan und als sei der notwendige Zusammenhang eines Kreises grundlegender Ideen ihrem Geiste gegenwärtig. Aber selbst wer es aufrichtig meinte, wer wirklich noch im Sinne Humboldts sein inneres Geistiges durch die zurückstrahlende Kraft des studierend angeeigneten objektivierten Geistigen ganzheitlich aufzubauen suchte - bekam er nicht die innere

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Einheit im Faktischen und in sich selbst um einen zu geringen Preis? Wenn die harmonische Einheit im Faktischen, in dem klassischen Exempel, schon vorgeformt, also nur zum geringen Teil sein eigenes Werk war, wie würde er in dem disharmonischen äußeren Leben, in dem das Wahre, Gute und Schöne nur selten schon vorzufinden, vielmehr allenfalls immer neu zu schaffen ist, bestehen können. Hilfloser oft als die „ungebildeten" Pragmatiker und Utilitaristen und immer in Versuchung, sich möglichst bald in seine innere Bildungswelt zurückzuziehen, wo alles, was er suchte, da ist, aber nur mit dem Realitätsgrad des ÄsthetischIdeellen. Es war nicht Nietzsche, der das Wort „Bildungsphilister" geprägt hat; aber er hat in seinen frühen Baseler Jahren, selbst der höchsten Bildungsschicht angehörend, in damals noch immanenter Kritik den entscheidend bedenklichen Z u g am „Gebildeten", am Bildungsphilister, gesehen: er stelle sich abseits vom Leben, er sei kein komplementärer Mensch, in ihm komme nichts zum Abschluß, aber er setze auch keinen Neubeginn. Später fand er für die „Gebildeten" das geistreiche und boshafte Wort von der „Halbwelt des Geistes". Manche Bildungsdenker um die Jahrhundertwende brachten zum Ausdruck, daß das neuhumanistische Bildungsideal, wenn es maßgebend bleiben wollte, einer ernstlichen Transformation bedürfe. So sagt Otto Willmann („Didaktik als Bildungslehre"): „Um innere Formung zu erhalten, muß der Mensch Äußeres formen, der Gebildete ist zugleich ein Bildender. In die ganze Breite des Lebens hinein wirkt die Bildung." Schärfer noch Friedrich Wilhelm Förster: „Bildung wird nur durch energisches Eindringen des Geistes in die Welt des Stoffes, durch ordnende Seelengewalt gewonnen." Um der Bildung in diesem transformierten Sinne willen suchten dann Schulpädagogen seither den Schülern als Faktisches, durch dessen Bearbeitung der Geist sich energisch bildet, praktische, berufsnahe, technische, manuelle Aufgaben anzubieten. Unverlierbar sollte Kerschensteiners Grundsatz sein, daß stärkste bildende Wirkung die selbstgeplante Arbeit an einem widerständigen 4

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Material stofflicher, sprachlicher, gedanklicher Art habe, sofern, nur sofern die Arbeit unnachgiebig bis zur Verwirklichung eines wenn auch bescheidenen Werkes mit relativem Vollendungswert getan wirdy Hier ist der Punkt, wo die eine Grenze der Menschenbildung im neuhumanistischen Verständnis fast verschwunden zu sein scheint: die Grenze gegen die Berufsbildung. Wie fest sie dennoch sich erhalten hat, lehrte uns Theodor Litt, zuletzt in dem Buch: „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt" (1955). Selbst die in ihrem Bildungswert erkannte, der Berufsarbeit ζ. T . ähnliche Arbeit, wie sie für die Arbeitsschulpädagogik charakteristisch war, hat nach Litt die Aufgabe, die Selbstverwirklichung des Schülers zu fördern, ihn einige Schritte weit auf dem Wege zur geistigen Selbstvollendung zu bringen. Gerade dieser Sinn ist nach Litt immer noch an dem egozentrischen Bildungsideal der deutschen Klassik, ζ. B. Humboldts, orientiert. Dagegen biete die moderne Arbeitswelt nur den wenigsten die Chance, durch ihre Berufsleistung zugleich ihrer Selbstverwirklichung zu dienen. In der modernen Arbeitsorganisation ist nach Litt das bildende Zurückstrahlen der Arbeit auf den Arbeitenden nicht möglich, vielmehr wird er völlig dem Arbeitsmechanismus unterworfen und also selbst Teil eines mechanischen Ablaufs. Diesen Tatbestand zu klären, ihn nicht als Sündenfall, sondern als eine notwendige Konsequenz der Selbstverwirklichung, nicht des Individuums, sondern der Menschheit begreiflich zu machen und die Folgerungen für den Bildungsbegriff daraus zu ziehen, war Litts jahrzehntelanges Bemühen. Wenn die Gebildeten nicht hochmütig, schwächlich und unredlich - weil sie ja Nutznießer dieser Arbeitswelt sind - sich von der modernen Sach- und Arbeitswelt abschließen wollen, dann müssen sie bewußt und willentlich Bürger zweier Welten sein, der Sachwelt und der Welt des mitmenschlichen Umgangs. Damit werden sie nicht mehr abseits vom Leben, von der Härte der total versachlichten, der entpersönlichenden modernen industriellen Arbeitswelt stehen; aber sie werden auch, nachdem ihre Objektsphäre auseinandergebrochen ist, ihre innere Einheit, ihre innere Harmonie verlieren.

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Sie tragen in sich den, nach Litt, unaufhebbaren Konflikt unserer Welt, ihr Bewußtsein hat eine antinomische Struktur. Die genannte Schrift von Theodor Litt hatte zehn Jahre nach dem deutschen Zusammenbruch eine gewisse Aktualität, indem sie sich im Grunde gegen eine Wiederbelebung des 150 Jahre zuvor konzipierten Bildungsideals richtete. Sie führte nicht so sehr eine Wende in der Orientierung des Bildungswesens herbei, sondern sprach eher nur aus, was sich mit suggestiver Macht als Zeit- und Gesellschaftsbewußtsein durchsetzte: das Bewußtsein, daß wir als „Industriegesellschaft" im „Industriezeitalter" leben und daß sich daran das Bildungswesen und die Bildungsziele zu orientieren haben. So sehr es sich hierbei auch um eine bedenkliche Simplifikation handelt, so kann niemand sich mehr der Einsicht verschließen, daß ohne die gedankliche Durchdringung dieser elementaren Tatsache eine Bildungswelt kein Ansehen mehr gewinnen kann. Nach der Darstellung der Grundbegriffe des neuhumanistischen Bildungsideals ist einiges aus seinem geschichtlichen Auflösungsprozeß in Erinnerung gebracht worden. Das sei nochmals zusammengefaßt. Insbesondere hat sich die Vorstellung von dem „Stande der Gebildeten" in ihrer Wirkung als verhängnisvoll gezeigt. So unentbehrlich auch heute der Begriff der Bildung ist - man denke nur an die Formel „Gleichheit der Bildungschancen" - , so wenig konnte sich der Begriff des „Gebildeten" schlechthin gegen die immanente Kritik der Bildungsdenker behaupten. Die grundsätzliche Abgrenzung der Bildungswelt gegen die berufliche Arbeitswelt hat sich als Schwäche erwiesen. Der Glaube an die Konformität von griechischem Geist und den formalen Anlagen des individuellen Menschengeistes hat dem historischen Bewußtsein der Folgezeit nicht standhalten können, ebensowenig das idealisierte Bild des klassischen Altertums. Daher ist auch der absolute Vorrang des Studiums der alten Sprachen und Literaturen nicht mehr glaubwürdig. Andere Bildungsinhalte wetteifern mit ihnen, verdrängen sie weithin und bewähren sich an den Schülern mehr als sie. Starken Zweifel fordert das Ideal der Harmonie der inneren 4*

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Kräfte heraus: Sollte nicht ihr Antagonismus eine tiefere Weltund Selbsterfahrung ermöglichen und humaner sein als ihre Harmonie? So ist denn von den Versuchen, das neuhumanistische Bildungsideal in den Bildungsinstitutionen zu verwirklichen, kaum etwas übriggeblieben. Es ist schwer zu verstehen, wie man heute noch den Neuhumansimus angreifen mag, als verstelle er anderen Bildungsidealen den Weg. Man braucht ihn wohl als Gegner, aber er hat keine Realität mehr.

6. Die fortdauernde Gültigkeit der dem neuhumanistischen Bildungsideal zugrunde liegenden Fragen Ein anderes Bild ergibt sich freilich, wenn man die Fragen ins Auge faßt, auf die er zu antworten suchte. Vielleicht sind die Fragen nicht in demselben Maße erledigt wie die Antworten. Das ist zu prüfen. 6 a. Bildung und wirtschaftlicher Nutzen Eine erste Frage bleibt allen Generationen seither und auch künftig aufgegeben: die Frage, in welchem Verhältnis Bildung und wirtschaftlicher Nutzen zueinander stehen und stehen sollen. Diese Frage ist heute komplizierter als vor 150 Jahren. Zunächst einmal hat der Grundsatz, bei einem Bildungskonzept nicht auf den wirtschaftlichen Nutzen zu sehen, nie bedeutet, daß für den Einzelnen seine Bildung nicht auch individuellen, in der künftigen Stellung in der Gesellschaft und im Beruf zutage tretenden Nutzen haben werde (vgl. hierzu S. 22). Entscheidend war nur, ob der dem Einzelnen und der Gesellschaft zugute kommende wirtschaftliche Nutzen als vorrangiges Bildungsziel anzusehen sei, sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Heute ist jedem aufmerksamen Zeitungsleser schon bewußt, daß mit Beginn des industriellen Zeitalters das Wirtschaftswachstum einer Gesellschaft in direkter Rela-

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tion steht zu der Summe der Bildungsinvestitionen. Nicht aufgeschlüsselt sind dabei die Beiträge der einzelnen Bildungsgänge, Bildungsordnungen, Bildungsinstitutionen. Wenn wir bei Fragen der Bildungsplanung als Axiom gelten lassen, daß wirtschaftliche Prosperität notwendig ist, daß daher auch hohe Bildungsinvestitionen notwendig sind, dann ist noch keineswegs sicher, welche Bildungskonzepte speziell unter diesem Gesichtspunkt gefördert werden sollten. Nehmen wir Niethammers Unterscheidung versuchsweise ernst, so würde sich folgende Frage formulieren lassen: Versprechen diejenigen Bildungsgänge, die ausdrücklich auf den wirtschaftlichen Erfolg hin entworfen und an ihm normiert sind, einen höheren wirtschaftlichen Nutzen als andere Bildungsgänge, die den wirtschaftlichen Erfolg zwar nicht negieren, aber ihn nicht als Ziel annehmen und an ihm nicht normiert sind? Es könnte sein, daß dem Wirtschaftswachstum auch solche Bildungstendenzen zugute kommen, die gar nicht die Absicht haben, ihm zu dienen. Der Sinn der Berechnungen über den Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Bildungsinvestitionen wird mißverstanden, wenn man nunmehr das Wirtschaftswachstum als Ziel aller Bildungsanstrengungen ansehen wollte. Tatsächlich geschieht das vielfach, und zwar in doppelter Weise: erstens in Gestalt der Forderung der Anpassung an die Rollenerwartungen der Industriegesellschaft, zweitens in Gestalt der Forderung, die Jugend zur Leistung im Sinne der industriellen Leistungsgesellschaft zu motivieren. Was die Forderung der Anpassung an die Industriegesellschaft betrifft, zitiere ich einige Sätze aus einem kürzlich veröffentlichten Buch von W. Kuckartz „Sozialisation und Erziehung" (Essen 1969). „Pädagogik wird sich den kommandierenden Bedürfnissen der Industriekultur, will sie selber guten Gewissens überleben, beugen müssen." „Leben und Überleben werden zum einzigen Unbedingten: auf diesem Metaphysikum scheint doch die gesamte industrielle Kultur aufgebaut zu sein - eine sympathische und realistische Philosophie, die der modernen Metaphysikscheu weitgehend entspricht." „Gegen einen so fundamentalen und anschei-

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nend irreversiblen Imperativ wie den des Wohllebens, der alles Recht auf seiner Seite hat, den geradezu zu einem Rechtsanspruch sich auswachsenden Drang nach einem ständig sich erhöhenden Lebensstandard usw., prallen die überfordernden moralischen Appelle der Pädagogik nahezu wirkungslos ab." Man muß dem Verfasser dankbar sein, daß er ein heutiges, meistens verschwiegenes Verständnis des Bildungsziels so deutlich ausspricht und zugleich zu erkennen gibt, daß es auf einem Kommando, einem Imperativ beruht, der aus dem gewaltigen Stimmengewirr der Industriekultur herausgehört werden kann, wenn man die vielen anderen Imperative der Industriekultur überhört, und dem sich die Pädagogik zu beugen habe, ohne ihn kritisch zu relativieren. Der „Imperativ des Wohllebens" ist moderne Rhetorik, deren Überzeugungskraft darauf beruht, daß sie Rhetorik ist. Gegenfrage von unzähligen Schülern: Warum läßt man uns nicht Wohlleben? Die Antwort lautet natürlich: Weil das Wohlleben einen Preis hat. Gegenfrage: Warum sollen gerade wir in unseren besten Jahren diesen Preis bezahlen? Der Beantwortung dieser ewigen Schülerfrage dienen pädagogisch-psychologische Überlegungen, wie man sie zum Bezahlen dieses Preises, also zu Leistungen motivieren könne. Die Industriegesellschaft ist nämlich nicht nur, wie jede Gesellschaft, auf Leben und Überleben und Wohlleben bedacht, sondern sie ist eine Leistungsgesellschaft. Wie die Berufung auf die Notwendigkeit des Überlebens - bei Kuckartz im Anschluß an Gehlen - so dient auch die Berufung auf die Kennzeichnung unserer Gesellschaft als Leistungsgesellschaft - im Anschluß an McClelland - als Argument zur Bestimmung des Bildungszieles. Hierfür zitiere ich aus dem vierten Gutachten des Deutschen Bildungsrates (Stuttgart 1969) ein paar Zeilen von H. Heckhausen: „Die Entwicklung unseres Kulturzeitraumes tendiert rapide auf ,Leistungsgesellschaften' (McClelland 1961), die steigende Anforderungen an die intellektuellen Tüchtigkeiten von zunehmend größeren Bevölkerungsanteilen stellen. Das Wirtschaftswachstum eines Landes hängt davon ab, welcher Anteil der Bevölkerung durch weiterführende Bildungssysteme gegangen ist

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(McClelland 1966)." - Heckhausen weist dann auf die zunehmende Wertschätzung der intellektuellen Tüchtigkeit in den Elternhäusern und in den individuellen Lebensbereichen hin. In diese vorgegebenen Tendenzen ordnet er nun seinen Beitrag über die Lernmotivierung ein. Tatsächlich bedarf die Lernmotivierung der Schüler eines Sinnhintergrundes, der ihr die Uberzeugungskraft für Lehrer und Schüler gibt. Ohne einen solchen Sinnhintergrund würden Erkenntnisse und Handlungsmuster zur Lernmotivierung nur ein Instrumentarium darstellen, das beliebigen vorgegebenen Zwecken und gesellschaftlichen Systemen dienstbar gemacht werden könnte, also auch der geheimen Verführung und Gehirnmanipulation der Schüler. Lernmotivierung also muß verantwortet werden können vor einem Sinn, der für Lehrer und Schüler unverborgen und überzeugend wäre. Wie schwach ist unter diesem Gesichtspunkt der motivierende Bezug auf die Leistungsgesellschaft und das Wirtschaftswachstum! Ohnehin ist „Leistungsgesellschaft" eine Abstraktion. Es handelt sich bei ihr um dieselben Menschen, die ζ. B. bei Riesman „die einsame Masse" genannt werden, bei Packard „die Pyramidenkletterer" und „die wehrlose Gesellschaft". Ein Lehrer, der sich bei seinem unterrichtlichen Handeln auf „die Gesellschaft" bezieht, müßte sich durch die Verbindung vieler eindringender Diagnosen ein möglichst konkretes Bild dieser Gesellschaft machen. Von hier wird erkennbar, wieviel höher das Niveau der Fragen war, auf welche die neuhumanistischen Denker Antworten suchten. Sie fragten nach dem „geistigen Leben der Nation", wodurch das Überleben einen Sinn hätte. Sie fragten nach dem geistigen Leben des Schülers, kraft dessen er seine intellektuellen Tüchtigkeiten in eigene Regie nehmen könnte. Sie stellten den Schüler nicht in den Dienst des Überlebens der Gesellschaft, sondern forderten von der Gesellschaft den Dienst an den Schülern, in der Meinung, daß die etablierte Gesellschaft ihnen das schuldig sei. Wenn auch die praktische Antwort auf diese Fragen in der Bildungswirklichkeit dem Neuhumanismus nicht überzeugend gelang und wenn auch die Fähigkeit exakter Analyse der psychischen und sozialen Faktoren im Bildungsgeschehen ihm noch nicht ge-

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geben war, so sind doch seine Fragen, die sich zusammenfassen in der Frage nach der „Menschenbildung", keineswegs erledigt. Das Wort „Menschenbildung", es klingt so sonderbar. Es klingt so ideologieverdächtig, so als stünde ein schönes, aber ausgedachtes und täuschendes Menschenbild im Hintergrund, wie ja das Bild der griechisch-antiken Menschen wirklich eines war. Das muß nicht so sein. Menschenbildung im heutigen Verstände würde heißen müssen, weniger über den Menschen zu wissen als alle Theorien, die seiner Bildung einen vorwegbestimmten gesellschaftlichen Sinn geben. Es würde heißen, mißtrauisch gegen offene und verdeckte Manipulationen zu sein. 6 b. Menschenbildung

und

Pädotechnologie

Der Punkt, den wir hier berühren, ist in den internen Auseinandersetzungen der heutigen Pädagogik von allergrößter Bedeutung. Die Möglichkeiten, die menschlichen Lernvorgänge zu steuern, sie einem vorgegebenen Lernziel mit Sicherheit zuzuführen und sie bis in kleinste Details unter Kontrolle des Steuernden zu halten, sind heute geradezu imponierend. Dem Schüler wird dabei die Rolle des Reagierenden zugedacht; er erreicht das Lernziel, die geplante Verhaltensänderung, die also von andern geplant ist, wenn seine Reaktionen nicht aussetzen. Dieses manipulatorische Verständnis des Lehrens und Lernens, das sich in Berlin auch „Pädotechnologie" nennt, ist der neuhumanistischen Bildungskonzeption entgegengesetzt. Die Frage der Neuhumanisten war, wie man dem Schüler Gelegenheit geben könne, durch das Studium geeigneter Stoffe jene nicht manipulierbare innere Veränderung zu erfahren, die das Wort „Bildung" im eigentlichen Wortsinne meint. Dabei wird das Lernen, das Studieren zwar geleitet durch den Lehrenden, der Schüler bleibt aber, was seine „Bildung" betrifft, Autodidakt. Er selbst vollbringt die Integration des Gelernten in von ihm selbst intuierte umfassendere Sinnzusammenhänge, die Umwandlung in Verstehenssinn, in Handlungssinn. Und er selbst gibt all den Lernprozessen nicht durch eine Kette von Reaktionen, sondern durch

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die Antworten seines Geistes, die nicht mitgelernt und nicht programmiert werden, Sinn und sogenannte Effektivität. Keiner, der sich je aus eigenem Antrieb das Studium eines gedanklich anspruchsvollen Buches zumutet und gerade die Schwierigkeiten nicht umgeht, kann sagen, daß ihm dieses Verständnis von Bildung fremd sei. Er praktiziert es. Daß es in der Schulbildung neuhumanistischer Prägung oft verzerrt wurde, spricht nicht gegen das Niveau und die überdauernde Bedeutung der Frage, wie „Menschenbildung" der Schuljugend zu vermitteln sein könnte. Es spricht aber gegen die neuhumanistische Orthodoxie der Unterrichtsstoffe. Hier ist an Niethammers Zurückhaltung gegenüber den Naturwissenschaften zu erinnern. Er glaubte, in seiner Zeit eine „allgemeine Gärung der Naturwissenschaften" zu gewahren. Dabei dürfte er wohl mehr an die Naturphilosophie als an die längst zu prägnanter Form und allgemeiner Anerkennung gediehenen Teile der Naturwissenschaft, wie die klassische Mechanik, gedacht haben. Diese Bereiche waren damals didaktisch nicht erschlossen im Sinne der „Menschenbildung". Wenn sie nicht mehr wie in der älteren Didaktik, ζ. B. bei Comenius, den religiösen Sinn erhielten, der Bewunderung des Schöpfers Nahrung zu geben, dann schien nur noch ein technologischer Sinn übrig zu bleiben, dem man in der Berufsbildung Rechnung tragen mußte.

7. Heutige Probleme einer humanistischen naturwissenschaftlichen Bildung Heute aber, wo die Naturwissenschaften die technischen Grundlagen der Arbeits- und Nutzungswelt liefern, wo sie unser Weltbild formen und exemplarische Denkmodelle für weiteste Gegenstandsbereiche anbieten, ist ihre Denkweise und das durch sie vermittelte Wissen nicht mehr Sache bestimmter Berufe. M a n lebt heute in einer fremden, unbegriffenen, geistig undurchdringlichen Welt, wenn man die Naturwissenschaften nicht in einer wie auch immer abgestuften Weise in sein Bewußtsein aufnimmt. Mehr

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braucht man kaum zur Begründung der Notwendigkeit naturwissenschaftlicher Allgemeinbildung zu sagen. Gerade hier zeigt sich nun die Unabweisbarkeit der neuhumanistischen Fragestellung: wie Naturwissenschaft zu lehren sei, daß sie einen Beitrag zur „Menschenbildung" und nicht nur zur Berufsbildung liefern könne. Diese Frage ist nicht leicht zu nehmen, und es wird auf sie von Seiten der Didaktik viel Nachdenken gewendet. Es kann weder im Sinne der Schuldidaktiker noch im Sinne der Naturwissenschaftler sein, wenn einige Kenntnisse von Ergebnissen der Naturwissenschaft, eine gewisse Menge von Informationen, als naturwissenschaftliche Bildung gelten sollen. An einer Anzahl von Modellen oder Exempeln muß das Verstehen von Naturphänomenen und der Weg zu naturwissenschaftlicher Begriffsbildung von Grund auf Erfahrung geworden sein, wenn man sich nicht damit begnügen will, sein Leben lang den Naturwissenschaften gegenüber in der Rolle des Gläubigen zu verharren. Hier ist Veranlassung, aus der Begegnung mit dem neuhumanistischen Bildungsbegriff die Frage zu übernehmen, welche Bedeutung die sprachliche Bildung für die Menschenbildung und also auch für die naturwissenschaftliche Bildung habe. Es handelt sich nicht darum, die oft geäußerte, nie bewiesene Vermutung zu wiederholen, daß das Erlernen und Einüben der alten Sprachen in geheimnisvoller "Weise die Befähigung zu wissenschaftlichem Studieren steigere. Wenn etwas daran ist, so liegt es wohl nicht zuerst an den alten Sprachen, sondern an der mit sprachlichen Übungen überhaupt verbundenen intensiven Bemühung, in der Muttersprache zu adäquatem Ausdruck zu gelangen oder die Adäquatheit einer Übersetzung in die Fremdsprache an dem genauen Beachten der Bedeutung des muttersprachlichen Orginals zu prüfen. Diese ehemals nur den alten Sprachen zugewiesene Funktion kann und sollte auch der naturwissenschaftliche Unterricht übernehmen. Er kann durch die Nötigung, Phänomene genau zu beschreiben und die Beschreibungsversuche wiederum an den Phänomenen sorgfältig zu überprüfen, einen bedeutenden Beitrag zu moderner muttersprachlicher Bildung leisten. Aber das ist in unserem Zu-

Aufstieg und Problematik des neuhumanistischen Bildungsideals

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sammenhang jetzt nicht das Wichtige. Das Wichtige ist, daß das grundlegende naturwissenschaftlich-propädeutische Verstehen der Naturvorgänge und ihrer funktionalen und kausalen Verknüpfung im Medium der Muttersprache sich vollzieht. Dieses Stadium der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung darf nicht übersprungen oder zu schnell durchlaufen werden, in dem Drang, möglichst bald im Medium der jeweiligen Fachsprache sich zu verständigen. Die Fachsprache ist unbestritten die präziseste erreichbare Form für die Resultate der jeweiligen Wissenschaft. Aber man kann lernen, die Formeln der Fachsprache zu gebrauchen und mit ihnen zu arbeiten, ohne sie verstanden zu haben und ohne sie dem eigenen Verständnis oder dem eines anderen entschlüsseln zu können. Gerade die Möglichkeit, mit ihnen ohne Rekapitulation ihrer gedanklichen Herkunft zu arbeiten, ist einer der Vorzüge exakter fachsprachlicher Formeln. Wenn aber für die Naturwissenschaften in Anspruch genommen wird, daß sie neben ihren szientifischen und pragmatischen Aufgaben auch die Aufgabe haben, zur „Menschenbildung" beizutragen, dann ist allerdings auf die Erarbeitung des Verstehens im Medium der Muttersprache größtes Gewicht zu legen. Martin Wagenschein, dem wir zu dem Problem der pädagogischen Dimension der Naturwissenschaften fundamentale Einsichten verdanken, sagt dazu: „Die Muttersprache ist die Sprache des Verstehens. Die Fachsprache besiegelt das Verstandene." Schließlich werden die Naturwissenschaften als solche keine Antwort zu geben wissen auf die letzte noch zu erwähnende fundamentale Frage, die der Neuhumanismus auf seine Weise zu beantworten suchte, die Frage, wie dem jungen Menschen die geschichtliche Dimension seines Lebens zu erschließen sei. Da wir wirklich geschichtliche Wesen sind, bleiben wir weithin in Unkenntnis unser selbst und der menschlichen Welt, in die wir verstrickt sind, wenn sich uns nicht deren historische Tiefe auftut. Es handelt sich hier nicht um historisches Faktenwissen, dem natürlich der Wert nicht abzusprechen ist, sondern um die Offenheit des Blicks und das Interesse für die von vergangenen Generationen uns aufgebürdeten Probleme, uns hinterlassenen Güter, uns anvertrauten Aufgaben und Verantwortungen, die alle gegenwärtig

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Johannes Flügge

sind. Geschichtliches Bewußtsein ist also das Verstehen der Gegenwart, sofern sie von Menschen gemacht ist, sofern Menschen dafür verantwortlich sind. Nun vermitteln die Naturwissenschaften als solche kein historisches Bewußtsein in dem genannten Sinne. Sie vermitteln durch ihre Fachsprachen ein ahistorisches Bewußtsein. Da sie aber selbst eine eminent geschichtliche Tatsache sind, sollte das nachholende Eindringen in naturwissenschaftliches Denken einige seiner vergangenen Stadien in Erinnerung bringen, sofern sie in spätere gültige Erkenntnisse eingegangen sind. Das geschichtliche Bewußtsein wird ohnehin heute durch eine funktionale Betrachtungsweise des gesellschaftlichen Seins verdrängt, die ihrerseits Annäherung an naturwissenschaftliche Methoden sucht. Wenn die so wünschenswerte Ausbreitung naturwissenschaftlicher Bildung zu der Verdunkelung des geschichtlichen Bewußtseins unausweichlich beitragen müßte, statt an der Aufklärung des geschichtlichen Bewußtseins mitzuwirken, geschähe das zum Schaden des, wie Niethammer sagt, geistigen Lebens der Nation. Was geistiges Leben der Nation - heute sagen wir besser: der Gesellschaft, in der wir leben - sei, das kann nicht vorweggenommen werden. Es muß ermöglicht werden, es muß im Bildungswesen dafür gesorgt werden, daß es nicht verhindert wird. Wirksam verhindert werden kann das geistige Leben auch dadurch, daß sich das Bildungswesen vorgegebenen gesellschaftlichutilitären Interessen oder Zwecken und vorgegebenen Denkmethoden unterwirft. Entbunden wird das geistige Leben der Gesellschaft, wenn im Bildungswesen die Fähigkeit veranlagt wird, vorgegebene utilitäre Interessen und vorgegebene Denkformen und -methoden zu hinterfragen. Denn wenn wir die Schüler einführen in Denkweisen und Ergebnisse heutiger Wissenschaft und heutiger gesellschaftspolitischer Tendenzen, dann werden wir aus Achtung vor ihrer geistigen Selbständigkeit ihnen helfen, daß ihr Bewußtsein nicht durch ihre Bildung ein starres Gepräge erhält. Das im Bildungsprozeß Angeeignete darf ihnen weder nur starres begriffliches Instrumentarium, noch fest geprägtes geistiges Gehäuse sein.

Aufstieg und Problematik des neuhumanistischen Bildungsideals

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D a n u n ein Kreis v o n t r a n s z e n d e n t a l e n o d e r geglaubten ewigen Ideen sich den Schülern h e u t e schwerlich z u r B e h e i m a t u n g

an-

bieten läßt, aus G r ü n d e n , die e b e n in d e m v o r r a n g i g e n K r e d i t der Wissenschaften liegen, ist ihnen der W e g freizuhalten zur T e i l h a b e a n den F r a g e n , die sich aus den W i s s e n s c h a f t e r m ö g l i c h e n d e n Bedingungen,

aus

ihren

Verantwortlichkeiten

im

Zusammenhang

menschlichen L e b e n s u n d aus ihren G r e n z e n ergeben. D i e T e i l h a b e a n diesen F r a g e n n e n n e n w i r das H i n t e r f r a g e n v o r g e g e b e n e r Interessen u n d D e n k f o r m e n . D i e B e s c h w ö r u n g des Schattens des N e u h u m a n i s m u s , die w i r versucht h a b e n , h i n t e r l ä ß t uns die Sorge, d a ß die F ä h i g k e i t des H i n t e r f r a g e n s der D o g m a t i s m e n

unserer Z e i t durch

Menschen-

bildung g e s t ä r k t w e r d e zur E r m ö g l i c h u n g des geistigen L e b e n s d e r Gesellschaft, in d e r w i r leben.

Literatur Bollnow, O. F.: Sprache und Erziehung. Stuttgart 1966. Deutscher Bildungsrat Gutachten und Studien der Bildungskommission. Begabung und Lernen. Stuttgart 1969. Dokumente des Neuhumanismus. Bearb. von Rudolf Joerden, 2. Aufl. Weinheim 1962. Hojer, E.: Die Bildungslehre F. J. Niethammers. Frankfurt/Main, Berlin, Bonn 1965. Humboldt: Anthropologie und Bildungslehre. Hersg. von Andreas Flitner. Düsseldorf und München 1956. Kerschensteiner, G.: Der pädagogische Begriff der Arbeit (Sonderdruck aus: Die Lehrerfortbildung. Januar 1923). (Neudruck in Röhrs, H.: Die Berufsschule in der industriellen Gesellschaft. Frankfurt/Main 1968). Kuckartz, W.: Sozialisation und Erziehung. Essen 1969. Litt, Th.: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. Bonn 1959 (Neuauflage als Kamps pädagogische Taschenbücher 3. Bochum o. J.). McClelland, D. C.: Die Leistungsgesellschaft. Stuttgart 1966. Menze, C.: Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. Ratingen 1965. Müllges, U.: Selbst und Sache in der Pädagogik. Wiesbaden und Dotzheim 1968. (Behandelt werden Basedow, Humboldt, Herbart und Hegel.)

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Johannes Flügge

Niethammer, F. I.: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Jahre (Photomechanischer Neudruck und Einleitung von W. Hillebrecht in: Kleine pädagogische Texte. Bd. 29. Weinheim, Berlin, Basel 1968). Schaifstein, F.: Wilhelm von Humboldt. Ein Lebensbild. Frankfurt/Main 1952. Wagenschein, M.: Die pädagogische Dimension der Physik. Braunschweig 1962. - : Verstehen lehren. Weinheim, Berlin 1968. Weil, H.: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. 2. Auflage Bonn 1967. Willmann, O.: Didaktik als Bildungslehre. 1. Aufl. 1876. 6. Aufl. 1957 Braunschweig. Zeitschrift für Pädagogik. 7. Beiheft: Sprache und Erziehung. Bericht über die Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 1968. Weinheim, Berlin, Basel 1968.

IV. Entstehung und Entwicklung der modernen Naturwissenschaften Walther

Gerlach

1. Vorbemerkung Es ist die Eigenart der Naturwissenschaft, daß sie versucht, mit eindeutigen Begriffen zu arbeiten; wir beginnen daher mit einer kurzen Fixierung der Bedeutung der im Thema benutzten Wörter. Unter „moderner Naturwissenschaft" verstehen wir nicht im landläufigen Sinn „moderne" Physik (oder Biologie) - zur Unterscheidung von der „klassischen" Physik (Biologie usw.). Denn jene ist ja nur die gegenwärtige Phase einer, wenn auch in manchem sehr neuartigen, aber doch schon länger angelaufenen „Entwicklung" und - wie wir wohl mit Recht annehmen dürfen - auch nur eine Ubergangsphase einer sich schon anbahnenden, wiederum neuartigen Fortentwicklung; als solche muß sie betrachtet und darf als solche weder über- noch unterbewertet werden. Das Wort „modern" soll diese Entwicklung abgrenzen gegen die Art der antiken und der mittelalterlichen Erkenntnissuche über die Natur. Damit ist nicht nur die „Entstehung" der modernen Naturwissenschaft zeitlich festgelegt: der Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert; es soll damit auch die damals einsetzende schnelle Verbreiterung und Vertiefung der Naturerforschung und ihre Begründung als ein neuer autonomer Bereich gekennzeichnet sein. Wie aber das, was wir die Kultur der Neuzeit nennen, nicht unabhängig von der Kultur des Altertums ist, so spielen in die neue Naturwissenschaft Elemente und Probleme der vorangegangenen Zeit hinein. Ihre Geburt liegt ja letzten Endes in dem Denken der kleinasiatischen Naturphilosophen des 6. vorchristlichen Jahrhunderts. Hier scheint erstmals die Vorstellung aufzutreten, daß die gesamte - unbelebte und belebte - Welt eine auf wenigen Grundelementen beruhende Struktur hat, welche rational erkennbar ist.

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Fruchtbar wurde diese wohl großartigste Idee in der langen Geistesgeschichte der Menschheit erst rund 2000 Jahre später. Am Anfang steht die Begründung einer neuen Disziplin, die wir heute Physik nennen; ihre Forschungsmethoden und Forschungsverfahren werden Grundlage aller quantitativen Naturerforschung. Sie erschließt dem Verstände Bereiche des Makro- und Mikrokosmos, der unbelebten und belebten Natur, welche vorher Domänen der Metaphysik waren. Ihre Ergebnisse verändern laufend die Stellung des Menschen zu der ihn umgebenden Welt und zu sich selbst; in ihnen werden die Möglichkeiten zur gezielten Gestaltung der Lebensformen erkannt, deren Realisierung man die „Verwissenschaftlichung" und „Technisierung" des Lebens nennt. Die Naturwissenschaft wurde zu einem bestimmenden Faktor der Geistes- und Kulturgeschichte. Dies alles gehört zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaft. So ergibt sich der Plan zur Behandlung unseres Themas. Ein Versuch in einer, an einen weiten Kreis sich wendenden Abhandlung die einstigen und heutigen /«verwissenschaftlichen Probleme der Physik und der von ihr befruchteten naturwissenschaftlichen Disziplinen zu behandeln, wäre wenig sinnvoll. Wir werden daher - ausgehend von wesentlichen Beispielen - darlegen, wie es zum Erkennen der Probleme und zu ihrer Lösung kam, und wie sich die rationale Forschung neue, nur dem Verstand, aber nicht unserer Sinnenanschauung zugängliche Bereiche der Welt erschloß. Definiert man die physikalische Forschung als das Bestreben, durch systematische und nur rationale Betrachtung der Natur so viel als möglich Bereiche der Metaphysik in den Bereich der Physik überzuführen - bis vielleicht einmal Grenzen erreicht sind und damit das wirklich Metaphysische sich zeigt - , so erkennt man, warum diese zum Konflikt mit bestehenden, zur Bildung neuer weltanschaulicher Grundlagen führen mußte; auch diese Frage werden wir beachten. Schließlich wollen wir zeigen, wie es zur Realisierung von Erkenntnissen über die Natur für materielle menschliche Zwecke kam.

Entstehung und Entwicklung der modernen Naturwissenschaften

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Wir hoffen so, einen auf nachprüfbaren Tatsachen beruhenden Beitrag zu dem Generalthema „Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft - ihre Bedeutung für den Menschen von heute" vorlegen zu können.

2. Das siebzehnte Jahrhundert Die „neue Philosophie": Gilbert, Galilei, Kepler Wir nannten den Ubergang vom 16. zum 17. Jahrhundert als Zeit für die Entstehung der modernen Naturwissenschaft. Die von Johannes Kepler ab 1596 geführte zweite, entscheidende Phase der „Kopernikanischen Wende", welche 50 Jahre vorher das heliozentrische Planetensystem an die Stelle des geozentrischen gesetzt hatte, fällt zusammen mit Galileo Galileis Widerlegung des allein anerkannten und dogmatisch vertretenen Aristotelischen Systems der Natur. Das dritte Ereignis dieser Zeit ist das Erscheinen von William Gilberts Werk „De Magnete" 1600, dessen Einfluß auf Galilei und Kepler zu betonen ist. Es erscheint uns nun nicht so wesentlich, welche Entdeckungen und Erkenntnisse Galilei, Gilbert und Kepler in die Wiege der neuen Naturwissenschaft legten, so bedeutend sie für die damalige Zeit, so richtig sie noch sind. Wir nennen als Beispiele Galileis Gesetze des freien Falls, des Pendels und die Verwendung des Fernrohres für die Astronomie; Gilberts Nachweis, daß die Erde ein permanenter Magnet ist und daß die Magnetnadel sich nicht auf den Himmelspol, sondern auf den Erdpol einstellt; oder seinen Beweis, daß die Wirkung eines Magnetsteines auf Eisenpulver grundsätzlich anderer Art ist, als die Kraft von geriebenem Bernstein oder Harz auf Papierschnitzel, für welche er das Wort „vis electrica" schuf. Schließlich nennen wir Keplers Beweis, daß die Luft eine schwere Materie ist, die Gesetze der Linsenkombinationen mit der Theorie des Galileischen, des Keplerschen (oder astronomischen) und des terrestrischen Fernrohres, die Erklärung des Auges und 5

Laskowski, Geisteswissenschaft

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die Theorie der Brille mit der Erfindung der periskopischen Brillenglases und nicht zuletzt die drei Keplerschen Planetengesetze. Wichtiger als die Erlangung neuen Wissens ist die Begründung der neuen Forschungsmethode. Gilbert spricht im einleitenden Kapitel von der neuen Art des Philosophierens: „Nicht aus Büchern, sondern aus den Erscheinungen selbst wird Wissen über die Natur gewonnen". Er gibt die erste systematische Experimentaluntersuchung; aus dem Ergebnis eines Experimentes, einer Frage an die Natur, ergibt sich die nächste Frage; Forschungsexperimente von Stufe zu Stufe systematisch aneinandergereiht führen zu einem geschlossenen Bild eines Phänomens. Galileis und Keplers Beiträge zur Methodik der neuen Wissenschaft sind wesentlich anderer Art. Galilei ist nur selten in jenem Gilbertschen Sinn Experimentalphysiker - er beschränkt sich nicht auf das „Messen, was meßbar ist". Wichtiger ist seine Forderung „Meßbar machen, was noch nicht gemessen werden kann". Das bedeutet nicht nur Entwicklung eines geeigneten Verfahrens. Ausgangspunkt einer Forschung ist die Überlegung, wie ein Naturvorgang ablaufen kann. Dies führt zunächst zu einem Gedankenexperiment; denn in der Natur läuft kein Vorgang in reiner Form ab; wir brauchen ja nur an die Abhängigkeit des Fallens von Körpern von ihrer Masse, Form, Reibung zu denken, die sich im Fallen von Steinen, Blättern, Schneeflocken in verwirrender Form zeigt. Das Gedankenexperiment sucht von allen natürlichen Einflüssen, den Nebenbedingungen des natürlichen Vorganges zu abstrahieren, so daß derselbe in ein einfaches mathematisches Schema gefaßt werden kann. Bleiben wir bei dem klassischen Beispiel des freien Falles. Zu dem Fallgesetz führt nicht die gar nicht mögliche Messung des Ablaufes des Fallvorganges, sondern die experimentelle Prüfung der Konsequenz eines mathematischen Ansatzes für die ungestörte beschleunigte Bewegung: des Zusammenhanges zwischen Fallweg und Fallzeit. Diese wird wegen experimenteller Schwierigkeiten nicht einmal mit fallenden Körpern durchgeführt, sondern mit der

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schiefen Ebene und besonders auf Grund wieder neuer, weitergehender gedanklicher Analysen mit den Schwingungen von Pendeln nach zwanzigjährigen Bemühungen erst 1609! Die Geheimnisse der Natur werden — so und ähnlich formuliert Galilei sein Forschungsprinzip - mit Nachdenken oder Beobachtungen oder Experimenten einfachster und jedem zugänglicher Art gelöst; wenn die Sinneswahrnehmung versagt, so muß sie durch Überlegungen ergänzt werden, deren Richtigkeit oder Falschheit sich aus der experimentellen Prüfung ihrer Konsequenzen ergibt. Der Unterschied gegen die Aristotelische Physik besteht darin: in dieser werden die Erscheinungen so, wie sie sich unseren Sinnen darbieten, als Ganzes zu einem System geordnet; neue Erfahrungen werden in dieses System eingefügt. Galilei analysiert, er zerlegt die den Sinnen sich darbietenden Erscheinungen, bis er zu mathematisierbaren, nur in der Vorstellung bestehenden, von natürlichen Nebenbedingungen abstrahierenden reinen Vorgängen gelangt. Man kann sagen: er zerlegt die Naturerscheinung in mathematische Modelle. Er fragt nicht nach den Ursachen des Phänomens, er fragt nicht, warum ein Körper fällt, sondern wie er fällt, nach welchem mathematisch formulierbaren Gesetz ein nur in der Vorstellung bestehender, also idealisierter Fallvorgang abläuft. Naturerforschung besteht in der Abstraktion - in dem Suchen nach den Gesetzen einer idealen Welt und dem Suchen nach Methoden zu ihrer experimentellen Prüfung, welcher das letzte Wort zusteht. Keplers Bedeutung als Naturwissenschaftler - der viel weitere Bereich seines Denkens und Wirkens interessiert hier nicht - kann an drei von ihm aufgestellten und praktizierten Grundsätzen aufgezeigt werden. Tycho Brahe hatte ihm 1600 die Aufgabe gestellt, aus seinen jahrelangen Messungen des Laufs des Planeten Mars dessen Bahn zu berechnen; die Grundlage sollte eine nach Kopernikus und nach Tycho mit konstanter Geschwindigkeit durchlaufene Kreisbahn um die Sonne sein, die seit Aristoteles unbestrittene Form der „natürlichen Bewegung". Die Sonne selbst - so nahm Tycho an 5·

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Walther Gerlach

umkreise die ruhende Erde, während nach Kopernikus Mars und Erde auf verschiedenen Bahnen die Sonne umlaufen. Die Rechnung ergab für beide Annahmen kleine, aber nicht übersehbare Abweichungen von den Meßwerten, welche die sehr genau geprüfte Meßgenauigkeit überschritten. Also müssen die Annahmen falsch sein; denn eine naturwissenschaftliche Aussage muß quantitativ mit den Beobachtungen der Natur übereinstimmen. Das ist der erste Keplersche Grundsatz. Eine solche Übereinstimmung konnte Kepler nur durch Aufgabe der Grundannahme erreichen: die Planeten laufen nicht auf Kreisen, sondern auf Ellipsen und mit zwischen Perihel (Sonnennähe) und Aphel (Sonnenferne) periodisch wechselnder Geschwindigkeit. Beides stand im Widerspruch zu Aristoteles - Galilei hielt übrigens an dem aristotelischen D o g m a fest und hat niemals die Keplerschen Ellipsen übernommen! Aber, so sagt Kepler: Der Naturforscher darf sich nicht auf die Meinungen von Autoritäten stützen: seine Autorität ist allein die Natur: - der ziveite Keplersche Grundsatz. Der dritte betrifft die Aufgabe: der Naturforscher soll vom Sein der Dinge, die man mit den Sinnen erfaßt, zu den Ursachen ihres Seins und Werdens vordringen, auch wenn weiter kein Nutzen damit verbunden ist. Das Ziel ist, Einsicht in den Kosmos - das griechische W o r t Κοσμος bedeutet Ordnung - der Natur und die diese Ordnung regelnden Gesetze zu bekommen. Sie sind gleicher Art für die Phänomene am Himmel und auf der Erde. „Keine der beiden Wissenschaften, irdische Physik und Astronomie, werden allein Vollkommenheit erlangen." Wenn man sage, der Stein falle auf die Erde, so ist das in Wirklichkeit eine wechselseitige Anziehung von Stein und Erde, eine Folge der gleichen Eigenschaft der körperlichen Materie, welche zwischen Erde und M o n d und von der Sonne auf die Planeten wirkt, der gravitas. Auf der den Raum durchdringenden Kraft der Sonne beruht die Planetenbewegung. An die Stelle eines Erhalters ihrer großartigen Ordnung setzt Kepler das in der Welt eh und je herrschende Naturgesetz: „die Welt gleicht nicht einem göttlichen Lebewesen, sondern einem Uhrwerk, dessen komplizierter Räderlauf ja auch nur

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durch ein Gewicht gesteuert wird". „Die Welt bedarf ebensowenig eines ihren Lauf regelnden Geistes, wie die Waage eines Intellekts, um das Gewicht eines Gegenstandes anzugeben." Befragung der Natur - rationale Verbindung ihrer Antworten ohne jede Voreingenommenheit durch traditionelle Prinzipien: das ist der Weg der neuen Naturwissenschaft. Von Kepler stammt der erste Versuch, eine außerhalb der Erde ablaufende Erscheinung mit künstlichen Hilfsmitteln zu reproduzieren: der Regenbogen wird als Folge der Lichtbrechung in Wasserkugeln demonstriert; aber zur Erklärung der Regenbogenfarben dringt Kepler noch nicht durch. Er zeigt jedoch, daß das Himmelsblau nicht die Farbe des Himmels ist, sondern eine Folge der Durchdringung des Sonnenlichtes durch die Atmosphäre. Die Gleichartigkeit von Sonnen- und Mondlicht wird aus dem Experiment gefolgert, daß eine Wärmewirkung in dem mit einem großen Hohlspiegel entworfenen Mondbild nachgewiesen wird. Dies sind wieder typische Beispiele für die neue experimentelle Naturerforschung. Ein Ereignis besonderer Art ist die Verwendung (nicht Erfindung!) des Fernrohres für astronomische Beobachtungen durch Galilei im Januar 1610, genau ein Jahr nach Keplers Neuer Astronomie, der „physica coelestis". Beide hatten nichts miteinander zu tun, und die Meinung, daß die großen Entdeckungen am Himmel das heliozentrische Planetensystem bewiesen, ist falsch. Den direkten Beweis für die „bewegte Erde", d. h. für die Einordnung der Erde in die Schar der die Sonne umlaufenden Planeten zwischen Venus und Mars gab es bis ins 19. Jahrhundert überhaupt nicht! Das wohl stärkste Argument hierfür war, daß für die Erde das 3. Keplersche Gesetz von 1618 galt: die gleiche zahlenmäßige Beziehung zwischen mittlerem Sonnenabstand und Umlaufsdauer um die Sonne wie für alle anderen Planeten. Daß die Venus die Sonne umläuft und nicht die Erde - das hatte Galileis Entdeckung der Venusphasen bewiesen. Die damalige große Bedeutung der Fernrohrbeobachtung lag in dem Nachweis, daß mit ihm der Gesichtssinn qualitativ so erweitert wurde, daß (mit Keplers Wort) „der Himmel selbst durchdringbar" war; vorher hatte auch Kepler das

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nicht gedacht, aber im Gegensatz zu der Mehrzahl der Gelehrten die neue Tatsache vorbehaltlos anerkannt: „O du herrliches Rohr, wer dich in seiner Hand hält, ist zum Herrscher, zum König über die Sternenwelt bestimmt!"

3. Die Widerstände gegen die neue Naturerforschung Gegen die neue Naturforschung stellten sich die Kirchen und die Gelehrten; denn alles dem Menschen Erkennbare ist ja in den Heiligen Schriften niedergelegt! Schon 2000 Jahre vorher hatten die Athener dem Anaxagoras den Prozeß gemacht, weil er in der Sonne nicht den Gott, sondern nur heißes Gestein sehen wollte. Jetzt widersprachen Forschungsergebnisse Aussagen in Bibel und Schriften der Heiligen über die Natur. Die Erde mit dem Menschen als dem Höhepunkt der Schöpfung wird aus der ihnen von Gott zugesprochenen zentralen Stellung in der Welt entfernt! Sie solle sich mit unvorstellbar großer Geschwindigkeit durch den Weltraum bewegen, ohne daß der Mensch etwas davon merkt und ohne daß die leicht beweglichen Körper von seiner Oberfläche wegfliegen - widersprach das nicht schon dem gesunden Menschenverstand? und sieht nicht auch jeder Mensch, daß Mond, Planeten und Sterne sich um ihn bewegen? Der Mensch, so sagt Kepler, bleibt auch im heliozentrischen System der Herr der Welt, weil sein Geist den wunderbaren Bau der Natur erkennen kann. Was aber seine Sinne ihn lehren, braucht noch nicht die Wirklichkeit zu sein; wie er diese sieht, hängt von seinem Standort ab. Er zeigt in seinem Somnium, dem „Traum vom Mond", daß ein Mondbewohner ein völlig anderes Bild über die Bewegung der Erde und der Sonne, über die Finsternisse usw. erfährt, als ein Erdenbewohner. Das in der kirchlichen Lehre und in der Physik des Aristoteles verankerte Prinzip der Trennung der ewig unveränderlichen, unerforschlichen himmlischen Regionen von den irdischen wurde mißachtet - himmlische Vorgänge sollten mit einem künstlichen

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Instrument, dem Fernrohr, analysierbar und gleichartig mit irdischen Vorgängen sein, was auch die offiziellen Gelehrten ablehnten; das Neue kam ja nicht aus ihrem Kreis, nicht aus den Universitäten; eine Naturwissenschaft als autonomen Bereich gab es nicht. Galilei und Kepler forderten von dem Naturforscher unvoreingenommene Wahrheitssuche: „In der Theologie urteilen die Autoritäten, in der Naturwissenschaft nur die Vernunftsgründe", schrieb Kepler. „Die Bibel ist kein Lehrbuch der Optik und der Astronomie, widersetzt Euch diesem ihren Mißbrauch, Ihr Theologen." „Auf die Meinungen der Heiligen ist in der Frage der Natur nichts zu geben. Heilig ist zwar Laktanz, der die Kugelgestalt der Erde leugnete; heilig ist Augustinus, der sie zugab, aber die Existenz von Antipoden leugnete - heiliger ist mir die Wahrheit." Widerstände solcher Art von Kirchen und kirchlich gebundenen Gelehrten gab es noch oft - das 19. Jahrhundert ist voll von ihnen, als die neuen Erkenntnisse in Geologie, Paläontologie und Biologie zu den Entwicklungslehren führten und die Annahme einer Sündflut und des Erdenalters von 6000 Jahren unhaltbar machten. Sie sind ja heute noch nicht ganz verschwunden. Wurde damals auch Galilei zum Widerruf verurteilt, zog auch Descartes sein Werk über die Welt aus dem Druck zurück, weil es der kirchlichen Lehre widersprach: die Autonomie der Naturwissenschaft hatte sich durchgesetzt gegen die Theologie und auch gegen die „offizielle Wissenschaft", gegen die Universitäten. Die neue Naturwissenschaft überspült das Prinzip der mittelalterlichen theologisch-philosophischen Universität - es scheint fast so, als ob der Humboldtschen Universität durch die Folgen der heutigen Naturwissenschaft das gleiche Schicksal bevorsteht. Vielfach vergessen ist, daß Kepler auch eine ethische Begründung der Naturforschung wiederholt und stark betont. „Der Forscher ist Priester am Werk Gottes", er ist verpflichtet, mit seinem Verstand die Wunder der Schöpfung zu erkennen und das Erkannte allen Menschen zugänglich zu machen. „Denn diese Studien leiten das Sinnen vom Ehrgeiz und anderen Leiden-

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Schäften, aus denen Kriege und andere Übel hervorgehen, zur Friedensliebe und Mäßigung in allen Dingen hin." Man erinnert sich, daß schon Euripides - vielleicht zur Verteidigung des Anaxagoras - schrieb: „Wer Erkenntnis gewann vom erkundbaren Wesen der Dinge . . . der erlieget nicht der Versuchung zu schändlichem Handeln." Noch etwas ist bemerkenswert aus dieser Zeit: sie bringt die ersten organisatorischen Zusammenfassungen von Forschern in nationalen Akademien. Die Royal Society in London gründet die erste noch heute fortgeführte wissenschaftliche Zeitschrift zur Verbreitung neuer Erkenntnisse. In den naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen tritt an die Stelle der lateinischen Gelehrtensprache in zunehmendem Umfang die nationale Sprache. Bücher und Akademieberichte werden in andere Sprachen übersetzt, etwa Galileis italienische Werke ins Französische, die Florentiner Akademieberichte ins Englische.

4. Die Konsolidierung der neuen Naturwissenschaft Die Grundsätze Gilberts, Galileis, Keplers und die bald nicht mehr zu leugnenden Erfolge des nach ihnen ausgerichteten Handelns führten zu einem schnellen Aufstieg der neuen Naturwissenschaft in den folgenden Jahrzehnten. Torriceiiis Barometerversuch leitet die Physik der Gase ein: die Gasgesetze von Boyle und Mariotte um 1660 sind noch heute ihre Grundlage. - Otto von Guericke führt das Prinzip der Nichtherstellbarkeit, der Nichtexistenz eines luftleeren Raumes durch die Magdeburger Versuche ad absurdum; er war ein Außenseiter, der von astronomischen Fragen zu seinen Problemen kam. - Christian Huygens und Robert Hooke erweitern Galileis Mechanik, Francisco Maria Grimaldi und Robert Boyle beginnen die neue Erforschung optischer Phänomene, und Huygens entwickelt die erste mechanische Theorie des Lichtes. Den glänzenden Abschluß dieser ersten Periode der neuen Wissenschaft bringt mit dem Schluß des 17. Jahrhunderts das

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Werk von Isaac Newton. Seine „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" von 1687 werden die Grundlage der Physik bis zum Anfang unseres Jahrhunderts: die Mechanik der Bewegungen durch Kräfte und die Kräfte, die zu Bewegungen führen. Keplers Verbindung von irdischer und himmlischer Physik findet ihre erste Vollendung in dem Newtonschen Gravitationsgesetz und der Ableitung der Keplerschen Gesetze aus diesem. Doch muß bemerkt werden, daß die experimentelle Bestätigung des Gravitationsgesetzes erst über hundert Jahre später 1798 durch Joseph Cavendish erfolgte: er maß die Anziehung zweier Massen im Laboratoriumsversuch. Wir greifen hier etwas voraus: die großartigste Bestätigung des Gravitationsgesetzes im Planetensystem bringt erst das 19. Jahrhundert. Die Abweichungen der Bahn des Planeten Uranus von einer Keplerellipse werden auf eine Störung durch einen noch hypothetischen Planeten zurückgeführt, dessen Bahn aus den Anomalien der Uranusbahn nach dem Gravitationsgesetz gerechnet wird. Nach den so erhaltenen Angaben von Leverrier entdeckte 1846 Galle den neuen, den achten Planeten Neptun an der berechneten Stelle. Die „bewegte Erde" wird erst 1838 mit der Messung der von Kepler schon vergeblich gesuchten Parallaxe von Fixsternen durch Bessel und Struwe, die Rotation der Erde gar erst 1850 mit Foucault's Pendelversuch im Pantheon zu Paris direkt bewiesen! Newtons „Opticks" (englisch geschrieben) ist ein Meisterstück Galileischer Experimentalphysik - „für Anerkennung von Tatsachen bedarf es keiner Hypothesen" - und einer systematischen Ordnung aller bekannter Lichtphänomene. Sie enthält u. a. die Deutung der schon von anderen untersuchten Aufspaltung des Sonnenlichtes in die „Iris" bei seiner Brechung in Glasprismen oder (schon bei Kepler erwähnt) in Wasserkugeln als Regenbogen. Newton nennt das Farbenband von Rot bis Violett „spectre" - das Wort Spektrum hat sich erhalten, es bedeutet Gespenst und zeigt, daß es durch Zerlegung des Sonnenlichtes in die in ihr enthaltenen Farben entsteht; denn diese können - schon 1666 beobachtet - mit einer Linse wieder zu weißem Licht vereinigt werden. Die Natur des Lichtes und der Farben sucht Newton

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durch die Annahme von schwer definierbaren, verschieden schweren Lichtkorpuskeln verstehbar zu machen; Huygens' Annahme von Lichtschwingungen - vergleichbar mit Schallschwingungen lehnt er ab; er glaubt, daß die Erwärmung von Materie durch Licht nur durch Stoß von Lichtteilchen auf die kleinsten Teilchen der Materie verstehbar ist, welche dadurch in Bewegung geraten. Auch die Brechung des Lichtes führt er auf eine Kraft zwischen Materie und Lichtteilchen zurück. Newtons mechanische Vorstellungen, ζ. B. daß jede Richtungsänderung auf einer Kraftwirkung beruht, sind auch für sein Nachdenken über das Licht entscheidend.

5. Der Beginn der wissenschaftlichen Technik Galilei und Kepler befaßten sich schon mit der Verwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse: mit der neuen Naturwissenschaft beginnt die wissenschaftlich-befruchtete Technik. Galilei behandelt unter anderem die Bedeutung von Elastizität und Festigkeit von Materialien für Konstruktionen. Vor allem studiert er die „wunderbaren Maschinen großer Künstler im Arsenal von Venedig" und zeigt, daß in ihnen keine Wunder, sondern Naturgesetze wirken - das gelte für alles, was erfunden wurde und je noch wird: „denn nie kann der Mensch die Natur übertölpeln". Kepler entwickelt mathematisch eine Methode zur Berechnung des Faßinhaltes, um den Betrug im Weinhandel zu stoppen, und legt in dem berühmten Ulmer Kessel die gültigen Handelsmaße für Länge, Volumen und Masse fest. Schon 1597 hatte er einen Heber entworfen, um Wasser aus Bergwerken zu fördern: dabei sei ihm eine „neue Invention eingefallen, welche ohne Ventile, nicht aussetzend in continuum und circulum gehe". Jost Bürgi in Prag baute 1604 ein kleines Modell der Pumpe. Aber trotz jahrelangen Bemühens gelang es ihm nicht, einen Meister zu finden, welchem die technische Ausführung seines „Wasserkünstleins oder Kunstbrünnleins" gelang. Erst in den späteren Zahnradpumpen wurde Keplers Idee realisiert. Ähnlich ging es auch mit seinem Fern-

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rohr - niemand konnte ihm die Linsen genügend gut schleifen; 1613 baute der Ingolstädter Jesuitenpater Christoph Scheiner berühmt durch seine Sonnenfleckenbeobachtung und seinen Streit mit Galilei - das erste Keplersche Fernrohr. 1657 erfindet Christian Huygens auf Grund der von ihm verbesserten Galileischen Pendeltheorie (Cykloidenpendel) die erste Pendeluhr: nun waren überall Uhren mit gleicher Ganggeschwindigkeit herstellbar - ohne Eichung, nur auf Grund einer physikalischen Theorie. In der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts bemüht sich der Franzose Papin, aus Guerickes Luftpumpenversuch eine atmosphärische Arbeitsmaschine zu entwickeln. Denn Guericke hatte die Arbeitsfähigkeit der Atmosphäre gegen den leeren Raum erkannt. Papin erzeugt das Vakuum nicht mit einer Pumpe, sondern durch Kondensation von Wasserdampf. Er hatte noch keinen Erfolg, aber der Papinsche Drucktopf spielt bis heute eine bedeutsame Rolle (etwa in der Küche). Zur technischen Verwendung physikalischer Entdeckungen darf man auch die erste Benutzung der Torricellischen Röhre für die Messung des Luftdrucks rechnen, welche von dem Versuch von Pascal 1647 am Fuß und auf der Höhe des Puy de Dome ausgeht, bei welchem zum ersten Mal die Änderung des Luftdrucks mit der Höhe systematisch untersucht wurde. Wir schließen den Überblick über das entscheidende erste Jahrhundert der neuen Naturforschung ab mit einer kurzen philologischen Betrachtung. Newton nennt seine erste systematische Bearbeitung der Grundprinzipien der Physik die „philosophia naturalis". Bei Kepler bedeutet philosophia stets die rationale Astronomie und Physik, wie ja auch Gilbert sein experimentelles Arbeiten als „neue Art des Philosophierens" bezeichnete. Bis ins 19. Jahrhundert ist dieses Wort gebräuchlich - auch für spezielle Disziplinen der Physik: Philosophia optica, mechanica, hydrodynamica usw. Noch 1809 nennt Lamarck sein Werk „Philosophie zoologique". In England ist es bis heute üblich, Lehrstühle für Physik als „natural philosophy" zu bezeichnen, und die englische physikalische Zeitschrift heißt „Philosophical Magazine".

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6. Das achtzehnte Jahrhundert Naturwissenschaft

und

Aufklärung

Das 18. Jahrhundert können wir kurz behandeln; es bringt die großartige Entwicklung der mathematischen Physik, bestimmt durch die endgültige Formulierung der Differentialrechnung (Leibniz, Newton u. a.) in dem letzten Teil des 17. Jahrhunderts durch die Basler Bernoullis, Leonhard Euler und viele andere. Von direktem Einfluß auf die Physik war die Richtigstellung eines Newtonschen Fehlers bei der Untersuchung der Brechung des Lichtes und seiner Aufspaltung in die Spektralfarben, welcher ihn zu der Behauptung geführt hatte, achromatische Linsen (Linsen ohne Farbfehler) für Fernrohre und Mikroskope seien nicht herstellbar. Die nun geglückte Berechnung und Herstellung von Achromaten förderte besonders die astronomische und die mikroskopische Forschung. Für unser Problem der Entwicklung der neuen Naturerkenntnis bringt das 18. Jahrhundert wenig; denn neue Forschungsbereiche wurden nicht erschlossen. Um so wichtiger sind aber die Auswirkungen der neuen Physik: ihre Ausbreitung im Unterricht, ihre Bedeutung für das Jahrhundert der „Aufklärung" und für eine neue Technik. Der Anfang des Jahrhunderts bringt so etwas wie die Einordnung der neuen Naturwissenschaft in die Disziplinen des akademischen Unterrichts; es erscheinen die ersten großen Lehrbücher für die Experimentalphysik. Wir nennen nur das große Werk von s'Gravesande „Philosophia Newtonia experimentis affirmata" ist der Titel dieses mit zahlreichen Versuchsskizzen aller Art, mit typischen „Vorlesungsversuchen" ausgestatteten Lehrbuches (1721). Als Kuriosum sei die Darstellung eines durch den Rückstoß von ausströmendem Wasserdampf betriebenen Wagens genannt! Der Geisteshaltung der Aufklärungszeit entsprach das neue naturwissenschaftliche Denken - ja, es hat selbst wesentlich zur Aufklärung beigetragen, zu dem „Ausgang des Menschen aus

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seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit: sapere aude - habe Mut dich deines Verstandes zu bedienen" schrieb Kant. Von Anfang bis gegen Ende dieses Jahrhunderts erscheinen große populäre Bücher über die neue, sich auf Newton stützende Wissenschaft, etwa: „Newtons Weltwissenschaft für die Frauenzimmer" von Algarotti, Voltaires „Elemente der Philosophie Newtons für jedermann verständlich dargestellt", und von Leonhard Euler die „Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände der Physik und Philosophie". Der Münchner Professor Kennedy veröffentlichte seine in der Akademie der Wissenschaften gehaltenen Experimentalvorlesungen „Über den bürgerlichen Endzweck der physikalischen Wissenschaften". Einige Fortschritte in der Physik hatten die Untersuchungen über die Elektrostatik, die durch Reibung erzeugbaren elektrischen Ladungen, besonders nach dem Bekanntwerden der berühmten Blitzableiterversuche von Franklin gebracht. Eindrucksvolle Experimente mit elektrischen Ladungen und Entladungen, über elektrische Wirkungen auf den Organismus, daneben aber auch überraschende Erscheinungen durch Spiegelungen des Lichtes und natürlich auch Versuche mit dem luftleeren Raum werden an Höfen der Fürsten, in Abendgesellschaften vorgeführt; es gehörte einfach zum guten Ton, von den Ergebnissen der Naturerforschung etwas zu wissen; diese war salonfähig geworden! Ein Ereignis besonderer Art ist die Entdeckung des Planeten Uranus, die erste Erweiterung des Planetensystems seit Kepler, 1781 wieder durch einen Außenseiter, den Musiker Wilhelm Herschel (aus Hannover) in Bath bei Bristol. Entscheidende Fortschritte in der Entwicklung der experimentellen Naturwissenschaft, und zwar in der Chemie, nicht in der Physik, bringen die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Durch die Einführung der Waage zur Bestimmung der quantitativen Mengen der Reaktionspartner bei chemischen Reaktionen und mit der Entdeckung und Isolierung der Gase Wasserstoff, Stickstoff und besonders Sauerstoff wird die Alchemie zur wissenschaftlichen Chemie. So sind es auch meistens Chemiker und Pharmazeuten,

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welche den neuen Aufschwung der experimentellen Physik mit Beginn des 19. Jahrhunderts einleiten. Die neue Technik: Watt's

Dampfmaschine

Von größter allgemeiner Bedeutung für die Zukunft wird die Entwicklung der Technik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Zentralproblem war zunächst noch immer der Betrieb von Pumpen zur Entwässerung der Kohlengruben. Die Fortführung von Papins Versuchen, vor allem in England - an der Universität Marburg war Papin an dem Widerstand der Gelehrten gegen einen „Klempner" gescheitert hatte 1763 mit neuem Wissen über die Gesetze der Verdampfung und der Kondensation von Wasser zur Dampfmaschine von James Watt geführt. Ursprünglich auch zum Auspumpen des Wassers aus Bergwerken bestimmt, wurde sie bald zur allgemeinen Arbeitsmaschine fortentwickelt, als nach einer weiteren Erfindung von Watt die natürliche Hin- und Herbewegung des Kolbens, wie sie für die Pumpe erforderlich war, in eine rotierende Bewegung umgesetzt wurde. Mit ihr beginnt der Einfluß der Naturwissenschaft über die Technik, die Industrialisierung, die „erste technische Revolution", auf die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse. 1783 - der erste Flug der Montgolfiere! - galt als das Jahr der Eroberung der Luft, für die einen ein sichtbares Zeichen für den Fortschritt der Kultur, für andere das Werk des Teufels; um ihn auszutreiben, kommt bei seiner Landung der Priester mit dem Kreuz, in der Gondel war ein Schaf. „Wer die Entdeckung der Luftballone miterlebt hat," schrieb Goethe, „wird ein Zeugnis geben, welche Weltbewegung daraus entstand, welcher Anteil die Luftschiffer begleitete, welche Sehnsucht in so viel tausend Gemütern hervordrang, an solchen längst vorausgesetzten, vorausgesagten, immer geglaubten und immer unglaublichen gefahrvollen Wanderungen teilzunehmen. Wie frisch und umständlich jeder einzelne glückliche Versuch die Zeitungen füllte, zu Tagesheften und Kupfern Anlaß gab, welchen zarten Anteil man an den unglücklichen Opfern solcher Versuche genommen." Aber dann meint er,

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das sei eben eine Sensation des Augenblicks und bald alles wieder vergessen. Es ist doch interessant, daß wir heute genau dasselbe erleben. Ein weitblickender Mann, William Thompson, genannt Graf Rumford - Naturforscher, Politiker, Ingenieur, Sozialreformer erkennt die Bedeutung der Naturwissenschaft für die künftige Gesellschaft. Er gründet 1799 in London die Royal Institution: Gelehrte sollten neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit sich der Popularisierung, der Verbreitung der neuen Erkenntnisse im Volk widmen. Sie besteht noch heute, und manche der Vorlesungen, besonders die „Weihnachtsvorlesungen für die Jugend" aus alter und neuer Zeit sind beste Beispiele für diese Aufgabe. Es ist bemerkenswert, daß bis in unsere Zeit stets hervorragende englische Naturforscher sich dieser Aufgabe widmeten; um das nur mit einigen Namen zu belegen, seien Davy, Faraday, Tyndall aus dem letzten, W. H. Bragg und W . L. Bragg aus unserem Jahrhundert genannt. Der Vorsprung, den England in der Erwachsenenbildung besitzt, geht letzten Endes auf diese einzigartige Institution zurück.

7. Das neunzehnte Jahrhundert Die Erweiterung

der Sinnesorgane

durch

Apparate

Es beginnt mit der Entdeckung und Erschließung von Naturbereichen, welche unserer direkten Sinneswahrnehmung verschlossen sind, zunächst von unsichtbaren Strahlen in der Strahlung von Sonne und heißen Körpern. Wie ist so etwas möglich? Es war lange bekannt, daß man die Strahlen der Sonne nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Wärmenerven der Haut erkennen kann. Der schon erwähnte Wilhelm Herschel stellte sich die Frage, welche Farben in dem mit dem Prisma erzeugten Spektrum, dem Farbenband von Rot bis Violett, die Wärme liefern. Da die Wärmenerven zu unempfindlich waren, setzte er Thermometer in die verschiedenen Farben. Sie erwärmten sich nicht nur mehr oder weniger in allen Farben, sondern ganz besonders auch in

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dem dunklen Bereich jenseits des roten Spektrums. Herschel schloß auf die Existenz einer dunklen „ultraroten" Strahlung. Eine andere Erfahrungstatsache war, daß frisch hergestellte weiße Silbersalze im Sonnenlicht sich schwärzen; es erzeugt eine chemische Reaktion, die Ausscheidung von metallischem Silber aus dem Salz. Es gab zwei Meinungen: es wirkt das Licht oder ein mit dem Licht verbundenes Agens. Der englische Arzt Thomas Young modifizierte den Versuch von Herschel, indem er Silbersalz in das Farbenband der Sonne brachte: eine Schwärzung trat nur im Violett und besonders stark in dem diesem sich anschließenden dunklen Bereich auf. Young Schloß auf die Existenz einer neuen „dunklen, ultravioletten" Strahlung. Es gibt also Bezirke der Natur, welche unseren Sinnen direkt nicht zugänglich, aber mit künstlichen Apparaten zu erschließen sind. Das war etwas ganz neues. Bisher hatten Apparate dazu gedient - etwa Waage, Thermometer - , die Sinneswahrnehmungen quantitativ zu erfassen oder - ζ. B. mit dem Fernrohr - zu erweitern. Jetzt werden sie zu neuen Organen des Forschers: den Sinnesorganen unzugängliche Phänomene der Natur werden in beobachtbare Vorgänge transformiert, bei den zwei Strahlungsbeispielen in thermische und in chemische. Wie neu das war, sieht man aus mancherlei Urteilen der Zeit, so dem von Goethe: „Das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen will." Aber in seinen Maximen und Reflexionen findet sich auch ein anderer Satz: „Die Phänomene sind nichts wert, als wenn sie uns eine reichere, tiefere Einsicht in die Natur gewähren oder wenn sie uns zum Nutzen anzuwenden sind." Das trifft genau (wenn auch vielleicht nicht ganz so von Goethe gemeint!) die auf die Entdeckung der neuen Phänomene folgenden Versuche, diese durch allgemeine Vorstellungen zu verbinden. Es ist der Anfang der „theoretischen Physik", das Erdenken von unmittelbar nicht wahrnehmbaren Vorgängen oder Strukturen der Natur, um in

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einem rationalen Ordnungssystem (und seiner mathematischen Formulierung) einen möglichst großen Bereich von Erfahrungen aus möglichst verschiedenen Erfahrungsformen zu erfassen und aus ihm zu neuen Fragen an die Natur zu führen. Im Grunde genommen ist es nur die Fortführung der von Galilei und von Kepler gegebenen Prinzipien. Wir müssen hier aber eine Bemerkung besonderer Art einfügen. Denn von dem gleichen Streben war die deutsche „Naturphilosophie" jener Zeit geleitet; aber sie verwarf das Galileische und Keplersche Primat des Experiments für die Entscheidung, ob Vorstellungen richtig oder falsch sind, und führte so zu den absonderlichsten Behauptungen und Definitionen. Diese Naturphilosophie hat dem Fortgang der physikalischen Forschung in unserem Lande größte Hindernisse bereitet, gerade in der Zeit als die neue Erweiterung der Physik besonders in Frankreich und England reichste Früchte trug, wo man die romantische Naturphilosophie als „Phosphorismus" verspottete. Sie trug die Schuld, daß die führenden deutschen Physiker noch bis in die Mitte des Jahrhunderts allgemeine Theorien - und auch ihre mathematische Entwicklung - ablehnten. Die erste Theorie des Lichts Wir gehen zurück zur Physik um 1800. Die alte Frage, was Licht ist und wodurch die Farben sich physikalisch unterscheiden, wird aktuell. Zwischen den alten Theorien von Huygens - Lichtschwingungen ähnlich dem Schall und von Newton - Lichtteilchen verschiedener, als Farben gesehener Masse — konnte eine experimentelle Entscheidung nicht getroffen werden. Der englische Arzt Thomas Young machte ein Gedankenexperiment. Wenn ein Lichtstrahl eine fortlaufende Welle im Raum ist, also ein periodisches Hin und Her, so können zwei Lichtstrahlen sich aufheben, wenn sie so zusammentreffen, daß das Hin und Her des einen mit dem Her und Hin des anderen zusammenfällt; ihre Wirkung wird sich summieren, wenn in beiden das Hin und Her synchron erfolgt. 6

Laskowski, Gcisteswisscnschaft

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Die Methode ist im Prinzip einfach: ein sehr schmales Lichtbündel wird ζ. B. durch Spiegel in zwei Bündel aufgeteilt, welche dann nach Durchlaufen verschieden langer Strecken wieder in einem Punkt vereinigt werden. Nach der Schwingungsvorstellung ist die Zahl der Wellen auf den verschieden langen Laufstrecken verschieden, so daß bei Variation dieses Unterschiedes in dem Treffpunkt entweder Aufhebung oder Verstärkung des Lichtes - dunkel oder hell - entsteht. Dieses Interferenzprinzip von Young wird für alle Zeit das experimentum crusis für den Nachweis eines Wellen- oder Schwingungsphänomens. Denn Lichtteilchen können beim Zusammentreffen ihre Wirkung immer nur verstärken, nie aber aufheben. Es gelang Young, für dieses Gedankenexperiment mehrere ausführbare sogenannte Interferenzversuche zu finden: sie zeigten eindeutig die Wellenerscheinung; sie zeigten darüber hinaus, daß - wiederum entgegen der Newtonschen Teilchenhypothese - die Wellengeschwindigkeit im Glas kleiner als in Luft ist; sie lehrten, daß die Länge der Welle die Farbe des Lichtes bestimmt: abnehmend von Rot bis Violett und kontinuierlich weiter abnehmend in das Ultraviolett; und sie machten die Messung der Größe der Lichtwellen möglich: sie liegt in der Größenordnung von einigen hunderttausendstel Zentimeter. Der als solcher nicht beobachtbare Lichtstrahl - man kann nicht sehen, daß das Licht der Sterne den Raum durchläuft! - war über die Interferenzexperimente dem Gesichtssinn analysierbar gemacht. Darüber hinaus gelang es Young schon 1804, über die Schwärzung seines Silbersalzes einen „sichtbaren" Interferenzversuch mit seinen unsichtbaren dunklen Strahlen durchzuführen: da wo zwei sich treffende Strahlen sich aufhoben, wurde das Salz nicht geschwärzt. Damit war auch deren Wellennatur bewiesen und gezeigt, daß ihre Wellenlänge kleiner als die des sichtbaren Lichtes ist. - Für Herschels Ultrarot wurde der gleiche Beweis erst in den 30er Jahren durch Melloni erbracht. Ein allgemeines Ergebnis ist, daß unser Auge trotz der Gleichartigkeit der Wellen nur solche mit bestimmten Wellenlängen als Licht registriert.

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Die erste absolute Wellenlängenmessung führte Josef Fraunhofer 1822 mit der quantitativen Prüfung der Youngschen Annahmen aus und zeigte die Bedeutung derselben für die Herstellung von Mikroskopen, die bis dahin nur nach den Keplerschen Prinzipien geometrisch, mit geradlinigen Lichtstrahlen entwickelt waren: die Sichtbarkeit von Strukturen eines Körpers ist durch die Größe der Lichtwellen begrenzt. Die Auswertung dieser tiefen Einsicht kam erst 50 Jahre später mit dem Abbe-Zeiss'schen Mikroskop und allen Folgen für Wissenschaft und Technik. Fraunhofer bewies auch mit einem Versuch, daß die Wellenlänge desselben Lichtstrahles in Wasser einen kleineren Wert hat als in Luft, und zwar um gerade so viel kleiner, als nach anderen Interferenzversuchen die Fortpflanzungsgeschwindigkeit kleiner gemessen wurde. Nun gilt für jeden Schwingungsvorgang, der sich im Raum als Welle ausbreitet, die Beziehung c/λ = constanz, wenn c die Geschwindigkeit und λ seine Wellenlänge bedeutet. Die Konstante ist die Frequenz η des in der Schwingungsquelle (Schallquelle, Lichtquelle) pro Sekunde ablaufenden Schwingungsvorganges. Es gilt die allgemeine Wellengleichung c = nA. Die Größe der sichtbaren Lichtwellenlängen ergab sich - kontinuierlich abnehmend - von Rot mit etwa 0,8 μ (1 μ = x/iooo mm) bis zu Violett mit etwa 0,4 μ. Die Herkunft der Lichtschwingung blieb lange ein Rätsel. Die mathematische Fassung der Wellenvorstellung und mit ihr der quantitativen Zusammenhänge aller bekannten Lichterscheinungen wie Reflexion, Brechung, Farbenzerlegung, Polarisation, Beugung gab die Ätherschwingungstheorie von Augustin Fresnel. Die Schwingungsart des Äthers ist aber nicht wie von Huygens und auch von Young in Analogie zu Schallschwingungen als selbstverständlich angenommen, longitudinal, sondern transversal, d. h. die Schwingungsauslenkungen des Äthers stehen senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung wie laufende Seilwellen - von einem experimentum crucis von Arago gebieterisch gefordert. Fresnels Theorie ist die erste in sich geschlossene Theorie eines großen Erscheinungsbereiches - allerdings mit einer völlig hypothetischen Voraussetzung: der Existenz eines Äthers mit unver6·

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stehbaren mechanischen Eigenschaften - unendlich dünn, alles durchdringend und doch absolut starr. Gasförmig konnte er nicht sein, weil transversale Wellen sich nur in festen Körpern mit Formelastizität bilden können; ein fester Äther könnte kaum gewichtslos und alles durchdringend sein. Aber die Erfolge waren so groß, daß man solches in Kauf nahm und die Klärung der Zukunft überließ! Diese führte allerdings gegen Ende des Jahrhunderts zu einer völlig anderen Lichttheorie. Das Phänomen des „elektrischen Stroms" In die gleichen Jahre fällt, ausgehend von Voltas Entdeckung 1800, daß elektrische Spannungen zwischen den Enden zweier verschiedener Metallplatten entstehen, wenn sie zum Teil in eine Salzlösung tauchen, die Entdeckung und Erforschung des elektrischen Stroms. Der gelernte und gelehrte Apotheker Johann Wilhelm Ritter in Jena und der Chemiker Humphry Davy in London zeigten, daß aus Wasser, Salzlösungen und geschmolzenen Salzen ihre elementaren Bestandteile an Drähten abgeschieden werden, welche mit den Enden des Volta-Elementes verbunden in diese eintauchen, solange die Verbindung besteht. Die ersten Folgen dieser Entdeckungen sind diemischer Art, die quantitative Zersetzung des Wassers in zwei Volumteile Wasserstoff und ein Volumteil Sauerstoff und die Herstellung der Elemente Natrium, Kalium, Magnesium und anderer. Diese Zersetzung durch den elektrischen Strom wurde später von Faraday „Elektrolyse" genannt. Bemerkenswert ist, daß an der Spitze der Arbeiten über den elektrischen Strom eine Anwendung desselben steht! Ein die Enden oder „Pole" des Voltaelementes direkt verbindender Draht wurde warm; er konnte sich bis zum Schmelzen erhitzen, zeigte aber selbst keinerlei Veränderungen. Um so größer war die Aufregung der wissenschaftlichen Welt, als der Kopenhagener Christian Oersted im Sommer 1820 in Genf einen Versuch vorführte: in der Umgebung dieses Drahtes - gleichgültig welcher Art - wurde eine Magnetnadel abgelenkt, ohne daß der Draht selbst magnetisch wurde. Der Pariser Francois Arago

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brachte die Nachricht in den Kreis der Pariser Akademie; sie breitete sich schnell aus und führte überall zu mannigfachen Experimenten. Arago selbst, dann vor allem Andre-Marie Ampere in Paris und in London der chemische Selfmademan Michael Faraday, Davys Schüler, begründeten mit Versuchen den Elektromagnetismus und die Elektrodynamik, d. h. die vielfachen Wechselwirkungen zwischen den Phänomen Elektrizität und Magnetismus. Die Kraft auf die Magnetnadel wird zum Meßprinzip für den unbeobachtbaren elektrischen Vorgang. Charakteristisch für die Zeit ist die sofortige Frage nach verborgenen, diese Erscheinungen bewirkenden Vorgängen. Die magnetischen Erscheinungen hatte man auf aetherische magnetische Fluida, die elektrischen auf elektrische Fluida zurückgeführt. Ampere entwickelte die Vorstellung, daß in dem die Pole des Volta-Elementes verbindenden Draht ein dauerndes, gegengerichtetes Strömen eines positiven und negativen Fluidums stattfindet, das er - aus gewissen Analogien zu dem Strömen von Flüssigkeiten - den „elektrischen Strom" nannte. Er fließt durch alle Metalle; wenn in ihnen positive und negative Fluidumsteilchen zusammenprallen, entsteht Wärme. Er fließt auch als ein Funken durch die Luft, wobei er Licht erzeugt. Dieses sollte ein Vorgang im Äther sein - also zog man diesen auch zur Erklärung der elektrischen Phänomene heran und verband diese mit der neuen Atomvorstellung. Auch der Äther bestehe aus an sich elektrischneutralen Atomen, den „Äther-Neutronen". Die Zerlegung der Neutronen in die beiden elektrischen Fluida und ihre Bewegung als elektrischer Strom beruhe auf einer durch das Volta-Element erzeugten elektromotorischen Kraft. Die Einheit des Fluidums nannte er „electric" (analog zu dem hypotetischen „caloric" der Wärme). Ampere ging noch einen Schritt weiter: aus der magnetischen und magnetisierenden Kraft elektrischer Ströme leitete er die (später so genannte) Molekularstrom-Hypothese zur Erklärung des natürlichen Magnetismus ab: dieser beruhe auf dem dauernden Fließen eines inneren elektrischen Stroms in dem Magneten. Da derselbe aber nicht warm wird, kann es kein gewöhnlicher

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Strom sein - er solle innerhalb der Eisenteilchen fließen. Die in Amperes Hypothese liegende Reduzierung zweier ungeklärter Phänomene auf eines ist für die Physik typisch geworden. Eine andere theoretische Entwicklung geht auf den schwedischen Chemiker Jakob Berzelius zurück. 1808 hatte John Dalton eine spezifizierte Atomistik, entwickelt; es sollte eine bestimmte Anzahl von unbeobachtbar kleinen unveränderlichen Atomarten (er selbst nannte sie Moleküle) geben, die sich durch ihre Masse und ihr chemisches Verhalten unterscheiden und bei allen Reaktionen unverändert bleiben. Aus der Trennung chemischer Verbindungen in ihre Atome durch den elektrischen Strom Schloß Berzelius, daß auch die Vereinigung von Atomen zu chemischen Verbindungen auf elektrischen Kräften beruht, die von Atomen ausgehen. Es ist der erste Versuch, Modellvorstellungen für Atome und für den Elementarvorgang der chemischen Bindung zu entwickeln. Wir haben mit bestimmter Absicht diese lange überholten Vorstellungen in der Elektrizität und Chemie - ohne auf spezielle Fragen einzugehen - dargelegt. So sehr anderer Art, so viel umfassender unser heutiges Wissen über die Natur ist - ein Vergleich mit jenen Anfängen zeigt eine erstaunliche Kontinuität der zum Eindringen in den Mikrokosmos entwickelten Denkweise. Noch ein Wort zur gerade genannten Daltonschen Atomhypothese. Auch sie ist charakteristisch für diese Zeit, in der man nach verborgenen Ursachen von Phänomenen suchte. In irgendeiner Weise ist sie natürlich eine Folge der viel allgemeineren, nur als Denkprinzip anzusehenden Atomistik von Demokrit und Leukipp. Die Vorstellung des Aufbaus der Materie aus kleinsten Teilchen ist nie verschwunden, wenn sie auch oft abgelehnt wurde. Im 17. Jahrhundert hatte ζ. B. Gassendi sie behandelt, Newton stand zu ihr, sie wurde im Briefwechsel von Leibniz und Bernoulli diskutiert, wo der Begriff der kinetischen Energie der Moleküle auftritt. Dalton wurde zur Annahme chemischer Atomsorten aber durch die experimentellen Erfahrungssätze der einfachen und multiplen Proportionen geführt. Die direkte Folge von Daltons Hypothese war 1811 das berühmte Gesetz von Avogadro, daß

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gleiche Volumina aller Gase bei gleicher Temperatur und gleichem Druck die gleiche Zahl von Atomen (Molekülen) enthalten; aber es dauerte 50 Jahre, bis es eine Rolle spielte - bei der kinetischen Gastheorie von Krönig und Clausius kommen wir darauf zurück. Bemerkenswert ist auch die kurz nach Dalton aufgestellte Hypothese von Prout, daß alle Atome aus dem gleichen Uratom zusammengesetzt sind, als welches er das leichteste Element Wasserstoff annahm - ein Gedanke, der sich, wenn auch im einzelnen viel spezifizierter, 120 Jahre später doch im Grundsatz als richtig erwies. Elektromagnetische

Induktion und

Lichttbeorie

1831 leitete Michael Faraday eine neue Entwicklung des Elektromagnetismus ein mit der großen Entdeckung der elektromagnetischen Induktion, der Entstehung eines elektrischen Stromes in einem einfachen geschlossenen Drahtkreis bei irgend einer Veränderung seiner Lage gegen die Lage eines Magneten oder eines anderen stromdurchflossenen Drahtkreises. Seine Beobachtungen führen ihn zu der Vorstellung, daß die mechanische Wirkung zwischen zwei Magnetpolen (oder auch zwei elektrischen Ladungen), zwischen zwei stromdurchflossenen Drähten oder zwischen Magnetpol und stromdurchflossenem Draht - Anziehung, Abstoßung, Drehung - nicht auf einer von dem einen auf den anderen direkt übertragenen Kraft beruht: der Zustand des Raumes werde geändert. An die Stelle der herrschenden Ansicht einer Fernwirkung tritt die des magnetischen oder elektrischen Feldes; auf dieser Änderung des Raumes beruhen die mechanischen Wirkungen und auch die elektromagnetische Induktion. Es ist die Begründung der Feldvorstellung an Stelle der Fernkräfte, der „Feldphysik". Diese nach allen Richtungen experimentell verfolgend entdeckte Faraday nach langem vergeblichen Suchen die magnetische Beeinflussung der Fortpflanzung des Lichtes in Materie, den ersten Hinweis auf einen physikalischen Zusammenhang dieser so ganz verschiedenen Phänomene „Licht" und „Magnetismus".

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James Clark Maxwell unternimmt es, den Faradayschen Ideen - zunächst mit mechanischen Modellvorstellungen - eine mathematisch geschlossene Form zu geben. Hieraus entwickelt er die elektromagnetische Lichttheorie (1865). Wir müssen wenigstens einen, wohl den wesentlichsten Maxwellschen Schritt, welcher zu dieser geschlossenen Theorie von Elektrizität und Licht führte, nennen, der übrigens auch in Faradays Gedanken zu finden ist. Zwischen zwei geladenen, voneinander isolierten Platten herrscht das Faradaysche elektrische Feld. Wird in einem geschlossenen Stromkreis, bestehend aus Spannungsquelle und verbindendem Draht, ein solches Plattenpaar eingeschaltet, so kann kein Strom fließen; aber zwischen den Platten entsteht ein elektrisches Feld, weil und solange von den Polen der Stromquelle durch die Drahtverbindung elektrische Ladung, also ein Strom, auf die Platten fließt. Den hierbei im Raum zwischen den Platten sich ändernden elektrischen Zustand faßt Faraday als einen Vorgang auf, der einem sich änderndem Strom im Stromkreis äquivalent ist und nennt ihn den elektrischen Verschiebungsstrom: wie jeder Strom ein ihn umschließendes magnetisches Feld erzeugt, so soll auch um diesen Verschiebungsstrom ein magnetisches Feld entstehen. Nun folgt die kühne Extrapolation auf das Licht. Die Lichtfortpflanzung wird nicht mehr als ein transversaler mechanischelastischer Schwingungs- oder Wellenvorgang in einem Äther mit ganz bestimmten Eigenschaften aufgefaßt. Der Äther fungiert nur noch als „Träger" elektrischer und magnetischer Felder. Ändert sich an einer Stelle das elektrische Feld, so entsteht mit dem sich ändernden Verschiebungsstrom senkrecht dazu ein magnetisches Feld; dabei entsteht - unter Verallgemeinerung von Faradays Induktionsgesetzen auf Vorgänge im Raum - wieder senkrecht dazu, aber entgegengesetzt gerichtet, ein elektrisches Feld und so fort: die Fortpflanzung einer - magnetischen oder elektrischen — Feldänderung geschieht in Form von zwei Wellenzügen, einem magnetischen und einem elektrischen, die senkrecht zueinander und senkrecht zu ihrer Fortpflanzungsrichtung schwingen und sich mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum ausbreiten. Das

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was wir als Licht bezeichnen, ist auch eine solche elektromagnetische Schwingungs- oder Wellenausbreitung. Daß Maxwell gerade Lichtgeschwindigkeiten für die Ausbreitung der aus den Induktionsgesetzen folgenden elektrisch-magnetischen Feld-Wechselwirkungen annahm, beruhte darauf, daß Kohlrausch und Weber aus ihren Messungen über den Zusammenhang von magnetischen und elektrischen Größen eine Konstante fanden, welche die Dimension einer Geschwindigkeit und sehr nahe den Wert der Lichtgeschwindigkeit hatte - ein besonders großer Erfolg von Präzisionsmessungen. Die Hertz'sehen

Wellen

Eine erste direkt prüfbare Konsequenz der Maxwellschen Theorie bot eine quantitative — und das ist wesentlich - Beziehung zwischen der elektrischen Materialkonstanten der Isolatoren und der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes in ihnen, also zwischen Dielektrizitätskonstante und optischem Brechungsindex. Ludwig Boltzmann bestätigte sie für den einfachsten Fall, für Gase. Röntgen wies 1888 mit dem Röntgenstrom die magnetische Wirkung eines bewegten elektrischen Feldes nach. Die wesentlichste Folgerung war noch hypothetisch und schien vielen Physikern phantastisch. Es war hoffnungslos zu versuchen, die Zeit zwischen der Erregung eines elektrischen oder magnetischen Feldes und ihrer Wirkung an einem entfernten Ort zu messen; selbst wenn eine solche noch in 100 Meter Abstand feststellbar wäre, so würde die Zeit bei Annahme von Lichtgeschwindigkeit für ihre Ausbreitung weniger als eine Millionstel Sekunde betragen. Heinrich Hertz erkannte einen Weg zu ihrer Prüfung und nach manchen Schwierigkeiten gelang es ihm, diesen experimentell zu gehen: es mußten mit rein elektrischer Methode elektrische Schwingungen (periodische Feldänderungen) hoher Frequenz erzeugt und ihre wellenförmige Ausbreitung sowie die Größe der Wellen durch den Nachweis von Interferenzen im Raum festgestellt werden. Wieder diente der Nachweis von Interferenzen (wie einst bei Licht) als experimentum crucis.

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Die Schwingungsquelle - der „Sender" - war eine kleine mit einem Hochspannungserzeuger betriebene Funkenstrecke in einem „Schwingungskreis"; die Ausbreitung der Schwingungen im Raum wurde mit einem gleichen Schwingungskreis - dem „Empfänger" - dadurch festgestellt, daß in dessen Funkenstrecke kleine Funken auftraten. Aus der Messung der Wellenlänge λ, d. h. den Abständen der Maxima und Minima der Interferenzen (bei den ersten Versuchen einige Dezimeter) und der elektrisch berechneten Frequenz η des Schwingungskreises kann dann nach der allgemeinen Schwingungsgleichung η · λ = c die Ausbreitungsgeschwindigkeit c berechnet werden; sie ergab sich gleich der Lichtgeschwindigkeit! Die von der Theorie behaupteten miteinander gekoppelten und senkrecht zueinander stehenden magnetischen und elektrischen transversalen Wellenzüge wurden mit magnetischen und elektrischen Feldmeßgeräten getrennt nachgewiesen. Alles dieses gelang Heinrich Hertz in den Jahren 1887-1892. Alle optischen Erscheinungen wie Spiegelung, Brechung, Polarisation, Beugung wurden mit diesen Wellen elektrischer Kraft reproduziert. Die Theorie des elektromagnetischen Spektrums von den längsten elektrischen bis zu den kürzesten ultravioletten Wellen war vollendet; über die Fortsetzung nach noch kürzeren Wellen war aber noch nichts bekannt. Die Entwicklung der Elektrotechnik Die Erweiterung der alten und die Erschließung neuer Forschungsbereiche führte im 19. Jahrhundert zu einer wachsenden Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Technik, und auch zu einer - als geistiges Phänomen betrachtet - neuartigen Technik. Nur das Prinzipielle interessiert hier, soweit es der Entwicklung der Physik entspricht. Allgemein sei auf die Gründung der ficole Polytechnique in Paris hingewiesen, einer die wissenschaftliche Mathematik pflegenden Hochschule, welche für die mathematische Bearbeitung von Problemen der Technik (ebenso wie der Physik!) außerordentlich fruchtbar wurde. Als spezielles

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Beispiel benutzen wir die, die sozialen Lebensbedingungen mehr als alle andere Technik umgestaltende „elektrische" Technik. In der auf Mechanik und Wärme aufgebauten Technik wurden Erfahrungen und Erkenntnisse über Naturerscheinungen zur Verstärkung, Beschleunigung und Vereinfachung menschlicher Arbeitsmöglichkeiten entwickelt. Mit dem elektrischen Strom wurde ein, dem Menschen von der Natur nicht gegebenes Arbeitsmittel erschlossen, sogar eine in der Natur in dieser Form nicht vorkommende Erscheinung - nur nach physikalischen Gesetzen zur Technik entwickelt. Der Strom wird künstlich erzeugt; die Gesetze sind phänomenologischer Art: sie ordnen die im Laboratorium künstlich erzeugten Phänomene ohne Kenntnis der dabei ins Spiel kommenden oder ablaufenden Elementarprozesse. An erster Stelle steht die Fortleitbarkeit des elektrischen Stromes durch Drähte auf „beliebige" Entfernungen. Es sei nur nebenbei bemerkt, daß hierauf und auf den Regeln über die Verzweigung von Strömen (Ohmsches Gesetz) die weitgehende „Elektrifizierung" aller Arbeits- und Lebensbereiche beruht, während die Nutzung der Dampfmaschine ortsgebunden ist. Die erste „elektrische Technik" betraf die Übermittlung von Nachrichten, die schon 1808 von Sömmering mit dem elektrolytischen Telegraphen demonstriert wurde. Der bald nach Faradays Entdeckung (1831) von Carl Friedrich Gauss und Wilhelm Weber in Göttingen gebaute Induktionstelegraph - ursprünglich für die Übermittlung von Meßergebnissen zwischen Physikalischem Institut und Sternwarte bestimmt - wurde 1836 von Carl August Steinheil zur schnellen Nachrichtenübermittlung zwischen Stationen des gerade eingerichteten Eisenbahnverkehrs technisch entwickelt: eine Technik förderte eine andere! Am Ende des Jahrhunderts wird aus der Hertz'schen Prüfung von Maxwells Theorie Marconis drahtlose Telegraphie; einer der wichtigsten Faktoren der gegenwärtigen Kultur beruht auf einer kühnen physikalischen Theorie. Andere Verwendungen des elektrischen Stromes in größerem Umfang ließen lange auf sich warten. Selbst Faradays Entdeckung zur einfachen Herstellung von Strömen nach seinen Induktions-

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gesetzen führte erst nach fast 50 Jahren zu brauchbaren Dynamomaschinen, welche das Siemens'sche elektrodynamische Prinzip (1867) benutzten und zunächst in der „elektrischen" Eisenbahn und der „elektrischen" Beleuchtung benutzt wurden. Aus der ersten (1800) wissenschaftlichen Anwendung des Stromes, der Elektrolyse für die analytische Chemie und den Faradayschen Gesetzen der Elektrolyse (1835) konnte nun erst bald nach 1880 mit geeigneten Stromerzeugern, welche große Mengen geschmolzener Salze in kurzer Zeit zersetzen ließen, die auch sofort einsetzende großtechnische Aluminiumerzeugung werden. Eine neue Technik schafft eine andere Technik! Es mag interessieren, daß das Wort Elektrotechnik 1881 erstmals im Namen des Berliner Elektrotechnischen Vereins auftritt. Werner Siemens hatte es geschaffen zur Bezeichnung der neuen mannigfachen Anwendungen des elektrischen Stroms; erst später umfaßt das Wort auch die Erzeugung von Gleich- und Wechselstrom, seine Fortleitung, Messung usw. Aber - und das sei wiederholt: man hatte noch keine begründete Vorstellung, was ein elektrischer Strom ist, als er schon seine große kulturelle Bedeutung gezeigt und gefunden hatte. Das rührt an nicht uninteressante Fragen über die Ehe Technik-Wissenschaft; die Dampfmaschine lief ja jahrzehntelang mit der falschen Annahme eines Übergangs von Wärmestoff! Energiesatz und

Atomistik

Wir müssen noch zwei Ereignisse verschiedener Art aus der Mitte des 19. Jahrhunderts erwähnen. Das Streben nach Erkenntnis allgemeiner Ordnungsgesetze war - außerhalb des Bereiches der Mechanik - wenig ausgebildet. So kam der erste Anstoß nicht aus der Physik und aus der offiziellen Wissenschaft. Ein typischer Außenseiter, der junge praktische Arzt Julius Robert Mayer, in dessen grüblerischer bis ins Pathologische gehenden Geistesverfassung sich freie Phantasie und strenges naturwissenschaftliches Denken in eigenartiger Weise mischten, entwickelte 1842 - „weil er es für denknotwendig hielt" - die Idee von der Erhaltung der

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Kraft, den Energiesatz wie wir sagen, den ersten Hauptsatz der Thermodynamik, wie Clausius ihn, auf ein spezielles Problem bezogen, 1850 bezeichnete. Mit einer geradezu klassischen theoretischen Überlegung berechnete er aus alten französischen Messungen der spezifischen Wärmen von Gasen das mechanische Wärmeäquivalent, die zahlenmäßige wechselseitige Umrechnung von Wärme und mechanischer Arbeit; er zeigte die Bedeutung des Energiesatzes für vielfältige physikalische und physiologische Vorgänge und für die Dampfmaschine; er stellte die für seine Zeit neuartige Frage nach der Herkunft der Sonnenenergie, da auch für die Sonne das Gesetz der Energieerhaltung gültig sein müsse; die richtige Antwort, um welche Mayer und andere sich in den folgenden Jahren bemühten, ließ allerdings 100 Jahre auf sich warten. 5 Jahre später entwickelte der ebenso physiologisch wie physikalisch und mathematisch geschulte junge Hermann Helmholtz das gleiche Gesetz. Aber es dauerte noch einige Jahre, bis es zum Grundsatz aller naturwissenschaftlichen Überlegungen wurde. Weder Mayer noch Helmholtz - letzterer trotz guter Protektion konnten ihre Abhandlungen in den Annalen der Physik veröffentlichen. Der Herausgeber Poggendorff lehnte ihre Aufnahme ab: eine solch allgemeine, den einzelnen Phänomenen übergeordnete Betrachtung, quasi ein Weltprinzip, roch ihm nach Naturphilosophie; er fürchtete, daß diese durch ein Hintertürchen wieder in die Physik eindringen werde. So erfolgreiche Physiker wie Magnus, der Begründer des experimentellen Unterrichtes im „Physikalischen Praktikum", wollten sogar die Mathematik als Hilfsmittel der Physik damals noch nicht anerkennen. Das zweite folgenreiche Ereignis der Jahrhundertmitte ist die Begründung der physikalischen Atomistik durch Krönig und Clausius mit der kinetischen Theorie der Gase 1856/57; wir sprachen schon kurz davon. Das Gas wird als bestehend aus frei den Raum durchfliegenden, vollkommen elastischen Kügelchen („Molekeln") angenommen. Mit dem Satz der Mechanik von der Erhaltung des Impulses (Masse m mal Geschwindigkeit der Moleküle v) wird der Druck des Gases als Folge der elastischen Stöße auf die Gefäßwand berechnet. Die Formel liefert Proportionalität

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zu dem Produkt m · v2. Da nach dem alten Gasgesetz der Druck proportional zur Temperatur ist, muß die Größe m · v2, also die kinetische Energie der Molekel, proportional zur Temperatur sein. Hieraus ergibt sich direkt das schon erwähnte Avogadrosche Gesetz von 1811, dessen Bedeutung für die Atomistik erst jetzt eingesehen wird. Zehn Jahre später vervollkommneten Maxwell und dann Ludwig Boltzmann die Theorie, indem sie durch Berücksichtigung der Zusammenstöße der Moleküle untereinander die statistische Berechnung der mittleren Geschwindigkeit, der mittleren freien Weglänge und Stoßzahl durchführen und damit den Haupteinwand gegen die erste Theorie beseitigten: daß trotz der sehr großen Geschwindigkeit der Molekel (bei Zimmertemperatur je nach ihrer Masse einige hundert bis über tausend Meter je Sekunde!) die Diffusionsgeschwindigkeit um viele Zehnerpotenzen kleiner ist. Die vollständige kinetische Theorie der Gase gab zum ersten Mal eine rationale Erklärung für die Existenz unserer Atmosphäre und den Abfall des Luftdrucks mit der Höhe: Erdanziehung auf die Moleküle (d. h. potentielle Energie) und die nach allen Seiten, also auch gegen die Schwerkraft gerichtete kinetische Energie derselben liefern beides. Die Übertragung der gleichen Vorstellung der Gasatomistik auf Flüssigkeiten erklärte erstmals die schon zu Beginn des Jahrhunderts mit den verbesserten Mikroskopen von Robert Brown beobachtete Brownsche Bewegung - die dauernde Zitterbewegung kleiner Staubteilchen in einer Flüssigkeit - , welche nach der Theorie von Einstein und Smoluchowski zu der besten direkten Methode für die Bestimmung der Zahl der Molekeln, der Avogadroschen oder Loschmidtschen Zahl, im Kubikzentimeter oder in dem Molvolumen führten. Die wesentlichsten Größen der kinetischen Gastheorie sind erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts mit den Molekularstrahl-Experimenten unmittelbar gemessen worden. Von Boltzmann stammt auch die statistische Erklärung des Entropiebegriffes in der Thermodynamik von Clausius als die

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Wahrscheinlichkeit eines Zustandes; sie wurde 1900 für Plancks Theorie der Wärmestrahlung wichtig. Die allgemeine Bedeutung dieser hier gegebenen Beispiele liegt darin, daß die Mathematik sich als unentbehrliches Hilfsmittel für die Ordnung und für die Voraussage physikalischer Phänomene sehr verschiedener Art erwiesen hat. Aber trotz der genannten und vieler anderer Erfolge der auch auf feste Körper ausgedehnten atomistisch-kinetischen Theorie (ζ. B. ihr thermisches Verhalten) dauerte es ziemlich lange, bis diese allgemein angenommen wurde; immer wurde eingewendet, das man ja die Atome nicht sehen könne! Noch in seinen alten Tagen meinte Helmholtz — auf die Erfolge der Atomistik in der Chemie angesprochen den Chemikern sei eben noch nichts besseres eingefallen; und in seiner letzten Schrift 1894 über die wesentlichsten Probleme der Naturwissenschaft erscheint die Atomistik nicht. Das Leuchten der Atome Entscheidend für die gesamte Physik wurde die Atomistik erst im Anfang unseres Jahrhunderts, aber die wesentlichsten Phänomene brachte schon das 19. Jahrhundert. 1801 beobachtete Wollaston, daß das elektrische Licht - so nannte man den leuchtenden elektrischen Funken - sich wesentlich von dem Licht der Sonne unterschied: in einem Prisma in seine Farben zerlegt, zeigt es nicht das Farbenband, das kontinuierliche Spektrum, sondern nur einzelne helle Linien verschiedener Farben, Spektrallinien genannt. 1816 entdeckte Fraunhofer mit einem viel besseren Prisma eine sonderbare Erscheinung: das Newtonsche „kontinuierliche" Farbenband des Sonnenspektrums ist von vielen hunderten scharfen dunklen Linien durchbrochen, den Fraunhoferseben Linien. Nach einer Menge von Untersuchungen dieser Spektren gaben Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen in Heidelberg um 1860 die endgültige Erklärung beider Phänomene: 1. Jeder glühende feste oder geschmolzene Körper sendet ein vollkommen kontinuierliches Spektrum aus.

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2. Jedes chemische Element sendet im Gaszustand bei hoher Temperatur diskrete Spektrallinien, also Lichtwellen bestimmter Wellenlängen aus, deren Lage im Spektrum, deren Farbe für das Element charakteristisch ist. 3. Wird ein Gas oder Dampf eines chemischen Elementes vom Licht eines festen Körpers durchstrahlt, so werden gerade die Wellenlängen absorbiert, welches es im erhitzten Zustand ausstrahlt. Die Tatsache 2. ist die Grundlage der Spektralanalyse; 3. erklärt die Fraunhoferschen Linien. Sie entstehen also durch Absorption von Teilen des Lichtes des heißen Sonnenkernes in einer diesen umgebenden Gas- oder Dampfatmosphäre; aus ihren Wellenlängen ergibt sich die materielle Analyse der Sonne: sie enthält alle und nur die auf der Erde bekannten chemischen Elemente. Es ist die Begründung der neuen Astrophysik. Bezüglich der Spektrallinien folgerte man, daß sie von irgendwelchen Schwingungen in den Atomen ausgehen — welcher Art diese sind, blieb unbekannt.

8. Das zwanzigste Jahrhundert Röntgenstrahlen Das 20. Jahrhundert der Physik, welches den Mikrokosmos erschließt, beginnt schon im Jahre 1895. Bis dahin schien die der physikalischen Methode zugängliche Welt im wesentlichen übersehbar zu sein. Zwar gab es noch ungelöste Probleme; aber man vermutete in ihnen kein Anzeichen für eine grundsätzliche Neugestaltung der Physik. Zu Neujahr 1896 hatte W. C. Röntgen die Entdeckung einer „neuen Art von Strahlen" bekanntgemacht. So aufregend ihre Eigenschaften auch waren, sie schienen zunächst doch entweder als eine elektromagnetische Strahlung sehr hoher Frequenz oder als die lange gesuchten longitudinalen Ätherwellen verstehbar. In ähnlicher Art als „Vorgang im Äther" betrachtete man weithin die

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schon 1869 von W. Hittorf entdeckten Kathodenstrahlen. Doch gab es hierfür auch eine andere Hypothese. Daß die Röntgenstrahlung eine transversale elektromagnetische Wellenstrahlung mit ungefähr 10 OOOmal kürzerer Wellenlänge als das sichtbare Licht ist, bewiesen erst 1912 Laue, Friedrich und Knipping mit der Entdeckung von Jwier/erenzerscheinungen beim Durchgang von Röntgenstrahlen durch Kristalle. Eine hinter den Kristall gesetzte Photoplatte war nicht nur da geschwärzt, wo der direkte Strahl auf sie fiel. Über einen weiteren Bereich zeigte sie periodisch-wechselnd geschwärzte und nicht geschwärzte Stellen. Die Erscheinungen entsprachen im Grundsätzlichen genau den optischen Interferenzen beim Durchgang des Lichtes durch gitterförmige Gewebe (Regenschirmseide): sie beruhen auf der Interferenz der - an den gitterförmig im Kristall angeordneten Atomen - abgebeugten Röntgenstrahlen. Wie im ersten Fall aus den Interferenzerscheinungen die Struktur des mechanischen Gewebes errechnet werden kann, so führen die Röntgenstrahlinterferenzen nach dem Durchgang durch Kristalle zur Kenntnis der Anordnung der Atome in dem Kristall, also der inneren Kristallstruktur. Hierauf beruht einer der sichersten Beweise für die Existenz diskreter Atome. Diese Entwicklung, die sich unmittelbar an Laues Entdeckung anschloß, begründeten W. H. und W. L. Bragg. Fügen wir gleich eine Bemerkung über die Bedeutung der Röntgenstrahlen für die Technik hinzu. Die hohe Durchdringungsfähigkeit der Strahlen und ihre Wirkung auf die Photoplatte hatte schon Röntgen benutzt, um innere Löcher oder Risse in Metall nachzuweisen; diese „Grobstruktur-Kontrolle" ist nichts anderes als die Verwendung der Strahlen in der medizinischen Diagnostik. Mit der Laue-Entdeckung wird erstmals die innere Feinstruktur fester Materie beobachtbar. Damit ist die Grundlage für eine systematische Entwicklung etwa von Metallegierungen gegeben. Ich möchte behaupten, daß dieses die für alle Technik von heute wesentlichste Entdeckung ist. Denn die Materialfrage ist die schlechthin entscheidende Frage für alle Technik. Die Fortentwicklung dieser Feinstrukturforschung führte zur 7

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Klärung der Struktur von Flüssigkeiten, von chemischen Molekülen und ganz besonders der für die Biochemie und die physiologische Chemie grundlegenden Ermittlung der Struktur von Eiweiß usw., also der neuen „Molekular-Biologie". Es ist wohl auch bemerkenswert, daß erst mit der Aufklärung der Natur der Röntgenstrahlen ihre Bedeutung für die Physik (etwa des Atombaues) beginnt. So wurde erst 1913 das Ordnungsprinzip des alten Periodensystems der chemischen Elemente verstanden; aus Moseley's Messung der Röntgenspektren ergab sich, daß die positiv-elektrische Ladung der Atomkerne (s. u. bei Rutherfords Kernmodell) von Element zu Element um eine Einheit zunimmt. Nicht das Atomgewicht, sondern die Ordnungszahl bestimmt die Reihenfolge im Periodensystem. Viel größeres Kopfzerbrechen machte die - von der Entdeckung der Röntgenstrahlen induzierte - Entdeckung einer von dem Metall Uran spontan ausgehenden durchdringenden Strahlung durch Becquerel 1896. Vor allem fehlte jedes Anzeichen für ein sie bewirkendes Energieäquivalent. Man dachte an eine kosmische Ursache, eine Art Fluoreszenz, erregt durch eine noch unbekannte unsichtbare Weltraumstrahlung; Madame Curie nannte deshalb das Phänomen Radioaktivität des Urans, d. h. etwa durch Weltraumstrahlung aktiviertes Uran. Doch zunächst etwas anderes. Kathodenstrahlung

und Elektronik

Mit den Entdeckungen von Röntgenstrahlen und Radioaktivität fällt der Nachweis zusammen, daß ein Kathodenstrahl eine negative elektrische Ladung mit sich trägt, also eine von aller Materie unabhängige elektrische Strömung im Vakuum ist, was Hittorf aus seinen Versuchen schon geschlossen hatte. Die Wirkung elektrischer und magnetischer Kräfte auf den Kathodenstrahl - wesentlich durchgeführt von J. J. Thomson in Cambridge und seiner Schule - war nur verträglich mit der Annahme: der Kathodenstrahl besteht aus schnell bewegten Korpuskeln, welche quantitativ durch ihre Ladung und ihre weit unterhalb den Atommassen liegende Masse charakterisiert sind.

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Genau in diese Zeit fällt - völlig unabhängig von der Kathodenstrahlphysik - die Entdeckung des Zeemanschen Effekts in Holland und seine Deutung: die magnetische Beeinflussung der Lichtemission eines leuchtenden Atomgases, die Aufspaltung der diskreten gelben Spektrallinie des Natriums in zwei Linien ist quantitativ deutbar mit der Annahme, daß im leuchtenden Atom elektrische Korpuskeln mit der Ladung und der Masse der Kathodenstrahlteilchen als schwingende Strahlungszentren vorhanden sind. Der Zeeman-Effekt war so ein spezieller, der direkten Messung zugänglicher Fall einer neuen allgemeinen Theorie von Η. A. Lorentz, daß alle elektrischen, magnetischen und optischen Eigenschaften aller Materie auf in ihr enthaltene elektrische Ladungsteilchen zurückführbar sind. Daß auch das Leuchten der Atome, die Spektrallinienemission, von ihnen ausgeht, war damit erkannt; ihre von Element zu Element verschiedenen Schwingungsfrequenzen (oder Wellenlängen) sind offensichtlich die Sprache, mit der das Atom uns über seine innere Struktur Auskunft gibt - aber den Code fand erst Niels Bohr 1913 (s. u.). 1899 hatte Thomson seine Korpuskelversuche abgeschlossen: Sie sind gleichartige Bestandteile aller Atome, wir nennen sie heute Elektronen. Auf ihnen beruhen alle elektrischen, optischen, chemischen Prozesse; Johannes Stark führt 1905 den Begriff Elektronik für diese neue physikalische Disziplin ein. Die Elektronen sind auf verschiedene Weise, ζ. B. durch Licht, durch Wärme, durch Röntgenstrahlen, von den Atomen abtrennbar. Das Atom ist also nicht unteilbar: es ist - in der damaligen Formulierung - eine Aufspaltung, ein „splitting up", der Atome möglich, aber es änderte sich sonst nichts am Atom. Nach der Wiedervereinigung des Atomrestes mit einem Elektron ist sein alter Zustand wieder hergestellt. Schon diese Untersuchungen zeigten, daß die Größe der elektrischen Ladung der Korpuskel unabhängig von der Art ihrer Herkunft und ihrer Loslösung von der Materie stets nahezu den gleichen Wert hatte. Es ist die Begründung der Atomistik der elektrischen Ladung; der Absolutwert des Elementarquantums (heute sagt man des Elementarteilchens) der Elektrizität, die 7*

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Elektronladung wurde 1916 durch Millikan bestimmt; es ist eine universelle Größe unserer Natur. Mit dem Elektron war endlich das Urphänomen aller elektrischer Phänomene gefunden. Die Ladung des Elektrons erwies sich als gleich der schon von Faraday 1835 durchgeführten Messung der Ladung der „einfachen" Ionen aus der Elektrolyse, wenn man die Ionen als atomare Teilchen betrachtet; aber - so sagte Faraday - „es ist leicht von Atomen zu reden, aber schwer zu sagen, was sie sind", und vermied deshalb diese quantitative atomistische Folgerung. Nun war über die direkt bewiesene Atomistik der Elektrizität auch die materielle Atomistik sichergestellt. Wieder fügen wir eine die heutige Technik betreffende Notiz ein. Die Physik des Elektrons, die physikalische Elektronik, wurde bald zu einer neuen Elektrotechnik, die wir heute Elektronik nennen. Nach der Analyse des Kathodenstrahls erfand Ferdinand Braun die Braunsche Röhre, prinzipiell unverändert heute als Fernsehröhre dienend. Die große Bedeutung eines Elektronenstrahls im Vakuum ist seine - wegen der sehr kleinen Masse des Elektrons - Trägheitslosigkeit. Auf ihr beruht seine Steuerbarkeit in fast beliebig kleinen Zeiten, mit fast beliebig hohen magnetischen und elektrischen Schwingungen. Hierin ist ihre Bedeutung für Sende- und Verstärkerröhren begründet, welche erst der drahtlosen Nachrichtenübermittlung ihre allgemeine Bedeutung gaben. Ohne sie wäre ζ. B. der Rundfunk undenkbar. Die mit der Entdeckung des Elektrons gegebene Einsicht in das Wesen und die hieraus entwickelte Theorie des elektrischen Stromes ließ auch die Bedeutung der schon vor fast 100 Jahren von Ferdinand Braun entdeckten sogenannten „Halbleiter der Elektrizität" für technische Zwecke entdecken: Transistoren und Photoelemente, Sonnenbatterien, die elektronischen Rechenmaschinen, die automatischen Steuerungen der industriellen Fertigung sind Ergebnisse dieser ζ. T. sehr abstrakten Theorie. Mehr ist hier nicht von Interesse. Aber eines sei bemerkt: die volle physikalische, und erst recht die technische Elektronik wäre nie möglich gewesen, wenn nicht zur rechten Zeit - nach 1910 die neue, Otto von Guerickes Pumpen größenordnungsmäßig

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übertreffende Vakuum-Technik, letztlich eine Folge der Atomistik, gekommen wäre. Radioaktivität

und künstliche

Atomumwandlung

Mit der Entdeckung des Elektrons war das Dogma der Unteilbarkeit der Atome gefallen. Einen zweiten, noch grundsätzlicheren Agriff auf die doch gerade auf festen Boden gestellte atomistische Vorstellung enthält - wiederum 1899 - die kühne Hypothese von Julius Elster und Friedrich Geitel über die Herkunft der Radioaktivität des Urans und der von dem Ehepaar Curie gerade entdeckten neuen chemischen Elemente Polonium und Radium: die Energie der Strahlung entstamme dem Atom, mit ihrer Emission wandele sich ein Atom dieser chemischen Elemente spontan in eine andere Atomart, in ein anderes chemisches Element um. 1902 ist nach den Arbeiten von Ernest Rutherford und Frederic Soddy daran nicht mehr zu zweifeln. Auch das Dogma der Unveränder//c/?keit aller natürlichen Elemente mußte aufgegeben werden - bald auch und in noch viel größerem Umfang - das ihrer Unveränderiwkeit durch künstliche Eingriffe. Die radioaktive Umwandlung ist auch ein Prozeß grundsätzlich anderer Art als in der Physik bisher bekannt. Er läßt sich nicht mehr durch „Ursache und Wirkung" beschreiben oder untersuchen, da alle Versuche zeigten, daß er auf gar keine Weise durch irgendwelche Einwirkungen beeinflußbar ist - und hieran ist bis jetzt auch nicht zu zweifeln. Die Umwandlung einer definierten radioaktiven Atomsorte, ζ. B. des chemischen Elementes Radium in das — ebenfalls radioaktive - genau definierte Radon erfolgt so, daß in einer bestimmten Zeit die Hälfte der jeweils vorhandenen Radiummenge sich in das andere Element Radon umgewandelt hat, völlig gleichgültig, wie groß die Menge des ersteren ist. Diese Halbwertszeit ist für die verschiedenen radioaktiven Umwandlungen sehr verschieden, aber für eine bestimmte absolut charakteristisch; so beträgt sie für Radium (alles in runden Zahlen) 1600 Jahre, für Radon

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4 Tage, für Thorium viele Milliarden Jahre, für Thoron nur 55 Sekunden. Die Umwandlung erfolgt aber nicht proportional zur Zeit, vielmehr erfolgen die atomaren Umwandlungen in ganz unterschiedlichen Intervallen aufeinander, schneller oder langsamer, aber - wie gesagt - so, daß in der Halbwertszeit im Mittel die Hälfte der jeweils anfänglichen Menge umgewandelt ist. Es handelt sich also um einen statistischen Prozeß. Es gibt - soll man sagen noch? - keine Möglichkeit zu sagen, warum bei einer gegebenen Zahl von Radiumatomen ein Atom als erstes (vielleicht gerade bei Beginn der Beobachtung), ein anderes erst nach Tagen oder tausenden von Jahren sich umwandelt. Die Ursache hierfür ist unbekannt; aber eines ist sicher: bei jedem Umwandlungsprozeß einer Atomart wird stets die gleiche Energie frei. Daß hierbei auch die Grundgesetze der Mechanik, die Erhaltungssätze von Impuls und Energie gelten, zeigt die Entdeckung des radioaktiven Rückstoßes durch Otto Hahn 1908. Wenn bei der Umwandlung eines radioaktiven Atoms ein Teil desselben mit großer Energie ausgestoßen wird, so fliegt der Atomrest in der entgegengesetzten Richtung davon. Einer der natürlichen Umwandlungsprozesse besteht in dem explosionsartigen Ausstoßen eines leichten Massenteilchens, damals Alpha-Strahl oder Alpha-Teilchen genannt, später als chemisch identisch mit dem Edelgas Helium nachgewiesen. Von dem normalen Heliumatom unterscheidet sich das Alpha-Teilchen nur darin, daß es eine positive Ladung hat, so als ob das Heliumatom zwei Elektronen verloren hätte. Offenbar ist es hierdurch auch sehr klein geworden, denn es durchdringt alle Materie mehr oder weniger. Das Alpha-Teilchen ist ein freier Helium-Atomkern. Auf seiner Ladung, seiner Kleinheit, und der enormen Bewegungsenergie, mit welcher es das radioaktive Atom verläßt, beruht seine Nachweisbarkeit, die Möglichkeit mit ihm zu experimentieren und damit die neue Atomphysik für genau 30 Jahre - bis zur Begründung der Atomkernphysik. Man kann mit drei Punkten den Gang dieser Entwicklung aufzeigen:

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1. der Nachweis des Alpha-Teilchens beruht darauf, daß es kraft seiner großen Energie beim Auftreffen auf einen Kristall, ζ. B. eine Diamantplatte, einen Lichtblitz erzeugt, oder beim Durchgang durch ein Gas von dessen Atomen eine große Zahl von Elektronen abspaltet - der viel später im Geigerzähler und in der Wilsonkammer ausgenützte Effekt. 2. Der Durchgang des Alpha-Teilchens durch Materie erfolgt im wesentlichen auf gerader Bahn; einige aber werden mehr oder weniger abgelenkt, einzelne kehren ihre Flugrichtung um, beides um so häufiger, je schwerer die Atome der durchstrahlten Materie sind. Als Kräfte kommen nur elektrische Abstoßungskräfte in Frage, welche zwischen Alpha-Teilchen und Atomen der durchstrahlten Substanz wirken. Aus deren Dichte und dem Verhältnis der geradlinig durchgehenden zu den abgelenkten und zurückgeworfenen Alpha-Teilchen folgt, daß das elektrische Kraftzentrum in einem sehr kleinen Bereich der Atome konzentriert sein muß, daß es um so stärker ist, je schwerer das Atom und daß es wie das Alpha-Teilchen positiv geladen ist. Das sind die Unterlagen für das berühmte Rutherfordsche Atomkernmodell: in einem sehr kleinen Bereich des Atoms ist die positiv geladene Masse enthalten; dieser Atomkern ist von einer lockeren weit ausgedehnten Atmosphäre von negativen Elektronen umgeben, deren Zahl gleich der der positiven Ladungseinheiten des Kerns ist. 3. Punkt 3 ist eine neue Frage: was geschieht, wenn ein AlphaTeilchen mit seiner überaus großen Energie einmal zentral auf einen Atomkern stößt? Eine erste Antwort gab Rutherfords Versuch von 1919: aus einem Stickstoffatom wird ein leichtes positives Teilchen, vielleicht ein Wasserstoffkern, herausgeschlagen; etwas später klärte er den Vorgang genauer: das Alpha-Teilchen - also der Helium-Atomkern - reagiert mit dem Stickstoff-Kern; als Endprodukte bilden sich ein Wasserstoff- und ein Sauerstoffkern. Es war die erste künstliche Umwandlung von Elementen, später Kernchemie genannt. Genau 10 Jahre später, 1932, wird von Chadwick in Cambridge mit solchen Versuchen ein neuartiges Masseteilchen entdeckt; bei der Einwirkung des Alpha-Teilchens

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auf Beryllium entsteht neben Kohlenstoff das Neutron, geladener Bestandteil der Atomkerne.

ein un-

Dieses Neutron erwies sich bald als ein ungemein wirksames Agens für künstliche Atomumwandlungen. Verbindet es sich mit irgendeinem natürlichen Atomkern, so wird dieser radioaktiv und wandelt sich in das benachbarte Atom um; es spaltet das Uran in niedere, es baut das Uran zu höheren Atomarten, den Transuranen, auf. Diese Umwandlungen und alle sonst bekannten Eigenschaften der Atommassen sind mit der einfachen Annahme verträglich, daß jeder Atomkern (ausgenommen der leichteste, der Wasserstoff, das Proton - weil das erste Element) aus solchen Protonen und Neutronen zusammengesetzt ist, und daß seine chemischen Eigenschaften deshalb von der Protonenzahl abhängen, weil diese die Zahl der äußeren Elektronen bestimmen. Ersteres ist - nun aber physikalisch begründet - im Prinzip die oben erwähnte Proutsche Hypothese über den Atombau. Gehen wir in dieser Entwicklung noch einen Schritt weiter. Die Frage war naheliegend, was aus einem so zusammengesetzten Atomkern wird, wenn er von Atomkernen mit noch viel größerer Energie als die der Alpha-Teilchen getroffen wird! Protonen, also Wasserstoffkerne, können als elektrisch geladene Teilchen durch eine elektrische Kraft, d. h. in einem elektrischen Feld beschleunigt werden. Aus einer Idee des Amerikaners Ernest Lawrence (1932) wurden Verfahren entwickelt, ihnen eine Energie zu erteilen, als ob sie von Milliarden Volt beschleunigt worden wären - die natürliche Energie des Alpha-Teilchens entspricht nur wenigen Millionen Volt. Trafen Protonen mit solcher Energie auf Materie, so erfolgte nicht etwa eine Zerlegung von Atomkernen in ihre Bestandteile, sondern es traten völlig neuartige Erscheinungen auf - auch wenn ein Proton auf ein Proton auftraf. Wir müssen hier ein Wort darüber einschalten, wie man so etwas beobachten kann, daß man so etwas aussagen kann. Wir erwähnten schon, daß Alpha-Teilchen beim Durchgang durch

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Gase von dessen Atomen negative Elektronen abspalten; schnelle Protonen und überhaupt alle energiereichen elektrisch geladenen Teilchen machen das gleiche. Dadurch entstehen also in dem Gas negative Elektrizitätsteilchen und entsprechend positiv geladene Atomreste - man nennt dieses nach J. J. Thomson die Ionisation des Gases. Diese elektrisch geladenen Teilchen, die Ionen, haben die Eigenschaft, "Wassermoleküle aus feuchter Luft anzuziehen und zu sichtbaren Nebeltröpfchen zu vereinigen. Der Weg eines geladenen Teilchens genügend großer Energie wird also als Nebelspur gesehen, die Wirkung von Kräften auf solche Teilchen siebt man an einer Veränderung ζ. B. der Richtung der Nebelspur. Diese „Wilson-Kammer" wird seit den 20er Jahren benutzt; heute kennt man noch wesentlich bessere Ausnützungen des gleichen Primäreffektes, der Ionisation durch schnelle Ladungsteilchen. Elementarteilchen

und

Atomkernenergie

Welches sind nun die neuartigen Phänomene? Wir beschreiben sie: an irgendeiner Stelle der Wilsonkammer hört ζ. B. eine Proton-Nebelbahn plötzlich auf; von dieser Stelle gehen einige kurze und lange, dicke und dünne sekundäre Bahnen aus. Die Änderung der Bahnen durch magnetische Kräfte zeigt, daß es teils positiv, teils negativ geladene Teilchen verschiedener subatomarer Masse sind. Vor allem tritt mit einem Elektron stets ein elektrisches Teilchen auf, welches die gleiche Masse und die absolut gleiche, aber elektrisch positive Ladung hat, das schon aus früheren Experimenten und als Bestandteil der kosmischen Strahlung bekannte Positron, welches als freies Teilchen in unserer Welt nicht vorkommt. Man nannte alle diese Teilchen etwas voreilig Elementarteilchen, weil man anfangs annahm, daß das energiereiche Proton größere Atomkerne in der Wilsonkammer, etwa Stickstoffkerne, in die eigentlichen elementaren Grundbestandteile der Materie aufgespalten hätte. Heute weiß man, daß das nicht der Fall ist; aber das Wort hat sich für das Phänomen erhalten. Im Lauf der Jahre ergaben sich nämlich die sonderbarsten Erscheinungen. Auch in einiger Entfernung vom Ende der primären

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Bahn traten an irgendeiner Stelle neue Nebelbahnen auf, so als ob ein vom Ende des Primärstrahles dahin fliegendes ungeladenes Teilchen (das ja keine Nebelspur macht) geladene Teilchen erzeugte; viele Nebelbahnen von Elementarteilchen spalteten sich auf in andere Bahnen, welche nach ihrem Verhalten von anderen Elementarteilchen herrühren mußten. Eines stand bald fest: diese Elementarteilchen haben die Eigenschaft, sich in andere umzuwandeln; heute kennt man weit über 100. So viel zunächst. Die Masse-Energie-Äquivalenz;

Atomkernenergie

Diese Entwicklung der Kernphysik von Radioaktivität bis zu den Elementarteilchen ist an sich weitgehend Gilbert-Galileische Experimentalphysik. Ihre tiefere Bedeutung für die Physik des Mikrokosmos erhielt sie durch einen schon 1906 entwickelten Satz: es ist die aus Einsteins spezieller Relativitätstheorie folgende Äquivalenz von Masse und Energie. Das bedeutet eine Erweiterung des Energiesatzes und die grundsätzliche Aufgabe des alten Prinzips der Konstanz der Masse: Masse m kann in Energie E, Energie Ε in Masse m sich umwandeln mit einem von der Theorie gegebenen Umwandlungsfaktor, dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit c: Ε = mc 2 ; m = E/c 2 . Das bedeutet zahlenmäßig ausgedrückt: ein Gramm Masse ist äquivalent 25 Millionen KWh oder 21 Milliarden Kilokalorien, wenn wir gebräuchliche Einheiten verwenden. Das ist vielleicht das größte Wunder der Natur, welches die Physik uns hat erkennen lassen. Es kommt uns so wunderbar vor, wie unseren Vorgängern von 130 Jahren die Behauptung, daß, wenn Wärme verschwindet, eine mechanische Arbeit auftritt, daß beim mechanischen Abbremsen einer Bewegung diese als eine Erwärmung der beteiligten Körper in Erscheinung tritt - in immer dem gleichen Umsetzungs-Verhältnis, dem Robert Mayerschen mechanischen Wärmeäquivalent. An der Richtigkeit des Satzes ist nicht zu zweifeln — er ist zu gut mit quantitativen Experimenten bewiesen. Es ist auch das Problem der Atomkernenergie.

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Bei der radioaktiven Umwandlung tritt Wärme auf - jeder radioaktive Stoff ist dauernd etwas wärmer als seine Umgebung; das ist zunächst die Folge der Abbremsung der Bewegungsenergie der Alpha-Teilchen in Materie; diese aber stammt aus einem Teil der radioaktiven Atommasse. Diese ist nicht nur kleiner geworden durch den Verlust der Masse des Heliumkerns, sondern auch noch um das Äquivalent seiner Bewegungsenergie. Das gleiche gilt für die 1938 von Otto Hahn und Fritz Strassmann entdeckte Urankernspaltung durch Neutronen. Nach der Aufnahme eines (langsamen!) Neutrons spaltet sich der Urankern explosiv in niedere (radioaktive) Elemente auf, welche mit ungeheurer kinetischer Energie auseinanderfliegen. Diese entstammt der ursprünglichen Masse des Urankerns; denn diese ist größer als die Summe aller Massen der Spaltteilchen. Die Differenz entspricht dem Massenäquivalent der kinetischen Energie (wozu noch die in den radioaktiven Spaltteilchen steckende Strahlungsenergie kommt). Für den explosionsartigen Spaltungsvorgang gelten wiederum die Rückstoßgesetze der Mechanik. In der Masse-Energie-Äquivalenz liegt auch eines der schon gelösten Rätsel der Elementarteilchen. Durch die Nebelbahnen sichtbar und analysierbar geht eine wechselseitige Umwandlung von Energie und Masse vor sich. So entstehen aus bestimmten Elementarteilchen andere. Erhalten bleibt stets die elektrische Ladung. Für jede auftretende negative Elementarladung tritt auch eine gleich große positive Ladung auf. Ein ganz einfaches, vielleicht das entscheidenste Experiment ist die Umwandlung von Strahlungsenergie, nämlich von Röntgenstrahlen in die zwei elektrischen elementaren Ladungsteilchen Elektron und Positron und die Entstehung von Röntgenstrahlungsenergie bei der Vereinigung von Elektron und Positron, wobei deren Masse sowie deren Ladung „verschwinden" und ihre Masse als Röntgenstrahlungsenergie wieder auftritt. Diese muß aber in besonderer Art verstanden werden, wie sie die Quantenphysik lehrte.

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Die Kerntechnik Hier sei wiederum eine Bemerkung über die neue, von der Physik der Atomkerne eingeleitete Kern -Technik gemacht. Die bei dem radioaktiven Zerfall freiwerdende Atomkernenergie ist wohl für einige Spezialfälle, nicht aber großtechnisch nutzbar. Das liegt nicht nur an ihrer Größe; der tiefere Grund ist, daß ihre Freigabe ein spontaner, nicht steuerbarer Naturvorgang ist. Die Uranspaltung durch Neutronen ist ein künstlich einleitbarer, regelbarer und abbrechbarer Prozeß, welcher mit jeder einzelnen Spaltung 50 bis 100 mal mehr Energie als eine natürliche radioaktive Umwandlung liefert. Nutzbar wird die Energie durch die Umsetzung von kinetischer Energie der Spaltprodukte in Wärmeenergie bei ihrer Abbremsung in der umgebenden Materie. Der Prozeß hat schon seit einigen Jahren vielfache technische Ausführungen in „Atomkraftwerken" und für Schiffsmaschinen gefunden; er wird mit Ende dieses Jahrhunderts einen beträchtlichen Teil der für Erhaltung und Fortentwicklung der Kultur erforderlichen Energie liefern. Was die Atomkernenergie so und auch in der Form der radioaktiven Strahlung der Spaltprodukte für die ganze Menschheit bedeutet, wird sich erst voll ermessen lassen, wenn ihre Entwicklung zu einem Vernichtungsmittel als ein Irrweg erkannt und dann eine, nicht mehr wie bisher durch Geheimhaltung beschränkte, freie Bearbeitung aller Probleme möglich ist. Zu diesen gehört auch die erst in den Anfängen der Entwicklung steckende Nutzung der Atomkernenergie, welche bei der Kernfusion, d. h. bei der thermischen Verschmelzung von Wasserstoffkernen zu einem Heliumkern, frei wird; bei dessen Bildung wird nämlich ein beträchtlicher Teil (bis zu 1 °/o) der Wasserstoffmasse in Energie umgesetzt. Mit der technischen Nutzung der Atomkernenergie geht der Weg, welchen die Technik von der Verwertung natürlicher Hilfsmittel und äußerer Erfahrung zu der Nutzung physikalischer Gesetze genommen hat, weiter: in der Uranspaltung wird ein Prozeß technisch realisiert, von welchem man nichts anderes als die theoretisch fundierte Formel, nämlich die Masse-Energie-Äquivalenz

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und ihre vielseitige experimentelle Prüfung kennt; irgendeine „anschauliche Vorstellung" derselben scheint aber unmöglich. Wir wissen ferner sogar nichts darüber, ob die Freigabe von Atomkernenergie durch die Kernspaltung überhaupt ein in der Natur wesentlicher Vorgang ist. Für die erhoffte Nutzung der Fusionsenergie kommt noch etwas anderes dazu. Sie liefert - was wohl als ganz sicher angenommen werden darf - in den verschiedenen Sternen (wie in der Sonne) durch einen geregelten Ablauf die über Millionen und Milliarden von Jahren konstante Strahlungsenergie derselben. Der Mensch schickt sich also an, über die Kenntnis eines Naturgesetzes und seine grundsätzliche experimentelle Bestätigung einen kosmischen Prozeß mit irdischen Mitteln für seine Zwecke zu realisieren. Und noch eine andersartige Bemerkung zur Technik: alle, die Physik der Atomkerne und der Elementarteilchen betreffenden Forschungsexperimente sind nur noch mit größten technischen Hilfsmitteln durchführbar. Die allgemeine Großtechnik wird Voraussetzung für neue Forschung auf diesen Gebieten; denn nach den bisherigen Erfahrungen sind in ihr neue Erkenntnisse nur mit Teilchen noch höherer Energie erreichbar. Ein charakteristisches Zeichen ist, daß die Forschungsbereiche nicht mehr nach dem Problem, sondern nach der erforderlichen Energie bezeichnet werden: Hochenergie- und Höchst-Energie-Physik. Ob aber wirklich neue Erkenntnisse hiervon abhängen, muß man vielleicht doch der Zukunft überlassen! Quantentheorie und

Welle-Materie-Dualismus

Wir kommen zu der dritten, neben Elektronik und Kernphysik seit 1900 laufenden Entwicklung wieder einer besonderen Art. Sie betrifft die Strahlung. Für die Theorie des anscheinend einfach liegenden Problems der Strahlung erhitzter Körper, ihre quantitative Abhängigkeit von der Temperatur und die Verteilung der Energie auf die verschiedenen Farben im Spektrum, schienen die klassischen Theorien der Wärme - Thermodynamik - und der Strahlung - Elektromagne-

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tische Schwingungstheorie - ausreichend. Sie führten unter anderem zu dem Erfolg, die Temperatur von Strahlern, z. B. der Sonnenoberfläche, aus ihrer Strahlung zu bestimmen. Da gaben die in den 90er Jahren verbesserten experimentellen Verfahren für die in Betracht kommenden Messungen sichere Abweichungen von der Theorie. Max Planck zeigte 1900, daß sie prinzipieller Art sein mußten, weil die alte Theorie manche Ergebnisse quantitativ ergab, andere aber sicher nicht wiedergeben konnte. Eine Lösung dieses Widerspruches war nur möglich durch eine neuartige Annahme: Schwingungsfähige Gebilde im strahlenden Körper, welche die Strahlung aussenden, die Planckschen Resonatoren, können nicht jede beliebige Energie annehmen und ausstrahlen, sondern nur ganz bestimmte Energieelemente - so wie die Masse eines materiellen Körpers nicht beliebig, sondern nur um das bestimmte Massenelement eines Atoms vergrößert oder verkleinert werden kann. Die Größe der Energieelemente eines Resonators mußte nach dem Experiment proportional zur Schwingungsfrequenz der Strahlung, die Proportionalitätskonstante eine universelle Größe der Natur sein. Es ist das Plancksche Wirkungsquantum, bekannt durch den Buchstaben h. Die Energieelemente der Resonatoren haben also zahlenmäßig die Größe Wirkungsquantum mal Schwingungszahl. Eine Analogie dieser Strahlungsatomistik zur materiellen Atomistik sei bemerkt. Ein erhitzter Körper enthält Atome mit kinetischen Energien aller Größen, seine thermischen Eigenschaften hängen von der Häufigkeit, von der Wahrscheinlichkeit ab, in der Atome mit verschiedenen Energien vorhanden sind. Je höher die Temperatur, desto mehr geht der Mittelwert zu höheren Energiewerten; das Produkt einer anderen universellen Größe, der Boltzmann-Konstanten und der Temperatur, regelt dieses quantitativ. Die Strahlung eines erhitzten Körpers hängt von der Häufigkeit ab, in welcher die verschiedenen Energieelemente vorhanden sind. Je höher die Temperatur, desto größer ist die Zahl der Oszillatoren mit größerer Energie, also mit größerer Schwingungszahl. Der Mittelwert steigt. Hierzu ein allgemeines Beispiel: Bis 530° Celsius strahlt ein erhitzter Körper nur unsichtbares Ultrarot

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aus; von 530-700° wird seine gesehene Farbe zunächst dunkelrot, dann hellrot. Mit steigender Temperatur kommen immer mehr Farben höherer Schwingungszahl hinzu, bis er durch Summation aller im Auge schließlich weiß erscheint. 1905 geht Einstein noch einen Schritt weiter - wiederum durch eine neue experimentelle Tatsache erzwungen. Es handelt sich um die quantitative Untersuchung der Elektronenabtrennung aus Materie durch Licht, anders gesagt, um die Umwandlung von Lichtenergie in die Bewegungsenergie von Elektronen: der lichtelektrische oder Photoeffekt. Die experimentellen Ergebnisse widersprachen dem Gesetz von der Erhaltung der Energie. Denn die Energie der abgetrennten Elektronen war unabhängig von der normal gemessenen Energie des Lichtes; sie war allein abhängig von dessen Schwingungszahl; mit deren Wachsen wächst die Bewegungsenergie der abgelösten Elektronen. Verstehbar waren die Experimente aber mit der Annahme, daß die Energieelemente des Planckschen Oszillators auch in dem Lichtstrahl die Träger der Energie sind: er besteht aus Photonen, deren Energie proportional der Schwingungsfrequenz des Lichtes ist. Jetzt tritt der Begriff des Lichtquants als eines quasi atomaren Teilchens auf. Es scheint, „daß Herr Planck in seiner Strahlungstheorie ein neues hypothetisches Element, die Lichtquanten-Hypothese, in die Physik eingeführt hat", schrieb Einstein 1906. Die Konsequenz war, daß zur physikalischen Beschreibung des Lichtes zwei verschiedene Prinzipien gehören, welche durch die Schwingungsfrequenz miteinander verbunden sind. 1. Die Phänomene bei der Fortpflanzung des Lichtes beruhen allgemein auf elektromagnetischen Schwingungen, im speziellen auf der Größe der Schwingungsfrequenz. Diese ergibt sich experimentell aus der Messung der Lichtwellen. 2. Die atomaren Wirkungen des Lichtes beruhen auf seiner Quantenstruktur, auf der Energie des Photons, welche durch das Produkt der Schwingungsfrequenz mit der Planckschen Konstanten gegeben ist.

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Einige Jahre später zeigte der berühmte Versuch von James Franck und Gustav Hertz, daß auch die Lichtstrahlung von Atomen durch die Quantenbeziehung geregelt ist. Die Energie eines bewegten Elektrons, welches auf ein Atom stößt, regt die Emission einer Spektrallinie dieses Atoms an - aber nur dann, wenn es eine ganz bestimmte Bewegungsenergie hat; diese muß genau so groß sein, wie die Quantenenergie des ausgestrahlten Photons. Eine andere Bewegungsenergie des Elektrons wird von diesem Atom nicht angenommen. Hier griff die kurz vorher aufgestellte Theorie des Atombaus von Niels Bohr ein. Alle Versuche, mit den bekannten Theorien die Emission der Linienspektra der Atome zu erklären oder aus diesen ein physikalisches Atommodell mit inneren Schwingungszentren, also etwa Planckschen Resonatoren zu entwickeln, waren fehlgeschlagen. Sicher war nur - siehe Zeeman-Effekt! - , daß die Emission von den Elektronen der Atome ausgeht. Bohrs Idee war: Das in der Energie der spektralen Emission der Atome, der Emission von Photonen enthaltene Plancksche Wirkungsquantum, also „eine der klassischen Physik fremde Größe", muß auch entscheidend sein für die innere Struktur der Elektronenanordnung im Atom und die in ihnen ablaufenden energetischen Vorgänge, welche zur Emission von Spektrallinien, von Photonen führen. Bohr schuf die Grundlage für die Quantentheorie des Atombaus und für die fast restlose quantitative Erfassung aller Atom- und Molekülstrahlung, von den ultraroten über die sichtbaren und die ultravioletten bis zu den Röntgenspektrallinien, die gerade damals mit M a x von Laues Entdeckung erkannt worden waren. Das Problem der Doppelnatur des Lichtes führte zu den mathematischen Theorien der Wellen- und Quantenmechanik mit weitgehenden Konsequenzen für die gesamte Physik. In ihnen verschwindet der nach der klassischen Denkweise bestehende Widerspruch zwischen Schwingungsauffassung der Lichtfortpflanzung und der bei der Entstehung und Wirkung des Lichtes zum Ausdruck kommenden energetisch-atomistischen Quantenstruktur des Lichtes.

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Diesem Dualismus von Lichtschwingung und Lichtteilchen stellte 1923 Louis de Broglie seine Theorie der Materiewellen zur Seite. Wir wissen heute aus vielen Experimenten: auch ein atomares Teilchen - ein Atom, ein Elektron - kann in doppelter Weise erkannt werden: durch seine energetische Wirkung als Massenquantum und durch die bei seiner Fortpflanzung auftretenden, den bei der Lichtfortpflanzung völlig entsprechenden Wellenphänomenen, nämlich der Beugung und der Interferenz der „ Materiewellen ". Wir sind mit unseren Betrachtungen zu dem heutigen Stand der Physik gekommen. Wohl ist die heutige Physik mehr als nur die Summe des erlangten Wissens: sie sucht aus ihm nach neuen Wegen, nach tieferer Einsicht und nach neuen der Physik zugänglichen Bezirken, in dem sie nach Galilei da, wo sie am Ende zu sein scheint, zu neuen Hypothesen und dem Versuch ihrer Prüfung ihre Zuflucht nimmt. Aber es gibt einen von Hermann Helmholtz für die von ihm verlangte und praktizierte Popularisierung der Wissenschaft aufgestellten Grundsatz, der nicht vergessen werden sollte: „Sie muß sich auf die wichtigeren und die schon durchgebildeten Teile der Naturwissenschaft beschränken". Das habe ich versucht. Literatur Crombie, A. C.: Von Augustinus bis Galilei. Köln, Berlin 1959. Dijksterhuis, E. J.: Die Mechanisierung des Weltbildes. Berlin 1956. Hoppe, E.: Geschichte der Physik. Braunschweig 1926. Mason, S. F.: Geschichte der Naturwissenschaft. Stuttgart 1961. Meisen. A. G. M. van: Atom - gestern und heute. Freiburg, München 1957. Schimank, H.: Epochen der Naturforschung. München 1964.

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V. Einbruch der Naturwissenschaft und Technik in unser heutiges Leben Robert Jungk

Dieses Thema wirft ein Problem auf, das seit Kriegsende zahllose Köpfe, Federn und Schreibmaschinen in Bewegung setzt und in tausendfacher Wiederholung abgehandelt wurde. In dieser Auseinandersetzung über die Wirkungen der angewandten Wissenschaften und der Technik auf den Menschen, seine Gesellschaft und seine Umwelt zittert immer noch die Erschütterung über den ersten Atombombenabwurf nach. Damals im August 1945 erhielten die Zeitgenossen jener epochalen von Menschen hervorgerufenen Katastrophe eine Vorahnung jener gewaltigen Kräfte, die zuerst als harmloser Funke im Kopfe eines Forschers aufleuchten, um wenige Jahre später als gottgleicher Blitz ins Leben Unschuldiger einzubrechen, es zu vernichten oder - was fast noch schlimmer ist - zu verkrüppeln und nun fortzeugend zu einer Macht zu werden, die nicht mehr nur eine Stadt, eine Nation, einen Erdteil, sondern alles Leben auf dieser Erde bedrohten. Die Atombombe ist ein Extremfall wissenschaftlich-technischer Einwirkung auf das heutige Leben. Ihr Auftauchen wurde zum Anlaß immer häufigerer und intensiverer Beschäftigung mit den Effekten naturwissenschaftlichen Denkens, Forschens, Experimentierens, mit dem Erfinden, Entwickeln, Erproben und Gebrauchen technischer Arbeit. Niemand wird leugnen, daß unsere Umwelt, unser Lebensstil, unser Denken, ja sogar unsere Erwartungen und Träume in hohem Maße von dem geprägt werden, was in Gelehrtenstuben und Instituten erdacht und über Laboratorien und Werkstätten „auf die Welt losgelassen" wird. Aber kommt in dieser nun bereits weitverbreiteten Auffassung nicht eine eigentlich viel zu begrenzte Vorstellung zum Ausdruck, die anzunehmen scheint, Wissenschaft und Technik seien zwar von großem Einfluß, seien aber selbst etwas Unbeeinflußtes, objektiv Gültiges? Sieht

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man das Phänomen nicht zu einseitig, wenn man Wissenschaft und Technik schlechthin als das Bewegende, das Aktive in unserer Epoche ansieht, das „heutige Leben" aber als das Bewegte, das Passive? Wäre es nicht fruchtbar dieses Klischee zu kritisieren und die Reihenfolge, die im Titel dieser Ausführungen aufscheint, einmal umzudrehen? Dann hieße es also: Der Einbruch des heutigen Lebens in Wissenschaft und Technik, eine Problemstellung, die möglicherweise neue Perspektiven aufreißen und zu neuen Schlüssen führen könnte. Wir würden nun nämlich statt der üblichen Behauptung: „Die Atomphysik (besonders in ihrer Anwendung bei der Herstellung von Waffen) bedroht das Leben" die These aufstellen: „Das Leben bedroht die Atomphysik." Das mag zunächst nur wie ein Spiel mit einem Paradox klingen. Aber schauen wir uns einmal die verhältnismäßig kurze Geschichte der Nuklearforschung an. Bis gegen Ende der dreißiger Jahre war sie eine denkbar wirklichkeitsferne Forschungsrichtung und die mit diesem Zweig der Naturwissenschaften Befaßten hielten, um ein Wort eines der Beteiligten zu zitieren, ihre Studien für „weit weltfremder als die Philosophie" 1 . Deshalb hatten sie auch nicht die geringsten Skrupel, immer tiefer in die Geheimnisse der Materie einzudringen und damit - wie die Mehrzahl von ihnen meinte - sich auch immer weiter von der Realität des politischen und gesellschaftlichen Alltags zu entfernen. Doch dann brach das damalige „heutige Leben" in die ruhigen Stätten der Forschung ein, und dieses Leben war geprägt von dem maßlosen politischen Machtanspruch eines halbgebildeten, wahnbesessenen Emporkömmlings namens Adolf Hitler. Es kam eine Drohung auf die Menschheit zu, die Abwehr herausfordern mußte: die Drohung von Tyrannei und Sklaverei, von nie endender Gewalt und kaltblütigem Massenmord. Seither ist es um die Abgeschiedenheit der Wissenschaft geschehen. Die Invasion des Faschismus wurde mit ihrer Hilfe zwar abgewendet, aber die dadurch entstandenen Breschen in den „Elfenbeintürmen" konnten nicht wieder zugemauert werden. 8»

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Durch sie pfeift nun der Wind der gesellschaftlichen Realitäten, denen Forschung und Technik sich mehr und mehr zu fügen haben. Worin zeigt sich das? Gestern und vorgestern wurde die Richtung der Forschung, die Gegenstände, denen die Wissenschaftler ihre Aufmerksamkeit zuwandten, vor allem vom Interesse der Gelehrten bestimmt, nun aber sind es vorwiegend die Interessen von Staat und Wirtschaft, die den Gang der wissenschaftlichen Entwicklung bestimmen. Einer der Hauptgründe für diesen Umschwung ist in der Tatsache zu suchen, daß im heutigen Stadium des Studiums der Natur, nach Aussagen der daran Beteiligten, Werkzeuge notwendig geworden sind, deren Herstellung und Beschaffung Summen erfordern, welche die Mittel der einzelnen Forscher, der Universitäten, ja in einigen Fällen sogar die einer Nation weit übersteigen. Damit erhalten die Geldgeber einen entscheidenden von Jahr zu Jahr wachsenden Einfluß. Sie können den Geldhahn auf- und zudrehen, sie können die Mittel in diesen oder in jenen Kanal schicken, sie können ganze Forschungszweige fast über Nacht zum Aufblühen bringen - jüngste Beispiele dafür sind die Weltraumforschung und die Ozeanographie - oder bremsen, lahmlegen oder sogar zu fast völligem Aufhören verurteilen. Typisch dafür ist die Entwicklung der amerikanischen Forschung. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Wissenschaft weitgehend auf private Unterstützung angewiesen. Es gab in Washington nicht einmal einen Haushaltstitel „Forschung und Entwicklung" im Budget. Nur auf dem Gebiete der Landwirtschaft wurden schon damals Forschungsvorhaben vom Staat gefördert. Die durch massive Investitionen im Laufe des Zweiten Weltkrieges erreichten Erfolge der Rüstungsforschung, die den USA ihre entscheidende Überlegenheit verliehen, führten nach Kriegsende zu einer ständigen Steigerung der Wissenschaftsausgaben, von denen ein großer Teil, aber bei weitem nicht alle Mittel, wiederum der militärisch orientierten Forschung und Technik gewidmet wurden. Beim Amtsantritt von Präsident Eisenhower betrug das „Science Budget" bereits zwei Milliarden Dollar pro Jahr. Als er das Weiße Haus verließ, war es auf über das Vierfache, nämlich auf neun

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Milliarden Dollar, gestiegen, und als Präsident Johnson zu Beginn dieses Jahres abtrat, hatte sich diese Summe abermals verdoppelt: sie war nun auf 18 Milliarden Dollar per annum angewachsen.2 Doch schon 1968 kündigte sich das Ende der „goldenen Jahre" an. Plötzlich wurden Abstriche von vielen Millionen Dollar verordnet. Sie trafen vor allen Dingen die Grundlagenforschung sowie die angewandte biologische und medizinische Forschung. Die letzte Ausgabe des „Science News Yearbook" berichtete: „Die National Science Foundation, die seit langem für das Wohlergehen der Grundlagenforschung verantwortlich ist, mußte sich große Abstriche gefallen l a s s e n . . . Universitäten, die auf Mittel rechneten, die ihnen vor zwei oder drei Jahren bereits zugesprochen waren, erhielten die Weisungen, daß sie dieses Geld nicht ausgeben dürften. Von den über fünfhundert größeren Universitäten, die in diese Zwangslage gekommen waren, mußte über die Hälfte um Notzuschüsse bitten, damit sie Verpflichtungen, die sie eingegangen waren, und Vorhaben, die bereits begonnen hatten, wenigstens noch zu Ende führen könnten." 3 Die Verlegung des Akzentes, der Antrieb zur Forschungsentwicklung in Wissenschaft und Technik von „innen" nach „außen" und die dadurch zutage tretende zunehmende Abhängigkeit von der Gesellschaft ist der Öffentlichkeit, ja sogar vielen Wissenschaftlern und Technikern in seiner Bedeutung bis heute noch kaum ganz klar geworden. So hört man heute zwar immer öfter - zuletzt erst vor einigen Wochen auf dem von Karl Steinbuch organisierten und geleiteten Kongreß „Systems 69" - es sei an der Zeit, sich mehr Gedanken über die negativen Folge-Erscheinungen vieler wissenschaftlich-technischer Entwicklungen zu machen. Daß jedoch die Wissenschaft und Technik selbst in ihren Zielen und zum Teil auch in ihrem Arbeitsstil unter „Folgen" zu leiden haben, die dann durch ihre Vermittlung und Verstärkung in unser Leben erst hineingetragen werden, wird bisher erst von wenigen eingesehen. Diese Fehleinschätzung rührt unter anderem von einer falschen Wortwahl her. Es beschreibt nämlich die Wirklichkeit falsch, wenn man von der Wissenschaft und der Technik spricht. Es gibt eine

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Vielfalt von Wissenschaftsrichtungen und technischen Entwicklungen. Eine Anzahl von ihnen fördert die Gesellschaft sehr entschieden, andere vernachlässigt sie. So spiegeln die Entwicklungen auf diesen Gebieten sehr deutlich den Zustand der Sozialsysteme, von denen sie getragen werden, und darüber hinaus noch die Wertskala ihrer staatlichen Mäzene. Wissenschaftszweigen und technischen Neuerungen, die physische Macht und damit politische oder wirtschaftliche Dominanz versprechen, ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich Vorzug gegenüber Disziplinen gegeben worden, die der Erhaltung der Gesundheit, der Bewahrung der Natur, der Vermehrung des Schönen, der Erhöhung des seelischen Wohlbefindens gewidmet sind wie Biologie, Ökologie, Ästhetik und Psychologie. Knapper gefaßt: Klagen über falsche Wissenschaftsentwicklung und Bedrohung durch die Technik werden eigentlich an die falsche Adresse gerichtet. Wissenschaft und Technik, die sich die „Erde Untertan" machen, erwachsen konsequent aus einer Herren- und Untertanenmentalität, Wissenschaft und Technik, die immer neue Gebiete „erobern", die ins Innerste des Atomkerns oder der Zelle „eindringen", sind gezeichnet vom Kainsmal der Zerstörung. In der angeblich so wertneutralen Forschung und ihrer Anwendung wird nicht zufällig die Sprache des Unmenschen so ausgiebig verwendet. Und es ist nicht ohne tiefere Bedeutung, wenn der Spezialj argon des Militärs, selbst in der Interpretation der „reinen Forschung", eine so große Rolle spielt. Da gibt es „Strategie", „Penetration" und „Reduktion", da eilt man von „Vorstoß" zu „Vorstoß", da werden immer neue „Durchbrüche" erzielt. Längst ist der Mensch aus seiner Verteidigung gegen Naturmächte, die ihn bedrohten, und seiner Bemühung um Erkenntnis der Natur zum Angriff übergegangen. Das mußte auf seine Mentalität zurückwirken, und es ist nur logisch, daß am Ende dieses Weges jene Katastrophe zu erwarten ist, in der noch jeder Agressor, in der noch jeder Tyrann endete. Doch kündigen sich heute Anzeichen einer neuen Haltung, einer anderen Richtung, einer großen Umkehr an. Der amerikanische Kulturkritiker Paul Goodman vergleicht diesen Vorgang mit der

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Reformation. Er sieht in der Kritik am „wissenschaftlichen Establishment" von Seiten der Studenten in aller Welt eine Parallele zu jener Revolte der jungen Mönche und Theologen im 15. Jahrhundert gegen die etablierte Kirche und ihren Klerus, der den spirituellen Inhalt des Christentums zugunsten einer Teilhaberschaft an weltlicher Macht und dem Reichtum verraten hatte. Die Wissenschaft erscheine den Jungen - und meist seien es die Besten unter ihnen — „inhuman, abstrakt, voller Reglementierungen . . . ja geradezu teuflisch. Die Forschung werde von ihnen als lebensfeindlich angesehen, als eine Waffe zur Beherrschung der farbigen Rassen in aller Welt. Sie setze sich hochmütig über alle anderen Berufe und diskreditiere auch andere kulturelle Disziplinen." 4 Selbstverständlich werden derartige häretische Äußerungen von den Hütern des szientistischen Dogmas als „emotional" und „obskurantistisch" abqualifiziert. Doch lassen sich aus echtem und tiefem Unbehagen aufsteigende Bewegungen durch solche Urteile kaum beseitigen. Sollen sie nicht geradewegs in den Irrationalismus hineinführen, ja vielleicht sogar zu Gewaltausbrüchen gegen die wissenschaftlich-technische Revolution, so muß dieses immer kritischer werdende Unbehagen ernstgenommen werden und das Nachdenken über tiefe Veränderungen einleiten, die sowohl die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Wissenschaft und Forschung wie deren Stil und Zielsetzungen erneuern könnten. An erster Stelle müßte eine veränderte Rangordnung der gesellschaftlichen Prioritäten diskutiert, entwickelt und zum Ziel einer unvermeidbaren politischen Auseinandersetzung mit den heute herrschenden Wertvorstellungen gemacht werden. Gerald Feinberg, ein ausgezeichneter Physiker an der New Yorker Columbia Universität, tritt in seinem erregenden Buch „The Prometheus Project" 5 dafür ein, daß diese Bemühung um neue Wert-Rangfolgen und Zielsetzungen und die daraus sich ergebende Veränderung der Wertrangfolgen nicht die Aufgabe elitärer Kommissionen in Regierungen, Parteien, weltanschaulichen Bewegungen und religiösen Organisationen sein sollte, sondern eine Aufgabe aller. Er schreibt: „Meiner Ansicht nach sollten so viele Menschen

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wie möglich ermutigt werden, eine aktive Rolle beim Vorschlagen von (langfristigen) Zielen und bei der Bewertung von Zielvorstellungen anderer zu spielen." Er nimmt also an, daß zahlreiche Gruppen verschiedener Herkunft sich mit dieser wichtigen Aufgabe beschäftigen müßten. Wie sollen nun aber divergente und einander möglicherweise widersprechende Ziele miteinander verglichen und verbunden werden? Hier schwebt dem amerikanischen Wissenschaftler eine Art von Zielparlament vor. Er vertraut darauf, daß in einer solchen Körperschaft nach genügend langer Debatte, die gelegentlich durch Perioden zur Klärung und „Abkühlung" der Gemüter unterbrochen werden sollten, Einigkeit über universelle „Langfrist-Ziele" erreicht werden könnten. Solche Hoffnung auf ein stimmendes Modell wird den Gesellschaftswissenschaftlern mit Recht naiv erscheinen. Es ist tatsächlich noch weitgehend von den aus der Naturwissenschaft stammenden Vorstellungen des Kernphysikers Feinberg geprägt, ein für das gesellschaftliche Denken vieler Naturwissenschaftler typisches Phänomen, die Konflikte und Kritik nur als Vorstufe zur Einigung auf wenigstens zeitweilig verpflichtende allgemein anerkannte Lösungen werten wollen. So wird selbst im lebensfreundlich orientierten Denken vieler Forscher der historisch bedingte repressive Charakter ihrer Auffassungen deutlich. Weit humaner, das heißt dem Reichtum der menschlichen Möglichkeiten besser entsprechend, erscheinen mir die Vorstellungen des norwegischen Soziologen und Friedensforschers Johan Galtung, dem ein pluralistisches Menschheits-Modell vorschwebt. 6 Darin hätten verschiedene Gruppierungen die Möglichkeit, verschiedene Prioritäten, verschiedene Lebensformen und verschiedene Langfristziele zu entwickeln. Voraussetzung eines solchen Nebeneinanders wäre nur der Konsensus über einen — allerdings entscheidenden Punkt: die gegenseitige Duldung verschiedener gesellschaftlicher Konzepte - Einigkeit über das Recht anders zu sein. Hier nun zeichnet sich in der Phantasie und als Denkspielaufgabe eine Hypothese ab, die der seit drei Jahrhunderten geltenden

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Wissenschaftsauffassung schockierend, unsinnig und gefährlich erscheinen muß. Könnte es nicht sein, daß es vielleicht nicht nur eine auf ganz bestimmten Voraussetzungen aufgebaute Naturwissenschaft sondern deren mehrere gäbe? Ist es nicht denkbar, daß schon eine andere Auffassung von dem, was man heute noch als „Datum" als „Faktum" bezeichnet7, eine recht verschiedene „Wissenschaft" begründen würde als die uns bis jetzt bekannte in ihrem Stil und ihren Auswirkungen immer mehr kritisierte. Wer sich in die Grenzgebiete der heutigen Wissenschaft begibt, erfährt zum Beispiel, daß in der Nuklearphysik die Partikel gar nicht mehr als Teilchen, sondern nur noch als willkürlich herausgegriffene Momentanzustände fließender komplexer Prozesse gesehen werden. Wäre es nicht möglich, daß durch die Erschütterung unserer bisherigen viel zu sehr auf bereits längst nicht mehr stimmenden toten Daten beruhenden und darum stets ans Vergangene geketteten Weltsicht ein ganz neues dynamisches zukunftsorientiertes dem Werden verpflichtetes Denken im Kommen ist? Also dann doch Einfluß vielleicht sogar Einbruch wissenschaftlich ermittelter Konzepte in das Leben? Ja, aber es würde sich auch in diesem Fall um eine ursprünglich vom Unbehagen des Menschen an der alten Wissenschaft und wiederum durch die Wissenschaft nur verstärkte legitimierte Neuorientierung handeln, die - und hier könnte der Schlüssel nicht nur zu einer neuen Periode der menschlichen Geschichte, sondern auch zu einer neuen Richtung wissenschaftlich-technischer Entwicklung sein - die den Gegensatz zwischen lebensfeindlicher Forschung oder technischer Konstruktion auf der einen und der pulsierenden widerspruchsvollen stets sich verändernden menschlichen Existenz zum Verschwinden bringen könnte. Wer meint, daß derartige Gedanken Phantasterei seien, der möge einen Blick in die Laboratorien der Biologen, vor allem aber auch in die Werkstätten der mit ihnen zusammenarbeitenden Elektroniker und Kybernetiker werfen. Er wird dort Menschen an einer im wörtlichsten Sinn des Wortes humanisierten Technik arbeiten sehen, an Maschinen oder Apparaten, die einen hohen Grad von „Persönlichkeit" besitzen, wie Professor John C. Loehlin

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von der University of Texas kürzlich seine Konstruktionen beschrieb. 8 Sie können Gefühle wie Liebe, Haß, Ärger und Furcht „empfinden". Und das ist erst der Anfang. Marvin Minsky vom Massachusetts Institute of Technology, der seit vielen Jahren auf die schnelle Entwicklung „künstlicher Intelligenz" hingewiesen hat, mußte es sich lange gefallen lassen, von anderen Forschern als „Spinner" abgetan zu werden. Inzwischen sind viele seiner „Hirngespinste" Wirklichkeit geworden. Maschinen können heute schon komplizierte Figuren erkennen, wie Minsky und Rosenblith es seit langem vorausgesagt hatten. Nun sind sie auf dem Wege dazu, sogar so etwas wie ein eigenes „Bewußtsein" zu entwickeln. Der Pionier der „künstlichen Intelligenz" hat sehr einleuchtend gezeigt, daß die Maschinen sich viel schneller weiterentwickeln als die Lebewesen. Was die Natur in Milliarden Jahren durch Zufall erreicht hat, schaffen Forscher und Techniker oft in Monaten, weil sie auf Grund ihrer Analysen und ihrer Kenntnisse den direktesten und schnellsten Entwicklungsweg wählen können. Der englische Kybernetiker Gordon Pask und die von ihm inspirierte Forschergruppe „Atorga" (Abkürzung für „Artificial Organisms") arbeitet an einer lebensähnlichen und lebensnahen Technik, die ζ. B. neue Autos „säen" und auf Grund bestimmter Programme zum Wachsen bringen könnte. Warren Broady in den USA experimentiert in einem alten Warenschuppen an der Wasserfront von Boston mit einer „evolutionären Technik", die von einem bisher unbekannten Grad der Sensitivität und Anpassungsfähigkeit sein soll. Wer mit diesen zur Zeit erst in Prototypen existierenden Modellen umgeht, beherrscht sie nicht im alten Sinn, bedient sie auch nicht, sondern arbeitet mit ihnen in einem Partnerverhältnis zusammen. Die uralte Kluft zwischen einer Technik, die ihre Benutzer und deren Umwelt vergewaltigte, ist im Verschwinden, eine elastisch und heuristisch konzipierte Gerätewelt entsteht. Sie ist mehr Bindeglied zwischen Mensch und Natur als Herrschaftsinstrument. In einer solchen Zukunft, da zwischen Mensch und Technik ein Zustand des Friedens, des Vertrauens, der echten Kooperation

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entsteht, w i r d d a s T h e m a dieses Abschnittes völlig unerheblich, weil es einen d a n n w o h l schon längst v e r g a n g e n e n unglücklichen u n d lebensgefährlichen Z u s t a n d der S p a n n u n g umreißt, a n d e m die M e n s c h h e i t fast z u g r u n d e g e g a n g e n w ä r e .

Literatur Zum Verhältnis Wissenschaft, Technik, Mensch vom Autor des Vortrages: Jungk, R.: Heller als tausend Sonnen. Stuttgart 1956. - : Die große Maschine. Bern 1966. - (Hrsg.): Maschinen wie Menschen. München 1969. Allgemein: Arendt, H.: Vita Activa. Stuttgart 1960. Bahrdt, H. P.: Schamanen der modernen Gesellschaft, in „Atomzeitalter". April 1961. Born, M.: Von der Verantwortung des Naturwissenschaftler. München 1965. Eiduson, Β. T.: Scientists - their psychological world. New York 1962. Lier, H. van: Le Nouvel Age. Tournai 1961.

Anmerkungen 1 Persönliche Mitteilung von Leo Szilard. * R. Lapps, Kultur auf Waffen gebaut. Bern 1969. 3 Science News Yearbook. New York 1969. 4 New York Review of Books. Oktober 1969. 5 G. Feinberg, The Prometheus Project. New York 1968. 8 In: Mankind 2000. Oslo 1968. 7 R. Jungk, Imagination and the Future. International Social Science Journal, UNESCO, Paris 1970. 8 In: Maschinen wie Menschen, herausgegeben von Jungk und Mündt, München 1969.

VI. Das Menschenbild des Geisteswissenschaftlers Klaus Schaller

1. Einleitung 1959 legte Charles Percy Snow unter dem Titel „Die zwei Kulturen, literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz" 1 eine vielbeachtete Analyse der „westlichen Welt" vor, in der gleichzeitig die Sorge um die Zukunft eben dieser Welt mitschwingt. „Ich glaube, das geistige Leben der gesamten westlichen Gesellschaft spaltet sich immer mehr in zwei diametrale Gruppen a u f . . E s ist dies der Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Intelligenz, zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Kultur. „Wenn die Naturwissenschaftler die Zukunft im Blut haben, dann reagiert die überkommene Kultur (der Geisteswissenschaftler) darauf mit dem Wunsch, es gäbe gar keine Zukunft. Diese überkommene Kultur jedoch dirigiert die westliche Welt in einem Ausmaß, das durch das Auftreten der naturwissenschaftlichen Kultur erstaunlich wenig geschmälert wird. - Diese Aufspaltung in zwei Pole ist ein reiner Verlust für uns alle. Für uns als Volk und als Gesellschaft. Es ist ein Verlust gleichzeitig in praktischer, in geistiger und in schöpferischer H i n s i c h t . . . " Dabei ist zu konstatieren, daß bei der jungen Generation die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften noch viel weniger zu überbrücken ist als etwa vor dreißig Jahren. Um der Zukunft willen ist aber diese Kluft zu überwinden, und nach Snow gibt es nur einen Weg, „hier Abhilfe zu schaffen: unser Bildungssystem muß neu durchdacht werden". In seinem Aufsatz „Bildung und Gesellschaft" nimmt Hellmut Becker2 das Thema auf und schreibt, „Charles P. Snow hat unsere Erkenntnis um den Gedanken von zwei Kulturen bereichert, die naturwissenschaftlich-technische und die geisteswissenschaftlich-

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humanistische, die nicht mehr miteinander sprechen können, weil sie sich nicht mehr verstehen. Die Uberbriickung dieser Kluft ist eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Überbrückung der Kluft zwischen Fachmann und Laien, die unsere Gesellschaft heute tiefer trennt als die Fremdheit zwischen sozialen Schichten. Die Überbrückung dieser großen Gräben in der modernen Gesellschaft ist eine Aufgabe aller großen Bildungseinrichtungen. Der erste Schritt ist die Kenntnis der Trennung, wobei man mit Snow sagen könnte ,the worst crime is innocence'". So sehr es mir als Pädagogen auch wohl in den Ohren klingen muß, daß man von der Erziehung hier so Wichtiges für die Zukunft erwartet, so muß ich andererseits doch sagen, daß ich den Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft und damit auch den Gegensatz zwischen diesen beiden Kulturen für überholt und für nicht existent halte. Die Behauptung, er bestünde, läßt dem Wissenschaftler die Aufgabe nicht bewußt werden, die er heute im Blick auf Praxis - „gesellschaftliche Praxis" - übernehmen und erfüllen sollte. Demgemäß muß ich darauf aufmerksam machen, daß unser Thema in seiner Formulierung zwei reichlich traditionelle und nicht nur darum höchst umstrittene Begriffe benutzt: Da ist vom „Menschenbild" und von den „Geisteswissenschaften" die Rede. Ein erster Ansatz zur Erörterung der Menschenbilder des Geisteswissenschaftlers wird der sein müssen, daß wir uns verdeutlichen, wie wenig sinnvoll es heute ist, von Geisteswissenschaften bzw. von Geisteswissenschaftlern und von Menschenbildern zu reden.

2. Die Kluft zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis Jeder weiß, daß die Unterscheidung der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften heute nicht mehr geeignet ist, ein System der Wissenschaften zu begründen. Selbst in Fächern, die herkömmlicherweise den Geisteswissenschaften zugerechnet werden - wie der Pädagogik - bedient man sich gegenwärtig weithin der Methoden des Naturwissenschaftlers. Dennoch hält man an

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diesem Ausdruck fest - zumindest etwa in der Wissenschaftsverwaltung —, wenn man ζ. B. bei der Bauplanung einer modernen Universität (ζ. B. in Bochum) Gebäude der G-Serie (zur Unterbringung der Geisteswissenschaften) von den Gebäuden der N-Serie (als Behausung der Naturwissenschaften) unterscheidet. Dieser alten Gewohnheit gegenüber liegt die Erinnerung an Heinrich Rickert nahe, der schon zu Beginn unseres Jahrhunderts die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften zurückgewiesen hat. Es lassen sich nach ihm nicht zwei Gruppen von Objekten für die Gliederung der Einzelwissenschaften finden, „die sich mit Rücksicht auf die Art ihres Seins, d. h. in der Weise wie Körper und Seele, voneinander unterscheiden... weil es wenigstens in der unmittelbar zugänglichen Wirklichkeit nichts gibt, das einer Untersuchung von der formalen Eigenart, wie die Naturwissenschaft sie führt, prinzipiell entzogen werden dürfte. So verstanden ist das Wort, es könne nur eine empirische Wissenschaft geben, da es nur eine empirische Wirklichkeit gibt, berechtigt". 3 Unsere Welt ist nicht aufgliederbar in Bereiche, die von Gnaden der Natur existieren, und in Bereiche, deren Schöpfer der Geist ist, deren Eigenart sich die Wissenschaft anzubequemen und einerseits naturwissenschaftlich-monothetisch und andererseits geisteswissenschaftlich-dialektisch vorzugehen habe. 4 Dennoch glaubt Rickert, der Einteilung der Einzelwissenschaften einen materialen Gegensatz der Objekte insofern zugrundelegen zu können, „als sich aus der Gesamtwirklichkeit eine Anzahl von Dingen und Vorgängen heraushebt, die für uns eine besondere Bedeutung oder Wichtigkeit besitzen, und in denen wir daher noch etwas anderes sehen als bloße ,Natur"'. 5 Letztere nennt Rickert Objekte der Kultur. „Mit einer auf die besondere Bedeutung der Kulturobjekte gestützten Einteilung in Natur- und Kulturwissenschaften dürfte auch der Interessengegensatz am besten bezeichnet sein, der die Männer der Spezialforschung in zwei Gruppen sondert, und der Unterschied von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft scheint mir daher geeignet, an die Stelle der üblichen Einteilung in Naturund Geisteswissenschaft zu treten." 6 Sofern ein Sachverhalt der Naturwissenschaft in Bedeutungszusammenhänge eintritt, kann er

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nach Rickert nur noch unter Zuhilfenahme einer Methode erörtert werden, die den jeweiligen Bedeutungshorizont zu erfassen imstande ist, nämlich mit Hilfe der historischen Methode. Nach Jürgen Habermas hält sich dieser Versuch Rickerts im transzendentalphilosophischen Rahmen: „Während sich nach Kategorien des Verstandes die Erscheinungen unter allgemeinen Gesetzen zu ,Natur' konstituieren, bildet sich ,Kultur' durch die Beziehung der Tatsachen auf ein System von Werten." 7 Nicht jeder wird den wertphilosophischen und transzendentalphilosophischen Ansatz Rickerts mitvollziehen wollen. Dies aber wird man rasch zuzugestehen bereit sein, daß wir es mit den Dingen in sehr verschiedenem Zusammenhang zu tun bekommen können: auf der einen Seite im System der Wissenschaft und auf der anderen im Zusammenhang menschlichen Handelns. So ist uns Wasser ζ. B. bekannt als chemische Verbindung aus einem Atom Sauerstoff und zwei Atomen Wasserstoff; im religiösen Handlungszusammenhang begegnet uns dann das gleiche Wasser als Taufsymbol, als Weihwasser, aber auch allgemein als erquickendes Element an heißen Sommertagen und dgl. mehr. Alle Aussagen sind „wahr"; sie sagen nämlich aus, was Wasser im jeweiligen Zusammenhang, in dem der Wissenschaft und dem der Frömmigkeitsübung oder der Freizeitpraxis, wirklich ist. Diese „Wahrheiten" - und das wird uns später noch wichtig werden widersprechen sich durchaus nicht, oder besser: Sie widersprechen sich nur so lange, als man meint, daß durch dieses „Ist" das „Wesen", das An-sich-Sein des Wassers ausgesprochen worden sei. Diese „Wahrheiten" sind statt dessen einem eigentümlich menschlichen Handlungsvollzug des Menschen entsprungen, daß er sich nämlich denkend, redend und handelnd in einer Welt bewegt, in der ihm alles, was ihm begegnet und was er berührt, in einer eigentümlichen Perspektive vor Augen tritt, deren Proportion sich vielleicht am besten durch die den Menschen umtreibende Frage bezeichnen läßt: Was hat es eigentlich mit dem Wasser in meinem methodisch geregelten wissenschaftlichen Erwägen oder im bedachten Zusammenhang meines Handelns für eine Bewandtnis? was hat es mit dem Wasser in diesem oder jenem Kontext auf

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sich? was ist Wasser in diesem oder jenem Zusammenhang? Jede dieser „Wahrheiten" ist also relativ zum jeweiligen Gedankenganzen; sie stellen sich gegenseitig in Frage, sie kritisieren sich gegenseitig, ohne daß die eine wahrer wäre als die andere, und so lassen sie eben dem Menschen keine Ruhe, weiter der Frage nachzugehen, was es mit dem Wasser auf sich habe. Allerdings wird man eingestehen müssen, daß in unseren Tagen der Mut immer geringer wird, Wissenschaft auch für Handlungszusammenhänge für kompetent zu erklären - allenfalls für das Handeln innerhalb der Wissenschaft, in der fachimmanenten Forschung; von diesem Handlungsbegriff ist hier allerdings nicht die Rede. Dabei geht man von der gewiß richtigen Erkenntnis aus, daß die Ziele menschlichen Handelns nicht in einem der Geschichte und der Zeit entrückten Normenhimmel untergebracht sind, auf den sich Wissenschaft im Bestreben nach Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen berufen könnte. Niemand wird heute mehr einen dem menschlichen Handeln vorausliegenden Wertmaßstab postulieren, den der Mensch nur zur Hand zu nehmen braucht, um Recht und Unrecht seines Handelns zu ermessen. Werte und Normen hat man auf Sinn reduziert, der immer relativ ist zum Verständnishorizont einer Epoche oder einer Gesellschaft. Wie schwierig diese Reduktion von der zeitüberdauernden Norm zum geschichts- und gesellschaftsrelativen Sinn ist, zeigt die bis heute nicht endende Bemühung um eine methodisch gesicherte (objektive)8 Feststellung des jeweiligen Sinnes, welche man Hermeneutik nennt: die um der Lebenspraxis willen verzweifelte Bemühung des Menschen, den jeweiligen Sinn einer Situation als verbindlich für sein situatives Handeln zu ermitteln. Gerade diese Schwierigkeiten, in welche die Hermeneutiker immer wieder geraten, lassen die mehr und mehr sich ausbreitende Zurückhaltung der Wissenschaft verständlich werden, auch für Zusammenhänge des menschlichen Handelns zuständig zu sein. Menschliches Handeln wird grundsätzlich von Zielsetzungen und Wertschätzungen geleitet, und diese liegen gemäß der zeitüblichen Selbstrechtfertigung der Wissenschaft außerhalb der Wissenschaft. 9

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Es ist darum eine andere Kluft, die nach diesen Erwägungen für menschliche Lebensführung in der modernen Gesellschaft bedrückend zu sein scheint: die Kluft nämlich zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis. Wissenschaft zieht sich mehr und mehr auf ein Gebiet zurück, auf welchem sie das Dazwischenkommen von Zielsetzungen und Wertschätzungen, die den Gang der Wissenschaft immer schon gefährden, nicht zu befürchten braucht. Damit ist das Thema in einer bemerkenswerten Weise verschoben worden; Rückfragen hinsichtlich des Begriffs der Geisteswissenschaften waren hierzu der Anlaß. Die gleiche Variation des Themas legt sich aber auch nahe, wenn wir vom Begriff der Naturwissenschaften ausgehen, die man auf der genauen Gegenposition der Geisteswissenschaften im herkömmlichen Sinne ansiedelt.

3. Erkenntnis und Interesse Zunächst wird man sagen dürfen, daß die Frage nach einem „Menschenbild der Geisteswissenschaften" heute überhaupt nur noch von einem „Naturwissenschaftler" gestellt werden kann. Von seiner eigenen Wissenschaftstradition her weiß er, daß er es immer mit sogenannten objektiven Feststellungen zu tun hat, von denen her das stets persönliche und persönlich zu verantwortende Handeln gerade nicht aufgebaut werden kann. Das eigene wissenschaftliche Engagement zwingt den Naturwissenschaftler, auf ein außerwissenschaftliches menschliches Engagement zu verzichten oder für dieses anderswo nach einem humanen Korrelat seiner Wissenschaft, nach einer humanen Handlungsregulative zu suchen. Gewöhnt an die Verläßlichkeit der Ergebnisse seiner Wissenschaft, unterstellt er, daß es andere Wissenschaften gibt, die ihm dieses humane Komplement in ähnlich verläßlicher Weise liefern, und in dieser Hoffnung befragt er die sogenannten Geisteswissenschaften (oder die Religion) nach ihrem Menschenbild. Wenn ich recht sehe, ist aber heute auch dem Naturwissenschaftler eine derartige Separation von Wissenschaftler und 9 Laskowski, Geisteswissensdiaft

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Mensch, die Separation von Wissenschaft und Leben nicht mehr möglich. Das liegt daran, daß die naturwissenschaftliche Methode derzeit nicht mehr nur auf die Naturwissenschaften im klassischen Sinne beschränkt ist, sondern sich ausgebreitet hat auf Wissenschaften, die bislang ganz oder zumindest teilweise in den Umkreis der Geisteswissenschaften gehörten. Das ist ganz offenkundig bei den Sozialwissenschaften so, aber auch bei der Psychologie und der Pädagogik. Diese Entnahme der naturwissenschaftlichen quantifizierenden Methode aus dem ihr angestammten Gebiet der Naturwissenschaften und ihre Übertragung auf ihr bislang fremde Objektbereiche werden begleitet von einer Art Metamethodologie, die die Rechtfertigung dieser Übertragung erbringen soll. Diese metamethodologische Reflexion ist nicht bedeutungslos für die Naturwissenschaften selbst geblieben. In ihr tritt nämlich zutage, daß die empirisch-quantifizierende Methode der Naturwissenschaft gar nicht, wie man bislang vielleicht angenommen hat, induktiv vorgeht, daß sie also nicht vom einzelnen Sachverhalt beginnend aufsteigt zu allgemeinen Gesetzen. Es wurde statt dessen sichtbar, daß es sich überall dort, wo die empirisch quantifizierenden Methoden der Naturwissenschaft am Werke sind, auch in den Naturwissenschaften im klassischen Sinne, nicht um den Vorgang einer Synthese, sondern um den der Analyse handelt insofern, als das Einzelne immer erst innerhalb eines vorausgesetzten Gesamtentwurfs in den Blick tritt. Diesem naturwissenschaftlich quantifizierenden Verfahren geht nämlich selbst eine Reihe von Vorentscheidungen voraus: Einmal wird die Vorentscheidung gefällt, daß man nur die Ergebnisse als wissenschaftlich anerkennen will, die auf Grund dieses empirisch-analytischen Verfahrens gewonnen und nicht durch andere Tatsachen widerlegbar sind. Das ist eine Vorentscheidung, die den Begründungszusammenhang der Wissenschaft selbst betrifft. Eine Vorentscheidung anderer Art bezieht sich auf den Entdeckungszusammenhang. Hier werden Theorien und Hypothesen ins Spiel gebracht, die dem Wissenschaftler überhaupt erst seinen Gegenstand vor Augen stellen und auf ihn seine Methode anwendbar machen.10 Wenn etwa ein Naturwissenschaftler einen Vortrag hält über das Thema „Die materielle Basis des

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Lebens", dann liegt diesem Thema die Vorentscheidung zugrunde, daß das Leben selbst eine stoffliche Seite hat und von ihr her beschrieben werden kann. Diese Vorentscheidung oder Hypothese gilt so lange, wie sie nicht durch Fakten, die innerhalb oder außerhalb dieses Entdeckungszusammenhanges bekannt werden, widerlegt wird. Solche Vorentscheidungen, solche Theorien und Hypothesen liegen selbst außerhalb des Prozesses der Wissenschaft - sofern man als Wissenschaft eben nur das empirisch-analytische Verfahren gelten läßt - , und als Entscheidungen sind sie bestimmt von interessegeleiteten Wertungen. - Das gilt selbst für Vorentscheidungen, die den Begründungszusammenhang betreffen. Cl. Menze formuliert dies so: „Die Ausklammerung von Willensentscheidungen aus den wissenschaftlichen Systemzusammenhängen . . . ( i s t ) . . . selbst vom Willen gesteuert..., indem sie als Ziel ihrer wissenschaftlichen Bemühung die Erklärung der Welt, d. h. aber auch zugleich die Verfügung über die Welt erstrebt." 11 Diese hinter der Absicht des Betreibens einer wertfreien, Wirkungszusammenhänge feststellenden Wissenschaft stehende Wertung wird bereits von einem der Väter der neuzeitlichen Wissenschaft (Bacon von Verulam) deutlich ausgesprochen: „Menschliches Wissen und menschliches Können fallen in Eins zusammen, weil Unkunde der Ursache uns um den Erfolg bringt. Denn der Natur bemächtigt man sich nur, indem man ihr nachgibt, und was in der Betrachtung als Ursache erscheint, das dient in der Ausübung zur Regel."12 Hierzu Κ. H. Volkmann-Schluck: „Die mathematische Naturwissenschaft stellt die Natur vor als Gegenstand einer gesetzmäßigen Erzeugung. Dieses Erzeugen ist ein Wirken in dem Sinne, daß etwas etwas anderes bewirkt, so daß dieses anhebt zu sein. Die Naturerkenntnis besteht in der Erkenntnis der Gesetze der Erzeugung, d. h. der Gesetze des Wirkens und Bewirkens. Ein Gesetz des Wirkens erkennen wir dann, wenn wir die Bedingungen festgestellt haben, unter denen etwas mit Notwendigkeit sich begibt. Nun ist klar: Sind die Gesetze des Wirkens erkannt, dann ist der Mensch auch prinzipiell in den Stand gesetzt, die Bedingungen, denen gemäß etwas sich begibt, selbst zu setzen. In dem Maße also, in welchem der Mensch die Gesetze des Wirkens er9'

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kennt, bekommt er das naturhafte Wirken der Natur selbst in die H a n d . . . was heißt das: Der Mensch bekommt das Wirken der Natur selbst in die Hand? Er stellt die Gesetze vor, nach denen dieses Wirken vor sich geht; er geht mehr und mehr dazu über, selbst die Bedingungen zu setzen, nach denen ein Naturablauf mit Notwendigkeit geschieht. Sofern und soweit die Natur zum Gegenstand der Erkenntnis ihres gesetzmäßigen Wirkens wird, erfolgt das Wirken der Natur gemäß der Vorstellung von Gesetzen. Vorgestellt sind diese Gesetze in der menschlichen Vernunft. Was ist das aber: ein Wirken auf Grund der Vorstellung seiner Gesetze? Das ist fast wörtlich die Definition, die Kant vom Wollen des Willens gibt. In der ,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' erklärt Kant: ,Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze . . . zu handeln, oder einen Willen'." 13 Damit aber stellt sich nun heraus, daß die vom Wissenschaftler, besonders vom Naturwissenschaftler, so schmerzlich empfundene Kluft zwischen Wissenschaft und ziel- sowie wertorientiertem, interessengeleitetem Handeln, die ihn eine Geisteswissenschaft ersinnen und von ihr die Lieferung eines Menschenbildes erwarten ließ, nur scheinbar besteht. Wissenschaft kommt ja selbst immer nur innerhalb eines Handlungszusammenhangs in Gang, und nach den Worten von Jürgen Habermas sind Erkenntnis und Interesse14 nicht voneinander zu trennen. Was Wissenschaft lange von sich gewiesen hat, daß sie selbst einer interesse- und wertgeleiteten Praxis entspringt - etwa dem Interesse, mittels Wissenschaft die Natur und andere Menschen zu beherrschen - , muß sie sich heute selbst eingestehen. Wenn etwa ein Fließbandbetrieb seine Arbeitsplätze nach der durch Wissenschaft bereitgestellten M-T-M(Motion-Time-Management)-Theorie einrichtet15, dann darf diese durch Wissenschaft gesicherte Theorie, welche Produktionssteigerung, -verbilligung und damit Absatzsteigerung verspricht, nicht durch den Anspruch der Wissenschaftlichkeit das Faktum verschleiern, daß hinter ihr ein sehr konkretes Unternehmerinteresse steht. Wissenschaft muß darum selbst ihr Verhältnis zur Praxis, der sie entspringt und die sie zu sichern trachtet, der sie aber auch

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ihre Thematik verdankt, reflektieren. Jede Wissenschaft muß darum selbst auf die ihr genuine Praxis hinweisen und - als Wissenschaftsdidaktik - diese kritisieren. Worauf läuft also diese jetzt von den Naturwissenschaften her unternommene Infragestellung unseres Themas „Das Menschenbild des Geisteswissenschaftlers" hinaus? Nicht nur das Eingeständnis der Unsicherheit seitens des „Geisteswissenschaftlers" in seiner eigenen Sache, sondern gerade auch die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode aus dem Bereich der Naturwissenschaften in den der traditionellen Geisteswissenschaften hat dazu geführt, daß alle Wissenschaftler heute in der gleichen Lage sind. Niemand mehr kann einen anderen um Auskunft bitten, was als menschlich gelten soll; jeder Wissenschaftler muß nicht nur die Ergebnisse seiner Wissenschaft (dafür kommt die Wissenschaft selber auf), sondern auch seine Fragestellungen, Vorentscheidungen, Hypothesen und Theorien, unter denen diese Ergebnisse zustandegekommen sind, überprüfen und verantworten. Das Vordringen der naturwissenschaftlichen Methode in den Bereich aller Wissenschaften hat zwar die ziel-, interesse- und wertgerichteten Zusammenhänge menschlichen Handelns aus dem Bereich der Wissenschaften ausgeklammert; zugleich aber hat sie diese auch auf ihre Verantwortung dem Handlungszusammenhang gegenüber, dem sie angehören, hingewiesen. Sah es zunächst so aus, als verlagere sich unser Thema auf den Gegensatz von Wissenschaft und Leben, als sei diese Kluft das Schicksal der modernen Gesellschaft, so stellt sich nun heraus, daß auch diese Diskrepanz nur zu Unrecht angenommen wird, da die Wissenschaft nur zum Teil, nämlich nur dort „objektiv" ist, wo sie begründet, nicht aber dort, wo sie selbst sich ihre Aufgaben stellt und die Gegenstände ihrer Forschung thematisiert, wo sie entdeckt. Bei aller Korrektur und Destruktion aber ist unser Thema noch nicht in sich zusammengefallen. Ich meine nämlich, daß Rationalität, die doch gewiß ein Grundprinzip der Wissenschaft ist, nicht nur auf das wissenschaftliche Verfahren beschränkt werden darf, daß diese Rationalität vielmehr auch auf den Entdeckungszusam-

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menhang der Wissenschaft selbst ausgedehnt werden muß. Dabei ist es ganz gleichgültig und höchst uninteressant, ob man eine solche Ausweitung der Rationalität noch als wissenschaftlich anerkennt oder nicht. Hier ist es freilich mit dem bloßen Nennen solcher Voraussetzungen der Wissenschaften und wissenschaftlicher Theorien innerhalb des Handlungszusammenhanges der modernen Gesellschaft, ζ. B. dem Nennen des Unternehmerinteresses in der M-T-M-Theorie, nicht genug; diese Voraussetzungen sind auch zu kritisieren - und das ist gerade mittels einer empirisch-analytischen Methode allein nicht möglich.1® Hatten wir eingangs mit Snow und Becker darauf hingewiesen, daß es Sache der Erziehung sei, die Kluft zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zu überbrücken, so wird man nun sagen müssen, daß es Sache der Erziehung und der Bildung des Wissenschaftlers ist, und zwar eines jeden Wissenschaftlers, die Frage nach der humanen Relevanz seiner Wissenschaft nicht anderen zu überlassen, sondern sich ihr selbst zu stellen. Dabei ist in einen Gedankengang einzutreten, der nicht einigen Wissenschaften, den sogenannten Geisteswissenschaften, überlassen werden darf, sondern der von allen mitvollzogen werden muß. Außerdem wird man seine Hoffnungen etwas niedriger stecken müssen: Aus diesen Überlegungen wird kein „Menschenbild".

4. Der Verzicht auf Menschenbilder Gerade der Titel Menschenbild war ja das zweite traditionelle Element in der Formulierung unseres Themas. Hier wird die Darlegung einer Modellvorstellung des Menschen erwartet, an der sich alles menschliche Handeln, auch das Handeln des Menschen am Menschen selbst, orientieren kann. Ich meine aber, daß die Zeit zumindest der von der Wissenschaft angeforderten Menschenbilder vorbei ist, allenfalls lassen sich jeweils einige Züge aufweisen, die das Menschliche gemäß seinem jeweiligen Verständnis kennzeichnen. (Nur die ideologischen Systeme haben ihren Eifer, Menschenbilder anzubieten, noch nicht gedämpft.) Die

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Zeit ist vorbei, in der man im Menschen selbst nach Ausstattungen, nach Kräften, nach Fähigkeiten fahndete, die tierischer Ausstattung gegenüber eine Aufstockung bedeuteten, von der her die spezifisch menschliche Lebensführung erklärlich wäre. Wer will es schon von vornherein ausschließen, daß man möglicherweise eines Tages Wesen entdeckt, die den Menschen an intellektueller Fähigkeit etwa übertreffen? Nicht die natürlichen Ausstattungen des Menschen machen das Menschliche aus, sondern der Kontext, in dem diese Naturanlagen beim Menschen stehen. Diesen Kontext schreibt der Mensch selbst; seine Sache ist es, aus seinen Naturanlagen dies oder das zu machen. 17 Wenn man hier nicht ins Grenzenlose fortschreiten will, hat es wenig Sinn, diese Fähigkeit, einen solchen Kontext zu schreiben, wieder auf subjektiv vorgegebene, an ihm oder in ihm selbst aufweisbare Ausstattungen zurückzuführen und etwa in der Vernunft oder im Geist eine solche Superausstattung des Naturwesens Mensch zu vermuten. Dieser Optimismus, das Menschliche von den Ausstattungen des individuellen Subjekts her zu begründen, ist freilich schon lange dahin. Statt dessen hatte man - und das ist wieder ein Zug der traditionellen Geisteswissenschaften - die Ansicht vertreten, daß der einzelne erst dann auch die Möglichkeit seiner individuellen Lebensführung gewinnt, wenn er sich an die in der Kultur objektiv gewordene, generelle Möglichkeit des Menschengeistes hält. Sein Eingefügtsein in die Kultur im ganzen, in das, was die Menschheit im ganzen unter Beweis gestellt hat und noch unter Beweis stellen wird, macht dem Menschen auch sein individuelles Menschsein erreichbar. Doch auch dieser Lösungsversuch wird wenig Befürworter finden; zumal erwiesen ist, daß auch nach sogenannten Kulturrevolutionen Menschsein noch möglich ist; daß die hierin sich offenbarende und oft erschreckende GeschichtsIosigkeit gerade die Geschichtlichkeit des Menschseins bestätigt, daß es nämlich Sache des Menschen ist, in jeder Epoche, in jeder Gesellschaft neu den Kontext zu schreiben, in dem seine natürlichen Ausstattungen und Kräfte menschlich vollzogen werden. Wenn derart die Gründe auf seiten des Subjekts wie die auf seiten des Objekts sich nicht mehr als tragfähig erweisen, dann bleibt für

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Menschenbilder nichts mehr übrig. Stets ist der Mensch das, was er von sich erwartet.

5. Verhalten und Handeln Lassen wir den Hinweis von Snow und Becker auf die Aufgabe der Erziehung im gegenwärtigen Dilemma der Kultur insoweit gelten, als der Pädagoge hier stellvertretend für alle Wissenschaftler versuchen mag darzulegen, welch eine Vorstellung vom Menschen sein pädagogisches Handeln voraussetzt und es sinnvoll macht. In all seinen pädagogischen Unternehmungen wird ein bestimmter Zusammenhang zwischen Wissen und menschlichem Handeln angenommen, der nicht gleichgültig sein kann für die scheinbare Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis. Auch die Pädagogik nimmt heute in einigen ihrer Vertreter an dem Entschluß der Wissenschaft teil, nur solche Bereiche der sogenannten Erziehungswirklichkeit zu thematisieren, die dem empirisch-analytischen Verfahren zugänglich sind. 18 Erziehungswissenschaft in diesem Sinne hat dann all die Theorien und pädagogischen Hypothesen aus ihrem Forschungsbereich auszuschließen, die sich mit den Zielen pädagogischen Handelns befassen; sie beschränkt sich demgemäß auf „Theorien mittlerer Reichweite". 19 Diese um eines bestimmten Begriffs von Wissenschaftlichkeit willen getroffene Einschränkung erlaubt es ihr, präzise und informationshaltige Aussagen zu machen darüber, was man tun muß, um dieses oder jenes vorgenommene pädagogische Ziel zu erreichen wenn dies bisher auch mehr versprochen als gehalten worden ist. Die Ziele selbst, so sagt man auch hier, liegen außerhalb der so verstandenen Erziehungswissenschaft; sie sind immer schon vorformuliert von der Gesellschaft, die ihre Aufträge an Schule und Erziehung erteilt. Diese Restriktion der Erziehungswissenschaft ist gewiß wichtig, aber um der pädagogischen Praxis willen nicht zureichend. Mag es anderen Wissenschaften möglich sein - die Pädagogik jedenfalls wird sich nicht nur auf diesen engen Begriff von „Wis-

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senschaft" einschränken dürfen. Die Ziele des pädagogischen Handelns entstammen ja nicht einem Automatismus der Gesellschaft. Die heranwachsende Generation, der die Sorge des Erziehers gilt, ist es doch, die eines Tages eben die Gesellschaft ausmacht, welche für den eigenen gesellschaftlichen Prozeß und für die heranwachsende Generation die pädagogischen Ziele formuliert. Sollten also gerade das Setzen von Zielen, das Ermitteln dessen, was in einer bestimmten Situation für menschliches Handeln leitend sein soll, die Frage, wie solche Ermittlung dem Menschen möglich und wie er hierfür instandgesetzt werden kann, nicht in den Interessenkreis des Pädagogen und damit in das Aufgabenfeld einer rational vorgehenden und einer rational begründenden Pädagogik gehören? Vielleicht ist es gerade der Pädagoge, dem sich vor anderen Wissenschaftlern vordringlich die Frage stellt, welcher Hilfen die Jugend bedarf, um dieser Aufgabe nachzukommen, in einer zumeist durch Wissenschaft erschlossenen Welt Maße zu gewinnen und Verbindlichkeiten für menschliche Lebensführung zu ermessen. Für den Pädagogen gilt auch heute noch uneingeschränkt der Hinweis Wilhelm Diltheys, daß wir schließlich doch nicht nur wissen wollen, wie die Dinge (gewesen) sind, sondern „unsere Zeit, wie jede andere, bedarf der Regeln des erzieherischen Handelns". Und im Blick auf die selbstverantwortliche Lebensgestaltung der heranwachsenden Generation gilt die Fortsetzung des Satzes: „So findet sich . . . die Wissenschaft vor der Frage: An welchem Punkt entspringt aus der Erkenntnis dessen, was ist, die Regel über das, was sein soll?" 20 Dilthey geht hier offensichtlich davon aus, daß man bei der Rede über einen Sachverhalt zwischen Sein und Sollen unterscheiden könne. Alles durch die Wissenschaft festgestellte objektive Sein ist als solches noch nicht relevant für menschliches Handeln außerhalb der Wissenschaft (eine unzulässige Abstraktion, wie wir wissen); seine innerwissenschaftliche Bedeutsamkeit für den Fortgang der Forschung genügt dem Wissenschaftler nicht: Hätte er sonst nach einem Menschenbild gefragt? Die unverbindliche Objektivität des durch Wissenschaft festgestellten Seins eines Sachverhalts wird aber sogleich überholt dadurch, daß es vom

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Menschen in das Ganze seines durch Tradition und rationale Kritik geläuterten Verstehenshorizontes eingeordnet wird, ja gar nicht außerhalb eines solchen Horizonts vorkommt. In solchem Verstehen erweist sich durch Wissenschaft festgestelltes Sein als bedeutungsvoll und sinnvoll, und der Mensch, der sich in diesem seinem Verstehen selber erreichen und realisieren möchte, tritt mit seinem Handeln in den Dienst solcher Sinnerfüllung. Das ist das Denkschema des Systems der Hermeneutiker von Schleiermacher an bis hin in unsere Gegenwart, bis hin zu Jürgen Habermas. Die kausal-analytische Methode der empirischen Analytiker, also jenes den Naturwissenschaften entlehnte quantifizierende Verfahren, bekommt zwar das reaktive Verhalten des Menschen als Antwort auf ein durch Wissenschaft festgestelltes, gleichsam widerständiges Sein in den Griff, aber das situationsinterpretierende Handeln innerhalb einer sozialen Situation, innerhalb eines geläuterten Verstehenshorizontes entgleitet ihrem Kategoriennetz. „Die gesellschaftlichen Verhältnisse geschichtlich handelnder Menschen" behandelt jene Methode so, als seien sie „gesetzmäßige Beziehungen zwischen den Dingen". D a s Handeln sozialer Gruppen ist in; soziologisch zu analysierenden Situationen nicht schon anhand theoretischer Gesetze nach Ursache und Wirkung hin aufzuschlüsseln. Es entspringt zugleich einem Selbstverständnis der innerhalb einer Situation Handelnden, wobei dieses Selbstverständnis durch das Gruppenverständnis bzw. die Tradition bestimmt ist. So sagt Habermas: „Weil der Einfluß der Ereignisse auf ein handelndes Subjekt abhängt von einer spezifischen Deutung, ist auch die Verhaltensreaktion durch ein konkretes Sinnverständnis gegebener Situationen vermittelt." 2 1 Die Leistung der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie beschränke sich allein auf das Funktionieren theoretischer bzw. technologischer Systeme in sich. Z u Aussagen, die dem praktischen Handeln eine Richtung anhand solcher Systeme zu weisen vermögen, sei sie nicht fähig. Darum versuchen die Vertreter einer dialektischen Wissenschaftstheorie in der Soziologie, zu denen J. Habermas gehört, die Sterilität des durch eine empirisch-analytisch vorgehende Wissenschaft gewonnenen Wissens zugunsten des menschlichen Handelns dadurch zu überwin-

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den, daß sie mit der empirischen Wissenschaftstheorie die hermeneutische dialektisch verbinden, ausgehend von der Erkenntnis, daß jede durch ein quantifizierendes Verfahren in ihrem Sein gemessene Handlung eine Sollenshandlung ist. Sie greifen damit auf jene methodische Unterscheidung von Sein und Sollen zurück, wobei letzteres dadurch ermittelt werden soll, daß das durch empirisch-analytische Wissenschaft festgestellte Sein hineingenommen wird in den durch Tradition und Wissenschaft geläuterten, gesellschaftlich vermittelten Verstehenshorizont des Zeitgenossen. Nun bin ich allerdings der Meinung, daß dieses Grundschema des Denksystems der Hermeneutiker das Problem nicht eigentlich löst. Sein und Sollen bleiben hier doch letztlich unverbunden nebeneinander stehen, weil sie verschiedenen Systemen angehören, einerseits dem System der Wissenschaft, andererseits dem jeweiligen gesellschaftlichen Handlungszusammenhang, wie er durch jenen Verstehenshorizont definiert ist. Eine positive Lösung des Problems wird sich erst finden lassen, wenn man aufzeigt, daß sich Wissenschaft und Handeln nicht in verschiedenen, sondern in dem gleichen Horizont bewegen, daß Wissenschaft und Handlungszusammenhang ihre Setzungen treffen unter der beide leitenden Frage: Was ist (eigentlich) los mit diesem und jenem Sachverhalt, was hat es (eigentlich), ζ. B. mit der Fließbandarbeit, auf sich? Diese Was-ist-Frage gibt keine Ruhe; sie läßt uns die M-T-M-Theorie nicht einfach hinnehmen, wenn das Interesse, dem sie ihre Entdeckung verdankt, mit in den Blick genommen ist. Die M-T-M-Theorie erweist sich als relativ zur Interessenlage, und ihre Ist-Sätze verlieren damit den Anspruch auf Ausschließlichkeit und Absolutheit. Sie bringen aufs neue die Wasist-Frage in Gang - eine Bewegung, die unaufhaltsam fortläuft und nicht im Denken zu Ende ist, sondern den Menschen fortreißt zu „revolutionärer Praxis". Diese Praxis erfährt ihre Anleitung nicht aus einem ideologischen Normenhorizont, sondern aus der Spontaneität der im Horizont der Was-ist-Frage unablässigen Bewegung des Menschen, die ihn anhält, dem Ist nachzugehen, das in bestehendem Ist noch zu ermitteln ist.

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Der Erzieher wird dafür sorgen müssen, daß der junge Mensch in diese Bewegung eintritt und daß sie nicht ins Stocken gerät dadurch, daß durch irgendwen oder durch irgend etwas Absolutheitsansprüche erhoben werden. Um dieser Bewegung willen, welche die „Vernunft" des Menschen, seine „Rationalität", kennzeichnet, wird er für Emanzipation sorgen müssen - aus politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Herrschaft, die an dieser in Umwälzung auslaufenden, dem Ist nachgehenden Bewegung nicht interessiert ist - aus der Herrschaft der Selbstsucht, welche jenes Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst voraussetzende „Interesse der Vernunft" an Emanzipation paralysiert - aus Ideenherrschaft und der Herrschaft von Ideologien, welche der für Menschen ihrer „Vernünftigkeit" wegen unumgänglichen Notwendigkeit, an dieser Bewegung teilzunehmen, entheben möchten. Erziehung und Schule werden auch dafür sorgen müssen, daß diese Bewegung nicht im Gedanken zu Ende ist, sondern daß sie ausläuft in faktische - im Horizont der Was-ist-Frage innerhalb der schon bestehenden Wirklichkeit ermessene - Um- und Neugestaltung: darum keine (Industrie-, Sozial- usw.) Praktika, sondern Praxis! Hier von einem Sollen zu sprechen, lenkt von der „Wirklichkeit" und der Dimension menschlicher Bewegung in der „Wirklichkeit" (Was ist los mit ihr? was hat es mit ihr auf sich?) ab. Vom Gesagten her hat die Schule ihr Programm einer „politischen Bildung" sowie ihr Verhältnis zur „Arbeitswelt" neu zu durchdenken. Eine „Einführung in die Arbeitswelt" ζ. B., wie die Bildungspläne unserer Schulen sie fordern, ist in der bestehenden und projektierten Arbeitswelt nicht zu Ende - sofern die Was-istFrage leitend ist: In der Arbeitswelt gilt es vielmehr die Möglichkeiten einer neuen Arbeitswelt zu entdecken, und in die Aktion ihrer Verwirklichung gilt es einzutreten. Man wird einwenden, daß diese theoretisch-praktische Bewegung im Horizont der Was-ist-Frage utopisch sei, weil als Grund ihrer Möglichkeit ein herrschaftsfreier Raum immer schon voraus-

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gesetzt werden müsse, den es faktisch doch noch gar nicht gibt. In der Tat bewegen wir uns und werden wir uns immer in den Zwängen von Herrschaftsinteressen bewegen: darum ja das „Interesse" an Emanzipation. Daß dennoch aber vom Menschen ständig die herrschaftsfreie Bewegung im Horizont der Was-ist-Frage als aktuelle Möglichkeit ergriffen und vollzogen wird, beweisen jeder Dialog und jede Diskussion, in denen schon festgestelltes Sein und darauf gegründete Herrschaft kritisiert, infragegestellt und überholt werden. Aber nicht nur die Überholung festgestellten Seins die simpelste Was-ist-Frage, die wir tausendmal am Tage stellen, ist schon der praktische Erweis, die praktische Anerkennung des Postulats der Emanzipation: und zwar nicht der Emanzipation aus der einen Herrschaft zugunsten einer anderen, sondern der Emanzipation aus jeglichem Interesse zugunsten jener theoretisch-praktischen, dem Ist in bestehender Wirklichkeit nachgehenden und demgemäß sie umgestaltenden Bewegung22. Utopisch ist der „herrschaftsfreie Dialog" 23 nur im Sinne der konkreten Utopie von Ernst Bloch24, die immer schon in der „Wirklichkeit", und sei es als Kritik, wirksam ist. Aber der Erzieher leitet zu dieser Bewegung im Horizont der Was-ist-Frage nicht nur an; er nimmt selber - mit seinen Schülern daran teil: sie wird in Kommunikation vollzogen. Eine solche Kommunikation ist also eine Ko-Operation, Inter-Aktion. In solchem Zusammenhandeln in vorhandener Wirklichkeit unter der Perspektive der Was-ist-Frage kommt Wirklichkeit zustande als das Noch-nicht-Wirkliche vorhandener Wirklichkeit. In der Kommunikation wird etwas ver-handelt; in vorhandener Wirklichkeit, in der es noch nicht wirklich ist, wird etwas, wird eine neue Wirklichkeit hervorgebracht. Sie ist für die Ko-Akteure keinesfalls gleichgültig, sondern als Wirklichkeit, der sie als ihre Hervorbringer unlösbar verknüpft sind, ist sie Ausgangsbasis ihres künftigen Denkens, Redens und Tuns. Auch da, wo sie im Denken, Reden und Tun die Wahrheit dieser neuen Wirklichkeit leugnen - weil sie vielleicht die Folgen fürchten - wenden sie sich doch von ihr ab, und das Syndrom des „schlechten Gewissens" ist Zeichen ihres Handelns „wider bessere Einsicht".

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Das Ist, abstrakter formuliert: das Sein von etwas ist also für menschliches Handeln nicht gleichgültig, wie es die Unterscheidung von Sein und Sollen nahelegt, sofern man darunter nicht eine metaphysische Größe (essentia, Wesen) versteht, sondern eben das im Horizont der Was-ist-Frage stets neu zu ermittelnde und stets zu überholende Ist von etwas, das im Wechsel der Situation keine Ruhe gibt und neue Praxis freisetzt. Sein und Sollen, Sein und Sinn sind demnach gar nicht zu trennen. Wer aber den Horizont der Was-ist-Frage von dem der Was-bedeutet-Frage trennt, der vertreibt das Sein aus der Wirklichkeit und verweist es in eine ideale Welt, in der der Mensch sich nicht mehr zu Hause fühlt, die er angesichts der Wirklichkeit, die zum Gedanken drängt, vergessen hat. Wo es um den Zusammenhang von Wissen und Handeln geht, bedarf es also keiner Übertragung wissenschaftlich festgestellten Seins in einen sinnerschließenden und handelnbegründenden Horizont des Verstehens: Wo festgestelltes Sein nicht jene die Feststellung ermöglichenden Interessen verbirgt, nicht die alle Feststellungen hinterfragende Bewegung im Horizont der Was-ist-Frage aufhält, erweist sich Sein selbst als Anspruch weiterzudenken, weiterzusprechen und weiterzuhandeln. - Noch einmal: Die Zeit der das objektive Sein feststellenden Naturwissenschaften und der das Sollen darstellenden Geisteswissenschaften ist vorbei - und damit natürlich auch die Zeit des Geisteswissenschaftlers, der meint, naturwissenschaftliche Fakten ignorieren zu können. Wissenschaft selbst setzt Handeln frei, wenn sie sich ihres Ursprungs in Lebenspraxis bewußt ist.

6. Ansprechbarkeit Uber den Zusammenhang von Wissen und Handeln hinaus lassen sich noch einige weitere Partien des gegenwärtigen Kontextes menschlichen Selbstverständnisses darlegen. Wir gehen dabei davon aus, daß jedes Handeln am Menschen und mit dem Menschen immer schon von einer gewissen Erwartung dessen

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begleitet ist, was heute und hier der Mensch ist. Auch den pädagogischen Maßnahmen des Erziehers liegt die Annahme zugrunde, daß sie an ein „Wesen" gerichtet sind, dem diese Maßnahmen korrespondieren, das so konzipiert ist, daß diesen Maßnahmen der Erfolg nicht notwendig verwehrt ist25. Pädagogische Maßnahmen setzen weithin zunächst wohl dieses voraus, daß es sich bei den Menschen um lernfähige Wesen handelt, womit die Fähigkeit des Menschen gemeint ist, sein Verhalten so zu ändern, daß die zufolge einer Situationsänderung heraufbeschworene Verunsicherung überwunden und die Sicherheit verbürgende An- und Einpassung in die veränderte Situation wieder gewährleistet ist. Auf diesem Gebiete kann die Lernforschung übrigens viel von der Tierpsychologie lernen. Denn auch tierisches Lernen hat offenbar dieses Ziel, bei gestörtem situativem Gleichgewicht durch Verhaltensänderung eben dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. In diesen Bereichen menschlichen Lernens ist eine Auflösung des Geschehens in eine begrenzte Anzahl von Variablen möglich; hier dürfte auch eine genaue Faktorenanalyse gelingen; dieser Vorgang ist operationabel; hier hat eine Erziehungswissenschaft, die sich auf das empirisch analytische Verfahren verpflichtet fühlt, ihren eigentlichen Gegenstand. Lernfähigkeit wird in der zeitgenössischen pädagogischen Anthropologie als positives Korrelat der Lernbedürftigkeit des Menschen gegenübergestellt. Seine Instinktarmut führt zu fortgesetzten Störungen des Gleichgewichts zwischen Mensch und Situation. Unter der unreflektierten Voraussetzung nun, daß bei jedem Wesen solch eine sichere Stabilität zwischen Lebenseinheit und seiner Welt anzunehmen ist, hat man immer wieder nach Kompensatorien gesucht und in diesem Zusammenhang beim Menschen etwa auf die Vernunft, die Sprache und die Geschichte hingewiesen.26 Die soeben zitierte Lerntheorie legt diese von Natur aus mangelhafte Korrespondenz zwischen Mensch und Situation als Lernbedürftigkeit aus und schließt von ihr auf eine den Mangel kompensierende Lernfähigkeit. 27 Menschliches Lernen ist damit in einen Kontext eingeordnet, der es bestimmen läßt als auf Lebenssicherheit bedachte Verhaltensänderung. Nun ist die dieser

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Auslegung des Lernens zugrundeliegende theoretische Voraussetzung keineswegs zwingend. Könnte es doch immerhin sein, daß die Ungesichertheit des Menschen zufolge des Instinktmangels so radikal wäre, daß ihr durch keine Kompensation aufzuhelfen und daß demzufolge menschliches Lernen in einen anderen anthropologischen Kontext einzuordnen ist. Zwar wird niemand bestreiten, daß solche Sicherheit verbürgenden Verhaltensänderungen unerläßlich sind. Ließe sich aber der eben geäußerten Vermutung folgen, dann wäre für dieses partielle Sicherheit verbürgende Lernen ein weiterreichender Kontext zu formulieren. Unsere Frage muß also lauten, ob über menschliches Lernen wirklich alles gesagt ist, wenn es nur als Verhaltensänderung verstanden wird, die eben auf nichts anderes aus ist als auf Sicherheit. Wir hatten bereits unter Berufung auf Habermas darauf hingewiesen, daß sich menschliche Aktion nicht restlos als Verhalten auslegen läßt. Menschen gehen ans Werk und handeln. Die Selbstverbrennung Jan Palachs auf dem Wenzelsplatz in Prag läßt sich schwerlich als Sicherheit intendierendes Verhalten auslegen - , wie hier generell auf die dem Menschen offenstehende Möglichkeit des Selbstmords hinzuweisen ist, so verschieden er auch motiviert sein mag. 28 Sollte nun Lernen zur Entdeckung der Unumgänglichkeit solcher die eigene Sicherheit destruierender „Lebensführung" unerheblich sein? In welchem Kontext ist jetzt die primär anzustrebende Sicherheit zu lesen, in welchem Kontext ist nun zu sagen, was menschliches Lernen ist? Das pädagogische Handeln, wo immer wir es antreffen, setzt darum auch stets mehr als solche Lernfähigkeit beim Menschen voraus - und hier wird überhaupt erst jener Kontext deutlich, in welchem Menschsein heute konzipiert ist. Es setzt voraus, daß der Mensch ansprechbar ist in einer merkwürdigen, von tierischem Sein unterschiedenen Weise. Auch Tiere sind ja ansprechbar oder vielleicht besser empfänglich für Aufforderungen, die durch den Instinktmechanismus vorgezeichneten Bahnen auch wirklich zu durchlaufen oder sich auf Lernvorgänge einzulassen, die nach Versuch und Irrtum Verhaltensweisen zum Ziele haben, die die Lebens- und Arterhaltung des Tieres sicherstellen. Nicht nur der

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Tierlehrer, sondern die Situation selbst - Gefangenschaft oder Freiheit - fordern das Tier auf, unter Zugrundelegung des instinktiv gesicherten Maßstabs der Lebens- und Arterhaltung sein Verhalten so zu ändern, daß in eben dieser Situation die Erhaltung des Lebens und der Art gesichert ist. Die von der Erziehung vom Menschen vorausgesetzte Ansprechbarkeit ist anderer Art. Sie setzt ein Wesen voraus, das fähig ist, Wirklichkeit im Horizont der Was-ist-Frage zu durchlaufen - in diesem Durchlaufen zu sagen, was es mit der Situation im ganzen und dem Einzelnen in ihr auf sich hat, was hier und jetzt „(eigentlich) los ist". Erziehung setzt ein Wesen voraus, das dieser Frage sich nicht entziehen kann und sie selbst als maßgeblich zu übernehmen vermag für sein Handeln - das sich freilich auch diesem Handeln versagen kann und gewiß oft auch versagt, besonders dann, wenn die Herrschaft anderer oder das eigene auf Selbstsicherung bedachte Verhalten es zu jener Bewegung im Horizont der Was-ist-Frage nicht kommen lassen. Erziehung hält ζ. B. das Kind, das sich auf dem Heimweg von der Schule verspätet, dazu an zu bedenken, wozu seine Verspätung in der Familie führt. Nicht weil Pünktlichkeit eine Tugend ist, nicht weil eine Familienordnung eingehalten werden soll, sondern weil ihm im Durchlaufen aller für die familiäre Situation erforderlichen Informationsdaten (Kräftezustand der Mutter, Arbeitsverhältnis des Vaters, Zahl der Geschwister, Größe der Wohnung usw.) sichtbar wird, was in dieser Situation „(eigentlich) los ist", erweist sich dieses ermittelte zeitweilige Ist als verbindlicher Anspruch, sich künftig zu beeilen. Solchem Ermessen ist kein Maß vorgegeben wie dem Verhalten der Tiere: keine abstrakte Familienordnung, kein Wertapriori, auch nicht die väterliche Autorität. - Vielleicht stellt es sich später nach Änderung der familiären Situation als angemessen heraus, zu verschiedenen Zeiten zu essen, so daß der Verspätung nichts mehr im Wege steht - vielleicht erweisen sich auch die von dem Jungen angeführten Gründe der Verspätung als so gewichtig, daß die Eltern gerade dadurch ihrer pädagogischen Absicht nachkommen, daß sie ihre Absicht aufgeben und ihren Organisationsplan „zugunsten" des Jungen ändern. - Die hier von 10 Laskowski, Geistes Wissenschaft

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Erziehung angestrebte Einsicht steht im Gegensatz zum eingefleischten Verhalten des Jungen, stets zu spät zu kommen (wie zur eingewurzelten Gewohnheit der Eltern, immer gemeinsam zu essen) — aber auch zum gegenteiligen Verhalten, stets pünktlich zu sein (oder jeden essen zu lassen, wann er will), bei dem ja alles „in Ordnung" ist, stünde sie im Gegensatz. Solche Erziehung setzt die „Prinzipien" des Erziehers und die des „Zöglings" gleichermaßen aufs Spiel.29 Man mag eine solche Erziehung „antiautoritär" nennen, wenn freilich auch diese negative Formulierung das positiv Gemeinte gerade nicht angibt. Wer in ihr nicht die Aufforderung zu subjektiver Willkür sehen möchte, zieht sich gern auf einen „kritischen" Rousseauismus zurück und die damit unkritisch vorausgesetzte prästabilierte Harmonie zwischen den für sich vollkommenen und vollendeten Einzelnen und der Gesellschaft oder auf die Psychoanalyse der Zwanziger Jahre, die einer nicht-repressiven Erziehung eine verdrängungs- und agressionsfreie Generation versprach und der Pädagogik die Theorie aufnötigte, menschliche und gesellschaftliche Verkehrtheit sei auf durch Repression (seitens der Kapitalisten oder seitens anderer) erzeugte Aggressionen und Triebverdrängungen zurückzuführen und Rationalität sei durch Triebsublimation angemessen zu erklären. 30 Wem es auf eine rationale Begründung der „antiautoritären Erziehung" ankommt, der muß auf solche Metaphysik verzichten ebenso wie auf eine verbindliche, Emanzipation erübrigende Ideologie, wie sie sich etwa in den ersten Theorieansätzen einer antiautoritären Erziehung in den „sozialistischen" Kinderläden zu Worte meldete. Heute werben bisweilen Erziehungseinrichtungen für sich mit der Bezeichnung „antiautoritär", auch wenn es ihnen gar nicht um eine radikale Aufhebung autoritärer Strukturen der Erziehung geht, wenn sie nur eine Art Umpolung des autoritären Gefälles im Sinne haben. An die Stelle der Autorität der bestehenden Kultur und ihrer Vermittler, der Erzieher, tritt dann die über die Destruktion der bestehenden Herrschaft an die Macht strebende neue Herrschaft eines ideologischen Systems; statt der angeblichen Autorität der Erzieher bestimmt das autoritäre Diktat der Zöglinge das, was

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zu tun ist; bestenfalls das über die je konkreten Probleme des wirklichen Lebens erhabene (moralische) Überich, das nach dem theoretischen Konstrukt der Psychoanalyse zustande gekommen ist und fortan auf Rationalität, nämlich die ständige Infragestellung seiner Welt und seiner selbst als eines diese Welt gestaltenden Menschen, verzichten kann. Eine - wie in obigem Beispiel geschilderte - kommunikativrationale Ver-Handlung, Hervorbringung von Wirklichkeit im Horizont der Was-ist-Frage inmitten von Wirklichkeit als deren Noch-nicht, kommt erst dann zustande, wenn Autorität vo jeder Seite aufgegeben wird und allein die rationale Ko-Operation verbindlich, für alle verbindlich ist. Die Ver-Handlung unter der Frage des Ist ist nun das Autoritative, das Verbindliche. Wenn es in obigem Beispiel etwas zu lernen gilt, dann ist nicht Sicherheit in den Grundsätzen des eigenen Wollens das Ziel, sondern daß es mit der vorgegebenen „schlechten" Wirklichkeit, der familiären Situation, „besser" wird. Durch Verhaltensänderung - um mit der Familie wieder in Frieden zu leben - würde nur die angestrebte Situation für endgültig erklärt und gerade verhindert, daß auch der erreichte Zustand aufs neue kritisiert und verbessert wird. Solchem von der Einsicht in das, was es mit der Situation auf sich hat, geleiteten Handeln stehen die auf Sicherheit bedachten Verhaltensweisen des Menschen oft entgegen, ja sie verhindern häufig solches Ermessen, das im Ermessen selbst erst das Maß des Messens zu erstellen hat. Einer Hausfrau „aus früheren Zeiten" ζ. B. ist das Verhalten eigentümlich, daß der Glanz der Wohnung ihr über alles geht. Sie hat darum auch gar kein Verständnis dafür, daß nach Arbeitsschluß ihr Mann mit einigen Arbeitskollegen, verstrickt in eine lebhafte Diskussion über die Verhältnisse am Arbeitsplatz, nach Hause kommt und die sorgsam gehütete Ordnung der Wohnung auf den Kopf stellt. Ihr Verhalten hindert sie daran zu ermessen, daß es politische und ökonomische Situationen gibt, in denen durchaus ein anderes Handeln am Platze ist. In diesem Kontext wird sichtbar, daß das primäre auf Lebenssicherung und Lebenssteigerung bedachte Verhalten des Menschen 10'

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neu und anders gelesen werden muß: Der im Horizont der Wasist-Frage ermittelten Verbindlichkeit für das auf Besserung der Situation bedachte Handeln kann der Mensch qualifiziert erst nachkommen, wenn er für sich etwas darstellt, wenn er etwas kann und hat - sonst wäre sein Handeln wirkungslos, und es bliebe in seinem Wirklichkeit veränderndem Handeln lediglich beim „guten Willen".31 Es ist wenig sinnvoll, die von Erziehung vorausgesetzte Fähigkeit des Menschen, auf solches Ermessen hin angesprochen zu werden - und solcher Menschen bedarf eine demokratische Gesellschaft - auf Sonderausstattungen dieses Wesens, eine besondere Intellektualpotenz etwa, zurückzuführen. Kinder können in einem Alters bereits auf solches Ermessen hin angespochen werden, in dem ihre intellektuelle Fähigkeit geringer ist als eine vergleichbare Lernleistung der Schimpansen, wie sie aus deren erstaunlicher Fähigkeit, durch Versuch und Irrtum zu lernen, erschlossen werden kann.32 Sollte nun eine an Maß geringere Fähigkeit mehr leisten, nämlich solches Ermessen, als die größere? Diese Ansprechbarkeit kann nur verstanden werden, wenn man an das Gesagte erinnert, daß es sich hier um Wesen handelt - und seien deren Fähigkeiten noch so gering zu veranschlagen - , denen Welt und Wirklichkeit unter dem Horizont der Was-ist-Frage offenstehen. Tierische Intelligenz bewegt sich ausschließlich im Horizont der Lebens- und Arterhaltung und vermag sich darum zu den Dingen nur unter dieser Perspektive zu verhalten. Mag die konkrete Ansprechbarkeit des einzelnen Individuums audi mannigfach begrenzt sein: Ihr zugrunde liegt eine in Quanten nicht faßbare generelle Ansprechbarkeit des Menschen, die eine Begrenzung der Erziehungsbereitschaft von Erzieher, Schule und Gesellschaft einzelnen Menschen gegenüber grundsätzlich ungerechtfertigt sein läßt.33 Dies ist offenbar der „anthropologische" Befund, daß die Menschen intelligente Wesen sind, die sich solcherart in einer ihnen offenstehenden und durchschaubaren Welt und Wirklichkeit bewegen, daß sie in der konkreten politischen, ökonomischen, sozialen Wirklichkeit unter Anleitung der Was-ist-Frage zeitweilige Vorrangigkeiten zu setzen, Maßgaben

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für ihr Handeln zu ermitteln imstande sind mit dem Ziel, in dieser Wirklichkeit (vielleicht unter Hintansetzung ihres eigenen Sicherheitsbedürfnisses) durchzusetzen, was sie noch nicht ist, was aber in ihr gemäß ihrer Einsicht an der Zeit ist. Aufforderung zur Änderung des Verhaltens dagegen zielt ab auf die Affirmation der bestehenden oder der von elitären Experten projektierten künftigen Situation. 34 Fragt man nach einem Zeichen der Bestätigung dieses Befundes, dann ist auf die menschliche Sprache zu verweisen. Sie ist gewiß mehr als tierische Sprache, welche hinsichtlich ihrer Ausdrucksfunktion bzw. ihrer Mitteilungsfunktion häufig beschrieben worden ist. Menschliche Sprache gipfelt in dem Wörtchen Ist. Solche Sprache ist nur Wesen möglich, denen Welt im Horizont der Wasist-Frage offensteht. Diese besondere Art, wie der Mensch sich in seiner Welt bewegt, macht seine Rationalität aus, und ihr scheint der Mensch nicht entrinnen zu können. Jeder Versuch des Entrinnens bestätigt sie schon. Diese Erkenntnis ist selbst nicht nur theoretisch. Vielmehr hat der Mensch selber für diesen seinen Selbstvollzug in rationaler Lebensführung aufzukommen, indem er seine Welt um ihres „Fortschritts" willen so einrichtet, daß rationale Lebensführung ihm möglich ist. Und darum ist es Sache der Rationalität, Emanzipation des Menschen in all seinen Lebensbereichen, Befreiung von Herrschaft gleich welcher Provenienz zu fordern.

7. Wissenschaft und rationale Lebensführung Nun ist also doch eine Reihe von Sätzen gesagt worden über den Menschen gemäß seinem gegenwärtigen Selbstverständnis. Sätze des Geisteswissenschaftlers waren es nicht. Ich meine nämlich, daß jeder Wissenschaftler die Erkenntnisse seiner Wissenschaft heute auf die Möglichkeiten und auf die Bedingungen rationaler Lebensführung hin auslegen muß.

Klaus Schaller

Anmerkungen und Literatur Ch. P. Snow: Die zwei Kulturen, literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1967. Die folgenden Zitate von den Seiten 11,18. H. Becker: Bildung und Gesellschaft, in: Offene Welt, Zs. f. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Nr. 86, Dez. 1967: Mündige Gesellschaft, S. 425 f. Zitiert nach der 5. Auflage von H. Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1921, S. 16. Seit Kant wird auf die Strukturidentität von Gegenstand und Methode hingewiesen. So unterscheidet Th. Litt die Gegenstandssphäre der Natur - des Nicht-Ich - von der „lebendigen Wirklichkeit des Geistes". Da letztere - nach Hegel - dialektisch ist, wird ihr auch nur eine dialektische Methode gerecht werden können. „In der Tat wird man ganz im allgemeinen allen den Begriffen, die die Wirklichkeit des lebendigen Geistes zu erfassen bestimmt sind, diesen Charakter der Vieldeutigkeit nachsagen müssen, und zwar nicht als eine akzidentielle Bestimmung, sondern als eine strukturelle Grundeigenschaft." Dagegen schließt nach Litt die logische Struktur der Gegenstandsphäre des Nicht-Ich - der Natur - „grundsätzlich die Möglichkeit in sich, das mit einem Begriff Gemeinte durch eine Definition festzulegen, die in ihrer eindeutigen Bestimmtheit jedes Mißverständnis, jeden Streit über die Auslegung ausschließt" (Führen oder Wachsenlassen, 11. Aufl., 1964, S. 12 f.). Rickert, a. a. O., S. 16. Rickert, a. a. O., S. 17. Vgl. hierzu: K. Schaller und K.-H. Schäfer: Bildung und Kultur, ein Repertorium moderner Bildungstheorien I, Hamburg 1968, S. 84 ff. Vgl. hierzu: O. F. Bollnow: Allgemeingültigkeit und Objektivität, in: K. Schaller: Erziehungswissenschaft und Erziehungsforschung, ein Repertorium der Methodologie der Pädagogik, Hamburg 1968, S. 92 ff. Hierzu aus der reichen Literatur die von Brezinka in „Erziehungswissenschaft und Erziehungsforschung" (s. Anm. 8) abgedruckten Stücke „Was ist Wissenschaft" und „Werturteile in der Wissenschaft", S. 157 ff. Von Brezinka wird auch die ausgebreitete angelsächsische Literatur zum Thema zitiert. Hierzu aus der deutschsprachigen Literatur K. R. Popper: Logik der Forschung, Tübingen 21966; R.König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. I, Stuttgart 1967; E. Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, Köln, Berlin 1965. C. Menze: Erziehungswissenschaft und Erziehungslehre, in: Pädag. Blätter, H. Döpp-Vorwald z. 65. Geb., Hrsg. v. F. J. Holtkemper, Ratingen 1967, S. 316. F. Bacon: „Novum Organon", I, 3; oder: „Der Mensch, der Diener und Ausleger der Natur, wirkt und weiß so viel, als er von der Ordnung der Natur

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durch Versuche oder durch Beobachtung bemerkt hat; weiter weiß und vermag er nichts. Das wahre Ziel der Wissenschaften ist nur die Bereicherung des menschlichen Geistes mit neuen Kräften und Erfindungen". (I, 81). Κ. H. Volkmann-Schluck: Einführung in das philosophische Denken, Frankfurt 1965, S. 66 f. (III. Die wissenschafdich-technische Bestimmung des Wesens der Natur in der Neuzeit). J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968 (Theorie 2). Hier handelt es sich um eine den Entdeckungszusammenhang betreffende Theorie. Vgl. J. Habermas: Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. Ein Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno, in: Zeugnisse. Th. W. Adorno zum 60. Geb. Hrsg. v. M. Horkheimer, Frankfurt 1963; auch in: E. Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, 2. Aufl., KölnBerlin 1965. „Nicht ein Unterschied der ,Anlagen', der ,Ausstattung' gegenüber dem Tier liegt vor, etwa durch Hinzukommen der Ratio, sondern eine von Grund aus gewandelte Übernahme des Natürlichen" (Th. Ballauff: Die pädagogische Unzulänglichkeit der biologischen Anthropologie, Essen 1962, S. 41). Besonders W. Brezinka und seine Mitarbeiter. Die Selbstdarstellung W. Brezinkas in den Jahrgängen 1968/69 der Zeitschrift für Pädagogik gibt über diesen Ansatz, der innerhalb der deutschen Tradition in R. Lochner einen Vorläufer hat, am besten Auskunft. W. Brezinka zitiert im Lexikon der Päd. (Herder), Bd. I, R. König (s. Anm. 10): „Wir erhielten dann folgende Reihe, die nach Maßgabe des wachsenden Abstraktionsgrades der gewonnenen Begriffe geordnet ist: Beobachtung empirischer Regelmäßigkeiten — Entwicklung von ad-hocTheorien - Theorien mittlerer Reichweite - Theorien höherer Komplexität." W. Dilthey: Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft, in: Ges. Schriften, Bd. VI, 1962, S. 61 f. J. Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: Philos. Rdsch., Beih. 5, 1967, S. 22. Hier wieder von Interesse, etwa vom „Interesse der Vernunft" oder dem „Interesse an Emanzipation" zu sprechen, wie wir es soeben taten, scheint mir die Radikalität und die grundsätzliche Herrschaftsfeindlichkeit menschlichen Denkens und Tuns zu verdecken. J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, in: Merkur, Nr. 213, 19. Jg. 1965, H. 12, S. 1151. E.Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. I, Frankfurt 1959; Ders.: Geist der Utopie, Frankfurt 1964; Ders.: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt 1967. Zum Verhältnis Utopie - Erziehung s. B. Bellerate: Aristotelismus, Christentum, Utopie und die pädagogische Gedankenwelt des J. A. Comenius, in: K. Schaller (Hersg.): Jan Arnos Komensky, Wirkung eines

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Werkes nach drei Jahrhunderten, Heidelberg 1970 und J. Guter: Pädagogik und Utopia, Erziehung und Arbeitswelt in sozialpolitischen Utopien der Neuzeit, Neuwied, Berlin 1968. Zur Erwartung, im pädagogischen Handeln sei über den Menschen etwas zu erfahren, ist an O. F. Bollnow zu erinnern: Wesen der Stimmungen, 3. Aufl., 1956, S. 16: „Wie muß das Wesen des Menschen im ganzen beschaffen sein, damit sich diese besondere, in der Tatsache des Lebens gegebene Erscheinung darin als sinnvolles und notwendiges Glied begreifen Iäßt?" Hieran anschließend entwickelt W. Loch sein Programm einer anthropologischen Pädagogik, welche fragt: „Was kommt in den einzelnen Erziehungsphänomenen und schließlich in der Erziehung selbst vom Menschen zum Ausdruck?" (W. Loch: Die anthropologische Dimension der Pädagogik, Essen 1963, S. 82 f. - neue päd. bemühungen, Bd. 1/2). Ein Beispiel hierfür in K. Schaller: Studien zur systematischen Pädagogik, 2. Aufl., Heidelberg 1970, S. 53 ff. Vielleicht kann hier auf einen Gedankengang J. G. Herders hingewiesen werden, dessen Wirkung sich bis zu A. Gehlen verfolgen ließe. Auch er geht von der Mangelhaftigkeit des Menschen aus: „Nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet: und was die Summe seines Elendes ausmacht, aller Leitlinien des Lebens b e r a u b t . . . nein, ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur. Es müssen statt der Instinkte andere verborgne Kräfte in ihm schlafen! Stumm geboren; aber - " (Sämtl. Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. 1-33. Berlin 1877-1913. Bd. 5, S. 26). Um überhaupt lebensfähig zu werden, muß es der Mensch verstanden haben, seine Mängel ins Positive, ins Tragende, ihn Auszeichnende zu wenden. Er ist das Wesen der Kompensation, welche er selbst auf sich nimmt in seiner Geistigkeit, Sprachlichkeit und Geschichtlichkeit. „Der Mensch ist seiner Gattung nach ein Kunstgeschöpf. Auf den Gebrauch tätiger Vernunft mittels sinnlicher Organe, mithin auf Kunst ist das Sein und Wohlsein seines Geschlechtes g e b a u t . . . Seine Bedürfnisse zwangen ihn, seine Fähigkeiten und Kräfte luden ihn dazu ein, Kunst ist ihm als Menschen natürlich" (Bd. 22, S. 140). So H. Roth in seinem Buch „Pädagogische Anthropologie, Bd. I: Bildsamkeit und Bestimmung", Hannover 1966, S. 149: „Die Kehrseite seiner Lernund Erziehungsbedürftigkeit ist seine unendliche Lern- und Erziehungsfähigkeit", vgl. die ausführliche Rezension dieses Buches, die gerade auch die nichtempirischen, metaphysischen Voraussetzungen Roths aufweist, von K. Schaller, in: „Theologia practica", 1969, S. 187 ff. Zwar wird die empirische Verhaltensforschung immer auch versuchen, ein so vielschichtiges Phänomen wie den Selbstmord oder auch das erwähnte konkrete Beispiel mit Hilfe ihrer Kategorien zu beschreiben, daß etwa das auf die Situation eines liberalen Kommunismus eingerichtete Verhalten Palachs die Anpassung an das neue orthodoxe System nicht zuließ, so daß

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den liberalen Kommunisten die Schuld an Palachs Tod letztlich zukommt. Derartige Versuche - mögen sie in Einzelfällen auch vertretbar sein - sind in hohem Maße künstlich und konstruiert, so daß diese Art der Beschreibung unwahrscheinlich wird. Zeigt sich darüber hinaus nicht gerade hier die Grenze der empirischen Verhaltensforschung angesichts des menschlichen Handelns, daß sie den Selbstmord als eine durch Verhaltensänderung nicht mehr ausschließbare „letzte Möglichkeit" einkalkuliert? Sollten hier Erziehung und deren Wissenschaft nicht in positiverer Weise zuständig sein? Ansätze zu einer systematischen Erörterung dieses Erziehungsverständnisses hat der Verfasser in seinen „Studien zur systematischen Pädagogik" (2. Aufl., Heidelberg 1969) vorgelegt, bes. in der 5. Studie: „Ende der Erziehung?" Man denke hier etwa an die Schriften von S. Bernfeld: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse, Bd. 1 u. 2, hrsg. v. L. v. Werder und R. Wolff, Darmstadt 1969, besonders auch das Nachwort der Herausgeber, S. 672 bis 683. Über das Verhältnis von Psychoanalyse und soziologischer Handlungstheorie in der heutigen Diskussion vgl. auch J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968; R. Dermitzel: Thesen zur antiautoritären Erziehung, in: Kursbuch 17, 1969, hrsg. ν. Η. M. Enzensberger, Frankfurt 1969. Den Zusammenhang von Verhalten und Handeln kann man allgemeinpädagogisch unter dem Stichwort „Reflexion und Engagement" vortragen: „All das, was der Mensch in spontanem Akt, in der Anstrengung der Reflexion in sich aktualisiert oder für sich gewonnen hat an Möglichkeiten und Mächtigkeiten, wird menschliche Möglichkeit erst dort, wo es umgeschlagen wird in eine Wirklichkeit, die allen erworbenen Möglichkeiten voraus ist und sie überholt. Erst im Engagement, worunter nicht etwa Einsatzbereitschaft, sondern Einsatz zu verstehen ist, . . . wird das, was ich für mich gewonnen habe, menschlich qualifiziert." (K. Schaller: Studien zur systematischen Pädagogik, 2. Aufl., Heidelberg 1969, S. 51). Siehe dazu auch: Köhler, W.: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, Berlin, Springer 1963. Portmann, Α.: Im Kampf um das Menschenbild, in: Biologie und Geist, Zürich, Rheinverlag 2, 1956. Vgl. hierzu K. Schaller: Theorie der Bildsamkeit, in: K. Schaller: Erziehungswissenschaft und Erziehungsforschung, ein Repertorium zur Methodologie der Pädagogik, Hamburg 1968, S. 190 ff. Hier sind Rückfragen an die moderne Curriculumforschung zu stellen mit ihren drei Schritten: 1. Analyse der gegenwärtigen und der zu erwartenden Situation unter deutlicher Bezeichnung der futuristischen „Hochrechnung", 2. Ableitung von Qualifikationen im Sinne von „Verhaltensdispositionen", „die ein Schüler erwerben sollte, wenn er sich in der gesellschaftlichen Situation adäquat, d. h. möglichst kompetent und autonom verhalten will", 3. Verbindung von Qualifikationen und Curriculum-Elementen. Hierzu neben den Arbeiten von S. B. Robinsohn J. Zimmer: Curriculumforschung, Chance zur Demokratisierung der Lehrpläne, in: didactica 1969, S. 32 ff.

VII. Das Menschenbild des Naturwissenschaftlers Wolfgang

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1. Einleitung Der Naturwissenschaftler ist, so wird hoffentlich jeder zugestehen, ein Mensch wie jeder andere Mensch. Er beschäftigt sich von Berufs wegen damit, Kenntnisse über spezielle in der Natur ablaufende Vorgänge zu sammeln, so wie sich andere ζ. B. damit beschäftigen, Kenntnisse über wirtschaftliche Zusammenhänge, juristische Fragen oder Probleme von Stil und Form in den Künsten zu sammeln, um nur einige der Erkenntnisse sammelnden Berufe zu nennen. In welcher Weise nun verhelfen einem Naturwissenschaftler seine Erkenntnisse zu einem besonderen Menschenbild, also zu besonderen Einsichten über die Natur des Menschen? Es gibt viele Naturwissenschaftler, und ohne Zweifel haben diese vielen Naturwissenschaftler auch viele, zum Teil recht unterschiedliche Menschenbilder. Läßt sich dennoch etwas Gemeinsames aussagen über das Menschenbild des Naturwissenschaftlers? Eine Antwort auf diese Frage kann sinnvoll wohl erst gegeben werden, wenn wir uns die Tätigkeit des Naturwissenschaftlers, die eben grob als Erkenntnissammeln skizziert wurde, etwas genauer ansehen. Wir haben insbesondere zu überprüfen, welche Methoden er bei seiner Tätigkeit anwendet und welches Ziel oder welche Ziele er erreichen will. Darauf wird zu prüfen sein, inwieweit seine Tätigkeit ihm besondere Erkenntnisse über die Natur des Menschen gibt und ob ihm damit vielleicht Maßstäbe für sein Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen geliefert werden.

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2. Methoden und erste Teilziele naturwissenschaftlicher Forschung Warum betreibt der Mensch Naturwissenschaft? Eine allgemeine Antwort auf diese Frage kann wohl lauten: Um Erkenntnisse über sich und seine Umwelt zu sammeln, die ihm erlauben, sich bestimmte zuverlässige Vorstellungen über sich und seine Stellung in der Natur zu machen. Seit jeher hat sich der Mensch um Erkenntnisse über sich und seine Umwelt bemüht (vgl. S. 15ff.). Der Drang danach ist wohl eine typisch menschliche Eigenschaft, die den Homo sapiens vom Tier unterscheidet. Bei diesen Bemühungen hat der Mensch vielerlei Vorstellungen entwickelt, die oft recht widerspruchsvoll und daher wenig zuverlässig waren. Wie bereits im II. Kapitel gezeigt wurde, erweisen die ältesten uns erhaltenen Uberlieferungen, daß solche Widersprüche den Menschen zunächst offenbar gar nicht gestört zu haben scheinen. Er war damit zufrieden, einem bestimmten Problem gegenübergestellt, Vorstellungen über mögliche Verhaltensweisen zu haben, selbst wenn diese Vorstellungen einander widersprachen. Diese Einstellung wurde in Anlehnung an bestimmte Methoden bei der bildhaften Darstellung des Menschen und seiner Umwelt im alten Ägypten treffend als „aspektivisch" bezeichnet und als Zeichen dafür gedeutet, daß der damalige Mensch seine eigene Stellung in bezug auf die Dinge und Geschehnisse seiner Umwelt als unbedeutend empfand. Er stellte seine Umwelt nicht perspektivisch - auf seinen eigenen Standpunkt bezogen - sondern aspektivisch - empirisch normativ - dar. Jeder weiß sicherlich aus eigener Erfahrung, daß es gar nicht so schwierig ist, sich Vorstellungen über Bedeutung und Stellung von Mensch und Umwelt zu ersinnen. Fast jeder deutet sich auf Grund eigener Erfahrungen und Einsichten ein Bild über Mensch und Welt. Dieses Bild wechselt in der Regel mit dem Lebensalter. Es sieht bei Teenagern anders aus als bei Zwanzigjährigen und bei diesen wieder anders als bei Vierzig- oder Fünfzigjährigen. Im Gegensatz zu den Menschen in frühgeschichtlicher Zeit sind wir aber bemüht, widersprüchliche Aussagen nicht unkorrigiert neben-

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einander bestehen zu lassen. Die „aspektivische" Schau wird durch eine „perspektivische" Betrachtungsweise ersetzt. Eigentliche Schwierigkeiten beginnen aber erst, wenn man Vorstellungen entwickeln möchte, die möglichst zuverlässige Aussagen über bestimmte Bereiche von Mensch und Umwelt erlauben. Derartige zuverlässige Vorstellungen lassen sich aus bloßen Überlegungen oder Deutungen unter Heranziehung zufälliger Erfahrungen nicht gewinnen. Am einfachsten ist die erstrebte Zuverlässigkeit der Aussagen zu überprüfen, wenn die Aussagen bestimmte zukünftige Entwicklungen voraussagen, deren Eintreffen oder Nichteintreffen leicht kontrollierbar ist. Aus diesem Grunde hat sich die naturwissenschaftliche Forschung zunächst darauf konzentriert, Faktoren zu analysieren, die bestimmte Entwicklungsabläufe beeinflussen, um dann durch Vorhersagen der zu erwartenden Ereignisse die Richtigkeit der Analyse bestätigen oder widerlegen zu können. Die Analyse von Entwicklungsabläufen und die daraus resultierende Vorhersagbarkeit bestimmter Ereignisse wird manchmal irrtümlicherweise als das einzige Ziel naturwissenschaftlicher Forschung angesehen und diese Forschung daher als zwangsläufig und ausschließlich Technik produzierende und Technik vorantreibende Antriebskraft beurteilt und verurteilt. Wie später zu erkennen sein wird, ist dieses Ziel jedoch nur ein erstes, am einfachsten zu erreichendes Teilziel. Erst die Ansammlung einer großen Menge gesicherter Erkenntnisse ermöglicht die Anvisierung eines Zieles, dessen Bedeutung zweifellos viel wesentlicher für das menschliche Erkenntnisvermögen ist. Nach Erörterung der Bedeutung des nächstliegenden Teilzieles, wird das zu beweisen sein. Zukünftige Entwicklungen lassen sich naturgemäß dann am einfachsten voraussagen, wenn der Entwicklungsverlauf nur von wenigen bekannten Faktoren in übersichtlicher Weise beeinflußt wird. Wichtig ist, daß alle Faktoren, die einen bestimmten Entwicklungsverlauf beeinflussen, bekannt sind und daß ihre Wirkungsweise übersichtlich ist, d. h. erkannt werden kann. Einfache Entwicklungsverläufe in diesem Sinne untersucht die Physik. Um

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die beteiligten Faktoren wirklich eindeutig bestimmen zu können, muß man einen Entwicklungsablauf mehrfach beobachten, d. h. ihn wiederholt ablaufen lassen und dabei einzelne Faktoren ändern oder entfernen. Aus der Wirkung solcher Änderungen kann man die Bedeutung der einzelnen Faktoren schließlich bestimmen. Und damit hat man ein „Experiment" angestellt. Erste Experimente dieser Art wurden bekanntlich von Galilei im 17. Jahrhundert durchgeführt und führten u. a. zur Erkenntnis der Fallgesetze, die uns ζ. B. sagen, daß jeder Körper, wenn wir ihn ein bestimmtes Stück vom Erdboden anheben, und die Wirkung aller anderer Faktoren außer der Schwerkraft ausschalten, mit gleicher, genau bestimmbarer Beschleunigung auf den Erdboden zurückfällt. Die so auffallenden Unterschiede in den Fallbeschleunigungen und damit in den Fallzeiten verschiedener Körper, wie ζ. B. ein Vergleich zwischen einer Bleikugel und einer Wattekugel zeigt, die man aus der Hand auf den Boden fallen läßt, werden durch andere Faktoren, unter denen besonders der Luftwiderstand eine große Rolle spielt, hervorgerufen. An diesem einfachen Beispiel lassen sich die Methoden naturwissenschaftlicher Forschung bereits deutlich erkennen. Wir können verschiedene Körper auswählen und diese von einer bestimmten Höhe immer wieder herabfallen lassen, um den Zusammenhang zwischen Fallweg und Fallzeit genau zu bestimmen. Damit können wir den Entwicklungsverlauf, das Herabfallen des Körpers, praktisch unbeschränkt wiederholen und je nach Wunsch einzelne Faktoren ändern. Ζ. B. die chemische und physikalische Beschaffenheit der Körper oder das Gewicht der Körper, wir können den Luftwiderstand ausschalten, indem wir die Körper im Vakuum fallen lassen und anderes mehr. Durch derartige Versuche erfahren wir also bestimmte Tatsachen oder „Daten", wie die Wissenschaftler häufig sagen. Um eine wirklich allgemeine Gültigkeit beanspruchen zu können, müssen diese Daten jederzeit reproduzierbar sein und damit, von einer bestimmten Ausgangssituation ausgehend, immer wieder ein mit gleicher Wahrscheinlichkeit eintretendes Endergebnis liefern. In unserem Beispiel wird sich immer wieder ergeben, daß ein

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Körper, wenn er im Vakuum herunterfällt, eine Beschleunigung von 981 cm/sec 2 erhält. Dabei ist es ohne Einfluß, ob dieser oder jener unter uns den Körper fallen läßt und Fallweg und Fallzeit mißt, auch ist es ohne Einfluß, zu welcher Zeit das getan wird. Die festgestellten Daten sind unabhängig vom experimentierenden und messenden Subjekt. Sie werden daher allgemein als „objektive" Daten bezeichnet. Damit haben wir eine erste Methode naturwissenschaftlicher Untersuchungen kennengelernt: Die Sammlung objektiver Daten. Das Fallen eines Körpers in einem luftleeren Raum ist ein relativ einfacher Vorgang. Die meisten Vorgänge in der Natur sind außerordentlich viel komplexer. Sie sind so komplex, daß sie sich nur ergründen lassen, wenn man sie in Teilvorgänge zerlegt. Aus solchen Teilvorgängen lassen sich wieder auf vorher beschriebene Weise objektive Daten sammeln. Man kann sich nun bemühen, die aus den Teilvorgängen ermittelten Daten zu einem Gesamtbild zu vereinen. Und damit gelangen wir zu einer zweiten Methode naturwissenschaftlicher Untersuchungen: Die Verwendung angesammelter objektiver Daten zur Bildung von Hypothesen und Theorien. Eine Hypothese enthält noch viele unbekannte Größen. Werden diese unbekannten Größen durch weitere geeignete Experimente bestimmt, so entsteht eine Theorie, deren Aussagen wesentlich zuverlässiger als die einer Hypothese sind. Der allgemeine Erkenntnisweg läuft also von der Sammlung objektiver Daten über die Bildung noch wenig zuverlässiger Hypothesen zur Erstellung zuverlässiger Theorien. Der Vorgang der Bildung von Hypothesen und Theorien ist eine sehr komplexe Leistung unseres Gehirns und basiert auf einer Tätigkeit, die als „Erkenntnisvermögen" bezeichnet werden kann. Was dieses Erkenntnisvermögen wirklich ist, kann hier nicht analysiert werden. Um es skizzenhaft zu kennzeichnen, sei nur soviel gesagt, daß Hypothesen und in reduziertem Maße auch Theorien mehr Angaben als die Summe der zur Verfügung stehenden objektiven Daten enthalten. Dieses Mehr an Angaben entstammt mehr oder weniger kontrollierbaren Einsichten oder Erkenntnissen, die in unserem Gehirn gespeichert sind. Mit Hilfe der Logik werden

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dieses Mehr an Angaben und die erhaltenen objektiven Daten zu einem sinnvollen Ganzen vereint, das eine Vorstellung über das Zusammenwirken der einzelnen Teilvorgänge des untersuchten Ganzen gibt. Dieses Mehr an Angaben muß dann durch Sammlung weiterer objektiver Daten überprüft und bestätigt oder widerlegt werden. Dadurch kann eine immer größere Zuverlässigkeit einer Theorie erreicht werden. Jetzt kommen wir zu einer ersten wichtigen Einschränkung. Auf eine weitere werden wir in Kürze stoßen. Wenn auch viele Versuche zur Bestätigung einer bestimmten Theorie geführt haben, läßt sich der endgültige Beweis, daß eine Theorie absolut richtig ist, praktisch nicht erbringen. Immer wieder müssen wir damit rechnen, daß neue objektive Daten auftauchen können, die gewisse Teile einer Theorie als falsch erweisen. Einen Beweis für die Falschheit einer Theorie oder eines ihrer Teile zu erbringen, ist dagegen viel leichter. Hierzu genügt im Grunde nur die Feststellung einer objektiven Tatsache, die mit der Theorie unvereinbar ist. Theorien sind in diesem Sinne perspektivische Darstellungsformen, deren Teile einander nicht widersprechen dürfen, also logisch miteinander verträglich sein müssen, im Gegensatz zu der aspektivischen Schau unserer Vorfahren (vgl. S. 26). Das Sammeln objektiver Daten durch geeignete Versuchsanordnungen, die gegenseitige Zuordnung dieser Daten durch logische Überlegungen, das sind also die wesentlichen Methoden naturwissenschaftlicher Forschung. Ihr Ziel ist es, Vorstellungen oder Theorien mit dieser Methode zu entwickeln, die bestimmte Zusammenhänge der realen Welt beschreiben. Die Richtigkeit von Theorien läßt sich, wie bereits erwähnt, am einfachsten dadurch bestimmen, daß man überprüft, inwieweit sie die Voraussagen bestimmter Ereignisse gestatten. Daß viele Theorien trotz der oben erwähnten notwendigen Vorbehalte außerordentlich präzise Voraussagen erlauben, dafür liefert die Entwicklung der modernen Technik, gekrönt durch das jüngste Beispiel, die Landung von Menschen auf der Mondoberfläche, sehr eindrucksvolle Beispiele. Neben der physikalischen und chemi-

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sehen Technik beginnt sich in jüngster Zeit auch eine biologische Technik zu entwickeln, deren spektakulärstes aber nicht bedeutendstes jüngstes Ereignis - die Herzverpflanzung - ebenfalls allen bekannt ist. Die Erfolge der Technik zeigen, daß viele erstellte Modelle oder Theorien durchaus richtige Voraussagen über den Ablauf bestimmter Prozesse erlauben. Zuverlässige Theorien erlauben es uns also, bestimmte Bereiche unserer Umwelt - der Wissenschaftler nennt solche von ihm betrachteten Bereiche häufig Systeme also bestimmte Systeme in unser zielgerichtetes Handeln einzubeziehen oder, etwas polemisch ausgedrückt, zu manipulieren. Das bisher Gesagte mag manchen recht erfolgversprechend klingen zur Erreichung zuverlässiger Vorstellungen über Mensch und Umwelt. Bevor wir die Auswirkungsmöglichkeiten dieser Methoden und ihre Bedeutung für den Menschen diskutieren, müssen wir uns aber eine zweite wichtige Einschränkung ins Bewußtsein rufen: Manchem Leser ist vielleicht aufgefallen, daß bisher stets davon gesprochen wurde, daß eine Theorie richtig oder falsch sein kann, aber niemals davon, daß sie wahr oder unwahr ist. Den Begriff „Richtigkeit" einer Theorie dürfen wir niemals verwechseln mit dem Begriff „Wahrheit", so wie Philosoph und Geisteswissenschaftler häufig diesen Ausdruck benutzen. Die „Richtigkeit" einer naturwissenschaftlichen Theorie gibt ihr eine „wissenschaftliche Wahrheit". D. h. es wird eine zutreffende Aussage über die von einer Theorie erfaßten Zusammenhänge eines bestimmten Systems gemacht. Daß uns die wissenschaftliche Wahrheit einer Theorie aber unmittelbar etwas über die Wahrheit der realen Welt aufzeigt - also das „Sein" der Dinge beschreibt - kann nicht behauptet werden, und wird auch von keinem erfahrenen Naturwissenschaftler so behauptet. Diese Einschränkung mag manchem zunächst sicher recht abstrakt klingen. Sie wird jedoch bereits anschaulich, wenn man ζ. B. an den Wandel der Vorstellungen über unser Sonnensystem im Laufe der Geschichte des Menschen denkt. Sowohl die Astronomie des Ptolemäus als auch die von Kopernikus veränderte und bis

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Newton verfeinerte beschreiben die Bahnen der Erde, der Sonne und übrigen Sterne logisch widerspruchsfrei, und dennoch hat die zweite Theorie die erste verdrängt, und diese ist dann schließlich durch Einstein's Relativitätstheorie abgewandelt worden. Ob dieses letzte Modell, dessen charakteristischster Zug das Postulat der Existenz einer maximalen Geschwindigkeit (Lichtgeschwindigkeit) ist, nun die Wahrheit über die reale Welt aussagt, können wir nicht entscheiden. Wir können heute nur feststellen, daß es uns erlaubt, nahezu alle uns bisher bekannten relevanten objektiven Daten widerspruchsfrei miteinander in Verbindung zu bringen. Wir brauchen uns hier jedoch nicht auf die schwierige Erörterung einzulassen, was der Begriff „Wahrheit" philosophisch bedeutet. Die Naturwissenschaft kann hierzu keinen Beitrag liefern. Wir wollen nur feststellen, daß in der Naturwissenschaft der Begriff Wahrheit eingeschränkt gebraucht wird als „wissenschaftliche Wahrheit", die besagt, daß bestimmte Aussagen einer Theorie nachprüfbar sind und ihre Voraussagen stets mit einer angebbaren Wahrscheinlichkeit eintreten. Wenn diese Methoden der Beschreibung die Voraussagen bestimmter Entwicklungsabläufe gestatten, haben sie bereits ein erstes Teilziel erreicht. Und zwar das naheliegendste, weil am einfachsten zu erreichende. Ein weiteres Teilziel naturwissenschaftlicher Forschung liegt darin, mit derartigen Methoden auch Aussagen über die zu einem bestimmten Zeitpunkt oder für eine bestimmte Zeitspanne bestehende Struktur der an einem bestimmten System beteiligten Faktoren zu machen. Aussagen über die Struktur beteiligter Systemkomponenten zu machen, wird immer schwieriger, je kleiner diese Komponenten sind. In dem eingangs erwähnten Beispiel über Fallversuche mit einer Kugel aus Blei und einer aus Watte ist es noch relativ einfach, zumindest einige Angaben über Strukturunterschiede der Komponenten Blei oder Watte zu machen. Also etwa zu sagen, daß die Kugel aus Blei schwer, hart und glatt ist, während die Kugel aus Watte leicht, weich und rauh ist. Etwas schwieriger 11 Laskowski, Geisteswissensdiaft

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wird es schon, wenn wir die chemische Beschaffenheit beider Kugeln bestimmen wollen, also feststellen wollen, aus welchen Molekülen die beiden Kugeln bestehen. Noch schwieriger wird die Feststellung, wie diese Moleküle, also Bleimoleküle einerseits und Zellulosemoleküle andererseits, miteinander angeordnet sind, aus welchen Atomen sie bestehen und wie diese Atome einander im Molekül zugeordnet sind. Ganz kompliziert wird es dann, wenn wir etwas über die Struktur der Atome - also ihrer Bestandteile aussagen wollen, weil in diesem Falle bekanntlich eine saubere Trennung zwischen Subjekt und Objekt, also zwischen Beobachter und Beobachtetem nicht mehr erfolgen kann. Die zu beobachtenden Strukturen sind in diesem Fall so klein, daß wir sie bereits durch unsere Beobachtung notwendigerweise beeinflussen. Die Theorie der Quantenmechanik ist der Versuch eines Auswegs aus dieser Problematik. Fassen wir das bisher Gesagte noch einmal zusammen, so ist folgendes festzustellen: 1. Naturwissenschaftliche Methoden:

Forschung

verwendet

folgende

a) Das Sammeln von objektiven Daten durch Veranstaltung geeigneter Experimente. b) Die Verwendung objektiver Daten zur Erstellung logisch widerspruchsfreier Theorien. c) Die ständige Überprüfung erstellter Theorien durch Sammlung weiterer objektiver Daten und Feststellung ihrer logischen Vereinbarkeit mit den Aussagen der Theorie. 2. Das Ziel dieser Forschung ist es: a) Zuverlässige Erkenntnisse über Struktur und Beziehungen der einzelnen Bestandteile der Welt zueinander - der Komponenten eines bestimmten Systems zueinander - zu gewinnen. b) Die Zuverlässigkeit einer Erkenntnis läßt sich am einfachsten durch ihre Eindeutigkeit in den Voraussagen eines bestimmten Entwicklungsablaufs überprüfen. Daher

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ist die Aufstellung von Gesetzmäßigkeiten, die die Voraussagbarkeit von Entwicklungsabläufen ermöglichen, das nächstliegende Ziel naturwissenschaftlicher Forschung. Es ist aber ein vordergründiges Teilziel. Es gibt keine überzeugenden Gründe, es als das einzige Ziel anzusehen. 3. Zwei wesentliche Einschränkungen dürfen nicht vergessen werden: a) Ein endgültiger Beweis, daß eine Theorie absolut richtig ist, läßt sich nicht erbringen. b) Die „Richtigkeit" oder „wissenschaftliche Wahrheit" einer naturwissenschaftlichen Theorie besagt nur, daß bis zum heutigen Tage alle relevanten bisher gesammelten objektiven Daten in keinem logischen Widerspruch zu den Aussagen der Theorie stehen. Ob damit das Sein der realen Welt richtig beschrieben wird, bleibt für uns unerkenntlich.

3. Über ein fundamentales Ziel naturwissenschaftlicher Forschung Auf die Frage, warum betreibt der Mensch Naturwissenschaft, wurde eingangs folgende allgemeine Antwort gegeben: Um Erkenntnisse über sich und seine Umwelt zu sammeln, die ihm erlauben, sich bestimmte zuverlässige Vorstellungen über sich und seine Stellung in der Natur zu machen. Der Beginn dieser Bemühungen zur Erstellung zuverlässiger Vorstellungen liegt gar nicht sehr lange zurück. Allgemein wird der Beginn naturwissenschaftlicher experimenteller Forschung mit den Untersuchungen von Galilei angesetzt. Und Galilei lebte von 1564 bis 1642. Er starb also vor gut 300 Jahren. Mehrfach wurde bereits erwähnt, daß die Zuverlässigkeit der naturwissenschaftlichen Theorien am einfachsten und besten durch die Überprüfung ihrer Voraussagen erwiesen werden kann. Und 11·

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zuverlässige Voraussagen bestimmter Entwicklungsabläufe gestatten auch die Entwicklung einer immer stärker perfektionierten Technik. Es wurde aber auch schon betont, daß nicht nur der Verlauf bestimmter Entwicklungen, also ζ. B. die gleichmäßige Zunahme der Beschleunigung beim freien Fall im Vakuum, sondern auch die Strukturen der Körper, die uns umgeben, unser Erkenntnisverlangen herausfordern. Die Aufklärung der Strukturen der Körper wird - auch das haben wir bereits gesagt - immer schwieriger, je kleiner die Ausmaße werden. Erst nachdem wir bestimmte zuverlässige Vorstellungen über den molekularen und atomaren Aufbau von Körpern, also über die Struktur von Molekülen und Atomen gewonnen haben, können wir nun mit unseren Analyseversuchen einen weiteren Schritt vorangehen und damit jetzt ein fundamentales Ziel naturwissenschaftlicher Forschung anvisieren: Die Aufklärung der Zusammenhänge zwischen Struktur und Funktion. Was ist damit gemeint? Eine Erklärung ist sicherlich anschaulicher aus dem biologischen Bereich - dem Bereich der belebten Systeme — als aus dem physikalischen Bereich - dem Bereich der unbelebten Systeme - zu erbringen. Beginnen wir also damit, obwohl nachher auch gezeigt werden soll, daß Fragen nach dem Zusammenhang von Struktur und Funktion sich auch im Bereich der unbelebten Systeme stellen. Während des Lebens eines Organismus laufen viele Aufbauund Abbau-Prozesse - die sogenannten Stoffwechselprozesse - ab. Die Geschwindigkeit dieser Stoffwechselprozesse wird gesteuert durch kompliziert strukturierte Eiweißmoleküle, die Enzyme, früher auch Fermente genannt. Wie man heute weiß, sind Eiweiße aus bestimmten Bausteinen, den Aminosäuren, aufgebaut. Die Aminosäuren sind zunächst wie die Perlen einer Kette in bestimmter, bei jedem Eiweißmolekül genau festgelegter Reihenfolge aneinandergereiht. Vielfaches Verschlingen dieser Kette liefert schließlich das fertige Eiweißmolekül, das bestimmte Funktionen ausüben kann. Nehmen wir ζ. B. an, ein Eiweißmolekül X kann ein Molekül AB in seine Bestandteile Α und Β zerlegen. Und immer, wenn dieses Eiweißmolekül X in einer Lösung ist, in der

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auch AB vorhanden ist, wird AB zerlegt. Wenn nun die Struktur des Eiweißmoleküls X verändert wird, indem ζ. B. einer der vielen Bausteine - also eine Aminosäure - herausgenommen oder gegen einen anderen Baustein ausgetauscht wird, so wird man unter geeigneten Umständen bemerken, daß das veränderte Eiweißmolekül, das hier einmal mit dem Symbol X' gekennzeichnet werden soll, nicht mehr AB zerlegen kann. Es hat seine Funktion verloren auf Grund der erfolgten Änderung seiner Struktur. Also kurz symbolisch ausgedrückt gilt: X + A B - > Α + Β + X, aber X' + AB —»• AB + X'. Da die meisten in einem Organismus vorhandenen Enzyme funktionsfähig sein müssen, damit der Organismus leben kann, führt ein Verlust der Funktionsfähigkeit bei belebten Systemen meist zu sehr auffälligen Ergebnissen: zu Krankheit oder gar zum Tod des Organismus. Vor allem diese Auffälligkeit der Erscheinungen war es, die eine sehr intensive Analyse des Zusammenhanges zwischen Struktur und Funktion von großen Molekülen, insbesondere von Eiweißmolekülen, bewirkte. Zwar ist die Analyse erst bei einigen wenigen Eiweißmolekülen bis zur Aufklärung ihrer atomaren Struktur vorangetrieben worden, jedoch gibt es recht zahlreiche Fälle, in denen ein Funktionsverlust oder eine Funktionsänderung durch den Wegfall oder Austausch bestimmter Aminosäuren nachgewiesen werden konnte. Nicht nur das Zerlegen von Molekülen ist eine Funktion von Enzymen, sondern auch das Zusammenfügen von kleineren Molekülen zu größeren. Unter geeigneten Umständen kann derart eine Vermehrung bestimmter Großmoleküle durch geeignete Enzyme erreicht werden. Vor einiger Zeit war sogar in der Tagespresse zu lesen, daß es den Biologen jetzt gelungen ist, isoliertes Erbgutmaterial in der Retorte zu vermehren, und zwar - was wichtig ist identisch zu vermehren, d. h. alles neugebildete Erbgutmaterial hatte dieselbe Struktur wie das Material am Beginn des Versuches. Die Identität der Struktur wurde dadurch überprüft, daß man das künstlich außerhalb von Zellen synthetisierte Erbgutmaterial wieder in Zellen hineinbrachte und dann die Erhaltung seiner ursprünglichen Eigenschaften nachweisen konnte. Verändert man

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nun ζ. B. die Struktur der notwendigen Enzyme, so verlieren sie die Fähigkeit zur Vermehrung des Erbgutmaterials, sie verlieren ihre spezifische Funktion. Diese Beispiele zeigen deutlich, daß die Vermehrung von bestimmten Großmolekülen sowie Vermehrung und Leben von Organismen von der Struktur bestimmter Großmoleküle abhängt. Das Leben ist für uns als intensiv denken könnende Lebewesen natürlich ein faszinierender Prozeß. Eine Analyse des Zusammenhanges zwischen Struktur und Funktion wichtiger Bausteine belebter Systeme mag uns schließlich zur Erkenntnis dessen führen, was Leben ist. Aber auch im Bereich der unbelebten Systeme - also im Gebiet der Physik - gibt es das Problem des Zusammenhanges von Struktur und Funktion. Hier erscheint es dem Laien verständlicherweise nur nicht so faszinierend. Dennoch sei ein einfaches Beispiel angeführt. Sauerstoff (0 2 ) und Wasserstoff (H2) sind ζ. B. bei Zimmertemperatur zwei Gase. Vereinigt zum Wassermolekül ( 0 2 + 2 H 2 - » 2 H a O) treten ganz neue Eigenschaften auf. Wassermoleküle liegen bei Zimmertemperatur nicht als Gas vor, sondern als Flüssigkeit. Der Siedepunkt ist also herabgesetzt. Die Anordnung der beiden Wasserstoff-Atome und des einen Sauerstoff-Atoms in einem Wassermolekül ist so, daß ein Molekül gebildet wird, dessen eine Seite eine negative, die andere dagegen eine positive elektrische Ladung aufweist. Es bildet einen Dipol, wie die Wissenschaftler sagen. Diese Dipol-Eigenschaft wiederum ist die Ursache dafür, daß Wassermoleküle einen besonderen Zusammenhalt haben. Jeder Wassertropfen, wie er sich etwa auf einer Glasplatte bildet, ist eine Auswirkung davon. Auf die Struktur der Atome im Wassermolekül, genauer gesagt auf die Verteilung der Protonen und Elektronen im H 2 0-Molekül, sind also spezifische Eigenschaften des Moleküls zurückzuführen. Die besondere Verteilung der elektrischen Ladungen im Wassermolekül, die ihm die Dipol-Eigenschaft verleiht, beruht vornehmlich darauf, daß das Sauerstoff-Atom achtmal mehr positiv geladene Kernbestandteile enthält als das Wasserstoffatom. Wäre

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dieser Unterschied nicht so groß, hätte das Wassermolekül keine Dipol-Eigenschaften, so verliefen viele Vorgänge auf unserer Erde, einschließlich der Vorgänge in belebten Systemen, sicherlich ganz anders. Denn Wasser ist als Lösungsmittel ein wichtiger Bestandteil aller belebten Systeme. Und die Löslichkeit bzw. Unlöslichkeit vieler Stoffe in Wasser hängt von der Dipol-Eigenschaft der Wasser-Moleküle ab. In ähnlicher Weise wie beim sehr viel komplizierteren Eiweißmolekül besteht also audi hier das Problem vom Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion. Noch zahlreiche weitere Beispiele könnten hier angeführt werden. Es sei aber nur noch auf bestimmte Besonderheiten der Strukturen von Aminosäuren hingewiesen, um die Trennung zwischen Physik und Biologie, also die Analyse von Vorgängen in unbelebten und belebten Systemen, zu überwinden. Diese ist nur historisch begründet und wird in der modernen Naturwissenschaft immer mehr überbrückt. Im Vergleich zum zuletzt erwähnten Wassermolekül sind Aminosäuren große Moleküle, im Vergleich zum vorher erwähnten Eiweißmolekül sind sie kleine Moleküle. Viele von ihnen haben ebenso wie Wassermoleküle unterschiedliche elektrische Ladungen an bestimmten Stellen. Diese und andere Eigenschaften bewirken die spezifische Weise, in der Aminosäureketten sich aufknäulen und damit Eiweißmoleküle bilden, die zur Ausübung bestimmter Funktionen fähig sind. Die Funktionsfähigkeit eines Eiweißmoleküls ist also von der Struktur des Eiweißmoleküls und diese wiederum von der Struktur der Aminosäure abhängig. Das Erkennen von Zusammenhängen zwischen Struktur und Funktion ist es, was dem Forscher eine ungeahnte Befriedigung gibt. Jeder der das einmal - sei es bei eigener Forschungsarbeit, sei es als Nachvollziehender der von anderen bereitgestellten Erkenntnisse - erlebt hat, wird das bestätigen können. Der Reiz dieser Problematik hat ζ. B. die Biologen schon seit langem zu intensiven Untersuchungen über die Zusammenhänge von Struktur und Funktion bestimmter Organe oder Organellen angetrieben. Unter den modernen Untersuchungen sei in diesem Zusammenhang nur ein besonders erregendes Beispiel angeführt, dessen Bedeutung

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sich auch dem Laien nicht verschließt: Die Analyse des Zusammenhanges zwischen der Struktur unseres Gehirns und unserer Fähigkeit ein Gedächtnis zu haben. Welche Bestandteile welcher Gehirnzelle werden in welcher Weise verändert, wenn wir etwas im Gedächtnis behalten? Was verändert sich, wenn wir etwas vergessen? Das ist nur ein biologisches Beispiel unter vielen, das ζ. Z. an mehreren Laboratorien intensiv untersucht wird, dessen eindeutige Lösung aber noch nicht erfolgt ist. Zusammenfassend ist festzustellen, daß in der Aufklärung der Zusammenhänge zwischen Struktur und Funktion zweifellos ein Ziel naturwissenschaftlicher Forschung liegt, das bei einer Analyse der Bedeutung der Naturwissenschaften niemals vergessen werden darf. Jeder, der sie anklagt „am Ende nur noch mit funktionellen Zusammenhängen kovarianter Größen zu tun (zu) haben" (Habermas), scheint dieses Ziel entweder nicht gesehen zu haben oder seine Bedeutung wesentlich zu unterschätzen.

4. Über die praktische Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und die sich daraus für den Naturwissenschaftler ergebenden Probleme Nach diesen Überlegungen über Methoden und Ziele naturwissenschaftlicher Forschung wollen wir uns nun der Frage nach der praktischen Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zuwenden. Wir können uns hier kurzfassen, da das praktisch Anwendbare jedem in vielfältiger Weise vor Augen tritt. Das Bindeglied zwischen Naturwissenschaft und praktischem Leben ist die Technik. Es gibt neben einer durch die Gesetzmäßigkeiten der Physik oder Chemie geprägten physikalischen oder chemischen Technik neuerdings auch eine sich rapide entwickelnde biologische Technik. „Biological Engineering" ist ζ. B. ein Fach, dem an vielen nordamerikanischen Universitäten Vorlesungen und Praktika gewidmet sind, die sich mit der Aufklärung und möglichen Manipulation der Prozesse in belebten Systemen be-

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schäftigen. Die Beiträge der Technik zur Erleichterung unseres Tagesablaufs brauchen wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden. Der rapide technische Fortschritt ergibt sich - wie wohl allgemein einsichtig - aus einem rapiden Verbrauch - also Konsum. Dieser „Konsum-Zwang" zur Gewährleistung der Weiterentwicklung der Technik wird neuerdings von vielen Seiten angegriffen. Ob berechtigt oder unberechtigt, die Angriffe erfolgen sicherlich aus wohlgemeinter Besorgnis um das Geschick der diesem Konsum-Zwang unterworfenen Menschen. Der Naturwissenschaftler, der durch seine Tätigkeit, wenn auch meistens nicht unmittelbar oder direkt, so doch mittelbar oder indirekt an der Entstehung dieser Problematik mitwirkt, sollte sich ihrer Diskussion wohl nicht entziehen. Jedoch was kann er beitragen? Unmittelbar nichts. Der Prozeß des Erkenntnisgewinns, der ihm vertraut über die Sammlung objektiver Daten zur Erstellung zuverlässiger Theorien verläuft, ist in diesem Fall, in dem es um die Auswirkung wirtschaftlicher Macht, entstanden durch Produktion von Technik, auf das Geschick des Menschen geht, kaum über die Sammlung objektiver Daten hinausgelangt. Einige Geschichtsforscher glaubten oder glauben zwar, bereits zuverlässige Theorien aufstellen zu können. Es sei hier ζ. B. an Spengler erinnert, der in seinem einst in bestimmten Kreisen viel diskutierten Buch „Der Untergang des Abendlandes" nachzuweisen versucht hat, daß alle Zivilisationen einen ständigen Zyklus über Aufstieg, Blüte und Verfall durchlaufen. Ähnliche Aussichten werden von dem englischen Geschichtsforscher Toynbee vertreten. Karl Marx dagegen maß einer periodischen Wiederholung derartiger Zyklen keine Bedeutung bei, sondern behauptete, daß die geschichtliche Entwicklung einen bestimmten Prozeß durchlaufe, der vom naturnahen Dasein primitiver Menschengemeinschaften über Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus notwendig zum Kommunismus führe. Derartige Spekulationen erscheinen einem Naturwissenschaftler bei unserem heutigen Wissensstand als Phantastereien. Ihre Auswirkungen können, wie die Geschichte an vielen Beispielen gezeigt

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hat, allerdings für viele Menschen sehr gefährlich werden. Da die Zuverlässigkeit dieser „Theorien" nicht experimentell beweisbar ist, verlangen in der Regel diejenigen, die sie, aus welchen Gründen auch immer, unterstützen, daß die übrigen an die Zuverlässigkeit glauben müssen. Und damit ist eine Ideologie geboren. Die schlimmste, aber auch heute noch immer wieder anzutreffende Konsequenz solcher Ideologien, ist die selbst angemaßte Berechtigung zur Forderung nach dem „gerechten Krieg" zur Realisierung der angestrebten gesellschaftlichen Zustände. Hierin unterscheiden sich die Ideologien des Kommunismus, Kastroismus, Maoismus oder anderer -ismen um nichts vom mittelalterlichen Christentum. Das Beispiel eines in Jahrhunderten mühsam errungenen Lernprozesses bleibt ohne jede Auswirkung. Eine wahrhaft deprimierende Erfahrung. Was bleibt also in dieser Situation dem Naturwissenschaftler als Naturwissenschaftler zu tun? Er könnte sich ζ. B. - und das wird heute häufig gefordert - einer Ideologie anschließen und den Forderungen dieser Ideologie entsprechend seine Tätigkeiten ausrichten. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Ob man sich nun ζ. B. zur Unterstützung oder Bekämpfung des Kapitalismus oder Sozialismus entscheidet, die Auswirkungen der eigenen Forschungsarbeiten auf diese Gesellschaftssysteme lassen sich in der großen Mehrzahl der Fälle kaum eindeutig verfolgen. Das anschaulichste Beispiel hierfür bieten zweifellos die Experimente von Hahn und Straßmann, die 1938 die Spaltbarkeit des Urankerns unter Neutronenbeschuß nachwiesen. Jeder, der die Geschichte dieser Entdeckung verfolgt hat, weiß, daß die Experimente von Hahn nicht unternommen wurden, um die technische Fabrikation von Atombomben oder Kern-Reaktoren zu ermöglichen. Sie wurden ohne sein Zutun und sehr gegen seinen Willen Ausgangspunkt dieser Entwicklung. Denn schließlich war zunächst gar nicht vorauszusehen, daß die Spaltung eines Urankerns durch ein Neutron von der Aussendung neuer Neutronen begleitet sein würde, die dann die Kettenreaktion hervorbringt, die sich selbst erhält und damit den Bau von Kern-Reaktoren und Atombomben ermöglicht.

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Was die Gewinnung der Atomkernenergie für die Physik bedeutet, stellte die Entdeckung des Erbgutmaterials - der Desoxyribonukleinsäure (DNS) - für die Biologie dar. Die Kenntnis der Struktur dieser Substanz sowie der Prozesse der Informationsaufbewahrung und -abgabe ermöglicht Manipulationen, deren technische Realisierung heute erst am Anfang steht. Zu welchen Erfolgen die biologische Technik auch führen mag, ihr Anfang lag in Versuchen über den Einfluß von abgetöteten und lebenden virulenten und avirulenten Erregern der Lungenentzündung auf Mäuse. Als der Engländer Griffith diese Versuche 1928 veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, daß er damit den Ausgangspunkt für die Entdeckung des Erbgutmaterials geschaffen hat. Diese zwei Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, daß der einzelne Naturwissenschaftler die Konsequenzen seiner Tätigkeit, in der großen Mehrzahl der Fälle nicht vorhersehen kann. Der Entwicklungsprozeß naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ist dafür zu unübersichtlich und zu abhängig von vielen Einflüssen von zweiter, dritter und vierter Seite. Bleibt ihm also die andere Möglichkeit, daß er tut, was seine wissenschaftlichen Interessen ihm gebieten, seinen Forschungen nachgeht und sich um die Auswirkungen gar nicht kümmert. Dieser Weg wird von vielen Naturwissenschaftlern beschritten. Er ist verständlich, wenn wir die eben diskutierte Problematik berücksichtigen. Um nun nicht nur als bloße Notlösung zu erscheinen, wird er in der Regel zusätzlich durch einen philosophisch begründeten Anspruch auf eine Trennung von wissenschaftlicher Forschung und Verwendung ihrer Ergebnisse untermauert. Eine Folge dieses Anspruches führt zum Postulat der sogenannten „Wertfreiheit der Wissenschaft". Damit wird allgemein gemeint, daß das Sammeln objektiver Daten und das Erstellen zuverlässiger Theorien nach keinen Wertmaßstäben ausrichtbar ist, sondern daß sie Ergebnis eines permanenten Erkenntnisprozesses sind, der ein wesentliches Charakteristikum naturwissenschaftlicher Forschung ist und sich auf die schon von Galilei gestellten Forderungen zurückführen läßt (vgl. S. 66 ff.). Erst die Anwendung oder Nichtanwendung erstellter zuverlässiger Theorien ist dann ein

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Prozeß, der, bestimmten Wertmaßstäben folgend, meist von anderer Seite eingeleitet wird. Eine derartige Trennung von Forschung und Anwendung der Forschungsergebnisse wird, wenn sie streng eingehalten wird, als „Positivismus" bezeichnet und von verschiedenen Seiten kritisiert und scharf angegriffen. Mir scheint daß diese Angriffe dann zu Recht erfolgen, wenn sie sich gegen die Forderung nach einer vollständig und immer einzuhaltenden Trennung von Forschung und Verwendbarkeit der Forschungsergebnisse richten. Eine fortdauernde verbindliche Festlegung auf nur eine Entscheidungsmöglichkeit in allen jetzigen und zukünftigen Situationen ist ja tatsächlich wieder ein Entweichen in eine Ideologie, denn sie ist letzten Endes wiederum nur durch einen Glaubenssatz zu begründen. Daß man das Sammeln objektiver Daten unter allen Umständen und zu allen Zeiten wertfrei betreiben kann, ohne sich um die Konsequenzen der Anwendbarkeit zu scheren, kann man glauben. Eine zuverlässige Theorie, daß diese Annahme stimmt, gibt es nicht. Im Gegenteil lassen sich natürlich auch Situationen vorstellen - wenn sie zweifellos auch selten auftreten - in denen Sammlungen objektiver Daten, also Forschungsergebnisse, mit Sicherheit so eindeutige Entscheidungen über ihre Anwendung verursachen, daß der Forscher direkt ein Glied in der Kette wird, die zu praktischen, bestimmten Wertmaßstäben folgenden Anwendungen führt. Aus einer solchen Erkenntnis heraus ist ζ. B. die öffentliche Verpflichtung der deutschen Atomwissenschaftler im Jahre 1957 erfolgt, an der Entwicklung von Atomwaffen nicht mitzuwirken. Welche Hilfsmittel bietet dem Naturwissenschaftler nun seine Wissenschaft, um die Auswirkungen seiner Handlungen und dadurch bedingte Verhaltensmöglichkeiten beurteilen zu können? Alle menschlichen Entscheidungen werden beeinflußt von Wertvorstellungen. Wir tun Dinge, die uns wertvoll erscheinen, wir unterlassen Handlungen, die uns wertlose Ergebnisse liefern. Wertvoll aber ist für den einen das und für den anderen oft gerade das Gegenteil. Bei dieser Unsicherheit stellt sich jetzt die Frage, ob man bestimmte, sichere Wertmaßstäbe aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten kann.

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5. Liefern naturwissenschaftliche Erkenntnisse bestimmte Wertmaßstäbe? Diese Frage ist mit einem klaren Nein zu beantworten. Es hat zwar manche Versuche gegeben, eine positive Antwort zu finden, jedoch sind diese Versuche alle gescheitert. Die von uns erkannten Gesetzmäßigkeiten, die die Prozesse in unbelebten Systemen steuern, sind überhaupt nicht geeignet, Wertmaßstäbe für die besonderen Prozesse des belebten Systems Mensch zu liefern. Aber auch die erkannten Gesetzmäßigkeiten belebter Systeme eignen sich hierfür nicht. Selbst im ersten Augenblick recht annehmbar erscheinende Forderungen, wie ζ. B. die Forderung, alle Prozesse zu unterstützen, die der Ausbreitung von Leben dienen, sind nicht allgemein anwendbar. Wir wissen alle, daß ständig pflanzliches und tierisches Leben vernichtet werden muß, damit wir ζ. B. unsere Nahrung bekommen. Wir wissen aber auch, oder sollten es jedenfalls alle wissen, daß selbst die ungehinderte Ausbreitung menschlichen Lebens uns bald vor die größten Probleme stellen wird. Die Bevölkerungsexplosion, vor der zu Recht vielerorts gewarnt wird, und in der wir uns zur Zeit schon befinden, stellt uns vor die Aufgabe, sogar die Ausbreitung menschlichen Lebens stark zu reduzieren. Sollte die Zunahme der Bevölkerung auf der Erde jährlich durchschnittlich 2 % betragen, wie jetzt etwa in der Bundesrepublik, so würden in etwa 700 Jahren so viele Menschen auf der Erde vorhanden sein, daß für jeden nur ein Raum von 30 cm X 30 cm auf der gesamten Landfläche aller Kontinente zur Verfügung stände. D. h. es würde im wörtlichen Sinne Mensch neben Mensch auf Tuchfühlung stehen, praktisch ohne Bewegungsmöglichkeit. Auch die sich heute rapide entwickelnde Weltraumfahrt bietet hier keine Ausweichmöglichkeit, denn es läßt sich leicht berechnen, daß bei gleichbleibender jährlicher 2 °/oiger Bevölkerungszunahme nur 200 Jahre später, also in etwa 900 Jahren, außer der Erde auch die Oberflächen von Jupiter, Saturn, Venus und Mars in gleicher Dichte mit Menschen bestückt werden könnten. In 1600 Jahren würde, immer unter der Bedingung einer

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konstanten jährlichen Bevölkerungszunahme von 2 % , die Masse der Menschen gleich der Masse der Erde sein. Diese wenigen Zahlen zeigen wohl deutlich, daß ein Chaos entsteht, wenn wir alle Prozesse, die der Ausbreitung menschlichen Lebens dienen, unterstützen würden. "Wir müssen hier, wie an vielen anderen Stellen, also regulierend eingreifen. Maßstäbe zur Ausrichtung dieser Regulation gibt uns die Naturwissenschaft jedoch nicht. Was bleibt also zu tun?

6. Das Menschenbild des Naturwissenschaftlers Nachdem wir nun Methoden und Ziele naturwissenschaftlicher Forschung sowie die Problematik der Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse kurz skizziert haben, bleibt zu prüfen, welche besonderen Erkenntnisse über den Menschen daraus abzuleiten sind. Lange Zeit hat der Mensch geglaubt, etwas grundsätzlich Andersartiges im Bereich der unbelebten und belebten Natur zu sein. Die naturwissenschaftliche Forschung hat aber überzeugend nachweisen können, daß dieses Andersartige jedenfalls nicht auf den molekularen Aufbau des menschlichen Körpers zutrifft. Die Makromoleküle, die wir bei Menschen finden, zeigen vielfältige Ähnlichkeiten in ihrer Struktur mit Makromolekülen bei Tieren und Pflanzen. Dabei ist die Feinstruktur der Makromoleküle besonders ähnlich zwischen Menschenaffen und Menschen, weniger ähnlich zwischen anderen Säugetieren und Mensch. Die Ähnlichkeit in der Feinstruktur bestimmter Großmoleküle nimmt ab mit der Entfernung stammesgeschichtlicher Beziehungen, so wie die Abstammungslehre, die von ganz anderen Kriterien ausgegangen ist, sie aufweist. Anders ausgedrückt, gibt es heute keine berechtigten Zweifel mehr daran, daß alle Lebewesen auf unserer Erde Glieder eines Prozesses sind, der einmal mit der Bildung erster Zellen vor etwa 3 Milliarden Jahren angefangen hat und als letztes Glied den Menschen produziert hat. Der entwicklungsgeschichtliche Zusam-

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menhang aller Lebewesen ist eine zuverlässige Theorie. Dagegen gibt es heute noch keine zuverlässige Theorie über den Übergang von unbelebten Systemen zu belebten Systemen. Hier werden praktisch täglich noch objektive Daten gesammelt. Die bisher vorhandenen genügen zur Erstellung einer zuverlässigen Theorie noch nicht. Unabhängig davon ist der Mensch zweifellos ein Glied in der Entwicklungskette belebter Systeme. Ein Glied, das sich gegenüber allen anderen Gliedern dadurch auszeichnet, seine Gedanken weit in Vergangenheit und Zukunft senden zu können. Seine Visionen von Vergangenheit und Zukunft - ob zutreffend oder nicht - beeinflussen sein Empfinden, sein Gemüt und damit auch die Antriebe zu seinen Handlungen. Seine geistigen Fähigkeiten gestatten dem Menschen, objektive Daten zu sammeln und zuverlässige Theorien zu erstellen. Daß das überhaupt möglich ist, darüber haben sich schon viele den Kopf zerbrochen. Warum kann der Mensch logisch denken? Warum kann er Theorien entwickeln, die ihn die Strukturen und Beziehungen der realen Systeme in gewissem Ausmaß erkennen lassen? Häufig wird hier zur Erklärung die Existenz einer „prästabilisierten Harmonie" zwischen der Struktur unseres „Geistes" und der Struktur der realen Systeme vermutet. Der Naturwissenschaftler sieht diese prästabilisierte Harmonie als ein Ergebnis der Evolution an. Während der hunderttausende von Jahren dauernden Entwicklung des Homo sapiens haben zweifellos alle diejenigen Vorfahren des heutigen Menschen, die klare Erkenntnisse erringen konnten, Vorteile gegenüber denjenigen gehabt, deren gedankliche Abstraktionen zu falschen Ergebnissen führten. Die Selektion führte dadurch eine Korrektur der Erkenntnisfähigkeit des Menschen herbei, wodurch diese immer mehr auf die Kategorien der realen Systeme abgestimmt wurde. Diese seine Erkenntnisfähigkeit hat den Menschen in erstaunlichem Maße in die Lage versetzt, seine Umwelt und auch sich selbst zu manipulieren, d. h. in gewünschter Weise zu verändern. Wichtige Schritte dieses ständig vordringenden Erkenntnisprozesses sind im Kapitel IV dargelegt. Die gegenseitigen Einwirkun-

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gen von Technik als einem Produkt naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Gesellschaft aufeinander wurden im Kapitel V erörtert. Über Versuche einen erstrebenswerten Erkenntnisstand des Menschen zu definieren, als die große Ansammlung moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gerade begann, berichtet Kapitel III. Schließlich wurde im Kapitel VI eingegangen auf das, was der Geisteswissenschaftler zum Menschenbild zu sagen hat. Er hat dabei u. a. auf das Gemeinsame wissenschaftlicher Forschungsmethoden verschiedener Gebiete hingewiesen und sie den Anforderungen des Lebens mit seinem Bedürfnis nach Wertmaßstäben oder Normen gegenübergestellt. Es bleibt daher nun die Aufgabe, einigermaßen deutlich zu skizzieren, was dem Naturwissenschaftler nach allem Ausgeführten als notwendig erscheint, den Menschen heute erkennen zu lassen, damit er den auf ihn zukommenden Problemen einigermaßen gewappnet gegenübertreten kann. Zu diesem Zweck seien 7 Thesen aufgestellt, die die bisherigen Erörterungen dieses Kapitels zusammenfassen und in einigen Punkten ergänzen. 1. Die naturwissenschaftliche Forschung hat gezeigt, daß der Mensch bestimmte Gesetzmäßigkeiten erkennen kann, die die Entwicklungsabläufe in unbelebten und belebten Systemen steuern. Dabei hat sich gezeigt, daß in belebten Systemen keine Prozesse ablaufen, die den in unbelebten Systemen geltenden Gesetzmäßigkeiten zuwiderlaufen. Die belebten Systeme sind also als ein Entwicklungsglied einer kontinuierlichen Entwicklungskette anzusehen. Die von den neuen Kettengliedern ausgeübten neuen Aufgaben oder Funktionen werden verständlich aus der Struktur der diese Glieder zusammensetzenden Teile. 2. Als Folge von 1 beginnt der Mensch sich selbst immer mehr als eine besondere Struktur der Materie zu verstehen, die zwar außerordentlich komplex und noch vielfach unentschlüsselt ist, aber dennoch keinen Raum für metaphysische Kraftauswirkungen freiläßt. Gerade zu dem Zeitpunkt, in dem der Mensch recht komplizierte Maschinen baut, um immer größere Einflüsse auf die Ge-

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staltung seiner Umwelt nehmen zu können, beginnt er sich selbst als Maschine zu verstehen. Eine Maschine, zu deren einigermaßen ungestörtem Funktionieren, neben dem vielfältig gesteuerten Ablauf der physischen Vorgänge notwendigerweise auch psychische Komponenten, wie ζ. B. Gefühle und Wertmaßstäbe, gehören. 3. Wir stehen heute erst am Beginn dieser Erkenntnisse, und dennoch wirft die Nichtbewältigung dieser dadurch sich uns ergebenden Herausforderungen bereits ihre Schatten auf uns. Hier sei an die eindringlichen Ausführungen im Kapitel V erinnert. Überzeugend klar wurde dort herausgestellt, welchen Problemen sich der Mensch, der „toten" und „starren" Technik, den unpersönlichen Maschinen, ausgesetzt, gegenübergestellt sieht. Robert Jungk hofft, daß diese Problematik, durch „Humanisierung" der Technik, durch Entwicklung von auf die Persönlichkeit des Benutzers eingehenden, ja ihn „erziehenden", Maschinen, behoben werden kann (vgl. S. 121 ff.). Mir dagegen erscheint, daß selbst Maschinen, die auf das Eindringlichste auf die Reaktionen des Benutzers eingehen - die ihm, um ein auffälliges Bild zu verwenden, gewissermaßen mit warmer, weicher Hand auf die Schulter klopfen und sagen: „oho, das hast du aber gut gemacht!" oder „mache es so, und es wird dir noch besser bekommen!" dem Menschen stets als Maschinen bewußt bleiben werden. Seine oft postulierte Schreckhaftigkeit davor wird er nicht durch die Konstruktion immer raffinierterer Maschinen überwinden können, sondern allenfalls durch die klare Einsicht, daß er selbst eine komplizierte Maschine ist. Die deutlich empfundene Kluft zwischen unbelebten und belebten Systemen, die das abschreckende, beängstigende Gefühl des „Toten", „Starren" der unbelebten Systeme gegenüber dem „Warmen", „Gemütsbezogenen" der belebten Systeme hervorbringt, kann wohl nur auf diesem Wege geschlossen werden. 4. Zur Erreichung dieses Zieles ist eine verstärkte Intensivierung naturwissenschaftlicher Erziehung notwendig. Der Mensch muß, 12

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in seinem eigensten Interesse, bereits während der Schulzeit, aber auch im späteren Leben, immer wieder dazu geführt werden, Zusammenhänge zwischen Struktur und Funktion eindeutig erkennen zu suchen - d. h. in die Lage versetzt werden, das Gedankengut der Naturwissenschaften aufnehmen zu können - um schließlich seine eigene Existenz als Ergebnis derartiger Zusammenhänge begreifen zu können. Dieser Erziehungsprozeß hat bei uns und in Westdeutschland noch kaum begonnen. Und diejenigen, die die Rahmenpläne der Schulerziehung festlegen, sehen offensichtlich bisher die Problematik noch gar nicht oder wollen sie nicht sehen. Damit charakterisieren sie sich selbst als Anhänger eines Erkenntnisstandes, den Steinbuch sehr treffend als „Hinterwelt" umrissen hat. Wenn auch Jungk und Schaller anklingen lassen, daß Ergebnisse mangelnder naturwissenschaftlicher Ausbildung auf unseren Schulen nicht so recht ernst genommen werden müssen, so muß ich betonen, daß meine eigenen Erfahrungen in dieser Hinsicht tief deprimierend sind. Uberall - in der Schule und in der Hochschule - ist für jeden, der offenen Auges um sich sieht, der große Graben, der alle Kontaktaufnahme zwischen Naturwissenschaften und Kulturwissen praktisch unmöglich macht, unübersehbar. Dieser Graben wird hervorgerufen einerseits durch mangelnde naturwissenschaftliche Erziehung und andererseits durch überbetonte einseitige kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Erziehung. Quantitative Angaben hierüber, erhalten aus einem Test an Studenten der Biologie, Biochemie, Pharmazie und Medizin, gibt E. Bünning (1967). In der Gesamtwertung kommt er zu dem Ergebnis, daß auf Grund der mangelhaften naturwissenschaftlichen Schulbildung nur 20 % der Studenten in der Lage sind, einer einführenden Biologievorlesung an der Universität zu folgen, während 50 % dazu bestimmt nicht in der Lage sind. Besonders treffend hat C. P. Snow in seinem in der angelsächsischen Welt viel diskutierten und hier auch bereits mehrfach zitierten Buch „Die zwei Kulturen" diese Situation charakterisiert. Er schreibt ζ. B.: „Ich glaube, das geistige Leben der gesamten westlichen Gesellschaft spaltet sich immer mehr in zwei diametrale Gruppen auf.

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Wenn ich vom geistigen Leben spreche, so möchte ich darunter auch einen großen Teil unserer Praxis mitverstanden wissen, denn ich wäre der Letzte, der zugeben würde, daß da im tiefsten Grunde ein Unterschied gemacht werden k a n n . . . Zwei diametrale Gruppen also: auf der einen Seite haben wir die literarisch Gebildeten, die ganz unversehens, als gerade niemand aufpaßte, die Gewohnheit annahmen, von sich selbst als von den Intellektuellen zu sprechen, als gäbe es sonst weiter k e i n e . . . auf der anderen Naturwissenschaftler, als deren repräsentativste Gruppe die Physiker gelten. Zwischen beiden eine Kluft gegenseitigen Nichtverstehens, manchmal - und zwar vor allem bei der jungen Generation - Feindseligkeit und Antipathie, in erster Linie aber mangelndes Verständnis. Man hat ein seltsam verzerrtes Bild voneinander. Selbst im Bereich der Gefühle ist die Einstellung so grundverschieden, daß sich nur schwer eine gemeinsame Basis findet. Die literarisch Gebildeten neigen dazu, die Naturwissenschaftler für dreist und überheblich zu halten. Bei ihnen hört man T. S. Eliot, den wir gerade für unsere Darlegungen als Musterbeispiel ansehen dürfen, von seinen Versuchen einer Neubelebung des Versdramas sagen, viel dürfe man sich nicht erhoffen, aber er werde schon zufrieden sein, wenn er und seine Mitarbeiter einem neuen Kyd oder einem neuen Green den Boden bereiten könnten. Das ist der zurückhaltende und gedämpfte Ton, der den literarisch Gebildeten vertraut ist: es ist die verhaltene Stimme ihrer Kultur. Doch dann hören sie eine viel lautere Stimme, die Stimme Rutherfords - auch er ein Musterbeispiel - herausposaunen: Dies ist das herorische Zeitalter der Naturwissenschaften! Dies ist das Elisabethanische Zeitalter! Das haben viele von uns gehört, und noch so manche andere Behauptung, neben der diese noch zahm wirkte; außerdem ließ uns Rutherford nicht im Zweifel, wen er für die Rolle Shakespeares ausersehen hatte. Daß er voll und ganz im Recht war - das eben können die literarisch Gebildeten sowohl von ihrem Vorstellungsvermögen wie auch von ihrem Intellekt her nur schwer begreifen! Die Gegenspieler der Naturwissenschaftler haben die tiefeingewurzelte Vorstellung, jene seien immer seichte Optimisten, die 12*

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nicht merken, wo die Menschheit steht. Andererseits glauben die Naturwissenschaftler, den literarisch Gebildeten gehe jede Voraussicht ab, sie kümmerten sich kaum um ihre Mitmenschen und sie seien in einem tieferen Sinne antiintellektuell und eifrig darauf bedacht, Kunst und Denken auf das existentielle Moment zu beschränken. Und so weiter. Wer nur eine einigermaßen scharfe Zunge hat, könnte solche versteckten Spitzen en masse produzieren. Auf beiden Seiten findet sich manches, was nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Aber das alles ist destruktiv, und vieles beruht auf gefährlichen Fehldeutungen." Nachdrücklich sei noch einmal betont, nur durch eine ausgewogene natur- und kulturgeschichtliche Erziehung werden sich solche Fehldeutungen in der Zukunft verhindern lassen. Dann erst kann der so notwendige Gedankenaustausch zwischen beiden Gruppen beginnen. 5. Die in der ganzen westlichen Welt teilweise stärker, teilweise weniger stark, aber immer deutlich wahrnehmbar, in dieser Zeit auftretende Unruhe unter den jungen Menschen, vor allem den Studenten, wird u. a. auch als ein Unbefriedigtsein mit den zur Verfügung stehenden Ergebnissen der „starren und toten" Technik und ein daraus resultierendes Suchen nach „neuen" Zielen und Werten interpretiert. Dieses Unbefriedigtsein erwächst jedoch, wie vielfache Tests gezeigt haben, nicht etwa aus einem kritischen Verständnis der erkennbaren Gesetzmäßigkeiten für unbelebte und belebte Systeme (vgl. ζ. B. Bünning, 1967), sondern es wendet sich, bevor diese Zusammenhänge überhaupt erkannt worden sind, recht naiv von allgemein menschlicher suchender Neugier angetrieben, der Befriedigung naheliegender persönlicher Bedürfnisse zu. Wer Diskussionen mit Studenten miterlebt hat, weiß, daß viel von noch unerkannten individuellen Bedürfnissen die Rede ist. Diese müssen allerdings, wie sie sagen, von der Masse erst noch entdeckt werden, da sie bisher unterdrückt worden seien. Von diesen Bedürfnissen wird erwartet, daß sie nun möglichst unverzüglich zu ihrem vermeintlichen Recht kommen. Zur Erreichung dieses Zieles werden immer häufiger Mittel der

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psychischen und physischen Gewalt herangezogen. Als treibende Kraft dieser Ideologie ist bisher im allgemeinen wenig mehr als ein verquollener Aufguß oberflächlich angelesener Erkenntnisse der Psychoanalyse und Emanzipationsphilosophie zu erkennen. Angesichts dieser einseitigen Antriebsmomente bleibt die Hoffnung nicht unbegründet, daß eine intensiver betriebene Erziehung zur Erkennung der Zusammenhänge zwischen Struktur und Funktion der Komponenten vieler verschiedenartiger realer Systeme dieser Welt die heranwachsenden Menschen wenigstens teilweise gegen solche vordergründigen, mit ideologischem Eifer betriebenen Ersatzbefriedigungen immunisiert. 6. Die Handlungen des Menschen werden bestimmt durch Wertvorstellungen. Es wurde mehrfach dargelegt, daß uns naturwissenschaftliche Forschung keine Wertmaßstäbe liefern kann. Diese Aussage wird heute von vielen Nicht-Naturwissenschaftlern angegriffen und als sog. „Positivismus" verschrieen. Da aber auch diese Kritiker aus naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen keine Wertmaßstäbe hervorzuzaubern vermögen, glauben sie, aus einer sogenannten praxisbezogenen dialektischen Vernunft „vernünftige" Erkenntnisse und damit Wertmaßstäbe ableiten zu können. Was man unter Dialektik im einzelnen auch immer verstehen mag, allgemein gemeint ist, aus einem Vergleich verschiedenartiger Handlungen und den daraus resultierenden Ergebnissen, Schlüsse für weitere Handlungen zu gewinnen. Dieses Vorgehen setzt aber eine individuelle Entscheidung des Einzelnen in der Bewertung der beobachtbaren Abläufe voraus. Und das ist eine Einsicht, zu der auch die Naturwissenschaft eindeutig führt. Der Mensch muß die Qual der Wahl auf sich nehmen und sich dessen bewußt sein. Er muß sich Wertmaßstäbe suchen, nach denen er seine Handlungen ausrichten kann. Nur wenn er sich stets weigert, diese Wahl zu treffen, wird Positivismus zur Ideologie. Aber die Geschichte der Naturwissenschaften von Galilei bis Heisenberg weist zahlreiche Beispiele dafür auf, daß sich Naturwissenschaftler dieser Erkenntnis nicht entzogen haben und sich zu persönlichen Entscheidungen eindeutig bekannten.

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7. Die Aufgabe und Verantwortung der eigenen Entscheidung kann keine Wissenschaft dem Menschen abnehmen. Eine Erfahrung, die auch manche Philosophen sehen. So schreibt ζ. B. Sartre anschaulich und treffend: „Am Himmel der Menschen sind keine Zeichen." In dieser seiner stammesgeschichtlich biologisch bedingten Stellung ist jeder Mensch ein Einsamer, der sein Leben selbst führen muß. Der Biologe K. Günther kommt in einer ausführlichen Analyse der menschlichen Situation zu folgendem Schluß: „Nur als Einzelner kann der Mensch frei sein und vernünftig, und so muß er einsam sein und Angst und Schuld in Kauf nehmen für sein Dasein, das zugleich mit der Erfahrung der eigenen Todesgewißheit belastet ist. Allerdings verführen und treiben Mühsal und wiederkehrende Angst des einsamen Lebens in Freiheit und Einsicht den Menschen immer w i e d e r . . . Freiheit, Vernunft und Menschenwürde abzuwerfen und im kollegialen ,Wir', in der anonymen Masse unterzutauchen. Von dem ,Wir' der Clique und des Vereins über das ,stolze' Wir der nationalen Vaterlandsmeier und Chauvinisten bis zum verbissenen Wir der Ideologieanhänger und fortschrittlichen' Berufsfunktionäre führt die Stufenleiter zu immer stärkerer und unmenschlicherer Selbstentäußerung des Individuums mit zunehmender und schließlich vollständiger Irrationalisierung des Daseins, in dem von Freiheit und E i n s i c h t . . . nicht mehr die Rede sein kann: ein Gegenstand des Schauderns und gelegentlich sardonischer Belustigung für den nicht infizierten Betrachter, solange er nicht vom dazukommenden Terror zerfetzt wird." (Günther, 1950.) Heute, zwanzig Jahre nachdem diese Gedanken niedergeschrieben wurden, erleben wir wieder den Beginn eines mit der Forderung nach einem kollektivem Wir gemeinsam auftretenden Terrors. Durch ihn versuchen sich immer straffer organisierende Minderheiten bei immer stärker vorangetriebener menschlicher Selbstentäußerung, ihre Ziele verwirklichen zu können. Ohne die Vermittlung einer Bildung, die bereits den heranwachsenden Menschen mit der Vielfalt der uns zur Verfügung stehenden Erkennt-

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nisse vertraut macht, wird dieser unheilbringende Kreislauf wohl nicht durchbrochen werden können. Um abschließend die hier kurz skizzierten Bemühungen deutlich abzugrenzen und um Mißverständnissen vorzubeugen, sei dieses Kapitel mit einem kurzen Zitat eines weiteren Naturwissenschaftlers abgeschlossen. Der Biologe H. Mohr schreibt in seinem sehr lesenswerten Buch „Wissenschaft und menschliche Existenz" u. a.: „Kein Naturwissenschaftler wünscht unserem Erziehungssystem eine Usurpation durch das wissenschaftliche Denken. Das vorwissenschaftliche Fühlen und Glauben, die transempirische Ahnung, die Kräfte der Kunst und der Poesie sind mächtige Faktoren unseres Daseins und wesentliche Komponenten der menschlichen Erziehung und Bildung. An die Seite dieser Komponenten, nicht an ihre Stelle, ist in der modernen Welt das wissenschaftliche Denken g e t r e t e n . . . Inhalt eines zeitgemäßen Bildungsvorganges müßte es demnach sein, den Menschen mit dem Wesen und mit der Größe der wissenschaftlichen Erkenntnis vertraut zu machen und gleichzeitig die Fähigkeit des Menschen zur vorwissenschaftlichen Reflexion und Weltbegegnung zu pflegen." Durch eine Darlegung der Methoden naturwissenschaftlicher Forschung sowie eine Skizzierung ihrer Bedeutung für den Menschen, ergänzt durch einige Zitate anderer Naturwissenschaftler, hat hier ein Naturwissenschaftler versucht, auf wenigen Seiten anzudeuten, wie Naturwissenschaftler den Menschen und die Bedeutung ihrer Wissenschaft für den Menschen sehen, wie also ihr „Menschenbild" aussieht. Dem aufmerksamen Leser werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Aussagen der einzelnen Kapitel nicht entgangen sein. Er hat dadurch einen lebendigen Eindruck von der Mannigfaltigkeit der Denkansätze von Vertretern verschiedener Wissenschaftsdisziplinen bekommen. Lassen sich daraus Erkenntnisse gewinnen, die zu einer Bewältigung der Problematik beitragen können? Ein Versuch hierzu soll im letzten folgenden Kapitel unternommen werden.

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Wolfgang Laskowski Literatur

Born, Μ.: Von der Verantwortung des Naturwissenschaftlers. München 1965. Bünning, E.: Abitur - Hochschulreife? In: Naturwissenschaftliche Rundschau. Februar 1967. Günther, K.: Phylogenetik. Teleologie und Freiheit. In: Moderne Biologie. Berlin 1950. Habermas, J.: Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt/Main 1968. Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. In: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie: Soziologische Texte Bd. 58.1969. Heisenberg, W.: Das Naturbild der heutigen Physik. Hamburg 1955 (rororo). Physik und Philosophie. Stuttgart, 1959. Der Teil und das Ganze, Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München 1969. Heitier, W.: Der Mensch und die naturwissenschafdidie Erkenntnis. Braunschweig 1964. Mohr, H.: Wissenschaft und menschliche Existenz. Freiburg 1967. Rensch, B.: Homo sapiens - Vom Tier zum Halbgott. Göttingen 1959. Snow, C. P.: Die zwei Kulturen. Stuttgart 1967. Spengler, O.: Der Untergang des Abendlandes. München, o. J. Steinbuch, K.: Automat und Mensch. Berlin-Heidelberg-New York 1965. Falsch programmiert. Stuttgart 1968. Toynbee, A. J.: Gang der Weltgeschichte. Zürich 1958.

VIII. Zusammenschau und Perspektiven Wolf gang

Laskowski

Überdenkt man die einzelnen Beiträge dieses Buches, so fallen neben den vielfach divergierenden Meinungen der einzelnen Autoren auch gewisse Gemeinsamkeiten auf. Diese sollen noch einmal hervorgehoben werden, um zu prüfen, ob sie eine Ausgangsbasis für weitere Überlegungen über die zukünftige Entwicklung bieten können. Ein nachhaltiger Eindruck, den die Darstellungen der Orientierungsversuche des Menschen in frühgeschichtlicher Zeit zweifellos bei jedem hinterlassen, der mit diesem Gedanken nicht schon vertraut ist, beruht auf der Erkenntnis, daß es während der menschlichen Geschichte Zeiten gegeben hat, in denen der Mensch unter Zurückstellung seiner persönlichen Position die Geschehnisse seiner Umwelt betrachtete, ohne sich gezwungen zu fühlen, die einzelnen Abläufe widerspruchsfrei miteinander in Verbindung bringen zu müssen. Statt der perspektivischen Schau, bei der gewissermaßen alles auf den Bezugspunkt des betrachtenden Menschen ausgerichtet ist, kann man diese Verhaltensweise recht treffend als „aspektivische" Schau charakterisieren. Die Erscheinungsformen und Geschehnisse der Umwelt werden dargestellt und beschrieben in einer relativen Unabhängigkeit voneinander. Vernachlässigt wird, weil als bedeutungslos, ja überheblich und vermessen betrachtet, wie sie dem Menschen aus seiner spezifischen Position heraus erscheinen. Diese Einstellungsweise unserer Vorfahren erstreckte sich nicht nur auf bildliche Darstellungen und Weisheitssprüche, sondern beherrschte für längere Zeiten offensichtlich ihr gesamtes Weltbild. Das wird u. a. deutlich aus dem lange Zeit vorherrschenden Polytheismus (vgl. ζ. Β. K. G. Eckart, Der Gottesgedanke als Interpretation der Welt, in „Der Weg zum Menschen"). In diesen Zeiten wurde ein Monotheismus, d. h. also die Zurückführung

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und Zentrierung aller Geschehnisse auf einen Punkt als unangemessene Vereinfachung abgelehnt, ja streng verurteilt. Diese Einstellung, die wesentlich von der unsrigen verschieden ist, mag das Ergebnis davon sein, daß sich der Mensch einer ihm unergriindbaren Komplexität gegenübergestellt vorfindet. Um überhaupt Orientierungsmittel zu haben, begnügt er sich damit, Teilbereiche zu beschreiben, und verzichtet darauf, wissend, daß er es nicht vermag, diese Teilbereichsbeschreibungen untereinander in widerspruchsfreie anschauliche Verbindungen zu bringen. Die Erkenntnisse der modernen Physik haben uns heute in eine ähnliche Situation gebracht. Eine anschauliche, perspektivische Darstellungsform der „Strahlenelemente" Welle oder Teilchen ist uns heute nicht möglich. Und damit sind wir an dieser Stelle mit unserem Erkenntnisvermögen in eine Situation gelangt, die der unserer frühgeschichtlichen Vorfahren im wesentlichen nicht unähnlich ist. In der Zwischenzeit allerdings haben die Erfolge naturwissenschaftlicher Forschung den Menschen dazu geführt, auf die Möglichkeit einer perspektivischen Darstellungsform seiner Umwelt zu vertrauen, ja, sie als selbstverständliche Möglichkeit vorauszusetzen. Zweifel daran sind gerade erst in jüngster Zeit aufgetaucht. Für uns bleibt nun festzustellen, daß es Situationen in der Geschichte der Menschen gibt, in denen bestimmte Beobachtungen nicht auf anschauliche Weise widerspruchsfrei miteinander in Verbindung gesetzt werden können. Diese Feststellung kann zu Überlegungen führen, die uns vor einer Überschätzung unseres Erkenntnisvermögens bewahren mögen und damit einen wesentlichen Beitrag zur kritischen Beurteilung naturwissenschaftlicher Forschungsbemühungen leisten könnten. Denn nur ein vordergründiger Antrieb für naturwissenschaftliche Forschung ist das Vermögen, Mittel zur Manipulation der Umwelt zu produzieren und damit das Geschick der Menschen in vielfältiger Weise materiell zu beeinflussen. Ihr eigentlicher Bildungswert für den Menschen - und das sei nochmals besonders hervorgehoben - liegt darin, ihm bei seiner geistigen Orientierung, bei seiner Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt, neue Einsichten zu lie-

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fern, die ihm erlauben, sich eine Vorstellung von den Strukturen und Kräften dieser Welt, von der er ein Teil ist, zu verschaffen. Damit wird ihm ein Orientierungsmittel gegeben, dessen er als zur kritischen Reflektion befähigtes und auch dazu gezwungenes Wesen dringend bedarf. Die Bedeutung der Naturwissenschaft für den Menschen von heute liegt in diesen ihren Werten für die geistige Bildung des Menschen. Und damit ist das zentrale Thema dieses Buches angeschnitten. Welche Bedeutung für die Bildung des Menschen haben Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft? Die modernen Naturwissenschaften, erst seit etwa 300 Jahren betrieben, mußten natürlich erst einen gewissen Wissensstand erarbeiten, um relevante Aussagen für die Bildung des Menschen machen zu können. Vor dieser Zeit galt der Erwerb anderer Kenntnisse, insbesondere solcher alter Sprachen, Griechisch und Latein, als Mittel zum Eindringen in die Gedankenwelt der Antike, als notwendige Voraussetzung zur Menschenbildung. Hierüber ist ausführlich im Abschnitt über „Aufstieg und Problematik des neuhumanistischen Bildungsideals" berichtet worden. Besonders klar wurde dabei herausgestellt, daß die Vorstellungen derer, die sich eingehend Gedanken über Menschenbildung gemacht haben, immer wieder darauf hinausliefen, daß die aufzunehmenden bzw. zu vermittelnden Kenntnisse nicht in erster Linie als Grundlage praktischer Anwendungsmöglichkeiten ihre Bedeutung erhalten, sondern als Mittel zur „Bildung der Vernunft in dem Individuum" (vgl. S. 52). Nachdem wir aber jetzt die „Entstehung und Entwicklung der modernen Naturwissenschaften" wenigstens andeutungsweise überblicken, sollte klar erkenntlich geworden sein, daß ein gründliches Eindringen in die Probleme, Arbeitsmethoden und Denkweisen dieses Wissenschaftsgebietes diesen Bildungsaufgaben durchaus gerecht werden kann und im Hinblick auf ihre praktischen Auswirkungen in unserem täglichen Leben dringend erforderlich ist. Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, beides Teilgebiete der Wissenschaft, haben in ihren Methoden und Denkweisen vieles Gemeinsame. Das dürfte aus den letzten beiden

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Abschnitten hinreichend klar hervorgehen. Dennoch ist ihr Einfluß auf den Menschen, ihre Bedeutung für den Menschen von heute, noch sehr unterschiedlich. Das im V. Abschnitt eindrücklich beschriebene Grauen vor der starren, kalten Technik, ihren die menschliche Kraft ins unermeßliche steigenden Apparaten, fordert den Menschen zu einer geistigen Bewältigung dieser Probleme heraus. Diese Bewältigung kann nur mit Hilfe von Verständnis und Vernunft erfolgen, und diese müssen daher heute vordringlich so geschult werden, daß der Mensch Naturgesetze erkennen und ihre praktische Anwendung, ζ. B. in Form der physikalischen und biologischen Technik, sinnvoll hinterfragen kann. Dieser Zustand ist in Deutschland heute noch nicht erreicht, und keine Mühe darf gescheut werden, diesen für unsere gemeinsame Existenz außerordentlich gefährlichen Mangel der Allgemeinheit ins Bewußtsein zu bringen, denn, so sagt der bereits mehrfach zitierte C. P. Snow recht treffend: „Die Geschichte kennt Versagern gegenüber kein Erbarmen." Was bleibt zu tun? Nach Wegen zu suchen, die unseren Mitmenschen den gefährlichen Mangel der naturwissenschaftlichen Bildungslücke möglichst klar machen. Nur durch ein wohlbegründetes Verlangen, das die Allgemeinheit immer wieder unnachgiebig vorbringt, werden diejenigen politischen Instanzen, die die Bildungspläne entwerfen und verabschieden, dazu bewogen werden können, dem Bildungswert der Naturwissenschaften einen ihm gebührenden Raum zu geben. Das bedeutet natürlich eine Reduzierung anderer Wissensstoffe. Und hier wird der Widerstand beginnen. Aber Entscheidungen müssen getroffen werden. Das Resultat darf auf keinen Fall dazu führen, daß nur ein Teilgebiet der Naturwissenschaften, also Physik oder Chemie oder Biologie in den Abschlußklassen der Schule gelehrt wird, wie es heute die Rahmenpläne für die höhere Schule vorschreiben. Der Bildungswert der Naturwissenschaften wird erst dann verwirklicht werden können, wenn der Unterricht bis zum Schulabschluß sowohl in Chemie und Physik als auch in Biologie gegeben wird, und einzelne Themen dieser Gebiete sich gegenseitig befruchtend verbunden werden können. Nur dann

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kann es gelingen, den Lernenden von einer Sammlung vordergründiger Faktenkenntnisse zur Erkenntnis der die Abläufe in der Natur beherrschenden allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu führen. Diese Zusammengehörigkeit wird durch die moderne Wissenschaftsentwicklung vorgezeichnet. Während noch vor einigen Jahrzehnten Biologen, Chemiker und Physiker wenig gemeinsame Berührungspunkte hatten, fließen heutzutage ihre Forschungen immer mehr zusammen. So wurden wichtige Entdeckungen der Biologie, die durch Nobelpreise ausgezeichnet wurden, von Physikern und Chemikern gemacht. Ein stimulierend wirkender Anfang, jungen Menschen einen Anreiz zur Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Problemen zu geben, ist zweifellos der seit einigen Jahren durchgeführte Wettbewerb „Jugend forscht". Aber alle Unternehmungen zur Förderung der naturwissenschaftlichen Bildung setzen voraus, daß hochqualifizierte Lehrer zur Verfügung stehen. Diese Lehrer müssen nicht nur gut ausgebildet in den Schuldienst treten, sondern sie müssen infolge der schnellen Fortentwicklung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auch ständig eine eigene Weiterbildung erfahren. Diese Weiterbildung von Lehrern kann nur durch die Universitäten erfolgen. Hier sind bisher nur Ansätze u. a. in Berlin und etwas ausgeprägter in Hessen verwirklicht. Eine wirkungsvolle ständige Weiterbildung aller Lehrer, oder eines großen Anteils derselben, ist noch nirgends erreicht. Aber diese Ausbildung und Weiterbildung naturwissenschaftlicher Lehrer ist eine wesentliche Voraussetzung für eine fruchtbare Ausbreitung naturwissenschaftlichen Bildungsgutes unter den jungen Menschen unserer Gesellschaft. Die Lehrerfortbildung - oder wie es auch wenig glücklich heißt: das „Kontaktstudium" für Lehrer - ist eine Aufgabe, deren Bedeutung sich unsere Universitäten erst bewußt werden müssen. Aber damit ist nur ein erster Teil vordringlich neuer Ausbildungsaufgaben der Universität angedeutet. Ein zweiter wesentlicher Teil liegt in der Ausbildungsweise derjenigen, die Naturwissenschaften studieren. Daß sie hier eine gründliche, dem neuesten Erkenntnisstand und den neuesten Unterrichtserfahrungen

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entsprechende Ausbildung zu erfahren haben, ist selbstverständlich und braucht nicht besonders hervorgehoben werden. Zu betonen ist aber, daß eine solche Fachausbildung allein infolge der großen Bedeutung, die die Naturwissenschaften für das moderne Leben haben, heute nicht mehr als ausreichend angesehen werden kann. Sie muß ergänzt werden durch kritische Analysen der Bedeutungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, Forschungstätigkeiten und praktischen Anwendungsmöglichkeiten für die Gesellschaft. Daß diese Analysen und Untersuchungen nicht mit Mitteln und Methoden durchgeführt werden können, die dem Naturwissenschaftler vertraut sind, darauf wurde im VII. Kapitel hingewiesen. Aber es wird für den sich heranbildenden Naturwissenschaftler notwendig sein, unabhängig davon ob er Lehrer oder Forscher werden will, rechtzeitig Einblicke zu erhalten in das, was heute über die Kräfte und ihr Zusammenwirken in einer Gesellschaft wie der unsrigen bekannt und analysierbar ist. Die Wissenschaft, die sich mit den Entwicklungen von Gesellschaftssystemen befaßt - die Soziologie - beschäftigt sich mit vom Menschen geschaffenen Produkten. Sie gehört damit zur Gruppe der Kultur- oder Geisteswissenschaften. Spätestens hier gelangen wir also zu einem Punkt, wo die beiden "Wissenschaftszweige - Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft - zu einer gegenseitig befruchtenden Ergänzung kommen müssen. Sonst haben wir wohl kaum eine Chance, so unmenschlichen Gesellschaftskonstruktionen, wie sie in Huxley's „Schöne neue Welt" treffend beschrieben werden, zu entgehen. Wir können uns einseitige Betrachtungsweisen einfach nicht leisten. Grundlegende Veränderungen unserer Umwelt - Technik und Gesellschaft Inbegriffen - ereignen sich in immer schnellerer Folge. Nur durch ein Zusammenwirken geistesund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mag ein menschenwürdiger Ausweg gefunden werden. Dieses Zusammenwirken setzt eine Aufnahmebereitschaft für geistes- und naturwissenschaftliche Erkenntnisse in der Allgemeinheit voraus. Zur Erreichung dieses Zieles braucht die historisch bedingt sich verspätet als Bildungsgut durchsetzende Naturwissenschaft jetzt vordringliche Förderung, um gleichberechtigt bei der geistigen Auseinandersetzung mitwir-

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ken zu können. Gleichberechtigt, und nicht etwa alleinberechtigt, alles andere Wissen ersetzend; denn das brächte uns nur von einer Sackgasse in eine andere. In den USA ist die Entwicklung bereits einen Schritt weiter vorangekommen. So wird eine systematische Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft, Technik und Gesellschaft an der Universität Havard bereits seit 1964 an einem besonders hierfür geschaffenen Institut durchgeführt. Die Initiative hierzu ging interessanterweise nicht von der Universität, sondern von einem Industrieunternehmen, der International Business Machines Corporation (IBM), aus. In einem Bericht hierüber schreibt J. Schmandt, ein Mitglied dieses Instituts, u. a.: „Uberraschenderweise wird die Technik von einem breiten Spektrum von Autoren als wertzerstörend kritisiert. Diese Einstellung findet sich ebenso bei der Neuen Linken wie bei politischen Konservativen. Welcher Art ist der ideologische und kulturelle Hintergrund für diese Kritik? Eine unserer Studien untersucht diese Frage anhand der Schriften von Jacques Ellul, Hannah Arendt, Lewis Mumford, Martin Heidegger und Herbert Marcuse. Bei ihnen allen findet sich der Vorwurf, die Technik reduziere den Menschen auf ein Mittel. Nicht der Mensch und seine Würde und Erfüllung, sondern die Erhaltung eines un-menschlichen technischwirtschaftlich-politischen Systems wird in dieser Sicht zum Endzweck der Gesellschaft. Geistesgeschichtlich läßt sich diese Haltung bis auf den Zerfall des mittelalterlichen einheitlichen Weltbildes und absoluten Wahrheitsbegriffs zurückführen. Reformation, wissenschaftliche Revolution, Rationalismus, Aufklärung, Nihilismus, Positivismus, Planung und Systemanalyse verkörpern stufenweise die De-Humanisierung der modernen Welt und Verabsolutierung von Wissenschaft und Technik. Die Kritiker unterscheiden sich nur in ihren Lösungsvorstellungen: romantische Rückkehr zu vorwissenschaftlichen, einfachen Gesellschaftsformen oder utopisches Sehnen nach einer neuen Symbiose von Mensch und Natur und nach einer ,humanen' Form von Wissenschaft und Technik. Die Studie untersucht den Vorwurf, daß Technik humanistische Werte bedroht, auf fünf verschiedenen Ebenen: Was wird

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der Technik konkret vorgeworfen? Was wird ihr unausgesprochen vorgeworfen? Im Zusammenhang welcher Hypothesen, Ideale und Wertvorstellungen wird der Vorwurf erhoben? Wie läßt sich der Vorwurf begrifflich und frei von Emotionalität formulieren? Wie läßt er sich beweisen oder zurückweisen?" Diese Analyse erbrachte Ansätze einer allgemeinen Theorie der Wechselwirkung von Technik und Gesellschaft. Ihre Aussagen können nach Schmandt in äußerster Verkürzung in fünf Thesen angedeutet werden. „1. Technischer Wandel, soweit er erfolgreich ist, führt notwendig und nicht akzidentell zu sozialem Wandel. 2. Hierin drückt sich weniger eine Autonomie technischen Sachzwanges aus als vielmehr die Tatsache, daß neue Werkzeuge und Prozesse nur mittels ,sozialer Innovation' in den Bereich gesellschaftlicher Wirklichkeit hineingebracht werden können. 3. Im Laufe dieses Prozesses kommt es zu Konflikten mit bestehenden Institutionen, Werten und Interessen, die sich um eine frühere Schicht technischer Produkte und Prozesse herum entwickelt hatten. 4. Mit zunehmender Wirkungskraft neuer technischer Entwicklungen und ihrer Interdependenz lassen sich die Möglichkeiten der Technik nur voll ausnützen und ihre für die Allgemeinheit schädlichen Nebenwirkungen nur eindämmen, wenn der Bereich öffentlicher Entscheidungen und Kontrollen ausgeweitet wird. 5. Neue Formen der öffentlichen Erziehung und Willensbildung müssen entwickelt werden, wenn die zu ergreifenden politischen Maßnahmen von einer breiten Schicht der Bevölkerung verstanden und gewollt werden sollen." In seinem soeben veröffentlichten Buch „Programm 2000" kommt K. Steinbuch schließlich zu ähnlichen Schlüssen. Er schreibt ζ. B.: „Das Bildungswesen ist die Quelle politischer Entscheidungen: Es bereitet die Sprache, die Denkweise, die Weltvorstellung und Ziele zukünftiger politischer Entscheidungen vor." „Unser Bildungssystem ist in grotesker Weise rückwärtsgewandt. Gebildet ist hier, wer historische und philologische Details weiß, auch wenn er nichts mit ihnen anfangen kann. Ungebildet ist, wer sich nicht

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für historische und philologische Bezüge interessiert." Er schließt sein Buch mit der pessimistischen Feststellung: „Unser schlimmster Notstand i s t . . . das Fehlen einer Bildungsidee, welche unseren heutigen Einsichten nicht widerspricht. Wenn eine solche Bildungsidee vorhanden wäre, dann ließen sich die vielen sekundären Probleme leicht lösen. Aber die ernsthafte Diskussion derartiger Probleme ist bei uns - weil notwendigerweise ideologisch - verpönt, und so ist eine Lösung mangels Auseinandersetzung nicht zu erwarten." Für alle, die den hier vorgetragenen Argumenten von Geistesund Naturwissenschaftlern gefolgt sind, hat - so möchte ich hoffen - die Auseinandersetzung bereits begonnen.

Literatur Laskowski, W. (Hrsg.): Der Weg zum Menschen. Berlin 1968. Schmandt, J.: Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. In: Umschau in Wissenschaft und Technik 1970. Heft 5. Steinbuch, K.: Programm 2000. Stuttgart 1970.

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