Vestigia Vergiliana: Vergil-Rezeption in Der Neuzeit 3110247208, 9783110247206

19 Beiträger zeigen in diesem Sammelband anhand ausgewählter Beispiele, wie Vergils Werke,vor allemsein Epos Aeneis, von

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Vestigia Vergiliana: Vergil-Rezeption in Der Neuzeit
 3110247208, 9783110247206

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Tiroler Wein an der Tafel von Vergil und Augustus
Heros Aeneas und Iuno, die Hera. Der Wandel des Heldenbegriffes von der Antike zur Neuzeit
Kannte der Humanismus „den anderen Vergil“?
Goldene Zeiten: Immer wieder wird ein Messias geboren…
Die Aeneas-Rolle des elegischen Helden
Das leere Grab und die Macht der Bilder
Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung (Aen. 1,34-156) in Camões’ Epos Os Lusíadas (6,6-91)
Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria
Hardys Didon se sacrifiant. Ein ‘Kommentar’ zum vierten Buch der Aeneis?
Jakob Balde und der Rex Poetarum Vergil – von der Pudicitia vindicata zur Expeditio Polemico-Poëtica. Ein Überblick
Simon Dach als neulateinischer Bukoliker. Seine Eklogen zum Weihnachts- und Osterfest (1651/1652)
Vulcanus und Constantia als Waffenschmiede – die Schildbeschreibungen in Vergils Aeneis und Ubertino Carraras Columbus
Zu Voltaires Vergilrezeption in der Henriade
Die Dido der Charlotte von Stein
Ah Virgil, Virgil! – der Speichellecker des julischen Hauses
Wo Britting irrte, oder: Wie die Presse Vergil am Verstummen hindert
Von Troja nach Gondor. Tolkiens „The Lord of the Rings“ als Epos in vergilischer Tradition
Te, Palinure, petens
Aeneas ohne Sendung? Cormac McCarthys The Road
Backmatter

Citation preview

Vestigia Vergiliana

Göttinger Forum für Altertumswissenschaft Beihefte Herausgegeben von Bruno Bleckmann, Thorsten Burkard, Gerrit Kloss, Jan Radicke

Neue Folge Band 3

De Gruyter

Vestigia Vergiliana Vergil-Rezeption in der Neuzeit

Herausgegeben von

Thorsten Burkard, Markus Schauer, Claudia Wiener unter Mitarbeit von Eltje Böttcher

De Gruyter

ISBN 978-3-11-024720-6 e-ISBN 978-3-11-024721-3 ISSN 1866-7651 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die Erforschung der Rezeptionsgeschichte der Antike war und ist ein zentrales Anliegen des Münchner Latinisten Werner Suerbaum. Davon zeugen nicht nur die beiden vielen in Erinnerung gebliebenen Ausstellungen zu Horaz und Vergil in den neunziger Jahren,1 sondern gerade auch seine jüngsten Arbeiten zur Vergilrezeption, etwa das im Jahr 2008 erschienene, knapp siebenhundert Seiten zählende Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben.2 Daher scheint es so naheliegend wie angemessen, Werner Suerbaum diesmal mit einer Festschrift zu ehren, die sich auf die Suche nach antiken und insbesondere vergilianischen Spuren in der Literatur der Neuzeit begibt. Neunzehn Autorinnen und Autoren, Schüler, Kollegen, Freunde, Verehrer und Weggefährten von Werner Suerbaum, haben sich für ihn auf Spurensuche begeben und dabei mehr als ein halbes Jahrtausend durchwandert. Diese Spurensuche hat eine eindrucksvolle Fülle und oft überraschende Vielfalt von vestigia Vergiliana nicht nur in der neulateinischen, sondern in der neuzeitlichen Literatur überhaupt zutage gefördert, die das breite Spektrum der Vergilrezeption bis in die Gegenwart hinein illustrieren. Das Wort vestigium hat mehrere Bedeutungen, so bezeichnet es vor allem die Fußspur, die jemand hinterlassen hat und der man folgen kann, in übertragener Bedeutung auch die Spur im Sinne eines Kennzeichens oder eines Merkmals. Beide Nuancen spielen in der Rezeptionsgeschichte Vergils eine Rolle: Vergil hat unübersehbare Spuren hinterlassen, auf die kaum einer der späteren Dichter stoßen konnte, ohne die Verlockung zu verspüren, diesen Spuren zu folgen. Dabei versuchten die einen, in seine Fußstapfen zu treten, womöglich sogar, ihn einzuholen und seine Rich–––––––––––– 1 2

Vgl. die insgesamt neun Beihefte zu den beiden Münchener Ausstellungen: Horaz. Disiecti membra poetae, München 1993; Vergil visuell, München 1998. Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben 1502-1840. Geschichte, Typologie, Zyklen und kommentierter Katalog der Holzschnitte und Kupferstiche zur Aeneis in Alten Drucken. Mit besonderer Berücksichtigung der Bestände der Bayerischen Staatsbibliothek München und ihrer Digitalisate von Bildern zu Werken des P. Vergilius Maro sowie mit Beilage von 2 DVDs, Hildesheim u.a. 2008, 684 S. (Bibliographien zur Klassischen Philologie 3).

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Vorwort

tung zu korrigieren, andere wiederum nahmen zwar Maß an seiner Spur, gingen aber eigene und neue Wege, im Schritt weit ausholend wie einst ihr großes (und unerreichbares?) Vorbild. Ob die Dichter nun Vergils Spuren folgten oder eigene Spuren hinterließen, an ihren Werken ging die Beschäftigung mit Vergil nicht spurlos vorüber, sie sind von ihr gezeichnet und tragen daher vestigia Vergiliana an ihrem ‘Leib’. Wenn nun die Beiträger der vorliegenden Festschrift den vestigia Vergiliana in der neuzeitlichen Literatur nachspüren wollten, so wandelten sie in gewisser Weise ebenfalls auf Vergils Spuren. Wie jedoch die Dichter nicht an Vergil vorbeigehen können, so die Vergilforscher nicht an Werner Suerbaum, der mit seinen Arbeiten zu Vergil und seiner Rezeption Wege bereitet und Maßstäbe gesetzt hat. Wegen dieser vielfältigen Bedeutungsnuancen haben wir uns für den Titel Vestigia Vergiliana entschieden. Die Beiträge der Festschrift sind grundsätzlich chronologisch nach den Geburtsdaten der behandelten Autoren geordnet. Der erste Aufsatz von Mario Geymonat widmet sich zwar nicht der neuzeitlichen Vergilrezeption, stellt aber einen wunderbar bukolisch-georgischen Einstieg dar und eröffnet vielleicht nicht nur dem Vergil-Kenner, sondern auch dem Weinliebhaber neue Aspekte. Mehrere Beiträge behandeln den vergilischen Einfluss in der neulateinischen Literatur, und zwar im Epos (Nikolaus Thurn, Thorsten Burkard, Gerhard Binder, Reinhold Glei, Markus Schauer), in der Bukolik (Alexander Cyron, Lothar Mundt, Eckard Lefèvre), in der Lyrik (Claudia Wiener, Eckard Lefèvre), in anderen Dichtungsarten (Eckard Lefèvre) sowie in poetologischen Texten (Thorsten Burkard, Eckard Lefèvre). In anderen Aufsätzen steht Vergils Nachleben in der volkssprachlichen Literatur vom 16. Jahrhundert bis in die heutige Zeit im Mittelpunkt, so die Rezeption in Frankreich (Gerhard Binder, Maria Mateo Decabo, Rudolf Rieks), in Deutschland (Hans Jürgen Tschiedel, Andreas Patzer), in der DDR (Gerhard Binder), im englischen Sprachraum (Silke Anzinger, Siegmar Döpp, Frank Wittchow), in Polen (Gerhard Binder) und in Portugal (Stefan Feddern). Renate Piecha untersuchte anhand von Zeitungen, welche vergilischen Spurenelemente sich in der Allgemeinbildung unserer nicht klassisch-philologisch gebildeten Zeitgenossen noch nachweisen lassen. Somit spannt sich ein weiter, durchgehender Bogen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Bei diesem iter Vergilianum wird der Leser nicht nur auf eher unbekannte Autoren treffen, sondern auch vielen großen Namen begegnen: Iacopo Sannazaro, Konrad Celtis, Marco Girolamo Vida, Pierre de Ronsard, Luís de Camôes, Jacob Balde, Simon Dach, Voltaire, Charlotte von Stein, Thomas Mann, John R.R. Tolkien, Heiner Müller und Cormac McCarthy.

Vorwort

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Den Band beschließt ein aktuelles Publikationsverzeichnis des Jubilars, das an die entsprechende Bibliographie in seinen Kleinen Schriften von 1993 nahtlos anschließt.3 Auch in der Zeit des Internets sollten die clarorum virorum scripta auch in der würdigeren Papierform zugänglich sein – und seien es auch nur die Titel. Unser Dank gilt vor allem den Beiträgern, die dankenswerterweise bereit waren, sich unserer Themenstellung zu fügen, und die mit ihren instruktiven Arbeiten ein faszinierendes Panoptikum der Vergil-Rezeption ermöglicht haben. Wir Herausgeber stehen auch deswegen bei allen Autoren in tiefer Schuld, weil wir aus verschiedenen Gründen den ursprünglich geplanten Erscheinungstermin nicht einhalten konnten. Für diese bienniale Verzögerung bitten wir natürlich nicht nur sie, sondern vor allem den Jubilar um Entschuldigung. Aber vielleicht reift ja eine Festschrift wie ein guter Wein immer besser heran. Zu Dank verpflichtet sind wir des Weiteren dem De Gruyter Verlag, hier vor allem unserer Lektorin, Frau Dr. Sabine Vogt (Lektorat Altertumswissenschaft), und Herrn Florian Ruppenstein (Herstellung) für ihre geduldige und kompetente Begleitung. Wie immer so galt auch hier, dass Professoren ohne ihre treuen und zuverlässigen Mitarbeiter verloren sind, unser fidus et fortis Achates war die Kieler Hilfskraft Frau Eltje Böttcher, die uns mit Scharfsinn, Sorgfalt und großem Engagement bei der Gesamtredaktion dieser Festschrift zur Seite stand. Dank schulden wir auch der Bamberger Hilfskraft Frau Isabelle Feuerhelm für Korrektur und das Erstellen des Stellenregisters. Nec Phoebo gratior ulla est quam sibi quae vestri praescripsit pagina nomen (mit einem inhaltlich und metrisch notwendigen Pluralis maiestatis): Wir überreichen Ihnen, lieber Herr Suerbaum, diese Festschrift in der Hoffnung, dass diese Beiträge vielleicht sogar Ihrer Gelehrsamkeit die eine oder andere neue Facette an Vergil und seiner Rezeption aufweisen können – also eben Vestigia Vergiliana. Thorsten Burkard (Kiel) Markus Schauer (Bamberg) Claudia Wiener (München)

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In Klios und Kalliopes Diensten. Kleine Schriften von Werner Suerbaum, hrsg. von Christoph Leidl und Siegmar Döpp, Bamberg 1993, S. 458-464.

Inhalt MARIO GEYMONAT Tiroler Wein an der Tafel von Vergil und Augustus ........................... 1 NIKOLAUS THURN Heros Aeneas und Iuno, die Hera. Der Wandel des Heldenbegriffes von der Antike zur Neuzeit ....................................... 9 THORSTEN BURKARD Kannte der Humanismus „den anderen Vergil“? Zur two voicesTheorie in der lateinischen Literatur der frühen Neuzeit ................. 31 GERHARD BINDER Goldene Zeiten: Immer wieder wird ein Messias geboren… Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils ................. 51 CLAUDIA WIENER Die Aeneas-Rolle des elegischen Helden. Epische Inszenierung und dichterisches Selbstverständnis in Celtis’ Amores ....................... 73 REINHOLD F. GLEI Das leere Grab und die Macht der Bilder. Vergilrezeption in der Christias des Marco Girolamo Vida ............................................. 107 STEFAN FEDDERN Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung (Aen. 1,34-156) in Camões’ Epos Os Lusíadas (6,6-91) ................... 121 ALEXANDER CYRON Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria. Text – Übersetzung – antike Vorbilder. ............................................ 147 MARIA MATEO DECABO Hardys Didon se sacrifiant. Ein ‘Kommentar’ zum vierten Buch der Aeneis? .............................................................................................. 169

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Inhalt

ECKARD LEFÈVRE Jakob Balde und der Rex Poetarum Vergil – von der Pudicitia vindicata zur Expeditio Polemico-Poëtica. Ein Überblick. ...................... 187 LOTHAR MUNDT Simon Dach als neulateinischer Bukoliker. Seine Eklogen zum Weihnachts- und Osterfest (1651/1652).................................. 211 MARKUS SCHAUER Vulcanus und Constantia als Waffenschmiede – die Schildbeschreibungen in Vergils Aeneis und Ubertino Carraras Columbus.................................................................................................. 251 RUDOLF RIEKS Zu Voltaires Vergilrezeption in der Henriade .................................... 269 HANS JÜRGEN TSCHIEDEL Die Dido der Charlotte von Stein ....................................................... 299 ANDREAS PATZER Ah Virgil, Virgil! – der Speichellecker des julischen Hauses. Die literarische Bedeutung des Lateinischen in Thomas Manns Zauberberg ................................................................................... 315 RENATE PIECHA Wo Britting irrte, oder: Wie die Presse Vergil am Verstummen hindert .................................................................................................... 349 SILKE ANZINGER Von Troja nach Gondor. Tolkiens „The Lord of the Rings“ als Epos in vergilischer Tradition ....................................................... 363 SIEGMAR DÖPP Te, Palinure, petens. Vergilrezeption in Palinurus’ The Unquiet Grave........................................................................................................ 403 FRANK WITTCHOW Aeneas ohne Sendung? Cormac McCarthys The Road..................... 443 Werner Suerbaum: Publikationen 1993-2009 ................................... 455 Namenregister ....................................................................................... 465 Stellenregister ........................................................................................ 472

Tiroler Wein an der Tafel von Vergil und Augustus MARIO GEYMONAT Reben und Wein sind bekanntlich bei griechischen und lateinischen Klassikern ein weit verbreitetes Thema: vom betrunkenen Polyphem im neunten Buch der Odyssee (9,345-374) über die Trinklieder in der lyrischen Dichtung von Alkaios, Hipponax oder Anakreon, über die gravitas membrorum, wie sie die vehemens violentia vini bei Lukrez (3,476–483) hervorruft, bis zum nunc est bibendum des Horaz (carm. 1,37) und zum hundertjährigen Falerner (Falernum Opimianum annorum centum), den Trimalchio servieren lässt (Satyricon 34). Vergil räumt den Reben sogar mehr Raum in seiner Dichtung ein als dem Ölbaum, der doch schon damals und noch heute das Landschaftsbild der italischen Halbinsel prägt. Dem Weinbau, der allerdings in der Aeneis zu fehlen scheint, widmet Vergil in den Bucolica bedeutungsvolle Hinweise: pone ordine vitis („setze die Reben in Reihen“, ecl. 1,73), semiputata tibi frondosa vitis in ulmo est („du hast die Rebe nur zur Hälfte an der laubreichen Ulme beschnitten“, 2,70), mit einer negativen Charakterisierung: atque mala vitis incidere face novellas („[und man hat mich gesehen, wie ich] mit der schädlichen Sichel die jungen Ranken verschnitt“, 3,10f.), in einem Bild voll heiterer Schönheit: Vitis ut arboribus decori est, ut vitibus uvae („wie die Rebe die Bäume schmückt und die Traube die Rebe“, 5,32); 3,38, 7,61, 9,42; 10,40 (hier spendet die reichbelaubte Rebe Vergils Dichterfreund Cornelius Gallus einen schattigen Zufluchtsort lenta sub vite iaceret). Die Dichtung, in der die Reben die größte Aufmerksamkeit erfahren, sind zweifellos die Georgica, die schon gleich mit dem Bild ulmis adiungere vitis („an Ulmen die Reben zu binden“, georg. 1,2) einsetzen und die präzise die Zeit im Bauernkalender angeben, zu der die Reben gepflanzt werden (1,284: septima [scil. dies] post decumam felix et ponere vitem, „der siebte Tag nach dem zehnten ist günstig auch für das Setzen der Reben“). Der Arbeit, die in den Weinbergen zu verrichten ist, widmet sich Vergil besonders im zweiten Buch, das Bacchus gewidmet ist, durch den „die Lese schäumt in vollen Kufen“ (spumat plenis vindemia labris, 2,6). Die Arbeit des Weinbauern ist nach einem komplexen Rhythmus gegliedert. Zunächst muss er den geeigneten Boden aussuchen, der fruchtbar

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Mario Geymonat

sein und nach Süden gelegen sein soll (rarum pecorique et vitibus almis | aptius uber erit, „da wird ein lockerer Fruchtgrund für Vieh und liebliche Reben geeigneter sein“, 2,233f.). Die Anpflanzung ist in der Ebene anders als in Hanglage (collibus an plano melius sit ponere vitem, | quaere prius, „ob du den Weinstock lieber an Hängen oder in der Ebene pflanzt, das prüfe vorher“, 2,273f.); die junge Pflanze wird in eine Grube von geringer Tiefe gesetzt (ausim vel tenui vitem committere sulco, „ich würde getrost selbst einer flachen Furche den Weinstock anvertrauen“, 2,289), und zwar zum geeigneten Zeitpunkt (2,319–322: Optima vinetis satio, cum vere rubenti | candida venit avis longis invisa colubris, | prima vel autumni sub frigora, cum rapidus Sol | nondum hiemem contingit equis, iam praeterit aestas, „am besten ist die Saat für die Weingärten, wenn im rosigen Frühling der weiße Storch kommt, der ein Feind der langen Schlangen ist, oder beim ersten Frost des Herbstes, wenn der schnelle Sonnenwagen noch nicht mit den Pferden den Winterkreis berührt, aber der Sommer schon vorüber ist“). Aber wichtig ist auch das anschließende Eingreifen des Weinbauern (2,368–370: tum stringe comas, tum bracchia tonde | (ante reformidant ferrum), tum denique dura | exerce imperia et ramos compesce fluentis, „dann stutze sein Laub, dann schneide die Äste – vorher haben sie vor dem Eisen Angst – dann endlich gewöhne sie an hartes Regiment und verhindere den rankenden Wuchs der Zweige“). Die Arbeit des vinitor, des Weinbauern, wird präzise bis Vers 419 beschrieben, und ein heiteres Bild des Weinbergs findet sich in den Versen 521f.: alte | mitis in apricis coquitur vindemia saxis („und in der Höhe reift auf sonnigen Felsen die süße Ernte aus“). Es besteht also kein Zweifel, dass Vergil sich intensiv mit der Pflege von Reben befasst hat. Ich möchte mich besonders den Versen widmen, die den Laudes Italiae (2,136–176) unmittelbar vorangehen, nämlich der Aufzählung von nicht weniger als 14 Sorten von Reben in den Versen 89 bis 108. Die Namen sind zum großen Teil griechischen Ursprungs, mit exotischem Wohlklang im Lateinischen, metrisch elegant verbunden, wobei homerische Reminiszenzen weiterentwickelt sind zu einem raffinierten kallimacheischen Stil. Andere Kataloge in Vergils Oeuvre, unverkennbar hellenistischen Typs, sind der Nymphen- und Flussgötterkatalog in Georgica 4,336–344 und 366–373 und der Katalog der Städte und Flüsse der Südküste Siziliens am Ende von Aeneas’ Erzählung im dritten Buch der Aeneis 3,692–708. Der Abschnitt beginnt mit der allgemeinen Beobachtung, dass botanische Gattungen sich in vielfältige Arten ausdifferenzieren (2,83: genus haud unum), was am Anbau von drei Arten von Oliven demonstriert wird (2,86):

Tiroler Wein an der Tafel von Vergil und Augustus

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orchades et radii et amara pausia baca oval, länglich und fleischig mit bitteren Früchten

Der Vers ist natürlich auch ein literarisches Echo: Ebenfalls drei Sorten von Oliven werden bei der frugalen Cena der kallimacheischen Hekale aufgetragen, und genau diese drei sind auch in Nikanders Alexipharmaka bezeugt (87f.); die gleiche Anzahl werden wir später noch bei Ovid in lateinischer und bei Nonnos in griechischer Dichtung finden. In Vergils Katalog sind die Rebsorten grundsätzlich zunächst mit ihrem jeweiligen Namen angegeben, in vielen Fällen gewinnt dann die Beschreibung besondere Lebendigkeit durch die spezifischen Merkmale.1 Lesen wir dazu weiter im Text über die Weinernte (2,89-96): non eadem arboribus pendet vindemia nostris, quam Methymnaeo carpit de palmite Lesbos; sunt Thasiae vites, sunt et Mareotides albae, pinguibus hae terris habiles, levioribus illae, et passo psithia utilior tenuisque lageos temptatura pedes olim vincturaque linguam, purpureae preciaeque et, quo te carmine dicam Raetica? nec cellis ideo contende Falernis.

„Es unterscheidet sich die Traube, die an unseren Bäumen reift, von der, die Lesbos von Methymnas Stöcken pflückt“ (89f.). Methymna, so erklärt uns Servius, war eine Stadt auf Lesbos, die wertvollsten Wein trug (habens pretiosissimum vinum). Es folgen die Weine von Thasos, einer Insel vor der thrakischen Küste, dann der Weißwein, der am Ufer des mareotischen Sees in Ägypten gekeltert wird, wo der Weinbau besonders von den Ptolemäern gefördert wurde, „letztgenannter Wein auf fetterem Boden, erstgenannter auf leichterem Grund“ (91f.). Danach wird die Wirkung des Weins aus „Psithia“ beschrieben, „besonders geeignet für Trockenbeerenauslese, und der leichte lageos, der am Ende in die Beine fährt und die Zunge schwer macht“ (93f.). Psithia, nach Columella (3,2,24) eine Variante für Graecula, ist vor Vergil aus den Alexipharmaka des Nikander bekannt (181), weshalb ich annehme, dass sich auch in den Georgika des Dichters aus Kolophon ein entsprechender Passus befunden haben dürfte, von dem sich Vergil inspirieren ließ.2 Einen Beleg dafür, dass der Abschnitt über die Vielfalt der Rebstöcke schon für die Ohren der antiken Leser voll literarischer Anspielungen geklungen haben muss, liefert das Testimonium der Scholia Bernensia, dass –––––––––––– 1 2

Zu den Namen der Rebsorten im Lateinischen sei an die schöne Studie von Jacques André: „Contribution au vocabulaire de la viticulture: les noms de cépages“, REL 30, 1952, 126-156, erinnert. Dazu habe ich mich geäußert in: „Spigolature nicandree“, Acme 23, 1970, 138f.

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Mario Geymonat

Vergil „diese Verse von dem Dichter Calvus übernommen hat; der sagt nämlich: lingua vino, temptantur et pedes (fr. 21 Morel)“; das Calvus-Fragment „looks like prose“,3 auch wenn es gelesen werden könnte als „the end of one line and beginnings of the next, in the metre of Catullus 25“, was allerdings in lateinischer Dichtung sehr selten vorkommt.4 Die beiden Verse, die uns besonders interessieren (95f.), sind bedeutsam im Zentrum des Katalogs platziert: purpureae praeciaeque et, quo te carmine dicam, Rhaetica? nec cellis ideo contende Falernis. die purpurnen Trauben und die frühreifen und – wie soll ich dich angemessen besingen, Rhaetica? Du streite dich aber nicht darum mit den Kellern des Falerner!

Von den griechischen Rebsorten geht Vergil über zu den Reben und Weinen des Westens: zu den praecia und besonders den Rhaetica, deren Name verbunden ist mit dem alpinen Volk der Raeter, die in Tirol, in der nördlichen Lombardei und einem Teil der Schweiz und Bayerns lebten. Über diese Traube stellt ein ausführliches Servius-Scholion folgende Überlegung an: hanc uvam Cato praecipue laudat in libris, quae scripsit ad filium; contra Catullus eam vituperat et dicit nulli rei esse aptam, miraturque cur eam laudaverit Cato. Sciens ergo utrumque Vergilius medium tenuit, dicens „qua te carmine dicam Raetica?“ Diese Traube lobt Cato ganz besonders in seinen Büchern, die er seinem Sohn gewidmet hat. Dagegen tadelt sie Catull und sagt, sie tauge zu nichts, und wundert sich, warum Cato sie gelobt hat. In der Kenntnis beider Positionen hielt Vergil also die Mitte, indem er sagte: „wie soll ich dich angemessen besingen, Raetica?“

Also noch bevor Raetien von Drusus und Tiberius im Jahre 15 v.Chr., nur wenige Jahre nach Vergils Tod, unterworfen und unter Kaiser Claudius römische Provinz wurde, hatte die dort angebaute Rebsorte schon das Interesse von einer Reihe der bedeutenderen Intellektuellen Roms geweckt. Cato lobte die Rebsorte in den Büchern an seinen Sohn Marcus (hanc uvam... praecipue laudat, fr. 8), während sie Catull zu nichts geeignet schien (nulli rei esse aptam, fr. 7). Im griechischen Bereich bezeugt der Geograph Strabo, nur um wenige Jahre jünger als Vergil, dass der rätische –––––––––––– 3 4

Edward Courtney: The Fragmentary Latin Poets, Oxford 1993, 211. Adrian S. Hollis: Fragments of Roman Poetry c. 60 b. C. – a. D. 20, Oxford 2007, 81.

Tiroler Wein an der Tafel von Vergil und Augustus

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Wein einen Ruf genieße, der nur wenig hinter dem der renommiertesten Weine Italiens zurückstehe (4,6,8): ὅ γε Ῥαιτικὸς οἶνος, τῶν ἐν τοῖς Ἰταλικοῖς ἐπαινουμένον οὖκ ἀπολείπεσθαι δοκῶν.

Mit dieser Rebsorte befasst sich auch Plinius (14,3,16), der genau angibt, dass ihr Wein sich besonders dazu eigne, am Anfang der Mahlzeit serviert zu werden, und der für ihre Herkunft die Umgebung von Verona nennt, also gar nicht weit von Vergils geliebter Vaterstadt Mantua entfernt: Raeticis prior mensa erat uvis ex Veronensium agro. Erst wieder Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts finden die Raetica vina wieder literarisch Erwähnung, in einem liebenswürdigen Epigramm des Martial, in dem der spanische Dichter direkt auf Catull Bezug nimmt (14,100): si non ignota est docti tibi terra Catulli potasti testa Raetica vina mea. Falls dir das Heimatland des gelehrten Catull ein Begriff ist: Du hast in meinem Krug hier rätischen Wein getrunken.

Die hervorragende Qualität dieses Weins, der aus dem Valpolicella oder, was m. E. wahrscheinlicher ist, aus dem heutigen Tirol stammt, wird dadurch hervorgehoben, dass Vergil einen Vergleich zwischen dem Raeticum und dem Falerner zieht, immerhin dem renommiertesten Wein Italiens, der bei Horaz (carm. 1,27,10) und Properz (4,6,73) literarisch gepriesen wird. Aber was mir an dieser Stelle besonders interessant scheint: Es handelt sich dabei um den Wein, der von Augustus bevorzugt wurde, der wenig aß und mit Sicherheit kein Trinker war. Bei Sueton (Divus Augustus 76f.) heißt es: Cibi […] minimi erat atque vulgaris fere [...] Vini quoque natura parcissimus erat. Non amplius ter bibere eum solitum super cenam in castris apud Mutinam Cornelius Nepos tradit. Postea quotiens largissime se invitaret, senos sextantes non excessit, aut si excessisset, reiciebat. Et maxime delectatus est Raetico neque temere interdiu bibit. Er aß […] nur wenig und fast nur ganz gewöhnliche Speisen [...] Auch im Weingenuss war er von Natur aus sehr zurückhaltend. Nepos zufolge pflegte er abends bei der Cena im Lager bei Mutina nicht mehr als drei Gläser zu trinken. Später, wenn er sich wirklich etwas gönnte, trank er nie mehr als sechs Becher, oder wenn er darüber hinaus trank, so spie er es wieder aus. Und besonders mochte er den rätischen Wein und trank ihn maßvoll auch tagsüber.

Die zentrale Stellung, die der rätische Wein im Rebenkatalog der Georgica einnimmt, könnte also zusätzlich das normale Verhalten an der Tafel des Dichters und des Kaisers widerspiegeln (auch Vergil war ja nach der Donat-Vita genügsam: cibi vinique minimi, § 8) und könnte einen deutlichen

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Mario Geymonat

Hinweis darauf bilden, dass Vergil regelmäßiger Gast an der Tafel des Augustus war! Aber es gibt noch zwei stilistische Elemente, die Vergils enge Beziehung zu diesem Tiroler Wein (der auch nach 2000 Jahren noch zu den Spitzenweinen zählt) noch zusätzlich unterstreichen: Die rhetorische Frage als Präteritio, mit der der Dichter seine Unfähigkeit zu einer angemessenen Würdigung erklärt (95: quo carmine?), und die Apostrophe, mit der sich Vergil unerwartet direkt an die Traube selbst wendet und sie so personifiziert, während sie sonst ein lebloses Objekt bleibt (95f.: te... Rhaetica). Die Apostrophe ist bei Vergil ein nicht häufig eingesetztes Stilmittel und deswegen besonders auffallend; er hat es aus der alexandrinischen Literatur übernommen. Man denke dabei an die Apostrophen an die „hohe Burg des Priamos“ (Priamique arx alta maneres, Aen. 2,56), an die ArethusaQuelle und an die palmosa Selinus (Aen. 3,696 und 705) sowie an die Apostrophen improbe Amor (Aen. 4,412) und dives Anagnia (Aen. 7,684). Sofort nach diesen zentralen Versen richtet Vergil den Blick auf andere Anbaugebiete und ihre Qualitäten (97–100): Sunt et Aminneae vites, firmissima vina, Tmolius adsurgit quibus et rex ipse Phanaeus, Argitisque minor; cui non certaverit ulla aut tantum fluere aut totidem durare per annos. Es gibt auch die Reben von Aminnaea, widerstandsfähigste Weine,

vor denen sich selbst der Tmolus neigt und der König der Weine, der Phanäer. Und die Argitis, die kleine, mit der keine andere konkurrieren kann, sei es in Ergiebigkeit oder in der jahrelangen Haltbarkeit.

Aus Aminnaea, etymologisch von Servius als „ohne Minium“ erklärt, kam Schaumwein, eine Art von salernitanischem Rosatello. Der Tmolius war ein Wein, der von den Hängen des Tmolus in Lydien kam, dessen strenge Gottheit als Richter zusammen mit König Midas im mythischen Sängerwettstreit von Apoll und Pan fungierte. Phanaeus, „der König der Weine“, war das begehrteste Produkt der Insel Chios, die als οἰνηρά („reich an Wein“) schon von Kallimachos bezeichnet wurde (fr. 399 Pfeiffer); ihr Wein wurde mit dem griechischen Epitheton δυνάστης, „Herr“, von dem lateinischen Dichter Lucilius (fr. 1147 Krenkel) ausgezeichnet. Die Argitis schließlich war eine Weißweintraube: dicta a candore, wie Pseudo-Probus mit Bezug auf das griechische Adjektiv ἀργής, „weiß“, erläutert, oder zutreffender, wie in den Scholia Veronensia erklärt, mit Bezug auf die Argolis benannt: Argitis Graeca quasi Argeotis. Nicht ohne Grund widmen die beiden wertvollen antiken Scholiensammlungen unserem Rebenkatalog so breiten Raum.

Tiroler Wein an der Tafel von Vergil und Augustus

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Eine Apostrophe ist gerade an die letzten beiden Sorten von Trauben gerichtet (101f.): Non ego te, dis et mensis accepta secundis, transierim, Rhodia, et tumidis, Bumaste, racemis. Ich werde dich nicht übergehen können, Rhodia, die du bei den Göttern und beim Nachtisch hochwillkommen bist, und auch dich nicht, Bumasta, mit schwellenden Trauben.

Die Rhodia ist ebenfalls eine griechische Traube und war, wie Servius erklärt, beliebt bei Opferfeiern und beim Nachtisch; die Bumasta hatte besonders dicke und pralle Beeren, in mammae bovis similitudinem (so wieder Servius). Vergil schließt jedoch so noch nicht; er geht beinahe unmerklich von der Qualität der Trauben zur Quantität der Rebsorten über, indem er die große Zahl mit der nicht zu erfassenden Zahl der Sandkörner der afrikanischen Wüste vergleicht (103–108): Sed neque quam multae species nec nomina quae sint est numerus, neque enim numero comprendere refert; quem qui scire velit, Libyci velit aequoris idem discere quam multae Zephyro turbentur harenae aut, ubi navigiis violentior incidit Eurus, nosse quot Ionii veniant ad litora fluctus. Aber wieviele Sorten und welche Bezeichnungen es gibt, kann man nicht zählen, und sie mit einer Zahl anzugeben, hat auch keine Bedeutung; wer die Zahl wissen will, kann ebenso gut herausfinden wollen, wie viele Sandkörner der libyschen Ebene vom Westwind aufgewirbelt werden oder wie viele Wellen des Ionischen Meers an die Küste rollen, wenn der Ostwind mit Wucht auf die Schiffe trifft.

Einige dieser Verse werden noch ein Jahrhundert später im gelehrten Verzeichnis der Rebsorten des Columella zitiert werden (3,2,29), und an dieser Stelle verbirgt sich meiner Vermutung nach eine Ehrung des Archimedes, des großen syrakusanischen Mathematikers, der in seinem Arenarium so große Zahlen konstruiert hatte, dass sie die Sandkörner angeben konnten, die nötig wären, um das ganze Universum zu füllen. Dass Archimedes seinen tragischen Tod ausgerechnet von der Hand eines römischen Soldaten gefunden hatten, beschämte Vergil und die bedeutenderen römischen Intellektuellen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts noch immer.5 Dass Vergil für eine derartige abgelegen scheinende Materie durchaus Neugier und Faszination empfand, dürfen wir aus der zu einem großen Teil auf Sueton basierenden Donat-Vita schließen (§ 15), wo wir –––––––––––– 5

Ich gehe darauf in meinem Bändchen Il grande Archimede, Rom 2006, 105-111, ein.

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Mario Geymonat

erfahren, dass sich der Dichter „neben anderen Studien auch für Medizin und ganz besonders für Mathematik interessierte“ (inter cetera studia medicinae quoque ac maxime mathematicae operam dedit).

Heros Aeneas und Iuno, die Hera. Der Wandel des Heldenbegriffes von der Antike zur Neuzeit NIKOLAUS THURN (Berlin) Was ist ein Held? Diese Frage hat die europäische Kultur zu allen Zeiten immer wieder aufs neue beschäftigt, und immer wieder wurden auf sie immer neue, vielfach gegensätzliche Antworten formuliert. Der Held der Kreuzzüge ist für die eine Zeit ein miles Christi, für die andere ein barbarischer Schlächter gewesen; der Märtyrer war für das 5. Jh. ein Held im Dulden für seinen Glauben, für das 2. Jh. ein verstockter Abergläubischer. Und natürlich sind auch Repräsentanten ein und derselben Epoche untereinander nicht einig darüber, was denn einen Helden ausmache: Der Märtyrer heutiger Prägung gilt – um ein Beispiel zu geben – manchen als Held des Islam, anderen hingegen als Verräter am Islam. Die Frage, was ein Held sei, liegt letztendlich auch dem eher akademischen Streit der Altphilologen zugrunde, die sich mit der two voices theory auseinandersetzen: Wird Aeneas’ Heldentum in Vergils Epos entlarvt oder bestätigt? Handelt er heldengemäß oder nicht – oder nur in mancher Hinsicht, und wenn, in welcher? Was ist denn für Vergil ein Held?1 –––––––––––– 1

Gerade in jüngster Zeit ist diese Frage wieder im Wandel begriffen: Markus Schauer: Aeneas dux in Vergils Aeneis, München 2007, 33, problematisiert mit guten Gründen die Definition des Aeneas als ‘Held mit sozialer Verantwortung’ (so hatten ihn etwa Robert D. Williams: „The purpose of the Aeneid“, Antichthon 1, 1967, 29-41, hier: S. 36 und Philip R. Hardie: Virgil, Oxford 1998, 80 bezeichnet): Der Begriff des heros vereine die private und öffentliche Seite einer Figur; der Begriff dux sei dagegen besser geeignet, die politisch-soziale Rolle des Aeneas zu betrachten. Mir soll es natürlich nur um eine punktuelle, historische Bedeutungsgebung des ‘heros’ gehen, aber diese Auseinandersetzung illustriert den immer noch anhaltenden Wandel im Verständnis des Begriffes: Man wird den Verdacht nicht los, Williams, Hardie und andere wendeten sich (sicherlich ohne daß ihnen dies bewußt ist) auch gegen ein rein kriegerisches Verständnis des britischen ‘hero’ (der deutsche ‘Kriegsheld’), und stellen diesem einen modernisierten Heldenbegriff entgegen. In diesem modernen Sinne aber hat der Held keine ‘private Seite’. Zum ‘Helden’ Aeneas ferner: Gilbert Lawall: „Apollonios’ Argonautica. Jason as Anti-Hero“, YClS 19, 1966, 121-169; B. Morris: „Virgil and the heroic ideal“, PVS 9, 1969/1970, 20-34; Gotthard K. Galinsky: „Vir-

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All diese Fragen und Antworten sollen hier nicht behandelt werden. Ich möchte dagegen die Frage aufwerfen, inwiefern in den Augen einer anderen Epoche Aeneas heldengemäß oder gar im Gegenteil feige handelte, und wie in einem bestimmten historischen Augenblick ein Held dargestellt ist, der sich vor dem Muster eines Nichthelden Aeneas sozusagen als wahrer Held abheben sollte. Die zeitliche Perspektive ist zweifach gebrochen: Es wird zum einen gefragt, was die Aeneis dem fünften nachchristlichen Jahrhundert bedeutete, und zum anderen, was das 5. Jh. nicht uns heute, sondern was es dem 15. Jh. zu sagen hatte. Diese Frage könnte durchaus auch für die moderne Aeneis-Interpretation fruchtbar sein: Interessant ist es nämlich zu sehen, wie frühere Deutungen eines Textes dessen Lektüre in späteren, aber doch immer noch weit von uns entfernten Zeiten beeinflußten; interessant deshalb, weil eine solche Sicht erklären kann, warum humanistische epische Dichtung in den Fußstapfen der Aeneis dennoch uns heute fremdartig anmutet. Und dies wiederum kann uns eine gewisse ironische Distanz zu unseren eigenen Überzeugungen lehren, die sicherlich in wiederum fünfhundert Jahren zum Schmunzeln anregen werden. Ein außergewöhnliches und gleichzeitig doch für seine Zeit typisches Epos ist die Carlias, geschrieben von dem Florentiner Humanisten Ugolino Verino in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s.2 Sein Titel, analog zu „Aeneis“ gebildet, meint den damals – nicht weniger als seinerzeit Aeneas – von Sagen umrankten Frankenkönig und römischen Kaiser Karl den Großen. Es erzählt Karls Kämpfe im Orient, seinen Besuch bei den Toten und die Befreiung Italiens, analog zu Aeneas’ Flucht aus Troja, seiner Unterweltreise und seinen Kämpfen in Latium. Florenz wurde im 15. Jh. unter reger Förderung des Lorenzo de´ Medici, il Magnifico, zum Zentrum der europäischen Literatur, nicht nur der italienischen, sondern vor allem der lateinischen. Die Carlias steht aber nicht nur in der lateinischen Tradition: Ihr Gegenstand, die Sagen über Karl den Großen, ist so sehr von der französisch- und italienischsprachigen Literatur vorgeformt worden, daß ein Einfluß volkssprachlicher Werke auf diese humanistische Imitatio Vergiliana unvermeid––––––––––––

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gil’s Romanitas and his adaptation of Greek heroes“, in: ANRW II 31,2, 1981, 985-1010; Hans-Peter Stahl: „Aeneas. An ‘Unheroic’ Hero?“, Arethusa 14, 1981, 157-186; Antonie Wlosok: „Der Held als Ärgernis. Vergils Aeneas“, WJA 8, 1982, 9-21; Gordesiani Rismag: „Prinzipien der Individualisierung der Helden im antiken Epos“, in: John N. Kazazis u. a. (Hgg.): Euphrosyne. Festschrift für D. N. Maronitis, Stuttgart 1999, 124-131. Vgl. dazu: Nikolaus Thurn (Hg.): Ugolino Verino. Carlias, München 1995; Nikolaus Thurn: Kommentar zur Carlias des Ugolino Verino, München 2002.

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lich und mehr als eine bloße Äußerlichkeit war.3 Epische Dichtung auf Karl den Großen war eigentlich die Domäne der Volkssprache; gerade in Florenz entstand damals sogar mit dem Morgante von Luigi Pulci das erste modernere Werk dieses Genres, der Romanzi Cavallereschi. Aber auch die humanistischen Dichter nahmen sich nun der dichterischen Formen der Volkssprache an und versuchten sie auf die lateinische Sprache zu übertragen: Ziel war es offensichtlich, die Literatur – und Literatur, jedenfalls solche, die einen Anspruch auf Dauer erheben konnte, bedeutete damals: in Latein verfaßt und an den Klassikern der Antike orientiert – mit jenen Elementen der regionalen Moderne zu bereichern, die als kompatibel mit der klassischen Kultur erkannt wurden. Bekanntlich ist dieses Ziel nicht erreicht worden: Im 16. Jh. sollte das Toskanische die tragende Sprache der poetischen Kultur Italiens werden; doch das war in der zweiten Hälfte des 15. Jh. noch nicht abzusehen. Damals wurden die meisten Werke, und die weitaus besten jener Epoche, in einem an Cicero und Vergil orientierten, sehr lebendigen Latein verfaßt. Ein lateinisches Heldenepos der Renaissance mußte sich, um mit den zeitgleich in Florenz entstehenden Dichtungen konkurrieren zu können, am Vorbild der Vergilischen Aeneis entwickeln, im Gesamtaufbau wie in einzelnen Passagen, und so verhält es sich auch mit der Carlias. Um in dem sich entfaltenden neuplatonischen Diskurs, der in der Prägung durch Cristoforo Landino und später Marsilio Ficino damals viele Bereiche der Kultur ergriff, zeitgemäß zu sein, mußte es auch, neben einer handlungsreichen Geschichte, eine „tiefere“ Botschaft vermitteln. Insofern war ein Dichter, über die einfache Nachahmung der Aeneis hinaus, auf Interpretationen der Aeneis verwiesen, die deren „tieferen Sinn“ entschlüsselten; wollte er sie nachahmen, mußte er auch zu ihrer (in seinen Augen) eigentlichen Botschaft Stellung nehmen. Er konnte hier auf die allegorische Vergildeutung zurückgreifen, die aus der Spätantike, wohl dem 5. Jh. stammt: Daß an Aeneas allegorisch die verschiedenen Lebensstadien des Menschen dargestellt werden, behauptet Fulgentius;4 der Seesturm stelle die Geburt des Menschen dar, seine Liebe –––––––––––– 3

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Hinzu kommen die seinerzeit bekannte und mit Donato Acciaiuolis Vita Caroli Magni (vgl. Daniela Gatti: La vita di Caroli di Donato Acciaiuoli, Bologna 1981) schon recht zuverlässig ausgearbeitete tatsächliche Geschichte Karls des Großen sowie die an vielerlei Stellen hineingeflochtene, anachronistisch verwendete Geschichte des ersten Kreuzzuges. Zu Verinos historischen Quellen vgl. Thurn, 2002 (wie Fußn. 2), 493-495. Fulgentius, Fabii Planciadis Fulgentii V.C. opera, accedunt Fabii Claudii Gordiani Fulgentii V.C. de aetatibus mundi et hominis, et S. Fulgentii episcopi super Thebaiden, rec. R. Helm, addenda adiecit J. Préaux, editio stereotypa editionis anni 1898, Stuttgart 1970; hier insbesondere 148M: Naufragium posuimus in modum

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zu Dido die Jugend etc. Aber eine zweite Interpretation ist gerade für dieses Epos noch wichtiger geworden: Aufbauend auf Fulgentius und seinem Nachfolger Bernardus Silvestris hatte Cristoforo Landino, der Lehrer Verinos, eine neuplatonische Interpretation der Aeneis geschaffen, die zur Zeit der Entstehung der Carlias bereits in den Grundzügen vollendet war und im Studio Fiorentino gelehrt wurde, wenn sie auch erst in den achtziger Jahren veröffentlicht werden sollte.5 Anders als Fulgentius, der dem Verlauf der Bücher folgt, geht Landino nach der wirklichen Chronologie der Aeneis vor, beginnt seine Interpretation also mit dem Fall Trojas. Er bedient sich des porphyrisch-neuplatonischen Tugendkatalogs, der auch schon bei Petrarca seine Wirkung gezeigt hatte: Für ihn wird mit Troja die vita voluptuosa überwunden; Aeneas erwirbt in Karthago die virtutes civiles und steht damit in der vita activa; er überwindet aber auch diese und erwirbt durch die Unterweltschau die virtutes purgatoriae, durch den Sieg in Italien schließlich die sogenannten virtutes animi iam purgati. Verino folgte dieser Deutung insbesondere hinsichtlich der Grundstruktur seines Epos.6 Aeneas wurde also – gerade durch die allegorischen Interpretationen eines Fulgentius, eines Bernardus Silvestris und Cristoforo Landinos – als vorbildlicher Mensch verstanden (und in der Carlias auch grundsätzlich so nachgeahmt), dessen Erwachsenwerden den langsamen Erwerb aller Tugenden bis zur Perfektion versinnbildlicht. Epen des Humanismus wurden selbstverständlich zum Lobe des Helden verfaßt, nicht zu seiner Kritik, und so verstand man gemeinhin auch die Aeneis.7 Dies schließt allerdings nicht aus, daß man jetzt, aus der Perspektive des 15. Jh.s, bestimmten Teilen oder Aspekten der Aeneis durchaus kritisch gegenüberstand; und dann fand sich der Verfasser neuer Epen, der notwendigerweise Imitator war, in der angenehmen Lage, es vielleicht nicht sprachlich, aber inhaltlich besser machen zu können (jedenfalls seiner eigenen Meinung nach) als der ––––––––––––

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periculae natiuitatis, in qua et maternum est pariendi dispendium uel infantum nascendi periculum. In qua necessitate uniuersaliter humanum uoluitur genus. Nam ut euidentius hoc intellegas, a Iunone, quae dea partus et, hoc naufragium generatur. Man sieht, daß die Gottheit Juno wiederum wichtig ist für die Deutung; hier ist sie nicht das – negative – Element „Luft“, sondern die – positive – Geburtsgöttin. Landino las bereits 1462 und den folgenden Jahren am Studio Fiorentino die Aeneis; die Disputationes sind wohl 1472 fertiggestellt worden. Vgl. dazu: Thurn, 2002 (wie Fußn. 2), 18. Vgl. hier Thurn, 2002 (wie Fußn. 2), 30-41; Nikolaus Thurn: „Die Disputationes Camaldulenses von Cristoforo Landin“, in: Acta Conventus Neo-Latini XI. Proceedings of the 11th. International Congress of Neo-Latin-Studies, Cambridge 2000, Binghampton-New York 2003, 545-553 mit früherer Literatur. Vgl. grundsätzlich: Craig Kallendorf: In praise of Aeneas, Hamburg u.a. 1989.

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Heide Vergil.8 Grundsätzlich wurde also die Vorbildfunktion des Aeneas durchaus anerkannt; ein christlicher Held aber hatte etwas Besseres zu sein als ein heidnischer. Ein humanistischer Dichter mußte die Gelegenheit nutzen, hierauf hinzuweisen, wenn sie sich ihm bot. Einen solchen Fall der Kritik finden wir an exponierter Stelle in der Carlias. Über weite Passagen verfährt Verino in seinem Epos mit seinem klassischen Vorbild, der Aeneis, recht selbständig – er übernimmt aus der Aeneis vor allem Situationen, die sich zugleich auch in der volksspachlichen Kultur finden.9 Aber besonders im ersten Buch erweist er sich als überaus enger Imitator Vergils, so sehr, daß man ihn fast einen Plagiator nennen könnte: Es ist ein Seesturm, der die Franken an die Küste von Buthrotum vor Korfu treibt, wo sie vom dortigen König aufgenommen werden wie Aeneas von Dido. Während der Seesturm der Aeneis von Juno entfesselt wird, ist es bei Verino der Teufel selbst, der ganz im Sinne der Vergilischen Juno sich rächen will am künftigen Vernichter seiner Religion. Stirbt bei Vergil der Trojaner Orontes im Seesturm, so kommt bei Verino ein gewisser Rutenus unter ganz ähnlichen Bedingungen zu Tode. Man kann in der Seesturmepisode jeden Textabschnitt der Carlias einem der Aeneis zuordnen – und deswegen lassen sich gerade am Beispiel des ersten Buches selbst aus kleineren Abweichungen große Unterschiede im Konzept herausarbeiten. Die Seesturmschilderung der Carlias wird nun zuerst in Abschnitte gegliedert, dann werden die entsprechenden Abschnitte der Aeneis zusammengefasst, und beide Passagen werden schließlich in einer Tabelle einander gegenübergestellt. Bedeutsam ist die Reihenfolge der Handlungen; die Verschiebung einzelner Handlungselemente zwischen Aeneis und Carlias wird sich als entscheidend für die Interpretation erweisen. Das Proömium der Carlias hat elf Verse; dann wendet sich der Blick des Dichters dem Teufel zu, der von einem Felsen aus die vom Orient heimkehrende Flotte der Franken entdeckt (12–31a) und in einer Rede seine Absicht erklärt, sie zu vernichten (31b–50). Er bringt die Winde in Aufruhr (51–57); es folgt die Seesturmschilderung (58–79). Der Franke –––––––––––– 8

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Ein ähnlicher Fall liegt vor in der Fortschreibung der Aeneis durch Pier Paolo Decembrio und Maffeo Vegio: Nicht der Tod des Turnus hat hierzu den Ausschlag gegeben, sondern das Ausbleiben der doch in Aen. 1,205 prophezeiten Ruhe, in der die Trojaner mit Lavinium ein zweites Troja bauen und sichere Wohnsitze einnehmen. Vgl. hier auch Ben J. Hijmans: „Aeneia virtus. Vegio’s supplementum to the Aeneid“, CJ 67, 1971/1972, 144-155. So durchreist in der Carlias der Held auch nicht nur die ‘Hölle’ Vergils, sondern gelangt bis in den Himmel; und so gründet er im letzten Buch des Epos die Stadt Florenz (ein Gegenstück zu Lavinium) neu und führt einen Triumphzug durch Aachen. Vgl. hierfür Thurn, 2002 (wie Fußn. 2), 22-26.

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Rutenus kommt im Sturm um (80–96), worauf sich Karl der Große in einem flehentlichen Gebet an Gott wendet, die Flotte doch zu erretten (97–113). Sein Gebet wird erhört: Man vernimmt die Stimme Gottes aus den Wolken, der den Seesturm schlichtet (114–124); die Flotte ist gerettet und erreicht den Strand von Buthrotum. In der Aeneis sieht es folgendermaßen aus: Das Proömium umfaßt die Verse 1–11; dann erzählt Vergil vom einstigen Schicksal Karthagos und dem der Trojaner (12–33). Nun wendet sich sein Blick Juno zu, die die Trojaner entdeckt (34–36) und erst für sich eine Rede hält (37–49) und dann Aeolus überredet, einen Sturm zu entfachen (50–80). Es folgt der erste Teil der Sturmschilderung (81–91); darauf rückt Aeneas ins Blickfeld, der vor Verzweiflung sich den Tod wünscht (92–101); erneut wird der Sturm beschrieben (102–112), der den Tod des Orontes und die Auflösung der Flotte verursacht (113–123). Neptun bemerkt nun den nicht von ihm autorisierten Seesturm und beruhigt ihn (124–156). Die trojanische Flotte erreicht den Strand von Karthago. Eine tabellarische Gegenüberstellung ergibt folgendes: Aeneis:

Carlias:

1–11 12–33 34–36 37–49 50–80

Proömium Schicksal Karthagos Juno entdeckt Aeneas Junos Rede Juno und Aeolus

81–91 92–101 102–112 113–123 124–156

Seesturm (1. Teil) Aeneas’ Rede Seesturm (2. Teil) Orontes’ Tod Neptun beendet den Sturm

1–11

Proömium [status Italiae?] 12–31a Sathan entdeckt Karl 31b–50 Rede des Sathan 51–57 Sathan erregt den Seesturm 58–79 Seesturm 80–96 Rutenus’ Tod 97–113 Karls Rede 114–124 Gott beendet den Sturm

Die Beschreibung in der Carlias ist um 32 Verse kürzer als die der Aeneis. Das war nicht immer so: Die Carlias, von der mehrere frühere Versionen erhalten sind, hatte ursprünglich eine um mindestens 12 Verse umfangreichere Einleitung, die aber später gestrichen wurde.10 Damit war die Passa–––––––––––– 10 Die Carlias ist in ingesamt 6 Fassungen erhalten. Die Urfassung (begonnen wohl 1465) ist nur in einem Fragment greifbar, das nicht das erste Buch enthält; es folgen zwei eng verwandte Fassungen von 1480 (M) und 1481 (P); dann die wiederum eng verwandten Fassungen 1486 (B) und 1489 (R: dies ist der stets zitierte Text) und schließlich eine undatierte Neubearbeitung (L). In der Fassung M hat das Proömium der Carlias 15 Verse (R: 11); darauf folgen noch einmal 10 Verse

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ge ursprünglich nur um 20 Verse kürzer als ihre Vorlage. Soweit wir jedoch wissen (die Urfassung ist bis auf ein Fragment verloren), hatte auch die längere Fassung kein Gegenstück zu dem Gespräch der Juno mit Aeolus noch zu dem des Neptun mit den Winden. Die Carlias präsentiert folglich, auch wenn einzelne Abschnitte exakt die gleiche Länge aufweisen wie ihre Entsprechungen in der Aeneis, eine Vereinfachung ihres Vorbildes: Sie konzentriert sich auf die Antagonisten Sathan und die Franken, während Vergil noch eine Reihe von göttlichen Nebenpersonen auftreten läßt – Aeolus, die ihm untergeordneten Windgötter und neben Neptun noch seine Diener Cymothoe und Triton. Eine Erklärung wäre natürlich der Monotheismus des Florentiners, aber keine hinreichende: Auch Verino hätte, wie andere Passagen seines Werkes zeigen, mindere Gewalten wie etwa Engel handeln lassen können.11 Seltsam scheint zudem, daß hier Gott selbst zu den Franken spricht: ungebührlich, weil damit die Majestät Gottes verletzt zu werden scheint, der sich der Mittlerrolle von Engeln bedienen könnte; ungewöhnlich, weil in den volkssprachlichen Ritterepen niemals Gott direkt zu Wort kam; und poetisch atypisch, weil das Vorbild Vergil hierfür nicht als Entschuldigung dienen kann: Bei Vergil wendet sich Neptun an die Elemente, die Götter machen die Sache unter sich aus. Es bleibt also dabei: Das christliche Epos präsentiert eine starke Vereinfachung seines Vorbildes ohne sofort erkennbare Notwendigkeit. In der Abfolge der Handlungen hält sich die Carlias bis auf einen Punkt chronologisch an die Handlungsfolge der Aeneis: Zuerst entdeckt der Antagonist die feindliche Flotte, hält eine Rede, wühlt dann den Sturm auf. Es folgt eine Sturmschilderung, darauf hält der Protagonist eine flehentliche Rede, schließlich wird der Sturm von einer freundlichen Gottheit gestillt. –––––––––––– einer ausführlicheren Beschreibung der Flotte, bis die Handlung mit Vers 14 der Fassung R wieder übereinstimmt. Aus 25 Versen der Fassung M sind somit 13 Verse der Fassung R geworden; die letzte Fassung L ist in der Verszahl identisch mit R. Zudem finden sich in M auf das Proömium noch eineinhalb Verse (15b-c: Quis post versa fuit dominantis moenia Romae / Ausoniae status), die in der Handschrift gestrichen wurden. Das ist wohl ein Restbestand der Urfassung, welche dann anstelle der ‘Gründe’ für Junos Zorn in der Aeneis einen status Italiae aufwies. 11 Grundsätzlich ist Verino äußerst sparsam mit übernatürlichen Gestalten und kennt auch keinen Götterapparat. Dennoch tauchen Engel (9,62-93) und göttliche Zeichen (2,135f.) in der Handlung auf Erden auf; allegorische Götter (Iustitia im 5.-7. Buch), Teufel und Erzengel findet man zuhauf in den Unterweltsbüchern. Einen besonderen Hinweis verdient die Tatsache, daß bei der Befriedung des Seesturms Gottes Wirken nicht dramatisiert wird, sondern zurückhaltend gesagt wird (1,118-120): Auditamque ferunt vocem de nube Tonantis: / „Ecce adsum; depone metum; confide! Vetamus / Ulterius rapidis Sathan sevire procellis.“

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Der eine Punkt, in dem sich die Abläufe unterscheiden, scheint allenfalls von erzähltechnischer Bedeutung zu sein: Bei Vergil stirbt Orontes nach der Rede des Aeneas, bei Verino stirbt Rutenus vor der Rede Karls. Doch ist diese Umstellung nur scheinbar nebensächlich, und ein Versuch, sie zu deuten, mag sich als überraschend lohnend erweisen. Verino hat sein Vorbild offenbar vereinfacht: Aeneas’ Rede ist eingebettet in eine mehrschichtige Sturmschilderung; sie bildet nur einen Teil im Chaos des Unwetters, wie auch der Tod des Orontes nur einen Teil davon bildet. Verino dagegen scheint es sich einfach zu machen: erst der Sturm, dann der Tod, am Ende eine Rede des gottgefälligen Helden, dem Gott sofort Gehör schenkt. Vielfach besteht noch immer das Vorurteil, eine Nachahmung könne nie so gut sein wie ihr Vorbild; die vorliegende Szene ist scheinbar ein einleuchtendes Beispiel für diese Auffassung.12 Allerdings macht ein Vergleich der Reden beider Protagonisten stutzig. In der Aeneis läßt der Sturm, der über die Trojaner hereinbricht, alles in seinem Dunkel verschwinden, bis auf das Antlitz des Todes selbst, das er zeigt; Aeneas reagiert darauf mit Panik (Aen. 1,92–102):13 Extemplo Aeneae soluuntur frigore membra; ingemit et duplicis tendens ad sidera palmas talia uoce refert: ‘o terque quaterque beati, quis ante ora patrum Troiae sub moenibus altis contigit oppetere! o Danaum fortissime gentis Tydide! mene Iliacis occumbere campis non potuisse tuaque animam hanc effundere dextra, saeuus ubi Aeacidae telo iacet Hector, ubi ingens Sarpedon, ubi tot Simois correpta sub undis scuta uirum galeasque et fortia corpora uoluit!’

–––––––––––– 12 So beispielsweise Christine Ratkowitsch: Karoli Vestigia Magna Secutus. Die Rezeption des „Aachener Karlsepos“ in der Carlias des Ugolino Verino, Wien 1999, 19: in Carlias 7,768f. wird Plato als breitschultrig (latis umeris) beschrieben; Ratkowitsch führt dies auf eine Wendung des „Aachener Karlsepos“ zurück (v. 172: humeris altis) und erklärt es als ein Attribut, „das allerdings, wie bei Zitaten häufig der Fall, (...) weniger gut paßt als altis der Karlsepiker.“ Natürlich ist das falsch, denn Verino greift auf den Serviuskommentar zu Aen. 6,668 zurück (namque Plato ab umerorum dictus est latitudine), aber es ist ein Zeichen für ein weitverbreitetes, unreflektiertes Vorurteil zur humanistischen Imitatio: Der Eindruck minderwertiger Nachahmung beruht häufig, vielleicht regelmäßig, auf einer geringeren Kenntnis der kulturellen Umstände, als man sie für die seit eineinhalb Jahrtausenden gut kommentierte Aeneis voraussetzen darf – und dies dürfte für alle neu entdeckten oder wenig bekannten Werke (wie die Carlias, aber auch die gesamte neulateinische Literatur) gelten. 13 Text nach: Roger A. Mynors (rec.): P. Vergili Maronis Opera, Oxford 1969.

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Da löste plötzlich Kälte dem Aeneas die Glieder; auf seufzte er, streckte beide Hände gen Himmel und sprach folgendes mit seiner Stimme: „Oh, drei und vierfach Glückliche, denen es zuteil wurde zu sterben vor den Augen der Väter unter den hohen Mauern von Troja. Oh, Tydide, stärkster im Volk der Danaer! Oh, daß ich nicht auf Ilions Feldern niederfallen durfte und durch deine Hand diese meine Seele aushauchen! Dort, wo der wilde Hektor vom Speer des Aiakiden getroffen liegt, wo der gewaltige Sarpedon, wo der Simoisfluß unter seinen Fluten so viele Schilde der Männer und Helme und gewaltige Körper verborgen wälzt!“

Die Rede in der Carlias folgt auf das Bild des untergehenden Schiffes des Rutenus, das stellvertretend für die Verwüstung der fränkischen Flotte steht. Schon in der Redeeinleitung unterscheidet sich Karl von Aeneas – während der Sturm den Rittern die Kraft raubt und die Steuermänner hilflos sind, verrichtet der Frankenkönig ein Gebet (Carl. 1,97-113):14 Heroum postquam vires rectoris et omnem Imperiosa maris tempestas vicerat artem, Francorum princeps geminas ad sydera palmas Substulit ac nudo supplex ita vertice fatus: „Aspice nos, Christe, et tantam depelle procellam! Affer opem miseris, instantique eripe leto Immeritas naves, monstris neu praeda marinis Ille tuus populus tumidis mergatur in undis, Tartareeque ferae sceleratum comprime virus! Ecce ferox livore tumet mortemque minatur, Et faciet, nisi nos caelo miseratus ab alto Ereptos undis tuta in statione reducas. Da, pater, optatos Latii pertingere portus, Si letus tua iussa sequor vitamque periclis Obiecto et sanctos Romana a sede fugatos Ad tua sacra patres Tarpeae reddere rupi Festino et sevos duce te expugnare tyrannos!“ Nachdem der gewaltige Meeressturm die Heldenkräfte und alle Steuermannskunst besiegt hatte, da hob der Fürst der Franken beide Hände gen Himmel und, mit bloßem Haupte, kniefällig sprach er so: „Schau auf uns, Christus, und wende ab von uns solch einen Sturm! Bring Hilfe den Armen, entreiße dem drohenden Tod die unschuldigen Schiffe, auf daß dies dein Volk nicht als Beute der Meeresmonster ertrinke in den schwellenden Wogen; vernichte das Gift, das frevelnde des Höllenuntiers. Sieh, wie er wild vor Eifersucht anschwillt und den Tod uns androht. Und vollbringen wird er es, wenn nicht du, vom hohen Himmel dich erbarmend, uns den Wellen entrissen in sichere Hut zurückführst. Gewähre uns, Vater, Latiums erhoffte Häfen zu erreichen, wenn ich froh deinen Befehlen gehorche und mein Leben den Gefahren aussetze und die heiligen Väter, vertrieben vom römischen Stuhle, zu deinem Heiligtum,

–––––––––––– 14 Text nach: Thurn, 1995 (wie Fußn. 2).

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dem tarpeischen Felsen zurückzuführen mich beeile und zu vertreiben unter deiner Führung die grausamen Tyrannen.“

Wollte man es sich nun einfach machen, dann erklärten sich die Unterschiede beider Reden durch eine traditionelle Eigenart der Imitatio: Will ein Dichter eine bestimmte Stelle eines Werkes, dem er folgt, imitieren, ohne sie zu plagiieren, so zieht er eine andere Stelle desselben Werkes heran und überträgt sie an diese Position. Ein solcher Vorgang hat denn auch hier stattgefunden: Karls Rede wurde aus Aen. 2,687–69115 (Rede des Anchises während der Flucht aus Troja) und Aen. 5,685–69216 (Rede des Aeneas angesichts des Schiffsbrandes in Italien) geschöpft, die bereits den gleichen Unterschied zum ersten Buch der Aeneis aufweisen, der auch für die Carlias zu konstatieren ist: Auf beide Reden folgt, genauso wie in der Carlias, sofort ein Zeichen der Götter. Verino hatte also eine funktionell nachgeahmte Szene – die Rede des Aeneas im ersten Buch – durch andere Szenen aus dem zweiten und fünften Buch der Aeneis inhaltlich gefüllt. Der Unterschied zwischen der Rede Karls und der des Aeneas im ersten Buch ist jedoch nicht nur durch eine solche rein formaltechnische Verschiebung zu erklären; er muß auch inhaltliche Gründe haben: denn in derselben Situation, einem Seesturm, ist Aeneas’ Rede eine ganz persönliche und verzweifelte, Karl dagegen ergibt sich selbst zwar dem Schicksal, denkt aber an seine Männer und seine Aufgabe vor Gott. Ganz offensichtlich soll diese veränderte Haltung dem humanistischen Leser signalisieren, ein christlicher Held habe in höchster Gefahr anders zu reagieren als ein heidnischer. Karl denkt an seine Ritter, Aeneas an sich selbst; Aeneas verzweifelt, Karl bleibt gottergeben. So ist denn die Rede Karls offenbar in besonderem Maße von christlichem Sendungsbewußtsein durchdrungen. Sie gliedert sich in drei Teile: Eine Bitte an Gott Sohn, die Unschuldigen vor der Gewalt Sathans zu retten; eine Beschreibung der Absichten des Teufels, die Franken von ihrer gottgefälligen Aufgabe abzuhalten; und eine weitere Bitte an Gott Vater, doch bei deren Durchführung zu helfen. Die Aufgabe ist die Rückführung der Päpste nach Rom, von wo die Langobarden sie vertrieben –––––––––––– 15 Aen. 2,687-691: at pater Anchises oculos ad sidera laetus / extulit et caelo palmas cum uoce tetendit: / ‘Iuppiter omnipotens, precibus si flecteris ullis, / aspice nos, hoc tantum, et si pietate meremur, / da deinde auxilium, pater, atque haec omina firma.’ 16 Aen. 5,685-692: tum pius Aeneas umeris abscindere uestem / auxilioque uocare deos et tendere palmas: / ‘Iuppiter omnipotens, si nondum exosus ad unum / Troianos, si quid pietas antiqua labores / respicit humanos, da flammam euadere classi / nunc, pater, et tenuis Teucrum res eripe leto. / uel tu, quod superest, infesto fulmine morti, / si mereor, demitte tuaque hic obrue dextra.’

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hatten;17 dies korrespondiert mit dem dritten Teil der Carlias, der Befreiung Italiens von der Langobardenherrschaft. Die Bilder, derer sich Karl in seiner Rede bedient, vermischen seine reale Situation – den Seesturm – mit christlicher Symbolik: der Sturm als Lebenssituation des Menschen, der sichere Hafen als Zuflucht ins Gottesvertrauen; Sathan als Schlange, deren Gift die Menschen zerstören will; die den Schiffbrüchigen drohenden Meeresungeheuer, die auf die Geschichte von Jonas und dem Wal (als Präfiguration von Tod und Auferstehung) anspielen. Während Aeneas lediglich an seine persönliche Situation fern von der Heimat zu denken scheint und sich sehnlichst wünscht, im aktiven Kampf gestorben zu sein, versteht Karl den Seesturm selbst als Kampf des Teufels gegen den Menschen und wünscht sich nur deshalb ein Überleben, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. Karl ist eben ein christlicher Held, Aeneas ein heidnischer; in ganz ähnlichen Situationen verhalten sie sich, ihrer Kultur gemäß, völlig verschieden. So könnte man die Rede Karls also als ein selbständiges Zeugnis einer anderen Kultur auffassen, das nichts anderes mit der Rede des Aeneas verbindet als artistische, formale Imitatio bei verändertem Inhalt; letztlich hätten die Worte des Frankenkönigs dann nichts mit den Worten des Trojaners zu tun. Das Gegenteil ist natürlich der Fall: Stück für Stück ist Karls Gebet eine Kritik an dem Verhalten des Aeneas und damit auch eine Kritik an der moralischen Botschaft der Aeneis selbst. Dies erschließt sich mit solcher Selbstverständlichkeit aber nur einem Leser des 15. Jh.s: Der gebildete Florentiner war mit der Civitas Dei des Augustin natürlich viel inniger vertraut als etwa mit Homers Odyssee, und es ist Augustins Kritik an der Aeneis, die den Schlüssel zum Verständnis der Rede Karls bietet. In Kapitel 21 des zehnten Buches geht Augustin darauf ein, daß für einen gewissen Zeitraum den Dämonen von Gott die Freiheit eingeräumt werde, mit Hilfe der von ihnen besessenen Menschen auch sich von Unschuldigen Ehren erweisen zu lassen; so erklärt Augustin, warum Gott Unheil zuließ. Er verweist auf die Nützlichkeit der Verfolgung, da durch sie die Zahl der Märtyrer steige und in ihnen die Kirche verherrlicht werde. Die Märtyrer nennt er die wahren Heroen der Christen, denn nicht von den Gefolgsleuten der Hera leite sich das Wort Heros ab, sondern von den Bezwingern der Dämonen und damit der Hera bzw. Juno selbst, –––––––––––– 17 Man möge hier nicht dem Fehler verfallen, historische Korrektheit vom Epos zu verlangen: Verino mischt frei die Sage von der Blendung Papst Leos durch die Römer mit dem ihm bekannten politischen Zwist zwischen den Langobarden und Rom – obwohl die Langobarden mittlerweile größtenteils katholisiert waren, werden sie bei Verino allesamt als Arianer dargestellt. Auch wird Karl im Epos durch Papst Hadrian zum Kaiser gekrönt, wiewohl Verino es besser wußte.

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da Juno die „Luft“ verkörpere und die Dämonen „Luftgeister“ seien (civ. 10,21):18 Hoc enim nomen (i.e. heros) a Iunone dicitur tractum, quod Graece Iuno Ἥρα appellatur [...] Sed a contrario martyres nostri ‘heroes’ nuncuparentur, [...] quod eosdem daemones, id est aerias vincerent potestates et in eis ipsam, quidquid putatur significare (i.e. aerem), Iunonem. Man sagt nämlich, daß diese Bezeichnung (d.h. heros) von Juno abgeleitet wurde, da Juno auf Griechisch Hera genannt wird. [...] Aber unsere Märtyrer würden in einer Benennung a contrario „Heroen“ genannt, [...] weil sie eben diese Dämonen, nämlich die Luftgewalten, besiegten und in ihrer Gestalt auch Juno selbst, nach ihrer vermuteten Bedeutung (d.h. Luft).

Diese Stelle, die christliches Allgemeingut werden sollte, mischt stoische Allegorese, platonische Dämonenlehre und alttestamentarisches Gedankengut. Im Anschluss daran geht Augustin überraschend zur Kritik an Vergil und seinem Helden Aeneas über (civ. 10,21): Sed rursus ei (i.e. Iunoni) succumbit infeliciter ceditque Vergilius, ut, cum apud eum illa dicat (Aen. 7,310): ‘Vincor ab Aenea’, ipsum Aeneam admoneat Helenus quasi consilio religioso et dicat (Aen. 3,438f.): ‘Iunoni cane vota libens, dominamque potentem / Supplicibus supera donis.’ Vergil aber unterliegt ihr – der Juno nämlich – endlich unglücklich und weicht ihr, wenn bei ihm Juno zwar spricht: „Von Aeneas werde ich besiegt“, den Aeneas aber Helenus wie mit göttlichem Ratschlag ermahnt und sagt: „Willig bete du zu Juno und überwinde die mächtige Herrin mit demütigen Geschenken.“

Der christliche Heros hingegen, nach Augustin, handle besser als der Vergilische und überwinde Juno nicht mit unterwürfigen Gaben, sondern mit göttlicher Tugend. In Kapitel 22 schließt Augustin, die wahrhaft religiösen Menschen trieben die Dämonen aus, indem sie die Verfolgung durch sie erlitten und nicht zu ihnen, sondern zu Gott selber beteten (civ. 10,22): In eius ergo nomine vincitur, qui hominem adsumpsit egitque sine peccato, ut in ipso sacerdote ac sacrificio fieret remissio peccatorum, id est per mediatorem Dei et hominum, hominem Christum Iesum, per quem facta peccatorum purgatione reconciliamur Deo. Also wird er in dessen Namen besiegt, der Mensch geworden ist und Mensch war ohne Sünde, auf daß in ihm als Priester und Opfer zugleich die Sünden erlassen würden, nämlich durch den Mittler zwischen Gott und den Menschen, durch den Menschen Jesus Christus, durch welchen nach Reinigung von den Sünden wir mit Gott versöhnt werden sollen.

–––––––––––– 18 Text nach: Bernard Dombart u.a. (Hgg.): Aurelius Augustinus: De civitate Dei, Turnhout 41955 (= Stuttgart 1927-1929).

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Ganz offensichtlich läßt sich die Kritik an Aeneas, wie sie Augustin vorbringt, in ein enges Verhältnis zu Verinos Carlias bringen. Wenngleich sich Augustin auf die Aeneis im Ganzen, nicht auf den Seesturm bezieht und seine Zitate dem dritten und dem siebenten Buch der Aeneis, nicht dem ersten entnimmt, konnte der Humanist Verino offenbar doch eine Verbindung zum Seesturm im ersten Buch der Aeneis herstellen. Karl verhält sich ja genauso wie von Augustin gefordert: Er erduldet den Seesturm und unterwirft sich ihm nicht. Er ‘exorziert’ den Teufel, indem er zu Gott Vater und Gott Sohn spricht. Augustin versteht an der zitierten Stelle unter Juno das Element der Luft; von einem Seesturm spricht er allerdings nicht ausdrücklich. Was also brachte Verino dazu, die Augustinische Deutung auf den Seesturm, den der Aeneis wie auf seine eigene Schilderung, anzuwenden? Und was brachte ihn dazu, in der Seesturmepisode die Augustinisch-vergilische Juno durch Sathan zu ersetzen? Es ist ein selbstverständlicher Vorgang, daß ein Humanist, der die Aeneis zu verstehen versucht, um sie dann mit einem besseren Verständnis auf seine eigene Produktion anzuwenden, sich des besten Kommentars bedient, der damals zur Verfügung stand, und das war immer noch jener unter dem Namen des berühmten spätantiken Grammatikers Servius. Der Servius-Kommentar war nicht die einzige Grundlage des VergilVerständnisses zu Verinos Zeiten, hinzu kam noch neben dem allegorischen Kommentar des Fulgentius der grammatische des Ps.-Donat. Aber anders als die rein grammatisch-lexikographischen Verständnishilfen Donats und die durchlaufende Allegorisierung des Fulgentius bot Servius sozusagen beides: eine Erklärung einzelner Wörter, aber auch eine Deutung einzelner Situationen. So beklagt sich Juno in der Rede vor dem Seesturm (Aen. 1,46–47), daß sie schon so viele Jahre vergeblich Krieg gegen die Trojaner führe, obwohl sie doch eine Göttin sei, Schwester und Frau des Jupiter, und die Trojaner nur Menschen. Zu „Schwester und Frau“ findet sich nun im Kommentar des Servius folgende Erklärung (Serv. Aen. 1,47):19 Physici Iovem aetherem, id est ignem volunt intellegi, Iunonem vero aerem, et quoniam tenuitate haec elementa paria sunt, dixerunt esse germana. sed quoniam Iuno, hoc est aer subiectus est igni, id est Iovi, iure superposito elemento mariti traditum nomen est.

–––––––––––– 19 Text nach: Georg C. Thilo / Hermann Hagen (Hgg.): Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, 3 Bde., Hildesheim u.a. 1986 (2. Nachdruck = Leipzig, 1881-1887).

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Die Naturphilosophen sind der Meinung, man solle unter Jupiter den Aether, das heißt das Feuer, verstehen, unter Juno dagegen die Luft; und da diese Elemente sich gleichen in Bezug auf ihre Feinheit, werden sie „geschwisterliche“ genannt. Aber da Juno, das heißt die Luft, unter dem Feuer liegt, das heißt dem Jupiter, so ist der Name des „Ehemannes“ zu Recht dem darüber befindlichen Element gegeben. An der von Augustin zitierten Stelle (Aen. 7,310) beklagt sich wiederum Juno, von Aeneas trotz allem besiegt zu werden: vincor ab Aenea; sie will sich deshalb anderswo Hilfe suchen (Aen. 7,311). Die Stelle greift Junos Auftritt vor dem Seesturm wieder auf, wo sie ebenfalls die Absicht äußert, von anderswo Hilfe zu holen. Zu Vers 7,311 merkt Servius, mit deutlichem Bezug zur Seesturmepisode, folgendes an (Serv. Aen. 7,311): Quod autem Iuno ubique alieno uti introducitur auxilio, physicum est: natura enim aeris per se nihil facit, nisi aliena coniunctione, ventorum scilicet, qui creant nubes et pluvias. Daß nämlich Juno immer wieder geschildert wird, wie sie fremde Hilfe in Anspruch nimmt, muß man auf naturphilosophische Weise verstehen: Die Natur der Luft nämlich macht nichts aus sich selbst, es sei denn durch die Verbindung mit anderem, nämlich den Winden, die Wolken und Regengüsse erzeugen.

Dies erklärt natürlich auch, warum Juno im ersten Buch sich des Aeolus zur Erregung des Seesturms bedienen mußte. Zog Verino also, was mehr als wahrscheinlich ist, den Kommentar des Servius zu Rate, um das erste Buch der Aeneis zu imitieren, dann muß er über die Definition der Juno als Luft an die Augustinische Kritik an der Vergilischen „BeschwichtigungsPolitik“ des Aeneas erinnert worden sein, und die korrespondierenden Stellen des ersten und siebenten Aeneis-Buches bildeten dazu das verknüpfende Element. Diese naturtheologische Auslegung der Olympischen Götter (Pluto als Erde, Neptun als Wasser, Juno als Luft und Jupiter als Feuer oder Äther) hatte zwar gewiß eine lange Tradition – Augustin führt sie etwa auf Varro zurück (doch es ist schon bei Empedokles angelegt) –, aber wir brauchen auf diese Tradition bei einer Erklärung des Sathans in der Carlias keine Rücksicht zu nehmen: Servius und Augustin waren Zeitgenossen im 5. Jh.; beide hatten im 15. Jh. den Status einer Autorität für ihr jeweiliges Feld; und endlich war diese „Theologia naturalis“, auf die Servius wie Augustin sich stützen, zu Verinos Zeiten so allgemein als wirklicher Hintergrund antiken Götterglaubens anerkannt, daß es sogar Dichter gab, die Hymnen

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auf die heidnischen Götter als Verbildlichungen der Naturphänomene verfaßten.20 Was hier zusätzlich bedeutsam sein dürfte, ist die scheinbare Anerkennung dieses Weltbildes auch von Seiten der Bibel, ein Umstand, der uns wiederum in die Zeit des Augustin führt und auf Hieronymus, den Bibelübersetzer und Freund Augustins, verweist. Die Verbindung des Luftherrschers mit den Dämonen und damit auch die Verknüpfung der Juno mit Sathan legt nämlich die Bibel in Hieronymus’ Übersetzung selbst schon nahe: der Teufel als Herr der Elemente, besonders der Luft, taucht in dem Paulus-Brief an die Epheser auf (Eph. 2,1–2): Καί ὑμᾶς ὄντας νεκροὺς τοῖς παραπτώμασιν καὶ ταῖς ἁμαρτίαις ὑμῶν ἐν αἷς ποτε περιεπατήσατε κατὰ τὸν αἰῶνα τοῦ κόσμου τούτου· κατὰ τὸν ἄρχοντα τῆς ἐξουσίας τοῦ ἀέρος·

Hieronymus übersetzt folgendermaßen (Vulg. Eph. 2,1–2): Et vos, cum essetis mortui delictis et peccatis vestris, in quibus aliquando ambulastis secundum saeculum mundi huius, secundum principem potestatis aeris huius

In der Lutherübersetzung heißt die Stelle unverbindlicher:21 Vnd auch euch / da jr tod waret/ durch Vbertrettung vnd Sünde, in welchen jr weiland gewandelt habt / nach dem lauff dieser Welt / vnd nach dem Fürsten / der in der lufft herrschet …

Hieronymus aber spricht von dem princeps potestatis aeris huius, wörtlich: dem „Fürsten der Macht dieser Luft“, also nicht nur vom „in der Luft Herrschenden“, sondern vom „über die Luft Herrschenden“. Die Verbindung zu Juno hatte natürlich schon Hieronymus’ Freund Augustin hergestellt, und so musste er sich fragen, welche Tragweite die Versöhnung der Juno durch Aeneas eigentlich hatte. Wenn Aeneas in Juno den „Aer“ besänftigt, gesteht er diesem damit letztlich die Oberherrschaft zu. Ein solcher „Heros“ ist Diener der Hera – und das ist des Sathans –, nicht sein Überwinder. Ein christliches Vorbild des Überwinders des Sathans, also eines rechten Heroen, bot sich dagegen in der alttestamentarischen Gestalt des Hiob –––––––––––– 20 Vgl. hierzu etwa das vierte Buch der Hymnen des Michael Marullus: Drei Neapolitanische Humanisten über die Liebe. Antonius Panormita, „Hermaphroditus“; Ioannes Pontanus, „De Amore Coniugali“; Michael Marullus, „Hymni Naturales“. Lateinisch und Deutsch und mit Anmerkungen versehen von Nikolaus Thurn, St. Katherinen 2003 (Itinera Classica 3), wo die fünf Elemente als Götter angerufen werden; Juno ist hier die Luft, Jupiter der Aether. 21 Text nach: Martin Luther: Die gantze heilige Schrifft Deudsch, Originaltext von 1545 in modernem Schriftbild, hg. von Hans Volz, 2 Bde., Bonn 2004 (= Hans Luft: Wittenberg 1545); hier Bd. 2, 2356-2357.

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an: Dem Teufel wurde von Gott die zeitlich-begrenzte Macht über Hiobs Schicksal gewährt, um zu prüfen, ob er im Unglück von seinem Gottvertrauen abfallen würde. Sathan ist hierbei durchaus princeps aeris, Herrscher über die Luft, und das zeigt sich nicht zuletzt darin, wie er einen Sturm aufkommen läßt, der Hiobs Familie unter den Trümmern des zusammenfallenden Hauses begräbt.22 Der Vergil-Nachahmer Verino, mit dem Alten Testament nicht nur als guter Christ, sondern auch als Dichter, der später Altes und Neues Testament in Hexametern nachdichten sollte,23 innig vertraut, mußte bei Hiobs Klagen gerade an die Aeneis erinnert werden: Wenn Hiob ausruft (Vulg. Iob. 3,11): Quare non in vulva mortuus sum? / Warum bin ich nicht gestorben von Mutterleib an?, dann konnte ein Humanist nicht anders als an Aeneas’ Aufseufzer im Seesturm denken: Oh, daß ich nicht auf Ilions Feldern niederfallen durfte! Hiobs Klagen folgen auf seine Schicksalsschläge; er sagt sich aber nicht von Gott selbst los, sondern verteidigt nur seine Unschuld am Leiden. Am Ende ertönt die Stimme Gottes aus den Wolken; er wendet das Schicksal des Schwergeprüften zum Guten. Verino brauchte nur die Verbindung zwischen dem Vorbild aus dem Alten Testament und den Märtyrern des Augustin zu ziehen, und schon hatte er aus Augustins Kritik an Aeneas auch das positive Gegenmodell gewonnen. Wenn man sich anfangs wundern durfte, warum Gott aus den Wolken spricht, als er den Seesturm nach Karls Gebet beruhigt, so sieht man jetzt hierin das alttestamentarische Vorbild, das zur Vergilimitation hinzukommt. Juno-Sathan hat in Karl keinen zweiten Aeneas, sondern einen neuen Hiob gefunden. Hier ist Gottes eigenes Eingreifen gefordert. Beide Kapitel im zehnten Buch des Gottesstaates Augustins, die sich indirekt auch auf die von Verino nachgebildete Szene der Aeneis, den Seesturm, beziehen lassen, gaben Verino also den Hinweis, gegen welche Gewalten und auf welche Weise ein christlicher Held, der dem heidnischen Helden Aeneas entgegengesetzt werden sollte, vorzugehen habe. Sie erläutern, weshalb Verino Juno mitsamt Aeolus durch Sathan ersetzen konnte: weil Sathan mehr war als nur aer und so die Rollen der Juno und des Aeolus in sich vereinigte; sie erklären sogar, warum Karl sich gerade in diesem Augenblick, nämlich erst nach dem Tod des Rutenus und nicht –––––––––––– 22 Vulg. Iob. 1,18-19: Adhuc loquebatur ille, et ecce alius intravit, et dixit: Filiis tuis et filiabus vescentibus et bibentibus vinum in domo fratris sui primogeniti, repente ventus vehemens irruit a regione deserti, et concussit quatuor angulos domus, quae corruens oppressit liberos tuos, et mortui sunt; et effugi ego solus, ut nuntiarem tibi. 23 Das Vetus et Novum Testamentum ist nur als Fragment erhalten, nichtsdestoweniger stellte es ein Hauptwerk Verinos dar, vgl. Alfonso Lazzari: Ugolino e Michele Verino, Torino 1897, 200f.

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vorher, an Gott selbst wendet: Im Unterschied zur Aeneis mußte der Franke Rutenus zuerst sterben, dann Karl sein Gebet zum Himmel senden, weil ja auch Hiob zuerst geprüft wurde und dann seine Klage erhob. Das Dulden der Verfolgung durch den Teufel bedeutet seine Überwindung; das Gebet ist Ausdruck des Exorzismus; die Reaktion Gottes kommt als Belohnung für das unbeirrbare Ausharren im Unglück. Man muß den Seesturm der Carlias also so verstehen: Karl und die Franken werden von den aeriae potestates, den Luftgeistern, bei Vergil in Gestalt von Juno und Aeolus, bei Verino durch Sathan, in Versuchung gebracht. Sie sollen, durch das Unglück gebrochen, die Majestät des Bösen anerkennen. Gott läßt dies zu, da er im Leid die Menschen prüft, erzieht und verherrlicht. Rutenus wird, da er den Versuchungen bis aufs Letzte widersteht, zum Märtyrer.24 Spätestens mit dem Tod des Rutenus ist die Kraft des gemeinen Volkes gebrochen, ihr Führer Karl indessen wendet sich in dieser Not demütig an Christus. Er weist auf die gottgefällige Aufgabe hin, den einzigen Grund, der verhindert, daß alle Franken freudig jetzt schon den Märtyrertod sterben wollen. Daraufhin entzieht Gott Sathan wieder die ihm verliehene Gewalt. Die Flotte kann in einen Hafen einlaufen; sie wird nicht, wie in der Aeneis, zerstreut. Wie hatte sich dagegen Aeneas, in den Augen eines nach Augustin Interpretierenden, verhalten? Auch Aeneas wird von Juno-Sathan verfolgt, beim ersten Anzeichen von Ungemach verfällt er jedoch ins Klagen; nicht zu Unrecht geht ihm darum mit Orontes einer seiner Männer und eins seiner Schiffe verloren. Er hat der Macht des Sathans nicht trotzen können, und nur seinem Schicksal als Begründer des römischen Reiches ist es zu verdanken, daß ein anderes Element, das Wasser, sich seiner annimmt und die Macht nicht Junos (denn die ist bereits fortgegangen), sondern untergeordneter Gewalten wie der Winde eindämmt. Der Tod des Orontes ist für einen nach Augustin Interpretierenden die Strafe für die Klage des Aeneas. Der Seesturm in der Carlias ist damit das Ergebnis aus einem Verständnis der Aeneis, wie es ein ganzes Jahrtausend lang gültig war, und dieses Verständnis der Aeneis war ein durchaus kritisches. Was auch immer Vergils tatsächliche Motive gewesen sein mochten, einen Helden wie Aeneas zu formen, der im Angesicht eines Seesturmes so sehr ins Wehklagen verfällt;25 später jedenfalls bemerkte man durchaus die Verzweif–––––––––––– 24 Karl wird ihn später, im 8. Buch, unter den Seligen des Paradieses sehen: Carl. 8,692-694. 25 Oberflächlich betrachtet war es die Imitatio Homers und des fünften Gesangs der Odyssee; vgl. Hom. Od. 5,306-307: τρισμάκαρες Δαναοὶ καὶ τετράκις οἳ Ατρεΐδῃσι φέροντες· Natürlich geht auch die ὄλοντο / Τροίῃ ἐν

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lung des Trojaners und sah sie in einem eher negativen Licht. Ein wahrer Held, sagte man sich, jammert nicht, sondern duldet. Diese Kritik mag bereits von heidnischer Seite formuliert worden sein; das Märtyrerideal der Christen aber konfrontierte sie erst deutlich mit einem positiven Gegenmodell. Augustin bringt es auf den Punkt: Der wahre Held unterwirft sich nicht seinem Gegner, versucht ihn nicht zu versöhnen – denn unversöhnlich ist Sathan. Der wahre Held duldet bis zuletzt. Ein Heros dient sich nicht der Hera an, er überwindet sie; und er überwindet sie durch Dulden, nicht durch gottloses Klagen. Dies war das Heldenbild, das ins Mittelalter überliefert werden sollte. Doch hat es im 15. Jh. nicht länger einfache Akzeptanz, sondern wiederum eine Neubewertung erfahren. Karl ist kein Märtyrer in dem Sinne, daß er für seinen Gott stirbt. Im Gegenteil erfüllt er seine Mission, befreit siegreich die Italiener von der Fremdherrschaft der germanischen Barbaren – die langen Bärte der Langobarden werden abrasiert – und kehrt (im Epos jedenfalls) im Triumphzug in seine Hauptstadt Aachen ein. Er duldet zwar, wie hier im Seesturm, Leid, aber sein Sieg erfolgt nicht erst im Himmel, wie der eines Märtyrers, sondern hienieden auf Erden. Auch wird ihm nicht wie dem alttestamentarischen Hiob wiedergegeben, was ihm genommen wurde – im Gegenteil, es bleibt ihm das Wichtigste erst noch zu tun: die Vernichtung der Langobarden. Er ist ein Kreuzritter, nicht im Sinne des 12. Jh.s, sondern im Sinne eines einerseits romantischrückwärtsgewandten, andererseits pragmatisch-modernen Kreuzzugsideals, wie es für das 15. Jh. charakteristisch war.26 Das sagen schon seine Worte während des Seesturmes aus: Seine Aufgabe ist es, auf die Gott doch Rücksicht nehmen solle, indem er ihn verschone. Zum Ruhme Gottes gibt er nicht sein Leben, sondern nimmt das Leben anderer. –––––––––––– Beschwichtigung der Juno auf Odysseus’ Versöhnung des Poseidon zurück. Aber Verino hat die Odyssee wohl nie lesen können; vgl. Thurn, 2002 (wie Fußn. 2), 19. 26 Von Karl VIII., dem eine Fassung der Carlias gewidmet ist, war ein neuer Kreuzzug erwartet worden. Die Literatur der zum Kreuzzug auffordernden Humanisten ist immens. Man darf aber diesen häufig auch nur rhetorischen Kreuzzugsgedanken nicht mit jenen verschiedenen Strömungen durcheinanderbringen, die sich im 12. und 13. Jh. in den tatsächlichen Kreuzzügen äußerten. Karls Feldzug im Orient (die Bücher 2-4 der Carlias) fehlt beispielsweise völlig die Idee des militanten Pilgertums, die so typisch ist für die Kreuzzüge. Man darf auch nicht (so gegen Ratkowitsch) Verinos Kriegerideal mit den zu Zeiten der Kreuzzüge entstandenen und von ihnen geprägten französischen Chansons de Chevallerie vermengen: Schon im Rolandslied sieht man, daß der Tod des christlichen Ritters (hier: Roland) als Martyrium und Sieg aufzufassen ist; bei Verino hingegen stirbt nicht einer der Helden.

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Die Interpretation der Aeneis durch Verino ist also, wohlgemerkt, zwar durch die Interpretation eines Augustin beeinflußt, sie ist aber nicht eine ausschließlich Augustinische. Vielmehr sind drei historische Stadien des Heldenbildes in Verinos Darstellung eingeflossen: der leidende Held Vergils, der duldende Märtyrer Augustins, endlich der gottergebene, ‘humanistische’ Kreuzritter Verinos. Auch wenn die bisher vermerkten Verschiebungen der humanistischen Rezeption sich aus der christlichen Antike erklären, scheint doch gerade sie wieder zurück auf einen im Grunde heidnischen Pfad zu finden: Noch im Leben erreicht der Held die Erfüllung (hier die Vernichtung der Langobarden), nicht erst im Himmel. Er ist eine Lichtgestalt auf Erden durch seine Erfolge, nicht ein Vorbild durch sein Dulden. Der Heros ist Überwinder der Hera, ja, aber nicht durch das Erdulden ihrer Verfolgung, wie der Märtyrer, sondern indem er sie selbst verfolgt und besiegt: indem er die Päpste nach Rom wieder zurückführt, die arianische Langobardenherrschaft beendet. Die Umwertung des Begriffes des Heros – vom Besänftiger der Hera zu ihrem Überwinder – hätte also zunächst vom Handelnden zum Dulder und in der Zeit der Renaissance dann letztendlich wieder zurück zum Handelnden geführt. Aber man sollte dies nicht so verstehen, als feiere die Zeit Verinos endlich wieder das aktive Leben des tätigen Menschen im Gegensatz zum kontemplativen des fast schon mittelalterlichen Augustin. Man muß hier wiederum auf die Grundkonstruktion der Carlias schauen: Ihr liegen einerseits die allegorische Erklärung des Fulgentius, andererseits jene des Landino zugrunde.27 Das Konzept des Seesturms, der ja nach Fulgentius Allegorie der Geburt ist, wird von Verino (so jedenfalls lese ich die Stelle)28 hier um das Sakrament der Taufe bereichert, –––––––––––– 27 Für den heutigen Leser vielleicht befremdlich ist die Tatsache, daß Verino auf verschiedene Allegorien gleichzeitig zurückgreift, selbst wo diese sich gegenseitig ausschließen. Ein Text konnte damals aber polyvalent konzipiert werden und wurde auch so gelesen; die mittelalterliche Vier-Sinn-Interpretation war Grundlage von Produktion und Rezeption. Fulgentius interpretiert die Aeneis organischchronologisch (Lebensalter), Landino moralisch-transzendierend (Tugendstufen): Dies sind zwei verschiedene Deutungsebenen, die sich nicht ausschließen. 28 Vgl. Thurn, 2002 (wie Fußn. 2), 110. Jüngst (und erst nach Abschluß des Vorliegenden) ist eine Untersuchung über den Seesturm in der Carlias erschienen, in der Ratkowitsch möglichen Vorbildern – vor allem Alcimus Avitus’ Bibelepos De spiritalis historiae gestis und Corippus’ Johannes – nachgeht: Christine Ratkowitsch: „Hostiles irrumpunt undique fluctus. Der Seesturm in der ‘Carlias’ des Ugolino Verino und die spätantike Epik“, MLatJb 43, 2008, 57-80. Sie lehnt ausdrücklich (S. 60 und S. 76) einen Bezug auf die Taufe ab: Es wäre widersinnig, wenn der Teufel (ja Gegner des Christentums) mit dem Seesturm ausgerechnet die Taufe initiieren würde; Ratkowitsch verweist dagegen auf die seit Viktor Pöschl gängige Vergil-Deutung, das Unwetter präfiguriere den Krieg gegen Turnus (Ratkowitsch

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indem auf die seinerzeit traditionelle Exorzierung des Teufels angespielt wird: Diese markierte den Eintritt des Kindes in ein Leben, in dem es jedoch erst durch Taten sich das Himmelreich erringen musste. Im Epos will Sathan von Karl Unterwerfung; Karl verweigert sie ihm und treibt den Teufel in Gottes Namen aus. Nach Fulgentius läßt sich der Seesturm mit der Geburt (und dem Fruchtwasser), nach Verino mit der Geburt (und dem Taufwasser) vergleichen. Daher wird das Ideal des Märtyrers hier nicht angetastet, wenn man nach Fulgentius den Menschen von seinem Anbeginn, der Kindheit, her betrachtet; es wird lediglich ein anderer Aspekt des römischen Christentums betont: Das Himmelsreich erwirbt man sich durch ‘gute Taten’, nicht durch Nichtstun. Diese Neubewertung des Begriffes vom Helden – über den Dulder zum Kämpfer – ist damit kein Zeugnis für eine neue, mit der Renaissance aufkommende Bewertung der vita activa, des tätigen Lebens; sie ist aber sehr wohl ein Zeugnis für die Verschiebung der Gewichte im christlichen Tun vom Ideal des Märtyrers hin zum Ideal der ‘guten Taten’. Bedeutender noch ist die Allegorese des Landino: Wichtig für das veränderte Ideal des Helden ist, daß nach Landino das letztliche Ziel des Helden nicht die vita activa sei, sondern gerade deren Überwindung durch die kathartischen Tugenden des Büßers und die noetischen Tugenden des Heiligen; und bedeutsam ist deswegen, daß in der allegorichen Konstruktion der Carlias sich der Held während des Seesturms auf einer Stufe befindet, die jener der vitutes civiles und damit der vita activa entspricht. Wenn also hier die Eigenschaft des Christen angesprochen wird, sich durch Taten auszuzeichnen, und wenn diese Taten hier durchaus solche der vita activa sind, so darf man umso weniger diese Stelle für eine angebliche Hinwendung der florentinischen Renaissance zum „tätigen Leben“ heran–––––––––––– S. 57 und Anm. 2), und möchte den Seesturm der Carlias analog verstanden sehen. Warnen möchte ich hier vor der Unsitte, den Vergilimitatoren des 15. Jh.s ein Vergilverständnis späterer Zeiten (hier des 20. Jh.s) unterschieben zu wollen; man kann zwar nicht ausschließen, daß ein solches von Fall zu Fall auch seinerzeit gängig war, hat es dann aber aus zeitnahen Zeugnissen nachzuweisen. Daß der Teufel die Taufe einleiten sollte, ist nicht absurder, als daß die Geburtsgöttin Juno im Seesturm als Element ‘Luft’ Aeneas bedrohen und ihm nicht vielmehr als Geburtshelferin helfen wollte; und trotzdem ist dies die wirkmächtige Position des Fulgentius. Auch ich habe ein gewisses Unbehagen bei der Annahme, Verino wolle im Seesturm die Taufe symbolisieren; dies resultiert jedoch aus dem Widerspruch zwischen der Deutung Landinos und jener des Fulgentius. Da in der Carlias an drei exponierten Stellen das ‘Element’ Wasser eine zentrale Rolle spielt (neben dem ersten Buch die ‘himmlische’ Taufe Karls im 8. Buch und seine Salbung im 15. Buch), sehe ich aber keinen Spielraum, die Einwirkung der Fulgentius-Allegorese ausblenden zu können.

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ziehen, als die gegenwärtige Stufe des Helden ja gerade eine ist, die im Laufe des Epos überwunden werden soll. Gut ist das „tätige Leben“ in den Augen der Florentiner Humanisten durchaus, aber immer noch besser ist das kontemplative Leben eines Heiligen.29 Karls Verhalten im Seesturm ist somit nicht aus der Entwicklung des Epos isoliert zu interpretieren: Es stellt ein vorbildliches christliches Handeln dar, aber es ist einer bestimmten Situation im Leben des Christen zugeordnet: dem Augenblick, wo sein Leben tatsächlich von der Macht des Sathan in Gefahr gebracht wird. Sicherlich ist eine solche Situation in jedem Augenblick des Christenlebens zu befürchten, ja selbst Heilige sind vor der Versuchung des Teufels nicht gefeit. Aber für ein Epos, das die Entwicklung des Menschen exemplarisch darstellen möchte, ist der Augenblick, diese Versuchung zur Sprache zu bringen, ein früherer in der menschlichen Entwicklung: der Beginn des Lebens selbst. Daß ausgerechnet an der Aeneis ein solcher vielschichtiger Bewertungswandel stattgefunden hatte, ist kein Wunder: Sie wurde von jedem Gebildeten schon in der Schule gelesen; sie bot nicht nur die Möglichkeit, an ihr das Typische des Menschlichen zu veranschaulichen, sondern auch die Gewähr, daß diese Veranschaulichung an einem allgemein bekannten Gegenstand vonstatten ging. Hierbei ging es um jedes Wort, und jede noch so kleine Tätigkeit bekam dadurch ein bedeutendes Gewicht. Wie heute der brutale Todesstoß am Ende der Aeneis für Irritation sorgt, so tat dies früher die Besänftigung der Juno. Deswegen ist Kritik an der Aeneis, ja an der Gestalt des Aeneas selbst, natürlich kein Phänomen erst des 20. Jh.s, sie ist ein schon in der christlichen Spätantike notwendig auftretendes Element der Rezeption. Ganz offensichtlich wurde Aeneas schon früh als –––––––––––– 29 Landino sieht in Aeneas’ Kämpfen in Latium keinesfalls eine Bewährung in der vita activa, sondern eine auf geistiger Ebene; vgl. Cristoforo Landino: Disputationes Camaldulenses, hg. von Peter Lohe, Florenz 1980, 4,209: Quae omnia gravia ac periculis plena cum perpessus fuerit, quonam modo in Italia duriora passurus est? Non tamen procul a vero aberrat Sibylla. Cum enim a communi vita ac hominum coetu te in solitudinem vindicaveris, tunc acriores quasdam veluti faces earum rerum, quae reliquisti, memoria admovet et illarum desiderio acerrimo insurgunt morsus […]Venit in Italiam Aeneas, verum eo virtutum genere, quae purgatoriae appellantur, a quibus antea quam penitus expiata sit mens necesse est, ut acerrimum bellum, quem admodum nostri aiunt, spiritus adversus carnem gerat …In Italia vero, cum nondum cupiditatem rerum humanarum deponere valeat animus, bella excitantur, aspera illa quidem, sed non in quibus veluti apud Troiam succumbat, sed unde victor triumphansque parto regno redeat. Bei Verino kommt hier auch noch dazu, daß sich in seinen sieben Büchern der Kämpfe in Italien die vier Kardinaltugenden auf ihrer höchsten Stufe, aber auch die drei christlichen Tugenden repräsentiert finden: vgl. Thurn, 2002 (wie Fußn. 2), 41f. Der ‘Karl des Seesturms’ aber ist dessen ungeachtet Mensch der vita activa, seine Wünsche, Worte und Gedanken sind als solche der virtutes civiles zu lesen.

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der „perfekte nicht perfekte“ Mensch empfunden, ein Mißbehagen, das – so glaube ich – Vergil selbst schon erzeugen wollte, das Augustin zur Sprache brachte und das schließlich in einer extrem produktiven Epoche wie der Renaissance nicht in der Kritik steckenblieb, sondern den Versuch anregte, es besser zu machen.

Kannte der Humanismus „den anderen Vergil“? Zur two voices-Theorie in der lateinischen Literatur der frühen Neuzeit

THORSTEN BURKARD (Kiel) Die sogenannte two voices-Theorie bildet seit etwa 50 Jahren einen der anregendsten und interessantesten Ansätze in der neueren Vergilforschung, dem sich auch der Jubilar in mehreren Veröffentlichungen mit deutlich erkennbarer Sympathie gewidmet hat.1 Hier soll nun die Frage gestellt werden, ob sich diese Deutungsrichtung bereits lange vor ihrer gleichsam offiziell anerkannten Entstehung nachweisen lässt. Zu diesem Zweck gibt der erste Teil dieses Beitrags einen kurzen Überblick über diese Theorie, der dem Altphilologen, zumal dem Vergil-Spezialisten, nichts Neues bieten wird, aber für den Fachfremden eine knapp gehaltene Hinführung zum eigentlichen Thema bieten soll. Im zweiten Teil werden diejenigen Interpretationen untersucht, die Vorläufer der two voices-Theorie in lateinischen Texten der frühen Neuzeit zu entdecken glauben.

1. Die Geschichte der two voices-Theorie – ein kurzer Überblick Revolutionäre Paradigmenwechsel gibt es in der Klassischen Philologie selten. Dies galt bis vor einem halben Jahrhundert auch für die Vergilforschung, die sich seit ihren Anfängen in der Antike eher gemächlich-solide weiterentwickelt hat – die meisten modernen Ansätze, Methoden und Interpretationsweisen lassen sich bereits (zumindest in nuce) bei

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Werner Suerbaum: „Gedanken zur modernen Aeneis-Forschung“, AU 24.5, 1981, 67-103 (= 1981a); ders.: Vergils Aeneis. Beiträge zu ihrer Rezeption in Geschichte und Gegenwart, Bamberg 1981 (= 1981b); ders.: Vergils Aeneis, Stuttgart 1999, 372-375.

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Servius finden.2 Dies änderte sich in den sechziger Jahren mit dem Aufkommen einer pessimistischen Deutungsrichtung, die in ihrer extremen Ausformung in diametralem Gegensatz zu den bisherigen Auslegungen behauptete, die Aussage der Aeneis sei pessimistisch oder gar antiaugusteisch aufzufassen. Seither existieren – vereinfacht dargestellt – nebeneinander zwei Lager, das ‘optimistische’ und das ‘pessimistische’, ideologieskeptische oder gar -kritische,3 die Europäische Schule auf der einen, die Harvard-Schule auf der anderen Seite,4 so dass kein vollständiger Paradigmenwechsel stattgefunden hat, der die ganze scientific community erfasst hätte, sondern sich vielmehr eine Art Koexistenz entwickelt hat, die zuweilen auch in ein und demselben Forscher zutage tritt.5 In einer häufig zu lesenden Vereinfachung lässt sich sagen, dass im deutschen Sprachraum die Optimisten,6 im englischen eher die Pessimisten die Mehrheit stellen.7 Den Beginn der pessimistischen Deutung sieht man gemeinhin in dem Aufsatz von Adam Parry aus dem Jahr 1963 mit dem wirkungsmächtigen –––––––––––– 2

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Einen guten Überblick über die Methoden der antiken Vergil-Philologie gibt die Dissertation von Alexander Cyron: Die Poetologie der spätantiken Vergilkommentare, Diss. Kiel 2009 (dort auch weitere Literatur). Natürlich kann man Servius’ und Claudius Donatus’ Kommentare nicht mit Werken wie Heinzes Epischer Technik (Richard Heinze: Virgils epische Technik, Leipzig 31915, 61976) oder Pöschls Dichtkunst (Viktor Pöschl: Die Dichtkunst Vergils. Bild und Symbol in der Äneis, Berlin u.a. 11950, 31977) vergleichen, aber die Methoden sind in der Antike bereits angelegt. Antonie Wlosok: „Vergil in der neueren Forschung“, Gymnasium 80, 1973, 129-151, hier 143, fasst die pessimistischen Deutungen (Parry, Putnam, Williams, Quinn) unter dem Begriff des „ideologiekritischen Aeneisverständnisses“ zusammen. Vgl. zu diesen Ausdrücken und einer Beschreibung der beiden Schulen Walter Ralph Johnson: Darkness visible. A study of Vergil’s Aeneid, Berkeley 1976, 8-22 und 156f. Anm. 10 sowie Suerbaum, 1981a, 76. Zu einem Überblick über die Vertreter vgl. Markus Schauer: Aeneas dux in Vergils Aeneis, München 2007, 27f. So scheinen mir beispielsweise die Arbeiten des Jubilars auf eine wohlabgewogene Versöhnung der beiden ‘Schulen’ ausgerichtet zu sein. Im englischen Sprachraum spricht man auch von ‘New Augustans’ (vgl. Craig Kallendorf: „Historicizing the Harvard School. Pessimistic readings of the Aeneid in Italian Renaissance scholarship“, Harvard Studies in Classical Philology 99, 1999, 391-403, hier 392). Vgl. zu dieser Dichotomie beispielsweise Craig Kallendorf: „Aeneas in the ‘New World’. Stella’s Columbeis and Virgilian Pessimism“, in: ders.: The Virgilian tradition. Book history and the history of reading in early modern Europe, Aldershot u.a. 2007 (= 2007a), Aufsatz XIV, hier 2f. (zuerst auf Italienisch in: Studi Umanistici Piceni 23, 2003, 1-10).

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Titel The Two Voices of Virgil's Aeneid.8 Die Wahl gerade dieser Veröffentlichung ist insofern berechtigt, als die pessimistische Deutungsrichtung erst seit den sechziger Jahren von einer breiten Front von Forschern vertreten wird, so dass Parrys Beitrag kein Solitär blieb. 1965 erschien beispielsweise Putnams The poetry of the Aeneid.9 Man hat auch nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass die pessimistische Schule bezeichnenderweise erst nach bzw. durch die Erfahrungen des zweiten Weltkriegs und der Nachkriegskonflikte entstanden ist. Allerdings gab es bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg einen recht extremen Versuch,10 die Aeneis als Kritik an Augustus und seiner Herrschaft aufzufassen, nämlich von Francesco Sforza,11 dessen Aufsatz zu seiner Zeit allerdings nicht weiter beachtet wurde und offensichtlich auch die Harvardianer nicht beeinflusst hat.12 Sforza stellt –––––––––––– 8 Adam M. Parry: „The Two Voices of Virgil’s Aeneid“, in: Steele Commager (Hg.): Virgil. A collection of critical essays, New Jersey 1966, 107-123 (auch in: Adam M. Parry: The language of Achilles and other papers, Oxford 1989, 78-96 ([zuerst in: Arion 2, 1963, 66-80]). 9

Michael C.J. Putnam: The poetry of the Aeneid. Four studies in imaginative unity and design, Cambridge (Mass.) 1965; Putnams Ansätze finden sich auch in seiner Aufsatzsammlung: Virgil’s Aeneid. Interpretation and influence, Chapel Hill 1995. Ernst A. Schmidt: „Vergils Aeneis als augusteische Dichtung“, in: Jörg Rüpke (Hg.): Von Göttern und Menschen, Stuttgart 2001, 65-92, hier 81, bezeichnet Putnam als den Hauptvertreter der Harvardianer. 10 Soweit ich sehe, stellt Sforzas Deutung wohl den radikalsten Versuch dar, die Aeneis als anti-augusteisch zu deuten. 11 Francesco Sforza: „The problem of Virgil“, ClR 49, 1935, 97-108. Zwischen Sforza und Parry wäre noch Brooks zu nennen, der die Aeneis als einen Angriff auf die fehlbare menschliche Natur, auf die Notwendigkeiten von Geschichte und fatum bezeichnet hat (Robert A. Brooks: „Discolor aura. Reflections on the golden bough“, AJPh 74, 1953, 260-280, hier 280). Kallendorf, 1999 (wie Fußn. 6), 393 verweist auch auf essayistische Versuche des 19. Jahrhunderts und der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts; vgl. auch den Beitrag von Siegmar Döpp in diesem Band, S. 416-418. Des Weiteren kann man Pöschl (vgl. Fußn. 2) durchaus als „Anreger der Harvard-Schule“ bezeichnen (ohne dass man ihn selbst dazuzählen könnte), wie dies Werner Suerbaum vor knapp 30 Jahren getan hat (Suerbaum, 1981a [wie Fußn. 1], 76; 1981b [wie Fußn. 1], 35 Fußn. 64). 12 Sforza fehlt häufig in den Darstellungen der Geschichte der pessimistischen Richtung, vgl. aber Suerbaum, 1981b (wie Fußn. 1), 105 Fußn. 2 und Rudolf Rieks, der Sforzas Aufsatz „geradezu als Grundlegung der in der angelsächsischen Literatur sehr aktuellen ‘Two-Voices-Theory’“ bezeichnet (Rudolf Rieks: Vergils Dichtung als Zeugnis und Deutung der römischen Geschichte, in: ANRW 2.31.2, Berlin u.a. 1981, 728-868, hier 832). Sforza selbst betrachtete den Aufsatz, der keine Fußnoten hat und die Aeneis-Stellen nur ungefähr ausweist, als Vorstudie zu einer Monographie, die offenbar nie erschienen ist (Sforza, 1935

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die Frage, ob es neben der „face meaning“ des Textes noch „eine zweite feindselige Bedeutung“ gebe, ob Vergil also unaufrichtig gewesen sei und ein „disguised pamphlet“, ja sogar eine „Schmähschrift“ verfasst habe. 13 Um diese Frage bejahen zu können, argumentiert Sforza zum einen biographistisch: Der Nicht-Römer Vergil sei nur zwanzig Jahre nach dem Bundesgenossenkrieg geboren und habe mehrfach von Octavian/Augustus ausgehende Repressionen selbst miterleben müssen, so die Landenteignungen und den Freitod des Gallus. Zudem hätte der Epikureer Vergil die Götterwelt des Epos kaum schätzen können und habe als Verteidiger einer brüderlich-freien Gemeinschaft und „demokratischer Prinzipien“ (S. 103)14 das autokratische Ideal des Augustus ohne Wenn und Aber abgelehnt. Obwohl Vergil aufgrund dieser grundsätzlichen Diskrepanzen dazu gezwungen werden musste, die Aeneis zu verfassen, bewahrte er sich dennoch sein gutes Gewissen, indem er in diesem Werk seine wahren Ansichten verhüllt zum Ausdruck brachte.15 Bei der Deutung des Textes selbst geht Sforza dann in der Art vor, dass er Passagen, in denen man Aeneas ein unmoralisches oder ein heldenunwürdiges Verhalten vorwerfen könnte, als anti-augusteisch deutet, so zum Beispiel die berühmte Seesturmszene im ersten Buch (1,81-156). Vergil habe sich hier aber dadurch abgesichert, dass er bei eventuellen Nachfragen auf die entsprechende Odyssee-Szene hätte verweisen können, die er lediglich imitiert habe (5,297-312).16 Als Demokrat habe Vergil seine Anklagen der Monarchie hinter der negativen Darstellung der unfähigen, senilen Könige Priamus, Latinus und Euander verborgen (S. 102f.). Die Religion desavouiere Vergil auf verschiedene Weisen, so etwa indem er den contemptor deorum Mezentius überhöhe, der wie Vergil „das Joch des Aberglaubens“ („the yoke of superstition“) abgeworfen habe, oder indem er sich über die olympischen Götter lustig mache; so genieße etwa Jupiter überhaupt kein Ansehen und Juno setze sich für ihre Schützlinge Turnus –––––––––––– 13 14 15

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[wie Fußn. 11], 108). Putnam (vgl. Fußn. 9) und Quinn (vgl. Fußn. 26) z.B. haben sich anfangs weder auf Sforza noch auf Parry berufen (vgl. aber Fußn. 27). Sforza, 1935 (wie Fußn. 11), 97: „Is there, beyond the face meaning of the Aeneid, a second and hostile meaning?“ Auf S. 102 bezeichnet Sforza die Aeneis als „the most virulent libel ever written against Rome and its rule“. Offenbar kommt Sforza durch seine Aeneis-Lektüre auf diesen Gedanken. Ohne dies zu erwähnen, wendet Sforza hier die antike Theorie vom Logos eschematismenos (lateinisch Oratio figurata) an (vgl. dazu einführend Michael Hillgruber: „Die Kunst der verstellten Rede“, Philologus 144, 2000, 3-21). Die einfachste Definition des dieses scheme bzw. dieser figura gibt Quintilian: per quandam suspicionem, quod non dicimus, accipi volumus, non utique contrarium, ut in εὶρωνείᾳ, sed aliud latens et auditori quasi inveniendum (inst. 9,2,65). Sforza, 1935 (wie Fußn. 11), 101.

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und Dido fast überhaupt nicht ein.17 Wie später in der Harvard-Schule ist auch bei Sforza die Deutung des Protagonisten zentral (S. 105f.); Aeneas ist bei ihm der Inbegriff von Bösartigkeit und Immoralität; fast jede seiner Aktionen wird als feige, verbrecherisch oder dumm qualifiziert – kurzum: in ihm hat Vergil den prototypischen unfähigen Despoten dargestellt. In gewisser Weise nimmt Sforza auch Pöschls Methodik vorweg (freilich mit anderen Ergebnissen), indem er die Vergleiche in der Aeneis analysiert: Seiner Meinung nach werden die Trojaner hierbei eindeutig negativer dargestellt als ihre Gegner. Sforza ist sich seiner Rolle als primus inventor übrigens bewusst, er verweist nicht ohne Stolz darauf, dass seit 2000 Jahren diese revolutionäre Deutung ihres Entdeckers harre (S. 108). Für unsere Zwecke ist auch interessant, dass schon Sforza seine Deutung mit ihrer gesellschaftspolitischen Notwendigkeit begründete: Da der menschliche Geist nur in einer Atmosphäre der Freiheit Fortschritte machen könne, benötige die gegenwärtige Generation eine solche Interpretation (S. 108) – immerhin schreiben wir die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Zur Kritik von Sforzas Aufsatz hat bereits Rieks alles Notwendige gesagt:18 „Die völlige Einseitigkeit der Argumentation, die selbst richtige Beobachtungen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, macht eine Widerlegung überflüssig.“19 Das Schlagwort, das heute für die pessimistische Sichtweise meistens verwendet wird und auch titelgebend für diesen Aufsatz gewesen ist, stammt von Adam Parry.20 Er sah in der Aeneis zwei Stimmen: eine offizielle, panegyrische, triumphierende und eine private, klagende,21 mitfühlende und pazifistische („a public voice of triumph, and a private voice of regret“, S. 121), wobei die private Stimme die eigentlich dominierende sei und zugleich die triumphierende Stimme relativiere.22 Insgesamt überwie–––––––––––– 17 18 19 20

Sforza a.O. 103-105. Rieks, 1981 (wie Fußn. 12), 832f., das wörtliche Zitat auf S. 833. Johnson, 1976 (wie Fußn. 4), 156f. Anm. 10 spricht von „as if in caricature“.

Parry, 1966 (wie Fußn. 8), 107 zeigt übrigens ein ähnliches Sendungsbewusstsein wie Sforza, wenn er seine Deutung der Aeneis als „a kind of epiphany“ aufgrund einer zuvor unbeachteten Stelle bezeichnet.

21 Parry a.O. 111 spricht von „the frequent elegiac note“. Als einen melancholischresignativen Helden bezeichnet Wendell Clausen: „An interpretation of the Aeneid“, Harvard Studies in Classical Philology 68, 1964, 139-147, hier 140, Aeneas. 22 Vgl. Parry, 1966 (wie Fußn. 8), 121f.: „The private voice, the personal emotions of a man, is never allowed to motivate action. But it is nonetheless everywhere present. For Aeneas, after all, is something more than an Odysseus manqué, or a prototype of Augustus and myriads of Roman leaders. He is man himself; not man as the brilliant free agent of Homer’s world, but man of a later stage in civi-

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ge ein Gefühl des Verlustes („sense of loss“, S. 111). Für Parry ist Aeneas weniger ein Prototyp für Augustus als vielmehr „man himself“,23 nicht so sehr Handelnder als vielmehr Opfer der fata, jemand, auf dem der Fluch einer Mission lastet.24 Diese beiden Aufsätze sind gewissermaßen prototypisch für die two voices-Theorie: Die Aeneis soll ein melancholischer, ja pessimistischer Zug durchziehen, der im Extremfall als vehement imperialismus- und augustuskritisch gedeutet wird. Dabei wird die Rolle des Aeneas in den beiden Deutungen unterschiedlich bewertet: Ist er für Parry ebenso wie die anderen Kriegsteilnehmer ein leidender Held, so wird er bei Sforza zur Karikatur eines Helden und zum Zerrbild eines Anführers. Gewissermaßen werden beide Ansätze von Michael Putnam25 und Kenneth Quinn26 miteinander verbunden (auch wenn beide Sforza und Parry nicht kennen).27 Auch Putnam sieht in Aeneas ein Opfer, geht aber noch einen Schritt weiter als Parry, indem er in der Aeneis den Triumph von Gewalt und furor sieht, denen auch Aeneas unterliege, wodurch gerade die Ideale zerstört würden, für die der Titelheld eigentlich einstehen sollte. Daher ist Aeneas am Ende die Verkörperung des impius furor – aber keineswegs ein Modell für Augustus. Der Schluss werfe Schatten auf Aeneas, Augustus’ Herrschaft und die Pax Romana.28 Die Tötung des Turnus wird bei Putnam zur Tragödie der Aeneis (S. 196).29 Die Zerstörung von Turnus’ Welt negiere zu einem großen Teil die Deutung der Aeneis als einer idealen Vision der Größe des augusteischen Rom. Im Gegensatz zu Putnam deutet Quinn Aeneas durchaus als Parallele zu Augustus und kommt somit zu einem noch negativeren Augustus-Bild: ––––––––––––

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lization, man in a metropolitan and imperial world, man in a world where the State is supreme.“ Die Metapher voice kommt übrigens in Parrys Aufsatz nur an zwei Stellen vor und wird literaturtheoretisch nie erläutert. Ich weiß nicht, ob man die Provenienz dieses Ausdrucks schon einmal untersucht hat. Da Michail Bachtin erst später im Westen bekannt wurde, kann sein Konzept der Polyphonie Parry kaum beeinflusst haben. Vgl. das Zitat in der vorherigen Fußnote. Mit diesem Ansatz steht Parry bekanntlich durchaus im Einklang mit anderen ‘humanistischen’ Ansätzen der damaligen Zeit, vgl. etwa Karl Büchner, Art. Vergil, RE VIII A 1021-1486, hier 1460: die Aeneis sei ein Symbol für das menschliche Dasein. Vgl. Fußn. 9. Kenneth Quinn: Virgil’s Aeneid. A critical description, London 1968. Putnam hat aber 1984 Parrys Aufsatz als brillant bezeichnet („The hesitation of Aeneas“ [zuerst 1984], in: ders., 1995 (wie Fußn. 9), 152-171, hier 164. Putnam, 1965 (wie Fußn. 9), 151-201. Zu einer Widerlegung Putnams vgl. etwa Wlosok, 1973 (wie Fußn. 3), 143f.

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Durch die Kritik an Aeneas kritisiere Vergil auch Augustus;30 so stelle etwa Aeneas’ Raserei in Buch 12 eine Anspielung auf Augustus dar (S. 253: „and the portrait is hardly a flattering one“). Zugleich werden aber auch bei Quinn Augustus und Aeneas als Opfer des Krieges entschuldigt. Durch die Darstellung der Grausamkeiten des Krieges werde die Aeneis zu einem antimilitaristischen und humanitären Lehrstück (S. 58). Die ganze Diskussion um die two voices-Theorie zeigt, dass es durchaus möglich ist, einen Text, dessen grundsätzliche Auslegung offenkundig zu sein scheint, in entgegengesetzte Richtungen zu deuten. Die Frage, inwieweit die jeweilige Interpretation zulässig ist, hängt zu einem großen Teil von der Interpretationsgemeinschaft ab, um einen Terminus von Stanley Fish hier zu verwenden. In Zeiten, in denen staatliche Autorität, monarchische oder gar autokratische Herrschaftssysteme, Großmachtträume und Imperialismus selbstverständlich oder zumindest nicht verpönt waren, nahm man keinerlei Anstoß an einem Klassiker, der diese Weltsicht zu propagieren schien. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts fand ein Umdenken statt, das dazu führte, derartige Texte zu brandmarken oder zumindest skeptisch zu betrachten. Diese politisch motivierte intellektualistische Kritik an den ‘großen Erzählungen’ (im doppelten Wortsinn)31 erinnert an die Ressentiments der griechischen Philosophen gegenüber den homerischen Epen. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass sich die Reaktionen auf derartige Angriffe stark ähneln: War die erste Ebene eines Textes unerträglich, so musste sich eine zweite Ebene finden lassen, auf der das jeweilige Werk lesbar werden konnte – zumindest aus Sicht der jeweiligen Interpretationsgemeinschaft. Während man auf diese Art und Weise im griechischen Raum die Methodik der Homerallegorese schuf, versuchte man im 20. Jahrhundert Vergil als Klassiker zu retten, indem man ihn zu einem politisch korrekten Klassiker machte,32 der sich

–––––––––––– 30 Hier liegt eine genaue Umkehrung der traditionellen Auffassung vor, der zufolge Vergil durch Aeneas Augustus lobe (vgl. etwa Claud. Donat. praef. p. 2,20). 31 Der Terminus stammt bekanntlich von Jean-Francois Lyotard (Das postmoderne Wissen, Wien 1999, 112). 32 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Titel einer Podiumsdiskussion in Pittsburgh im Jahre 1972 mit dem Titel: „Vergil als Vertreter der litterature engagée“ (Suerbaum, 1981b [wie Fußn. 1], 7; CW 66, 1972/1973, 65-75) – eine Anspielung auf Jean-Paul Sartres Traktat Qu’est-ce que la littérature? (11947), vgl. etwa: „La littérature vous jette dans la bataille; écrire, c’est une certaine façon de vouloir la liberté; si vous avez commencé, de gré ou de force vous êtes engagé“ (S. 72, zitiert nach der Ausgabe Paris 2008).

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auch oder vor allem der Sache der Unterdrückten33 und Verlierer annahm.34 Interessant ist die Parallele zwischen diesen beiden Ehrenrettungen nicht nur deswegen, weil die interpretatorischen Methodiken vergleichbar sind, da sie auf eine Umdeutung des Inhalts zielen,35 sondern vor allem, weil es in beiden Fällen nicht zu einem Ausschluss aus dem Klassikerkanon gekommen ist. Im Gegenteil: Man hat den Eindruck, dass Vergil gerade wegen der Debatte um die two voices-Theorie wieder verstärkt wahrgenommen wurde. Bevor wir abschließend das einigende Band aller zur two voices-Theorie zählenden Ansätze zu bestimmen versuchen, sei eine provokative Frage zu einer für diese Deutungen zentralen Aeneis-Stelle vorausgeschickt: Legt der vergilische Text überhaupt eine moralische Deutung der Tötung des Turnus nahe? Anders formuliert: Thematisiert der Text die moralische Problematik einer derartigen Handlung? Oder überlässt er dem Leser diese Frage zur eigenständigen Beantwortung? Steckt die Antwort auf diese Frage womöglich weder im Text noch in Vergils (Erzähler- oder Autor-)Intention, sondern ausschließlich im Leser selbst? Es ist eine Sache, die Umstände der Tötung zu benennen, aber eine ganz andere, diese Handlung im Rahmen des Textuniversums – oder aber seiner eigenen Voreinstellungen – zu bewerten. Vielleicht gibt es eine (beabsichtigte?) Offenheit des Schlusses, die mit einer Offenheit (fast) des ganzen Textes der Aeneis korrespondieren könnte. Demgegenüber hatten die antiken Philologen versucht, Vergils Epos als abgeschlossenes Werk, d.h. coûte que coûte kohärent zu lesen, nämlich unter der Prämisse, dass Aeneas an keiner Stelle als eine negative Figur erscheinen kann und darf.36 Der Dichter, der –––––––––––– 33 Soweit ich sehe, hat man sich dabei nie die Frage gestellt, ob die Opposition Unterdrücker vs. Unterdrückter in Vergils Epos überhaupt eine Rolle spielt. 34 Vgl. auch Wlosok, 1973 (wie Fußn. 3), 150: „Der Hauptfehler der modernen Aeneisdeutung ist wohl der, daß sie aus Vergil weginterpretiert, was ihr nicht gefällt oder anstößig erscheint, und daß sie hineininterpretiert, was sie gerne hören möchte“, vgl. dagegen – mit deutlich größerer Sympathie – Suerbaum, 1981b (wie Fußn. 1), 39; vgl. auch dens. 1981a (wie Fußn. 1), 73-78. 35 Es wäre auch möglich gewesen, die aktuelle Problematik des Inhalts zuzugeben, aber die formalen Aspekte stärker zu würdigen. Die anstößigen Passagen hätten dann eine spezielle Behandlung erfordert. Dies war bekanntlich die Methode, die die Jesuiten etwa mit ihren Horatii purgati angewendet haben: An die Stelle der Umdeutung tritt partielle Unterdrückung. Eine weitere Möglichkeit ist natürlich die vollständige Ächtung. 36 Vgl. dazu Kallendorf, 1999 (wie Fußn. 6), 398; ders.: „Maffeo Vegio’s Book XIII and the Aeneid of early Italian Humanism“, in: Anne Reynolds (Hg.): Altro polo. The classical continuum in Italian thought and letters, Sydney 1984, 47-56, v.a.

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eine dazu passende réécriture der Aeneis schuf, war Maffeo Vegio (s.u., S. 43), dessen Aeneis-Supplement die ethischen Grauzonen bei Vergil unmissverständlich profiliert, so dass dem vir bonus Aeneas der vir malus Turnus gegenüber steht. Wen wundert es, dass es einem solchen Gedicht aufgrund seiner Eindimensionalität (also seiner mangelnden interpretatorischen Offenheit) an Leben fehlt?37 Gleichsam als Kompensation ergeben sich aber die Antworten auf die moralischen Fragen des Lesers wie von selbst – eine two voices-Theorie kann es daher für diesen Text nicht geben. Kommen wir zum gemeinsamen Nenner aller skizzierten Ansätze: Die Deutungen im Rahmen der two voices-Theorie bleiben nicht bei der Feststellung bestimmter Charakterzüge des Aeneas, einer melancholischelegischen Stimmung (die sich in der Tat kaum leugnen lässt) oder der Leiden38 der Trojaner und der anderen Personen der Handlung stehen, sondern sie greifen darüber hinaus und ordnen die Erzählung, den plot der Aeneis, in einen größeren Sinnzusammenhang ein: in einen augustuskritischen und/oder pessimistischen und/oder pazifistischen usw. Mit anderen Worten: Die Interpreten begnügen sich nicht etwa mit der einfachen Feststellung, ein Ereignis werde empathisch dargestellt, sondern sie deuten diese Darstellungsweise als vom Autor / Erzähler / Text intendierte Unterminierung des Optimismus, der sich aus den Durchblicken ergebe. Jedes einzelne ‘tragische’ Detail erhält in einem größeren Gesamtzusammenhang seinen Sinn und seine Position, ebenso sind charakterliche Fehler oder Vorzüge nicht einfach typisch menschlich oder charakteristisch für eine Person (im Sinne des decorum), sondern bedürfen einer weiteren, tieferen Ausdeutung, die man vielleicht als ideologische Deutungsebene bezeichnen könnte – während die reine Konstatierung eine literarische oder textimmanente Lesart wäre. In der ideologischen Lektüre wird Aeneas einerseits zu einem typischen Vertreter der Spezies Mensch (diese Verallgemeinerung ist bekanntlich nicht nur typisch für die Vertreter der two voices-Theorie), andererseits zu einer Chiffre für Augustus (auch diese –––––––––––– 53; Sonja Eckmann: „Das Aeneis-Supplement des Pier Candido Decembrio – die pessimistische Stimme der Aeneis?“, Neulateinisches Jahrbuch 4, 2002, 55-88, hier 69-71. 37 Vgl. Hans-Ludwig Oertel: Die Aeneissupplemente des Jan van Foreest und des C. Simonet de Villeneuve, Hildesheim 2001, 18: „Das humane Weltgedicht Vergils wird verengt auf ein epideiktisches Ziel.“ 38 Leiden sind ja nach Vergils programmatischer Aussage ein zentrales Motiv der Aeneis, vgl. Aen. 1,33: Tantae molis erat Romanam condere gentem (vgl. Wlosok, 1973 [wie Fußn. 3], 147; Werner Suerbaum: „Vergil und der Friede des Augustus“, in: Christoph Leidl / Siegmar Döpp [Hgg.]: In Klios und Kalliopes Diensten. Kleine Schriften von Werner Suerbaum, Bamberg 1993, 371-391, hier 387).

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Deutung ist nicht auf die two voices-Theorie beschränkt, ganz im Gegenteil). Die two voices-Theorie unterscheidet sich also von anderen Ansätzen nicht so sehr durch die Bewertung der Einzelbeobachtungen als vielmehr durch eine übergeordnete Interpretation, die in einem Spannungsverhältnis steht zu einer Deutung, die man allein aus der Lektüre der historischen Durchblicke gewinnen könnte.39

2. Die two voices-Theorie in der lateinischen Literatur der frühen Neuzeit Mit dieser tentativen Begriffsklärung wollen wir nun versuchen, der Frage nachzugehen, ob es Vorläufer der two voices-Theorie bereits in der frühen Neuzeit gegeben hat. Ein Vorwurf, den sich die Pessimisten gefallen lassen mussten, war der der Ahistorizität.40 Man behauptete, eine derartige Interpretation sei unter den spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen des 20. Jahrhunderts entstanden (was in gewisser Weise auch zutraf), so dass ein derartiges pessimistisches Epos vor 1950 überhaupt nicht hätte geschrieben werden können.41 Man richtete zudem an die Pessimisten die Frage, warum es fast 2000 Jahre gedauert habe, bis die zweite Stimme entdeckt wurde. Es waren unter anderem diese beiden Vorwürfe, die den ausgewiesenen Humanismus-Experten Craig Kallendorf dazu brachten, die historischen AeneisDeutungen zu sichten, und er glaubte, in der frühen Neuzeit fündig geworden zu sein.42 Den Wendepunkt (oder Paradigmenwechsel) markiert hier sein Aufsatz von 1999 über italienische Humanisten,43 den er 2007 zu

–––––––––––– 39 Insofern stehen beide Schulen (Optimisten und Pessimisten) auf demselben Boden, wie Schmidt, 2001 (wie Fußn. 9), 85f. zu Recht bemerkt: Die Optimisten bieten natürlich die entgegengesetzte übergeordnete ideologische Interpretation an. Schmidt will diesen parteilichen Deutungen die epische Objektivität (verstanden als die Erzählhaltung der homerischen Epen) entgegensetzen: „Vergil war Dichter und dichtete, gerade weil er nicht Parteigänger war“ (a.O. 86). 40 Vgl. Wlosok, 1973 (wie Fußn. 3), 150 und Karl Galinsky: „The anger of Aeneas“, AJPh 109, 1988, 321-348, hier 322. 41 Vgl. dazu etwa Kallendorf, 2007a (wie Fußn. 7), 4. 42 Richard F. Thomas unternahm es dahingegen, Spuren der two voices-Theorie auch in der Antike aufzuspüren (Virgil and the Augustan reception, Cambridge 2001). 43 Kallendorf, 1999 (wie Fußn. 6).

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einem Buch erweiterte.44 Kallendorf versuchte nachzuweisen, dass es bereits in der frühen Neuzeit „den anderen Vergil“ (so der Titel seines Buches) gegeben habe, der weitgehend unbemerkt neben dem „dominanten Paradigma“ (d.h. dem traditionellen optimistischen Vergil-Bild) existiert habe. Diejenigen Humanisten, die sich auf diese Lesart einließen, werden von Kallendorf als originelle Denker glorifiziert, die die in der Schule gelernten Wahrheiten hinterfragten und die Aeneis als Anstoß betrachteten, sich eine alternative Gesellschaft vorzustellen.45 Kallendorf hat für seine Zwecke mehrere lateinische Texte analysiert, am ausführlichsten das Epos Sphortias des Francesco Filelfo.46 Wir beginnen zunächst mit seiner Deutung von Metatexten, in denen über die Aeneis reflektiert wird: Der vergilische Aeneas wird von Francesco Petrarca (1304-1374) in dessen Traktat De otio religioso mit harten Worten kritisiert:47 er sei ein Vaterlandsverräter und ein Heide, der blutige Opfer darbringe. Petrarca wiederholt hier zum einen den schon antiken Vorwurf, Aeneas habe sein Vaterland verraten;48 zum anderen erneuert er die alte Kritik der Christen am Verhalten der heidnischen Götter und Helden, um dann Christus als wahren Vater und Gott zu preisen. Für Petrarca ist Vergil aber lediglich ein Exponent der heidnischen Grausamkeit und des paganen Götterkultes – während die Pessimisten Vergil ja unterstellen, mit den negativen Charaktermerkmalen des Aeneas auch eine bestimmte ideologische Kritik verbinden zu wollen. Weder behauptet Petrarca, Vergil relativiere den Optimismus der Durchblicke, noch sieht er, sozusagen im Bündnis mit Vergil, irgendeine Kritik an Augustus und der Aeneis. Ganz im Gegenteil: Petrarcas Kritik richtet sich sowohl gegen Aeneas als auch gegen Vergil.49 –––––––––––– 44 Craig Kallendorf: The other Virgil. ‘Pessimistic’ readings of the Aeneid in early modern culture, Oxford 2007. 45 Kallendorf a.O. 14. Die neulateinischen Texte behandelt Kallendorf unter dem Stichwort „marginalization“. 46 Es ist übrigens auffällig, dass meines Wissens bisher noch niemand versucht hat, die two voices-Theorie in den poetologischen Traktaten der frühen Neuzeit zu entdecken, deren Zahl bekanntlich Legion ist. Nach meiner eigenen Lektüreerfahrung etwa mit Scaliger, Minturno, Vossius und Jesuitenpoetiken gibt es nicht einmal kleinste Andeutungen in diese Richtung. 47 Die beiden Petrarca-Stellen bei Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 38-41. 48 Vgl. Serv. Aen. 1,647; 2,298. 49 Vgl. auch Antonie Wlosok: „Zwei Beispiele frühchristlicher Vergilrezeption: Polemik und Usurpation“, in: dies.: Res humanae – res divinae. Kleine Schriften, hrsg. von Eberhard Heck und Ernst August Schmidt, Heidelberg 1990, 437-459 (zuerst 1983), hier 443, die nachweist, dass Lactanz weniger speziell die Aeneis als

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Als pessimistisch deutet Kallendorf auch eine Stelle in Giovanni Pontanos (1426-1503) Abhandlung De fortitudine:50 Pontano bezeichnet dort Turnus als vir fortis, also als Muster der fortitudo. Diese Bezeichnung findet sich bereits in der antiken Vergildeutung, etwa bei Servius.51 Wenn wir also Kallendorf folgen wollten, der behauptet, Pontano habe damit die Aeneis als ein Gedicht gedeutet, in dem die moralischen Entscheidungen grau schattiert sind,52 so müsste dies bereits für Servius gelten – und damit für die Schultradition, von der sich Pontano laut Kallendorf angeblich abhebt. Aber auch hier gilt, dass Pontano diese Bemerkung nicht in einen größeren Zusammenhang einbettet; der tapfere Turnus ist für ihn kein Hinweis auf eine Abwertung der Trojaner und Römer (ebenso wenig wie für Servius).53 Kallendorfs Deutung stellt eine unzulässige Vereinfachung dar (und nicht etwa, wie er glaubt, eine Vertiefung). In Filelfos (s.u.) in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts verfasstem Traktat De morali disciplina weist Kallendorf auf die folgende Stelle hin: Irae fervor in magnis etiam viris […] reprehensione non vacat. Itaque non parum mirari Virgilium soleo, qui Aeneam, quem religiosum, quem pium, vel propter Caesarem Augustum laudare debebat plurimum, ostendit quandoque ira inferiorem.54

Kallendorf sieht in diesem Zitat eine Deviation von den damals üblichen Vergil-Interpretationen.55 In Wirklichkeit belegt das Zitat das genaue Gegenteil. Filelfo betont ja gerade, dass er sich über Vergils Darstellung wundern müsse, da er Aeneas ansonsten immer als vorbildlichen Helden darstelle. Filelfo wirft also Vergil implizit vor, die Konstanz der Figurendarstellung durchbrochen zu haben. Solche Verstöße gegen die Einheit–––––––––––– vielmehr das dahinter stehende heidnische Weltbild angreife (vgl. Schmidt, 2001 [wie Fußn. 9], 84); vgl. zu dieser Stelle auch Suerbaum, 1981, 105-110, der zudem auf eine Orosius-Stelle hinweist (a.O. 111 Fußn. 12). Kallendorf, 1999 (wie Fußn. 6), 393 zitiert Lactanz zu Unrecht als Beispiel für antiken Pessimismus. Vgl. zu diesem Problemkomplex auch den Beitrag von Nikolaus Thurn in diesem Band, S. 19-21. 50 Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 43f. 51 Vgl. Serv. Aen. 7,473; 8,614; 9,3. 52 Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 49. 53 Laut Kallendorf (a.O. 42f.) machen auch in Pier Candido Decembrios Aeneis-

Fortsetzung (die uns gleich noch beschäftigen wird) die positiven Epitheta Turnus zu einer Art Nationalheld.

54 Filelfo, De morali disciplina libri quinque, Venedig 1552, p. 71f. (zitiert nach Kallendorf, 2007b [wie Fußn. 44], 37). 55 Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 38.

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lichkeit der Charakterisierung festzustellen (dann aber zumeist wegzuerklären) war ja bereits das tägliche Brot der antiken Kommentatoren.56 Daher kann von einem „großen Schritt“57 in Richtung auf eine pessimistische Deutung keine Rede sein. Wir kommen damit zu Kallendorfs Behandlung der VergilNachahmungen: Eine Art e-contrario-Argumentation wendet er in seiner Vegio-Deutung an: Er stellt zwar fest, dass Maffeo Vegio (1407-1458) in seinem Aeneis-Supplement Aeneas noch lobenswerter darstelle als Vergil selbst, zieht daraus jedoch den Schluss, dass Vegio den Eindruck hatte, es gebe Ambiguitäten in der Aeneis und Vergil habe zu pessimistisch geschrieben!58 Selbst wenn dieser Schluss richtig wäre, so würde Vegio doch lediglich Vergil verbessern, weil er den Eindruck gehabt hätte, er (Vergil) habe seine Aufgabe nicht erfolgreich genug ausgeführt. Vegio hätte also Vergil in dessen eigenem Sinne korrigiert – was wohl auch der Fall war. Man fragt sich bei derartigen Deutungen, was ein Autor überhaupt noch schreiben kann, ohne sofort dem Harvard-Lager zugeordnet zu werden.59 –––––––––––– 56 Auch bei Lionardo Salviatis (1540-1587) Deutung der Aeneas-Figur, die Kallendorf a.O. 45-47 bespricht, handelt es sich lediglich um eine von Aristoteles inspirierte Kritik an der Uneinheitlichkeit der Charakterisierung. Auch hier richtet sich die Kritik gegen Vergil, dem es nicht gelingt, eine Figur durchgehend als moralisch einwandfrei zu zeichnen (übrigens kritisiert Salviati an dieser Stelle nicht etwa das Ende der Aeneis, sondern die Verführung Didos). Wenn Salviati feststellt, dass die Aeneis kein eigentliches Ende habe, so sollen damit nicht Aeneas’ Leistungen in Zweifel gezogen werden (a.O.), sondern Salviati beklagt hier – gut aristotelisch –, dass das Werk unvollendet ist. Auch die von Kallendorf a.O. 48f. behandelte Stelle bei Antonio Possevino (1533/1534-1611) lässt sich nicht für die two voices-Theorie vindizieren: Possevino lässt seine Dialogfigur im Dialogo dell’honore sagen, dass Vergil das Ende geändert hätte, wenn er nicht so früh gestorben wäre. Vergil wird also auch hier gerade nicht eine zweite voice unterstellt. Das Ende der Aeneis bedeutet keine „Bedrohung für die optimistische Lesart der Aeneis“ (48, im Original englisch), sondern für die Kohärenz des Textes. Kallendorf übernimmt hier übrigens die Interpretation von Laura Scancarelli Seem: „The limits of chivalry. Tasso and the end of the Aeneid“, Comparative Literature 42, 1990, 116-125, hier 116-118. 57 Kallendorf a.O. 38 (im Original englisch). 58 Kallendorf a.O. 41f. Dieselbe Ansicht findet sich bei Thomas, 2001 (wie Fußn. 42), 279-284. Richtig verweist dagegen Oertel, 2001 (wie Fußn. 37), hier 204, darauf, dass Vegios Interpretation „aus der Tradition und dem Zeitgeist vorgegeben“ war. 59 Ebenso wenig überzeugt Kallendorfs Lesart von Giulio Cesare Stellas Columbeis (11585, 21589) in seinem Aufsatz von 2003 (vgl. Fußn. 7). Auch hier sind die further voices, die Kallendorf entdecken will, nichts anderes als nachvollziehbare Darstellungen der einzelnen Figuren, die dem decorum der Charakterisierung folgen. Auch hier – wie im Falle von Decembrio (s.u.) – sollte zudem die

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Ausführlicher hat sich Kallendorf mit der Sphortias des Francisco Filelfo (1398-1471)60 beschäftigt.61 Dieses panegyrische Epos handelt von dem Condottiere und Mailänder Herzog Francesco Sforza (1401-1466), dem Begründer des gleichnamigen Herrschergeschlechts. Nach dem Tode des Herzogs Filippo Maria Visconti im Jahr 1447 stützte sich die neugegründete Aurea Repubblica Ambrosiana zunächst auf die Hilfe des Condottiere, um sich gegen Venedig zur Wehr setzen zu können. Sforza wechselte jedoch bald die Seiten und machte sich 1450 zum Herzog von Mailand. In diesem Jahr begann Filelfo mit seiner Sphortias,62 an der er etwa 30 Jahre seines Lebens gearbeitet hat. Das Werk war ursprünglich auf 16 Bücher geplant;63 die ersten vier wurden 1455 veröffentlicht, 1463 die Bücher 5-8.64 Die Tatsache, dass das Epos nie gedruckt wurde, führt Kallendorf darauf zurück, dass es nicht das erhoffte Publikum gefunden habe. Die Erklärung ist wohl einfacher: Zur Entstehungszeit der Sphortias steckte der Buchdruck noch in seinen Anfängen; zudem wurden damals vorzugsweise andere Textsorten gedruckt. Außerdem ‘veröffentlichte’ Filelfo das Werk vor allem dadurch, dass er im Laufe der etwa ein Viertel––––––––––––

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Unvollendetheit des Epos vor allzu weitgehenden Deutungen warnen. Ob die Änderungen von der ersten zur zweiten Auflage wirklich dazu dienen sollten, die weiteren Stimmen zum Schweigen zu bringen (Kallendorf, 2007b [wie Fußn. 44], 9f.), müsste man noch einmal gründlich prüfen. Natürlich kann man jede Änderung tiefgründig ausdeuten. Aber die von Kallendorf vorgebrachten Argumente haben zumindest mich nicht überzeugt. Die einschlägige Literatur zu Filelfo findet sich bei Kallendorf (wie Fußn. 44); ergänzend sei die Odenausgabe von Diana M. Robin hinzugefügt (mit englischer Übersetzung, Cambridge 2009). Die Sphortias ist bis heute ungedruckt (Kallendorf, 2007b [wie Fußn. 44], 17), es existieren neun Handschriften (vgl. den Überblick bei Kallendorf a.O. 228-230). Der genaue Inhalt des Epos muss uns hier nicht interessieren, eine knappe Zusammenfassung findet sich bei Kallendorf a.O. 50f. 57f. Eine Vorläuferin hatte Kallendorf in Diana M. Robin (Filelfo in Milan. Writings 1451-1477, Princeton 1991), die hier und da gewisse ‘pessimistische’ Tendenzen bei Filelfo entdecken wollte, aber vor allem wegen dessen Brief an Ciriaco d’Ancona davor zurückschreckte: Filelfo bewege sich sozusagen gegen die Harvard school auf den traditionellen Bahnen eines Servius oder Fulgentius (Robin a.O. 75). Parallel dazu arbeitete Filelfo an einer Biographie Sforzas mit dem Titel De vita et rebus gestis Francisci Sphortiae – offenbar wurde dieses Projekt aber nie konsequent in Angriff genommen, geschweige denn beendet (Kallendorf, 2007b [wie Fußn. 44], 22f.). Kallendorf a.O. 61 Fußn. 93. Filelfo änderte aber diesen Plan häufiger (a.O.). Kallendorf a.O. 50 und 57. Die Bücher 9-11 sind in einer einzigen Handschrift unvollständig auf uns gekommen (Kallendorf a.O. 61 Fußn. 93).

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jahrhundert andauernden Arbeit einzelne Teile des Werkes an verschiedene Herrscherhäuser verschickte. Aus diesem Grunde ist auch die Zahl der erhaltenen Handschriften (neun) relativ groß: Filelfo hat die Sphortias als Specimen seines Könnens angesehen und daher sozusagen als Werbematerial an andere Herrscher versandt, um sie als Patrone zu gewinnen.65 Sforza selbst hat sich offenbar nie sonderlich für das Epos interessiert, worüber sich Filelfo auch beklagt hat.66 Kallendorf gesteht – als einer der besten Kenner der Materie – zwar zu, dass es in Filelfos Epoche üblich war, die Aeneis als enkomiastisches Gedicht zu lesen.67 Die Grundlage seiner Interpretation bildet aber die Annahme, dass Filelfo Vergils Epos anders auffasste: er habe „weit mehr Ambiguitäten in Vergils moralischer Welt entdeckt als die meisten seiner Zeitgenossen“.68 Zu diesem Schluss gelangt Kallendorf, indem er die Sphortias nach der folgenden Methode analysiert (S. 50-66): Er sucht nach moralischen Grauzonen, nach Stellen, an denen ein Schatten auf den (nach dem Vorbild des Aeneas gestalteten)69 Helden fällt, und schließt daraus, dass diese Charakterzeichnung von Filelfos pessimistischer AeneisDeutung beeinflusst sei.70 Kallendorfs negative Interpretationen von Sforzas Charakter sind kaum überzeugend, soweit ich dies allein aufgrund seiner Ausführungen nachzuvollziehen vermag.71 Aber selbst wenn sie zuträfen, würde dies noch lange nicht bedeuten, dass Filelfo in diesem Punkt die dunkle Seite der Aeneis imitiert. Es könnte sich auch lediglich um eine Kontrastimitation handeln. Kallendorf führt die ablehnenden Reaktionen der verschiedenen Herrscher gegenüber der Sphortias auf diese „Samen des Widerstands“ (S. 63) zurück.72 Sollte Filelfo, der dringend Patronage nötig hatte, wirklich so ungeschickt gewesen sein, diese „Samen“ der Rebellion absichtlich in –––––––––––– 65 66 67 68 69 70

Kallendorf a.O. 25-27. Kallendorf a.O. 27f. Kallendorf a.O. 30-34. Kallendorf a.O. 35. (Zitat im Original englisch). Einige Beispiele bei Kallendorf a.O. 51-53. Vgl. etwa Kallendorf a.O. 63: „These seeds [scil. of resistance] came from another way of seeing the Aeneid, as a critique of power evolving from the acknowledgement of failure“. 71 Ironischerweise ist Kallendorfs Kapitel zur Sphortias eine ausgezeichnete Darstellung von Filelfos Sforza-Lob! Filelfo arbeitet offenbar unter anderem mit der Opposition ‘Sforza vs. seine Soldaten bzw. Untertanen’, wobei letztere häufig von niederen Motiven getrieben werden. Diesen Gegensatz kann er übrigens kaum aus der Aeneis übernommen haben. 72 Zu den Gründen, die wohl in Wirklichkeit dahinter steckten, vgl. die bei Kallendorf a.O. 18-20 zitierten Zeugnisse von Zeitgenossen.

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seinem Gedicht zu verstecken, um so ein „dangerous poem“ (a.O.) an potentielle Patrone zu verschicken, also an Männer, die vielleicht selbst gefeiert werden wollten? Alle diese Texte betrachtet Kallendorf als Beleg für die Existenz einer zweiten, einer alternativen Deutungstradition im italienischen Humanismus, die aber die dominierende Interpretationsrichtung niemals zum Kampf um die Vorherrschaft herausgefordert habe; beide existierten vielmehr in einer „uneasy tension“ nebeneinander73 – gewissermaßen eine Rückprojektion der derzeitigen Forschungslandschaft. Wie lässt sich Kallendorfs Vorgehensweise bei der Interpretation der einzelnen angeblich pessimistischen Passagen beschreiben? Kallendorf legt zunächst eine Interpretationskoine zugrunde, die er auf den Nenner bringt, dass man Aeneas als moralisch vollkommenen Helden angesehen habe (was bereits eine Verkürzung ist); in einem zweiten Schritt wird sodann festgestellt, dass der behandelte Autor (Filelfo, Petrarca usw.) von diesem Konsens abweiche. Daraus wird letztendlich der Schluss gezogen, dass wir es mit einem „anderen Vergil“ zu tun haben. Setzen wir einmal (zu Unrecht!) voraus, dass Aeneas ansonsten als vollkommen makelloser Held gedeutet würde, so ist Kallendorfs Schluss insofern korrekt, als die ‘anderen’ Interpretationen von dieser Deutung zweifelsohne abweichen würden. Aber: Diese Abweichungen fallen nicht unter die two voicesTheorie. Eine derartige weitergehende, oben als ‘ideologisch’ bezeichnete Interpretation müsste vom Autor deutlich vorgetragen werden oder sich in mehreren Passagen verifizieren lassen. Beides ist aber in den behandelten Texten gerade nicht der Fall. Sonja Eckmann hat in einem verdienstvollen Aufsatz das kurze AeneisSupplement des Pier Candido Decembrio textkritisch herausgegeben und kommentiert sowie die Frage gestellt, ob diese Ergänzung des vergilischen Epos vielleicht die pessimistische Stimme der Aeneis darstellen könne.74 Eckmann geht es im Gegensatz zu Kallendorf nicht um den Nachweis, dass Decembrio eine zweite Stimme in Vergils Epos entdeckt habe (das scheint sie als gegeben vorauszusetzen). Vielmehr stellt in ihrer Deutung das Supplement selbst die konsequente pessimistische Ergänzung der Aeneis dar, das sein Vorbild gewissermaßen „dekonstruiere“ und einen „Affront“ gegenüber Vergil darstelle.75 Decembrios Supplement ist laut –––––––––––– 73 Kallendorf, 2007b (wie Fußn. 44), 49f. 74 Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36). 75 Beide Ausdrücke auf S. 65 des Aufsatzes.

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Eckmann eine Reaktion auf Vergils ambivalente Darstellungsweise.76 In dieser Interpretation greift Decembrios Text „die mahnende, pazifistische second voice der Aeneis“ auf und stellt die Kehrseite des Ruhmes dar (S. 71). Im Alter von gerade einmal zwanzig Jahren begann Pier Candido Decembrio (1399-1477) mit der Abfassung einer Fortführung der Aeneis,77 von der aber lediglich 89 Verse erhalten sind; ob der Rest verloren ist oder Decembrio selber das Projekt aufgegeben hat, lässt sich nicht mehr eruieren.78 Da es bei dieser wie auch immer zu erklärenden fragmentarischen Überlieferungslage natürlich problematisch ist, eine Tendenz feststellen zu wollen, kann man allenfalls unter einem gewissen Vorbehalt Vermutungen äußern. So schließt Eckmann aus der Tatsache, dass Decembrio nach dem Tod des Turnus die Situation bei den Latinern, also den Verlierern – und nicht etwa die Freude der Sieger – darstellt, dass das Supplement „damit einen kritischen Ansatz“ vertrete.79 Nun beginnt der erhaltene Text mit der Schilderung des Latinus in Laurentum und endet mit den Begräbnisfeierlichkeiten für Turnus: Woher wollen wir wissen, dass Decembrio nicht doch noch den Fokus auf das trojanische Lager gerichtet hätte? Das ist schon allein deshalb wahrscheinlich, weil das 13. Buch vermutlich den Umfang eines vergilischen Buches gehabt (also mindestens 700 Verse) und Decembrio wohl kaum ausschließlich Laurentum und Ardea als Schauplätze gewählt hätte. Eckmanns Behauptung, die Friedenszeit könne kaum der Inhalt des restlichen Buches gewesen sein, entbehrt jeglicher Grundlage – es sei denn, man leugnet grundsätzlich, dass es in literarischen Werken Peripetien und Meinungsänderungen der Protagonisten geben kann. Ebenso wenig kann man aus dem Eindruck der Unsicherheit, die die Latiner angesichts der Zukunftsaussichten überkommt, schließen, dass „ein negatives Licht auf die neuen trojanischen Herrscher“ fallen solle.80 –––––––––––– 76 Vgl. Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 70f. 77 Der Titel lautet: Principium libri decimi tercij Eneidos suffecti per P. Candidum Adolescentem (zitiert nach Eckmann, 2002 [wie Fußn. 36], 56; auch die anderen Decembrio-Zitate sind Eckmanns Aufsatz entnommen). 78 Eckmann äußert den Verdacht, dass Decembrio die Aeneis-Fortsetzung „vielleicht aus Furcht vor der konsequenten Weiterführung dieses anti-trojanischen Ansatzes“ nicht zu Ende geführt habe (S. 71). Welche konkreten Konsequenzen Decembrio zu befürchten gehabt hätte (wenn ihre Interpretation zuträfe), erläutert Eckmann nicht. 79 Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 61. 80 Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 63. Latinus’ Ausruf sub quo duce pergitis? (v. 54) zielt wohl nicht auf Aeneas, wie Eckmanns Deutung nahe legt, sondern auf einen Führer aus den eigenen Reihen, wie aus dem Kontext hervorgeht.

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Auch hier hinge die Interpretation von der Schilderung der weiteren Ereignisse ab.81 Aus 89 Versen zudem eine ganze fortuna-Konzeption Decembrios abzuleiten, die zudem die „deterministische Fatum-Ideologie der Aeneis“82 dekonstruieren soll, ist zumindest gewagt.83 Hinzu kommt, dass der Ausdruck fortuna in der Rede des Latinus fällt (v. 29f. und 42-46). Eckmann sieht umgekehrt gerade in der Tatsache, dass es sich um Worte einer Figur des Epos handelt, eine Bestätigung ihrer Destruktionsthese,84 da der König das Verhalten der Trojaner als einen aggressiven Akt auffasse (S. 68).85 Auch hier gilt wieder, dass jede Interpretation zu weit führen muss, die das Ende dieses Fragments nicht berücksichtigt – das wir nicht kennen können. Eckmann deutet überhaupt jede positive Erwähnung der Latiner in eine Kritik an den Trojanern um.86 Wie schon ausgeführt, ist es nicht weiter auffällig, wenn Vergil beide Seiten zu gleichen Teilen berücksichtigt und hierin das decorum bei der Charakterzeichnung wahrt.87 Insgesamt muss man leider resümieren, dass Eckmanns anregender Interpretationsvorschlag kaum aufrecht erhalten werden kann, vor allem deswegen, weil es auch hier, angesichts von nur 89 Versen, schwer fallen dürfte, eine übergeordnete Interpretationslinie zu finden, die sich aus der

–––––––––––– 81 Es ist zunächst auffallend, dass in Decembrios Darstellung der Krieg noch anzudauern scheint und Latinus beispielsweise den Terminus hostes für die Trojaner verwendet. Ähnlich hat aber auch Jan van Foreest (1586-1651) seine AeneisFortsetzung (die Exequiae Turni, entstanden am Ende der vierziger Jahre) gebaut: Nach einigen retardierenden Momenten steht am Ende des 14. Buches der Friedensschluss (Oertel, 2001 [wie Fußn. 37], 62-64). 82 Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 65. 83 Bei Eckmann a.O. ist auf S. 68 von einer „Fortuna-Philosophie“ die Rede, „die zugleich ein Anti-Fatum-Konzept repräsentiert“ und sich so „kontraproduktiv auf die teleologische Struktur der Aeneis“ auswirke. 84 Vgl. Eckmann a.O. 68: „dieser pessimistische, ja destruktive Ansatz Decembrios“ (vgl. auch S. 71). 85 Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass Vergil die Absicht der Trojaner, sich in Italien niederzulassen damit legitimiert, dass ihr Urahn Dardanus von dort stammen soll (Verg. Aen. 3,167). 86 Vgl. etwa Eckmann, 2002 (wie Fußn. 36), 62. 87 So ist es etwa kein „Affront gegen die vergilische Ideologie“ (Eckmann a.O. 65), wenn Latinus die fata der Trojaner als infanda bezeichnet (v. 30f.; dazu Eckmann a.O. 64-69). Hier spricht eine Figur des Epos, und eine Figurenrede ist zunächst einmal anders zu interpretieren als die Erzählerrede.

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positiven oder empathischen Darstellung der Latiner und Rutuler ergeben würde. Fassen wir die Ergebnisse aus der Behandlung der vorgestellten Interpretationen zusammen: Nirgends gelingt Kallendorf oder Eckmann der Nachweis, dass die negative oder ambivalente Darstellung der Trojaner oder die positiv-empathische Zeichnung ihrer Kriegsgegner in den entsprechenden Texten wirklich auf eine bestimmte ideologische Ausdeutung der Aeneis hinweisen würde. Natürlich sind längst nicht alle frühneuzeitlichen Texte zu Vergil und seiner Nachahmung gesichtet worden und es lässt sich nicht ausschließen, dass sich irgendwo ein Vorläufer der Harvardianer finden lässt. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit für eine solche Trouvaille wohl eher gering zu veranschlagen,88 und zwar gerade wegen des damaligen Interpretationsklimas, wie ich es einmal nennen möchte.89 Antike Dichtung wurde in der frühen Neuzeit vor allem als private Lektüre, zur Kommentierung und als Objekt der Imitation gelesen. Im Gegensatz zu heute fehlte weitgehend eine intensive Auseinandersetzung zum Zwecke einer tieferen Interpretation, die über die von den antiken Philologen zur Verfügung gestellten Kategorien und Interpretamente hinausging.90 Die einzige etablierte ‘wissenschaftliche’ Gattung, in der man sich mit den antiken Dichtern beschäftigte, der Kommentar, war – wie heute auch – nicht der geeignete Ort, um neue, revolutionäre Gesamtdeutungen vorzutragen. Daher dürfen wir (was als These formuliert sei) vermuten, dass man die antiken Dichter sozusagen (um Sforza zu zitieren) bei ihrer „face meaning“ nahm (es sei denn freilich, die antiken Kommentatoren hätten anderes ‘Wissen’ tradiert). Vielleicht lässt sich des Weiteren spekulieren, dass neue Interpretationen, die den Text auf den Kopf zu stellen schienen, unter Umständen mit der zunehmenden Zahl monographischer Abhandlungen im 17. Jahrhundert aufgekommen sein könnten. Wegweisend könnte dabei eine ganz bestimmte Interpretationsmethode gewesen sei, nämlich die Anwendung des Logos eschematismenos (Oratio

–––––––––––– 88 Vgl. auch in diesem Band die Beiträge zur Vergilimitation von Nikolaus Thurn und Markus Schauer. 89 Werner Suerbaum hat in ähnlicher Weise von dem „emotionellen Klima“ der augusteischen Zeit gesprochen, einem Klima gläubiger Augustusverehrung (Suerbaum 1993 [wie Fußn.38], hier 385). 90 Der Verfasser hat versucht, dies für die Deutung von Lucans Pharsalia in der frühen Neuzeit zu zeigen (Stylus Lucani. Jesuitische Lukan-Rezeption im 17. Jahrhundert, in: Christine Walde [Hg.]: Lucans Bellum Civile. Studien zum Spektrum seiner Rezeption von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Trier 2009, 275-313).

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figurata)91 auf die Dichtung92 – wie es etwa Daniel Heinsius im Falle der Horazischen Satire exerziert hat.93 Wohl nicht von ungefähr verwendete ja auch Sforzas Aeneis-Deutung (wenn auch sine littera) die figurierte Rede als Deutungsinstrument. Würde diese Hypothese zutreffen, so könnte die Anwendung des Logos eschematismenos auf literarische Texte als Interpretationsmethode der Auslöser für einen Paradigmenwechsel gewesen sein – bereits vor Sforza und Parry.

–––––––––––– 91 Vgl. Fußn. 15. 92 Natürlich könnte auch eine Anwendung der Allegorese (etwa indem man den Aeneas der Schlussszene auf Augustus deutete) zur two voices-Theorie führen. 93 Für Heinsius ist die sokratische Verstellung, die er mit der Ironie und dem Logos eschematismenos gleichsetzt, der Kern der horazischen Satire (Daniel Heinsius: Q. Horatii Flacci opera. Cum animaduersionibus et notis […], Leiden 1612, p. 93f.).

Goldene Zeiten: Immer wieder wird ein Messias geboren… Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils*

GERHARD BINDER (Bochum) Gern hätte ich dem Jubilar auf diesen wenigen Seiten noch einmal erläutert, wie ich meinen früheren Versuch einer Deutung der 4. Ekloge verstanden wissen wollte.1 Der aktuelle Anlaß und der thematische Rahmen läßt mich dieses Vorhaben – quod si vita suppeditet – auf ein noch weiter fortgeschrittenes Alter verschieben und – anders als Tacitus – die securior materia vorziehen, d.h. die Beschreibung einiger unterschiedlicher Beispiele der Rezeption dieses faszinierenden Gedichts in der Neuzeit. Dabei verzichte ich auf Rezeption in Gestalt wissenschaftlicher oder religiös und ideologisch gefärbter Deutungen der Ekloge Vergils und auf deren Aneignung in Übersetzungen; auch Polemik gegen Vergils Vorstellung, wie sie etwa schon bei Lactantius begegnet,2 soll beiseite bleiben. Es geht vielmehr um Beispiele neuzeitlicher Eklogen oder anderer Dichtung, in denen gezielt auf das antike Modell zurückgegriffen wird, um das eigene Anliegen bestmöglich zu transportieren: parallelisierend, kontrastierend, umdeutend. Eine Ausnahme bildet das erste Beispiel, eine Sequenz aus Iacopo Sannazaros Kleinepos De partu Virginis, in der das Zitat aus Vergils Gedicht zugleich zu dessen christlicher Deutung wird. Es läge nahe, die einzelnen Rezeptionsfälle unter dem von Antonie Wlosok in ähnlichem –––––––––––– * 1

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Die Angaben am rechten Rand längerer Originalzitate und Übersetzungen beziehen sich auf Musterverse der 4. Ekloge oder Elemente von solchen. Fehler und Ungenauigkeiten in den Übersetzungen gehen zu Lasten des Verfassers. Gerhard Binder: „Lied der Parzen zur Geburt Octavians. Vergils vierte Ekloge“, in: Gymnasium 90, 1983, 102-122. (zusammengefaßt auch in: Bernd Effe / Gerhard Binder: Antike Hirtendichtung, Düsseldorf u.a. 2000, 69-74.); vgl. dazu Werner Suerbaum: Vergils „Aeneis“, Stuttgart 1999, 318. Divinae Institutiones 7,24 und – indirekt – 5,5; vgl. dazu Stephen Benko: „Virgil’s Fourth Eclogue in Christian Interpretation“, in: ANRW 31.1, 1980, 646-705 (dort S. 670f.).

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Zusammenhang gebrauchten Begriff „Usurpation“3 zu fassen, doch wird der Ekloge Vergils als solcher in diesen poetischen Werken – anders als in gezielt christlichen Deutungen – keine Gewalt angetan. Auf zwei frühe Übersetzungen der Eklogen sei vorab wenigstens hingewiesen, da sie zusammen mit den ihnen beigegebenen Erläuterungen eine besonders in Frankreich beliebte zeitgenössische Adaption – speziell auch der 4. Ekloge – vorbereiten. Die erste spanische Übersetzung erschien 1496, die Imitación de las Églogas de Virgilio von Juan del Encina, einem bedeutenden Theaterautor. Er habe sich darum bemüht, erklärt der Übersetzer in den Vorreden, die vergilischen Gedichte auf Ereignisse am spanischen Hof zu beziehen: Dies geschah – mitunter in einfältigen Verrenkungen – in den ergänzenden „argumentos“, während die Übersetzung selbst relativ originalnah gestaltet war. Das wiederkehrende goldene Zeitalter der 4. Ekloge meint die Herrschaft von Ferdinand und Isabella, das zu erwartende Kind ist der (damals bereits 18jährige) Infant Don Juan, deren einziger Sohn. Wie in der Bukolik neronischer Zeit ist alles bereits historische Realität. Ein anderes Beispiel bietet die französische Übersetzung von Guillaume Michel de Tours aus dem Jahr 1516: Sie ist überaus fehlerhaft, und jeder Ekloge ist ein umfangreicher Kommentar mit Zitierung älterer Interpretationen beigegeben. Michel treibt die Allegorese auf die Spitze, er vermutet hinter jedem Satz einen verborgenen Sinn. Die Beliebigkeit seiner Deutungen zeigt sich an der 4. Ekloge: Bis ins kleinste Detail wird das Gedicht erst auf den Sohn Pollios, sodann auf Octavian appliziert, um in der conclusio zu enden, alles passe eigentlich am besten auf Jesus Christus.4

1. Iacopo Sannazaro, De partu Virginis, lib. III, 1504/1526 Aus Sannazaros Alterswerk, den drei Büchern De partu Virginis, ist in seiner langen Entstehungszeit ein meisterhaftes Epyllion geworden, das sich als epische Erzählung lesen läßt, in der dem Fortgang der äußeren Handlung jeweils gleichberechtigte, das irdische Geschehen transzendierende –––––––––––– 3

4

Im Fall der ‘Usurpation’ der 4. Ekloge in c. 19-21 von Konstantins Oratio ad Sanctorum Coetum (Eusebs Vita Constantini beigefügt) handelt es sich um eine allegorische christlich-messianische Deutung des vergilischen Gedichts selbst, vgl. Antonie Wlosok: „Zwei Beispiele frühchristlicher ›Vergilrezeption‹. Polemik (Lact. div. inst. 5,10) und Usurpation (Or. Const. 19-21)“, in: Viktor Pöschl (Hg.): 2000 Jahre Vergil, Wolfenbütteler Forschungen 24, 1983, 63-86. In diesem Abschnitt stütze ich mich auf Mia I. Gerhardt: „Les premières traductions des Bucoliques“, in: Neophilologus 33, 1949, 51-56.

Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils

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Berichte beigegeben sind.5 Hierin spiegelt sich die uralte epische Technik der Interaktion von menschlicher und göttlicher Handlungsebene. Zugleich wird dem Leser jedoch ein episches Bild der christlichen Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht und zur Weltherrschaft Christi geboten. In dieses Panorama fügt sich die Rezeption der 4. Ekloge im 3. Buch des Werkes. Den „Hirten auf dem Felde“ wird – nach wie vor in epischem Stil – durch die personifizierte Laetitia und die „Menge der (durchaus heidnischen) himmlischen Heerscharen“ der Weg zur Geburtshöhle gewiesen. Hier machen sich erstmalig bukolische Elemente bemerkbar (3,131-134):6 Primi illam sensere canes: sensere iacentes haedorum passim per dura cubilia matres: balatuque ovium valles sonuere propinquae, saxaque, et adtoniti caput erexere magistri. Zuerst bemerkten sie die Hunde; es bemerkten sie die allenthalben auf ihren harten Lagern ruhenden Mütter der Böckchen: Das Blöken der Schafe war von den nahegelegenen Tälern und Felsen zu hören, und die Hirten reckten ergriffen ihr Haupt.

Anspielungen und Kurzzitate aus Vergils Eklogen häufen sich in den 65 Versen bis zum Beginn der großen, überwiegend aus wörtlichen Zitaten gestalteten Übernahme der 4. Ekloge:7 Aus der Verteilung der EklogenZitate wird deutlich erkennbar, daß Sannazaro gezielt den Leser auf die Wiedergabe der 4. Ekloge einstimmt, zweifellos den dogmatischen Höhepunkt des Epyllions. In recht unvergilischer Weise zieht die Schar der Hirten gemeinsam zur Höhle; dort angekommen geben sie ihrer Freude mit Gesang und Tanz Ausdruck, sie schmücken den Eingang bezeichnenderweise mit Myrte vom Kultort der Venus und dem unheilabwehrenden –––––––––––– 5

6 7

Vgl. hierzu Jürgen Blänsdorf: „Nulla priorum vestigia: Sannazaros De partu Virginis und Vergil“, in: Eckart Schäfer (Hg.): Sannazaro und die Augusteische Dichtung, NeoLatina 10, Tübingen 2006, 193-206. Speziellen Bezügen zur Aeneis sind in diesem Band die Beiträge von Tamara Visser („Sannazaros Epos De partu Virginis zwischen Lukas-Evangelium und Vergil: Betrachtungen zur Episierungstechnik Sannazaros“) und Florian Schaffenrath („Seestürme und Unterweltsfahrten bei Sannazaro? Verhinderte epische Motive in Sannazaros De partu Virginis“), 207230, gewidmet. Die folgenden Texte nach der Ausgabe: Charles Fantazzi / Alessandro Perosa: Iacopo Sannazaro. De partu Virginis, Firenze 1988; vgl. Stefano Prandi: Iacopo Sannazaro. Il parto della Vergine, Roma 2001 [mit Kommentar und Indices]. Insgesamt acht Anklänge und Zitate, im übrigen Buch III, das 513 Verse umfaßt, finden sich noch fünf; die Übernahme aus der 4. Ekloge umfaßt weitere 17 Zitate; dagegen erinnern nur 15 der 927 Verse der Bücher I-II an Vergils Eklogen.

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Baccar.8 Nach einem kurzen Dialog mit Joseph (169f. bonus …senior, „der gütige Alte“) ziehen die Hirten ordine longo (183, „in langer Reihe“) in die Höhle ein, begrüßen Maria und nehmen Aufstellung vor dem puer. Lycidas und Aegon, Hirtengestalten Vergils, bei ihm aber nicht gemeinsam auftretend, sind gleichsam die Wortführer (194-196): … hi non voce pares, non viribus aequis, inter adorantum choreas plaususque deorum, rustica septena modulantur carmina canna.9 … sie, nicht gleich im Gesang, nicht von gleicher Kraft, tragen unter dem Tanz der Anbetenden und den Beifallsbekundungen der Götter auf der siebenröhrigen Flöte melodisch ihr ländliches Lied vor.

In den Einleitungsversen wird das Lied als Wiedergabe eines Carmen des Tityrus bezeichnet; dieser habe das kunstlose Lied auf der abgenutzten Flöte verschmäht und deswegen „die eines römischen Konsuls würdigen Wälder besungen“ (199 cecinit dignas Romano consule silvas). Damit und mit der Anrede alme puer ist die lange Reihe von Zitaten aus der 4. Ekloge vorbereitet, die hinsichtlich der literarischen Technik ähnlich wirkt wie die Wiedergabe jener Prophezeiung des Faunus in der 1. Ekloge des Calpurnius Siculus, d.h. die Hirten singen kein eigenes Lied (wie etwa Mopsus und Menalcas in Vergils 5. Ekloge), sondern bedienen sich einer fremden Autorität. Es folgt hier ungekürzt das „Lied der Hirten Lycidas und Aegon“ (De partu Virginis 200-232): 200 „Ultima Cumaei venit iam carminis aetas,

magna per exactos renovantur saecula cursus; scilicet haec virgo, haec sunt Saturnia regna, haec nova progenies caelo descendit ab alto, progenies per quam toto gens aurea mundo 205 surget et in mediis palmes florebit aristis. Qua duce, siqua manent sceleris vestigia nostri irrita perpetua solvent formidine terras

Ecl. 4: 4 5 6 7 9 9 und 28 13 14

–––––––––––– 8

9

Vers 168, vgl. ecl. 4,19 cum baccare. Mit late Idaliam spargunt … myrtum („weithin streuen sie idalische Myrte“) wird auf den zentralen kyprischen Kultort der Venus verwiesen: Ob der Gedanke des Lesers auch auf die in der Malerei zu Sannazaros Zeit übliche ikonographische Nähe zwischen Venus und Maria gelenkt werden sollte? Positiv formuliert ecl. 7,5 et cantare pares, Aen. 10,357 Versschluß viribus aequis (auch 431, vgl. negativ 12,218 non viribus aequis). Wie schon in Vers 180f. (sive deus caelo veniens seu forte deorum / nuntius, „ein Gott vom Himmel kommend oder vielleicht ein Bote der Götter“) schleicht sich auch hier (195 deorum) eine nichtchristliche Reminiszenz ein.

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et vetitum magni pandetur limen Olympi;10 occidet et serpens, miseros quae prima parentes elusit, portentificis imbuta venenis. Tune deum vitam accipies divisque videbis permistos heroas et ipse videberis illis pacatumque reges patriis virtutibus orbem? Adspice felici diffusum lumine coelum camposque, fluviosque ipsasque in montibus herbas;11 aspice, venturo laetentur ut omnia saeclo. Ipsae lacte domum referent distenta capellae hubera nec magnos metuent armenta leones, agnaque per gladios ibit secura nocentes bisque superfusos servabit tincta rubores. Interea tibi, parve Puer, munuscula prima contingent ederaeque intermixtique corymbi; ipsa tibi blandos fundent cunabula flores et durae quercus sudabunt roscida mella; mella dabunt quercus, omnis feret omnia tellus. At postquam firmata virum te fecerit aetas et tua iam totum notescent facta per orbem, alter erit tum Tiphys et altera quae vehat Argo delectos heroas; erunt etiam altera bella: atque ingens Stygias ibis praedator ad undas. Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem, cara dei soboles, magnum coeli incrementum.“

24-25 24 15 16 17 52 21 22 42-44 18 19-20 23 30 30 und 39 37 54 34 35 60 49

Übersetzung: 200 „Jetzt ist gekommen das letzte Zeitalter des Liedes von Cumae

Ecl. 4: 4 ein großes Zeitalter erneuert sich in der Kreise Vollendung; 5 ja, dies ist die Jungfrau, dies die Herrschaft Saturns, 6 jetzt steigt ein neues Geschlecht von der Höhe des Himmels herab, 7 ein Geschlecht, durch das auf der ganzen Welt eine goldene Menschheit 9 205 ersteht und inmitten des Ährenfeldes der Weinstock erblüht. 9 und 28 Unter seiner Führung werden die Spuren unseres Frevels, falls solche noch sind, 13 wirkungslos und so die Welt aus dauernder Angst lösen, 14 die verbotene Pforte des hohen Olympus wird sich auftun; sterben wird auch die Schlange, die zu Beginn die unglücklichen Eltern 24-25 210 narrte, behaftet mit unheilbringendem Gift. 24 veneni Wirst du nicht göttliches Leben empfangen, wirst im Kreis der Götter 15 die Heroen schauen und selbst zu sehen sein bei ihnen 16

–––––––––––– 10 Vgl. ecl. 5,56 candidus insuetum miratur limen Olympi („strahlend bestaunt er die ihm noch ungewohnte Pforte des Olymps“) und Aen. 10,1 panditur interea domus omnipotentis Olympi („auftut sich indes das Haus des allgewaltigen Olymps“). 11 Anspielungen auf Lukrez, De rerum natura 1,9 und 17f.

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und eine Welt lenken, befriedet durch die Tatkraft des Vaters? Sieh, wie der Himmel von glückseligem Licht erhellt ist, die Fluren der Erde, die Flüsse und selbst die Wiesen auf den Bergen; sieh, wie sich alles freut auf den bevorstehenden Anbruch dieses Zeitalters! Von selbst werden prall gefüllte Euter heimwärts tragen die Ziegen, und das Vieh wird nicht fürchten müssen gewaltige Löwen, und das Lämmchen wird furchtlos wandeln zwischen den schädigenden Messern und zweimal gefärbt das Rot der Färbung bewahren. Indessen werden dir, kleiner Knabe, erste Geschenkchen zuteil, Efeugerank und dazwischen die Blütentrauben des Efeus; von selbst wird deine Wiege liebliche Blumen sprießen lassen, und aus harten Eichen wird Honig tropfen wie Tau; Honig werden geben die Eichen, jegliches Land wird jegliche Frucht tragen. Doch wenn das Alter gefestigt dich zum Mann gemacht hat und deine Taten bereits über den ganzen Erdkreis bekannt werden, wird es einen neuen Tiphys geben und eine neue Argo, dazu bestimmt, erlesene Helden zu tragen; auch neue Kriege wird es geben: und du wirst als mächtiger Beutemacher zu den Fluten des Styx hinabsteigen. Fang an, kleiner Knabe, mit einem Lachen die Mutter zu erkennen, teurer Sohn Gottes, herrliche Mehrung des Himmelreichs.“

17

52 21 22 42-44 18 19-20 23 30 30 37 54 34 35 60 49

Die Zahlen am rechten Rand zeigen, daß Sannazaro eine geschickte, in sich homogen, ja harmonisch wirkende Kompilation aus Versen der 4. Ekloge gelungen ist. Werfen wir zunächst noch einen Blick auf die folgenden Verse (233-236): Talia dum referunt pastores, avia longe responsant nemora et voces ad sidera iactant intonsi montes; ipsae per confraga rupes, ipsa sonant arbusta: „Deus, deus ille, Menalca“. Dies war das Lied der Hirten: Weithin geben Antwort entlegene Waldungen und lassen ihren Ruf zu den Sternen erschallen die unberührten Bergwälder; selbst die Felsen durch ihre Gehölze hin, selbst die Gebüsche lassen ihren Ruf ertönen: „Gott, ja Gott ist er, Menalcas“!

Mit dem Zitat aus ecl. 5,62-64 bleibt die bukolische Atmosphäre erhalten: Die Natur feiert die Gottheit des Jesusknaben ebenso jubelnd wie den zu den Sternen erhobenen Daphnis.12 Unmittelbar danach wechselt das Ge–––––––––––– 12 Geschickt ersetzt Sannazaro ipsae iam carmina rupes […] sonant („selbst die Felsen [lassen] ihre Lieder [erklingen]“ durch ipsae per confraga rupes; das seltene confraga verdient den Vorzug vor der Lesart loca concava; vielleicht handelt es sich um eine Statiusreminiszenz (Thebais 4,494 ad confraga silvae).

Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils

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dicht wieder in den epischen Stil: Die himmlischen Heerscharen treten in „Schlachtordnung“ zum Lobpreis des Schöpfers und der Schöpfung an (240f.): Scilicet innocuis per sudum exercitus armis / ibat ovans: divisae acies ... („mit harmlosen Waffen freilich zog triumphierend das Heer durch die Himmelsregion: geteilte Kolonnen …“). Das einschlägige Vokabular häuft sich.13 Die gelegentlich geäußerte Vermutung, es handele sich in den zitierten Versen 200-232 um eine Art Cento,14 ist falsch; denn zum Wesen des Vergil-Cento gehört die Intention, mit (Teil-)Versen aus Vergil ein neues Gedicht mit neuem Inhalt „zusammenzuflicken“, und gerade das will Sannazaro nicht. Im Gegenteil: Sannazaro beweist mit seinem ganz auf Jesus Christus zugeschnittenen, jeden Geheimnisses entblößten Zitat nicht nur die Richtigkeit der vergilischen Prophezeiung, sondern auch deren christlicher Deutung. Das Kind ist bereits geboren, das goldene Zeitalter der Geschichte ist in ihm der Menschheit bereits geschenkt. Diesem „Beweisziel“ ordnet Sannazaro Auswahl und Adaption der Vergilverse konsequent unter: Er eliminiert weitestgehend nichtchristliche Elemente des Mythos und der Geschichte – z.B. Lucina und Apollo, den Adressaten Pollio, Troia und Achilles – und die für Vergils Gesamtwerk hochbedeutsame Reflexion über die Taten des erwachsenen puer und seine eigene Dichtung am Ende der Ekloge.15 Nicht die Parzen singen von einem zu erwartenden Heilsbringer, sondern Tityrus-Vergil hat die Heilsbotschaft von Christus verkündet.

2. Clément Marot: IVe Eglogue, 1544 Clément Marot, seit 1519 Sekretär und Dichter am Hof der Herzogin Margarete von Navarra (Marguerite de Navarre), gilt als der vielseitigste und bedeutendste Lyriker Frankreichs in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Er stand dem Protestantismus nahe und war daher seit 1526 vielfacher Verfolgung ausgesetzt, die ihn 1534 nach Ferrara an den Hof der Herzogin Renata (Renée d’Este) fliehen ließ. Als er 1536 dem Protes–––––––––––– 13 Allein in den Versen 237-247 finden sich: sonitus rotarum, exercitus, arma, ovare, acies, agmina, ordines, bellum, phalangae, miles, campus; hingegen nur noch fünf, z.T. vage Anklänge an die Eklogen in den Versen 248-513. 14 Vgl. z.B. Abel Bourgery: „Les Bucoliques de Virgile dans la poésie moderne“, in: REL 23, 1945, 134-150 (dort 147). 15 Vgl. Reinhold F. Glei: „Der Vater der Dinge. Interpretationen zur politischen, literarischen und kulturellen Dimension des Krieges bei Vergil“, BAC 7, Trier 1989, 90-92; Binder, 1983 (wie Fußn. 1), 74-77.

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tantismus abschwor, konnte er nach Frankreich an den Hof Ludwigs XII. zurückkehren. Seine berühmte Übersetzung der Psalmen, 1542 wegen Häresieverdacht verboten, führte ihn erneut ins Exil, zunächst nach Genf, schließlich nach Savoyen und Turin, wo er 1544 starb. Am Anfang seines ersten, 1532 veröffentlichten Gedichtbandes – L’Adolescence Clémentine, „Jugend(gedichte) des Clément (Marot)“ – stand eine offenbar bereits ältere Übertragung der 1. Ekloge: die erste Begegnung mit Vergil, der Marot bis zu seinem Lebensende nicht losließ.16 Marots 2. Ekloge entstand 1535 noch am Hof von Ferrara und galt der bevorstehenden Geburt des dritten Kindes der Herzogin Renée. 17 Der Titelbegriff avant-naissance gilt als Übersetzung von „Genethliakon“, der Bezeichnung für Vergils 4. Ekloge. Das Gedicht umfaßt 74 Verse, darunter einen Hymnus auf die Renaissance und – in seiner ersten Fassung – einen Lobpreis der Reformation.18 Anklänge an Vergils Ekloge sind selten, am deutlichsten in den Versen 6-8: Viens sans donner destresse coustumiere A la Mere humble, en qui Dieu t’a fait naistre. Puys d’ung doulx ris commance à la cognoistre.

Ecl. 4: 61 60

Komm, ohne deiner demütigen Mutter die übliche Not Ecl. 4: 61 zu verursachen, in deren Leib dich Gott hat geboren werden lassen. Dann beginne, sie mit einem süßen Lachen zu erkennen. 60

Wesentlich näher an Vergil bewegt sich Marot mit seiner 4. Ekloge vom Anfang des Jahres 1544.19 Das Gedicht gilt der Geburt des späteren Königs François II (1559-1560), des Sohnes von Henri II und Katharina von Medici, der die beiden letzten Jahre seines Lebens mit Maria Stuart verheiratet war. Das Gedicht ist nach der Geburt des Dauphin verfaßt. 20 Es als bloße Kopie der 4. Ekloge zu bezeichnen, wird ihm allerdings nicht ge–––––––––––– 16 Zu Marots „Virgilianism“ vgl. Annabel M. Patterson: Pastoral and Ideology. Virgil to Valéry, Oxford 1988, 106-118 (Vergils und Marots 4. Ekloge erwähnt Patterson nur beiläufig S. 118). 17 Avant-naissance du troiziesme enffant de madame Renée, duchesse de Ferrare, composé par Clement Marot, secretaire de ladicte dame, en juillet VeXXXVj, estant audict Ferrare: Oeuvres lyriques LXXXVIII, Eglogue II. 18 Vgl. Claude A. Mayer: Clément Marot, Paris 1972, 288-290. 19 Claude A. Mayer: „Eglogue sur la Naissance du filz de Monseigneur le Daulphin Composée par Clement Marot“, in: Mayer (Hg): Œuvres lyriques, London 1964, XC, Eglogue IV (S. 354-359, mit Anmerkungen); vgl. Mayer, 1972 (wie. Fußn. 18), 510-513 (mit vollständigem Text). 20 Wie auch – nach meiner These – Vergils 4. Ekloge weit nach der Geburt des Augustus, vgl. Fußn. 1.

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Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils

recht,21 da die umfangreichen Anleihen bei Vergil nicht nur in anmutige Poesie übersetzt, sondern auch um viele eigene Zutaten erweitert sind.22 Die Ekloge beginnt mit einem auf den aktuellen Aufenthaltsort des Dichters (Chambéry) anspielenden Musenanruf (V. 1): Confortez moy, Muses Savoisiennes („Gebt mir Kraft, Musen aus Savoyen“, vgl. ecl. 4,1 Sicilides Musae)! Marot bezeichnet sich als l’infortuné Berger (V. 5, „unglücklicher Schäfer“), sein Vorhaben als propos moins leger que cy devant (V. 6f., „gewichtiger als früher“, vgl. ecl. 4,1 paulo maiora canamus). Das von der cumäischen Sibylle prophezeite Zeitalter steht bevor (or sommes nous prochains du dernier aage prophetizé par Cumane, la saige (V. 11f., „nahe sind wir nun am letzten Zeitalter, das prophezeit ist durch die weise Cumäerin“, vgl. ecl. 4,4), die Jungfrau Astraea wird in Kürze zurückkehren, die Herrschaft des Saturnus naht wieder (V. 15f., vgl. ecl. 4,6). Während sich diese Verse eng an Vergil anlehnen, weicht Marot von der antiken Vorlage deutlich ab, wenn er Diana als göttliche Instanz nennt, die dem jüngst geborenen Sohn des Endymion himmlischen Segen verlieh, jenem Kind, das der Welt ein Menschengeschlecht in Gold und Reinheit bescheren wird (V. 17-24). Philippa Berry vermutet – wie bereits Claude Albert Mayer23 – in ihrer feministischen Interpretation, daß sich hinter Diana die Herzogin Diane de Poitiers verbirgt, die seit 1538 zunehmenden Einfluß auf Henri II (Endymion) gewann.24 Marots geschickte Adaption der 4. Ekloge soll im folgenden an einigen kurzen Beispielen verdeutlicht werden. Sehr nahe an Vergils Text, doch distanzierter klingend, sind Marots Verse über die sceleris vestigia nostri (V. 27-30): Et si l’on voit soubz Henry quelque reste De la malice aujourd’huy manifeste, Elle sera si foible & si estaincte Que plus de rien la terre n’aura craincte.

Ecl. 4: 13 14

–––––––––––– 21 Mayer, 1972 (wie. Fußn. 18), 510: „une églogue, entièrement calquée sur la quatrième églogue de Virgile“. 22 Marots Gedicht ist mit 100 Versen um ein Drittel länger als die 4. Ekloge, etwa die Hälfte bildet Vergilverse nach oder lehnt sich eng an solche an. 23 Mayer, 1964 (wie Fußn. 19), 356. 24 Philippa Berry: Of Chastity and Power. Elizabethan literature and the unmarried queen, London u.a 1989, 48: „It is she [Diane], rather than the mother of Henri’s son, Catherine de Medici, who is complemented in the poem. Marot associates the child’s birth with the advent of a new golden age, and although the figure of Astraea is mentioned, it is Diane de Poitiers as the goddess Diana who is accorded the role of chief dea-ex-machina.“ Vgl. auch ebd. S. 49f.

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Und wenn man unter Henri einige Spuren sieht der heute noch handgreiflichen Bosheit, so wird sie doch so verblaßt und so erloschen sein, daß nichts auf Erden mehr in Angst leben muß.

Ecl. 4: 13 14

Die Erde bringt für das Kind wunderbare Pflanzen hervor – nullo cultu entspricht sans culture venuz: Thymian, Kerbel, Klee und Trüffel. Eindrucksvoll ist die Übersetzung der Passage über die Tiere, den Tierfrieden und das assyrische Amomum mit einigen für die Leser der Zeit sicher willkommenen Ergänzungen (V. 39-44): Les Chevres lors au logis reviendront Pleines de laict; les Brebis ne craindront Lyon ne loup; l’herbe qui venin porte Et la Coleuvre aux champs demourra morte; Et l’odorant Amome d’Assyrie Sera commun comme herbe de prairie.

Ecl. 4: 21 22 22/24 24 25

Die Ziegen werden zum Stall zurückkehren mit vollem Euter; die Lämmer werden nicht fürchten Löwe oder Wolf: das Giftkraut und die Viper auf dem Felde wird für immer tot sein; und das duftende Amomum aus Assyrien wird gewöhnlich wachsen wie Gras auf der Wiese.

Ecl. 4: 21 22 22/24 24 25

Der inzwischen anerkannte, ja gefeierte Dichter Marot verzichtet nicht auf die Übertragung der poetischen Reflexion am Ende der 4. Ekloge, zumal er damit eine eigene bessere Zukunft in den Blick zu nehmen vermag, und beschließt seine Ekloge mit dem (schon in die 2. Ekloge übernommenen) „Lächeln für die Mutter“ und einem kräftigen indirekten Lob des herrschenden Königs François I (V. 89-100): O si tant vivre en ce monde je peusse Qu’avant mourir loysir de chanter j’eusse Tes nobles faictz, ny Orpheus de Thrace, Ny Apollo, qui Orpheus efface, Ne me vaincroit, non pas Clio la belle, Ny le Dieu Pan & Syringue, y fust elle. Or vy, Enfant, enfant bienheureux! Donne à ta mere un doulx ris amoureux; D’un petit ris commence à la congnoistre. Et fay les jours multiplier & croistre De ton ayeul, le grand Berger de France, Qui en toy voit renaistre son enfance.

Ecl. 4: 53 54 54/55 57 55 58/59 60

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Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils

O könnte ich doch so lang auf dieser Erde leben, um vor dem Tod Zeit zu haben zu besingen deine edlen Taten, nicht Orpheus aus Thrakien, nicht Apoll, der Orpheus übertrifft, würden mich besiegen, nicht die schöne Clio noch der Gott Pan mit der Syrinx, wäre sie zur Stelle. Wohlan komm, Knabe, glückseliger Knabe! Schenke deiner Mutter ein süßes Lachen deiner Liebe; fang an, sie mit einem Lächeln zu erkennen!

Ecl. 4: 53 54 54/55 57 55 58/59 60

Und laß die Tage sich mehren und wachsen deines Großvaters, des großen Hirten Frankreichs, der in dir seine Kindheit wiedererstehen sieht.

Keiner der Wünsche Marots ging in Erfüllung: Er selbst starb verbittert noch im Jahr 1544, der „Großvater“, König François I, im März 1547, der Wiederbringer der goldenen Zeit, nach knapp eineinhalbjähriger Herrschaft im Dezember 1560.

3. Pierre de Ronsard, Jean Le Blanc und andere Clément Marot kannte bei der leicht verfremdeten Übernahme der 4. Ekloge keine Hemmung, und nach ihm breitete sich das Verfahren wie eine Seuche aus: Marot könnte die Anregung von einem berühmten Vorgänger erhalten haben.25 Im Jahr 1456 mußte François Villon nach dem berühmten Diebstahl im Collège de Navarre untertauchen. Er fand kurzzeitig Aufnahme am Hof seines Bewunderers, des sich ebenfalls poetisch betätigenden Herzogs von Orléans, im Château Blois. Dort schrieb Villon die Épître à Marie d’Orléans an die damals schon dreijährige Tochter des Herzogs und stellte die Eloge unter das vergilische Motto: Iam nova progenies caelo demittitur alto (ecl. 4,7: „nun wird ein neues Geschlecht entsandt aus den Höhen des Himmels“). Nur zwei Jahrzehnte nach Marot veröffentlichte Pierre de Ronsard seine Gedichtsammlung Élégies, mascarades et bergeries: Die 1. Ekloge bezieht sich deutlich auf das vergilische Muster.26 Mehrere Gestalten, hinter denen sich unschwer Henri III, Henri IV, François d’Anjou, Marguerite de Navarre und Henri de Guise erkennen lassen, beweinen den Tod des „bon Henriot“ (Henri II.), preisen Katharina von Medici und rühmen –––––––––––– 25 Dies vermutet Bourgery, 1945 (wie Fußn. 14), 146; vgl. allerdings schon die eingangs erwähnte erste spanische Übersetzung der Eklogen von 1496. 26 Gustave Cohen: Œuvres complètes de Pierre de Ronsard, Paris 1950, Vol. I, 917947.

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beider Sohn Carlin, den späteren Charles IX, als künftigen „grand pasteur de France“. Die Parzen rufen Carlins Geburt, die schon über ein Jahrzehnt zurückliegt, in Erinnerung, überhäufen „das neugeborene Kind“ mit Blumen; sie künden von einer Übergangszeit, die noch Spuren des Eisernen Zeitalters trägt (offenbar sind damit die Religionskriege gemeint): D’autres Tiphys naistront, qui, pleins de hardiesse, esliront par la France encore une jeunesse de Chevaliers errans dans Argon enfermez. Encores on voirra des Achilles armez combattre devant Troye, etc. Neue Männer wie Tiphys werden hervortreten, die voll Kühnheit in Frankreich wieder eine Jugend erwählen werden von fahrenden Rittern, eingeschlossen in eine Argo. Erneut wird man Männer wie Achilles in Waffen vor Troia kämpfen sehen, usw.

Ecl. 4: 34 34/35 36

Ecl. 4: 34 34/35 36

Nach dieser noch schrecklichen Zeit der Kriege wird Carlin (Charles) – homme entier et parfaict (ecl. 4,37: „wenn das Alter gefestigt dich zum Mann gemacht hat“) – das Goldene Zeitalter zurückbringen: et tout ce qui dépend du vieil Siecle ferré s’enfuira, donnant place au bel âge doré.27 und alles, was noch aus dem alten eisernen Zeitalter stammt, wird sich verflüchtigen und Platz machen der schönen goldenen Zeit

Ecl. 4: 8/9 9 Ecl. 4: 8/9 9

Das antike Weltbild schimmert durch in dem anschließenden Vers: Les hommes revoirront les Dieux venir au terre („die Menschheit wird die Götter zur Erde zurückkehren sehen“). Die neue aurea aetas wird ganz in vergilischen Bildern ausgemalt: das Ende der Seefahrt, die Erde, die sans soin (nullo cultu) jegliche Frucht bringt, die in der Wolle gefärbten Schafe. Ronsards Vision wurde nicht Realität: Charles IX war unter dem Einfluß seiner Mutter ein schwacher Regent (1560-1574), der selbst in das Massaker der Bartholomäusnacht einwilligte. Die panegyrische Familientradition wurde in den an Heinrich IV. (Henri IV) gerichteten Herrscherepen, den um 1600 entstehenden Henriaden, fortgeführt. Nur eines dieser Versepen, die Henriade von Jean le Blanc, deren 1. Buch 1604 als Fragment erschien, behandelt auch die Geburt des späteren Königs. Agnes Becherer hat den Versuch unternommen, aus dem Fragment „die Stilisierung und Überhöhung Heinrichs IV. –––––––––––– 27 Beide Zitate 934; vgl. Verg. ecl. 4,34-37.

Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils

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zum providentiellen nascens puer zu erarbeiten“.28 Sie spricht dabei vorsichtig von interpretatorischer Annäherung der epischen Geburtsgeschichte an Vergils 4. Ekloge und sieht in Ronsards 1. Ekloge das Bindeglied.29 Viele Szenen des Fragments sind ohne Beziehung zur 4. Ekloge: z.B. das Gebet der Königin von Navarra, Jeanne d’Albret, zu Jupiter, er möge ihren Kinderwunsch erfüllen; die Übergabe des von den Parzen gesponnenen Lebensfadens an die werdende Mutter; die Linderung der Geburtsschmerzen durch einen von Jupiter gesandten Tiefschlaf (der auch die rachsüchtige Juno überkommt); die in allegorischem Reigen dem Kind huldigenden festlich geschmückten Flüsse. Andere Bilder halten sich hingegen nah an Vergil: z.B. die Widder mit buntem Fell und goldenen Hörnern und die Kühe in Begleitung von Löwen und Wölfen, mit purpurfarbener Haut und vollen Eutern. Die Musen künden vom Beginn eines neuen Goldenen Zeitalters, der an die Geburt Heinrichs IV. geknüpft ist, während die davor liegende Zeit durch die Religionskriege geprägt ist. Ohne jeden Zweifel steht die Geburtsgeschichte in Jean le Blancs Premier livre de la Henriade gedanklich der 4. Ekloge nahe, allerdings ist ebenso deutlich, daß der Dichter das wörtliche Zitat meidet. Wir bleiben beim Haus der Bourbonen und werfen einen Blick auf den Philosophen und Politiker Tommaso Campanella, der sich zeit seines Lebens (1568-1639) – mehrfach der Häresie bezichtigt – Schikanen, Bedrohungen und Verhaftungen ausgesetzt sah. In den wenigen ruhigeren römischen Jahren nach seiner Rehabilitierung 1629 vertrat Campanella die Interessen des französischen Königs Louis XIII, dessen Politik ihm richtungweisend für den Katholizismus erschien. Die erneute Flucht 1634 – nun wegen des Vorwurfs der Verschwörung gegen die Spanier – führte Campanella schließlich auf Umwegen nach Paris und dort in die Nähe des Königs. In der ihm verbleibenden Zeit schrieb Campanella mehrere umfangreiche philosophisch-naturwissenschaftliche Werke und – auf Verlangen des Hofes – ein Horoskop zur Geburt des späteren Königs Louis XIV in Form einer Ekloge. Mit dem Gedicht aus dem Jahr 1638 – es umfaßt 250 Hexameter und knüpft direkt an die 4. Ekloge an – erweist sich Campanella als Nachzügler der lateinischen Eklogendichtung: Ecloga in Principis Galliarum Delphini Admirandam Nativitatem Vaticiniis et Divinis et Humanis Celeberrimam. Es beginnt – auf Ennius anspielend – mit den Versen:30 –––––––––––– 28 Agnes Becherer: Das Bild Heinrichs IV. (Henri Quatre) in der französischen Versepik (1593-1613), Tübingen 1996, 72-82 (Zitat auf Seite 72). 29 Becherer, 1996 (wie. Fußn. 28), 73f. 30 Giovanni Gentile (Hg.): T. Campanella. Poesie, Firenze 1938, 211.

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Pierides Calabrae, quae lactavere Maronem, me senio spolient, iubeantque redire iuventam magna sonaturo. Redeunt Saturnia regna, et nova progenies coelo demittitur alto, vatum ut praedixit sanctum ac venerabile carmen …

Ecl. 4: 1 (53) 6 7 4

Möchten doch die Musen Calabriens, die einstmals Maro säugten, mich von der Schwäche des Alters befreien, Befehl erteilen, daß die Jugend zurückkehre mir, der ich Großes zu rühmen gedenke. Es kehrt zurück die Herrschaft Saturns, und ein neues Geschlecht wird zur Erde gesandt von den Höhen des Himmels, wie es verkündet hat das heilige, ehrwürdige Lied der Prophetinnen …31

Der Sonnenkönig wurde am 5. September 1638 geboren (Campanella angeblich am gleichen Tag 1568, V. 24, Ennius oder – wahrscheinlicher – Lukrez zitierend: quo die ego natus, venisti in luminis oras) und immerhin ist seine Herrschaft als „Grand siècle“ Frankreichs in die Geschichte eingegangen. Der beflissene Houdar de la Motte nahm sich schließlich Jahrzehnte später, am Beginn des 18. Jahrhunderts, der Geburt des Urenkels an, des späteren Louis XV.32 Abel Bourgery schließt seine Sätze über die Rezeption der Eklogen mit harten Worten: „Les imitateurs, sot bétail, suivent en vrais moutons le pasteur de Mantoue. En dépit des innombrables imitations de Théocrite, Virgile a fait preuve d’une profonde originalité; ses imitateurs, point. […] Ceux qui ont utilisé l’églogue IV ou l’églogue V les ont dépouillées de cet élément mystérieux qui en est l’un des charmes; et leur imitation va parfois jusqu’à l’absurde.“33

–––––––––––– 31 Campanella zitiert (V. 50) ecl. 4,60 und erweitert die Aufforderung (V. 53): incipe, parve puer, risu cognoscere patrem; selbst der kluge Ratgeber Ludwigs XIV. fehlt nicht (V. 67): at summi regis Richelieus fidus Achates. 32 Vgl. Bourgery, 1945 (wie Fußn. 14), 146, der auch auf die – ebenfalls an der 4. Ekloge orientierte und von Voltaire im Dictionnaire philosophique (im Artikel Enthousiasme) zitierte – Ode sur la naissance du duc de Bretagne von Jean-Baptiste Rousseau verweist: „Où suis-je? quel nouveau miracle / tient encore mes sens enchantés? / Quel vaste, quel pompeux spectacle / frappe mes yeux épouvantés? / Un nouveau monde vient d’éclore / l’univers se reforme encore / dans les abîmes du chaos; et pour réparer ses ruines, / je vois des demeures divines / descendre un peuple de héros.“ 33 Bourgery, 1945 (wie Fußn. 14), 150.

Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils

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4. Zygmunt Krasiński: Morgengrauen, 1843 Mit dem polnischen Gedicht Przedświt verlassen wir die auf den künftigen Herrscher orientierte Adaption der 4. Ekloge, und es ist sogar zweifelhaft, ob dieses Gedicht noch unter dem Stichwort ‘Rezeption’ einzuordnen ist. Die den Hauptteil bestimmende Vision hat der Dichter unter das Motto der ultima aetas, der „letzten Weltzeit“, gestellt. Das Motto mag einige Sätze rechtfertigen, die sich auf sekundäre Literatur stützen;34 denn von Przedświt existiert keine deutsche Übersetzung.35 Das Gedicht wurde 1843 anonym publiziert. Der Titel Przedświt bedeutet etwa ‘vor dem Morgengrauen’ oder ‘Vor-Morgengrauen’.36 –––––––––––– 34 Die folgenden Bemerkungen stützen sich auf Dirk Uffelmann: „Nationalstaat und Religion – direkt oder umgekehrt proportional? Die gespannte Historiosophie von Zygmunt Krasińskis Przedświt (1843)“, in: Schulze Martin Wessel (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 27, Wiesbaden 2006, 255-272 und einen Internet-Beitrag der Polonistin H. Florynska-Lalewicz (http://www.culture.pl/de/culture/artykuly/os_krasinski_ zygmunt). Uffelmann vertritt, wie der Titel des Aufsatzes andeutet, eine neue Deutung von Przedświt, die Nationalstaat und Religion in parallel verlaufendem Fortschritt und zugleich in Diskontinuität sieht, d.h. staatlicher Niedergang befördert religiösen Aufschwung. Er sieht den (auch von Florynska-Lalewicz für die Deutung gebrauchten) Begriff „Messianismus“ kritisch. 35 Erschienen ist nach Auskunft von Uffelmann (wie Fußn. 34) nur die Übersetzung von sieben Strophen, in: Die Dioskuren. Literarisches Jahrbuch des Ersten Allgemeinen Beamten-Vereins 30, 1881, 342f. Nach Ablieferung des Manuskripts für diesen Beitrag [August 2008] wurde mir jetzt [Januar 2010] eine polnische Ausgabe zugänglich: Przedświt, hrsg. von Juljusz Kleiner, Kraków 1924. Dem Motto aus ecl. 4,4f. ist die Verheißung aus dem Missale Romanum zur Seite gestellt: Hodie scietis, quia veniet Dominus et salvabit nos et mane videbitis gloriam eius. Hintergrund von Przedświt ist die Eroberung Polens durch russische Truppen 1831 und die wenig später in Polen, besonders aber auch in Deutschland, Frankreich, Schweiz, Italien durch Emigranten einsetzende Begeisterung für die Freiheit Polens. Przedświt ist ein Manifest des politischen Messianismus. Im ersten, prosaischen Teil des Werkes wird die Rolle Caesars betont: In der göttlichen Planung war Caesar die historische „Angel“, seine politische Leistung Voraussetzung für die Ausbreitung des Gotteswortes. Eine ähnliche historische Rolle wird Napoleon Bonaparte zugewiesen. Der zweite, poetische Teil von Przedświt feiert besonders die großen Männer der polnischen Geschichte und huldigt der Schwarzen Madonna aus Częstochowa, mit deren Hilfe Polen ins erste Licht der „Morgendämmerung“ geführt wird. – Für diese Informationen danke ich den Freunden Tomasz Polański und Jerzy Styka, beide Kraków. 36 Uffelmann bewertet den Neologismus als programmatisch: Uffelmann, Dirk, 2006 (wie Fußn. 34), 256 und 271f.

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Den Rahmen bildet die Bootsfahrt des Dichters mit seiner Harfe spielenden Geliebten (die mit Dantes Beatrice verglichen wird) durch eine Ideallandschaft. Die Deutung der zentralen Vision ist im einzelnen umstritten; vor allem das Verhältnis von (National-)Staat und Religion scheint widersprüchlich, da die positive Entwicklung beider Pole zum einen parallel dargestellt ist, zum anderen die negative staatliche Entwicklung – konkret: das Leid durch die Teilungen Polens – gerade als Ursprung einer religiösen Auferstehung gefeiert wird.37 Gleichwohl ist die vom Dichter intendierte generelle Aussage deutlich: Einheit bedeutet Stärke – staatliche Einheit, Einheit der Nation zeugt kulturelle, zeugt religiöse Einheit. Eine von außen erzwungene staatliche „Uneinheit“, die Teilung, stärkt die innere, die kulturelle, religiöse Einheit. „Die polnische Nation gilt Krasiński […] als privilegiertes Werkzeug der Vorsehung – und zwar gerade in und wegen der politischen Teilung.“38 Zygmunt Krasiński führt den Gedanken Adam Mickiewiczs von einer messianischen Mission der polnischen Nation weiter, deren Bestimmung es ist, als „Tochter Gottes“ der Menschheit in eine christliche Zukunft voranzugehen. Ein neues Zeitalter, die ultima aetas, ist angebrochen.

5. Waldtraut Lewin: Die stillen Römer, 1979 Werke antiker Autoren wurden in der Literatur der DDR intensiver rezipiert als in der Literatur der Bundesrepublik.39 Sicher war der starke Einfluß Brechts, sicher das Erbe der Klassiker des Sozialismus dafür mitverantwortlich; vielleicht hat gerade die starke Beschränkung der antiken Überlieferung im Schul- und Universitätsbetrieb das Zurückgreifen auf eben diese befördert, vielleicht haben DDR-Autoren im Zitieren und Adaptieren antiker Literatur eine Möglichkeit gesehen, gleichsam verschlüsselt unerläßliche Botschaften in die Gegenwart zu transportieren. Anders als in Heiner Müllers Germania Tod in Berlin (s. unten) ist im Ro-

–––––––––––– 37 In Uffelmanns Worten: direkt oder umgekehrt proportional (vgl. Fußn. 34). 38 Uffelmann, 2006. (wie. Fußn. 34), 264. 39 Vgl. Volker Riedel: Antikerezeption in der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1984 (Veröffentlichung der Akademie der Künste der DDR); Bernd Seidensticker: „DDR“, NP 13, 1999, Sp. 681-699 (zur Literatur dort Sp. 689ff.); Peter Habermehl/ Bernd Seidensticker: „Deutschland“, NP 13, 1999, Sp. 822-828, Teil V, Abschnitt C Bundesrepublik [beide Art. mit reicher Literatur].

Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils

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man Die stillen Römer von Waldtraut Lewin,40 einem Historienroman, von diesen immer wieder diskutierten Motiven wenig zu spüren. Dargestellt ist das schwere, gefahrenreiche Leben eines jungen, elternlosen Geschwisterpaares vom Land – Mamercus und Tabea – im Rom der augusteischen Zeit: Zu beiden gesellen sich nach und nach als tragende Romanfiguren ein Sklave Pamphilus und ein junger Mann namens Manius, ein verwöhnter Sohn aus dem begüterten Hause der Arruntii, sowie eine scheinbar stumme Frau, von der auch gesagt wird, sie sei eigentlich eine Königin. Wie sich herausstellt, ist die „Königin“ Mutter des Manius; sie war einst dem General Gaius Arruntius aus der Heimat, einer „Goldinsel“ im Süden, nach Rom gefolgt. Manius ist nach dem frühen Tod des Vaters rechtmäßiger Erbe, die Mutter fristet – aus dem adligen Haus vertrieben – im Syrerviertel Roms ihr Leben mit dem Verkauf selbstgewebter Teppiche.41 Die genannten Gestalten treffen sich im Laufe der Romanerzählung mehrfach in unterschiedlichen Konstellationen. Manius, ein arroganter junger Römer mit lockeren Sitten, fühlt eines Tages einen politischen Auftrag, den er unter Einsatz seines Erbes in Lucanien zu realisieren gedenkt: Seine Kumpane verlachen ihn als „Volksbeglücker“ der in Caesars Bürgerkrieg nahezu ausgerotteten Turden. Ehe sich Manius nach Verpfändung dreier Landgüter in den Süden begibt, geht er ins Haus der „Königin“, das in der verrufenen Hinteren Arenagasse liegt. Der Beschreibung dieses Besuchs ist – schon gegen Ende des Romans – ein kurzes Teilkapitel mit dem Titel „Die lügenden Dichter“42 gewidmet. Manius fragt die „Königin“, ob sie sich für Poesie interessiere; diese gibt sich weiter stumm, „schüttelt den Kopf, aber entmutigt Manius keineswegs“. Dieser, als Redner unlängst zum neuen Cicero ausgerufen, versucht, seine Begeisterung für die Botschaft der 4. Ekloge Vergils auf die Gastgeberin zu übertragen. Er beginnt: Der Propheten Geschrei vom Ende der Zeiten verstummt nun, Ecl. 4: (4) Denn aus ewiger Nacht quillt schon das wachsende Licht. Neue Jahrhunderte blühn, und neue Götter erstehen. (5) Keusche Mondgöttin du, sei du dem Kinde gewogen, 8/10 Das geboren wird, zu erlösen aus Eiserner Zeit 8/9 Und die Tage des Glanzes zu bringen den Menschengeschlechtern. 9 Sieh, in ihm regiert dein Bruder, Gott alles Klaren. 10

–––––––––––– 40 Waldtraut Lewin: Die stillen Römer, Berlin (Verlag Neues Leben) 1979 (²1981); diverse spätere Ausgaben. Der Roman ist letzter Teil einer Trilogie, zu der außerdem Herr Lucius und sein schwarzer Schwan und Die Ärztin von Lakros gehören. 41 Ihre Geschichte erzählt die Königin dem Sklaven der Arruntii, Pamphilus, im zentralen Kapitel VI des Romans (S. 175-217 der Erstausgabe). 42 S. 279-281.

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Nach kurzer Pause „fährt er fort. Klangvolle Sprachbilder beschwören das neue Goldene Zeitalter herauf, die Einöde wird erhellt von goldenen Ähren, der Krieg wird vergessen, die Wolle wächst farbig auf den Schafen, alles entsteht von selbst, ohne Mühen.“ Manius deklamiert sich, am Ende ohne Manuskript, in einen Rausch hinein, die Frau immer fest im Blick, bis zu den Schlußversen: Komm, du liebliches Kind, erkenne die Mutter am Lächeln. Lange Monate hin trug sie geduldig viel Leid. Wem die Mutter nicht lacht, der ist nicht würdig der Ehren, Nicht des Tischs im Olymp und nicht des Bettes der Göttin.43

Ecl. 4: 60 61 62 63

Nach einer Weile des Schweigens sagt die stumme Königin schließlich: „Ich interessiere mich nicht für Poesie. […] Ich mißtraue großen Worten – und habe meine Gründe – und erst recht, was die meisten große Taten nennen.“ Als Manius – „Zum Teufel mit der Poesie!“ – sie auffordert, ihm in den Süden zu folgen, wehrt sie ab; doch nachdem er sich verabschiedet hat, „hebt sie die Rolle vom Boden auf. Lautlos, doch mit bewegten Lippen, mit den Fingern die Hexameter abzählend, liest sie noch einmal die Ekloge mit großer Aufmerksamkeit, ehe sie das Blatt beiseite legt.“ Vermutlich zielt der Vortrag des „Volksbeglückers“ Manius auf die eigene, sich selbst auferlegte Mission, zumal ihm die einflußreichen Emporkömmlinge um Augustus suspekt sind. Auch die von der Autorin intendierte Botschaft bleibt vage. Sie dürfte in der Überschrift „Die lügenden Dichter“ und in den letzten Worten der „Königin“ zum Ausdruck kommen, die der Ankündigung eines Goldenen Zeitalters mit Skepsis begegnet, sich der Wirkung der vergilischen Prophezeiung jedoch nicht zu entziehen vermag.

6. Heiner Müller: Germania Tod in Berlin, 1971 Zwei große Szenen in Heiner Müllers Drama Germania Tod in Berlin (1956/1971)44 tragen den Titel Hommage à Stalin 1 und 2. Beide einander –––––––––––– 43 Waldtraut Lewin bietet eine eigen(artig)e Version des Textes: Die oben zuerst zitierte Passage wird man eher als Paraphrase oder Nachdichtung von ecl. 4,4-10 bezeichnen, ebenso einen (hier nicht zitierten) weiteren Abschnitt nach 4,49-52; hingegen bewegen sich die Schlußverse nahe am Original 4,60-63 (V. 62 mit der Lesart cui non risere parentes). 44 Eine Analyse des Stückes bietet Paul G. Klussmann: „Heiner Müllers Germania Tod in Berlin“, in: Walter Hinck(Hg.): Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen – Interpretationen, Frankfurt a.M. 1981, 396-414; vgl. auch

Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils

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unmittelbar folgende Szenen sind verbunden durch das Grauen der Schlacht von Stalingrad: Hommage 1 spielt in Stalingrad – Caesar und Napoleon treten auf, nach eßbaren Leichenteilen suchend, die Nibelungen schlagen sich – unbelehrt und unbelehrbar – weiterhin gegenseitig tot; Hommage 2 läßt in einer Kneipe desillusionierte, kaputte Stalingradheimkehrer auf im Westen und Osten Berlins (an)schaffende Frauen und Männer treffen, deren Gespräche in spannungsreicher Ambivalenz unter anderem um Vor- und Nachteile des Kapitalismus und eines verheißenen Sozialismus kreisen. Den Höhepunkt dieser zweiten Szene bildet der bizarre Auftritt des sog. Schädelverkäufers.45 Der Mann bietet Menschenschädel an, gut abgekocht, und gelegentlich auch ganze Skelette: … Ein sauberes Exemplar. 18. Jahrhundert nach dem Grabstein. … Hier ist gedacht worden, mein Herr, die Theodizee des großen Leibniz hatte Platz in diesem Hohlraum. Der Materialismus ist ein Irrtum, glauben sie mir.

Auf die Frage eines Kneipenbesuchers (des „Aktivisten“) – „Schlägst du die auch selber tot, Kollege?“ – antwortet der Schädelverkäufer: Ich arbeite am Tiefbau. Sozusagen. Wir transportieren Friedhöfe unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Umbetten, wie es in der Sprache der Hinterbliebenen heißt. Ich bin ein Hinterbliebener, ich bette um. UNDER BLUOMEN UNDE GRAS. Wir arbeiten nachts. Unter Alkohol, wegen der Infektionsgefahr. GRAUT LIEBCHEN AUCH VOR TOTEN. Für mich eine Tätigkeit von einiger Pikanterie: Ich war Historiker. Ein Fehler in der Periodisierung, das Tausendjährige Reich, Sie verstehn. Seit mich die Geschichte an die Friedhöfe verwiesen hat, sozusagen auf ihren theologischen Aspekt, bin ich immun gegen das Leichengift der zeitlichen Verheißung. Das goldene Zeitalter liegt hinter uns. Jesus ist die Nachgeburt der Toten. Kennen Sie Vergil?

(Der Schädelverkäufer rezitiert, Vergils Verse verfremdend):46

–––––––––––– Bernd Matzkowski: Erläuterungen zu Heiner Müller Germania Tod in Berlin, Hollfeld 2000; Königs Erläuterungen und Materialien, Bd. 401. 45 Die folgenden Zitate stützen sich auf das Programmbuch (Nr. 28) zur beeindruckenden Aufführung im Schauspielhaus Bochum, Spielzeit 1988/89, unter der Regie von Frank-Patrick Steckel. 46 Heiner Müller hat sich offenbar an der Übertragung von Johann Heinrich Voß (Braunschweig 1799), vielleicht zusätzlich der von Wilhelm Binder (Stuttgart 1861) orientiert und dem Schädelverkäufer eine eigen(willig)e Kompilation von Versen der 4. Ekloge in den Mund gelegt: ecl. 4,7 + 8b/9a + 14b + 52 (+ 18-20) + 28-30 + 32f. Merkwürdigerweise verraten weder Matzkowski noch Klussmann (ein Kenner der pastoralen Dichtung; beide Fußn. 44) ihren Lesern, welche Ekloge Vergils Heiner Müller aufgegriffen, welche Verse er zitiert und welche Übertragung(en) er dafür benutzt hat.

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SCHON ENTSTEIGT EIN NEUES GESCHLECHT DEM ERHABENEN HIMMEL SCHLIESST DIE EISERNE ZEIT UND BEFREIT VOM SCHRECKEN DIE LÄNDER. SEHT WIE ALLES ENTGEGEN ATMET DEM NEUEN JAHRHUNDERT DAS GEFLÜGELT HERAUFKOMMT MIT GESCHENKEN DER ERDE; SANFT MIT ÄHREN WIRD VON SELBER VERGOLDEN DIE FLUR SICH AUCH AM WILDERNDEN DORN WIRD ROT ABHANGEN DIE TRAUBE AUS HARTSTÄMMIGEN EICHEN WIE TAU WIRD TROPFEN DER HONIG ZU VERSUCHEN DAS MEER IM GEBÄLK, ZU SCHIRMEN DIE STADT MIT MAUERN, DEN GRUND MIT DER FURCHE ZU SPALTEN IST DA KEINE NOT MEHR.

Der Wirt holt den Schädelverkäufer und die übrigen Kneipenbesucher/innen in die triste Wirklichkeit zurück mit den Worten: „Herrschaften, heben Sie den Arsch von meinen Stühlen. Polizeistunde.“ Auch der Wirt kann sich nicht auf die „Gnade der späten Geburt“ berufen. Ein betrunkener Stalingradheimkehrer, der grauenhafte Erlebnisse zum Besten gibt, belehrt ihn: „Ich war schon links als dein Lokal noch Sturmlokal war, braun mit SA.“ Wenn Heiner Müller den Betrunkenen mit einem seiner „Jungens“, der jetzt Staatssekretär in einem DDR-Ministerium ist, zusammentreffen und im Suff den Kessel von Stalingrad nachzeichnen läßt, so zeigt er, „daß die deutsche Lust am Krieg(s)spielen auch in der DDR auf allen Ebenen der Gesellschaft noch lebendig ist und daß Stalins Erbe noch ebenso fortwirkt wie das der verschrotteten deutschen Helden“.47 –––––––––––– 47 Klussmann, 1981 (wie Fußn. 44), 409. Dazu noch eine Bemerkung am Rande: Der Betrunkene schüttet, um die Suffszene zu demonstrieren, in der Kneipe Bier auf den Tisch: „Das ist die Wolga. Hier ist Stalingrad“. Daß es sich in der Szene um bewußte Adaption von Tibullversen handelt, ist wenig wahrscheinlich, aber

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Heiner Müller erweist sich auch in Germania Tod in Berlin nicht nur als Meister der ambivalenten Aussage, sondern auch als guter Kenner der antiken Poesie:48 Die Collagenform, die extreme Intertextualität eröffnen Deutungsspielräume.49 Paul Gerhard Klussmanns Deutung, der Schädelverkäufer formuliere in seinen Erzählungen, Zitaten und Reflexionen „des Autors Verzweiflung über die Lage in der DDR“, das Zitat aus der 4. Ekloge sei aber zugleich „eine neue Verkündigung der Hoffnung auf zukünftige Veränderungen in der Zeit und in Deutschland“ wird von Volker Riedel – vielleicht zu sicher – zurückgewiesen.50

–––––––––––– bei Heiner Müller nicht auszuschließen. Tibull äußert in seiner Elegie 1,10 seine Friedenssehnsucht in Bildern des Goldenen Zeitalters; er möchte nicht tauschen mit dem, der im Kampf die feindlichen Anführer niederstrecken darf, „damit er mir beim Gelage seine Taten als Kriegsmann erzählen und auf dem Tisch mit Wein sein Lager einzeichnen kann“ (1,10,30-32 sternat et adversos Marte favente duces, / ut mihi potanti possit sua dicere facta / miles et in mensa pingere castra mero). Vgl. dazu Verf.: „SAEVA PAX – Kriegs- und Friedenstexte“, in: G. B. u.a. (Hgg.): Krieg und Frieden im Altertum, BAC 1, Trier 1989, 219-245 (dort S. 233-237). 48 Vgl. dazu Volker Riedel: „Antikerezeption in den Dramen Heiner Müllers“, in: Gerhard Binder / Bernd Effe (Hgg.): Das antike Theater. Aspekte seiner Geschichte, Rezeption und Aktualität, BAC 33, Trier 1998, 345-384. 49 Im Hintergrund des „Dramas“ steht natürlich die Germania des Tacitus und deren Rezeption. Vgl. dazu Verf.: „Vom Schicksal einer Schicksalsschrift der Deutschen im 19. Jahrhundert“, in: Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg): Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Säkularisierung im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, 26-47 (mit Literatur). 50 Klussmann, 1981 (wie Fußn. 44), 409. Vgl. Riedel, 1998 (wie Fußn. 48), 382, dort Fußn. 153; auf Germania Tod in Berlin geht Riedel S. 366 nur mit wenigen Worten ein.

Die Aeneas-Rolle des elegischen Helden Epische Inszenierung und dichterisches Selbstverständnis in Celtis’ Amores

CLAUDIA WIENER (München) Die vier Bücher Amores des Conrad Celtis unterscheiden sich von den antiken Vorbildern der Liebeselegie dadurch, dass sie nicht nur in Teilen zusammenhängende Liebesgeschichten erzählen, sondern kohärent nach Art einer Lebensreise angelegt sind. Ein im Titel wie im Holzschnittprogramm1 kenntlich gemachtes Tetradenschema weist jedem Buch einen eigenen Lebensabschnitt (pueritia, adolescentia, iuventus, senectus) mit dem entsprechenden Temperament nach der Säftelehre, eine eigene Jahreszeit vom Frühling bis zum Winter und eine bestimmte Region Germaniens nach den vier Himmelsrichtungen mit einer jeweils neuen Lebensabschnittsgefährtin und ihren Lebensgewohnheiten in dieser Gegend zu. Man muss dabei betonen, dass es sich um eine Region „Germaniens“, nicht Deutschlands, handelt, denn die antike Kartographie, nämlich die ptolemäischen Pinakes, bestimmen die quattuor latera Germaniae, so dass das erste Buch im Osten des antiken Germaniens, nämlich in Krakau, spielt, während Buch II Regensburg mit Bayern und Tirol in den Blick nimmt, Buch III Mainz und die Rheingegend, Buch IV Lübeck und das Ostseegebiet. Die Holzschnitte zu den vier Elegienbüchern sind, unterstützt durch einen Rahmen von geographischen Längen- und Distanzangaben als Landkarten, gewissermaßen als ptolemäische Tafeln, für die jeweilige Region gestaltet, in deren Zentrum jeweils eine Stadt mit ihren markantesten Bauwerken erkennbar wiedergegeben ist. Die vielfältigen Funktionen und vielschichtigen Bezüge dieser Liebeselegien in alle denkbaren Richtungen hat jüngst Jörg Robert in seiner Dissertation sichtbar gemacht, die den poetologischen Anspruch der Amores als Nationaldichtung und ihre (nachträgliche) Adelung durch neuplatonischen Gehalt –––––––––––– 1

Umfassend dazu Peter Luh: Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollendete Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte, Frankfurt a.M. u.a. 2001.

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umfassend behandelt.2 Sogar das ptolemäische Tetradenschema wird unter dem neuplatonischen Einfluss artifiziell auf den Holzschnitten und in einem Begleitgedicht des anlässlich der Kolleggründung zum poeta laureatus gekrönten Longinus nachträglich zu einem Triaden- bzw. Enneadenschema ausgeweitet; denn „zu Ehren der neun Musen“ zeigt jeder der vier Holzschnitte in der oberen Rahmenleiste ein Novenarium, eine Sammlung von neun Kategorien, die allerdings inhaltliche Doppelungen wie Temperament und Gesichtsfarbe, Jahreszeit- und Tageszeitangabe und ähnliche für den Buchinhalt nicht ernsthaft relevante Angaben einführen muss. Die Kohärenz der Lebensreise in den vier Elegienbüchern wird durch autobiographische Bezugnahmen mit einer Teleologie versehen, die an das Ende der Irrfahrten des Wanderhumanisten knapp vor dem Tod auf hoher See (am. 4,14) die Berufung zum Leiter des Collegium poetarum et mathematicorum an die Universität Wien durch Kaiser Maximilian stellt und den Dichter so in den Rang eines Lehrers der Jugend Deutschlands erhebt (am. 4,15). Die demonstrative Ablehnung eines materiell gesicherten bürgerlichen Lebens zugunsten der rastlosen Forschertätigkeit eines Wanderhumanisten erweist sich durch den Erfolg (nachträglich?) als empfehlenswertes Ideal und adelt (rückwirkend?) auch die amourösen Abenteuer als unerlässliche Impulse und Erfahrungen auf der Suche nach einem höheren Lebenssinn. Eckart Schäfer, der als Herausgeber der vier Bücher Oden mit demselben Aufbau-Schema konfrontiert ist, hat auf der Grundlage der handschriftlichen Überlieferung überzeugend ausgeführt,3 dass die für das Jahr –––––––––––– 2

3

Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich, Tübingen 2003. Für die unterdessen stark angewachsene Literatur zu Celtis’ Leben und Werk darf ich hier verweisen auf Jörg Roberts Artikel: Jörg Robert: „Celtis (Bickel, Pickel), Konrad (Conradus Celtis Protucius)“, in: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Verfasserlexikon. Deutscher Humanismus 1480-1520, 1, 375-427. Die wichtigen Ergebnisse von Dieter Wuttkes jahrzehntelanger Entdeckertätigkeit zu Zeugnissen der Werkentstehung und Selbstinszenierung sind gesammelt greifbar in: Dieter Wuttke: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren, 2 Bde. Baden-Baden 1996. Eckart Schäfer: „Nachlese zur Odenedition des Conrad Celtis“, in: Ulrike Auhagen u.a. (Hgg.): Horaz und Celtis, Tübingen 2000, 227-259. Der Beitrag ist weniger als Nachlese zu verstehen, sondern bildet die unverzichtbaren Prolegomena zur eben erschienenen Oden-Ausgabe: Eckart Schäfer (Hg. u. Übers.): Conrad Celtis. Oden / Epoden / Jahrhundertlied. Libri Odarum quattuor, cum Epodo et Saeculari Carmine (1513), Tübingen 2008.

Die Aeneas-Rolle des elegischen Helden

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1500 geplante „Säkularausgabe“ der Elegien, Oden und Epigramme, wie sie in der Handschrift der Nürnberger Stadtbibliothek Cod. Cent. V App. 3 angelegt ist, ein derartiges Happy End nicht vorsah. Die Handschrift wurde in einer Lebensphase zusammengestellt, als Celtis sich mit dem Ausbruch seiner Syphilis-Erkrankung konfrontiert sah und sein Lebenswerk angesichts des nahen Todes ordnen wollte, den er aufgrund einer astrologischen Prognose kurz nach seinem 40. Geburtstag erwartete. Tatsächlich blieb für die (erst postum publizierten) Oden dieses Konzept unverändert. Einen Hinweis auf eine entsprechende frühere Werkkonzeption konserviert auch der Titelholzschnitt der Amores, dessen Tetradenschema in Form einer stilisierten Windrose für das vierte Buch nicht senectus, sondern mors als Ziel angibt und die Elbe so hervorhebt, dass Celtis’ Gönner Kurfürst Friedrich III. von Sachsen (reg. 1486-1525) als potentieller Widmungsadressat anzunehmen ist, dem Celtis auch die Hrotsvit-Edition des Jahres 1501 zugeeignet hatte. Im Unterschied dazu stellt der Nürnberger Werkdruck von 1502 die Amores in den Rahmen einer Werkausgabe, die einerseits die Nürnberger Förderer mit der Norimberga und dem Sebaldshymnus bedenkt, andererseits aber vor allem die panegyrische Danksagung an König Maximilian für die Kolleggründung und die Ausstattung des Kollegleiters mit dem Privileg zur Dichterkrönung in den Vordergrund rückt: optisch durch die Dürerschen Holzschnitte des Widmungsblatts und der Philosophia, literarisch durch die Paratexte von der Widmungspraefatio der Amores über die Stiftungsurkunde und den Panegyricus des neugekrönten poeta Longinus auf Maximilian bis zum Ludus Dianae, der als Sangspiel am königlichen Hof in der Dichterkrönung seinen Abschluss und Höhepunkt findet.4 Angesichts dieses komplexen Referenzrahmens und den Intentionsüberschneidungen von panegyrischen Tendenzen mit der Demonstration einer intellektuell-antibürgerlichen Lebensweise, von Liebesdichtung mit geo-, ethno- und historiographischer Landesbeschreibung, von traditioneller Liebeselegie mit neuplatonischer Liebesphilosophie ist es wenig erstaunlich, dass auch die antiken Referenztexte nicht auf die Gattungsvorgänger der Liebeselegie beschränkt bleiben und dass die schon von Properz und Ovid praktizierte thematische Erweiterung der Gattung die Lizenz zur Öffnung in viele Richtungen gibt. Formen wie das Hodoiporikon und Propemptikon sind dabei zu erwarten, aber vor allem die Satire ist es, die ihren triumphalen Einzug in die Liebesdichtung hält. Die Wiederbelebung –––––––––––– 4

Stellvertretend für zahlreiche Untersuchungen zum Thema sei hier genannt: Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert, Köln u.a. 2003.

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des Bilds von den moralisch unverdorbenen alten Germanen nach Caesars Gallierexkurs und Tacitus’ Germania bietet für den eifersüchtigen Liebhaber den Anlass, in einer scharfen Kritik am weiblichen Luxus und der Verführung (hier durch reiche ‘Pfaffen’) auf Juvenals Vorlagen zurückzugreifen. Eine Ehebruch-Szene aus Horaz’ Satire 1,2,41-46 bildet den Nucleus für die Ausgestaltung einer Flucht aus dem Fenster, mit der eine Liebesnacht bei Ursula ihr abruptes Ende findet (am. 3,5).5 Gerade diese komödiantische Szene aber zeigt: Wenn Celtis selbst als Liebhaber in den verschiedensten Rollen nach literarischen Vorbildern auftritt, reiht er sein Werk damit in die Haltung höfisch-humanistischer Literatur ein, wie sie sich spätestens mit Enea Silvio Piccolomini und seiner Historia de duobus amantibus durchgesetzt hat, in der er dem Kanzler Friedrichs III., Caspar Schlick, die Rolle des feurigen Euryalus in einem Verhältnis zur schönen ‘Lucretia’ aus dem Seneser Patriziat angedichtet hatte. Wenn in den Amores epische Szenen und Personenkonstellationen evoziert werden, ist ein Spannungsverhältnis zwischen der neuzeitlichen Situation mit eher banalen Anlässen oder Auswirkungen und der schicksalhaften Tragik des epischen Vorbilds zu erwarten. Elisabeth Klecker hat am Beispiel des Riccardo Bartolini und seines Odeporicon von 1515 den humoristischen Umgang mit Vergils Aeneis als Folie für das Erleben der eigenen Gegenwart im Sinne „eines urbanen Stils“ gedeutet, mit dem die Literaten im Umkreis von Kardinal Matthäus Lang die „humanistische Atmosphäre“ des diplomatischen Treffens in Preßburg und Wien demonstrieren konnten.6 Über diese allgemeine Einordnung in den humanistischen Kontext hinausgehend, setzt Celtis die epische Inszenierung gezielt zu programmatischen Selbstaussagen ein, wie an drei Fällen gezeigt werden soll. Im ersten Buch inszeniert Celtis einen descensus ad inferos, als er das Salzbergwerk von Wieliczka beschreibt (am. 1,6). Im zweiten Buch wird der Liebhaber, der Regensburg verlassen will, von einem Albtraum gequält, in dem ihm seine Geliebte Elsula in der Rolle der Dido erscheint –––––––––––– 5

6

Wolfgang Wenk: Abenteuer im Kopf. Zu Konrad Celtis, Amores 3,5, WHB 32, 1990, 41-57. Bezeichnend ist freilich gerade bei diesem nachweislichen Fall gezielter Horaz-Rezeption, dass Celtis das von göttlicher Stimme verkündete moralische Schlussdiktum nicht als satirische dissuasio stehen lässt, sondern mit der psychologischen Erkenntnis und dem entsprechenden Handlungsbekenntnis aus Ovids Amores (2,19,31ff.) wieder auf das elegische Wertesystem zurückverweist: Sic in lascivo Veneris contingit amore | Ut facilem spernas difficilemque petas (am. 3,5,6566). Elisabeth Klecker: „Mit Vergil im Seesturm. Parodie und Panegyrik bei Riccardo Bartolini“, in: Reinhold F. Glei u.a. (Hgg.): ‘Parodie’ und parodia. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006, 321-341, hier 341.

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(am. 2,11). Und der schon erwähnte Abschluss der Irrfahrten (am. 4,14) ist als epischer Seesturm von lebensbedrohlicher Gewalt inszeniert.7 Die antiken Vorbilder sind über die epische Bauform und in gedanklichen Strukturen und Argumentationsmustern oft leichter greifbar als auf der Grundlage von Similien.8 Um die Beziehungen zum Vorbild angemessen deuten zu können, bleibt das close reading-Verfahren die zuverlässigste Methode.

Der Gang in die Unterwelt – Ad Ianum Terinum de salifodinis Sarmatiae, quas per funem immissus lustraverat. (am. 1,6) Den Abstieg in die Unterwelt vollzieht der Dichter tatsächlich und leiblich, indem er sich in den Stollen eines Salzbergwerks abseilen lässt. Das Salzbergwerk, dessen genaue Lage zwar nicht angegeben ist, das aber Wieliczka sein muss,9 verdient im Rahmen der Landesbeschreibung eine ausführlichere Behandlung; man erwartet als Leser zum Thema ‘Bergwerk’ eine Beschreibung der Anlage und der Art der Förderung, die Celtis nach

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Die Bedeutung des Seesturms als d a s epische Element betont besonders David Maskell: The historical epic in France (1500-1700), Oxford 1973; differenzierend dazu und bes. zur Austrias des Riccardo Bartolini vgl. Klecker, 2006 (wie Fußn. 6). Celtis’ Amores sind nur in der Ausgabe von Felicitas Pindter (Leipzig 1934) in textkritischer Edition greifbar; der Erstdruck (Nürnberg 1502) ist bei CAMENA (Corpus Automatum Multiplex Electorum Neolatinorum Auctorum) abrufbar. Ich zitiere in diesem Beitrag verhältnismäßig ausführlich, um so auch die sprachlichen Similien dokumentieren zu können; sie gewähren insofern einen Einblick in die Dichterwerkstatt, als man sehen kann, dass Celtis oft nur Wortverbindungen übernimmt, ohne dass damit eine relevante inhaltliche Beziehung hergestellt wäre. Inhaltliche und thematische Übernahmen sind oft gerade nicht über die Similien greifbar, weil Celtis hier gern Synonyma einsetzt. Bevorzugter Autor bleibt Ovid, aber Vorlieben für auffällige Adjektivbildungen (etwa nach Hrotsvits Vorbild) und für kolloquiale Wendungen aus den Satirikern und Martial sind erkennbar. Bei Schilderungen neuzeitlicher Verhältnisse dünnt sich der Similienapparat erwartungsgemäß extrem aus. Vgl. Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung, Baden-Baden 1984, hier 37f.; Manfred Mindt: „Das Salzbergwerk Wieliczka“, Praeterita nova novissima nec non futura ex orbe mediolatino 23, 2000, 14f. Das Gedicht ist übersetzt, eingeleitet und kommentiert in: Wilhelm Kühlmann u.a. (Hgg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch, Frankfurt a.M. 1997, 76-81 u. 986-989.

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dem Modell des antiken Lehrgedichts gestalten könnte,10 oder auch eine geologische Erklärung, verbunden mit einer aitiologischen Erzählung, wie das Salzvorkommen hier zu erklären ist. Zumindest aber erwartet man als Kenner von Texten im Sinne eines Städte- und Landeslobs an dieser Stelle eine Würdigung der Anlage in ihrer Bedeutung für den Wohlstand der Region.11 Nichts von alledem bietet uns Celtis. Er beginnt die Elegie im Ton eines humanistischen Briefs,12 indem er seinem Freund Janus Vorhaltungen macht, ihm zu lange nicht mehr geschrieben zu haben. Der Vorwurf wird in seiner existentiellen Gewichtigkeit unterstrichen und geradezu pathetisch inszeniert, denn Celtis will genau diese Frage in dieser Ausnahmesituation canens sub gelidis antris ausgerufen habe: „Janus, Janus, warum hast du mir nicht geschrieben?“ Celtis kann sich das Schweigen des Freundes nur damit erklären, dass Janus für ihn gestorben bzw. tatsächlich vom Erdboden verschlungen halte: für einen vates profundo mersus.

–––––––––––– 10 Vgl. die Hinweise von Wiegand, 1984 (wie Fußn. 9) zur Thematik ‘Bergwerk’ in der zeitgenössischen Literatur. 11 Vgl. etwa den Abschnitt De Sarmacia regione Europe in der Schedelschen Weltchronik nach der Europa des Enea Silvio Piccolomini fol. CCLXVIIV: Metallum uero ullum quam plumbum sarmacia fert non alia quam saturni causa, qui terram rigido infestat frigore. Salis autem maxima copia est qua cetere longinque gentes utuntur. quod maximum praestat toti reginoni emolumentum. qua nulli regi ipsi maior in toto regno gaza extat. Nam sub terra exciduntur ingentia salis saxa. Extra terram autem aliud sal ex aqua decoquitur. Vgl. dagegen auch die sapphische Ode De Polonia et Cracovia, die der Landsmann und Celtis-Freund Laurentius Corvinus (Gernot M. Müller: „Corvinus (Rabe), Laurentius“, in: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Verfasserlexikon. Deutscher Humanismus 1480-1520, Bd. 1, 496-505) in seine Cosmographia dans manuductionem in tabulas Ptholomei (um 1496 von Heinrich Bebel in Basel herausgegeben) zum Lob Polens eingefügt hat: Wie bei Celtis werden hier die Bergwerke als Unterweltseingang poetisch stilisiert, wobei Corvinus die motivischen Parallelen jedoch wesentlich gründlicher nutzt als Celtis. 12 Dass dieser Brieftopos nicht nur humanistisch ist, sondern auch in der antiken Brieftheorie und literarischen Praxis eine besondere Bedeutung hat, zeigt die Ennodius-Studie von Bianca-Jeanette Schröder: Bildung und Briefe im 6. Jahrhundert, Berlin u.a. 2006.

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Iane, canens gelidis repetebam saepe sub antris, Cur nullo nobis tempore scripta dares. Forte tuum reris vatem mersum esse profundo, Pandit ubi tristes Sarmatis ora specus Multaque de umbrosis caeduntur saxa cavernis, Quae niveum tribuunt igne soluta salem. Vel saltem poteras paucis mandasse: „Valeto, Celtis, et infernas i, rediture, domos!”

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1 Verg. georg. 4,509: gelidis [...] sub antris. – 5 Verg. Aen. 8,242: umbrosae penitus patuere cavernae; Ov. am. 1,7,52: caeduntur Pariis qualia saxa iugis.

Die Chance, dass ein vates in der Unterwelt die Assoziationen an Orpheus oder Amphiaraus beim Leser wachruft, wird jedoch von Celtis gar nicht im Sinne einer Selbststilisierung genutzt. Auch auf Aeneas und Sibylle und damit auf den wichtigsten descensus ad inferos der antiken Epik wird weder motivisch noch mit Signalzitaten Bezug genommen. Stattdessen erinnert Celtis an Hercules und Theseus (am. 1,6,9-14): Sed redii superas dextro Iove vivus ad auras Lustravi et Stygii tristia regna canis, Alcide, ut similem dicar subiisse laborem Et socia, Theseu, qui rapis arma manu, Illaque iam rigido volui tibi scribere versu, Quo noster solidum pignus haberet amor.

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9 Pers. 5,114: liberque ac sapiens praetoribus ac Iove dextro – 10 Hor. carm. 3,4,46: regnaque tristia; Claud. rapt. Pros. 2, praef. 34: Stygii terruit ira canis; Lucan. 9,869: tristia regna Iubae. – 11 Tib. 1,4,47: Nec te paeniteat duros subiisse labores. – Verg. Aen. 6,392-394 (Charon): nec vero Alciden me sum laetatus euntem | accepisse lacu, nec Thesea Pirithoumque, | dis quamquam geniti atque invicti viribus essent. – 12 Ov. am. 3,15,10: socias ... manus. – 14 Ov. met. 8,48: me comitem, me pacis pignus haberet.

Nun beklagt sich zwar Vergils Charon bei Sibylle über die randalierenden Göttersöhne aus der Oberwelt und nennt als Beispiele Hercules sowie Theseus und Pirithous (Verg. Aen. 6,393),13 doch Celtis denkt hier offensichtlich an die Personenkonstellation in Senecas Hercules furens,14 wenn er Theseus gleichberechtigt mit Hercules socia … manu die Waffen ergreifen lässt. Worauf es ihm ankommt, ist die Situation zweier Freunde in Todes–––––––––––– 13 Vgl. Wiegand, 1984 (wie Fußn. 9), 988 zur Stelle. 14 Senecas Hercules furens und den Thyestes hatte Celtis zur Grundlage einer Vorlesung im Wintersemester 1486/1487 an der Universität Leipzig gemacht und dazu den Text der Seneca-Ausgabe Ferrara 1484 mit der Widmung an Fürst Magnus von Anhalt nachdrucken lassen; zu dem mir nicht zugänglichen Druck vgl. Hans Rupprich: Der Briefwechsel des Konrad Celtis, München 1934, Nr. 5 und 6 mit Anmerkungen.

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gefahr. Theseus wird im Hercules furens als wahrer Freund und Helfer des Hercules in jeder Lage vorgestellt: Er begleitet ihn in die Unterwelt, als dieser den Cerberus ans Licht bringen soll, er bleibt anschließend als Beschützer bei Hercules’ Familie und erzählt ihnen in einem Botenbericht von epischer Breite von der überstandenen Unterweltstour, während Hercules den Usurpator Lycus tötet; vor allem aber kann Senecas Theseus seinen Freund Hercules nach dessen Wahnsinnsanfall zum Weiterleben bewegen und ihm einen Exilort und die Entsühnung in Aussicht stellen. Im Bezug auf die Protagonisten dieser Vorlage ist also ein weiterer, wenn auch unausgesprochen bleibender Vorwurf an Janus zu entdecken, weil er Celtis nicht in diese Unterwelt begleitet hat. Doch beendet Celtis diese Briefeinleitung versöhnlich, indem er ihm die anschließende Unterweltsschilderung als Pfand ihrer Freundschaft widmet. Er beginnt mit einer Topothesie, die typische Beschreibungen eines Unterweltseingangs aufgreift: die breite Öffnung, die in eine unergründliche Tiefe mit diffusem Licht führt. Vergil hatte diese Lichtverhältnisse durch den Vergleich mit einem Waldweg veranschaulicht, den man bei einer nicht ganz klaren Mondnacht zu gehen hat: Nicht nur die Dunkelheit verunsichert, sondern vor allem die Farbwahrnehmung ist beeinträchtigt (Aen. 6,270-272). Dagegen lässt Senecas Theseus eine Zeit lang noch das Tageslicht in den breiten Unterweltseingang reichen (Sen. Herc. f. 667-672). Celtis greift auf Wortmaterial von Theseus’ Höhleneingangsbeschreibung zurück, passt seine Schilderung der Lichtverhältnisse inhaltlich aber der realen Situation an; denn er hat – im Unterschied zu den antiken Unterweltsgängern – eine Fackel bei sich. Der Schein der Fackel lässt zwar die Tiefe erahnen, dringt aber nicht bis zum Grund, sondern verliert seine Kraft (am. 1,6,15-18): Est specus immensis pandens cum faucibus ora Suppositumque vident lumina nulla solum, Sed face candenti distantia longa notatur, Fax ubi inexhausta luce fatiscit humo.

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15 Verg. georg. 4,418: est specus ingens | exesi latere in montis; Ov. fast. 4,495: est specus exesi structura pumicis asper; Ov. met. 11,235: est specus in medio, natura factus an arte, | ambiguum, magis arte tamen; Sen. Herc. f. 664-666: hic ora solvit Ditis invisi domus | hiatque rupes alta et immenso specu | ingens vorago faucibus vastis patet. – 17 distantia longa zeigt eine syntaktisch ungewöhnliche Verwendung; man muss wegen des zusätzlichen Adjektivs longa annehmen, Celtis wolle distantia als Substantiv im Sinne von „Distanz“ verstanden wissen; nach dem Modell des Lukrez und Ovid wäre das Partizip zu erwarten longe distantia (mit Ablativ) zu erwarten: Lucr. 2,334f.: cunctarum exordia rerum | qualia sint et quam longe distantia formis, | percipe; Ov. Pont. 1,5,81f.: si te distantia longe | Pleiadum laudent signa; Ov. fast. 1,305: admovere oculis distantia sidera mentis.

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Jetzt endlich wird die Bergwerksanlage mit dem Förderseil beschrieben, die zunächst zwar wie moderne Technik, dann aber wie eine unheimliche Höllenmaschine wirkt, die den Menschen als gefesseltes und damit hilfloses Opfer ergreift und durch den haltlosen Fall in die Tiefe wirft (am. 1,6,19-24): Ora specus circum latissima machina surgit, Quam rota cum rapidis turbine versat equis, Robora transpositum per multa volumina funem Plectuntur; curvo pondera dente trahens Lubricus hic caecum mortales mittit in antrum Aerium praebens irrequietus iter.

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19 Sen. Herc. f. 673: hinc ampla vacuis spatia laxantur locis. – 20 Catull. 64,314: libratum tereti versabat turbine fusum; Sen. Thyest. 621f.: res deus nostras celeri citatas | turbine versat. – 21-23 Die syntaktische Struktur dieser Beschreibung ist schwierig; plectuntur ist wohl als Simplex anstelle von complectuntur aufzufassen; man ist anschließend zunächst versucht, den Nominativ Singular des Partizips trahens wohl, wie an anderen Stellen der Amores übrigens auch (vgl. schon am. 1,1,6), als eine Art von Constructio ad sensum zu behandeln und auf robora zu beziehen; mit lubricus im folgenden Vers kann aber nur funis gemeint sein. Auch Wiegand 1984 (wie Fußn. 9) geht in Übersetzung und Interpunktion von einem Subjektswechsel aus; ich übersetze so: „Rings um die Eingänge der Höhle erhebt sich eine ausgedehnte Mechanik [da Senecas Theseus die Breite des Unterweltseingangs betont, könnte man latissima auch auf ora beziehen, naheliegend ist allerdings der optische Eindruck der riesigen Maschinerie], die ein Rad mit schnellen Pferden im Kreis dreht; ihr festes Holz hält ein Seil, das in vielen Windungen darübergelegt ist. Mit einem gekrümmten Zahn die Lasten ziehend, lässt dieses glatte Seil die Sterblichen hinab in die finstere Höhle, indem es rastlos den Weg durch die Luft bietet.“ – 24 Ov. fast. 2,252: aerium pervolat altus iter; Stat. Theb. 10,842: aerium sibi portat iter.

Celtis betont den Verlust des Lichts, indem er den in seiner Dichtung sonst so akribisch und astronomisch genau bestimmten Sternenhimmel mit einer endlosen Kette von Verneinungen in Erinnerung ruft (am. 1,6,25-36): Huic ego sum tremulus toto cum corpore vinctus, Ut fueram tristes ausus inire domos Quas neque lucifluus collustrat lumine Phoebus Nec radiis penetrat lucida fratre soror; Cum Iove multiproco fugit hic Cyllenius ales, His neque sub specubus, Mars violente, rubes, Nec Veneris flammae rutilant hoc orbe remoto Falciferique senis lurida stella latet, Plaustra nec undivagis ibi monstrant aequora nautis, Illa nec Arctophylax regna sepulta videt, Sed volitant caeco tenebrosa ibi sidera mundo, Sidera quae nullum sunt paritura diem.

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26 Ov. fast. 3,620: Tartareas ausus adire (Alton / Wormell / Courtney) domos. – 27 Cic. div. 1,17 (=carm. frg. 3,2): collustrat lumine mundum; Iuvenc. 3,293: lucifluum ... ortum, Ven. Fort. Mart. 2,265: lucifluas ... habenas; Hrotsvit, Agnes 449: luciflua regis caelestis in aula Celtis, Od. 1,9,11: Qualis Phoebus agit lucifluam rotam; Celtis Od. 3,17,80: Et mox, luciflua dum redit Phoebus in orbita. – 28 Ov. Ib. 107: lucida Phoebe; Boeth. cons. 1 carm. 5, 5: ut nunc pleno lucida cornu | totis fratris obvia flammis | condat stellas luna minores. – 29 multiprocus als Neubildung analog zu multifarius oder multiformis (ähnlich schol. Pers. 1,4: Polidamas id est multinuba). Val. Fl. 4,385, Claud. rapt. Pros. 1,77 et al.: Cyllenius […] ales (= Mercurius). – 30 Naldus de Naldis, eleg. 1,10,72; 3,11,274; epigr. 182,1: Mars violente. – 31 Lucan. 2,734; 7,664; Ps.-Ov. Epiced. Drusi 387: orbe remoto. – 32 Ov. Ib. 213f.: Martis | sidera presserunt falciferique senis (=Saturnus); Mart. 11,6,1: unctis falciferi senis diebus. – 33 Sil. 14,572: uritur undivagus Python.

Die angesichts der kurzen Elegie überdimensionierte Schilderung des vermissten Sternenhimmels ist einerseits typisch für Celtis’ plakative Betonung der astronomischen Kenntnisse, kann andererseits hier aber drastisch veranschaulichen, dass der Verlust des Himmelslichts das Bitterste ist, was man in der Unterwelt empfinden kann. Und vielleicht soll ja gerade die undurchdringliche Finsternis die Erklärung dafür abgeben, dass Celtis von dem, was im Schacht des Bergwerks selbst vor sich geht, seinem Leser und seinem Freund Janus überhaupt nichts mitzuteilen hat. Weder wird irgendwo das mythische Personal der Unterwelt erwähnt noch wird dem neugierigen Leser der Vorgang des Salzabbaus auch nur in Ansätzen erklärt. Einzig die tenebrosa sidera der dortigen Unterwelt, offenbar die Laternen der Bergarbeiter, werden als Unterweltssternenhimmel gedeutet.15 Von der Bergwerks-Unterwelt selbst erfahren wir bei Celtis also nichts mehr; seine emotional gefärbten Eindrücke konzentrieren sich auf das Gefühl des Flugs beim Abseilen. Er fühlt sich zwischen Leben und Tod schwebend und befürchtet ein Ikarus-Schicksal, nicht ohne selbst in dieser Situation an seine memoria zu denken: Denn ein solcher Tod hätte für ihn immerhin den Vorteil, dass das Land nach ihm benannt würde. Wieder ist es der Freund Janus, der dann diese Aufgabe der memoria-Sicherung übernehmen müsste. Aber dieser Heldentod ist ihm nicht vergönnt, er fühlt sich stattdessen wie ein Wiederauferstandener von den Toten und verspricht, in platonischer Tradition die Unterweltsstrafen

–––––––––––– 15 Vielleicht mit Rückgriff auf Vergils Schilderung des Elysiums (Aen. 6,41: solemque suum, sua sidera norunt); vgl. auch Claudian, dessen Pluto seiner Proserpina versprechen kann, es gebe auch in der Unter- bzw. Gegenwelt eigene Sterne (Claud. rapt. Pros. 2,282-285): amissum ne crede diem: sunt altera nobis | sidera, sunt orbes alii, lumenque uidebis | purius Elysiumque magis mirabere solem | cultoresque pios.

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den Lebenden warnend mitzuteilen – allerdings erst bei anderer Gelegenheit (am. 1,6,37-48): O, mihi quam magno trepidabant corda pavore Pendula lictores dum mea membra ligant, Et mea Tartarea condunt ubi corpora veste Nullus erat toto vivus in ore color. Dumque inter vitam medius mortemque volarem, Daedalei timui fata subire fabri, Et mea signassent fatalem nomina terram Celtica, quae fuerat, Iane, canenda tibi. Sed modo, cum superas rediissem sospes in auras, Oblectat tales saepe subisse specus, Quippe ea, quae vidi, statui mortalibus olim Pandere, quot poenas Tartarus ater habet.

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40 Ov. am. 2,11,28, med. frg. 98: toto nullus in ore color. – 43 Ov. fast. 2,663: si tu signasses olim Thyreatida terram; Ov. trist. 3,4,22: Icarus immensas nomine signet aquas; Lucan. 4,655: signavit nomine terras.

Die ausgestandene Todesangst hat nämlich eine ganz andere Wirkung auf ihn: Sie verleiht ihm das Gefühl, das wiedergewonnene Leben in vollen Zügen genießen zu müssen. Davon will er auch seinen Freund überzeugen, um mit der geliebten Hasilina und der Liebe und der Liebesdichtung zu leben (am. 1,6,49-54): Interea rigidum depone a fronte Catonem Et somno curas, tristia pelle mero! Decipimur votis et tempore fallimur et mors Deridet curas, anxia vita nihil. Saepe mihi laudes Hasilinae corpus et artus, Haec praeter placeat, fac, rogo, Iane, nihil.

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49 Mart. 10,20,21: tunc me vel rigidi legant Catones; Juv. 11,90: durumque Catonem – 50 Hor. carm. 1,7,31: nunc vino pellite curas.

Selbst wenn also bestimmte Signale den Leser eine ausführliche Unterweltsschilderung erwarten lassen, wird er systematisch enttäuscht. Erlebnisse eines Orpheus oder eines epischen Helden wie Aeneas, Hercules oder Theseus wird er in diesem Gedicht nicht finden. Celtis verfestigt damit seine Rolle als die des elegischen Dichters, der sein Lebensideal von Freundschaft verkündet. Wahre Freundschaft manifestiert sich in gemeinsamem Lebensgenuss und in Freundschafts- und Liebesdichtung. Der jugendliche Held der elegischen Dichtung zieht mit dem Carpe diemSchluss der Elegie aus der empfundenen Todesgefahr völlig andere Konsequenzen als ein pflichtbewusster epischer Held – aber auch andere Konsequenzen als ein pflichtbewusster Ethno-, Historio- und Geograph der aetatis nostrae Germania: Seine Amores bleiben damit zunächst einmal nur die

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Ankündigung, nicht aber die Einlösung der versprochenen Germania illustrata!

Elsula als Dido – Narrat insomnium suum de Elsula, priusquam Norico excesserit (am. 2,11) Die Liebesbeziehung zu Elsula aus Regensburg wird von temperamentvollen Szenen bestimmt: von Liebesbeteuerungen, von Eifersuchtsszenen und von Wiederversöhnungsfeiern – kein Wunder, da der jugendliche Held nach dem Tetraden- bzw. Enneadenschema in der Hitze des süddeutschen Sommers mit einem cholerischen Temperament ausgestattet ist und Elsula außerdem von einem Geistlichen umworben wird, der ihr im Unterschied zu dem unbemittelten Dichter einiges an Luxus bieten kann. Neben juvenalischer Kritik am Sittenverfall und an der Luxusliebe der Frauen gibt es da auch saftige Pfaffenschelten (am. 2,6 und 2,9), etwa anlässlich einer Wallfahrt der Elsula nach Salzburg (am. 2,7), die nach Celtis’ Auffassung nur als Vorwand zur Verführung durch den ‘Pfaffen’ dient. In der elften Elegie dieses Buchs über Süddeutschland kleidet Celtis das Thema seiner endgültigen Abreise in die Form einer Traumerscheinung. Es scheint sein schlechtes Gewissen zu sein, das hier zu ihm spricht, zumindest suggeriert er diese Deutungsmöglichkeit, wenn er nach zwei einführenden Distichen zur Nachtsituation mit der als Alternative formulierten Erklärung der Traumvision einsetzt (am. 2,11,5-8): Forte puellaris tunc est mihi visa figura Et stetit ante oculos Elsula cara meos. Seu sopor illud erat, seu mens sibi fingere tales Consuevit tenues irrequieta notas?

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Wenn es denn nur eine Einbildung der irrequieta mens sein soll, so ist des Dichters Phantasie jedenfalls auch im Traum deutlich von epischen Vorbildern beeinflusst. Das Traumbild der Elsula steht vor ihm in Trauergestus: Ihre Haare sind zerrauft, ihr Gesicht ist tränenüberströmt. Trotzdem findet Celtis noch einen schmeichelhaften Vergleich, der Elsula mit der Mondgöttin gleichsetzt, wenn ihr Glanz sich im Reigen der Pleiaden (des Regengestirns) abschwächt (am. 2,11,9-12): Stabat purpureos humeris laniata capillos Et largo roseas sparserat imbre genas. Talis Atlanteas hebetat cum Luna sorores, Plurimus aetheriis funditur imber aquis.

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9 Ov. fast. 6,493: funestos ut erat laniata capillos; Ov. epist.. 12,157: laniata capillos; Ov. met. 6,531: passos laniata capillos. – 10 Stat. Theb. 1,437f.: lacera ora putresque | sanguineo videt imbre genas; Stat. Theb. 9,481f.: sese deus obtulit ultro | turbidus imbre genas. – 11 Avien, Arat. 1630f.: qualem fraternos subtexens luna iugales | lucem hebetat.

Auch wenn Elsula vor Tränen nur mit Mühe sprechen kann, setzt sie doch zu einer über 50 Verse langen Rede an, deren Muster, die Vorwürfe der antiken Dido an Aeneas bei Vergil, aber auch bei Ovid, so deutlich aufscheint, dass die Parallelisierung für den Leser evident ist. Man sollte sich an dieser Stelle zuerst die Rede der Vergilischen Dido in Erinnerung rufen, mit der sie Aeneas zur Rede stellt.16 Diese berühmte Rede ist bekanntlich zweigeteilt, da sie von einer Rechtfertigung des beschuldigten Aeneas unterbrochen wird (Aen. 4,304-330 und 365-393). Die Situation erfordert es, dass Dido zunächst sehr emotional zu sprechen scheint, wenn sie Aeneas mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie nicht von ihm, sondern durch ein Gerücht von seiner bevorstehenden Abfahrt gehört hat. Dass er mit diesem Verhalten (dissimulare) einen Vertrauensbruch begangen hat, macht sie in der Anrede (perfidus) mehr als deutlich. Ihr zweiter Vorwurf richtet sich darauf, dass Aeneas es überhaupt über sich bringen kann zu gehen. Damit hat sie bereits eine argumentativ klug aufgebaute dissuasio begonnen, die Aeneas vom Gedanken an die Weiterfahrt abbringen soll. Drei Hinderungsgründe nennt sie ihm, die sie beide betreffen: noster amor, die eheähnliche Beziehung und ihr bevorstehender Tod, den diese Trennung verursachen würde. Die Hinderungsgründe, die Aeneas allein betreffen, sind argumentativ gewichtiger und noch weniger von der Hand zu weisen: Der Zeitpunkt für die Seefahrt ist zu gefährlich; er bringt damit verantwortungslos (crudelis) sich und seine Leute in Gefahr. Ein derartiges Wagnis gleicht also keiner geplanten Abfahrt, sondern einer Flucht – weshalb sie weiterdenkt: Sie muss daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass sie selbst der Anlass des fluchtartigen Aufbruchs ist. Daher bleiben ihr nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, ihn mit ihren persön–––––––––––– 16 Die Rede selbst ist erstaunlicherweise kaum je Gegenstand von Untersuchungen; stattdessen dominiert in der Forschung die Gliederung des vierten Aeneis-Buchs nach Akten im Sinne einer Dido-Tragödie. Als wichtigster jüngster Beitrag sei genannt: Eveline Krummen: „Totamque incensa per urbem bacchatur. Liebe und bacchantischer Wahnsinn“, in: IANUS. Informationen zum Altsprachlichen Unterricht 22, 2001, 7-16, bes. 13. Leider ohne eingehendere Besprechung der Reden bleibt der etwa zeitgleich publizierte Vortrag von Ernst August Schmidt: „Die Tragödie der karthagischen Königin Dido als Anfrage an den Sinn der römischen Geschichte“, in: Ders.: Musen in Rom. Deutung von Welt und Geschichte in großen Texten der römischen Literatur, Tübingen 2001, 119-132.

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lichsten gemeinsamen Erfahrungen emotional zu binden; sie beschwört ihn bei ihren Tränen und seiner Rechten (die sie offensichtlich ergriffen hat), bei ihrer vollzogenen, wenn auch nicht rituell sanktionierten Ehe und zuletzt bei ihren Verdiensten um ihn und bei den Freuden, die sie ihm geben konnte. Ihre Verdienste um Aeneas sind für Dido nicht ohne politische Konsequenzen: Sie hat damit den um sie werbenden Herrscher Jarbas brüskiert und ihren guten Ruf eingebüßt. Sie appelliert an sein Pflichtgefühl, indem sie sich als schutzbedürftig darstellt und ihm die tödliche Gefahr ausmalt, in der er sie zurücklässt: Ihr Bruder Pygmalion bedroht ihre Stadt genauso wie der Gätulerfürst Jarbas. Diese nicht abzuweisenden harten Argumente entkräftet sie – aus unserer Sicht, die wir Aeneas’ Beweggründe kennen, – in der Wirkung wieder etwas durch ihre letzte, sehr persönliche Klage, dass ihr nicht einmal ein parvulus Aeneas von ihm geblieben sei, in dem sie ihn wiedererkennen könne. Denn damit verrät sie, dass es ihr weniger um die Lebensgefahr als um die Liebe zu ihm geht, die sie nicht aufgeben kann. Auf Aeneas’ Antwort, die ihr zeigt, wie entschlossen er an seiner Abreise als einem „göttlichen Auftrag“ festhält, reagiert Dido zunächst kaum argumentierend, sondern ganz emotional, obwohl sie damit doch auf systematische Weise das positive Bild von Aeneas destruiert. Sie erkennt ihm seine Menschlichkeit und dazu seine göttliche Abstammung ab, indem sie ihn als grausamen Unmenschen beschimpft, der nicht von Venus oder Dardanus abstamme, sondern von einem Stein geboren und einer Tigerin gesäugt worden sei, weil er den Tränen der Geliebten gegenüber kein Mitleid zeige. Sie macht ihn zum Exempel der perfidia, indem sie an der Existenz von fides überhaupt zweifelt, wenn die Götter, besonders Juno als Göttin der Ehe und der Vater der Götter, ein solches Verhalten zulassen. Dazu zählt sie erneut ihre Verdienste um ihn auf: Sie hat ihn aufgenommen, sogar an der Herrschaft beteiligt und ihm den Verlust der Flotte – fatalerweise – erstattet. Solche beneficia erfordern in römischen Ohren natürlich ein gleiches Entgegenkommen. Aeneas beruft sich aber für den Entschluss zur Abfahrt gerade auf den Willen der Götter: auf Apolls Weissagung und auf Jupiters Willen. Dido sagt ihm ins Gesicht, dass sie diesen vorgeblichen Götterwillen für eine fadenscheinige Ausrede hält, und schickt ihn endlich selbst tief enttäuscht fort, indem sie signalisiert, dass ihre Liebe in Hass umgeschlagen ist. Denn sie spricht ihre Hoffnung aus, er möge von eben diesen Göttern, auf die er sich beruft, die Strafe für seine perfidia erfahren: Zwischen Felsenriffen werde er dann reuevoll ihren Namen anrufen. Sie aber werde ihn wie eine Furie (4,384: atris ignibus absens) verfolgen, und zwar über den Tod hinaus (4,386: omnibus umbra locis adero). Mit der Drohung, dass sich die Strafe erfüllen werde und sie davon selbst in der Unterwelt noch hören werde, lässt sie Aeneas in seiner Hilf-

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losigkeit stehen. Sie sinkt schließlich ohnmächtig in die Arme ihrer Dienerinnen. Die Elsula des Conrad Celtis hat erwartungsgemäß nicht alle Argumente einer Dido zur Verfügung, um ihren Geliebten zu halten. Trotzdem ist ihre Rede doch in erstaunlich vielen Punkten vergleichbar. Elsula stellt den Geliebten zur Rede, weil es Gerüchte von seiner bevorstehenden Abreise gibt; und sie stellt ihm die Konsequenz dieses Handelns auch von Anfang an vor Augen, nämlich dass sein Fortgang ihren Tod verursachen würde (am. 2,11,13-20): Vixque mihi tandem haec dedit udis verba labellis: “Me miseram! Celtis, quo tuus ibit amor? Nam pater Heliadum ternos ubi fecerit ortus, Audio te nostram linquere velle plagam. O ego non possum tantos tolerare dolores, Si statues tacita, Celtis, abire fuga! Meque tibi solam per Norica culta relictam Intempestivam cogis adire necem.

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15 Ov. fast. 6,717: At pater Heliadum radios ubi tinxerit undis. – 16/18 Verg. Aen. 4,281: Ardet abire fuga dulcisque relinquere terras. – 20 Verg. Aen. 4,307f.: nec te noster amor nec te data dextera quondam | nec moritura tenet crudeli funere Dido?

Freilich sind ihre Gründe für den bevorstehenden Tod – im Unterschied zu Didos Beweggründen – nicht sehr überzeugend, denn vor allem ist es der Verzicht auf trautes Beisammensein in der Nacht mit ihrem Dichter, der ihr, inspiriert vom Wein, seine Lieder singt (am. 2,11,21-24): Murmure quis blando longae mihi taedia noctis Auferet et dulci carmina voce canet? Carmina quae placido cantet Germania vultu, Candida dum laetus pectora Bacchus habet.

Dass der Verzicht darauf sie in den Tod treiben sollte, ist psychologisch nicht wirklich einleuchtend und mindert damit auch die Glaubwürdigkeit der beabsichtigten Drohung. Argumentativ greift Elsula hier offenkundig die Werbestrategie auf, mit der der Dichter selbst sich sonst bei seinen Angebeteten beliebt machen möchte. Wie interpretieren wir das? Entweder versucht Elsula raffiniert das, was dem Dichter besonders wichtig ist, für die persuasio einzusetzen – oder wir Leser werden hier darauf verwiesen, dass nicht Elsula selbst spricht, sondern dass wir ein Traumkonstrukt vor uns haben, das die Wertevorstellungen des träumenden Dichters widerspiegelt.

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Der anschließende Vorwurf der perfidia ist nicht nur mit Bezug auf Dido, sondern übereinstimmend mit der Entwicklung der Liebesbeziehung im zweiten Amores-Buch formuliert. Der elegische Dichter wird an sein officium amoris erinnert, dann aber vor allem daran, dass er sich nun selbst ein Verhalten zu Schulden kommen lässt, das er Elsula gegenüber mit dem Negativexempel seiner ersten Geliebten Hasilina abschreckend ausgemalt hat (am. 2,11,25-30): Immemor officii nostroque ingratus amori es! Perfide, sic nostro dignus eras thalamo? Saepe mihi exprobras Hasilinae, perfide, fraudes: Iam data sunt culpae maxima signa tuae, Perfide, dum varias erras, fugitive, per oras Decipiturque tuis quaeque puella dolis.

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26 Verg. Aen. 4,305; Aen. 4,366: perfide.

Wenn wir in diesem Zusammenhang erfahren, dass Elsula aus den Erzählungen des Dichters aus seiner eigenen Vergangenheit auf dessen ausgeprägte fides geschlossen haben muss, wird erneut eine Parallele zu Dido hergestellt. Denn die positive Wirkung von Aeneas’ Erzählung von der Einnahme Trojas auf die Zuhörerin Dido ist in der Aeneis ausdrücklich formuliert, freilich dort durch das fatale Eingreifen der beiden Göttinnen noch zusätzlich motiviert. Hier ist es an der Zeit, den zweiten antiken Prätext einzubeziehen: Ovids Dido-Brief in den Heroides (her. 7). Ovids Dido nämlich ist es, die die Wirkung dieser Iliupersis-Erzählung analysiert: Aus dieser seiner Selbstdarstellung habe sie auf Aeneas’ Verantwortungsgefühl geschlossen – zu Unrecht, wie sein aktuelles Verhalten mit der Gefährdung aller ihm Anvertrauten beweist; der Tod der Creusa hätte ihr stattdessen ein warnendes Beispiel sein müssen.17 Celtis’ perfidia manifestiert sich im Bereich der Liebeselegie vor allem in fraudes und dolus: Es geht dem beschuldigten Dichter offensichtlich nur um das Verführen der Mädchen ohne ernsthafte Absichten. Und um das zu unterstreichen, wird die Autorität einer warnenden Wahrsagerin zitiert – der freilich das wertende Adjektiv loquax beigefügt ist, was in Elsulas Mund die argumentative Kraft des Vorwurfs schwächen würde und also erneut eine Wertung des träumenden Dichters sein muss (am. 2,11,31-38): –––––––––––– 17 Ov. epist. 7,77-84: quid puer Ascanius, quid di meruere Penates? | ignibus ereptos obruet unda deos? | sed neque fers tecum, nec, quae mihi, perfide, iactas, | presserunt umeros sacra paterque tuos. | omnia mentiris, neque enim tua fallere lingua | incipit a nobis, primaque plector ego. | si quaeras, ubi sit formosi mater Iuli – | occidit a duro sola relicta viro!

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Saga loquax nuper dixit mihi vera: ‘Caveto, Elsula, ne Celtis decipiare dolis, Qui tibi blandiloquis seducit pectora verbis Sollicitans resonae plectra sonora lyrae. Huic, ego iam moneo, nimium te credere noli, Errat enim et toto est semper in orbe vagus. Dumque utero tenerum fecit tibi crescere pondus Ille solet tacita cautus abire fuga.’

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31 Mart. 11,49,8: garrula saga. – 33 Sen. Agam. 289f.: quid voce blandiloqua mala | consilia dictas? – 38 Verg. Aen. 4,281: Ardet abire fuga.

Mit der Warnung der Wahrsagerin wird das Thema erreicht, mit dem Elsula eigentlich ein gewichtiges Argument hätte, um Celtis an sich zu binden: ihre Schwangerschaft! Aber dieser Umstand wird in ihrer Rede zunächst gar nicht eingesetzt – Elsula bleibt in der Argumentation der antiken Dido verhaftet und malt ihm aus, was ihn in der Fremde erwartet: Eine zweite Elsula werde er nicht finden, er werde wehmütig an das Noricum zurückdenken (am. 2,11,39-44): Et quod praedixit, sum nunc experta misella, Dum servat nullam subdola lingua fidem. Perfide, qua fueris tandem regione receptus Invenies nullam (crede mihi) similem! Tunc totiens maesta versabitur Elsula mente Nec cadet ex animo Norica terra tuo.

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40 Ov. ars 1,598: fac titubet blaeso subdola lingua sono. – Tib. 3,6,46: Aut fallat blanda subdola lingua prece.

Wir müssen auch an dieser Stelle, über die Vergilische Vorlage hinaus, wieder einen Blick auf Ovids Dido-Brief werfen. Denn Elsulas Argument wird dort deutlicher präludiert. Ovids Dido gibt vor, Aeneas nicht mehr abhalten zu wollen. Trotzdem malt sie ihm zuerst aus, wie naiv seine Vorstellungen sind, einfach losfahren zu wollen, um in der Fremde ein neues Reich zu gründen. Angenommen, er käme heil in Italien an: Wer würde ihm das Land freiwillig überlassen? Schließe er aus der jetzigen Erfahrung, dort müsse es auch eine Dido geben, die er gleich wieder täuschen könne? (epist. 7,17-18 u. 21-22): scilicet alter amor tibi restat et altera Dido, quamque iterum fallas altera danda fides. […] omnia ut eveniant, nec te tua vota morentur, unde tibi, quae te sic amet, uxor erit?

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Die Traum-Elsula schließt hier die Gefahren dieser Wanderschaft an, die er als Rache der Götter für seine Untreue deuten muss. Ein Räuber wird zum Rächer der verlassenen Geliebten (am. 2,11,45f.): Spero tamen (nec vana loquor) venturum aliquando, Vindicet ut latro meque tuosque dolos.

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45 Tib. 2,3,59: vana loquor.

Mit einer ähnlichen Warnung setzt auch die Vergilische Dido zum Schluss ihrer Rede an, indem sie Aeneas die Rache der Götter mit Hilfe der Naturgewalten ausmalt (Aen. 4,381-384): i sequere Italiam ventis, pete regna per undas. spero equidem mediis, si quid pia numina possunt, supplicia hausurum scopulis et nomine Dido saepe vocaturum.

Im Unterschied zu Didos Warnung wird sich Elsulas Prophezeiung übrigens erfüllen. Gleich in der anschließenden Elegie erlebt und überlebt der Dichter auf der Reise nach Wien einen Raubüberfall (am. 2,12), was natürlich Elsulas Warnung vom literarischen Modell emanzipiert – sie bleibt nicht bloßes literarisches Zitat, sondern wird für die Liebeserzählung produktiv genutzt und in die Gedichtbuch-Komposition integriert. Ovids Dido baut diese Vorstellung von der Rache der Götter argumentativ aus: Genauso wie Aeneas die Gefahren der Seefahrt kennt (epist. 7,53-56), so weiß er auch, wie gefährlich es ist, als Schuldiger auf Reisen zu gehen. Im Unterschied zur Vergilischen möchte die Ovidische Dido aber auf keinen Fall schuldig am Tod des Geliebten in den Wogen sein, den sie ihm grell ausmalt (epist. 7,67-72). Ähnlich nimmt Elsula letztlich doch aus Liebe ihren Wunsch nach Rache und ihren Fluch zurück. Vergils Dido rückt als Modell freilich wieder in den Blick, weil sie ihre Schwester Anna zu einer Zauberin schickt (Aen. 4, 492-503), wenn auch nur zum Schein, um allein ihren Suizid vorbereiten zu können. Elsula dagegen ist entschlossen, den Liebeszauber zielgerichtet anzuwenden (am. 2,11,47-50): Sed prius experiar magicos intendere cantus, Ut sistam celeres in tua vota pedes. Pars animae, consiste, meae! Sit cura pericli, Per nemorum latebras ne latro te feriat!

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47 Juv. 6,610: Hic magicos affert cantus; Tib. 1,2,64: concidit ad magicos hostia pulla deos. – 49 Ov. met. 8,406f. (Pirithous): pars animae, consiste, meae, licet eminus esse | fortibus: Ancaeo nocuit temeraria virtus; Ov. Pont. 1,8,2: pars animae magna, Severe, meae; Stat. silv. 5,1,177: pars animae victura meae. – 49 Val. Fl. 6,474: demens alieni cura pericli. – 50 Hor. sat. 2,1,61f.: metuo et maiorum ne quis amicus | frigore te feriat.

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Die Beschwörungen, mit denen Elsula den Geliebten zum Bleiben verpflichten möchte, sind gedanklich an den Beschwörungen der Vergilischen Dido orientiert: Ihre Tränen, ihr Liebesbündnis und der Liebesgenuss, den sie ihm gewährt hat, werden als Pfänder der Treue und merita in Erinnerung gerufen (am. 2,11,51-56): Per lacrimas precor ipsa meas et foedera amantum Perque tuam, dederas quam mihi saepe, fidem, Per mea si placido dederam tibi basia lecto Amplexusque meos, quae tibi blanda tuli, Perque meum primum tibi quem rapuisse pudorem Suaserat aequoreo diva creata salo,

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51-56 Verg. Aen. 4,314-319: per ego has lacrimas dextramque tuam te | […] | per conubia nostra, per inceptos hymenaeos, | si bene quid de te merui, fuit aut tibi quicquam | dulce meum, miserere domus labentis et istam, | oro, si quis adhuc precibus locus, exue mentem.

Elsula kann darüber hinaus zwar keine politische Gefährdung, wohl aber ihre persönliche familiäre Situation in Erinnerung bringen: Ihre alten Eltern brauchen einen tüchtigen Schwiegersohn, und das Kind in ihrem Leib hat einen guten Vater verdient (am. 2,11,57-60): Perque meos tandem canos utrosque parentes Et prope maturum, quod gero, ventris onus: Siste gradum coeptumque regas modo, Celtis, amorem Ne capiat foedas candida fama notas!

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59 Die Formulierung erinnert aber an Aeneas’ Begegnung mit Dido in der Unterwelt, Verg. Aen. 6,465: Siste gradum teque aspectu ne subtrahe nostro.

Damit wird ihre Schwangerschaft doch noch zum gewichtigen Schlussargument, das Celtis an sie binden soll. Es ist eine für die Liebeselegie folgerichtige Verkehrung des Arguments, das die Vergilische Dido ebenfalls als Schlussargument einsetzt. Die Heroine bedauert gerade, von Aeneas keinen parvulus Aeneas als Trost zu besitzen (Aen. 4,328-330). Doch schon Ovid hatte das Motiv anders eingesetzt. Denn die elegische Dido schreibt Aeneas, dass er im Falle ihres Liebestods wahrscheinlich den Tod zweier Menschen verschulden würde (epist. 7,133-138): Forsitan et gravidam Dido, scelerate, relinquas, parsque tui lateat corpore clausa meo. accedet fatis matris miserabilis infans, et nondum nato funeris auctor eris, cumque parente sua frater morietur Iuli, poenaque conexos auferet una duos.

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Die Vergilische Dido setzt ans Ende ihrer Rede in bitterer Enttäuschung nicht nur die Götterstrafe des Schiffbruchs, sondern die Drohung ewiger Verfolgung durch sie selbst in Gestalt einer Furie (Aen. 4,384-387): sequar atris ignibus absens et, cum frigida mors anima seduxerit artus, omnibus umbra locis adero. dabis, improbe, poenas. audiam et haec Manis ueniet mihi fama sub imos.

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Bei Elsula wird diese Verfolgungsszenerie als Motiv übernommen, wenn auch bis zur Unkenntlichkeit umgewandelt – und zwar geradezu in ein Hodoiporikon (am. 2,11,61-76). Die Drohung der Elsula, ihr „wohin du auch fliehst, ich werde dir folgen“, verliert so jegliche abschreckende Wirkung. Denn Elsula will ihren Celtis zwar furiosa per inhospita saxa verfolgen, doch dann erweist sich diese scheinbar unwirtliche Landschaft als das Allgäu (Algiones), die ‘Verfolgung’ führt schließlich zum Tegernsee und nach Wiessee zum Quirinus-Öl, dann zum Chiemsee und seinen beiden Klöstern, und soll schließlich über die Donau offenbar in Richtung Wien weitergehen. Es sei zugegeben: Die Stromschnellen der Donau waren immerhin tatsächlich für die Schifffahrt der frühen Neuzeit bedrohlich und könnten einen Schiffbruch, wie er Aeneas von Dido als Götterrache angedroht wird (Verg. Aen. 4,382f.), verursachen, ohne dass Celtis freilich diese naheliegende gedankliche Assoziation seine Elsula aussprechen lassen würde.18 Ni facias, furiosa sequar per inhospita saxa, Maxima Boiorum qua solitudo patet Algionesque truces ubi vastas terra paludes Norica Rhaeteis proxima fundit agris, Inter quas lacus est Tegerinus nomine claro, Stillat ubi sacrum petra arenosa oleum, Per bibulas tandem sensim hoc colatur arenas

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–––––––––––– 18 Man denke hier an das Hodoiporikon des Riccardus Bartholinus, der im Gefolge von Maximilians Kanzler Matthäus Lang die Vorbereitungen in Preßburg zum Wiener Kongress 1515 literarisch verarbeitet. Ein tatsächlicher Schiffbruch auf der Donau wird hier literarisch überhöht: Riccardus Bartholinus: Odeporicon idest Itinerarium Reuerendissimi in Christo patris et Domini D. Mathei Sancti Angeli Cardinalis Gurcensis coadiutoris Saltzburgensis. Generalisque Imperii locum tenentis, Quaeque in conuentu Maximiliani Caes. Aug. Sereniss.que regum Vladislai Sigismundi ac Ludouici, memoratu digna gesta sunt per Riccardum Bartholinum Perusinum aedita. Cum Gratia et priuilegio. Wien: Hieronymus Vietor 1515, vgl. dazu Stephan Füssel: Riccardus Bartholinus. Humanistische Panegyrik am Hofe Maximilians I., Baden-Baden 1987; Franz-Josef Worstbrock: „Bartholinus (Bartolini), Riccardus (Richardus, Riccardo)“, in: Ders. (Hg.): Verfasserlexikon. Deutscher Humanismus 1480-1520, Bd. 1, 118-132, bes. 123-125.

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Et sabulum, venis quod fluit inde suis. Succina crediderim sic nasci aquilonibus oris Delata a lucis, quod vomit inde salum. Inde Chimerinus medias duo templa per undas Tollens, quis psallit femina virque deo. Perque lacus alios, pariunt quos imbribus Alpes, Si fugies, Celtis, te furiosa sequar. Nec me Danubii retinet cataracta sonori Inter ubi scopulos et cava saxa sonat.

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61 Verg. Aen. 4,384: sequar atris ignibus absens; Prop. 2,26,30: hanc sequar et fidos una aget aura duos. – 61 Verg. Aen. 5,627f.: cum freta, cum terras omnis, tot inhospita saxa | sideraque emensae ferimur. – 65-68 Das sog. Quirinus-Öl wurde dort gewonnen, wo um 1900 in Bad Wiessee jod- und schwefelhaltige Heilquellen entdeckt wurden. – 67 Lucr. 2,376: bibulam pavit aequor harenam; Verg. georg. 1,113f.: quique paludis | conlectum umorem bibula deducit harena; Stat. Theb. 11,44: nunc retegit bibulas, nunc induit aestus harenas. – 76 Verg. Aen. 5,866: tum rauca adsiduo longe sale saxa sonabant; Verg. Aen. 12,592: intus saxa sonant; Verg. georg. 4,49f.: ubi concava pulsu | saxa sonant.

Es wird uns klar, dass hier der Dichter träumt, der nichts als Reisen im Kopf hat; er holt die Landesbeschreibung völlig unerwartet mit retardierendem Effekt in die emotionale Rede der Geliebten hinein. Diese Rede nimmt jetzt für den Leser, der über der Landschaftsbeschreibung fast schon die Problematik der Liebesbeziehung aus den Augen verloren hat, geradezu schockierend eine hochdramatische Wendung. Denn als Alternative zur breit geschilderten ‘Verfolgung’ steht abrupt in einem Vers die Selbstmordabsicht der Geliebten. Unvermittelt steht Elsula mit der bekannten Geste der Dido, dem Griff zum Schwert des Aeneas, vor dem Dichter (am. 2,11,77-79): Vel (mihi quod melius) si te contingat abire, Iste mihi gladius finis amoris erit!“ Dixerat et nostrum manibus comprenderat ensem – 78 Ov. epist. 7,183: scribimus et gremio Troicus ensis adest. – 79 Ov. am. 2,19,52: at mihi concessi finis amoris erit; Ov. epist. 18,196: aut mors solliciti finis amoris erit; 79 Ov. epist. 7,195f.: Praebuit Aeneas et causam mortis et ensem | ipsa sua Dido concidit usa manu.

Auf dem Höhepunkt der dramatischen Entwicklung werden der Dichter und sein Leser erlöst: Celtis erwacht, es war nur ein Traum, der vergessen werden darf (am. 2,11,80): – Et iam Lethaeo litore somnus erat. 80 Verg. georg. 1,78: Lethaeo perfusa papavera somno.

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Selbst an der Reaktion auf die Traumvision stellt sich heraus, dass der Dichter kein epischer Held ist, der Träume als Weisungen der Götter ernst nehmen muss. Er spricht kein Gebet zur Entsühnung, und er denkt natürlich nicht um. Nein, er schüttelt offensichtlich das Traumgesicht als Produkt seiner irrequieta mens ab und freut sich auf seinen Aufbruch zum Rhein (am. 2,11,81-88), nicht ohne seiner Elsula Danubiana mit einem passenden Adynaton ewige Liebe zu versichern: „Rhenus adest“, dixi, „Rhenum cantabimus amnem, Qui flos Germani dicitur esse soli. Iamque vale, aeterno tibi sum devinctus amore, Elsula, Danubii gloria magna tui! Sed prius Euxinis arcebitur Hister ab undis, Quam tuus a nostro pectore cedat amor. Separet et quamvis longum discrimen amantes, Sunt tamen aeterno pectora cara simul.”

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83 Verg. Aen. 8,394: tum pater aeterno fatur devinctus amore. – 86 Ov. rem. 752: dum bene de vacuo pectore cedat amor; Prop. 1,9,28: nec vigilare alio nomine cedat Amor.

Immerhin hat hier Vergils Aeneas als Modell fungiert, denn seine Antwort auf Didos erste Vorwürfe enthält an erster Stelle die Beteuerung, sie ewig dankbar in Erinnerung zu behalten (Aen. 4,333-336): ego te, quae plurima fando enumerare vales, numquam, regina, negabo promeritam, nec me meminisse pigebit Elissae dum memor ipse mei, dum spiritus hos regit artus.

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Abschließend darf man nach dem Grund fragen, weshalb Elsula zu einer zweiten Dido gestaltet wird. Denn passend ist diese heroische Rolle für die bayerische Elsula nicht wirklich. Wenn wir unsere Eindrücke zusammenfassen, wird die Tendenz in diesem Gedicht greifbar, die Heroisierung der Geliebten, die zu Beginn sehr stark akzentuiert wurde, schrittweise zurückzunehmen. Am Anfang bleibt die Situation durchweg ernst, auch die Alternative von Wahrtraum oder erregter Phantasie wird nicht explizit geklärt. Der Auftritt der Elsula im Trauergestus wird durch den Vergleich eher in seinem Ernst unterstrichen. Der Trauerhabitus und -gestus und ihre Todesahnung erregen durchaus Mitgefühl. Ein episch erfahrener Leser könnte jetzt sogar eine Erscheinung wie Lucans Julia erwarten, die ihrem ehemaligen Ehemann Pompeius als Furie erscheint und ihm die kontinuierliche Verfolgung während des Bürgerkriegs androht (Lucan. 3,8-40). Doch der Umbruch vom epischen Pathos zur Personenkonstellation der Liebeselegie mit ihren weniger heroischen Handlungsmotiven und Idealen ist schnell mit Elsulas Schilderung der Liebesnächte und des

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nächtlich-trunkenen Sängers erreicht, der an seine officia amoris erinnert werden muss. In diesem Rahmen verliert die fides-Verpflichtung mitsamt dem perfidia-Vorwurf an Gewicht, wenn man hier den Vergleich mit der politischen Rolle der Stadtgründerin Dido einführt. Auch dass Elsula von einer Wahrsagerin gewarnt wird und doch der Attraktivität eines Dichters erliegt, trivialisiert die Beziehung im Vergleich zu der tragischen, von Göttern initiierten epischen Liebe der standhaften Dido zu dem Heros Aeneas. Die Spannung, die sich im Kontrast zwischen epischer Vorlage und elegischer Liebesbeziehung aufbaut, wird immer stärker. Zudem wird von Anfang an signalisiert, dass diese Elsula-Dido ein Produkt von Celtis’ reger Phantasie ist. Dieses Phantasieprodukt kann nur deshalb entstehen, weil er selbst sich in die Rolle des heroischen Helden Aeneas hineinversetzt, dessen Schicksal einer jahrelangen Wanderexistenz und dessen Abschiedsentschluss Celtis mit seiner eigenen Situation gleichsetzt. Beim linearen Lesen der Amores können wir feststellen, dass die Weiterreise des Wanderhumanisten im Rahmen der Liebesgeschichten jeweils eine gute Motivierung und eine moralische Rechtfertigung erfordert. In Buch I ist die Beziehung zu Hasilina von Anfang an als nicht gleichwertig gekennzeichnet; der jugendliche Student hat keine ernsthaften Chancen bei der stadtbekannten Schönheit. Die Liebesbeziehung zu Ursula in Mainz im dritten Buch wird durch den Tod der Geliebten beendet, die an der grassierenden Seuche stirbt. Celtis versetzt seine Geliebte – ebenfalls durch ein Traumgesicht motiviert – in einem neuplatonischen Seelenwagen an den Sternenhimmel (am. 3,14). Hier scheint es, dass an die Stelle einer expliziten und persönlichen moralischen Rechtfertigung die Parallelisierung zur Aeneas-Rolle getreten ist: Wen eine höhere Mission ruft, der ist gerechtfertigt. Mit dieser ‘Traum-Rolle’ gibt der Dichter viel von seinem eigenen Selbstverständnis zu erkennen: Er fühlt sich also wie der Held Aeneas mit einer wichtigen Aufgabe betraut. Selbst wenn seine geliebte Elsula mit der Zunge und den Argumenten der Dido reden könnte, würde sie ihn genauso wenig an sich binden dürfen wie Dido den Aeneas. Der ambitionierte Dichter fühlt sich in seinem Entschluss bestätigt: Er will noch nicht sesshaft werden, er darf noch keine Familie gründen, sondern fühlt sich der Aufgabe mit Begeisterung verpflichtet, ganz Deutschland zu bereisen und diese Erfahrungen für die Mit- und Nachwelt in einem literarischen Werk zu gestalten. Mit der Dido-Aeneas-Konstellation tröstet er sich außerdem über sein unverantwortliches Verhalten damit hinweg, dass die Unsterblichkeit, die er sich mit seinem Werk sichert, nicht nur auf den Dichter beschränkt bleibt, sondern dass seine Dichtung der Geliebten wie einer Dido ebenfalls literarische Unsterblichkeit verschafft.

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Seesturm auf der Lebensreise – Navigationem ab ostiis Albis ad Tylen insulam aborta tempestate describit (am. 4,14) Die Erkundung literarisch unbeschriebener und damit unbekannter Gefilde wird am Ende der Amores auf die Spitze getrieben: Celtis bricht mit seiner Geliebten zu einer Seereise auf, welche die Grenzen der bekannten Welt, wie sie die ptolemäischen Karten verzeichnen, zum Ziel hat. Bemerkenswert ist, dass ihn seine Barbara auf diese Expedition begleitet – schon das unterscheidet ihn von den epischen Helden, die als Vorbilder für die Seesturmszene in Frage kommen. Zunächst deutet wenig darauf hin, dass uns eine derartig dramatische Episode erwartet; die Elegie schildert vielmehr detailgetreu eine Schiffsreise, wie sie um 1500 stattgefunden haben könnte. Wir sehen Celtis und seine Geliebte vor dem Aufbruch zum Schiff, in Vorbereitung eines reichlichen Proviantpakets, bei dem freilich die Seekrankheit schon den Diätplan bestimmt (am. 4,14,1-16). Die feierlichen Opfer zur Versöhnung der Meeresgottheiten, die im Epos zu erwarten sind, werden den modernen Verhältnissen angepasst, denn Barbara wird beauftragt, sich bei einem Geistlichen zuvor den Segen für die Fahrt geben zu lassen – wobei Celtis den Auftrag nicht allzu ernst meint, sondern nur die Gelegenheit nutzt, um eine satirische Pfaffenkritik über Barbaras allzu intimes Verhältnis zu diesem Herrn in einem Distichon einzuschalten (am. 4,14,17-24). Die Abfahrt selbst gibt dem Dichter die Gelegenheit, über die Ursachen von Ebbe und Flut zu spekulieren, indem er nach Vorbild des antiken Lehrgedichts Alternativerklärungen anbietet, von denen die wahrscheinlichste an letzter Stelle ausführlicher vorgestellt wird; dabei lehnt sich Celtis an antike Erklärungen zum Vulkanismus an (sprachlich am deutlichsten an die Pythagoras-Rede der Metamorphosen), seine fachwissenschaftliche Hauptvorlage ist aber die Chorographia des Pomponius Mela (Mela 3,1-3), wo die Erklärungen für Ebbe und Flut in derselben Reihenfolge zu finden sind (am. 4,14,25-40): Ponticulum attraxit nauta, ancora fune soluta est Iamque aestus veniens tollit in alta ratem; Aestus septenis vicibus qui litora mutat, Cuius adhuc cunctos condita causa latet: Sive ingens animal, totum quod dicimus orbem, Spiramenta suis faucibus illa vomit Seu subtus terram latebrae extenduntur inanes, Luctatur ventis in quibus unda feris, Aeolus absorptam quam mox iaculatur in auras, Hinc ubi subsideat, ventus in astra levat;

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Sive ex congressu Solis Lunaeque recess Mutant tam varias aequora salsa vices Caelorum aut virtus diversis motibus acta Impellit tumidum sic remeare salum, Nam septem Eoum se impellunt sidera ad ortum, Occiduum octavus sed petit orbis iter.

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29-40 Mela 3,2: neque adhuc satis cognitum est, anhelitune id suo mundus efficiat, retractamque cum spiritu regerat undam undique – si, ut doctioribus placet, unum animal est –, an sint depressi aliqui specus, quo reciprocata maria residant atque unde se rursus exuberantia attollant, an luna causas tantis meatibus praebeat. at ortus [ad ortus Tschucke] certe eius occasusque variantur neque eodem assidue tempore, sed ut illa surgit ac demergitur ita recedere atque adventare comperimus. – 29-30: Ov. met. 15,342f. (Pythagoras): nam sive est animal tellus et vivit habetque | spiramenta locis flammam exhalantia multis.

Überhaupt orientiert sich Celtis mit seiner vorgeblichen Erkundungsfahrt an der antiken Chorographie. Celtis setzt in einen Periplus um, was die normale Geste der Leserlenkung bei kosmographischen Autoren, sozusagen mit dem Finger auf der Landkarte, ist: „Wenn man also in diese Richtung ausfährt und dem folgt, was zur Rechten liegt, kommt man zum Atlantischen Ozean …“ (huc egressos sequentesque ea quae exeuntibus dextra sunt, aequor Atlanticum… excipit …), heißt es z.B. bei Mela (3,3). Die Landkarte, die wir als Leser in dem Holzschnitt zum vierten Amores-Buch vor uns haben, zeigt dementsprechend die Lage der Insel Thule bzw. Tyle hinter den Orkney-Inseln, wohin Celtis aufbricht. Dann erleben wir die spektakuläre Abfahrt mit Kanonendonner, dem Hissen der Segel und dem Gesang der Mannschaft („In Gottes Namen fahren wir“) aus dem Lübecker Hafen (am. 4,14,43-58). Zunächst verläuft die Fahrt wunschgemäß. Der Steuermann bestimmt mit seiner technischen Ausrüstung, u.a. einem Kompass mit Magnetnadel, souverän die Richtung (am. 4,14,59-74). Doch bei Sonnenuntergang verändert sich der Himmel. Der Seesturm kündigt sich an, auch am Wellengang und am Verhalten der Delphine, des Seehunds und des monicus piscis19 ist die Prognose eindeutig zu erstellen. Hier greift Celtis eine antike Vorlage auf, indem er die Prognose des Fischers Amyklas aus Lucans Pharsalia, der Caesar nach Italien übersetzen soll (Lu–––––––––––– 19 In den naturkundlichen Fachbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts, die der CAMENA-Thesaurus (wie Fußn. 8) zur Verfügung stellt, habe ich bisher leider keinen monicus piscis finden können. Für den Hinweis der Kieler Experten bin ich dankbar, die bei Frank Lestringant: Le livre des îles. Atlas et récits insulaires de la genèse a Jules Vernes, Genève 2002, 69 mit Bezug auf diese Celtis-Stelle die Erklärung als Robbe (vgl. auch Mönchsrobbe, allerdings regulär phoca monacus) gefunden haben. Ein Nachweis des Sprichworts ist mir nicht gelungen.

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can. 5,540-559, bes. 552ff.), an die nordischen Verhältnisse anpasst (am. 4,14,77-86): Ecce nigra a madido nubes se sustulit austro Et tenebris totum texit aquosa polum. Tum mare per tumidos coepit crudescere fluctus Albescitque fero candida spuma freto Delphinusque maris sua terga in margine volvit Et canis aequoreus tollit in alta caput Et monicus piscis, qui tectus pelle cuculli, Emicat: undosi signa futura maris, A cuius visu sumunt proverbia nautae: Enatat ut monicus, mox freta turbat hiems.

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79-80 Ov. met. 11,480f.: cum mare sub noctem tumidis albescere coepit | fluctibus. – 81 Lucan. 5,552: nec placet incurvus qui provolat aequore delphin.

Mit der Seesturm-Schilderung selbst mehren sich die wörtlichen Übernahmen aus antiken Texten. Dabei ist weniger der Seesturm der Aeneis Vorbild, der ja im Vergleich mit anderen epischen Seestürmen relativ knapp gehalten ist. Als Hauptvorlage diente Celtis der Seesturm aus dem elften Buch von Ovids Metamorphosen, der das Aition des Eisvogels erklärt: Ceyx, der König der Trachinier, gerät auf dem Weg zum apollinischen Orakel in Klaros auf dem Seeweg in den tödlichen Sturm; von Juno gesandt, erscheint Somnus in Gestalt ihres Mannes bei Alcyone und unterrichtet sie von dessen Tod; am Strand findet die verzweifelte Gattin den Leichnam des geliebten Mannes und wird vom Schmerz in den Wasservogel verwandelt, dessen Brutzeit die halkyonischen Tage ankündigt, an denen die Seefahrt noch zur Winterzeit möglich ist (Ov. met. 11,410-749). Die Schilderung bei Celtis verläuft in der literarisch gewohnten Weise: Alle Winde kämpfen zunächst gegeneinander und wühlen des Meer vom Grund her auf, dazu kommt das Gewitter mit Blitz und Donner und ein Wolkenbruch ungekannten Ausmaßes (am. 4,14,87-98): Mox ruit Arctois Boreas demissus ab antris, Proelia quem contra fervidus Eurus agit, Hinc vomuit furiens sabulosas pontus arenas Et Styge Tartarea nigrior unda furit. Iamque propinquabat nostro stans vertice nubes Crebraque fulmineis ignibus emicuit Et vasto sonitu concussus inhorruit aether, Ceu Iove iam rueret fractus uterque polus. Plurimus inde ruit resolutis nubibus imber Et madefacta suas carbasa per pluvias. Iamque salo coepit spirare valentior eurus, Occupat et totum marmoris imperium.

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90 Ov. met. 11,500: Stygia modo nigrior unda – 92 Ov. met. 11,523: fulmineis ardescunt ignibus undae – 93 Verg. Aen. 1,90: intonuere poli et crebris micat ignibus aether; Ov. Pont. 3,3,9: inhorruit aer – 94 Ov. fast. 2,489f.: nutu tremefactus uterque | est polus – 95 Ov. met. 11,516: ecce cadunt largi resolutis nubibus imbres – 97 Ov. met. 11,480f.: coepit | […] et praeceps spirare valentius Eurus.

Die Auswirkungen auf das Schiff werden anschließend im Detail geschildert; es wird auf Wogenberge gehoben und in Wogentäler hinabgestürzt (am. 4,14,99-102); ähnlich wie bei seiner Bergwerksschilderung geht Celtis auch hier mit seinen astronomischen Angaben um: Obwohl gerade kein Stern mehr am Himmel zu sehen ist, gibt Celtis explizit Sternbilder an, die er vermisst; zwar wissen wir, dass die Bärin für ihn seit der Verstirnung seiner Ursula persönlich bedeutsam ist, doch ist es auch für die Orientierung auf See durchaus relevant, den großen Wagen zu erkennen. Cepheus scheint exemplarisch für die Reihe von Sternbildern von der Schlange bis zu Andromeda und deren Eltern genannt zu sein, die Celtis sonst gern katalogartig aufzählt (am. 4,14,103-106). Der Steuermann lässt die Segel einholen, die Ruder werden eingezogen, der Mastbaum umgelegt (am. 4,14,107-110); dass die Schilderung nicht chronologisch, sondern systematisch vorgeht, erkennt man an diesen Angaben. Im Seesturm der Metamorphosen werden gleich zu Beginn des Sturms diese wichtigen Maßnahmen zum Schutze des Schiffs ergriffen: Tollitur ad caelum validis ratis acta procellis. Mergitur infernum hinc ceu subitura specum. Fluctuat in tenebris pluvioso et in aere navis Mersa Acheronteis ceu foret illa vadis. Omnia nimbosa latuerunt sidera nube, Utraque nec visa est Ursa micare mihi, Nec Cepheus, mitra qui tectus pontificali, Visus erat, toto et sidera nulla polo. Ipse ratis rector demittere cornua clamat Et vela antemnis mox religare iubet, Hinc alii remos ducunt malumque rescindunt, Coepimus et medio sic fluitare salo.

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99 Sil. 3,228: saevior it trucibus tempestas acta procellis. – 102 Ov. met. 11,504: despicere in valles imumque Acheronta videtur – 107 Ov. met. 11,493: ratis rector – 107-108 Ov. met. 11,482f.: „ardua iamdudum demittite cornua“, rector | clamat, „et antemnis totum subnectite velum!“ – 109 Ov. met. 11,486: tamen properant alii subducere remos. – 110 Sil. 6,685f.: videres | classis et effusos fluitare in gurgite Poenos.

Celtis kann damit freilich die Manövrierunfähigkeit des Schiffs betonen und die Furcht der Mannschaft beschreiben; dass er sich genau an dieser Stelle zur Anwendung eines Vergleichs entschließt, wird durch seine Vorlage motiviert sein; denn als das Schiff des Ceyx von den Wogen bestürmt

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wird und das Wasser zwischen die Balken eindringt, vertieft Ovid die Vorstellung vom Sturmangriff auf eine belagerte Stadt, indem er die Angst der Seeleute mit der der Bewohner einer belagerten Stadt vergleicht (Ov. met. 11, 534-536): trepidant haud segnius omnes quam solet urbs aliis murum fodentibus extra atque aliis murum trepidare, tenentibus intus.

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Allerdings wählt Celtis zwei Vergleiche, die die Dramatik der Situation eher mindern als steigern, wenn er das panische Schreien der Mannschaft zu dem Geschrei der Arbeiter beim Transport von Wein aus einem österreichischen Weinkeller oder von Fässern auf einem Transportschiff auf der Donau in Beziehung setzt (am. 4,14,111-116): Exoritur vastus cunctorum ad sidera clamor Incertusque suae quisque salutis erat. Qualiter Austriacam clamatur forte per urbem, Bacchica de cellis turba ubi vasa trahit, Aut qualis clamor nautarum, ubi navis in Histro Infert Bavaricis dolia multa plagis.

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111 Verg. Aen. 2,488: ferit aurea sidera clamor; Verg. Aen. 3,128: nauticus exoritur vario certamine clamor; Verg. Aen. 5,140f.: ferit aethera clamor | nauticus; Sil. 9,304: tollitur immensus deserta ad sidera clamor.

Ist das ein Signal für den Leser, die Gefährdung nicht allzu ernst zu nehmen? Und doch spitzt sich die Situation mit dem Fokus auf unseren Helden noch einmal zu: Celtis entkleidet sich und will sich über Bord in die Wogen zu stürzen, als sich Barbara an ihn klammert. Er ist kein einsamer epischer Held! Celtis hat den (im Vergleich zu anderen epischen SeesturmSchilderungen) heute wenig bekannten Untergang des Ceyx mit gutem Grund als Vorbild für seinen elegischen Seesturm ausgewählt. Der Seesturm in Ovids Metamorphosen stellt die große Liebe von Ceyx und Alcyone ins Zentrum der dramatischen Entwicklung, denn die letzten Gedanken des Ertrinkenden gelten seiner Frau, und die Gattin erleidet im übergroßen Schmerz die Metamorphose. Während aber der Ovidische Ceyx es als Trost empfinden kann, dass seine Frau ihn nicht begleitet hat, teilt Barbara mit ihrem Dichter die bedrohliche Gefahrensituation. Sie ist treu wie Alcyone, will sich mit ihm in den Tod stürzen und entwirft schon das Epigramm für ihrer beider Grabstein (am. 4,14,117-130): Vestibus expedior, spes si foret ulla natando, Et tabulam aut remum prendere puppe volens, Barbara tum nostros amplexa fideliter artus Cum gemitu et lacrimis haec mihi verba dedit: „Si tua committes, Celtis, modo corpora ponto,

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Te comitem intrepide mox peritura sequar Ipsaque desiliens; una iactabimur unda Aequorea, donec terra petita simul. Vel si non dabitur placidas contingere terras, Nec nostra ad litus corpora fluctus aget, Hoc mare letiferum nobis commune sepulcrum Iam detur; hunc titulum naufraga membra ferant: ‘Barbara cum Celte his vitam finivit in undis, Infausta Tylen dum petiere rate.’”

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117 Ov. trist. 1,2,33: nec spes est ulla salutis. – 120 Mart. 2,76,2: hic tibi verba dedit; Mart. 9,67,4: ante preces totum primaque verba dedit – 121 Verg. Aen. 1,70: et dissice corpora ponto; Ov. trist. 1,2,39: nescit in immenso iactari corpora ponto – 123 Ov. met. 4,166 (Pyramus und Thisbe): una requiescit in urna – 126 Ov. met. 11,564f.: ut agant sua corpora fluctus | optat – 128 Ov. ars 1,412; Ov. epist. 18,198: naufraga membra – 129 Ov. met. 7,591: non exoratis animam finivit in aris.

Wenn wir uns daran erinnern, dass die Konzeption der vier Oden-Bücher Celtis’ Tod ins Auge fasst, so können wir spekulieren, ob nicht auch für die Amores der dramatische Tod in den Wogen des Seesturms geplant war und deswegen der Ceyx-Seesturm mit seinem tödlichen Ausgang als geeignetes Modell gewählt war. Das Epitaph wäre jedenfalls ein pathetischer Abschluss für diese Elegie geworden. Doch Celtis gibt der Situation in der einzigen uns vorliegenden Fassung mit einem Stoßgebet an die Götter die entscheidende Wendung (am. 4,14,131-140). Schlagartig bricht die Sturmschilderung mit einem „Und die Götter hatten uns erhört“ ab. Wir erfahren zunächst einmal nichts von der erleichterten Mannschaft, nichts von einer Reparatur des Schiffes. Doch der Sturm muss nachgelassen haben, denn als Celtis erschöpft in Schlaf sinkt, erscheint ihm der Götterbote Merkur. Und so wird der Beinahe-Ceyx wieder zu einem Aeneas; denn Merkur ist es, der den Vergilischen Aeneas in Karthago – freilich mit einer vorwurfsvollen Scheltrede – an sein eigentliches Ziel erinnert. Dem Dichter auf Irrfahrt wird durch den Götterboten ebenfalls die richtige Richtung gewiesen – im wahren Wortsinn: Auf einer von drei umständlich beschriebenen Reiserouten – entweder über die Alpen nach Bozen oder in Richtung Triest oder über Brixen nach Trient – solle Celtis König Maximilian aufsuchen (am. 4,14,141-156). Dieser werde ihn zum Leiter des Collegium poetarum et mathematicorum an der Universität Wien ernennen und mit dem Privileg ausstatten, als Stellvertreter des Königs die Absolventen des Collegs zum poeta laureatus zu krönen (am. 4,14,157-168): „Is tibi perpetuo donabit tempore census Et paupertatis non sinet esse metum Collegio sacras statuens donare Camenas Atque mathematicos iunget in aede duos,

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Hic ubi nunc tollit sua moenia clara Vienna Et Cetius Bacchi munera largus alit. Teque huic domui rectorem praeesse iubebit Caesareasque vices te gerere ipse iubet, Scilicet ut lauro poteris decorare poetas Et qui succedent post tua fata tibi.” Sic fatus celeres ad sidera sustulit alas Et petit aetherios impiger ille polos.

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167 Verg. Aen. 9,14: in caelum paribus se sustulit alis.

So erfüllt sich das Gebet, das Celtis in der höchsten Not ausgesprochen hat, und somit wird die symbolische Bedeutung dieses Sturms überdeutlich zum Ausdruck gebracht. Maximilian verdankt Celtis, nach Jahren des Wandererdaseins endlich in den Hafen einer sicheren Anstellung einlaufen zu können. Und nicht nur das: Sein bildungspolitisches Ziel ist mit der Gründung des Kollegs bestätigt. Genauso wie Aeneas im fremden Karthago nicht sesshaft werden durfte, bestätigt sich jetzt, dass Celtis’ Universitätskarriere noch nicht am Ziel angelangt war: Er ist dazu ausersehen, die Ausbildung des diplomatischen Nachwuchses für die königliche Kanzlei in einem eigenen Institut durchzuführen und genießt das Vertrauen des Herrschers durch die Verleihung des herrschaftlichen Privilegs der Dichterkrönung. Mit dieser göttlich verkündeten Botschaft verflüchtigen sich die Gewitterwolken. Celtis führt die Expedition zu Ende; man ist bei den Orkney-Inseln, den Orkades, angekommen (am. 4,14,169-179), und Celtis beglückt zum Abschluss seine Leser mit der nordischen Wunderwelt, wo angeblich exilierte Götter als Trolle ihr Unwesen treiben, deren Eigenschaften sehr an Klabautermänner erinnern (am. 4,14,179-192).20 Pomponius Mela versicherte, dass auch bei glaubhaften Autoren zu lesen sei, dass just bei den Orkades seltsame Menschen mit Pferdefüßen und Elefantenohren lebten;21 Celtis ersetzt diese Passage durch die moderne Nachricht von den Trollen, die den Seeleuten helfen, solange sie gut behandelt werden, bei respektloser Behandlung aber zu einer Gefahr für Schiff und Mannschaft werden können. Durch den Sturm ist man dem Ziel, der Insel Tyle, ganz nahe gekommen; das zeigt sich bei verändertem klaren Wetter am nächsten Mor–––––––––––– 20 Friedrich Ranke: „Klabautermann“, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 4, 1437-1439. 21 Mela 3,56: in his esse Oeonas, qui ovis avium palustrium et avenis tantum alantur, esse equinis pedibus Hippopodas et Sannalos, quibus magnae aures et ad ambiendum corpus omne patulae – nudis alioquin – pro veste sint, praeterquam quod fabulis traditur, apud auctores etiam, quos sequi non pigeat, invenio.

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gen. Man geht an Land und feiert zum Dank an Neptun feuchtfröhlich den ganzen Tag (am. 4,14,193-204). Wer jetzt eine Beschreibung der sagenumwobenen Insel Thule erwartet, wird enttäuscht. Celtis weist nur auf die ungewöhnliche Länge des Tageslichts hin (so auch Mela 3,57), ja er gibt sich nicht einmal mit dem Ansatz einer Landesbeschreibung die Mühe, den Schein einer tatsächlichen Expedition in den Norden aufrecht zu erhalten. Die ganze Elegie hat ein anderes und wichtigeres Ziel: die Berufung des Dichters nach Wien. Er reist also schnellstmöglich, wie die daktylische Hetze in per iuga, per scopulos anzeigt, nach Tirol zur Audienz bei Maximilian (am. 4,14,205-210). Die Begegnung mit dem Herrscher ist denkwürdig, greift sie doch die grundlegenden Gedanken einer Dichterkrönung wieder auf, die ein symbiotisches Verhältnis zwischen kulturförderndem Herrscher und Literaten herstellt. Maximilian empfängt den Dichter mit einer lapidaren und deshalb kurios anmutenden Feststellung: „Es ist leicht, einen Dichter zu ernähren!“ Juvenal sagt dasselbe sinngemäß in seiner siebten Satire, in der er die mangelnde Literatur- und Kulturförderung durch die reiche Oberschicht anprangert, spöttisch zu einem Adressaten seiner Kritik: Es sei offensichtlich schwieriger, einen Dichter durchzufüttern als einen Löwen!22 Gleichzeitig wird man aber als ein Leser aus der Zeit um 1500 in Juvenals Satire auch eine positive Aussage finden, die der eigenen Idealvorstellung vom Verhältnis des Landesherrn zu den Literaturschaffenden entspricht; man wird nämlich Juvenals Satirenanfang als ein Motto frühneuzeitlicher Kulturpolitik verstehen: „Hoffnung auf kulturelle Förderung gibt es nur beim Herrscher“ (Juv. 7,1-3): Et spes et ratio studiorum in Caesare tantum; solus enim tristes hac tempestate Camenas respexit.

Die generösen Angebote Maximilians auf finanzielle Hilfe bei der Familiengründung oder der Sicherung von Domherrenpfründen lehnt Celtis bescheiden ab; stattdessen verpflichtet er sich als poeta laureatus zu dem Lebens- und Berufsziel, dem Herrscher durch seine literarischen Werke zur Unsterblichkeit zu verhelfen (am. 4,14,216-229): Moxque mihi summi fuerat data copia regis Exponoque, meae quae sit origo viae. Subiunxit Caesar: „Facile est nutrire poetam. Si cupis, uxorem iam tibi, Celti, dabo. Vel si devota fieri vis mente sacerdos,

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–––––––––––– 22 Juv. 7,74-78: Non habet infelix Numitor, quod mittat amico | Quintillae quod donet, habet, nec defuit illi | unde emeret multa pascendum carne leonem | iam domitum; constat leviori belua sumptu | nimirum et capiunt plus intestina poetae.

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Absentes nummos, si petis, ipse feres.“ „Non ego, rex Latii princeps et gloria regni, Haec cupio vitae taedia magna meae. Sed cupio aeternum fieri per carmina regem, Eius et in cunctis gesta canenda plagis. Quod fieri ut possit, rex invictissime regum, Annua des certo cum lare dona mihi!” Annuit et propriis manibus signaverat omne, Quod petii, oblato et munere abire iubet.

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Das Ende der Reise und der vier Bücher der Amores beginnt also zunächst als Periplus, zwar auf antiken literarischen Fachbüchern basierend, aber mit allen Details moderner Schifffahrt glaubwürdig als Expedition in Szene gesetzt. Umso auffälliger setzt sich davon der Mittelteil mit dem Seesturm ab, dessen epische Ausgestaltung erneut als Markierung dient, um eine programmatische Aussage zum Selbstverständnis als Dichter und zum Verhältnis von Herrscher und Literaten vorzubereiten, die zum Zielpunkt der gesamten Amores-Konzeption wird. Ähnlich wie in am. 2,11 wird die epische Inszenierung wiederum mit dem Gedanken an die höhere Mission verbunden. Diesmal ist sogar Merkur – wie in der Aeneis – der Bote, freilich nur als Traumvision. Celtis kann sich für den Einsatz epischer Konstellationen zum Ausdruck persönlicher Situationen auf seinen Vorbildautor Ovid berufen. Denn gerade Ovid ist es, der den epischen Seesturm zum Ausdruck seiner Gefährdung und seines problematischen Verhältnisses zu Augustus in den Tristien eingesetzt hat. In der vierten Elegie des ersten Buchs sieht sich der Dichter den Naturgefahren auf der Abfahrt von Italien wie ein zweiter Odysseus oder gar ein Aeneas mit umgekehrtem Ziel ausgesetzt: Der Sturm droht das Schiff nämlich wieder zurück nach Italien zu treiben, was dem Relegierten beinahe genauso gefährlich scheint wie die physische Bedrohung, der er durch den Sturm ausgesetzt ist. Sein Gebet an die Meeresgottheiten spricht deshalb auch von Augustus als dem infestus Iuppiter, der ihm unerbittlicher scheint als die Götter der Naturgewalten. Celtis dagegen sieht sich in der Lage, das Herrscher-Dichter-Verhältnis in Form einer panegyrischen Danksagung auszudrücken; Maximilian wird panegyrisch die Rolle des rettenden Gottes zugeschrieben, der dem orientierungslos im Sturm des Lebens treibenden Dichter und seinem ehrgeizigen literarischen Projekt einen neuen Zielpunkt gibt. Die Selbstdarstellung und Erkenntnis der eigenen Aufgabe erfährt innerhalb der Elegienbücher, wenn wir die nach der Aeneis gestalteten Episoden als entsprechende Signale verstehen, eine Entwicklung: Wird in Buch I mit dem Gang in die Unterwelt noch demonstrativ die AeneasRolle abgelehnt und statt des pflichtbewussten literarischen Schaffens der

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Lebenssinn eher in Freundschaft, Lebensgenuss und entsprechend in Liebes- und Freundschaftsdichtung gefunden, so wird in Buch II schon die Erkundung des Landes und die Verewigung in Literatur als eine Mission gerechtfertigt, die Vorrang vor anderen Lebensentwürfen verdient. Einen ‘höheren Sinn’ mit panegyrischer Verpflichtung erhält diese Mission darüber hinaus erst am Ende von Buch IV durch die königliche Berufung nach Wien. Auch die Amores haben damit spürbar eine Funktionserweiterung erfahren. Sie müssen jetzt als eine Qualifikationsschrift dienen und die Berufung auf die exponierte Professur als gerechtfertigt erweisen. Wie in der Widmungsvorrede der Amores die Arbeit am Projekt der Germania illustrata bestätigt wird und ein Maximiliansepos zumindest als Erwartung des Herrschers angesprochen ist, so beweist Celtis mit den Amores selbst schon, dass vielversprechende Ansätze zu einer Landesbeschreibung und zu einem Epos vorhanden sind: Sowohl in seinem in zwei Jahrzehnten erworbenen Fachwissen, das er in die Amores bereits einbringt, zeigt er sich diesem Anspruch gewachsen, wie auch in seinem formalen dichterischen Können, wenn er gerade den Periplus des letzten Buchs mit Seesturm und Göttererscheinung problemlos zu einer Kostprobe für ein panegyrisches Maximiliansepos erweitert.

Das leere Grab und die Macht der Bilder Vergilrezeption in der Christias des Marco Girolamo Vida

REINHOLD F. GLEI (Bochum) Bildbeschreibungen gehören neben Gleichnissen und Katalogen seit Anbeginn zu den typischen, unabdingbaren Elementen des Epos, die die fiktionale Erzählung deutend begleiten und die man mit den Schlagwörtern Kunst, Natur und Gedächtnis umschreiben könnte. Auch im Christusepos des Cremonenser Humanisten und Gegenreformators Marco Girolamo Vida (ca. 1480/5–1566)1 spielen diese drei gattungskonstitutiven Merkmale eine prominente Rolle: Im Katalog der Völker des alten Israel (Chr. 2,333–529) erfahren die Juden eine ähnliche Aufwertung wie die Völker des alten Italien bei Vergil;2 in den zahlreichen Gleichnissen wetteifert Vida mit seinem Vorbild hinsichtlich Originalität und Naturnähe der Vergleiche;3 und in der großen Ekphrasis des Jerusalemer Tempels –––––––––––– 1

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Zur Biographie Vidas vgl. das einleitende Kapitel bei Mario A. Di Cesare: Vida’s Christiad and Vergilian Epic. New York u.a. 1964, 1-39; Peter Hibst: Marcus Hieronymus Vida, De dignitate reipublicae. Über den Wert des Staates. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar (BAC 57), Trier 2004, 26-33. – Die gegenreformatorische Tendenz der Christias zeigt sich vor allem in der von Vergil übernommenen, aber jetzt anders motivierten Romideologie (translatio imperii ecclesiastici von Jerusalem nach Rom) und in der Einsetzung des Papsttums. Dadurch wird der Antijudaismus, der in der Darstellung der Hohenpriester und Schriftgelehrten sowie der Volksmassen vor Pilatus deutlich zutage tritt, etwas abgemildert. Zum Katalog wie überhaupt zu Vidas Verhältnis zum Judentum vgl. Reinhold F. Glei: „Memoria Iudaica. Die Darstellung der Juden in der Christias des Marco Girolamo Vida“, Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 2009 (2010), im Druck. Zu einzelnen Gleichnissen vgl. James P. Holoka: „A Neoplatonic Simile in Vida’s Christiad (4.10-15)“, Romance Notes 18, 1977, 243-246; William J. O’Neal: „The Simile in Vida’s Christiad“, in: R. J. Schoeck (Hg.), Acta Conventus Neo-Latini Bononiensis. Proceedings of the Fourth International Congress of Neo-Latin Studies. Bologna 26 August to 1 September 1979, Binghamton, NY 1985, 558563; Wolfgang Polleichtner: „Die Bienengleichnisse der Christias und Vidas Ver-

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(Chr. 1,551–724)4 zeigt sich Jesus als Deuter der Zukunftsbilder dem vergilischen Aeneas überlegen, der mit seinem Schild ahnungslos Ruhm und Schicksal der Enkel schultert. Es war seit jeher die Intention der Bibeldichter, einerseits den paganen epischen Stoff durch die Heilsgeschichte, andererseits den primitiven sermo piscatorius der Bibel durch die formvollendete Sprachkunst Vergils zu substituieren.5 Im Vergleich zur Aeneis, ja selbst zu den epigonalen Epen der Kaiserzeit nehmen sich allerdings die spätantiken Bibeldichtungen recht ärmlich aus; ein gleichwertiges, an den Maßstäben vergilischer Poetik orientiertes Bibelepos war daher eine Aufgabe, die erst im Humanismus überhaupt ernsthaft in Angriff genommen werden konnte.6 Vida, der sich durch seine Jugendwerke, vor allem den Ludus Scacchiae 7 und die Bombyces 8, ––––––––––––

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gil-imitatio“, Neulateinisches Jahrbuch 8, 2006, 227-232; ders.: „Von Bienen und Korkeichen. Die lateinischen Fachschriftsteller und Vidas Bienengleichnisse“, Neulateinisches Jahrbuch 10, 2008, 293-304. Vgl. Di Cesare (wie Fußn. 1), 109-113; s. auch die Bemerkungen zur Tempelekphrasis bei Glei (wie Fußn. 2). Vgl. beispielshalber meine Untersuchung des Weinwunders zu Kana (Ioh. 2) bei den Bibelepikern Iuvencus, Sedulius und Vida: Glei, Reinhold F.: „Jesus als Gottmensch in lateinischer Bibelepik“, in: Gerhard Binder, Bernd Effe, Reinhold F. Glei (Hgg.): Gottmenschen. Konzepte existentieller Grenzüberschreitung im Altertum (BAC 55), Trier 2003, 133-154. – Analog gilt dies auch für die griechische Bibeldichtung, insbesondere für die Johannesparaphrase des Nonnos (vgl. Joseph Golega: Studien über die Evangeliendichtung des Nonnos von Panopolis. Ein Beitrag zur Geschichte der Bibeldichtung im Altertum, Breslau 1930; neuere Untersuchungen dazu fehlen). Zu den Homercentonen der Eudokia (mit einer exemplarischen Interpretation der Lazarus-Episode Joh 11) siehe meinen Aufsatz: Reinhold F. Glei: „Der Kaiserin neue Kleider. Die Homercentonen der Eudokia“, in: Bernd Effe, Reinhold F. Glei, Claudia Klodt (Hgg.): ‘Homer zweiten Grades’. Zum Wirkungspotential eines Klassikers (BAC 79), Trier 2009, 227248. Vida verfasste (vor 1527) eine Ars poetica, in der er Vergil als das unübertreffliche Muster epischer Dichtung feierte: vgl. Susanne Rolfes: Die lateinische Poetik des Marco Girolamo Vida und ihre Rezeption bei Julius Caesar Scaliger, München u.a. 2001 (zur Datierung 37ff.). Dass Vidas implizite Poetik in der Christias substantiell noch über seine explizite Poetik in der Ars hinausgeht, ist die zentrale These des Buches von Di Cesare (wie Fußn. 1). Zum Schachgedicht vgl. Reinhold F. Glei und Thomas Paulsen: „,...und sie spielt sich doch!’ Zur Rekonstruierbarkeit der Schachpartie in Vidas ‘Scacchia Ludus’“, Neulateinisches Jahrbuch 1, 1999, 65-97. Ein Lehrgedicht über die Seidenraupenzucht (2 Bücher) in Anlehnung an Vergils 4. Georgicabuch. Allgemein zum Hintergrund vgl. Walther Ludwig: „Neulateinische Lehrgedichte und Vergils Georgica“ (1982), in: ders.: Litterae Neolatinae.

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dem Medici-Papst Leo X. empfohlen hatte, war wie kein anderer geeignet, nunmehr ein Christusepos zu beginnen, das ihn vollends zu einem alter Vergilius machen sollte. 1518 vom Papst beauftragt, reifte die Christias länger als die Aeneis und konnte erst 1532 Leos Nachfolger Clemens VII. handschriftlich überreicht werden.9 Gedruckt wurde das Epos erstmals 1535 in Cremona, 1550 dann daselbst in einer Ausgabe sämtlicher Gedichte letzter Hand.10 Es umfasst sechs Bücher mit jeweils etwa 1000 Versen und erzählt die Heilsgeschichte von Palmsonntag bis Pfingsten;11 die Vorgeschichte von Mariä Empfängnis bis zu Jesu Predigten und Wundern berichten Joseph und Johannes (der Lieblingsjünger, der mit dem Evangelisten identifiziert ist) im Rückblick als eine Art stellvertretende Apologie vor Pilatus. Diese Apologe (Buch 3 und 4) machen ein Drittel des Gesamtwerks aus und haben somit schon quantitativ ein größeres Gewicht als die Apologe des Aeneas vor Dido; hinzu kommt, dass in ihnen nicht –––––––––––– Schriften zur neulateinischen Literatur, hg. von Ludwig Braun u.a., München 1989, 100-127 (zu den Bombyces S. 110-113). Spezialuntersuchungen fehlen. 9 Die Handschrift ist erhalten (Florenz, Biblioteca Nazionale, Conventi Soppressi C8, 1177) und wird für die kritische Edition der Christias (mit Übersetzung und ausführlichem Kommentar) ausgewertet, die von einer Bochumer Arbeitsgruppe (Reinhold F. Glei, Wolfgang Polleichtner, Michael Schulze Roberg, Eva von Contzen) vorbereitet wird. Die bisher einzige vollständige deutsche Übersetzung (in Hexametern) dürfte als veraltet gelten: Jesus Christus. Ein lateinisches Heldengedicht des Erzbischofs Vida; Deutschen Verehrern des Göttlichen Helden gesungen von Johann David Müller, Prediger zu Stemmern, Hamburg: bei B. G. Hoffmann, 1811. Ältere englische Übersetzung von Drake, Gertrude C. und Clarence A. Forbes: Marco Girolamo Vida’s The Christiad. A Latin-English Edition, Carbondale u.a. 1978; jetzt maßgeblich Marco Girolamo Vida, Christiad. Translated by James Gardner (The I Tatti Renaissance Library, 39), Cambridge, Mass. 2009. Ein moderner Kommentar ist ein dringendes Desiderat (s. das oben genannte Projekt); wir besitzen nur den zeitgenössischen, allerdings monumentalen Kommentar des Bartolomeo Botta (M Hieronymi Vidae Cremonensis Albae Episcopi Christias. Presbytero Bartholomaeo Botta, Canonico Papiensi interprete. Ticini, Apud Hieronymum Bartolum. 1569), vgl. dazu Guido Baldassarri: „Un commento cinquecentesco alla ‘Christias’ del Vida“, in: Miscellanea di studi in onore di Marco Pecoraro, vol. I: Da Dante al Manzoni, a cura di Bianca Maria DaRif, Firenze 1991, 195-222. Die Dissertation von Gertrude Georgina Coyne (später hieß sie Gertrude Coyne Drake): An Edition of Vida’s Christiad with Introduction, Translation and Notes. Diss. Ithaca (Cornell University) 1939, ist ungedruckt und anscheinend nur in einem Exemplar in Cornell greifbar; sie liegt mir in Kopie vor (Scans von Wolfgang Polleichtner). 10 Zur Druckgeschichte umfassend Mario A. Di Cesare: Bibliotheca Vidiana. A Bibliography of Marco Girolamo Vida, Firenze 1974. 11 Eine detaillierte Inhaltsübersicht findet sich bei Müller (wie Fußn. 9), III-XVI.

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nur das Leben Jesu, sondern auch die gesamte biblische Heilsgeschichte inklusive Schöpfung und Weltuntergang inkorporiert ist.12 Die Struktur des Werkes ist so angelegt, dass jedes Buch neben der fortschreitenden Erzählung ein längeres episches Element enthält: Buch 1 die Tempelekphrasis, Buch 2 den Katalog, Buch 3 und 4 als Höhepunkt die Apologe, Buch 5 schließlich, dem letzten Aeneis-Drittel entsprechend, eine große (Beinahe-)Schlacht (Chr. 5,508–702: Die Engel wollen den Tod Christi verhindern und rüsten sich gegen die Mächte der Hölle, aber Gott verhindert den Kampf), und Buch 6 die Katabasis Christi (Chr. 6,121– 293), eine grandiose Variante des Descensus-Kampfes.13 Doch nicht diese gewaltigen epischen Partien sollen im Zentrum dieses kleinen Beitrags stehen, sondern eine eher unscheinbare Szene, an der gleichwohl wesentliche Interpretationslinien der Christias deutlich gemacht werden können. In Buch 6 der Christias finden wir nach der Katabasis Christi und der Befreiung der frommen Seelen aus der Hölle die eher beschauliche Szenerie des frühen Ostersonntags, an dem Maria Magdalena (maestissima Magdalene 6,315) und andere Jüngerinnen zum Grab Jesu gehen, um Totenspenden darzubringen. Unterwegs beklagen sie ihr Schicksal (nos miseras 6,322) und bedauern, nicht mit ihrem Meister (lacrimabilis heros 6,322) gestorben zu sein. Als sie zum Grab kommen, sehen sie umherblickend, dass kein Wächter da ist und der Eingang offensteht. Sie treten heran, finden das Grab leer – nur ein Wohlgeruch hängt noch in der Luft –, und Magdalena (pulcherrima virgo 6,333) glaubt, der Leichnam sei geraubt worden. Ihr heftiges Wehklagen wird von der Ankunft eines Engels unterbrochen, der die Frauen auffordert, ihre Trauer fahren zu lassen: Christus sei auferstanden. Dies wird freilich nicht so lapidar mitgeteilt, sondern recht weitschweifig gleich mit einer Lektion in Soteriologie und Anastasiologie verbunden: Christus sei um der Sühne aller willen, auch ihrer – der Frauen – Vergehen (vestraque ... crimina 6,343), freiwillig am Kreuz gestorben, habe den König des Erebos besiegt und sei aus dem Totenreich als Sieger zur Oberwelt zurückgekehrt. Alles Sterbliche habe er von seinem Körper abgelegt.14 –––––––––––– 12 Die Kritik dieser Konzeption als „unhomerisch“ und „unaristotelisch“ bei Thomas Greene: The Descent from Heaven. A Study in Epic Continuity, New Haven u.a. 1963, 171, ist evidentermaßen abwegig, da diese Vorwürfe auch Vergil, ja in gewisser Weise auch Homer selbst (mit seiner Schildbeschreibung) treffen würden. 13 Vgl. Josef Kroll: Gott und Hölle. Der Mythos vom Descensuskampfe (Studien der Bibliothek Warburg, Heft 20), Leipzig u.a. 1932 (Nachdr. Darmstadt 1963). Ob der Descensus Christi im apokryphen Nicodemus-Evangelium für Vida Pate gestanden hat, bliebe noch zu untersuchen. 14 Dies erinnert an die Apotheose des Aeneas, die bei Ovid (met. 14,600) mit derselben Wendung quaecumque obnoxia morti (= Chr. 6,347) beschrieben wird.

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Nach diesen Worten verschwindet der Engel und lässt die Frauen, noch immer verwirrt und zweifelnd, zurück. Daraufhin erhält Maria Magdalena eine Art zweite Offenbarung, diesmal in Form eines Bildes (Chr. 6,351– 368):15 Namque morae impatiens atque acri saucia amore dum uirgo sedet ac miratur inane sepulcrum artificumque manus, uidet ipso in marmore fictum littus arenosum, porrectum in littore piscem, 355 fluctiuomum, ingentem, nant aequore qualia in alto mole noua ignaros nautas terrentia cete: monstrum turpe, atrum, spatiosi bellua ponti, cuius ab undiuomo uates imperditus ore redditus aereas rursum ueniebat ad auras. 360 Tum secum: „Superi nunc, o nunc uisa secundent praesentes. ueterum agnosco non uana futuri signa“, inquit: „nempe, ut monstri deformis in atro tris uates latuit luces, tris gutture noctes ingluuiem passus uastaeque uoraginis antrum, 365 sic heros multum +ad superos+16 defletus amicis,

–––––––––––– 15 Der Text entstammt der in Vorbereitung befindlichen kritischen Ausgabe; er ist orthographisch normalisiert und stützt sich auf die Editio princeps 1535 und auf die (in diesem Fall textidentische) Ausgabe letzter Hand 1550. Die Übersetzung ist ebenfalls der geplanten Neuausgabe entnommen; wie notwendig eine moderne deutsche Übersetzung nach philologischen Kriterien ist, zeigt im Vergleich die kuriose, oft recht holprige hexametrische Übersetzung von Müller: „Denn indem sich Maria, des Harrens müd’ und vor Sehnsucht / Krank, ans Grab setzt und jetzt in seine Leere hinabschaut, / Jetzt des Bildners Kunst bewundert, erblickt sie im Marmor / Ein besandetes Ufer, auf welchem ein Wallfisch gestreckt lag, / Welcher Ström’ ausspie – ein Ungeheuer, dergleichen / Manchmal im Weltmeer die unerfahrnen Schiffer erschrecket, / Häßlich, schwarz und dem Meere zur Last, wo das Unthier hauset – / Aus dem Fluthen= ausspeienden Rachen desselben entschlüpfte / Wieder zur Oberwelt Licht der unbeschädigte Jonas. / Ahnend rief sie dabei: O Mächte des Himmels, verwirklicht / Dieses Bildes Bedeutung! ich seh’ in dem Vorfall der Vorzeit / Winke für künftge Geschichten! Gleichwie der Seher im Bauche / Dieses Ungeheuers drei Tag’ und Nächte versteckt lag / Und in dem scheußlichen Schlund der Vernichtung entgegen bangte; / Also liegt auch der Held, den seine Lieben beweinen, / In der Höhle des Felsen, im Schooße der Erde begraben! / (So, so sprach Er selber vorher; jetzt gedenk’ ich des Wortes!) / Drauf verläßt Er das ledige Grab und schwingt sich gen Himmel!“ (Müller, wie Fußn. 9, 179f.) 16 ad superos (Dublette und vielleicht ursprünglich Glosse zu 369 ad coelum) ist syntaktisch und inhaltlich an dieser Stelle unhaltbar: Was soll „beweint/beklagt bei den Himmlischen von den Freunden“ heißen? Die Übersetzung „in der Oberwelt“ (wo die Freunde bleiben müssen und Christus nicht folgen können – Vorschlag Claudia Wiener) ist erwägenswert, wobei aber die superi dann gerade nicht die Himmlischen wären, die Freunde vielmehr bei irgendwelchen oberirdischen

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inclususque cauo saxo terraque sepultus delituit, saepe ut (memini) praedixerat ipse, ad coelum rediit saxumque reliquit inane. Denn während die junge Frau ungeduldig und wund durch ihre heftige Liebe so da saß und das leere Grab und die Hände seiner Künstler bewunderte, sah sie, direkt im Marmor abgebildet, eine sandige Küste und ein am Ufer hingestrecktes Meerestier, flutenausspeiend, gewaltig – so wie die Wale,17 die in der hohen See schwimmen und die unwissenden Seeleute mit ihrer ungewohnten Masse erschrecken. Es war (jenes) schreckliche schwarze Monster, das Untier aus den Weiten des Meeres, aus dessen wogenausspeiendem Maul (einst) der Prophet unversehrt wieder ans Licht und an die Luft gekommen war. Da sprach sie bei sich: „Mögen die Himmlischen jetzt, ja jetzt diese Vision durch ihre Gegenwart in Erfüllung gehen lassen! Ich erkenne, dass die Zeichen der Zukunft bei den alten (Propheten) nicht bedeutungslos waren. Denn offenbar (ist es so)“, sagte sie: „Wie der Prophet drei Tage und drei Nächte lang in der schwarzen Kehle des unförmigen Monsters verborgen war und den Kropf und die Höhlung des riesigen Schlundes ertragen musste, so hat sich der Held zurückgezogen, vielfach +bei den Himmlischen?+ beweint von seinen Freunden, eingeschlossen in einem hohlen Felsen, in der Erde begraben, (und ist dann,) wie er selbst es – jetzt erinnere ich mich – oft vorhergesagt hatte, zur Oberwelt zurückgekehrt und hat das Grab leer zurückgelassen.“

Magdalenas Deutung wird sogleich im Anschluss daran bestätigt, indem ihr der auferstandene Christus selbst erscheint. Die zitierte Passage hat kein Pendant im Bibeltext. Bei Matthäus (28,1ff.) und Markus (16,1ff.) ist der Engel schon da, als die Frauen kommen, und belehrt die Fürchtenden; danach fliehen sie vom Grab, und Jesus erscheint der Maria Magdalena. Bei Lukas (24,1ff.) finden die Frauen das leere Grab und erschrecken; dann erscheinen ihnen zwei Engel; Jesus selbst zeigt sich nur den Aposteln, nicht den Frauen. Der Darstellung Vidas am nächsten kommt noch das Johannesevangelium (20,11ff.), wonach Magdalena beim Anblick des leeren Grabes weint, weil sie glaubt, der Leichnam sei entwendet worden; dies sagt sie auch den beiden Engeln, die in der Grabeshöhle sitzen, ohne dass diese sie weiter über den Verbleib –––––––––––– Menschen klagten (was ja nicht der Fall war, sie klagten nur im Freundeskreis selbst). Coyne (wie Fußn. 9) übersetzt syntaxwidrig „so the Savior that is greatly mourned by his friends hath come to the upper air“ (S. 599), in den Noten, die gegen Ende der Christias hin immer dürftiger werden, schweigt sie zu der Stelle. Die anderen Übersetzungen, zuletzt auch Gardner (wie Fußn. 9), lassen die Präpositionalphrase ganz aus. Ich konjiziere maestis (vgl. Chr. 6,315 maestissima Magdalene), wodurch sich eine Alliteration und außerdem ein passender spondeischer Rhythmus ergibt. 17 Über die Deklination von cete (griechischer Plural von cetus, -i n.) und über die Tierart stellte schon Botta (wie Fußn. 9), 179f., Überlegungen an.

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des Leichnams belehrten. Kurz darauf erscheint ihr Jesus selbst (Ioh. 20,14ff.). Zwischen Engel- und Jesuserscheinung hat Vida also die obige Szene eingefügt, in der Maria Magdalena sich das Grab genauer anschaut. Während ihr Jesus bei Johannes unvermittelt und unerwartet erscheint, wartet sie bei Vida offenbar ungeduldig (morae impatiens 6,351) darauf, Jesus selbst zu sehen, den sie verzehrend liebt (acri saucia amore 6,351). In der Zwischenzeit bewundert sie die sorgfältig gehauene und mit Marmor ausgekleidete Grabstätte, die offenbar von Künstlerhand mit Reliefbildern ausgeschmückt worden war; sie gehörte ja dem reichen Joseph von Arimathäa, so dass diese aufwendige Gestaltung nicht unplausibel ist. Dargestellt ist eine Szene aus dem Alten Testament (vgl. die Erwähnung der veteres 6,361): Eine sandige Küste mit dem gestrandeten Wal, der den Propheten Jona verschluckt und nach drei Tagen und Nächten wieder ausgespien hatte. Die Jona-Erzählung gehört zu den beliebtesten Stoffen der christlichen Kunst überhaupt: Bildliche Darstellungen v.a. dreier Hauptmotive (Meerwurf, Ausspeiung und Kürbislaube) sind seit frühester Zeit bezeugt.18 Ein konkretes Vorbild für Vida wird man daher nur schwerlich ausmachen können, dazu ist das Motiv zu allgegenwärtig. Hervorgehoben wurde von dem unbekannten Künstler offenbar vor allem die Größe des Wals, was von Vida durch die Begriffe monstrum (6,357. 362), belua (6,357) und cete (6,356) sowie durch entsprechende Epitheta wie ingens (6,355), mole nova (6,356), turpe (6,357) und deforme (6,352) sprachlich aufgenommen wird. Außerdem verweist er immer wieder auf den gewaltigen Schlund des Untiers, das einen kompletten Menschen unversehrt verschlingen und wieder ausspeien kann: fluctivomus 19 (6,355), undivomus 20 (6,357), in atro ... gutture (6,362f.), ingluvies (5,364), vastae voriginis antrum (6,364). Bei der Betrachtung dieser Darstellung erinnert sich Maria Magdalena an die Prophezeiung Jesu, dass er am dritten Tage auferstehen werde, und setzt das Jona-Geschehen typologisch mit der Katabasis Christi in Beziehung: ut vates – sic heros (6,362f. bzw. 365). Diese Typologie ist dem christlichen Leser bereits aus dem Matthäusevangelium bekannt, wo Jesus selbst diese Parallele zieht: sicut enim fuit Ionas in ventre ceti tribus diebus et tribus noctibus, sic erit Filius hominis in corde terrae tribus diebus et tribus –––––––––––– 18 Vgl. dazu etwa Uwe Steffen: Das Mysterium von Tod und Auferstehung. Formen und Wandlungen des Jona-Motivs, Göttingen 1963, 107-140 (Das Jona-Motiv in der Kunst). 19 fluctivomus bei Walter von Châtillon, Alexandreis 6,380. 20 undivomus vor Vida nicht belegt; gebildet analog zu fluctivomus bzw. dem antiken undivagus.

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noctibus (Mt 12,40).21 Bemerkenswert ist, dass Vida hier die Kenntnis der Typologie bei Magdalena voraussetzt, die nach eigener Angabe (memini Chr. 6,367) offenbar bei Jesu diesbezüglichen Worten zugegen war: Sie erkennt als erste, dass die signa futuri (6,361f.) der alten Propheten – insbesondere das signum Ionae (Mt 12,39) – nicht bedeutungslos (non vana 6,361) waren, sondern sich jetzt in Christus, dem Messias, erfüllen. Die Typologie ist nicht ein bloßer Vergleich, sondern impliziert über bestimmte Tertia comparationis hinaus eine deutliche Steigerung: Christus ist kein ungehorsamer Prophet wie Jona, der von Gott gestraft und dann doch errettet wird, sondern hat den Tod, wie der Engel kurz zuvor noch einmal betont hatte, freiwillig (sponte sua 6,343) und stellvertretend für alle Menschen (unus pro cunctis 6,344) auf sich genommen. Dem monströsen Wal entspricht weniger das prächtige Grab als vielmehr die Unterwelt, in die Christus ja zuvor hinabgestiegen war und die Vida in seinem großen Exkurs (6,121–293) in dantesken Farben gemalt hatte.22 Eine Unstimmigkeit gibt es bezüglich der Chronologie: Während es von Jona ausdrücklich heißt, er habe drei Tage und drei Nächte im Schlund des Untiers zugebracht (tris ... luces, tris ... noctes 6,363; vgl. Ion 2,1), war Jesus definitiv nur von Karfreitagnachmittag (um die neunte Stunde, vgl. Mt 27,45) bis Ostersonntagmorgen (noch vor Sonnenaufgang, vgl. Mt 28,1) tot, also nur knapp vierzig Stunden. Selbst bei großzügiger Rechnung sind das maximal zwei Tage und zwei Nächte. Die Exegeten haben sich viel einfallen lassen, um diese Diskrepanz zu erklären.23 Ich komme nun zu den Parallelen, die der vergilfeste Leser ziehen wird. Mehrere Aeneis-Szenen bzw. Ekphraseis kommen in Frage: die Bilder am Junotempel von Karthago und am Apollotempel von Cumae so-

–––––––––––– 21 Dies lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig, wie bereits Hieronymus in seinem Jona-Kommentar hervorhebt: Huius loci mysterium in Evangelio Dominus exponit et superfluum est vel id ipsum vel aliud dicere quam exposuit ipse qui passus est. (Hier. in Ion. II,1b: Hieronymus, Commentarius in Ionam Prophetam. Kommentar zu dem Propheten Jona. Übersetzt und eingeleitet von Siegfried Risse [Fontes Christiani Bd. 60], Turnhout 2003, 142). Vgl. trotzdem z.B. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband: Mt 8-17 (EKK Bd. I/2), Zürich u.a. 1990, 277ff. 22 Ob Vida tatsächlich von Dante abhängig ist, bliebe zu untersuchen: vgl. auch Di Cesare (wie Fußn. 1), 343f. (note 50). 23 Vgl. z.B. Hieronymus (wie Fußn. 21), 142, wonach einige den Karfreitag wegen der Sonnenfinsternis als zwei Tage und Nächte rechnen. Andere lassen Jesus schon Gründonnerstag beim Letzten Abendmahl sterben; vgl. Luz (wie Fußn. 21), 278.

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wie die Schildbeschreibung.24 In allen drei Fällen ist Aeneas der Betrachtende, kann und muss also mit Maria Magdalena parallelisiert werden; was das im einzelnen bedeutet, wird noch zu fragen sein. Hier soll zunächst eine Vergleichung der Beschreibungen vorgenommen werden. Am Junotempel von Karthago sind Szenen aus dem trojanischen Krieg abgebildet, also aus Aeneas’ Vergangenheit, die für diesen daher unmittelbar verständlich sind. Die karthagischen Künstler (artificumque manus Aen. 1,455 = Chr. 6,353) haben eine altbekannte Geschichte (totum vulgata per orbem Aen. 1,457) dargestellt; dabei war ihre Intention nicht, dass einst ein in die Geschichte Involvierter die Bilder, die für die Karthager eher dekorativer Natur sind, betrachten sollte. Die Bedeutung für Aeneas liegt darin, dass er aus der Bekanntheit seines Schicksals selbst bei den Karthagern, den künftigen Feinden der Römer, neue Hoffnung schöpft. Die Tore des Apollotempels von Cumae sind mit Szenen aus der kretischen Mythologie (Krieg des Minos mit Athen, Pasiphae, Minotaurus und Labyrinth) geschmückt, die Dädalus selbst dort verewigt hat: Auch hier handelt es sich funktional um eine Art Vergangenheitsbewältigung, allerdings diesmal nicht für Aeneas, sondern für den Künstler selbst, der im wesentlichen seine eigene Geschichte darstellte; nur den Fall des Ikarus vermochte der Vater nicht abzubilden, da ihm hier die Hände versagten (bis patriae cecidere manus Aen. 6,33). Aeneas wartet, zur Sibylle von Cumae vorgelassen zu werden, und betrachtet in der Zwischenzeit die Tempelbilder – ob er versteht, was dort abgebildet ist, wird nicht gesagt, kann aber aufgrund der Bekanntheit der Sage (ut fama est Aen. 6,14) angenommen werden. Einen Gegenwartsbezug zu seiner eigenen Situation sieht Aeneas selbst nicht, die Betrachtung ist für ihn ein reiner Zeitvertreib, aus dem er durch die Aufforderung einer Priesterin jäh herausgerissen wird (non hoc ista sibi tempus spectacula poscit Aen. 6,37). Dass moderne Interpreten hier natürlich doch Bezüge zu Aeneas (und zu Vergil als Künstler) hergestellt haben, steht auf einem anderen Blatt;25 in der Aeneis-Handlung selbst –––––––––––– 24 Merkwürdigerweise tauchen bildliche Darstellung des Junotempels und des Schildes in den illustrierten Vergilausgaben erst im 17. Jahrhundert auf; lediglich zum Apollotempel von Cumae gibt es frühere Abbildungen: vgl. Werner Suerbaum: Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben 1502-1840, Hildesheim 2008, Index G5, zu den entsprechenden Vergilstellen. Es scheint fast, als hätten die Künstler sich gescheut, vergilische Bildbeschreibungen zu visualisieren. 25 Vgl. etwa Michael C. J. Putnam: „Daedalus, Virgil, and the End of Art“, AJPh 108, 1987, 173-198 (Reprint in: ders.: Virgil’s Aeneid. Interpretation and Influence, Chapel Hill and London 1995, 73-99). Ich erspare mir hier ein weiteres Eingehen auf die einschlägige Forschungsliteratur zur Aeneis, da es mir ausschließlich auf Vidas Vergilrezeption ankommt.

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spielt die Darstellung jedenfalls inhaltlich keine Rolle, sondern bleibt lediglich ornamental. Schließlich die Schildbeschreibung: Aeneas bestaunt die von Vulcan gefertigten Waffen, die seine Mutter Venus ihm überbracht hat, und betrachtet ausführlich die Bilder auf dem Schild, die seine bzw. Roms Zukunft darstellen. Vulcan hat sie in der Absicht geschaffen, den Lesern der Aeneis den unwandelbaren Plan des Fatums vor Augen zu führen, das im Sieg des (proleptisch so genannten) Augustus bei Actium gipfelt; Aeneas selbst versteht gar nichts und erfreut sich nur an den schönen Bildern, die für ihn bloßer Schildschmuck sind: Talia per clipeum Vulcani, dona parentis, miratur rerumque ignarus imagine gaudet (Aen. 8,729f.). Fassen wir die entscheidenden Parameter dieser ekphrastischen Szenen noch einmal zusammen, ergibt sich auf der Seite der künstlerischen Bildproduktion folgendes Tableau: Die karthagischen Künstler stellen Vergangenes, zwar historisch Bedeutsames, aber ohne Bezug zur eigenen Gegenwart dar; Dädalus bildet seine eigene Geschichte ab, kann den entscheidenden Schritt zur Bewältigung seiner Vergangenheit aber nicht tun; Vulcan schließlich schafft aus göttlichem Allwissen eine weit ausgreifende Zukunftsschau. Auf der Seite des Rezipienten ergibt sich ein ganz anderes Bild: In den karthagischen Tempeldarstellungen sieht Aeneas unvermutet seine Vergangenheit (im dreifachen Sinne) ‘aufgehoben’ und damit bewältigt; in Cumae macht er eher aus Langeweile einen Museumsbesuch, ohne dass ihn das Bildmaterial persönlich beträfe; den Schild schließlich betrachtet er voller Bewunderung für das Kunstwerk, aber ohne jedes Verständnis für dessen Inhalt. Vida hat Elemente aller drei Ekphraseis verwendet und in innovativer, der Intention seines Christusepos entsprechender Weise kombiniert. Auf der Produktionsseite knüpft Vida mit dem wörtlichen Zitat der ‘Künstlerhände’ (s. oben) an die karthagische Szenerie an: Die Künstler sowohl in Karthago als auch in Jerusalem hatten einfach eine aus der Überlieferung bekannte Geschichte dekorativ darstellen wollen, ohne damit einen Gegenwartsbezug zu intendieren. Gleichzeitig enthält der Stoff der Geschichte vom Propheten Jona aber einen ungeahnten Zukunftsaspekt, den der göttliche Autor des Prophetenbuches (wie Vulcan um die Zukunft wissend) mit hineingewoben hat. Vordergründig handelt es sich bei der Ekphrasis demnach um eine Imitation der karthagischen Tempelbilder, auf einer tieferen Ebene aber auch um eine Anspielung auf die Schildbeschreibung. Die Rezeptionsseite sieht wiederum völlig anders aus: Maria Magdalena betrachtet, während sie auf die Erscheinung Jesu wartet, wie Aeneas in Cumae eher gelangweilt und zum Zeitvertreib die das Grab ausschmückende Darstellung und erkennt, wie dieser den alten Mythos von Dädalus, so hier den des Jona. Während es für Aeneas aber bei die-

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sem unverbindlichen Kunstgenuss bleibt, versteht die Jüngerin plötzlich den tieferen Sinn und das Zukunftspotential des Bildes: Indem sie die typologische Beziehung zwischen Jona und Christus herstellt und so die christliche AT-Exegese vorwegnimmt, überbietet sie selbst typologisch den Aeneas der Schildbeschreibung, der die Bilder des Schildes zwar bewundert, aber deren Zukunftsbezug nicht versteht. Der intrabiblischen Typologie Jona-Christus steht somit eine extrabiblische, vergilische Typologie Magdalena-Aeneas gegenüber. Auf diese Weise verschränkt Vida Bibel- und Aeneis-Text kunstvoll miteinander.26 Abschließend sollen noch weitere Aeneis-Bezüge der Passage zur Sprache kommen. Das Bild der liebeskranken Maria Magdalena evoziert natürlich – kontrastiv – Dido (saucia Aen. 4,1 = Chr. 6,351). Denn im Gegensatz zur früher vorbildlichen, jetzt aber unkeuschen Witwe Dido ist die zuvor ‘sündige’ Magdalena jetzt geläutert27 und verstößt mit ihrer Liebe nicht gegen einen Treueschwur oder gegen das Ideal der matrona univira: Magdalenas Liebe ist die sublimierte, aber darum nicht weniger inbrünstige Liebe einer Christusbraut,28 die zudem auf deutliche Gegenliebe stößt (Christus erscheint ihr noch vor allen anderen): auch darin also Dido überlegen, die von Aeneas um des Fatums willen verschmäht wird. – Die sandige Küste bei Vida (littus arenosum Chr. 6,354) stammt aus Aen. 4,257 und ist die Küste Libyens, an der Merkur nach seinem Flug vom Olymp landet. Da in der Bibel kein Ort genannt ist, an dem der Wal Jona wieder ausspeit, dürfte der Leser hier leicht die Aeneis-Stelle assoziieren und die Szene mit den karthagischen Tempelbildern in Verbindung bringen. Das Bild des Wals selbst, das in der Aeneis in dieser Form natürlich keine Parallele hat, gemahnt, vermittelt vor allem durch das Stichwort cete (Chr. 6,356), an die Meeresszene, in der Neptun der Venus voraussagt, Aeneas werde nunmehr heil nach Italien kommen (vgl. dort Aen. 5,822 immania cete). In diesem Zusammenhang steht die Forderung nach dem stellvertretenden Opfertod des Palinurus (Aen. 5,815 unum pro multis dabitur caput – ein pathetischer Halbvers) und somit eine deutliche Anspielung auf den –––––––––––– 26 Dies verkennt Di Cesare (wie Fußn. 1), 110, der die Ekphrasis des Jesusgrabes „awkward and contrived“ nennt: „it is difficult not to consider grotesque ... the suggestion that someone had worked, on the marble walls of Christ’s tomb, a representation of Jonas.“ Näher geht Di Cesare auf die Passage nicht ein. Eine gewisses Unbehagen ob der gewagten Erfindung Vidas vermeint man auch bei Botta (wie Fußn. 9) zu spüren: „mira certè phantasia“ (179). 27 Virgo hier natürlich nicht ‘Jungfrau’. Richtig dazu schon Botta (wie Fußn. 9), 179: „à viridiori aetate. nam si turpissima pasiphae à Vergilio potuit virgo appellari [cf. Verg. ecl. 6,47], cur non magis post conuersionem honestissima Magdalena?“ 28 Vgl. wiederum Botta ebd.: „Exquirebat quem non inuenerat : flebat inquirendo : et amoris igne succensa, eius quem sublatum credidit ardebat desiderio.“

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Erlösungstod Christi (Chr. 6,344 unus pro cunctis). – Die Worte Magdalenas Superi nunc o nunc visa secundent praesentes (Chr. 6,360f.), mit denen sie um Erfüllung der Jona-Prophezeiung bittet, entstammen einem entsprechenden Aeneis-Kontext, in dem Latinus auf Erfüllung der Prophezeiung des Faunus (Aen. 7,254 veteris Fauni ... sortem) bezüglich eines auswärtigen Schwiegersohns hofft (Aen. 7,259f. di nostra incepta secundent auguriumque suum). In beiden Fällen ist die Prophezeiung zum Zeitpunkt des Wunsches bereits eingetreten: Aeneas ist schon da, und Christus ist schon auferstanden. – Als Magdalena in diesem Zusammenhang die Zeichen der Zukunft bei den alten Propheten erkennt (Chr. 6,361 veterum agnosco non vana futuri signa), erinnern ihre Worte in der Formulierung an das Bekenntnis Didos, sie erkenne die Spuren alter Leidenschaft (Aen. 4,23 agnosco veteris vestigia flammae). Damit liegt wiederum eine Kontrastimitation vor: Während Dido dabei ist, sich vom Furor verblendet in eine irrationale Affäre zu stürzen, vermag Maria aufgrund ihrer geistigen Liebe zu Christus zu höheren Einsichten aufzusteigen und wahre Erkenntnis über den Sinn der Schrift zu erlangen. – Der „von den Freunden vielbeweinte Held“ (heros multum ... defletus amicis Chr. 6,365) ist bei Vergil Misenus (vgl. Aen. 6,212ff.), der verschwunden war, dann unbestattet am Strand liegend entdeckt wurde und jetzt ein ehrenvolles Begräbnis erhält, damit Aeneas in die Unterwelt hinabsteigen kann. Bei Vida kehrt sich diese Reihenfolge um: Christus wird zunächst bestattet, geht dann in die Unterwelt und verschwindet zuletzt aus dem Grab; der Wundercharakter ist damit gegenüber Vergil noch gesteigert. Wir haben gesehen, dass in der Dreiecksbeziehung zwischen Christias, Bibel und Aeneis durchaus keine einfachen Gleichungen (im Sinne von Inhalt=Bibel, Form=Aeneis) aufgehen.29 Natürlich bildet die Bibel die unhintergehbare inhaltliche Voraussetzung, auf der Vida seine Christias dichtet, und Vergil (neben anderen antiken Autoren übrigens30) liefert –––––––––––– 29 Dies betont zu Recht auch Craig Kallendorf: „From Virgil to Vida: The Poeta Theologus in Italian Renaissance Commentary“, Journal of the History of Ideas 56, 1995, 41-62, der die „Christian content-Virgilian form dichotomy so often observed in modern discussions of the Christias“ (61) ablehnt und am Beispiel der Rezeption der 4. Ekloge bei Vida zeigt, „that content and form are in fact integrated in this poem“ (59). 30 Dieser Aspekt wurde von Di Cesare (wie Fußn. 1) ganz vernachlässigt; vgl. auch die Kritik bei Michael von Albrecht: Rez. Di Cesare, Modern Philology 64, 1966/67, 332-335. Vgl. durchgängig den Kommentar von Coyne (wie Fußn. 9); eine Ovidimitation (nicht bei Coyne) wurde oben Fußn. 14 angeführt; als Beispiel einer Valeriusimitation vgl. Wolfgang Polleichtner: „Vergil, Valerius, Vida: Vom

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Sprachmaterial und anderes episches Inventar. Doch darüber hinaus bleibt auch der Inhalt der Aeneis immer präsent und interpretationsrelevant: zum einen durch die Evozierung von Aeneis-Szenen mittels signifikanter Wörter oder Wortverbindungen, zum anderen durch Besetzung biblischer Leerstellen – wie in unserem Fall durch die naheliegende Frage: Was machte eigentlich Maria Magdalena nach der Erscheinung des Engels, als sie auf die Begegnung mit Jesus wartete? Man könnte sagen: Sie dachte an die Bilder der Aeneis.

–––––––––––– rechten Zeitpunkt und der rechten Art und Weise des Redens“, Neulateinisches Jahrbuch 9, 2007, 255-263.

Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung (Aen. 1,34-156) in Camões’ Epos Os Lusíadas (6,6-91) STEFAN FEDDERN (Kiel) Camões’ Epos Der Portugiese Luís Vaz de Camões (ca. 1524-1580) veröffentlichte 1572 das Epos Os Lusíadas.1 In diesem Epos wird die Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama in den Jahren 1497-1499 erzählt. Der Dichter geht gleich medias in res und lässt die Lusiaden bereits im Indischen Ozean vor der Küste Mosambiks segeln, während die Umrundung Afrikas in einer Rückblende im fünften Buch erzählt wird.2 Von der Ostküste Afrikas gelangen die Lusiaden unter einigen Strapazen zu Lande und zur See nach Calicut in Indien, von wo aus sie die Rückreise nach Portugal antreten. Der Inhalt der 10 Bücher lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Buch 1: Auf das Proömium (1-18) folgt der Beginn der Erzählung und eine Götterversammlung (19-41). Jupiter stellt sich im Streit, ob die Lusiaden Indien erreichen sollen, auf Venus’ Standpunkt und gegen Bacchus, der dies zu verhindern sucht. Die Lusiaden gehen in Mosambik an Land. Dort kommt es zum Gefecht mit den von Bacchus aufgehetzten Einheimischen. Ein Lotse gibt vor, die Lusiaden nach Indien zu geleiten, führt sie aber in einen Hinterhalt nach Mombasa (42-106). Buch 2: Venus vereitelt Bacchus’ Versuch, die Lusiaden in Mombasa von den Mauren vernichten zu lassen (1-32). Voller Sorge um die Lusiaden wendet sie sich an Jupiter, der sie mit dem Blick auf den Erfolg des portugiesischen Unter-

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Der Name Os Lusíadas („Die Lusiaden“) bezeichnet die Nachfahren des Lusus, des Stammvaters der Portugiesen, und damit im weiteren Sinne die Portugiesen (vgl. Lus. 3,21,5-8; 8,2,7-8,3,2). Die Bezeichnung ist analog zu derjenigen der Römer als Aeneaden (man denke an Lukrez 1,1: Aeneadum genetrix; Verg. Aen. 1,157 und 565). Wie bei Vergil unterscheiden sich ordo naturalis und ordo artificialis. In der Aeneis beginnt die Rückblende am Ende von Buch 1 und reicht bis zum Ende von Buch 3.

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nehmens tröstet und Merkur entsendet, um Vasco da Gama zum Aufbruch zu bewegen (33-64). Die Lusiaden gelangen nach Malindi, wo sie vom König freundlich aufgenommen und aufgefordert werden, vom Ursprung, der Geschichte und den Entdeckungen der Portugiesen zu berichten (65-113). Buch 3: Nach einem Anruf an die Muse Kalliope referiert Vasco da Gama die geographische Lage Portugals (1-20). Es folgen (21-143) wichtige Personen und Ereignisse bzw. Legenden aus der portugiesischen Geschichte wie die tragische Episode der Inês de Castro (120-135). Buch 4: Da Gama fährt in seinem Bericht fort und erzählt die portugiesische Geschichte von der Revolution von 1383 über die ersten Expansionsbestrebungen bis zum Aufbruch seiner Flotte aus dem Hafen Lissabons (1-104). Buch 5: Die Schilderung des Seewegs nach Malindi schließt da Gamas Erzählung (1-91). Am Kap der Guten Hoffnung prophezeit der Gigant Adamastor zukünftigen portugiesischen Entdeckern Schiffbruch (37-59). Da Gamas Flotte wird von Skorbut heimgesucht. Der Dichter preist das Volk der Portugiesen (92-100). Buch 6: Die Lusiaden brechen mit einem Lotsen von Malindi nach Indien auf (15). Bacchus beruft eine Versammlung der Meeresgötter ein und entfesselt einen Seesturm (6-37). Die wachhabenden Matrosen erzählen sich die Geschichte der Doze de Inglaterra (38-69). Der Seesturm überrascht da Gamas Flotte, die jedoch durch Venus’ Hilfe gerettet wird (70-91). Die Lusiaden erreichen Calicut in Indien (92-99). Buch 7: Nach einem erneuten Lob der Portugiesen durch den Dichter wird berichtet, wie sich die Flotte in die Geschichte und Kultur der Inder einweisen lässt (1-41). Vasco da Gama schlägt dem indischen König ein Handelsabkommen vor (42-65). Der Gouverneur des Königs bewundert die portugiesischen Flaggen, auf denen Helden abgebildet sind. Paulo da Gamas ansetzende Beschreibung wird durch persönliche Worte des Dichters unterbrochen (66-87). Buch 8: Durch die Beschreibung der Flaggen wird abermals aus Portugals Geschichte referiert (1-42). Seher und maurische Ratgeber des Königs, die Bacchus aufwiegelt, warnen vor den Portugiesen (43-59). Trotzdem erhält Vasco da Gama vom König die Autorität zum Handelsabkommen (60-78). Die maurischen Ratgeber halten da Gama gefangen und lassen ihn im Tausch gegen Waren frei. Buch 9: Da das Eintreffen einer feindlichen Maurenflotte erwartet wird, verlassen die Lusiaden Indien in Richtung Heimat (1-17). Venus gewährt den Lusiaden Erholung auf der ilha dos amores, wo sich diese mit den Nymphen vereinen (1895). Buch 10: Die Nymphen bringen die Lusiaden in den Palast der Thetys, wo die Taten der Portugiesen im Orient prophezeit werden (1-73). In einer anschließenden kosmologischen Schau werden die Lusiaden in die Geheimnisse des Universums und in weitere zukünftige Ereignisse eingeweiht (74-143). Nachdem die Heimkehr der Lusiaden nach Lissabon kurz erwähnt ist (144), schließt das Epos mit dem Epilog (145-156).

Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung

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Während in Vergils Aeneis ein Mann und dessen Waffentaten im Vordergrund stehen (vgl. Aen. 1,1: arma virumque cano), besingt Camões mehrere Helden (vgl. Lus. 1,1: as armas e os barões assinalados [sc. canto]: „Die Waffentaten und die berühmten Helden [sc. besinge ich]“).3 Das Epos Os Lusíadas ist im Gegensatz zur Aeneis in Strophen von jeweils acht Zehnsilblern4 verfasst. Mit insgesamt 8816 Versen ist das portugiesische Epos etwas kürzer als das römische (9896 Verse).5 Es wurde insgesamt vier Mal ins Lateinische übersetzt.6

Die Tradition der Seesturmschilderung Die Seesturmschilderungen von Vergil und Camões stehen in einer langen Tradition.7 Auf Vergils Seesturmschilderung haben im Wesentlichen zwei –––––––––––– 3

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Für einen Vergleich der beiden Proömien vgl. Michael von Albrecht: „Epos: Vergil – Camões – Tasso – Milton“, in: Ders.: Rom. Spiegel Europas. Das Fortwirken antiker Texte und Themen in Europa, Tübingen 21998, 361-403, dort 375-385. Camões verwendet hauptsächlich den Typus des sog. heroischen Zehnsilblers, bei dem die sechste und zehnte Silbe betont werden. Im Portugiesischen werden die Silben bis zur Betonung des letzten Wortes eines Verses gezählt; daher kann ein Vers mehr als zehn Silben haben und trotzdem als Zehnsilbler gelten. Zum Vergleich: Homers Ilias umfasst 15 688 Verse, die Odyssee 12 070 Verse; vgl. Le Verne Crum: „Homer, Vergil, and Camões“, in: George E. Mylonas u.a. (Hgg.): Studies presented to David Moore Robinson on his seventieth birthday, Bd. 2, Saint Louis 1953, 647-659, hier 649. Tomé de Faria (1622 gedruckt); André Baião: Luis de Camões: Os Lusíadas, ins Lateinische übersetzt von André Baião (1625), Faksimileausgabe von Justino Mendes de Almeida, Lissabon 1972; Francisco de Santo Agostinho Macedo (1880) und Clemente de Oliveira: Ludovici Camonii Lusiadae, ins Lateinische übersetzt von Clemente de Oliveira, Lissabon 1983. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Übersetzung von André Baião, die nahezu unbekannt blieb, bis sie 1972 in einer Faksimileausgabe von Justino Mendes de Almeida veröffentlicht wurde. Sie ist im Hexameter verfasst und sprachlich stark an Vergils Aeneis orientiert. Die erste vollständige Übersetzung ins Deutsche datiert aus dem Jahr 1806; vgl. Luis de Camões: Os Lusíadas. Die Lusiaden, aus dem Portugiesischen von Hans Joachim Schaeffer, bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Rafael Arnold, Heidelberg 22000, 651. Zur Tradition der Seesturmschilderung vgl. Wolf-Hartmut Friedrich: „Episches Unwetter“, in: Festschrift Bruno Snell, München 1956, 77-87; Christine Ratkowitsch: „Vergils Seesturm bei Iuvencus und Sedulius“, Jahrbuch für Antike und Christentum 29, 1986, 40-58, hier 41 und v.a. Hans Otto Kröner: „Elegisches Unwetter“, Poetica 3, 1970, 388-408, hier 388. Zur antiken Tradition und

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Vorbilder gewirkt, nämlich diejenige aus dem fünften Buch der Odyssee (282-391) und diejenige aus dem ersten Buch von Naevius’ nicht erhaltenem Epos Bellum Poenicum8. Bei Homer ist Odysseus das Opfer von Poseidon, als er sich auf dem Weg von Ogygia, der Insel der Kalypso, zu den Phäaken befindet und durch einen Seesturm von seinem Floß geworfen wird. Da es zu weit führen würde, auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der homerischen und der vergilischen Seesturmschilderung einzugehen,9 sei nur ein Aspekt betont, der für die Würdigung der Vergilrezeption durch Camões von Bedeutung sein wird, nämlich dass Vergil Homers Seesturm teilweise wörtlich,10 v.a. aber motivisch nachahmt.11 Diese freie motivische Nachahmung führt dazu, dass Vergil Aeolus, den König der Winde, der bei Homer am Anfang des zehnten Buches –––––––––––– zur Rezeption in der spanischsprachigen Literatur vgl. Vicente Cristóbal: „Tempestades épicas“, Cuadernos de investigación filológica 14, 1988, 125-148. 8 Die Aussagen, die sich zu Naevius als mögliches Vorbild für den vergilischen Seesturm treffen lassen, stützen sich auf eine Angabe, die sich bei Macrobius findet (6,2,31): in primo Aeneidos tempestas describitur, et Venus apud Iovem queritur de periculis filii, et Iuppiter eam de futurorum prosperitate solatur. hic locus totus sumptus a Naevio est ex primo libro belli Punici. illic enim aeque Venus Troianis tempestate laborantibus cum Iove queritur, et sequuntur verba Iovis filiam consolantis spe futurorum. „Im ersten [sc. Buch] der Aeneis wird ein Seesturm beschrieben, und Venus beklagt sich bei Jupiter über die Gefahren, die ihren Sohn bedrohen, und Jupiter tröstet sie damit, dass die Zukunft glücklich sein werde. Dieses ganze Motiv ist von Naevius aus dem ersten Buch des Bellum Poenicum übernommen. Dort hadert nämlich gleichfalls Venus mit Jupiter, weil die Trojaner mit einem Seesturm zu kämpfen haben, und es folgen die Worte Jupiters, der seine Tochter durch die Hoffnung auf die Zukunft tröstet.“ Aus dieser Angabe geht hervor, dass Vergil Naevius nicht nur hinsichtlich des Seesturmmotivs, sondern hinsichtlich der gesamten Motivfolge am Anfang der Aeneis (Seesturm, Venusklage, Jupiter-Prophezeiung) gefolgt ist, da sich diese auch bei jenem im ersten Buch des Bellum Poenicum findet. Inwiefern Vergil auch sprachlich von Naevius abhängt und in welchem Umfang er diesen bei der Ausgestaltung des Seesturms imitiert hat, kann auf Grund der Überlieferungslage leider nicht eingeschätzt werden. 9 Vgl. dazu Richard Heinze: Virgils epische Technik, Darmstadt 41957, 182 und 428f.; Vinzenz Buchheit: Vergil über die Sendung Roms. Untersuchungen zum Bellum Poenicum und zur Aeneis, Heidelberg 1963, 61-67; Georg Nicolaus Knauer: Die Aeneis und Homer. Studien zur poetischen Technik Vergils mit Listen der Homerzitate in der Aeneis, Göttingen 1964, 148-152. 10 Als wörtliche Entsprechungen, die im übrigen schon im antiken Serviuskommentar (zu Aen. 1,92 und 94) verzeichnet sind, wären hier der Makarismos (s. unter (3) Klagerede) zu nennen und die Angabe, dass sich Odysseus die Knie und das Herz (Od. 5,297) bzw. Aeneas die Gliedmaßen (Aen. 1,92) lösen. 11 Vgl. Knauer, 1964 (wie Fußn. 9), 150-152.

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der Odyssee in einem ganz anderen Zusammenhang auftritt, zum unmittelbaren Auslöser des Seesturmes macht.12 In ebenso freier motivischer Nachahmung verspricht Juno Aeolus die Nymphe Deiopea, damit er das Unwetter auslöst, wohingegen bei Homer in einer anderen Szene der Gott des Schlafes, Hypnos, durch Hera dadurch gewonnen wird, dass sie ihm die Grazie Pasithea verspricht.13 Spätestens mit Vergil ist der Seesturm zu einem kanonischen Element des römischen Epos geworden und hat sogar auf andere literarische Gattungen ausgestrahlt. Denn die Epiker des ersten Jahrhunderts n. Chr.14 verzichten ebenso wenig auf die Schilderung eines Seesturmes wie Seneca in seiner Tragödie Agamemnon,15 Ovid in den Metamorphosen und in den elegischen Dichtungen16 oder die spätantiken Verfasser der Bibelepen17 bzw. anderer Werke christlichen Inhalts.18 Außerdem kann es nicht verwundern, dass der Seesturm ebenfalls in den großen Renaissanceepen seinen festen Platz hat und sich bei Petrarca,19 Ariost,20 Ercilla21 und Camões findet. –––––––––––– 12 Vgl. Buchheit, 1963 (wie Fußn. 9), 62f. Aeolus nimmt daher als unmittelbarer Auslöser des Seesturmes diejenige Rolle ein, die Poseidon bei Homer hat; vgl. Macr. 5,4,4: tempestas Aeneae Aeolo concitante cum adlocutione ducis res suas conclamantis de Ulixis tempestate et adlocutione descripta est, in qua Aeoli locum Neptunus obtinuit. „Aeneas’ Seesturm, den Aeolus heraufbeschwört, mit der Rede des Anführers, der seine Lage beklagt, ist eine Nachahmung von Odysseus’ Rede und Seesturm, in welchem Neptun die Rolle des Aeolus innehatte.“ 13 Il. 14,233-269; vgl. Buchheit, 1963 (wie Fußn. 9), 67; Cristóbal, 1988 (wie Fußn. 7), 126. 14 Lucan (5,504-702); Silius Italicus (17,236-291); Valerius Flaccus (1,574-692); Statius (Theb. 5,361-430). Zum Seesturm bei Lucan vgl. Monica Matthews: Caesar and the storm. A commentary on Lucan De Bello Civili, Book 5 lines 476-721, Oxford u.a. 2008; für Silius Italicus vgl. Joaquín Villalba Álvarez: „Ecos virgilianos en una tempestad épica de Silio Itálico (Punica XVII 236-290)“, Humanitas (Coimbra) 56, 2004, 365-382. 15 Sen. Ag. 421-578. 16 Ov. met. 11,474-572; fast. 3,585-600; trist. 1,2; 1,4; 1,11. Zu trist. 1,2 vgl. José González-Vázquez: „En torno a la retractatio de un pasaje virgiliano en Tristia 1, 2“, Latomus 52, 1993, 75-83. 17 Iuvencus (2,25-32); Sedulius (carm. pasch. 3,46-69); Coripp (Ioh. 241-322). Zu Iuvencus’ und Sedulius’ Seesturmschilderungen in vergilischer Nachfolge vgl. Ratkowitsch, 1986 (wie Fußn. 7). 18 Dracontius (Romul. 8,385-434); Arator (act. 2,1067-1155). 19 Africa 8,500-546. 20 Orlando furioso 41,8-24. 21 La Araucana 15,56-16,17.

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Stellung und Fiktionalisierungsgrad der Seesturmschilderung Die Trojaner werden zu Beginn der Erzählung kurz vor ihrem Ziel (Latium) von einem Seesturm überrascht. Abgesehen davon, dass dieser Seesturm als literarisches Ornament dient, hat er den dramaturgischen Effekt, die Aeneaden an Karthagos Küste stranden zu lassen, so dass die Begegnung zwischen Aeneas und Dido stattfinden kann. Auch die Lusiaden werden kurz vor ihrem Ziel von einem Seesturm überrascht, als sie auf der Reise von Malindi (im heutigen Kenia) nach Indien sind (Buch 6). Im Gegensatz zu den Aeneaden überstehen die Lusiaden den Seesturm jedoch erfolgreich und kommen unmittelbar darauf in Calicut (Indien) an. Dramaturgisch ist der Seesturm bei Camões daher nicht motiviert, da er nicht die Funktion hat, ein nicht beabsichtigtes Abweichen von der Route zu begründen. Ob er einen anderen Zweck hat, als nur als literarisches Ornament zu dienen, ist umstritten und berührt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Realität und dichterischer Fiktion. Brasil, der einen Kommentar zu Os Lusíadas verfasst hat, vertritt den Standpunkt, dass ein Seesturm geschildert wird, der die Lusiaden tatsächlich vor Indiens Küste überrascht hat.22 Mit dieser Meinung wendet er sich gegen diejenigen, die behaupten, dass der Seesturm eine Erfindung des Dichters ist und lediglich als literarisches Ornament verwendet wird.23 Brasil stützt seine These zum einen auf Camões’ Anspruch, Wahres zu dichten (vgl. Lus. 1,11). Diesen Anspruch erfüllt der Dichter auch, d.h. Camões’ Epos folgt im Allgemeinen historischen Tatsachen.24 Zum anderen zitiert Brasil historische Quellen. Diese Zeugnisse sprechen allerdings eher von Regen als von Unwetter, weshalb Brasil davon ausgeht, dass Camões Quellen vorgelegen haben, die nicht mehr erhalten sind. Mag man auch Brasils These mit Vorsicht begegnen, da ihn die Leugnung der Gegenposition so weit führt, nahezu kategorisch vergilischen Einfluss auf Camões’ Seesturmschilderung auszuschließen und dessen Originalität zu betonen:25 Trotzdem ist es möglich, dass die Lusiaden tatsächlich von einem Seesturm überrascht wurden. Daher muss die Frage nach dem genauen Verhältnis von Realität und Fiktion offen bleiben. Die Verwendung des Götterapparates und die vielfältigen Anleihen, die –––––––––––– 22 Reis Brasil: Os Lusíadas. Comentários e estudo crítico, Bd. 6, Lissabon 1967, 303f. 23 Vgl. ebenfalls Brasil, 1967 (wie Fußn. 22), 303f. und die dort referierte Gegenmeinung. 24 Vgl. Schaeffer / Arnold, 2000 (wie Fußn. 6), 598, die in diesem Zusammenhang vom Chronikcharakter des Epos sprechen. 25 Vgl. Brasil, 1967 (wie Fußn. 22), 46f. und 351.

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Camões bei Vergils Seesturmschilderung macht, zeigen, dass zumindest eine Vermischung von Realität und Fiktion stattfindet. Betrachtet man den Seesturm als reine Fiktion, müsste man die Positionierung im sechsten Buch wohl damit begründen, dass die Überfahrt von der Ostküste Afrikas nach Indien die entscheidende Etappe für die Lusiaden darstellt, die wie die Trojaner kurz vor ihrem Ziel in einen Seesturm geraten.

Die fünf Szenen der Seesturmschilderung Kröner unterscheidet – ausgehend von den Seesturmschilderungen bei den antiken Epikern und bei Seneca – fünf Szenen des Seesturms, die gewissermaßen einen ‘Maximalkatalog’ bilden.26 (1) Am Anfang steht die göttliche Motivation des Seesturms. Diese Szene ist zumeist mit der Zornrede27 der betroffenen Gottheit verbunden. (2) Dann folgt die Schilderung des Seesturmes im engeren Sinne. (3) In der dritten Szene reagiert der Held mit einer pathetischen Klagerede auf den Seesturm, die – wie es zunächst scheint – folgenlos bleibt. (4) Denn der Seesturm gelangt nun vielmehr zu seinem Höhepunkt. (5) Am Ende leistet jedoch eine Gottheit Hilfe und beendet den Seesturm. Diese fünf Seesturmszenen – und darin unterscheidet sich das portugiesische Epos von den anderen genannten Renaissanceepen – lassen sich auch bei Camões wieder finden.28 Daher wird der fünfgliedrige Aufbau als Richtschnur bei dem folgenden Vergleich zwischen dem von Vergil geschilderten Seesturm und demjenigen, den Camões schildert, dienen. Die Grenzen zwischen den von Kröner unterschiedenen Szenen sehen wir dabei an folgenden Stellen:29

–––––––––––– 26 Kröner, 1970 (wie Fußn. 7), 391f. Es handelt sich hierbei um einen Maximalkatalog, da nicht in allen Schilderungen alle fünf Szenen vorkommen. Bei Homer und Vergil sind beispielsweise alle fünf Szenen vorhanden. 27 Kröners Begriff „Scheltrede“ halten wir – zumindest mit Bezug auf die Aeneis – für problematisch, da er suggeriert, dass die Gottheit jemanden zurechtweist (daher passt er auf Neptuns Rede Aen. 1,132-141). Wir benutzen den Begriff „Zornrede“. 28 Vgl. Kröner, 1970 (wie Fußn. 7), 391 Fußn. 26. 29 Kröner, 1970 (wie Fußn. 7) gibt keine Verse bzw. Strophen an.

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Szene

Vergil (in Versen)

Camões (in Strophen)

(1) Motivation und Zornrede (2) Schilderung des Seesturms (3) Klagerede (4) Höhepunkt des Seesturms (5) Rettung

34-80 81-92 93-101 102-123 124-156

6-36 37; 70-79 80-83 84 85-91

(1) Motivation und Zornrede In Camões’ Epos wird der Seesturm zwar auch durch eine Gottheit motiviert, aber es ist nicht Juno wie in Vergils Aeneis (oder Poseidon wie bei Homer), sondern Bacchus, der den Seesturm verursacht. Dieser Unterschied erklärt sich durch die Rolle, die dieser Gott im gesamten Lusiadenepos spielt: Bacchus erscheint als der göttliche Widersacher der Lusiaden. Obwohl durch das fatum beschlossen ist, dass die Lusiaden Indien erreichen werden (Lus. 1,20-29), lehnt er sich gegen das Schicksal auf. Daher entspricht er motivisch der Göttin Juno in der Aeneis, die Aeneas’ vom fatum beschlossene Mission zu verhindern versucht, da sie durch das Parisurteil gekränkt ist und Karthagos Ruhm durch denjenigen des zukünftigen Rom in Gefahr sieht. Dass Camões Bacchus zum Widersacher der portugiesischen Mission macht, erklärt sich durch das Ziel der Reise, nämlich Indien. Denn im Mythos gilt Bacchus traditionell als der Eroberer des Orients30 und – seit den Feldzügen Alexanders des Großen – als der Eroberer Indiens.31 Daher ist es nur allzu verständlich, dass Camões das egoistische Ruhmesinteresse der Juno durch dasjenige des Bacchus ersetzt: Wie Juno um den Ruhm fürchtet, der mit Karthago verbunden ist, fürchtet Bacchus um den Ruhm, den er sich durch Indiens Eroberung erworben hat, und bekämpft daher das portugiesische Unternehmen.32 Bacchus handelt jedoch nicht alleine bzw. kann nicht alleine handeln, sondern versichert sich der Hilfe von Neptun und Aeolus, indem er Nep–––––––––––– 30 Vgl. Euripides, Bakchen 13-22. 31 Bacchus’ Eroberung Indiens begegnet zum ersten Mal bei den Alexanderhistorikern; vgl. Megasthenes, FHG II 416 frg. 21 Müller (= Arrian, Indische Geschichte 5,8). 32 Dass Bacchus von Intrigen gegen die Lusiaden Gebrauch macht und Venus helfend eingreift, ist ebenso ein Leitmotiv des Lusiadenepos, wie es ein Leitmotiv der Aeneis ist, dass Juno Intrigen gebraucht und Venus die Aeneaden vor ihnen bewahrt. Vgl. Bacchus’ Plan, die Lusiaden in Mombasa zu vernichten, den Venus vereitelt (Ende Buch 1 und Anfang Buch 2).

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tun bittet, eine Versammlung der Meeresgötter anzuberaumen, die zu dem Ergebnis führt, dass Aeolus beauftragt wird, die Winde zu entfesseln (Lus. 6,6-36). Camões autorisiert dadurch den Seesturm, dass diejenigen Gottheiten involviert werden, in deren Zuständigkeitsbereich der Seesturm fällt: der Meeresgott und der Gott der Winde. Damit kehrt er ein Motiv um, das bei Vergil ein zentrales Thema ist,33 denn dort überschreitet Aeolus auf Junos Initiative hin seine Grenzen, weswegen Neptun die von jenem entsandten Winde zurechtweist (Aen. 1,130-141). In den Lusiaden sichert sich Bacchus von vornherein ab, indem er sich an Neptun wendet und einen möglichen Vorwurf der Zuständigkeitsüberschreitung mit den ersten Worten antizipiert (Lus. 6,15,1f.): Ó Neptuno, lhe disse, não te espantes De Baco nos teus reinos receberes. Neptun, sagte er zu ihm, wunder dich nicht darüber, dass du Bacchus in deinem Reich empfängst.

Aufgrund dieser Autorisierungsstrategie ist es nur konsequent, dass Camões ein Element, das bei Vergil mit der Zuständigkeitsüberschreitung der Winde verknüpft ist, an eine ganz andere Stelle versetzt. Bei Vergil kritisiert Neptun das eigenmächtige Handeln der Winde in einer Scheltrede (gegen Ende der Seesturmschilderung), indem er darauf hinweist, dass er die Herrschaft über das Meer durch die sors erlangt hat, nicht Aeolus (Aen. 1,138f.): non illi imperium pelagi saevumque tridentem, sed mihi sorte datum.

Auf die Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche Himmel, Meer und Unterwelt zwischen Jupiter, Neptun und Pluto, die durch die sors erfolgte, kann bei Camões nicht an derselben Stelle wie bei Vergil, d.h. in einer Scheltrede in der letzten Seesturmszene, angespielt werden, da der von Bacchus verursachte Seesturm autorisiert ist. Bei Camões dient dieses Detail ganz im Gegenteil der Begründung, warum sich Bacchus an Neptun wendet, und damit der Autorisierung des Seesturms (Lus. 6,7,7f.): Entra no húmido reino, e vai-se à corte Daquele a quem o Mar caiu em sorte. Er betritt das feuchte Reich und geht zum Königshof desjenigen, dem das Meer durch Losentscheid zufiel.

In der Darstellung der Meeresgötter-Versammlung liegt ein weiterer Unterschied zwischen dem vergilischen Seesturm und demjenigen bei –––––––––––– 33 Vgl. Buchheit, 1963 (wie Fußn. 9), 66.

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Camões. Doch lohnt es sich, die Götterversammlung bei Camões abseits der Feststellung, dass sie bei Vergil an entsprechender Stelle nicht vorkommt, näher zu betrachten, um die Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu Vergil zu analysieren. Eine Götterversammlung ist ein klassisches Element des Epos und erscheint, wenn eine für die weitere Handlung wichtige Entscheidung getroffen wird.34 Bei Vergil findet sie sich am Anfang des zehnten Buches der Aeneis. Dort ist sie jedoch anders motiviert als bei Camões.35 Denn in der Aeneis beraumt Jupiter die Götterversammlung an, weil er feststellt, dass es gegen seinen Willen zu einem Krieg zwischen den Latinern und den Trojanern gekommen ist, d.h. die Götterversammlung ist eine Reaktion auf das von der göttlichen Antagonistin (Juno) verursachte kriegerische Geschehen. In Os Lusíadas ist die Motivation der Götterversammlung umgekehrt: Der göttliche Antagonist (Bacchus) selbst beruft eine Versammlung der Meeresgötter ein, bevor er den Anschlag auf die Lusiaden ins Werk setzen lässt. Daher lässt sich bei der Götterversammlung dasselbe Bemühen des Dichters feststellen wie bei der Involvierung Neptuns, nämlich das Bemühen, den Seesturm autorisiert erscheinen zu lassen. Unter dem Gesichtspunkt der Autorisierung ist auch Bacchus’ Zornrede (Lus. 6,26-34) zu sehen und mit der Zornrede Junos bzw. mit derjenigen Rede, die sie vor Aeolus hält (Aen. 1,34-49; 65-75), zu vergleichen. Juno braucht vor Aeolus lediglich auf ihren Hass auf die Aeneaden zu verweisen (und ihm die Nymphe Deiopea zu versprechen), um das Entsenden der Winde zu veranlassen (Aen. 1,67f.): gens inimica mihi Tyrrhenum navigat aequor Ilium in Italiam portans victosque penatis.

Bacchus handelt zwar genauso egoistisch wie Juno, wie aus folgender Strophe deutlich wird (Lus. 6,32): E não consinto, Deuses, que cuideis Que por amor de vós do Céu deci, Nem da mágoa da injúria que sofreis, Mas da que se me faz também a mi; Que aquelas grandes honras, que sabeis Que no mundo ganhei, quando venci As terras Indianas do Oriente, Todas vejo abatidas desta gente.

–––––––––––– 34 Deshalb kann es nicht verwundern, dass Camões sie an dieser Stelle unterbringt, d.h. kurz bevor die Lusiaden ihr Ziel erreichen. 35 Vgl. Maria Helena da Rocha Pereira: „A tempestade marítima de Os Lusíadas. Estudo comparativo“, Memórias da Académia das Ciências de Lisboa. Classe de Letras 29, 1990-1991, 91-103, hier 102f.

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Und ich lasse nicht zu, Götter, dass ihr denkt, dass ich aus Liebe zu euch aus dem Himmel herabgestiegen bin oder weil ich verletzt bin über die Schande, die ihr erleidet, sondern wegen der Schande, die man auch mir antut; denn jene großen Ehren, die ich in der Welt errungen habe, wie ihr wisst, als ich die Länder Indiens im Orient bezwungen habe, sehe ich alle durch diese Leute geraubt.

Aber er versteht es, sein egoistisches Anliegen rhetorisch so einzukleiden, dass es scheint, als vertrete er die Interessen aller, d.h. auch der Meeresgötter (vgl. ib. 15,8: Ouçam todos o mal que toca a todos: „Alle [sc. Meeresgötter] sollen von dem Übel hören, das alle betrifft“). Das allgemeine Anliegen wird in der zuvor zitierten Strophe andeutungsweise daran deutlich, dass Bacchus das Wort também („auch“) benutzt. Bacchus gelingt es, die Meeresgötter zum Eingreifen zu bewegen, indem er sie darauf hinweist, dass die Lusiaden die ihnen gesetzten Grenzen überschreiten, wie es einst die Argonauten taten.36 Wenn daher den Argonauten Widerstand geleistet wurde,37 dann müssen die Meeresgötter konsequenterweise auch jetzt eingreifen (ib. 30f.). In gewisser Weise entspricht dieses Argument Junos Verweis auf Athene, die Aiax eigenmächtig töten konnte (Aen. 1,39-45), da Juno daraus für sich das Recht ableitet, die Aeneaden zu verfolgen. Jedoch ist die Funktion eine andere: Während Juno gewissermaßen Selbstjustiz einfordert und die Überschreitung ihres Zuständigkeitsbereiches vorbereitet, kann Bacchus dasjenige Gremium überzeugen, das für die Entsendung des Seesturms zuständig ist. Dadurch, dass die Meeresgötter ihm zustimmen und ein Gesuch an Aeolus gerichtet wird, wird der Seesturm autorisiert. Insgesamt lässt sich in der ersten Seesturmszene eine dilatatio materiae38 feststellen, die Camões dadurch erreicht, dass er teils Elemente aus Vergils –––––––––––– 36 Das Motiv, dass das Befahren des Meeres – gerade durch die Argonauten – eine Überschreitung der den Menschen gesetzten Grenzen ist, ist klassisch; vgl. Hor. carm. 1,3 und das zweite Chorlied in Senecas Medea (301-379). 37 Camões denkt wohl an die beiden kleinen Seestürme, die Apollonios Rhodios in seinem Argonautenepos (4,578-580; 1232-1238) erwähnt. 38 Die dilatatio materiae und ihr Gegenteil, die abbreviatio, sind Begriffe aus mittelalterlichen Poetiken und bezeichnen das poetische Verfahren, dass ein Stoff als gegeben betrachtet und entweder ausgeweitet oder verkürzt wurde; vgl. Edmond Faral: Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen age, Paris 1923 (Ndr. Paris 1962), 61-85; Henning Brinkmann: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle a.d.S. 1928 (Ndr. Tübingen 1979), 47-68. Dieses Verfahren lässt sich in den mittelhochdeutschen Epen, die romanische oder lateinische Vorlagen bearbeiten, erkennen. Es lässt sich aber auch im kleineren Maßstab finden, wie es beispielsweise Joachim Hamm anhand von Camillas Grabmalbeschreibung im deutschen Eneasroman analysiert hat, dessen Ansatz wir hier folgen: Joachim Hamm: „Ca-

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gesamter Seesturmschilderung übernimmt und ausführlicher gestaltet, teils typisch epische Elemente einfügt, die an anderen Stellen der Aeneis vorkommen. Neben der Götterversammlung handelt es sich auch bei der Beschreibung Tritons39 und dem Katalog der Meeresgottheiten (Lus. 6,1625), die beide mit der Götterversammlung verknüpft sind, um Ergänzungen durch Camões. Eine motivische Entsprechung hat hingegen die Beschreibung von Neptuns Höhle (ib. 8f.), da sie mit derjenigen des Aeolus (Aen. 1,52-63) korrespondiert. Die eingelegte Beschreibung des Bildwerkes wiederum, das in Neptuns Höhle zu sehen ist (Lus. 6,10-14), hat in diesem Zusammenhang keine vergilische Vorlage und ist allenfalls mit der Beschreibung des karthagischen Tempelfrieses (Aen. 1,446-493) oder mit der berühmten Schildbeschreibung (ib. 8,617-728) vergleichbar.40 (2) Schilderung des Seesturms Auch bei der Schilderung des Seesturmes ist die dilatatio materiae zu erkennen. Camões setzt sie vornehmlich auf zweierlei Weise um: Zum einen bündelt er zwei vergilische Szenen (Schilderung und Höhepunkt des Seesturmes), so dass mit der dilatatio materiae hier eine abbreviatio in der vierten Seesturmszene einhergeht. Zum anderen erweitert er die Seesturmschilderung durch eine eingelegte Geschichte, die sich die wachhabenden Matrosen zum Zeitvertreib erzählen (Lus. 6,38-69), so dass die Seesturmschilderung im engeren Sinne die Strophen 37 und 70-79 umfasst. Die Matrosen erzählen sich die Ritter- bzw. Liebesgeschichte der Doze de Inglaterra, d.h. der zwölf portugiesischen Ritter, die an Englands Königshof die Ehre von zwölf englischen Frauen verteidigt haben.41 –––––––––––– millas Grabmal. Zur Poetik der dilatatio materiae im deutschen Eneasroman“, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45, 2004, 29-56. 39 Die Beschreibung Tritons ist sicherlich durch diejenige bei Ovid (met. 1,330-342) angeregt. Bei Vergil wird er nur kurz erwähnt (Aen. 1,144). 40 Auch bei der Beschreibung des Bildwerkes mit dem Chaos, den vier Elementen und dem Kampf der Götter mit den Giganten ist Camões sicherlich vom Anfang der Metamorphosen inspiriert worden; vgl. Pereira, 1990-1991 (wie Fußn. 35), 102. 41 Die Geschichte der Doze de Inglaterra markiert auch unter stofflicher und poetologischer Perspektive eine wesentliche Diskrepanz zwischen Vergil und Camões und ist vor dem Hintergrund der Renaissanceliteratur zu sehen. Als eingeschobene und nur lose mit der Haupthandlung verknüpfte Erzählung ist sie mit den drei Ehebruchsgeschichten aus Ariosts Orlando furioso und den beiden Geschichten El curioso impertinente und El capitán cautivo aus dem ersten Teil von Cervantes’ Quijote zu vergleichen. Für die eingeschobenen Erzählungen bei Ariost und Cervantes

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Der Anfang der Seesturmschilderung (ib. 37) rekurriert in einigen Punkten auf Vergil: Já lá o soberbo Hipótades soltava Do cárcere fechado os furiosos Ventos, que com palavras animava Contra os barões audaces e animosos. Súbito o céu sereno se obumbrava, Que os ventos, mais que nunca impetuosos Começam novas forças a ir tomando, Torres, montes e casas derribando. Schon ließ dort der hochmütige Nachfahre des Hippotes aus dem verschlossenen Gefängnis die rasenden Winde los, die er mit Worten gegen die waghalsigen und draufgängerischen Männer anfeuerte. Plötzlich wurde der heitere Himmel ganz dunkel, da die Winde, so stürmisch wie noch nie, anfangen neue Kräfte zu sammeln und Türme, Berge und Häuser niederzureißen.

Zunächst ist die Vorstellung, dass Aeolus die Winde in einem Gefängnis (lat. carcer, port. cárcere) eingesperrt hält, vergilisch. Bei Vergil kommt diese Angabe jedoch innerhalb der ersten Seesturmszene, der Motivation, vor; vgl. Aen. 1,52-54: Hic vasto rex Aeolus antro luctantes ventos tempestatesque sonoras imperio premit ac vinclis et carcere frenat.

Die Finsternis (Lus. 6,37,5) wird von Vergil in zwei Versen dargestellt (Aen. 1,88f.): eripiunt subito nubes caelumque diemque Teucrorum ex oculis; ponto nox incubat atra.

Die Angaben, dass Aeolus die Winde mit Worten aufhetzt und diese Türme, Häuser und Berge niederreißen, sind Erweiterungen von Camões im Vergleich zu Vergil. Dieses Ausmaß der Verwüstung ist bei Vergil höchstens angedeutet (ib. 82f.): ac venti, velut agmine facto, qua data porta, ruunt et terras turbine perflant.

Ein großer Unterschied liegt an der Stelle vor, an der der Seesturm über die Lusiaden hereinbricht. Denn auf einmal werden die verschiedensten Aktivitäten der Lusiaden genannt: Die Segel werden eingeholt, Komman–––––––––––– vgl. Javier Gómez-Montero: „Cervantes, Ariost und die Form des Romans: die eingeschobenen Erzählungen und die Strategien der Fiktionskonstituierung im Quijote“, in: Dietrich Briesemeister u.a. (Hgg.): Ex nobili philologorum officio. Festschrift für Heinrich Bihler zu seinem 80. Geburtstag, Berlin 1998, 353-387.

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dos gegeben, Ballast über Bord geworfen, das Wasser abgepumpt und man versucht, das Steuer zu fixieren (Lus. 6,70-73). Dies ist insofern ein großer Unterschied zu Vergils Seesturmschilderung, als die Aeneaden in keiner Weise Gegenmaßnahmen gegen den Seesturm einleiten, sondern in Passivität erstarren.42 In diesem Punkt könnte Camões von Ariost beeinflusst sein, in dessen Seesturmschilderung ebenfalls verschiedene Aktivitäten der Helden genannt werden.43 Sowohl bei Vergil als auch bei Camões wird der Angstschrei der Mannschaft erwähnt. Camões setzt dieses Element jedoch wiederholt ein. Man vergleiche Aen. 1,87: insequitur clamorque virum stridorque rudentum

mit Lus. 6,72,1f.: O céu fere com gritos nisto a gente, Com súbito temor e desacordo. Hierauf trifft die Mannschaft mit ihrem Geschrei den Himmel, mit plötzlicher Angst und Durcheinander.

und ib. 75,3-6: a gente chama Aquele que a salvar o mundo veio. Não menos gritos vãos ao ar derrama Toda a nau de Coelho, com receio. Die Mannschaft ruft zu jenem, der kam, um die Welt zu retten. Nicht weniger vergebliches Geschrei richtet Coelhos ganzes Schiff aus Furcht zum Himmel.

Um dem Leser die Todesgefahr, die von dem Seesturm ausgeht, noch eindringlicher vor Augen zu führen, greifen Vergil und Camões auf das Mittel der Exemplifizierung zurück, indem nicht mehr das Schicksal der ganzen Mannschaft, sondern das einzelner Helden bzw. Schiffe vor Augen geführt wird. Bei Vergil findet sich dieses Element in der vierten Seesturmszene (Aen. 1,108-117): tris Notus abreptas in saxa latentia torquet (saxa vocant Itali mediis quae in fluctibus Aras, dorsum immane mari summo), tris Eurus ab alto in brevia et Syrtis urget, miserabile visu, inliditque vadis atque aggere cingit harenae. unam, quae Lycios fidumque vehebat Oronten,

–––––––––––– 42 Vgl. Hennio Morgan Birchal: Esquemas de lições sobre „Os Lusiadas“, Lissabon 1972, 26; Pereira, 1990-1991 (wie Fußn. 35), 95f. 43 Orlando furioso 41,10-12. Bei Ovid (met. 11,482f.) finden sich Ansätze zur Schilderung von Gegenmaßnahmen.

Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung

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ipsius ante oculos ingens a vertice pontus in puppim ferit: excutitur pronusque magister volvitur in caput; ast illam ter fluctus ibidem torquet agens circum, et rapidus vorat aequore vertex.

Camões gestaltet die Exemplifizierung der Todesgefahr mit anderen Elementen als Vergil. Zu diesen Elementen gehört der zuvor zitierte Angstschrei der Helden, wodurch teilweise verständlich wird, dass dieser wiederholt genannt wird (Lus. 6,75): A nau grande, em que vai Paulo da Gama, Quebrado leva o masto pelo meio, Quase toda alagada; a gente chama Aquele que a salvar o mundo veio. Não menos gritos vãos ao ar derrama Toda a nau de Coelho, com receio, Conquanto teve o mestre tanto tento, Que primeiro amainou, que desse o vento. Der Mast des großen Schiffes, auf dem Paulo da Gama fährt, ist in der Mitte gebrochen, und fast das ganze Schiff steht unter Wasser; die Mannschaft ruft zu jenem, der kam, um die Welt zu retten. Nicht weniger vergebliches Geschrei richtet Coelhos ganzes Schiff aus Furcht zum Himmel, obwohl der Bootsmann so sehr versuchte, die Segel zu reffen, bevor der Wind hineinfuhr.

Das Brechen des Mastes wird nicht bei Vergil, sondern bei Ovid und Homer genannt.44 Bei Vergil hingegen brechen in der vierten Seesturmszene die Ruder (Aen. 1,104): franguntur remi. In Abänderung der vergilischen Reihenfolge schildert Camões nun das Auf und Ab der Schiffe auf den Wellen. Bei Vergil steht diese Schilderung vor der Exemplifizierung bzw. ist schon ein Teil davon (Aen. 1,106f.): hi summo in fluctu pendent; his unda dehiscens terram inter fluctus aperit, furit aestus harenis.

Lus. 6,76,1-4: Agora sobre as nuvens os subiam As ondas de Neptuno furibundo; Agora a ver parece que deciam As íntimas entranhas do Profundo. Bald trugen die Wogen des wutentbrannten Neptun sie über die Wolken; bald scheint es, dass sie hinabsanken, um die innersten Eingeweide des Meeres zu sehen.

–––––––––––– 44 Ov. met. 11,551; Hom. Od. 5,316f.

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In leichter Abwandlung wird der Gedanke, dass die Schiffe der Lusiaden bald zum Himmel emporgehoben, bald auf den Meeresgrund gesenkt werden, einige Strophen später wiederholt (ib. 80,3f.): Über Vasco da Gama heißt es: Vendo ora o mar até o Inferno aberto, Ora com nova fúria ao céu subia, [...] Als er sieht, dass das Meer bald bis zur Hölle offen stand, bald mit neuer Wut zum Himmel stieg [...]

Neben Vergil hat jedoch auch Ovid auf diese Stelle gewirkt, da sich auf diesen die Hyperbel zurückführen lässt, dass das Meer bis zur Hölle offen steht.45 Die Winde, die die riesigen Wellen verursachen, werden sowohl von Vergil als auch von Camões namentlich genannt. An dieser Stelle lohnt es sich, mit Pereira einen Vergleich auch mit Homer durchzuführen.46 In der Odyssee wühlen die vier großen Winde, die aus den vier Windrichtungen kommen, die Wogen auf. Sie werden zweimal genannt: Od. 5,295f.: σὺν δ’ εὖρός τε νότος τ’ ἔπεσον ζέφυρός τε δυσαὴς καὶ βορέης αἰθρηγενέτης, μέγα κῦμα κυλίνδων. Euros, Notos, der schlimm wehende Zephyros und der aus hellem Himmel geborene Boreas, der große Wellen aufwälzte, fielen zusammen.

und in paralleler Anordnung Od. 5,331f.: ἄλλοτε μέν τε νότος βορέῃ προβάλεσκε φέρεσθαι, ἄλλοτε δ’ αὖτ’ εὖρος ζεφύρῳ εἴξασκε διώκειν. Mal warf Notos es [sc. Odysseus’ Floß] Boreas zu, damit er es trägt, mal überließ es wiederum Euros Zephyros, es zu verfolgen.

Auch in der Aeneis werden die Winde an mehreren Stellen genannt. Aber es werden nicht wie bei Homer die vier großen Winde als Stellvertreter für die vier Windrichtungen im Verbund erwähnt. Bei Vergil haben die Winde keine erkennbare Funktion als spezielle Windrichtungen, sondern repräsentieren ganz allgemein die Winde. Zunächst heißt es (Aen. 1,84-86): totum [...] [sc. mare] a sedibus imis una Eurusque Notusque ruunt creberque procellis Africus et vastos volvunt ad litora fluctus.

–––––––––––– 45 Ov. met. 11,503-506: et nunc sublimis veluti de vertice montis / despicere in valles imumque Acheronta videtur, / nunc, ubi demissam curvum circumstetit aequor, / suspicere inferno summum de gurgite caelum; vgl. Pereira, 1990-1991 (wie Fußn. 35), 92. 46 Vgl. Pereira, 1990-1991 (wie Fußn. 35), 97-99.

Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung

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Dann wird in Vers 102 Aquilo (Nordwind) genannt, in den Versen 108 und 110 werden Notus und Eurus wiederholt, und in Vers 131 erscheint Eurus ein drittes Mal, während Zephyrus das erste Mal erwähnt wird. Camões nennt die Winde in der zweiten Seesturmszene im Verbund (Lus. 6,76,5f.): Noto, Austro, Bóreas, Àquilo queriam Arruinar a máquina do Mundo. Notus, Auster, Boreas und Aquilo wollten das Weltengefüge zerstören.

Bei Camões scheint es, dass im Grunde genommen nur zwei Winde sowohl mit ihrer griechischen als auch mit ihrer lateinischen Bezeichnung genannt werden, nämlich der Südwind (gr. Notos, lat. Auster) und der Nordwind (gr. Boreas, lat. Aquilo). Jedoch wird aus einer anderen Stelle deutlich, dass Camões davon ausgeht, vier Winde vor sich zu haben, da er dort Aquilo als Gefährten von Boreas bezeichnet (ib. 31,3f.: Bóreas […] e o companheiro / Aquilo). Diese Differenzierung ist keine Neuerung von Camões, sondern steht in einer langen Tradition, da die antiken Winde unterschiedlich eingeteilt wurden. So ist uns sogar eine Inschrift erhalten, in der Boreas und Aquilo unterschiedliche Winde darstellen (Aquilo repräsentiert dort den Nordnordwestwind).47 Daher folgt Camões bei der Nennung der Winde eher Homer, da die Winde bei ihm erkennbar für bestimmte Windrichtungen stehen (Süd und Nord bzw. Nordost). Ein klassisches Element des Seesturms ist auch das Erscheinen von Blitzen. Meist wird geschildert, wie Blitze im Verbund mit Donner auftreten, z.B. bei Vergil (Aen. 1,90): intonuere poli et crebris micat ignibus aether

Camões nennt hier nur die Blitze (Lus. 6,76,7f.): A noite negra e feia se alumia Cos raios em que o Pólo todo ardia. Die schwarze, dunkle Nacht wurde von den Blitzen durchzuckt, in denen der ganze Himmel brannte.

An einer späteren Stelle wird die Erwähnung des Donners jedoch nachgeholt (ib. 84,6).48 Das Aufflackern der Blitze erwähnt Camões – wie zuvor das Auf und Ab der Schiffe auf den Wellen – öfter. Die zweite Nennung –––––––––––– 47 Vgl. Georg Kaibel: „Antike Windrosen“, Hermes 20, 1885, 579-624 allgemein und speziell 624. Es handelt sich um eine Inschrift in Aquileia. 48 Dort werden auch die Blitze erneut, d.h. insgesamt zum dritten Mal, genannt. Baião bringt in seiner lateinischen Übersetzung die Vergilrezeption in diesem Punkt deutlich zum Ausdruck (6,356): ac magis horrendum tonat et micat ignibus aether.

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der Blitze ist aus poetologischer Sicht äußerst aufschlussreich, da Camões hier seine literarischen Quellen offenbart und indirekt mit diesen zu wetteifern scheint (ib. 78): Nunca tão vivos raios fabricou Contra a fera soberba dos Gigantes O grão ferreiro sórdido que obrou Do enteado as armas radiantes; Nem tanto o grão Tonante arremessou Relampados ao mundo, fulminantes, No grão dilúvio donde sós viveram Os dous que em gente as pedras converteram.

Während Camões zum einen mit dem Kampf der Giganten, zum anderen mit Deucalion und Pyrrha auf das erste Buch der Metamorphosen anspielt,49 verweist die Nennung des Schmiedes Vulkan auf das achte Buch der Aeneis, wo der Gott des Feuers auf Venus’ Wunsch Waffen für Aeneas schmiedet (Aen. 8,407-453). Die Schilderung des Seesturmes schließt mit einer Strophe (79), in der abermals (wie in Strophe 37) Verwüstungen von Bergen und Bäumen genannt werden, die kein Vorbild bei Vergil haben.50 (3) Klagerede So wie Aeneas im römischen Epos die Klagerede formuliert, ist es Vasco da Gama im Lusiadenepos, der diese Rolle übernimmt. Doch während sich Aeneas an den Himmel wendet, ohne eine bestimmte Gottheit anzurufen,51 spricht Vasco da Gama den christlichen Gott an (Lus. 6,81): Divina Guarda, angélica, celeste, Que os Céus, o Mar e Terra senhoreias: Tu, que a todo Israel refúgio deste Por metade das águas Eritreias; Tu, que livreste Paulo e o defendeste Das Sirtes arenosas e ondas feias, E guardaste, cos filhos, o segundo Povoador do alagado e vácuo mundo.

–––––––––––– 49 Vgl. für den Kampf der Giganten: met. 1,151-155, v.a. 154f.: tum pater omnipotens misso perfregit Olympum / fulmine et excussit subiectae Pelion Ossae. Für Deucalion und Pyrrha vgl. ib. 348-415. 50 Vgl. für diese Verwüstungen Ov. met. 1,285-290; 309f.; Lucan. 5,615-617. 51 Aen. 1,93: duplicis tendens ad sidera palmas.

Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung

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Göttlicher Schutz der Engel im Himmel, der den Himmel, das Meer und die Erde beherrscht: Du, der ganz Israel Zuflucht gewährt hat mitten durch das Eriträische Meer; Du, der Paulus befreit und gerettet hat aus den sandigen Syrten und dunklen Wogen und den zweiten Besiedler der überfluteten und leeren Welt mit seinen Söhnen beschützt hat.

In der Präsenz des christlichen Gottes in dieser Seesturmszene und allgemein in Os Lusíadas liegt einer der fundamentalen Unterschiede zwischen der Aeneis und dem portugiesischen Epos. Denn die Entdeckungsfahrt der Lusiaden ist untrennbar mit der Verbreitung des Christentums verbunden; die christliche Mission ist ein zentrales Thema des Epos (vgl. Lus. 1,6f.). Camões versteht es, sein Epos auf zwei Ebenen spielen zu lassen, und zwar auf der Ebene des Christengottes und auf derjenigen der antiken Götter. Da das Wirken der Götter – anders als in der Aeneis – den Protagonisten jedoch verborgen bleibt, muss Vasco da Gama den christlichen Gott anrufen. Überdies wäre es kaum vorstellbar, dass Camões in diesem christlichen Epos seinen Helden die mythischen Götter anrufen lässt.52 Um Gott zum Eingreifen zu bewegen, erinnert Vasco da Gama an drei biblische Ereignisse: an die Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft (vgl. Gen. 14), den Schiffbruch des Apostels Paulus (vgl. Apg. 27,9-44) und die Rettung Noahs vor der Sintflut (vgl. Gen. 6,9-9,17). Zum anderen – und hierin entspricht Vasco da Gamas Klagerede derjenigen des Aeneas – verweist er auf die Gefahren, die er zuvor überstanden hat, um den Gedanken zum Ausdruck zu bringen, dass es sinnlos wäre, gerade in der gegenwärtigen Situation zu sterben. In Aeneas’ Fall handelt es sich um den Trojanischen Krieg (Aen. 1,96-101): o Danaum fortissime gentis Tydide! mene Iliacis occumbere campis non potuisse tuaque animam hanc effundere dextra, saevus ubi Aeacidae telo iacet Hector, ubi ingens Sarpedon, ubi tot Simois correpta sub undis scuta virum galeasque et fortia corpora volvit!

Vasco da Gama kann zwar auf keinen Krieg verweisen, findet jedoch andere Gefahren, die er und seine Mannschaft überstanden haben und die eine Entsprechung in der Aeneis haben, indem er die Gefahren zur See thematisiert. Dabei stellt er sich eindeutig in Aeneas’ Nachfolge, wenn er diese kritischen Momente mit dem Adjektiv outro versieht, d.h. davon spricht, eine andere bzw. zweite Skylla und Charybdis usw. erlebt zu ha–––––––––––– 52 Man darf nicht vergessen, dass Camões im 17. Jahrhundert für die Verflechtung von antiker Mythologie und Christentum kritisiert wurde; vgl. Schaeffer / Arnold, 2000 (wie Fußn. 6), 599.

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ben. Diese Gefahren werden teils in Aeneas’ Klagerede, teils an anderen Stellen der Aeneis genannt. Man vergleiche Lus. 6,82,1-4: Se tenho novos medos perigosos Doutra Cila e Caríbdis já passados, Outras Sirtes e baxos arenosos, Outros Acroceráunios infamados, [...] Wenn ich die neue Angst aufgrund der Gefahren, die eine zweite Skylla und Charybdis darstellten, schon überstanden habe und ebenso andere Syrten und sandige Untiefen, andere berüchtigte Akrokeraunische Felsen, [...]

mit Aen. 1,200f.: Vos et Scyllaeam rabiem penitusque sonantis accestis scopulos

Aen. 7,302f.:53 quid Syrtes aut Scylla mihi, quid vasta Charybdis profuit?

und Aen. 3,506f.:54 provehimur pelago vicina Ceraunia iuxta, unde iter Italiam cursusque brevissimus undis.

Camões kehrt die vergilische Reihenfolge um, so dass bei ihm der Makarismos auf die Nennung der zuvor überstandenen Gefahren folgt. Vergil, der Homer in der Verwendung des Makarismos folgt,55 lässt seinen Helden die Trojaner glücklich preisen, die im Krieg gegen die Griechen gestorben sind (Aen. 1,94-96): o terque quaterque beati, quis ante ora patrum Troiae sub moenibus altis contigit oppetere!

–––––––––––– 53 Vgl. Pereira, 1990-1991 (wie Fußn. 35), 93. Für Skylla und Charybdis lässt sich außerdem noch folgende Stelle in der Aeneis nennen: Aen. 3,420-428. 54 Pereira, 1990-1991 (wie Fußn. 35), 93 hält die Akrokeraunischen Berge – wohl in Unkenntnis der Stelle aus dem dritten Buch der Aeneis – für eine horazische Reminiszenz (vgl. Hor. carm. 1,3,20). Sie werden auch in Vergils Georgica erwähnt (georg. 1,332). 55 Od. 5,306f. Vgl. Birchal, 1972 (wie Fußn. 42), 26.

Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung

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Vasco da Gamas Makarismos56 richtet sich an Personen der Zeitgeschichte (Lus. 6,83,1-4): Oh! Ditosos aqueles que puderam Entre as agudas lanças Africanas Morrer, enquanto fortes sustiveram A santa Fé nas terras Mauritanas! Wie glücklich können sich jene schätzen, die inmitten der spitzen afrikanischen Lanzen sterben konnten, als sie tapfer den heiligen Glauben in mauritanischen Ländern behauptet haben!

Er preist seine Vorgänger glücklich, die in Afrika, speziell in Marokko gestorben sind, als sie die Expansion Portugals und des christlichen Glaubens vorantrieben. Marokko ist deshalb für die portugiesische Expansion von besonderer Bedeutung, weil sie von hier am Anfang des 15. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm, als sich Portugal nach der Rückeroberung der von den Arabern besetzten Gebiete immer weiter an der afrikanischen Küste ausbreitete. Der Makarismos ist daher wie die gesamte Klagerede stark christlich geprägt. (4) Höhepunkt des Seesturms In der Schilderung des Höhepunktes des Seesturmes liegt im Vergleich zu Vergil eine abbreviatio vor, d.h. Camões fasst sich hier viel kürzer, da er deskriptive Elemente aus Vergils vierter Seesturmszene bereits in seiner zweiten Seesturmszene verwendet hat. In nur einer Strophe wird nun die Zuspitzung des Seesturmes geschildert. Ein wesentliches Mittel zur Darstellung seiner Zuspitzung ist ein Vergleich zwischen den Winden und ungezähmten Stieren (Lus. 6,84,1-4): Assi dizendo, os ventos, que lutavam Como touros indómitos, bramando, Mais e mais a tormenta acrecentavam Pela miúda enxárcia assoviando. So sprach er, und die Winde, die wie ungebändigte Stiere kämpften, heulten auf und machten das Unwetter immer stärker, während sie durch das schwache Takelwerk pfiffen.

Das Stiergleichnis hat kein Vorbild in Vergils Seesturmschilderung.57 Wenn Camões eine Anregung zu diesem Gleichnis aus der Aeneis erhalten –––––––––––– 56 Baião macht auch hier die Vergilrezeption explizit (6,349-351): o terque quaterque beati / quis inter Libycas Maurorum in finibus hastas / contigit oppetere ob verae pietatis amorem.

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hat, dann aus dem zwölften Buch, da Aeneas und Turnus dort mit zwei Stieren verglichen werden, die gegeneinander kämpfen (Aen. 12,715-724). Mit einer erneuten Erwähnung von Blitz und Donner und einer Angabe, die sich nicht bei Vergil findet, nämlich dem Eindruck, dass der Himmel auf die Erde fällt und die Elemente Krieg führen,58 endet die vierte Seesturmszene. Ihre Kürze ist sicherlich dadurch zu erklären, dass die Lusiaden im Gegensatz zu den Aeneaden keinen Schiffbruch erleiden. Daher kann sich der Seesturm nicht so drastisch zuspitzen und die verheerenden Konsequenzen haben, die bei Vergil genannt werden (Aen. 1,118-123). (5) Rettung Die Rettung der Lusiaden aus dem Seesturm geht von einer anderen Gottheit aus als bei Vergil. Während in der Aeneis Neptun (unter Zuhilfenahme von Cymothoe und Triton) die Wogen glättet, übernimmt in Os Lusíadas Venus in ihrer Funktion als Morgenstern59 diese Rolle. Damit schafft Camões eine Entsprechung zur Motivation des Seesturmes, da Venus im gesamten Lusiadenepos die portugiesische Mission unterstützt und somit der Seesturm von dem göttlichen Antagonisten (Bacchus) verursacht und von der göttlichen Protektorin (Venus) aufgelöst wird. Venus’ Rolle als Beschützerin der Lusiaden erklärt sich dadurch, dass sie in den Lusiaden die Nachfahren der Römer sieht. In der Götterversammlung am Anfang des Epos stellt sie sich daher gegen Bacchus (Lus. 1,33): Sustentava contra ele Vénus bela, Afeiçoada à gente Lusitana, Por quantas qualidades via nela Da antiga, tão amada sua, Romana; [...] E na língua, na qual quando imagina, Com pouca corrupção crê que é a Latina.

–––––––––––– 57 Dort findet sich – in der fünften Seesturmszene – das Gleichnis, in dem Neptun, der die Wogen glättet, mit einer Autoritätsperson verglichen wird, die ein aufrührerisches Volk beruhigt (Aen. 1,148-156). 58 Die Elemente nennt auch Lukan (5,634f.) in seiner Seesturmschilderung. 59 Venus’ Funktion als Morgenstern ist rein poetischer Natur. Zu diesem Ergebnis gelangt auch Augusta Faria Gersão Ventura: O vespero dos Lusiadas, III, 115 e a amorosa strella de VI, 85, Lissabon 1938 in einer Auswertung der astronomischen Daten, da Venus an den entsprechenden Tagen nicht sichtbar war.

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Die schöne Venus widersetzte sich ihm aus Zuneigung zu dem lusitanischen Volk, weil sie in ihm so viele Eigenschaften des antiken römischen Volkes sah, das sie so sehr liebte; [...] und in ihrer Sprache [sc. sah sie die Eigenschaften der Römer], von der sie glaubt, wenn sie sie sich vergegenwärtigt, dass sie mit leichten Veränderungen die lateinische ist.

So wie Neptun sein Haupt aus dem Meer herausstreckt und die vom Seesturm getroffene Flotte der Aeneaden sieht, nimmt Venus das Unglück der Lusiaden aus dem Himmel wahr. Man vergleiche Aen. 1,124-129: Interea magno misceri murmure pontum emissamque hiemem sensit Neptunus et imis stagna refusa vadis, graviter commotus; et alto prospiciens summa placidum caput extulit unda. disiectam Aeneae toto videt aequore classem, fluctibus oppressos Troas caelique ruina.

mit Lus. 6,85,5-8: A Deusa, que nos Céus a governava, [...] Tanto que o mar e a cara armada vira, Tocada junto foi de medo e de ira. Die Göttin, die im Himmel herrschte, [...] wurde von Angst und Zorn zugleich ergriffen, als sie auf das Meer und die liebe Streitmacht blickte.

Der Blick aus dem Himmel hat seine Entsprechung in der JupiterProphezeiung in der Aeneis, an deren Anfang Jupiter aus dem Himmel auf die Aeneaden blickt (Aen. 1,223-226). Sowohl in Os Lusíadas als auch in der Aeneis wird explizit gesagt, dass die eine Gottheit das Verursachen des Seesturms durch die andere Gottheit erkennt. Man vergleiche Aen. 1,130: nec latuere doli fratrem Iunonis et irae.

mit Lus. 6,86,1f.: Estas obras de Baco são, por certo, (Disse). Das hat gewiss Bacchus ins Werk gesetzt, sprach sie.

Auch im Hinblick auf die Hilfsgottheiten gibt es motivische Entsprechungen zwischen dem portugiesischen und dem römischen Epos. Denn ebenso wie in der Aeneis gibt es auch in Os Lusíadas Gottheiten, die dabei helfen, dem Seesturm Einhalt zu gebieten. Bei Vergil werden zwei Hilfsgottheiten Neptuns genannt, nämlich die Nereide Cymothoe und der Meeresgott Triton (Aen. 1,144). Camões nennt ebenfalls zwei Hilfsgottheiten beim Namen, und zwar Orithyia und Galatea (Lus. 6,88,8; 90,1), die bei-

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spielshalber für die Schar der Nymphen stehen, die die Winde durch ihre Liebe besänftigen. Die Nymphen nehmen daher die umgekehrte Rolle im Vergleich zur Aeneis ein, da die Nymphe Deiopea dort Aeolus versprochen wird, damit er die Winde entfesselt (Aen. 1,71-75).60 Und ihre Helferrolle geht noch weiter als diejenige der Meeresgottheiten bei Vergil, da jene den ebenfalls tätigen Neptun zusätzlich unterstützen, während die Nymphen in Os Lusíadas die eigentlichen Besänftiger des Seesturmes sind.61 Dass Camões gerade die beiden genannten Nymphen auftreten lässt, wurde ihm gewiss dadurch erleichtert, dass sie auch in Vergils Aeneis und an anderen Stellen aus dessen Werk vorkommen.62 In dem Rollentausch der den Seesturm besänftigenden Götter, d.h. in der Art und Weise, wie die Liebesgöttin und die Nymphen die Lusiaden aus dem Seesturm retten, kommt die Bedeutung des Liebesmotives im gesamten Epos zum Ausdruck. Seinen stärksten Ausdruck erfährt dieses Motiv am Ende des Lusiadenepos, da dort geschildert wird, wie die Helden auf der Heimfahrt zu der Insel der Liebe (a ilha dos amores) gelangen, wo es zur Vereinigung zwischen den Portugiesen und den Nymphen kommt (Buch 9 und 10). Das Eingreifen der Liebesgötter ist auch insofern stimmig, als die Geschichte der Doze de Inglaterra, die sich die wachhabenden Matrosen erzählen, bevor der Seesturm über sie hereinbricht, eine Abenteuergeschichte mit erotischem Hintergrund ist und in gewisser Weise die Hilfe der Liebesgötter motiviert.

Fazit63 Camões rezipiert Vergils Seesturmschilderung relativ frei und souverän. Diese souveräne Rezeption zeigt sich vornehmlich in der Benutzung des Götterapparates, d.h. in der Kombination der antiken Götter und des –––––––––––– 60 Vgl. Pereira, 1990-1991 (wie Fußn. 35), 96f. 61 Venus leistet nur indirekte Hilfe, indem sie die Nymphen zum Eingreifen bewegt; vgl. Pereira, 1990-1991 (wie Fußn. 35), 102. 62 Orithyia: Aen. 12,83; georg. 4,463; Galatea: Aen. 9,103; ecl. 1,30; 31; 3,64; 72; 7,37; 9,39. 63 Scaliger, der in seiner Poetik von 1561 den Seesturmschilderungen Vergils und seiner Nachfolger ein eigenes Kapitel widmet (5,12), hätte wohl an Camões’ Schilderung kritisiert, dass das Angstgeschrei der Mannschaft, die Blitze, die Verheerungen an Land und das Auf und Ab auf den Wellen wiederholt genannt werden, da er Ovid vorwirft, dass er die Finsternis in der Seesturmschilderung wiederholt zum Ausdruck bringt; vgl. Scaliger, Poetik 5,12,267a-b: tum vero noctem repetit ac tenebras, nec semel. „Dann aber wiederholt er Nacht und Dunkel, und zwar nicht nur einmal.“; vgl. Ov. met. 11,520f.; 550.

Die Rezeption der vergilischen Seesturmschilderung

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christlichen Gottes. Geradezu als vergilisch ist die Technik zu bezeichnen, den Seesturm von dem göttlichen Antagonisten ausgehen und von der göttlichen Protektorin der Helden beenden zu lassen, und zwar vergilisch in dem Sinne, dass Camões hier in analoger Weise die Gottheiten im Vergleich zu Vergil austauscht, wie es der Römer im Vergleich zu seinem griechischen Vorbild Homer tat. Die Souveränität der Seesturmrezeption offenbart sich auch in der unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Seesturmszenen und darin, dass Camões das Motiv der Kompetenzüberschreitung bei der Entfachung des Seesturmes durch das Motiv der Autorisierung ersetzt. Schließlich wird sie auch daran deutlich, dass Vergil nicht die einzige Vorlage für die Seesturmschilderung bildet, sondern auch andere Vorlagen eingeflossen sind. Trotzdem sollte deutlich geworden sein, dass von Vergil motivisch und in vielen einzelnen Punkten die maßgebliche Anregung für Camões’ Seesturmschilderung ausging, so dass sie als souveräne dilatatio der Vorlage anzusehen ist.

Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria Text – Übersetzung – antike Vorbilder

ALEXANDER CYRON (Kiel) Melchior Barlaeus ist im Gegensatz zu seinem Neffen Caspar Barlaeus weitgehend unbekannt und sein Œuvre so gut wie unerforscht. Ein biographischer Abriss1 sei deshalb vorangestellt. Melchior Barlaeus wurde ca. 1540 in Antwerpen als Sohn des Stadtangestellten Lambertus Barlaeus und als jüngerer Bruder des Caspar Barlaeus, des Vaters des gleichnamigen Amsterdamer Humanisten, Theologen und Dichters, geboren. In den Jahren 1562/1563 publizierte er erste Dichtungen. Neben den Bucolica sind zu nennen: De vetustissima Brabanticae gentis origine sive Brabantiados libri V. Eiusdem urbis Antverpiae encomium, De diis gentium libri III, De raptu Ganymdis liber sowie eine Anzahl kleinerer Gedichte unter dem Titel Ad studiosam iuventutem Hexastichon. Das Lobgedicht auf Antwerpen und das Werk De diis gentium waren wohl der Anlass dafür, dass er von der Stadt Antwerpen für die Jahre 1563-1568 ein Stipendium erhielt. Barlaeus nahm 1563 ein Jurastudium in Padua auf. Das Studium brach er 1565 ab und reiste nach Süditalien, dann nach Paris, 1568 nach London. Die zahlreichen Briefe aus dieser Zeit an den Vater zeigen, dass Barlaeus sich immer höher verschuldete und in London deswegen ins Gefängnis musste. Als einziges weiteres Werk des Barlaeus erschien 1566 in Antwerpen der De miseriis et fragilitate humanae vitae libellus im Druck. Aus den Jahren nach seiner Rückkehr nach Antwerpen 1569 ist kaum etwas bekannt. Barlaeus war vermutlich auf der Suche nach einer beruflichen Stellung. Auf das Jahr 1570 datiert ist ein Empfehlungsbrief des jüngeren Aldo Manuzio, in dessen Verlag er einige Monate gearbeitet hatte. In den –––––––––––– 1

Vgl. ausführlich Julianna Katona: M. Barlaei de raptu Ganymedis liber (Text, Komm.), (= Diss. Univ. Mainz 2001) Frankfurt a.M. 2002, 11-19, knapp auch Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert – III,1. Geschichte der neulateinischen Lyrik in den Niederlanden vom Ausgang des 15. bis zum Beginn des 17. Jhd., Berlin 1933, 102-104.

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Alexander Cyron

Jahren 1576-1578 saß er in Brüssel im Gefängnis. Als letztes Datum ist bekannt, dass Barlaeus 1580 in den Diensten seines früheren Gönners Caspar Schetz, trésorier general des finances bei Philipp II, stand. Zu Barlaeus’ fünf Eklogen, die unter dem Titel Bucolica zum ersten und bisher einzigen Mal 1563 bei Gillis Coppens van Diest in Antwerpen im Druck erschienen,2 existieren abgesehen von Joachim Hamm (2001)3 zu Ekloge 3 und Julianna Katona (2002)4 zu Ekloge 1 keine Einzelstudien.5 Im Folgenden wird zunächst der Text der Edition von 1563 zusammen mit einer deutschen Übersetzung wiedergegeben.6 Anschließend sollen die Bezüge zu antiken Vorbildern, besonders zu Vergils achter Ekloge, erörtert werden.

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Ekloge 2 ist außerdem aufgenommen in: J. Gruterus (Hg.): Delitiae centum poetarum Belgicorum, Frankfurt a.M. 1614, Bd. 1, 229-240. Joachim Hamm: Servilia bella. Bilder vom deutschen Bauernkrieg in neulateinischen Dichtungen des 16. Jh., (= Diss. Univ. Würzburg 1999) Wiesbaden 2001, 277ff. Julianna Katona: „Laus vitae urbanae: Ecloga prima Melchioris Barlaei“, in: Bruno Luiselli u.a. (Hgg.): Acta selecta conventus Academiae Latinitati Fovendae, Rom 2002, 307-314. Für einen Überblick über den Inhalt aller fünf Eklogen vgl. zur SannazaroRezeption in der Renaissance-Bukolik die Studie von Eckart Schäfer: „Zur Sannazarius-Rezeption in der Renaissance-Bukolik“, in: Ders. (Hg.): Sannazaro und die augusteische Dichtung, Tübingen 2006, 249-273, hier 264-273, außerdem den Überblick bei Ellinger, 1933 (wie Fußn. 1), 103f. Speziell auf Ekloge 3 geht im Zusammenhang mit den deutschen Bauernkriegen ein Eckart Schäfer: „Der deutsche Bauernkrieg in der neulateinischen Dichtung“, Daphnis 9, 1980, 1-31, hier 29-31. Der Text wurde im Wesentlichen diplomatisch wiedergegeben; Kürzungen, Ligaturen und Nexus wurden stillschweigend aufgelöst. Der Druck hat insgesamt eine hohe Qualität, so dass nur an drei Stellen eingegriffen werden musste, vgl. die folgenden Fußnoten.

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Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria.

Pharmaceutria. Ecloga V Morphon, Battus Vesper ab umbrosa procedens stellifer Oetha Temperat et caelos, exsuctáque Sole diurno Frigidus humectat foecundo germina rore. Quo monitore greges saturas ad ovilia cogunt Battus, et Aoniae Morphon non infimus artis. Impatiens meritò duri quorum alter amoris, Conuulsus curis, singultibus, aeger, anhelus, Ista suo Morphon referebat verba sodali: MORP. Philtra haec in cassos nunquam seruauimus usus. Cum modò farra metens haerebam solus in agro, Eminus, heu, vidi tetrica comitante parente, Semita qua ducit, propero contendere gressu Nisam: infelicem quae sic me torquet amantem. A quo visa fuit mihi primùm temporis haesit Sola meis animis, in agros seu cogo bidentes,

Seu meto, seu terram verto, seu prandia sumo, Otior,7 aut quid agam, cuius mihi forma venusta Hunc animum, hos miseros nunquam rellinquit ocellos. Saepe quidem solam, conuentam saepe cupiui, Ast ad opus semper graue me vel cura vocabat, Illa vel astutae fuit unquam dedita matri, Non ab ea posset latum ut discedere culmum. Hoc sed fortè meus deum vespere praeterit ignis, Nisa vagabundis virgo pulcerrima plantis, Obstupui, manibus falx decidit. ilicet ambae Praetereunt properae, et spectantem neutra salutat. Hoc dolui, pecoris iam cura recesserat omnis, Balaret licet, atque animo non pauca volutans Vix armenta domum memini cogenda fuisse. Nam nullus mihi sensus erat: nihil ut sibi constat Quisquis amat, mens atque aliò de corpore migrat. Inter utrunque tamen dubium res una tenebat, Pulcra videbatur tacitè quòd Nisa locuta, Sed, puto, terruerat durae praesentia matris,

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Im Druck steht das sinnlose Ociar.

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Omni saltem apud hanc ut suspicione careret. Intereà me pallor habet, me dulce venenum Concoquit, ut Nisae manet ignorata voluntas. Nisa, per Aemonium adiuraberis, improba, rhombum, In te iuratíque movebo sidera coeli, Devotásque artes stygiis excibo tenebris. Pro gemitu fremitus, pro blanditiis furor esto, Horrida pro lacrymis fundant mea lumina flamas. Usquam si detur captam deprehendere somno! Haec habet ampla lacus viridanti corpore ranas: Harum ego decisis tentem tua pectora linguis. Sunt mihi Dauliadis nido supposta lutato Munera, quae docuit multum pollere Menalcas. Est et Apollineae mihi cor ferale volucris, Ut prodare tuis nobis, licet inscia, verbis, Et quaecunque animo teneas secreta loquaris. Hac tibi verò via cùm imponere posse negetur, Aggrediar magicas artes, et carmina dicam.

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Prodite, formosam mea carmina prodite Nisam. Ingeniis quanvis est hinc data gloria prima Faemineis, non ista viros latuisse patebit. Coniurata atris verbis mihi fictilis olla est, Quae succos habet, et non paruis viribus herbas. Vermiculos miros, animalis et exta dolosa Multiplicis, variásque dapes, quibus aura polorum Vertitur, et densae veniunt ad carmina nubes.

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Prodite, formosam mea carmina prodite Nisam. Fer, puer, huc cedros, atque horridulos cupressos, Hinc oleo perfunde focos, et ligna perunge. Immisce naphtam, feret hic sibi surculus ignes. Est mihi viuenti, quando malè cautus ovile Insiluit, longa audacter decussa bipenni Cauda lupo, remori mihi nec vis defit echini. Nunc operans magnum coquit olla Melampidis herbas. Sis, puer, attentus, nec praetermittito curam, Sternit humi fortes adamantis cruda leones. Viribus herbarum nihil impenetrabile viuit. His nubes, tellus, maria alta, Erebíque citantur. Firmius an terris? vel an est nymbosius altis Nubibus? an moti truculentius aequoris undis? Pectus inaccessum Nisae superabit an Orcum? Eripe cuncta, puer, funestis ignibus ista, Sat decocta putem, vitrum mihi porrige, Nisae Hoc dabo potandum nostri irritamen amoris. Prodite, formosam mea carmina prodite Nisam.

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Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria.

Haec Morphon, Musae contraria carmina Batti Dicite, plus alijs alios sapuisse patebit.

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BAT. Vah, Doris spreuit. taurus fugiente iuuenca Non sequitur, subitò domitáque cupidine sistit. Nos, ah, nos animi dicemur an esse minoris,

Qui sequimur fatui renuentis vota puellae? Non malè quid mentem subijt mihi, nolle proteruis Virginibus seruire ultra, quin integritati, Fracte anime, et dudum prope perdite, restituare? Ipsius ebibita nunc sumam obliuia Lethe, Otia nec posthac admittam, semper agendo Officiosus ero, soli vincuntur inertes. Paene morae indocilis sine libertate ferebar, Non ita sed nostras penetrauit flama medullas, Non ita succendor, cupiam quin velle mederi. Iam Doris misero pergas illudere Batto, Et captum dic mente sua, non te, improba Doris, Imbibimus, certè tantùm fuit impetus amens. Verbis quòd te ego compellasse videbar amicis, Primitias, concepti et amoris signa putabas. Sed modus est, sapui, nec enim dispendia nostra Prosequor, aerumnas, insomniáque horrida noctis Ferre Catascopium didici, iam canus, Amorem. Haec fortuna malas inter foret ultima nobis, Horrida si tandem cogatur amare senectus. Carmina, carminibus cedunt freta, sydera, montes,

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Pellite, crudeles mea carmina pellite flamas. Mens mihi salua redit, Doris nec riserit ultra Instabiles animos, largè regale comedi Pullegium. vinctum est ederis caput, otius herbas Fer, puer, et nigris cyathis medicamina misce Apta veneficijs, pateat non cuncta puellis Cognita Thessalicis, magicos de vimine succos Elice, quo duri de mente fugentur amores.

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Pellite, crudeles mea carmina pellite flamas. Munera multa dabam quo responderet amantis Huic animo, assensu conceptáque vota iuuaret, Sprevit. quàm didici, nisi qui proprias agat hostem In gazas, nullum8 duras deamare puellas! Plurima pauperiem siquidem profusio gignit, Et quid inops? nisi fucus iners, nisi vilior alga. Munera concedant animis frugalibus. eheu, –––––––––––– 8

Im Druck steht nullam.

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Vix tempestiuum est, propera, quin pocula supples, Quin, puer, ex cedris, ex cespite construis aras. Pellite, crudeles mea carmina pellite flamas. Misce cupresso paleas, nec et arida desit Aproxis, rabidis sit maior ut ignibus ardor, Concipiátque focus procul à veniente calorem. Spumet salsa mihi de fonte Cupidinis unda, Diffudit nigris Colchis quam Cyzicus antris. Fer, puer, huc lymphas, et caetera quaeque ministra, Absynthi nigros frutices, ego carmina dicam. Nox haec conueniens sublustri est sydere nostris Artibus, aut fallor aut coelo Luna videtur Depelli, sublime fuga vaga sidera tendunt, Vires herbarum Empyrius neque sustinet axis.

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Pellite, crudeles mea carmina pellite flamas. Nuper ego procul hinc armenta in pascua cogens Consedi ad densas modulans in gramine vepres, Cornutámque videns tacitè reptare rubetam Extimui, neque enim me dira venena latebant, Quae gerit hoc animal, non purius aspide torto. Conceptis etiam scibam conducere flamis. Protinus exilui, non fidens cornibus illis, Ádque manum quod fortè pedum mihi stabat in herba Arripio, horrescens adigoque in viscera ranae. Tunc illam exanimémque, domum intactámque ferebam: Ossa mihi solùm restant haec cuius ab illo Tempore, formicae absumpserunt caetera nostrae, Aut sibi condiderunt venienti pabula brumae. Huius ego dextrum mihi sumam, quo igne fugato Concipiam rigidum frigus: hoc, dura, sinistrum Oßiculum, vt caleas, tibi, Doris, seruo vorandum.

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Pellite, crudeles mea carmina pellite flamas. Hunc vt disijcio laxato vimine longè Fasciculum, duri vinclis ita soluar amoris. Hic9 mihi clusus inest effoeto10 pyxide puluis, In quo olim sterilis versans sua tergora mulus Reddidit haud paruum medicamen, tempore et illo, Non male consulti, penitus collegimus omnem: Iste animos, atque iste sibi mea corda reducet. Pellite, crudeles mea carmina pellite flamas. –––––––––––– 9 Im Druck steht Hoc. 10 Vgl. Lucan 9,284 effetas … ceras i.S.v. „entleerte Waben“.

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Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria.

Hoc hecatoncephalon mihi fer, puer, ocyus, olim Quod casu reperi nostro dum cresceret horto, Cognouíque herbae vires, auidúsque sciendi An maris, an sexum ferret radice proterua Faemineum, euulsi, formam vidíque virilem: Tum vidi mea vota, per hanc vt amabilis essem, Torquerémque mea lasciuas sorte puellas. Doridos hanc sinui inijciam, crucietur vt illa, Appetat, vt spretos etiam desideret ignes: Útque ego, frustra illa me sollicitante, repugnem, Et cogam ad crudum pelagus, ad saxa dolentem, Leucadias vt se Sappho deiecit in vndas.

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Pellite, crudeles mea carmina pellite flamas, Illa vt monstrosae, rogo, pelle tegatur hyenae, Admoueátque suis eius saeva oribus ora. Illa Ophiusaei bibat horrida pocula succi, Vllus ei medicus nec palmea vina ministret. Vt putet aduersum se tristia monstra venire, Si sedet ad ripas aliquas, de flumine credat Se exerere, et septem minitari cornibus hydram. Si ruat in syluas, tygridum magna ora, leonum Extimeat rictus, metuat telluris hiatus.

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Pellite, crudeles mea carmina pellite flamas. Fallor? an antiqui redeunt in pectora sensus? Incipióque meis animis per carmina reddi? Quid, maior me flama agit? an mihi somnia fingo? Verba haec exolitum certè testantur amorem, Faemineíque odium generis. num fallor? at ipse Seruitio eripior, rellinquunt pectora curae. Felix, heu felix qui se possederit ipsum. I nunc, et verbis me, Doris, lude proteruis. Parcite, depulsis mea carmina parcite flamis.

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Pharmaceutria.11 Fünfte Ekloge Morphon, Battus Der Abend, der die Sterne heraufführt kommt hervor hinter dem schattigen Oetha, er mäßigt die Hitze; kühl benetzt er die von der Sonne des Tages ausgesogenen Knospen mit Leben spendendem Tau. Von diesem ermahnt treiben zu den Ställen die satten Herden 5 Battus und Morphon, kein Geringer in der Musenkunst. Einer von diesen, Morphon, der zu Recht nicht ertrug die harten Liebesqualen, richtete, das Gesicht zerfurcht von Sorgen, verzogen unter Seufzern, kummervoll und schwer atmend die folgenden Worte an seinen Freund: MORPHON: Diesen Liebestrank haben wir zu immer wirksamem Gebrauch aufbewahrt. Als ich mich eben einsam auf dem Acker aufhielt und Spelt erntete, da – ach – sah ich von fern in Begleitung der strengen Mutter eilenden Schrittes den Weg entlang eilen Nisa, die mich unglücklich Verliebten so sehr quält! Seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe, habe ich sie allein im Sinn, sei es dass ich die Schafe auf die Weide treibe, sei es bei der Ernte, sei es beim Pflügen oder beim Frühstück, sei dass ich ruhe, sei es dass ich arbeite. Ihre anmutige Gestalt geht mir niemals aus dem Sinn, steht immer vor meinen unglücklichen Augen. Oft freilich begehrte ich sie, wenn ich sie allein sah, oft auch, wenn ich sie in Begleitung sah, doch stets riefen mich meine Pflichten zu wichtiger Arbeit, oder sie war ihrer schlauen Mutter immer so ergeben,12 dass sie ihr keinen Zentimeter von der Seite hätte weichen können. Als aber diesen Abend sie, die ich so heiß begehrte, zufällig vorüberging, Nisa, das wunderschöne Mädchen, mit umherschweifenden Schritten,

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–––––––––––– 11 Für Anregung und Kritik ist der Verfasser Thorsten Burkard und Stefan Feddern verpflichtet. 12 umquam ist hier wohl i.S.v. semper verwendet.

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Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria.

da stand ich wie versteinert und die Sichel entfiel meiner Hand: Beide gehen sie einfach 25 eilends an mir vorbei, ich sehe sie an, doch keine von beiden grüßt mich. Das hat mich geschmerzt! Schon hatte ich mein Vieh ganz vergessen, mochte es auch laut blöken, und so viel ging mir durch den Kopf, dass ich fast vergessen hätte, mein Vieh in den Stall zu treiben. Ich war nämlich wie von Sinnen, da ein Verliebter 30 nicht mehr er selbst ist, und sein Geist seinen Körper anderswohin verlässt. Eine einzige Sache ließ mich zwischen zwei Möglichkeiten schwanken, dass nämlich die schöne Nisa schweigend etwas zu sagen schien, aber die Gegenwart der strengen Mutter hatte sie, glaube ich, eingeschüchtert und sie wollte sich daher wenigstens in ihrer Anwesenheit möglichst unverdächtig verhalten. 35 Jetzt aber bin ich ganz bleich, süßes Gift verzehrt mich, da mir Nisas Absicht verborgen bleibt. Böse Nisa, mit dem haemonischen Rad will ich dich beschwören und gegen dich werde ich die Gestirne des mit mir verschworenen Himmels in Bewegung setzen und verfluchte Künste hervorlocken aus stygischer Finsternis 40 gegen dich. Ich will nicht mehr jammern, sondern schnauben vor Wut, nicht mehr schmeicheln, sondern rasen, meine furchterregenden Augen sollen keine Tränen mehr vergießen, sondern Flammen versprühen. Wenn ich sie doch irgendwo im Schlaf zu fassen bekäme! Hier in diesem großen See leben grüne Frösche: Ihre Zungen will ich herausschneiden und sie dir dann 45 auf die Brust legen. Auch habe ich Eier aus dem lehmbeschmierten Nest der Schwalbe, Menalcas offenbarte mir ihre Zauberkräfte. Auch habe ich das todbringende Herz des apollinischen Vogels, damit du dich uns, wenngleich unwissentlich, mit deinen eigenen Worten verrätst 50 und sagst, was auch immer du im Herzen verborgen hältst Kann ich dir aber auf diese Weise nicht beikommen, will ich magische Künste versuchen und Zauberlieder singen. Entlockt ihr das Geheimnis, meine Lieder, entlockt das Geheimnis der schönen Nisa! Und mögen auch anfangs nur Frauen für diese Künste berühmt gewesen sein, so wird sich zeigen, dass sie auch Männern nicht verschlossen sind. Einen Tontopf habe ich, besprochen mit finsteren Worten, in ihm magische Säfte, Kräuter von nicht geringer Wirkung, absonderliche kleine Würmer und trügerische Eingeweide des

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vielfach gewundenen Tieres, vielfältige Speisen: Damit lassen sich die Winde des Himmels umkehren und dichte Wolken kommen auf mein Lied hin.

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Entlockt ihr das Geheimnis, meine Lieder, entlockt das Geheimnis der schönen Nisa! Zweige der Zeder und schaurigen Zypresse bringe herbei, Knabe, schütte dann reichlich Öl auf die Feuerstelle und bestreiche das Holz damit. Mische Naphtha dazu, dieser Zweig hier wird sich selbst entzünden Ich habe hier auch einen langen Schwanz, dem Wolf bei 65 lebendigem Leibe abgetrennt mit wagemutigem Streich meiner Axt, als er unvorsichtigerweise in meinen Schafstall sprang, auch fehlt es mir keineswegs an den magischen Kräften des kleinen Schiffshalters.13 Jetzt kochen im Topf die Kräuter des Melampus und Gewaltiges wird ins Werk gesetzt. Sei aufmerksam, Knabe, und lass nicht nach in deiner Sorgfalt, 70 rohes Adamantiskraut streckt starke Löwen zu Boden Es gibt nichts, was Zauberkräutern widerstehen kann, mit ihnen kann man die Wolken, die Erde, das tiefe Meer und selbst die Unterwelt nach seinem Willen lenken. Gibt es etwas Festeres als die Erde, etwas Stürmischeres als hoch hängende Wolken, etwas Ungestümeres als die Wellen der aufgewühlten See? Wird das unzugängliche Herz der Nisa selbst den Orkus übertreffen? 75 Entreiße dies alles, Knabe, den tödlichen Flammen, genug hat es gekocht, denke ich. Reiche mir ein Glas, das will ich der Nisa zu trinken geben, damit sie vor Liebe zu uns entbrennt! Entlockt ihr das Geheimnis, meine Lieder, entlockt das Geheimnis der schönen Nisa! Dies sang Morphon. Musen, kündet die ganz anderen Lieder 80 des Battus, und es wird offenkundig sein, dass die einen mehr Verstand besitzen als die anderen. BATTUS: Ah! Doris hat mich verschmäht. Wenn die Kuh vor ihm flieht, wird der Stier ihr nicht nachlaufen, und er wird sogleich stehen bleiben und sein Begehren zügeln. Ach! Wird man von uns etwa behaupten, wir seien kleinmütiger, weil wir

–––––––––––– 13 Vgl. Fußn. 30.

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Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria.

töricht die Wünsche des Mädchens befolgen, das mich immer wieder zurückweist? 85 Kein schlechter Gedanke kam mir in den Sinn: nicht länger launenhaften jungen Mädchen dienen zu wollen, sodass du, mein gebrochenes Herz, schon längst fast völlig zerrüttet, wieder völlig hergestellt wirst. Nun will ich selbst sie ganz vergessen, indem ich den Lethefluss austrinke. Muße werde ich nicht mehr zulassen, immer pflichtbewusst 90 bei der Arbeit, besiegt werden können nur die Untätigen. Ohne frei zu sein wurde ich umhergetrieben, beinahe nichts hätte mich belehren können, zur Ruhe zu finden, doch nicht so tief ist das Feuer in unsere Eingeweide gedrungen, nicht so heftig glühe ich, dass ich nicht nach Heilung verlangen würde. 95 Nun treibe ruhig weiter deinen Spott mit Battus, Doris, und erzähle überall, er sei von Sinnen: Dich haben wir nicht ganz eingesogen, ruchlose Doris, es war sicher nur der erste Anflug von Wahnsinn. Dass ich den Eindruck erweckte, dich mit freundlichen Worten angesprochen zu haben, hast du für den Beginn, die ersten Zeichen von Verliebtheit gehalten. Doch es gibt ein Maß, ich bin wieder zu mir gekommen, ich treibe 100 nämlich keinen überflüssigen Aufwand mehr, bin nicht betrübt, liege nicht wach in schrecklicher Nacht, ich habe – schon ergraut – gelernt, Amor, den Späher, zu ertragen. Dieses Schicksal wäre unter unseren Schicksalsschlägen der letzte, wenn das schreckliche Greisenalter schließlich dazu gezwungen würde, zu lieben. 105 Ihr Lieder, selbst Meere weichen Liedern, Sterne und Berge, vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Ich komme wieder zur Besinnung, Doris wird sich über mein schwankendes Gemüt nicht mehr lustig machen, reichlich gegessen habe ich von der Poleiminze. Mein Haupt ist efeubekränzt, bring schnell Kräuter herbei, Knabe, und braue in schwarzem Becher ein Mittel, für magische Tränke geeignet. Es soll offenkundig werden, dass die thessalischen Jungfrauen nicht alles wissen. Entlocke den Weidenruten magische Säfte, um grausame Liebe aus meinem Herzen zu vertreiben.

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Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Viele Geschenke machte ich ihr, damit sie meine Liebe erwiderte, damit sie mit ihrer Zustimmung meiner Hoffnung Nahrung gäbe: Doch sie verschmähte mich. Wie musste ich lernen, dass nur der spröde Mädchen

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heftig liebt, der auch zugleich einen Feind seine Schatzkammer plündern lässt! Da ja höchste Verschwendung Armut gebiert – und was ist der Arme? Doch nur eine nutzlose Drohne und wertloser als Algen. soll mehr als Geschenke ein redliches Herz zählen! Ach, es drängt die Zeit, beeile dich, Knabe, fülle mir den Becher, schichte aus Zedernholz und Rasenstücken den Altar!

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Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Mische Spreu unter das Zypressenholz, auch die trockene Aproxis soll nicht fehlen, damit heißer brennen die reißenden Flammen und schon von fern der Herd auflodert, wenn ich komme. Aufschäumen soll mir die salzige Woge aus der Quelle Cupidos, die das kolchische Cyzicus aus schwarzen Höhlen ergießt. Bring klares Wasser hierher, Knabe, und kümmere dich um alles übrige, bring auch dunkle Absinthsträucher: Ich will Lieder dazu singen. Diese Nacht, nur schwach von Sternen erhellt, ist die richtige für unsere magischen Künste; täusche ich mich oder wird da wirklich der Mond vom Himmel vertrieben, es fliehen eilends in die Höhe die Wandergestirne, die feurige Achse des Himmels hält den Zauberkräutern nicht stand.

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Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Als ich neulich meine Herde fern von hier auf die Weide trieb, saß ich bei dichten Dornbüschen im Gras und stimmte ein Lied an, und ich erschrak, als ich eine gehörnte Kröte leise herankriechen sah, denn ich kannte das schreckliche Gift, das dieses Tier in sich trägt, nicht weniger giftig als die gewundene Natter. Ich wusste, dass diese Kröte auch bei Liebeswahnsinn hilft. Sogleich sprang ich auf, ich traute ihren Hörnern nicht recht, und mit der Hand ergreife ich hastig den Stab, der zufällig im Gras steckte, mit Schaudern stoße ich ihn der Kröte in die Eingeweide. Dann trug ich sie leblos und ohne sie zu berühren nach Hause: Seitdem sind mir von ihr nur noch die Knochen geblieben, unsere Ameisen haben den Rest verschlungen oder als Vorrat für den kommenden Winter geborgen. Ich will ihren rechten Schenkel nehmen, durch den mein Feuer vertrieben wird und ich starre Kälte verspüren werde. Den linken Schenkel hier werde ich für dich, harte Doris, aufbewahren, damit du ihn verschlingst und so selbst in Hitze gerätst. Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen.

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Ebenso wie ich dieses Rutenbündel, nachdem ich das Band gelöst habe, weithin verstreue, so soll auch ich erlöst werden von den Fesseln der grausamen Liebe. Diesen Staub habe ich in eine leere Giftdose eingeschlossen, den ein unfruchtbares Maultier einst zu einem starken Mittel gemacht hat, als es sich mit seinem Rücken darin wälzte; vollständig haben wir es damals wohlweislich gesammelt. Dieses Pulver wird meinen Sinn und mein Herz zu sich selbst bringen.

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Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Schnell bringe mir die Alraune, Knabe, die ich einst zufällig fand, als sie in unserem Garten wuchs, und ich erkannte die Wirkung der Pflanze, und da ich unbedingt wissen wollte, ob sie an ihrer schamlosen Wurzel von weiblichem oder 165 männlichem Geschlecht sei, riss ich sie aus und erkannte an ihrer Form, dass sie männlich war. Da erblickte ich die Erfüllung meine Wünsche, nämlich dass ich durch diese Wurzel begehrenswert werden würde und meinerseits den koketten Mädchen Qualen bereiten würde. Dies will ich Doris auf die Brust legen, damit sie gepeinigt werde und begehrt und 170 sich sogar nach denen sehnt, die sie verschmäht hat, und damit ich ihr widerstehen kann, wenn sie vergeblich um mich wirbt. Und ich werde sie unter Schmerzen zu den Klippen der grausamen See treiben, wie sich auch Sappho in die leukadische Flut stürzte. Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. 175 Sie soll sich bitte in ein Monstrum, eine Hyäne verwandeln, dass sich ihren wilden Lefzen die Hyäne zum Kusse nähert. Das schreckliche Gebräu aus Schlangengift soll sie trinken, und kein Arzt soll ihr Palmwein als Gegenmittel reichen, so dass sie glaubt, dass schreckliche Monster auf sie zukommen, 180 und dass, wenn sie sich am Ufer eines Flusses niederlässt, sich eine Hydra daraus erhebt und sie mit ihren sieben Häuptern bedroht. Wenn sie in die Wälder stürzt, soll sie vor den gewaltigen Rachen der Tiger und Löwen erschrecken und Angst haben, die Erde könne sie verschlingen.

Vertreibt, ihr Lieder, vertreibt die grausamen Flammen. Täusche ich mich oder kehrt die frühere Sinnesart zurück in mein Herz und komme ich durch meine Gesänge allmählich wieder zur Vernunft?

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Was ist das? Treibt mich nur noch heftiger um die flammende Liebe oder träume ich? Nein, diese Worte zeigen, dass ich von der Liebe entwöhnt bin, sie zeigen meinen Hass auf das weibliche Geschlecht. Sollte ich mich etwa täuschen? Nein, ich werde aus dem 190 Sklavendienst befreit, die Sorgen verlassen meine Brust. Glücklich, ach glücklich ist der, der sich selbst gewann. Jetzt komm mal, Doris, und treibe dein übermütiges Spiel mit mir. Haltet ein, meine Lieder, haltet ein, die Flammen sind vertrieben.

Das wichtigste antike Vorbild zu Barlaeus’ fünfter Ekloge ist hinsichtlich der Makrostruktur die achte Ekloge Vergils.14 Beide Gedichte weisen ein vom bukolischen Ich gesprochenes Proöm auf, das die Situation des Gesangs und die Sänger kurz schildert. Dann folgt in beiden Gedichten ein homodiegetischer Gesang eines unglücklichen Hirten, bei Vergil der des Damon, der sich nach seiner untreuen Gattin Nysa sehnt und ankündigt, sich das Leben zu nehmen, bei Barlaeus der des Morphon, der sich nach Nisa verzehrt (V. 9-79). Daran schließt sich eine zwei Verse umfassende Überleitung des bukolischen Ichs an, die in beiden Fällen einen Musenanruf mit der Bitte enthält, dem eigenen Gedächtnis zu Hilfe zu kommen (V. 80f. bzw. ecl. 8,62f.). Schließlich folgt in beiden Fällen ein zweiter Hirtengesang, der wie der erste durch einen Refrain in Strophen gegliedert wird. Bei Vergil ist es der homodiegetische Gesang des Alphesiboeus in der persona einer Frau, die den abwesenden Daphnis herbeisehnt, bei Barlaeus der homodiegetische Gesang des Battus (V. 82-193), der sich von seiner Sehnsucht nach Doris heilen will und V. 103f. das Motiv des Freitods aus dem Damon-Gesang Vergils aufgreift. Beide Gesänge schildern ausführlich magische Praktiken, die zum Erfolg führen. In der Makrostruktur weicht Barlaeus insofern von Vergil ab, als die Gesänge des Morphon und des Battus keinen Bukoliasmos darstellen, der die umgebende Natur in Erstaunen versetzt.15 Es entsteht vielmehr der Eindruck, –––––––––––– 14 Weitere frühneuzeitliche Adaptionen von Vergils 8. Ekloge: Sannazaro, Herpylis Pharmaceutria (= Ekloge 5; zu Barlaeus’ Verhältnis zu dieser Ekloge Sannazaros siehe Schäfer, 2006 (wie Fußn. 3), 272f.). Eine Adaption stellt ferner Johannes Bocers Ekloge 7 Pharmaceutria dar (aus den Aeglogae septem von 1563), vgl. dazu Lothar Mundt: Johannes Bocer. Sämtliche Eklogen (Text, Übers., Komm.), Tübingen 1999. 15 Das Erstaunen der Natur wird Verg. ecl. 8,1-5 geschildert. Dass es sich bei den beiden Gesängen um einen Bukoliasmos handelt, ergibt sich aus Verg. ecl. 8,3 certantis und 8,62 responderit. Ein Bukoliasmos findet auch in Vergils Eklogen 3, 5 und 7 statt.

Melchior Barlaeus, 5. Ekloge Pharmaceutria.

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als wollte Morphon dem Battus lediglich sein Liebesleid klagen und nicht etwa Bewunderung von Battus oder der Natur für einen möglichst vollendeten Gesang erhalten (V. 8). Die überleitenden Verse 80f., die von der Überleitung bei Vergil (dicite, Pierides; non omnia possumus omnes, ecl. 8,63) beeinflusst sind, erwecken ebenso wenig den Eindruck eines Wettgesangs. Sie leiten aber einen wertenden Vergleich zwischen den beiden Hirtengesängen ein, der sich bei Vergil nicht findet: Musae contraria carmina Batti / dicite, plus alijs alios sapuisse patebit. Ein zweiter Punkt, in dem Barlaeus makrostrukturell von Vergil abweicht, ist die Rolle der Magie: Sie nimmt bei Barlaeus einen viel größeren Raum ein, da auch der erste Hirtengesang (der des Morphon) ausführlich magische Praktiken schildert, während im ersten Gesang bei Vergil Damon lediglich die Untreue seiner Gattin beklagt und ankündigt, sich das Leben zu nehmen, ohne vorher den Versuch zu machen, die Gunst der Gattin zurückzugewinnen oder sich selbst vom Liebeswahnsinn zu befreien. Barlaeus expandiert also das Motiv der Magie, sodass es einen ähnlich großen Raum einnimmt wie in Theokrits zweitem Idyll: Dort versucht eine junge Frau den in der Stadt weilenden Delphis mit Hilfe von Magie zurückzuholen, wobei sich die Schilderung magischer Praktiken, mit deren Hilfe das Liebesbegehren der abwesenden Person geweckt werden soll, über das gesamte Gedicht erstreckt. Nach diesen Bemerkungen zu Parallelen in der Makrostruktur sollen im Folgenden mikrostrukturelle Parallelen zu den antiken Vorbildern Theokrit und Vergil sowie zu Senecas Medea und Ovids Ars amatoria und Remedia amoris erörtert und die Gesänge des Morphon und des Battus miteinander verglichen werden. Zunächst zum Gesang des Morphon:16 Er gliedert sich in zwei thematische Abschnitte, in die Vorgeschichte (V. 9-37) und den eigentlichen, in drei unterschiedlich lange Strophen gegliederten Zaubergesang (V. 38-79). Das Ende der einzelnen Strophen wird jeweils durch den Kehrvers prodite formosam mea carmina prodite Nisam markiert, der von dem Refrain im Alphesiboeus-Gesang bei Vergil beeinflusst scheint (ducite ab urbe domum, mea carmina, ducite Daphnim). In der Vorgeschichte schildert Morphon, wie ihm die geliebte Nisa zum ersten Mal begegnete: In Begleitung ihrer Mutter sah er sie vorübergehen, während er selbst mit der Feldarbeit beschäftigt war (V. 10-14). Dieses Motiv wird sowohl in Theokrits elftem Idyll (V. 24-29) ausgeführt als auch im Damon-Gesang bei Vergil (ecl. 8,37-41). Es lässt den Leser so an den verzweifelten und sich mit Selbstmordabsichten tragenden Damon denken, aber ebenso an den unglücklich verliebten Polyphem bei Theokrit, der sich ob seiner rustikalen Erscheinung ver–––––––––––– 16 „Morphon“ ist als Hirtenname in der Antike nicht belegt.

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schmäht sieht.17 Es folgt V. 27-32 das Motiv, dass der Ich-Sprecher seine Aufgaben als Hirt vernachlässigt, weil er vom Erscheinen des Mädchens abgelenkt wird. Auch dieses Motiv findet sich bei Vergil, allerdings in der siebten Ekloge: Dort ist es der Hirte Meliboeus, der im Zwiespalt ist, ob er den berühmten Sängern Corydon und Thyrsis lauschen oder seiner Arbeit als Hirt nachgehen soll.18 Anders als Meliboeus bleibt Morphon allerdings seinen Pflichten treu. Innerhalb dieser Vorgeschichte spielt das Motiv des Sprechens bzw. Nicht-Sprechens eine große Rolle: Das Mädchen geht zwar in Begleitung ihrer Mutter öfter an Morphon vorbei, doch zu einem Wortwechsel kommt es nicht und Morphon grüßt die beiden nicht einmal von sich aus, sondern erwartet, dass das Mädchen von sich aus grüßt. Als dies ausbleibt, phantasiert der verzweifelte Morphon, dass Nisa ihn ansprechen wollte und sie lediglich die Anwesenheit der Mutter daran hinderte. Er befolgt damit eine wichtige Vorschrift aus Ovids Ars amatoria gerade nicht: nimia est iuveni propriae fiducia formae, / expectat si quis, dum prior illa roget.19 Auch den in der Ars vielfach empfohlenen blanditiae20 schwört er V. 41f. ab. Morphon verweigert damit das obsequium gegenüber dem Mädchen, das die Ars eindringlich empfiehlt,21 und sucht stattdessen Zuflucht in der Magie, vor der die Ars ausführlich warnt.22 Mit Hilfe der Magie will er Nisa zwingen, die vermeintlich unausgesprochenen Gefühle preiszugeben und in Liebe zu ihm zu entbrennen: Nisa, per Aemonium adiuraberis, improba, rhombum (V. 38). Die Ankündigung erinnert an den ersten Kehrvers des zweiten Theokrit-Idylls Ἶυγξ, ἔλκε τὺ τῆνον ἐμὸν ποτὶ δῶμα τὸν ἄνδρα,23 doch schon in Vers 39 wird dies kontaminiert mit einem Element aus dem Damon-Gesang in Vergils achter Ekloge, nämlich mit dem Motiv der Götter im Himmel als Zeugen für die ungerechte Behandlung durch die Geliebte.24 Es folgt die Beschreibung der magischen Praktiken, die Morphon, während er singt, mit Hilfe eines puer ins Werk setzt: Zum einen will er versuchen, dem schlafenden Mädchen Worte zu entlocken, indem er Froschzungen,25 Schwalbenkot und das –––––––––––– 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Das Motiv findet sich überdies bei Mantuanus, ecl. 1,56-113. Verg. ecl. 7,8-17. Ov. ars 1,707f. Ov. ars 1,437-486. 616-630. Ov. ars 2,177-250. Ov. ars 2,99-106 und 415-426. Theokr. Id. 2,17 u.ö. Vgl. Verg. ecl. 8,19f. Die Kröte bzw. verschiedene Teile von ihr waren häufige Zutat von magischen Tränken, vgl. David Pickering: Lexikon der Magie und Hexerei (übers. v. Regina van Treeck), Augsburg 1999, s.v. „Kröte“. Zur magischen Kraft der Kröte bzw.

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Herz einer Krähe auf ihre Brust legt. Diese Methode ist ohne direktes antikes Vorbild, wenn man einmal davon absieht, dass auch Medea bei Seneca ein Vogelherz (cor bubonis, V. 733) zur Herstellung einer magischen Salbe verwendet. Falls diese Methode versagt, will er auf die Wirkung eines Liebestranks vertrauen. Auch wenn bei Theokrit oder Vergil andere Arten von magischen Praktiken erwähnt werden, stellt sich Morphon mit dem Brauen des Liebestranks ausdrücklich in eine Tradition, wenn er zugibt, dass Frauen – hier ist an die von Battus erwähnten thessalischen Hexen zu denken (V. 112) – sich zwar zuerst in dieser Kunst ausgezeichnet hätten, er aber beweisen wolle, dass auch ein Mann zu dieser Kunst fähig sei: ingeniis quanvis est hinc data gloria prima / faemineis, non ista viros latuisse patebit (V. 54f.). Das Vorbild von Senecas Medea spielt hier eine größere Rolle als das Theokrits und Vergils: Medea braut dort im vierten Akt mit Hilfe magischer Praktiken und der Göttin Hekate eine Salbe, die der Nebenbuhlerin Creusa, der Jason seine Liebe geschenkt hat, Verderben bringen soll. Zahlreiche Elemente des Ritus, wie ihn Medeas Amme und Medea selbst schildern, finden Parallelen im Gesang Morphons. So finden sich alle vier Ingredienzien, aus denen Medea das Gift für Creusa braut, auch im Gesang Morphons wieder, nämlich das Vogelherz (V. 48),26 die magischen Säfte (V. 57),27 die Zauberkräuter (V. 57)28 und die Giftschlangen (V. 58). Von letzteren verwendet Morphon (ebenso wie Alphesiboeus) die Eingeweide, Medea das Gift.29 Eine bukolische Note fügen die nur von Morphon, nicht aber von Medea verwendeten Zutaten Schwalbenkot und Wolfsschwanz hinzu: Menalcas, also ein bukolischer Hirt der Antike, hat ihm, wie Morphon V. 47 sagt, von den magischen Kräften des Schwalbenkots erzählt;30 den Wolfsschwanz erbeutete er, als ein Wolf nachts seinen Schafstall überfiel (V. 65-67).31 Auch die Wirkung des Zaubergesangs auf die Elemente wird in ganz ähnlicher Weise beschrieben wie bei Seneca, das Motiv movebo sidera coeli (V. 39) findet seine Parallele in Medea 757-761, die Wolken und die Geister –––––––––––– 26 27 28 29 30 31

des Frosches vgl. Walter Hirschberg: Frosch und Kröte in Mythos und Brauch, Wien 1988. Apollineae […] cor ferale volucris V. 48 und cor bubonis, Sen. Med. 733. Vgl. ibid. 718. Vgl. ibid. 706-730. exta dolosa V. 58 und Sen. Med. 680-704 sowie Verg. ecl. 8,71. Vgl. Verg. ecl. 8,95-100: Moeris hat der Sängerin des Alphesiboeus-Liedes magische Kräuter geschenkt. Der Wolf spielt in Vergils Bukolik eine wichtige Rolle: Verg. ecl. 2,63; 3,80; 5,60; 7,52; 8,52. 97; 9,54; Körperteilen des Wolfes wurden allerdings auch in Mittelalter und früher Neuzeit allgemein magische Kraft zugeschrieben, vgl. Pickering, 1999 (wie Fußn. 21), s.v. „Wolf“.

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der Unterwelt werden von Morphons Gesang ebenso gebannt: Zu his nubes, tellus, maria alta, Erebíque citantur (V. 72) lassen sich die Parallelen Medea 740-749, wo die Geister der Unterwelt beschworen werden, und Medea 754-756, wo die Wirkung auf die Wolken und die Wogen des Ozean beschrieben wird, nennen. Schließlich ist auch das Element des furor sowohl für Morphon als auch für Medea typisch. Beide ergeben sich willentlich dem furor: Dies wird deutlich aus Morphons Versen 41f., die zu Beginn des zweiten, von der Magie bestimmten Liedteils stehen,32 im Fall der Medea besonders Medea 52, wo die Protagonistin ankündigt, sich ganz dem furor ergeben zu wollen, außerdem Medea 401-414, wo Medea erneut deutlich macht, dass sie sich dem furor restlos ergibt und mit ihm Macht über die Elemente ausüben will.33 Der Morphon-Gesang endet mit der erfolgreichen Herstellung des Liebestrankes. Über den Erfolg der magischen Praktiken Morphons erfahren wir, anders als im anschließenden Gesang des Battus und im Alphesiboeus-Gesang, bei Vergil nichts. Der Gesang des Battus,34 der sich nach den überleitenden Versen 80f. anschließt, umfasst die Verse 82-193 und damit 40 Verse mehr als der Gesang Morphons. Wie dieser lässt er sich in die Vorgeschichte (V. 82104) und den eigentlichen Zaubergesang gliedern, dessen einzelne Strophen durch einen Kehrvers markiert werden. Schon an diesem Kehrvers pellite, crudeles mea carmina pellite flamas wird bei aller formaler Ähnlichkeit die inhaltliche Differenz sowohl gegenüber den antiken Vorbildern Theokrit und Vergil als auch gegenüber dem Morphon-Gesang deutlich: Der Zweck von Battus’ Zaubergesang ist es nicht, die ersehnte Person in denselben vom Liebeswahnsinn bestimmten Gemütszustand zu versetzen, in dem sich der Sänger befindet, sondern den Sänger vom Liebeswahnsinn zu befreien und stattdessen das Mädchen in Liebe entbrennen zu lassen. Die Ausgangssituation ist zunächst ähnlich wie im Morphon-Gesang: Der verliebte Sänger wurde von dem geliebten Mädchen mit Namen Doris verschmäht. Die Reaktion darauf ist allerdings eine völlig andere: Battus vergleicht sich, passend zur bukolischen Szenerie, zu Beginn seines Ge–––––––––––– 32 Vgl. bes. pro blanditiis furor esto, V. 41. 33 Vgl. weiterhin Medea 386-396 (die Amme stellt äußere Zeichen des furor an Medea fest) und 852 (der Chor spricht vom furor der Medea, den er bei ihren Zaubergesängen an ihr beobachtet hat). Als weitere Zutat, die nur Morphon verwendet, stammt der echinus (V. 67) ebenfalls aus der antiken Literatur: Nach Aristot. hist. nat. 14,505b und Plin. nat. 9,79 ist die echineis (modern: echineis remora = kleiner Schiffshalter) ein Ingrediens von Liebestränken (vgl. dazu Marion Gindhart: „Von Erntezauber und Meerestiermagie. Der Prozeß gegen Apuleius von Madaura“, in: Augsburger Volkskundliche Nachrichten 4, 1996, 7-34, hier 21). 34 Battus als Hirtenname bereits Theokr. Id. 4 sowie Ov. met. 2,676-707.

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sangs mit einem Stier, der der fliehenden Kuh nicht nachläuft, sondern stehen bleibt und sein Begehren zügelt (V. 82f.). Battus will keiner proterua virgo (V. 86f.) dienen und verweigert sich wie Morphon dem obsequium gegenüber der puella; er will anders als Morphon die proterua virgo sogar völlig vergessen. Aus Battus’ Worten wird klar, welche innere Verfassung ihn – im Unterschied zu Morphon – zu diesem Entschluss befähigt: Irrational war nur sein impetus (V. 97) gewesen, sich der Liebe zu ergeben, rational aber seine Reaktion auf den impetus: sed modus est, sapui (V. 100). Der amor hat ihn deshalb nie völlig in Besitz genommen (V. 98f.) und ihn nie ganz unbelehrbar gegenüber der Vernunft werden lassen (paene morae indocilis, V. 92). Der V. 97 genannte Begriff des impetus erinnert an die stoische Theorie der Affekte, wie sie z.B. Seneca in De ira formuliert. Auch die von Battus erwähnte mora wird bei Seneca als remedium eines Affektes (nämlich der ira) genannt,35 da sie Zeit für ein iudicium lasse. Dieses iudicium in Form eines assensus mentis ist aber nach Senecas stoischer Aufassung notwendig, damit sich aus einem bloßen impetus (auch Battus bezeichnet seine Verliebtheit V. 97 so) ein Affekt entwickeln kann.36 Nicht nur die stoische Affektentheorie wird hier durch Begriffe wie impetus und mora evoziert, sondern auch Anweisungen aus Ovids Remedia amoris, in denen V. 79-106 ebenfalls empfohlen wird, schon im Anfangsstadium der Leidenschaft Einhalt zu gebieten: Nam mora dat vires, wie dort V. 83 bemerkt wird. Eine weitere Parallele zu den Remedia stellt Battus’ Vorsatz dar, den Müßiggang zu meiden, da nur Untätige übermannt werden könnten (90f.): Dies entspricht den Anweisungen der Remedia 135-198, wo V. 169-198 ausdrücklich auf Beschäftigungen in der ländlichen Idylle verwiesen wird. Schließlich erwähnt Battus die Lethe, deren Wasser das Vergessen der Geliebten ermöglichen (Ipsius ebibita nunc sumam obliuia Lethe, V. 89): Auch die Remedia kennen diese Möglichkeit der Heilung, die Wasser des Lethaeus Amor.37 Etwas überraschend ist, dass Battus dann wie Morphon das Mittel der Magie wählt, und zwar einerseits als zusätzliches Mittel, um sich von seiner Leidenschaft zu kurieren, andererseits, um bei Doris Liebeswahnsinn hervorzurufen. Im Unterschied zu Morphon tritt er damit aber nicht in Gegensatz zur Ars und zu den Remedia: Zum einen stellen die Remedia nämlich die Entscheidung für oder wider die Magie als Heilmittel jedem selbst anheim38 und empfehlen am Ende sogar ein pflanzliches Heilmittel (ruta, V. 801f.), zum anderen rät die Ars nur deswegen von Liebestränken, die zur Erwiderung der Liebe anregen sollen, ab, weil sie keine dauerhafte –––––––––––– 35 36 37 38

Sen. dial. 4,29,1. Sen. dial. 4,3,4 und 4,4,2. Ov. rem. 551. Ov. rem. 249f.

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Liebe, sondern Wahnsinn erzeugten: Letzteres ist aber die Absicht des Battus, der sich gegen Ende seines Gesangs ausführlich ausmalt, welche Wahnvorstellungen Doris aufgrund des Liebestranks zu befürchten haben wird (V. 175-183). Zu Beginn des eigentlichen Zaubergesangs schildert er zunächst kurz, welche Mittel er selbst zu sich nahm bzw. zu einem Heiltrank verarbeiten will (V. 108-113; 156-160), dann, welches Mittel er Doris verabreichen will (V. 162-173. 177f.); außerdem schildert er Rituale, die die Wirkung des Heilmittels und des Liebestrankes verstärken sollen (V. 138-155).39 Als Heilmittel für sich selbst nennt Battus lediglich die Poleiminze (regale pullegium), Saft aus Weidenruten und Staub, in dem sich ein Maultier gewälzt hat (V. 108f. 112 sowie 156-158). Als Mittel, um Doris mit Liebeswahnsinn zu schlagen, werden neben einem ‘Hekatonkephalon’ die succi Ophiusaei genannt (V. 162. 177). Battus’ Beschreibung seiner Zubereitung der magischen Tränke für ihn und Doris lehnt sich an kein bestimmtes antikes Vorbild (wie z.B. Senecas Medea) an. Für einige von Battus erwähnte Zutaten ist jedoch eine entsprechende Verwendungsweise in der Antike bezeugt: So wird das V. 128 erwähnte Wasser des fons Cupidinis in der Nähe der kolchischen Stadt Cyzicus bei Plinius d.Ä. als Anaphrodisiakum erwähnt.40 Celsus 2,33 erwähnt das V. 108f. genannte pul(l)e(g)ium als Mittel gegen krankhafte innere Erhitzung. Außerdem verwendet Battus zumindest mit dem ‘Hekatonkephalon’ eine Zutat, für die schon in der Antike ein Gebrauch im Zusammenhang mit Liebeszauber bezeugt ist: Es handelt sich hier nämlich der Beschreibung in den Versen 162-166 zufolge um die Alraune, die seit der Antike als Aphrodisiakum verwendet wurde.41 Auch die succi Ophiusaei stellen einen eindeutigen Bezug zur Antike her: Das Adjektiv ist von ‘Ophiusa’ abgeleitet, einer Bezeichnung für verschiedene Mittelmeerinseln und eine Stadt am Schwarzen Meer, die nach ihrem vermeintlichen Schlangenreichtum benannt –––––––––––– 39 Das Ritual, das sich der Knochen einer bis auf das Skelett von Ameisen verzehrten Kröte bedient (V. 138-152 und 154f.), ist bei Pickering, 1999 (wie Fußn. 21) s.v. „Kröte“, beschrieben: Nach Pickering existierte in Ostengland der Aberglaube, so genannte Krötenmänner würden durch ein bestimmtes Ritual, das unter anderem vorsah, die tote Kröte von Ameisen bis auf das Skelett abnagen zu lassen, magische Kräfte durch einen der übrig gebliebenen Knochen gewinnen. 40 Plin. nat. 31,19. 41 Vgl. schon Theophrast, hist. plant. 9,9,1 (und dazu Christopher A. Faraone: Ancient Greek love magic, Cambridge/Mass. u.a. 1999, 126-130). In Mittelalter und früher Neuzeit wurden je nach Form Wurzeln männlichen und Wurzeln weiblichen Geschlechtes unterschieden. Die Alraune war in dieser Zeit auch ein wichtiges Mittel von Liebeszaubern (vgl. Vera Hambel: Verwendung und Bedeutung der Alraune in Geschichte und Gegenwart, Passau 2003, 56-86). Für die römische Antike vgl. Celsus medic. 3,18 (Schlafmittel); 5,25; 6,6; 6,9.

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wurden.42 Die succi Ophiusaei stehen somit vermutlich für Schlangengift, ein Ingrediens, das nicht nur Morphon, sondern auch Medea bei Seneca verwendet; Teile der Schlange werden außerdem schon bei Properz (3,6,28) in einem Liebeszauber verwendet. Die Verse 111f. (pateat non cuncta puellis / cognita Thessalicis) beziehen sich also wohl weniger auf die Mittel (die auch die antike Literatur erwähnt) als vielmehr auf die Intention, mit der Battus sie einsetzt: Er will aus ihnen kein Aphrodisiakum, sondern ein Anaphrodisiakum für sich herstellen, während das Mädchen in Liebe für ihn entbrennen soll. Eine solche Absicht ist Theokrits Simaitha und Vergils Alphesiboeus, aber auch Senecas Medea fremd und geht insofern über die magischen Praktiken der antiken Vorbilder hinaus. Aus dem Vergleich der Gesänge von Morphon und Battus vor dem Hintergrund antiker Vorbilder haben sich Kriterien ergeben, auf Grund derer das bukolische Ich in den oben zitierten überleitenden Versen 80f. einem der beiden Gesänge den Vorzug geben kann. Die Formulierung plus alijs alios sapuisse (V. 81) kann sich nur darauf beziehen, dass einer der beiden Hirten, nämlich Battus (und andere, die ebenso handeln wie er), aus der Perspektive des bukolischen Ichs betrachtet rationaler agiert als der andere Hirt, Morphon. Battus ist nämlich imstande, seine Leidenschaft zu kontrollieren und Methoden anzuwenden, wie sie Ovids Remedia amoris empfehlen. U.a. durch Begriffe wie impetus und mora evoziert er das stoische Affektmodell. Morphon dagegen geht weder im Anbahnen der Liebesbeziehung im Sinne der Ars amatoria besonders geschickt vor noch wendet er nach dem Scheitern dieser Bemühungen remedia amoris an. Battus liefert aber nicht nur einen Gegenentwurf zu Morphons Verhalten, sondern auch zum Verhalten beispielsweise des Aepolus in Barlaeus’ zweiter Ekloge, der vergeblich mit Geschenken um Galatea wirbt, sich maßlos in Liebeswahnsinn hineingesteigert hat und sogar in die persona Sapphos schlüpft, um Galatea zum Einlenken zu bewegen.43 Battus weicht ebenso vom antiken Vorbild zum typischen Verhalten verliebter Hirten bei Vergil und Theokrit ab (dies könnte im Übrigen den Plural alii V. 81 erklären). Besonders deutlich wird dies in den Worten sed modus est, sapui (V. 100), die einen deutlichen Kontrast zur Klage Corydons in Vergils zweiter Ekloge (quis enim modus adsit amori?)44 oder auch zu Gallus’ verzweifelter Resignati–––––––––––– 42 Insel in der Propontis (Plin. nat. 5,151); Insel bei Kreta (Plin. nat. 4,61); Formentera (Plin. nat. 3,78); Rhodos (Plin. nat. 5,132); Zypern (Ov. met. 10,229); Stadt Tyras (Val. Fl. 6,85). 43 Vgl. 2,21-44. 51-65. 229-313. 44 Verg. ecl. 2,68.

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on in Vergils zehnter Ekloge (omnia vincit Amor: et nos cedamus Amori)45 darstellen. Der Verg. ecl. 2,69 erwähnten dementia Corydons steht bei Barlaeus die rationale Entscheidung des Battus gegenüber, sich nicht hemmungslos dem Liebeswahnsinn zu ergeben. Auch hat Battus erkannt, dass es sinnlos ist, mit materiellen Geschenken um die Gunst der Geliebten zu buhlen, wie dies wortreich Corydon bei Vergil tut.46 Dem Corydon Vergils ist diese Erkenntnis verwehrt und sein Werben um Alexis zum Scheitern verurteilt. Offen bleibt bei Barlaeus auch, ob Morphons Praktiken Erfolg haben werden. Battus jedoch kann am Ende seines Gesangs triumphierend bemerken: parcite, depulsis mea carmina parcite flamis (V. 193).

–––––––––––– 45 Verg. ecl. 10,69. 46 Verg. ecl. 2,56.

Hardys Didon se sacrifiant. Ein ‘Kommentar’ zum vierten Buch der Aeneis? MARIA MATEO DECABO (Berlin) Der vorklassische Dramenautor Alexandre Hardy (um 1575-1632) hat sich zeitlebens ohne nachweisbare Gegenstimme gerühmt, niemals gegen den Vertrag verstoßen zu haben, als „poète à gages“ (Truppendichter) seinem Theaterdirektor auf Wunsch so viele Bühnendichtungen auszuhändigen, wie dieser wünscht, und also in 30 Jahren mindestens 600 Theaterstücke – Tragikomödien, Schäferspiele, Intermezzi, Komödien, Tragödien – verfasst zu haben. Nur wenige davon sind erhalten geblieben, und zwar nur jene, die Hardy, seit 1622 „poète du roi“, in seiner fünf Bände und 33 Dramen umfassenden Werkausgabe1 selbst publiziert hat. Darunter hat er der Tragödie Didon se sacrifiant2 einen programmatischen Ehrenplatz eingeräumt, nämlich als Eröffnungsschauspiel des ersten Bandes.3 Nicht nur wegen seiner Hochachtung des als „ernstesten, mühsamsten und wichtigsten“4 angesehenen Genres, sondern vor allem wegen der überdurchschnittlich sorgfältigen Komposition mag der Vielschreiber Hardy sie als Lockmittel für sein Lesepublikum eingesetzt haben. Es ist offensichtlich, dass der heute fast in Vergessenheit geratene „größte französische Dramatiker des ersten Viertels des 17. Jahrhun–––––––––––– 1

2 3 4

Im 19. Jahrhundert neu herausgegeben: Edmund Stengel (Hg.): Le théâtre d’Alexandre Hardy. 1. Neudr. der Dramen von Pierre Corneille’s unmittelbarem Vorläufer nach den Exemplaren der Dresdener, Münchener und der Wolfenbütteler Bibliothek, 5 Bde., Marburg u. a. 1883-1884. Im Folgenden DSS, zitiert nach der neuen kommentierten Ausgabe: Alan Howe (Hg.): Didon se sacrifiant. Tragédie, Genf 1994 (Textes littéraires français 440). Vgl. Alexandre Hardy: Théâtre. Didon, Scédase, Panthée, Méléagre, Procris, Alceste, Ariadne, Alphée, Paris 1624, Bd. 1. Vgl. Stengel, 1883-1884 (wie Fußn. 1), Bd. 5, 4 (Übers. d. Verf.). Dies ist bereits eine Reminiszenz an den Pléiade-Dichter Ronsard (1524-1585), der sich lebenslang gegen das Verfassen von Tragödien gesperrt hatte, mit der Begründung, dem hohen Genre der Alten nicht gewachsen zu sein; seine Rolle als Divulgator des Alexandriners – später das tragische französische Versmaß schlechthin – ist trotzdem auch für die Tragödie nicht zu unterschätzen.

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derts“5 sich bei der Abfassung seiner Didon zu großen Teilen vom vierten Buch der Aeneis hat inspirieren lassen: Von den 2026 Versen seiner 16246 von ihm selbst herausgegebenen Dido7-Tragödie sind 353 Alexandriner direkte Übernahmen von 232 Hexametern Vergils. Ich werde daher zuerst auf die Fragestellung des Titels zu sprechen kommen, nämlich was an Hardys Tragödie in seiner Bezugnahme auf Vergil kommentarhaft ist. Nach einem kurzen Überblick über VersKorrespondenzen, Beobachtungen zu antikisierenden Form-Elementen (Syntax, Chöre) und einer Zusammenfassung der Didon will ich den Fokus auf die Unterschiede legen: Welche Auswirkungen haben diese Änderungen für die Gesamtaussage des jeweiligen Werkes? Das bei Vergil zentral diskutierte Problem von Determiniertheit oder Freiheit der Helden soll dabei als Leitmotiv bei meinem Durchgang durch Hardys Tragödie dienen. Stimmen Plot und Personal bei Hardy und Vergil auch im Großen und Ganzen überein, so werden dahingegen die Handlungen unterschiedlich oder eindeutiger motiviert und andere Intertexte aufgerufen – es hat den Anschein, als ob Hardy einige der bei Vergil angelegten, aber aufgrund ihrer Offenheit kontrovers auslegbaren Interpretationsstränge auf eine Deutungsmöglichkeit reduzieren würde. Damit scheint er sie zwar –––––––––––– 5 6

7

Vgl. Monique Chantal Boissier White: The Dido Fable in French Tragedy: 15601693, Ann Arbor/MI u.a. 1975 (Diss. Nashville/TN), 104 (Übers. d. Verf.). Die Beliebtheit dieses Bandes belegen die zweite Auflage von 1626 und eine Raubkopie aus Frankfurt von 1625. Das genaue Datum der Uraufführung ist umstritten. Den Brüdern Parfaict zufolge war die Premiere des Stückes im Hôtel de Bourgogne bereits 1603, vgl. François Parfaict: Histoire du théâtre françois depuis son origine jusqu’à présent, 15 Bde., Paris 1745, hier Bd. 4, 20-22, u. Claude Parfaict: Dictionnaire des théâtres de Paris, 7 Bde., Paris 1767, hier Bd. 2, 306. Eugène Rigal bestreitet in der bis heute in ihrer Ausführlichkeit einzigartig gebliebenen Monographie zu Hardy [Alexandre Hardy et le théatre français à la fin du XVIe et au commencement du XVIIe siècle, Paris 1889, 74-78] dieses Datum. Raymond Lebègue [„La date de la Didon de Hardy“, Revue d’Histoire Littéraire de la France 34, 1932, 380-382] schließlich kommt wegen der angeblichen Nachahmung Hardys von einigen Chorversen aus dem 2. Akt von Jean de Schélandres Tyr et Sidon zu dem Ergebnis, dass Hardys Didon erst nach 1608 entstanden sein kann. Ausgleichend schlägt Sophie Wilma Deierkauf-Holsboer in ihrer Hardy-Biographie [Vie d’Alexandre Hardy, Paris 21972, 379] als terminus ante quem für Didon se sacrifiant das Jahr 1610 vor, während der Herausgeber der hier verwendeten Ausgabe, Alan Howe, dafür die Jahre 1620-1621 ansetzt, vgl. Howe, 1994 (wie Fußn. 2), 22. Alle Eigennamen, die im Vergilischen Epos vorkommen, werden in ihrer üblichen deutschen Schreibweise wiedergegeben, alle anderen in der französischen Schreibweise belassen.

Hardys Didon se sacrifiant. Ein ‘Kommentar’ zum vierten Buch der Aeneis?

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ihrer Mehrdimensionalität zu berauben, gleichzeitig aber auf diese Weise mit seinem dichterischen Werk eine Art Vergil-Kommentar vorzulegen. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft heißt es, dass Kommentare u.a. „den verbalen und realen Aufschluß eines Textes zum Zwecke der Belehrung (doctrina), Nachahmung oder der wetteifernden Überbietung (aemulatio, imitatio) zum Ziel“ hätten.8 Diese Bestimmung rückt den Kommentar in die Nähe der Rezeption und scheint dem, was Hardy in seiner Tragödie zu realisieren versucht, recht nahe zu kommen: nicht eine Übertrumpfung Vergils im Sinne einer völligen Neuerung oder Neuinterpretation des Themas, sondern eine Konkretisierung des bereits Angelegten. Diese belehrt und überbietet, insofern sie eben anderes Angelegtes ausgeschlossen hat. Die Gattungsänderung vom Epos zum Drama beispielsweise ist eine Ausgestaltung der bei Vergil mit vielen Passagen wörtlicher Rede angedeuteten dramatischen Form unter Ausschluss aller epischen Momente und Vergleiche; gleichzeitig evoziert Hardys ‘kommentierende’ Tragödie die Haltung, die antike Tragödien, wie der Aias des Sophokles gegenüber der Homerischen Ilias, gegenüber den Epen einnehmen können. Bei der Gegenüberstellung von Hardys Tragödie und Vergils Epos ergeben sich im Detail folgende Korrespondenzen:

–––––––––––– 8

Vgl. Ralph Häfner: „Kommentar1“, in: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin u.a. 32000, 298-302, hier 300.

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Tab.1: Übersicht der Korrespondenzen zwischen Hardy, DSS und Verg. Aen. 4 9

Hardy, DSS 2. Akt 285-310 3. Akt 621-626 646-692 695-712 805-840 841-880 953-971+974-975 972-973 4. Akt 1067-1084 1085-1094 1102-1103 1293 1295 1307-1308 1321-1326 1335-1338 1342-1356 1359-1376 1411-1446 5. Akt 1749-1756 1809-1824 1831-1848 1936-1939 1940-1947

Verg. Aen. 4 196-218 402-405a+407b 305-330 333b-339 340-361 365-387 424-436 421b-423 560-570 573b-579a 556-559 467a-468 460-461a 454-455 591-594 595-596 600-606 607-618a 478-498a 634-639 620-629 651-662 684-685 675-683a

Damit weist sich Hardys Vergilrezeption stellenweise als relativ treue Eins-zu-Eins-Übertragung10 des vierten Aeneis-Buches aus. Es liegt auf der Hand, dass diese Vorgehensweise in einem Frankreich, das erst seit Du Bellays La Deffence, et Illustration de la Langue Françoyse (1549) der eigenen Muttersprache erstmalig die Kompetenz einräumt, die von den Alten wegen ihres Vorbildcharakters zu imitierenden Sujets ebenbürtig wieder–––––––––––– 9

Vgl. auch Konrad Meier: Über die Didotragödien des Jodelle, Hardy und Scudéry, Zwickau 1891 (Diss. Leipzig), 21, und die nach den einzelnen dramatis personae geordnete Korrespondenz-Übersicht in Howe, 1994 (wie Fußn. 2), 28f. 10 Anders White, 1975 (wie Fußn. 5), 159, die in Hardys Vorgehensweise nur eine Übernahme von Bildern, rhetorischen Formulierungen und Qualifizierungen sehen will.

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zugeben, nicht der Hauch eines Plagiat-Vorwurfes oder Originalitätsmangels umwehte. Doch einige der als besonders antikisierend ins Auge fallenden formalen Merkmale seiner Tragödie haben ihren Ausgangspunkt erstaunlicherweise ganz im Zeitgenössischen und nicht nur – wie man gerade auf den ersten Blick zu glauben geneigt wäre – in der imitatio veterum. Seine von dem Pariser Literaturkritiker François de Malherbe stark gescholtene Vorliebe für latinisierende Satzkonstruktionen beispielsweise findet ihren Ursprung nicht in einer falsch verstandenen sklavisch treuen Nachbildung Vergils, sondern ist eine Hommage an den von Hardy sehr geschätzten und ästhetisch als Paradigma angesehenen PléiadeDichterkreis um Ronsard und Du Bellay. Diese Bewunderung findet ihre Fortsetzung auch in der expliziten Anlehnung an Du Bellays Übersetzung11 des vierten Buches der Aeneis. Natürlich ist sie überdies auch ein Nachweis für seine klassische Bildung, mit der wohl nicht jeder „AutorSchauspieler“12 seiner Zeit, dessen Karriere in der französischen Provinz mit Stücken für den Massengeschmack ihre Anfänge nahm, aufwarten konnte. Wenn Hardy in seine Dido-Tragödie Chöre einführt, so will er damit nicht den Epiker Vergil im formalen Bereich explizieren und dessen auch in der modernen Vergilforschung außer Zweifel stehende Dramenhaftigkeit quasi vervollkommnen.13 Hardy, der im Vorwort seiner Didon die Chöre an sich als zu tilgendes, überflüssiges Element14 bezeichnet hatte, ohne sie jedoch aus dieser Tragödie zu entfernen, dienen sie zwar in Anlehnung an ihre antike Funktion auch zur moralischen Selbstreflexion über das Stück selbst,15 vordringlich aber zur Spannungssteigerung16 – was –––––––––––– 11 Eine Übersicht aller zu Hardys Zeiten existierenden Übersetzungen Vergils in französischer Sprache findet sich in: Alice Hulubei: „Virgile en France au XVIe siècle“, Revue du seizième siècle 18, 1931, 1-77; eine Diskussion der von Du Bellay übernommenen Wendungen in: Howe, 1994 (wie Fußn. 2), 32-36; für Du Bellays Übersetzung vgl.: Henri Chamard (Hg.): Joachim Du Bellay, Œuvres Poétiques, 8 Bde., Paris 1991, Bd. VI, 256-306 [1552]. 12 Vgl. Deierkauf-Holsboer, 21972 (wie Fußn. 6), 21. 13 Vgl. dazu beispielhaft Eduard Norden: „Bildungswerte der lateinischen Literatur und Sprache auf dem humanistischen Gymnasium 1920“, in: Ders.: Kleine Schriften zum klassischen Altertum, Berlin 1966, hg. von Bernhard Kytzler, 583607, hier 597: „[Vergils] Dido ist eine Tragödie, die einzige römische, die den Namen verdient“; im gleichen Sinne auch Richard Heinze: Virgils epische Technik, Leipzig 31915, 119, und Karl Büchner: „Vergil, der Dichter der Römer“, RE 8,2 A, 1958, Sp. 1266-1486, hier: Sp. 1366 u. 1373. 14 Vgl. Stengel, 1883-1884 (wie Fußn. 1), Bd. 1, 5. 15 Vgl. White, 1975 (wie Fußn. 5), 116.

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gerade hinsichtlich der anderen Renaissance-Tragödien seiner Zeit eine erhebliche Neuerung und Wegbereitung für die klassische französische Tragödie darstellt.17 Auch die dem nun folgenden Resümee entnehmbaren augenfälligsten Abweichungen vom vierten Buch der Aeneis lassen sich mit dem Bestreben nach einem dramatischen Spannungsverlauf erklären: So beginnt Hardys Drama im gänzlich ohne Vergil-Reminiszenzen auskommenden ersten Akt mit der Unschlüssigkeit des Aeneas, die erst in einem an die Götter, im Besonderen Jupiter und Apollo, gerichteten Monolog, dann im Gespräch mit den Gefährten Achates und Palinurus zum Ausdruck kommt. Dido war, anders als bei Vergil, nicht durch Fama, sondern durch Sychaeus’ Schatten im Traum vor dem Verlassenwerden gewarnt worden. Der Phönikerinnen-Chor stimmt ein Freudenlied an, das die bevorstehende Hochzeit der beiden Fürsten ankündigt und eine Korrelation zwischen dem Glück des Paares und einer Abwendung der Welt von Zwietracht und Krieg wünscht (DSS 233f.). Der zweite Akt wird durch den zwar an Vergil angelehnten Zornes-Monolog des Jarbas eröffnet, dieser richtet sich aber nicht so sehr an seinen Vater Jupiter wie an seinen Berater Thérodomante, welcher sich anschickt, in Karthago Erkundigungen über die wahren Verhältnisse einzuholen. Nachdem sich Aeneas nach langem Ringen dank Achates für einen Abschied von Dido entschieden, sein Sohn Ascanius abfällige Bemerkungen über dieses schon zu lange währende Intermezzo von sich gegeben und der Chor der übrigen Troer die Möglichkeit einer Rache Didos prophezeit hat, erfolgt im dritten Akt die auch bei Vergil als Klimax angelegte Aussprache zwischen Dido und Aeneas. Sie wird von Didos Schwächeanfall unterbrochen, zu deren Versorgung der Phönikerinnen-Chor herbeieilt, wobei er die Liebe seiner Königin als Krankheit der Vernunft und die Schicksalskette besingt, die ihr Volk unheilvoll mit dem Dardaner verbindet. Nachdem die wieder zu sich gekommene Dido ihre Schwester angefleht hat, zum Hafen zu Aeneas zu eilen und den Aufschub seiner Ausfahrt zu erwirken, ertönt der alle zuständigen Götter um eine segensreichere Überfahrt bittende Troerchor. Zu Beginn des vierten Aktes warnt Merkur Aeneas im Traum vor Didos Rache, woraufhin Aeneas das Signal zum baldigen Ablegen gibt. Als Anna so weit geht, ihre und Didos Mitfahrt zu fordern, verspricht Aeneas seine baldige Rückkehr nach Gewinnung des italischen –––––––––––– 16 Vgl. White, 1975 (wie Fußn. 5), 133, u. Howe, 1994 (wie Fußn. 2), 48. 17 Vgl. z.B. die 1574 gedruckte, vermutlich bereits 1560 entstandene Dido-Tragödie von Hardys Vorläufer Etienne Jodelle (Jean-Claude Ternaux (Hg.): Etienne Jodelle, Didon se sacrifiant, Paris 2002 [Textes de la Renaissance 62]). Zu dessen geringem Bemühen um Spannungserzeugung vgl. Howe, 1994 (wie Fußn. 2), 37.

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Reiches für Ascanius. Der Akt endet vergilisch mit Didos Abkehr von sofortiger Racheausübung, ihrer Heraufbeschwörung einer tyrischtroischen Erbfeindschaft und der Ankündigung des fingierten Liebeszaubers einerseits und einem Lied der Tyrer andererseits, welches in Anlehnung an den Mythos um Herkules und Omphale die Selbstüberwindung als wahre Herkulestat feiert. Der fünfte Akt beginnt – hierin der Aeneis ähnlich – mit dem Anna vorgespielten Opfer und, nach Anrede der exuviae des Aeneas, mit dem Selbstmord Didos durch dessen Schwert; er endet unvergilisch mit deren schnellem Tod, dem vom Chor der Tyrer nur knapp abgewendeten Selbstmord Annas und der Freude eines Boten des Jarbas über die durch Didos Tod und die Aeneas’ Flucht widerfahrene Genugtuung für seinen Herrn. Doch wie nun im Folgenden in einem genaueren Durchgang durch die Didon zu zeigen ist, erzeugt Hardy die spannungssteigernden Änderungen und Auslassungen nicht um der reinen dramatischen Wirkung willen, sondern berührt damit auch die Kernbotschaft des Textes: Sie gehen mit einer Umgestaltung der Motivik des stark an Vergil angelehnten und darum relativ bekannten Plots einher.18 Wie schon in der Antike sieht sich der Dramatiker in der Pflicht, sein Publikum durch eine eigene Ausgestaltung kleinteiliger Nebenaspekte zu überraschen bzw. durch einige Aktualisierungen einen Bezug zu dessen Lebensrealität herzustellen. Eine dieser Änderungen betrifft beispielsweise den Götterapparat: Es ist bezeichnend, dass er komplett in das Innere der Helden verlagert worden ist.19 Diese Vorgehensweise scheint einen breiteren Antwortrahmen auf die Frage nach der Determiniertheit bzw. dem freien Willen der AeneisProtagonisten zu eröffnen.20 Die in Monolog-Szenen angerufenen Götter dienen nur als äußerer Motivationsrahmen für die Auslassungen, auf die –––––––––––– 18 Hulubei, 1931 (wie Fußn. 11) kommt allein in der Lebensspanne Hardys im 16. und 17. Jahrhundert auf etwa 60 Übersetzungen des vierten Aeneis-Buches ins Französische. Überdies hatten sich vor Hardy schon die Dramatiker Etienne Jodelle (Uraufführung 1552?), Jacques de la Taille (UA 1560), le Breton (UA 1570) und Guillaume de la Grange (UA 1576) demselben Sujet gewidmet. Hinsichtlich der unveränderten Plot-Übernahme der Aeneis vgl. F. K. Dawson: „Alexandre Hardy and Seventeenth Century French Tragedy“, Renaissance and modern studies 3, 1959, 78-94, hier: 81. 19 Auch dies ist für Rigal, 1889 (wie Fußn. 6), 269, ein Beweis für die ihre Schatten vorauswerfende Klassizität in Hardys Tragödie. 20 Wenn schon Meinolf Vielberg für die Aeneis zu dem Ergebnis kommt, dass Freiheit, Verantwortung und Schuldfähigkeit trotz göttlichen Eingreifens gegeben seien, in wie viel höherem Maße müsste dies dann für Hardys Tragödie Geltung beanspruchen, vgl. Meinolf Vielberg: „Zur Schuldfrage in Vergils Aeneis“, Gymnasium 101, 1994, 408-428, hier 418f.

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indes immer das jeweilige mitmenschliche Umfeld reagiert. Fama wird in Didos Fall durch ihr materialisiertes schlechtes Gewissen, das ihr im Traum in der Gestalt ihres Gemahls erscheint (DSS 161-171), bei Jarbas durch das vorangehende Chorhochzeitslied (DSS 333f.) würdig vertreten.21 Das Erscheinen Merkurs wird von Aeneas als bloße Notlüge (DSS 834-838) angeführt; seine Manifestation im Traum ist nicht nur, aber auch als Angst und Scham über die eigene Frevelhaftigkeit lesbar. Der Phönikerinnen-Chor (DSS 916) knüpft zwar an Vergils Diskurs an, der die Liebe als Krankheit ansieht,22 ohne aber die Götter dabei ins Spiel zu bringen.23 Die Vergilische Gegenüberstellung von pietas gegenüber den Menschen und pietas gegenüber den Göttern ist einer Auseinandersetzung gewichen, in der pietas, ganz dem menschlichen Bereich verhaftet, nicht eindeutig einem Diskursfeld zugeordnet werden kann, sondern zwischen zweien hin und her changiert – dem der Liebe und dem der Heldenehre. Daraus ergibt sich, dass sich der Hardy’sche Aeneas in Bezug auf seine Liebesfähigkeit selbst als perfidus (DSS 425) und impius (DSS 400) bezeichnet und sich des Meineids bezichtigt (ebd.) bzw. dass auch der Chor der Troer selbst seinen Anführer einen Didos Rache verdienenden „meineidigen Theseus“ (DSS 593) schimpft. Völlig umsonst versucht Achates zu Anfang Aeneas mit den Worten umzustimmen, dass Jupiter, selbst ein unsteter Schürzenjäger, Liebestreuebrüche nicht ahnde (DSS 129-132) und dass pietas nur im Krieg, in Abenteuern und Eroberungen unter Beweis gestellt werden könne. Hardy legt im Gegensatz zu Vergil von Anfang an den Fokus auf den Troerfürsten und dessen Dilemma: Er zeigt uns einen Aeneas, der ratlos –––––––––––– 21 Die Nähe zwischen dem Schatten des Sychäus bzw. dem Hochzeitslied und Fama ist auch am lexikalischen Feld ihrer jeweiligen Qualifikationen ablesbar: Sie alle werden mit dem Wind verglichen, vgl.: „vent […] sifflant“ [„zischender Wind“] (DSS 175) bzw. „un vent“ (DSS 320) und velocius (Aen. 4,174), sese attollit in auras (Aen. 4,176) und stridens (Aen. 4,185). 22 Vgl. Antonie Wlosok: „Vergils Didotragödie. Ein Beitrag zum Problem des Tragischen in der Aeneis“, in: dies.: Res humanae − res divinae. Kleine Schriften, Heidelberg 1990, 320-343, hier bes. 331 u. 341. 23 Auch Anna wird später nach Didos Tod diese Krankheits-Metapher (DSS 1919f.) aufnehmen, in einer an Aen. 4,411 angelehnten Passage (DSS 1909-1924), die sich explizit gegen Amor – hier als Ausgeburt der Furien bezeichnet – und das ungerechte Schicksal richtet. Diese Exculpatio-Strategie, die von dem einige Verse zuvor durch den die Führungslosigkeit fürchtenden Tyrer-Chor verhängten Freispruch Annas (DSS 1896-1898) eingeleitet wird, bereitet den Entschluss zum Nicht-Selbstmord logisch vor und steht im Gegensatz zu der in den Versen 12751290 vorgebrachten Selbstanklage Annas. Im Übrigen wird Amor meist als Bruder des Aeneas bezeichnet (DSS 414, 731f., 1005f.) und der Liebeskonflikt so auch zu einem Bruderstreit stilisiert.

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und unentschieden die Existenz eines anderen, den Trojanern in einem höheren Maße als Karthago Ehre und Glück bescheidenden Ortes anzweifelt (DSS 37-40). Erfüllt ihn der Gedanke an Ascanius zwar auch mit Hoffnung und Sorge (DSS 47), so kann er doch seine Unentschlossenheit angesichts der dunklen Vorhersagen für die Zukunft, der Erinnerung an vergangene unglückliche Ereignisse und der gegenwärtigen Annehmlichkeiten (DSS 51-54) nicht mindern: Aeneas vergleicht sich selbst mit einem Wanderer an der Gabelung zweier Wege, deren Endpunkte im Ungewissen liegen (DSS 57-60). Die Erwägung, sein Verhalten zu ändern und abzufahren, erscheint ihm als Abfall von sich selbst, als Selbstentfremdung (DSS 63); trotzdem lässt er sich die Vorbereitung eines möglichen negativen Bescheides für Dido und dessen Folgen bereits durch den Kopf gehen (DSS 61-63). Darin, dass in Karthago wirklich alles Freude bereite, stimmt auch Achates mit Aeneas überein (DSS 70); er erinnert ihn daran, dass es undankbar wäre, die Wohltaten der Götter zurückzuweisen (DSS 73-76). Durch diese Worte scheint in Aeneas die Erinnerung an die Strapazen der vergangenen Irrfahrten zu verblassen und das aktuelle ‘süße Nichtstun’ rückt ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit: Er qualifiziert es nun – darin sowohl dem stoischen Ideal einer vita activa als auch der RitterIdeologie der französischen Epen des Mittelalters und der zeitgenössischen Ritterromane verpflichtet – als „Pest“. Die Alternative steht nun klar vor seinen Augen: Entweder die Troer beschränken ihre Ruhmeserwartungen auf Karthago, oder sie setzen ihre „erreurs“ fort (DSS 80) – womit Aeneas zwar die Irrfahrten anspricht, jedoch auch Irrtümer gemeint sein können.24 An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass die von den Fata und Jupiter gelenkte Teleologie der in der Aeneis geschilderten Mission ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Der innere Zwiespalt des Helden hat nichts mehr mit einer Gottesgesandtschaft zu tun; genealogische Gedanken werden nur am Rande erwähnt. Es scheinen eher zwei verschiedene Lebensmodelle zur Debatte zu stehen: das des durch Annehmlichkeiten verweichlichten und das des durch Abenteuer gestählten Helden. Ganz besonders wird dies später in dem Gespräch zwischen Ascanius, Achates und Palinurus deutlich: Darin beschimpft Ascanius die „feigen“ (DSS 481), „faulen“ (ebd.) und „effeminierten“ (DSS 491) Männer, die dem Schicksal als Lohn für ihre Mühen nur „Didos Busen“25 –––––––––––– 24 Dieses Wortspiel wird später von Anna aufgegriffen, wenn sie Dido verspricht, sie werde Aeneas dazu bewegen, dem Plan seiner „erreurs“ eine andere Wendung zu geben (DSS 978). 25 Diese Formulierung erscheint eingedenk der Vergilischen Erzählung, wo Dido pectore toto (Aen. 1,717) an Cupido-Ascanius hängt, eine besondere Spitze gegen sie zu sein.

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(DSS 483f.) abverlangen, und erhebt den stets auf Kampf um Leben und Tod gesinnten Hektor26 zum Paradigma eines Mannes und zu seinem persönlichen Vorbild; zwar erinnert er auch in einem Vers an die Weisungen der Götter (DSS 502), doch der Hauptton der 26 Verse umfassenden Passage liegt vordringlich darauf, das Risiko des „verliegenden Ritters“ zu umgehen. Teil des angenehmen Lebens in Karthago ist für Aeneas auch die Liebe Didos. Während Achates die Liebe mit dem Skorpionengift vergleicht, das, obwohl von einem der Größe nach harmlos wirkenden Tierchen stammend, schwere Symptome hervorruft, und begütigend hinzufügt, dass dieser Stachel eben jeden Menschen treffen könne (DSS 97-102), betont Palinurus, dass Aeneas als Göttinnensohn und unbezwingbarer Heros (DSS 107) eben nicht Jedermann und die Eroberung eines zweiten Troja an sein Handeln gebunden sei (DSS 111). Liebe und Leidenschaft bezeichnet er hinsichtlich dieser Schicksalskette als unentschuldbare vitia, denen sich zu ergeben ein Zeugnis von Bosheit, also vom Gegenteil der pietas, sei (DSS 112-114). In seiner Entgegnung offenbart sich Aeneas als Feind der Wonne (DSS 121), aber in ebensolchen Maße auch der „Rohheiten“ (DSS 122), des Freundschaftsbruches27 (DSS 123) und der Undankbarkeit (DSS 124), er klagt sich der mangelnden pietas an und ruft sich dafür selbst in den Zeugenstand (DSS 127). Nun greift auch Achates gegen Aeneas im Sinne des Palinurus in die Debatte ein: Dabei rekurriert er auf den Vergilischen Jagddiskurs, der Dido als Figuration der Diana ausweist. Aber anders als der Vergilische Schäfer, der von dem der Hirschkuh beigebrachten Pfeil nichts weiß, stellt Achates heraus, dass Dido dem Aeneas ins bewusst ausgelegte Netz gegangen sei (DSS 134). In diesem Netz, das um der Rettung aus der Not willen ausgelegt worden war, stünde Dido demzufolge nur eine zum Tausch- oder Zahlungsmittel deklassierte Liebe zu (DSS 135), deren Intensität und Dauer eben auch nicht den Wert der erhaltenen Hilfe zu übersteigen habe. Aus Aeneas’ darauf folgender Erwiderung wird klar, dass er um die Folgen seiner Abfahrt, nämlich Didos Tod, weiß; er führt nun seine Fürsten-pietas gegenüber dem gastfreundlichen, hernach herrscherlosen Tyrervolk ins Feld (DSS 141f.). –––––––––––– 26 Wie bei Vergil ist Hektor überdies auch Ascanius’ Oheim. 27 Der Hardy’sche Aeneas sieht seine Verbindung zu Dido wie der Vergilische nicht als Ehebündnis an, sondern spricht von „amitié“, wobei zu beachten ist, dass im französischen Minnesang die Geliebten sich grundsätzlich als „ami“/“amie“ anzureden pflegen – was den Gegensatz zwischen der institutionell geschlossenen Ehe und der frei gewählten, nur außerhalb der Ehe möglichen Liebe markiert, welcher – zumindest rhetorisch – der Vorzug gegeben wird. Dido selbst sieht sich als „épouse“, als „Ehefrau“ (DSS 966).

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Ist durch die Eingangszene die Zerrissenheit des Hardy’schen Aeneas zwischen zwei Lebensmodellen und zwei Formen der pietas zum Ausdruck gekommen – welche der Vergilische Held nicht kennt, da der durch Merkur wieder ins Bewusstsein gerückte göttliche Auftrag zwar Abschiedsschmerz, aber keinerlei auch nur theoretische Alternativreaktion in ihm auslöst –, bietet Didos und Annas erster Auftritt dem Zuschauer eine Folie, die vor tragischer Ironie nur so strotzt. Anna hält der vom Sychaeus-Traum in Unruhe versetzten und dadurch nun auch Aeneas’ Worte anders gewichtenden28 Dido die göttliche Abstammung des Troers als Beweis für dessen Redlichkeit vor Augen (DSS 185). Dieser göttliche Hintergrund des Aeneas war aber auch schon Palinurus’ Hauptargument für die Helden-pietas und damit für den Aufbruch von Karthago und gegen die Liebes-pietas gewesen. Anna jedoch setzt die Dido von den Troern geschuldete Dankbarkeit so hoch an, dass sie diese in einem Tempelbau manifestiert wissen will. Zudem deutet sich ein im weiteren Verlauf noch weiter ausgebauter Konflikt der Kulturdifferenz an. Dido bezeichnet Aeneas ihrer Schwester gegenüber als „Fremden“ (DSS 180). Später wird sie diese Idee zu dem an Aeneas direkt gerichteten Ausruf „Barbar“ (DSS 787) steigern, und Anna wird in ihren Umstimmungsversuchen das Argument anführen, dass Aeneas sich an das karthagische Klima gewöhnen und die Sitten der Tyrer den eigenen Vorstellungen wird anpassen können. Umgekehrt wird Aeneas aber in seiner unnachgiebigen Wechselrede mit Anna seine mannhafte29 Gleichgültigkeit gegenüber dem Klima bekunden und in Anlehnung an das Vergilische sunt lacrimae rerum (Aen. 1,462) nicht die Fremdheit, sondern den Umgang mit menschlichem Leiden zum Maßstab für Kulturdifferenz erheben (DSS 1175-1179) – die Tatsache vergessend, dass er, über Didos Leid keine Träne vergießend, sich ihres Ausrufes damit selbst für würdig erachtet. In der Zwischenzeit beginnt Aeneas sich zunehmend für die Einlösung seiner Heldenehre zu interessieren.30 Dass die Entscheidung für die Weiterfahrt kein Automatismus ist, zeigt eine Reminiszenz an Aen. 2,671–––––––––––– 28 Ohne dass seitdem eine Unterredung zwischen den beiden Liebenden stattgefunden hat, scheint Dido, von Sychaeus’ Warnungen im Traum verstört, die von Aeneas im Laufe vorheriger Gespräche gefallene Bemerkung hinsichtlich Italiens und des zu erringenden Zepters erst jetzt in einem neuen Licht zu sehen (DSS 195-200). 29 Auch hier wird wieder die Heldenideologie stark gemacht: Aeneas spricht wörtlich davon, dass nur effeminierte Männer einen Gedanken an klimatische Bedingungen verschwenden würden (DSS 1175f.). 30 Auch dies ist eine heldische, uneffeminierte Reaktion des Hardy’schen Aeneas auf die ihm bei Vergil durch Jarbas (Aen. 4,215: semivirus) und Merkur (Aen. 4,266: uxorius) beigebrachten Beschimpfungen.

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678: Aeneas spielt in DSS 379-382 auf die Bitten Kreusas an, statt den Heldentod zu suchen doch den gemeinsamen Sohn zu retten; der bei Vergil durch Götterzeichen verursachte Rückzug aus dem Kampf wird bei Hardy einzig durch Gatten- und Vaterliebe motiviert. Auch wehrt er zuerst noch erfolgreich die Vorwürfe der Gefährten ab, wenn er beteuert, dass ihn nicht Liebe zu Dido, sondern pietas an Karthago binde (DSS 419), dass das Bestehen von Abenteuern einfacher zu ertragen sei als Gewissensbisse (DSS 427f.) – dies steigert sich bis zu dem Wunsch, lieber tot zu sein, als ein schlechtes Gewissen zu haben (DSS 459) – und dass sowohl Himmel als auch Erde den „Undankbaren und Illoyalen“ straften (DSS 449-550). Letztendlich ringt er sich doch noch zu einem Abschiedsentschluss durch: In einer Aussprache mit Dido hofft er, nicht nur ihr Verständnis für seine Entscheidung zu gewinnen, sondern auch einen Freispruch von dem immer noch als pietätlos empfundenen Verhalten (DSS 468f.). An dieser Stelle scheint (Liebes-)pietas eine zur Disposition stehende, relativ im Auge des Betrachters liegende Größe zu sein, über die das Individuum frei verfügen kann. Eine Form der individuellen Freiheit findet jedoch im nun folgenden Chorlied der Troer bereits seine Einschränkung: Analog zu der in Vergils empathischer Dido-Darstellung sichtbar werdenden Trauer um die Opfer des gleichwohl sinnvollen wie unabänderlichen Laufs der Geschichte31 bedauern die Troer ihr Festgelegtsein auf ein bestimmtes Lebensmodell – hier wird das Landleben gegen das des seefahrenden Kriegers ausgespielt (DSS 597-606)32 –, in das sie sich jedoch fraglos fügen; ja sie wirken ihrer Determiniertheit gegenüber geradezu unempfindlich angesichts des Wissens, dass die besungenen Bauern sich ihres Glücks nicht bewusst sein können.33 Und so vermag auch weder die liebende Frau noch die Fürstin Dido eine Entschuldung des Aeneas zu leisten; in ihren Augen kann sein Treuebruch nur als grober Verstoß ge–––––––––––– 31 Vgl. Viktor Pöschl: Die Dichtkunst Virgils. Bild und Symbol in der Äneis, Berlin 31977, 54; Niall Rudd: „Didos ‘Culpa’“, in: Stephen J. Harrison (Hg.): Oxford readings in Vergil’s Aeneid, Oxford 1990, 145-166, hier: 165. 32 Unter diesem Blickwinkel erscheint auch die vorangehende Äußerung über den meineidigen und darum Rache verdienenden „Seemann“ Theseus (vgl. DSS 593) in einem neuen Licht. 33 In Vers 605 heißt es über diese: „Heureux, s’ils connoisoient leur félicité grande“ („Glücklich „[wären sie]“, wenn sie ihre Glückseligkeit kennten“); warum sie ihr Glück nicht kennen können, wird nicht expliziert. Denkbar wäre, dass dazu eben eine Außensicht aus einem anderen „Berufsstand“ heraus vonnöten wäre, was ja wohl wegen der sozialen Undurchlässigkeit nicht in Erwägung gezogen wird. Dies würde aber wiederum bedeuten, dass die fahrenden Krieger auch in mancherlei Hinsicht von anderen Ständen beneidet würden, ohne dass sie sich dessen bewusst werden könnten.

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gen jegliche Form der pietas34 erscheinen, der den Götterhass (DSS 755f.) auf sich ziehen müsse; eine andere Interpretation der pietas ist aus ihrer Sicht nicht möglich. Hardy scheint in dem Streitgespräch der beiden Liebenden einigen Problemen der Vergilforschung geradezu vorzugreifen, wenn er Aeneas explizieren lässt, was viele Forscher für die Rettung von dessen pietas bzw. die Klärung von Didos ἁμαρτία ins Feld führen:35 [Ænée:] Paravant que te voir j’ay sçeu leur volonté, Comme aussy tu la sçeus, l’esclandre raconté, L’esclandre d’Ilion, une nuit continuë Qu’il te plut des Troyens festoyer la venuë. [Aeneas:] Bevor ich dich sah, kannte ich [der Götter] Willen, Ebenso wie du ihn erkanntest, als der Unglücksfall berichtet wurde, der Fall Ilions, eine ganze Nacht hindurch, während der es dir die Ankunft der Troer zu feiern beliebte.36

Mit den zwar auf Aen. 1 anspielenden Versen – ohne aber, dass die Erzählungen des Aeneas selbst Gegenstand des Dramas gewesen wären – versucht Aeneas vorbeugend Dido von der Unrechtmäßigkeit etwaiger Vorwürfe zu überzeugen. Doch selbst der als Notlüge erfundene Besuch Merkurs37 lässt kein Abreißen der Vorwürfe zu, im Gegenteil: Dido ver–––––––––––– 34 Wie auch schon Pöschl, 31977 (wie Fußn. 31), 101, für die Vergilische Dido feststellt, verfällt diese „keineswegs also nur durch die Gewalt der Leidenschaft […] ihrer Liebe, sondern ebensosehr durch ihr inneres Hinneigen zu heldischem Wesen, durch ihren Sinn für Größe und Ruhm, durch die Bindung an ihr königliches Werk.“ Im Gegenteil fallen in Didos Fall Helden- und Liebes-pietas zusammen: Unabhängig von ihren Gefühlen für Aeneas könnte eine mögliche Verbindung mit diesem auch ein Gebot der Staatsräson sein. Ähnlich auch Rudd, 1990 (wie Fußn. 31), 161, der einen reinen Pflicht-Neigungs-Gegensatz in der Vergilischen Dido strikt zurückweist und das Augenmerk auf die Zukunft des karthagischen Volkes und der Nachkommenschaft des tyrischen Königshauses lenkt. 35 So beispielsweise für den zweiten Fall: Reinhold Glei: Der Vater der Dinge. Interpretationen zur politischen, literarischen und kulturellen Dimension des Krieges bei Vergil, Trier 1991 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 7), 153; anders Pöschl, 31977 (wie Fußn. 31), 54f., der von einer Schuld des Aeneas spricht, einem objektiven Einnisten in Karthago und einem Zaudern, u. Antonie Wlosok: „Der Held als Ärgernis: Vergils Aeneas“, in: Dies. (wie Fußn. 22), 403-418, hier 411, wo gerade das Schuldigwerden des Aeneas als besonderes Merkmal seiner pietas herausgearbeitet wird. 36 DSS 761-764, Übers. d. Verf. 37 Auch dies ist eventuell als Kommentar zu Vergil aufzufassen: Bei Vergil glaubt Dido, Aeneas würde göttliche Weisungen vorschützen, um ihren Einwänden den

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flucht jetzt erst recht ganz wie in der Aeneis den Troerfürsten und kündigt an, ihn noch im Tod heimzusuchen (DSS 870-880), bevor sie in Ohnmacht versinkt. An dieser Stelle greift Aeneas zu einer weiteren Argumentationskorrektur seines Vergilischen Alter Ego, die aber offenbar weder von Dido noch von anderen Tyrern gehört wird: Er schwört (sic!), nach „Stabilisierung seines Schicksals“ zurückzukommen (DSS 887-894), eine Idee, die er auf Annas Bitte, sie und Dido mit auf die Schiffe in Richtung Ausonien zu nehmen, mit einem Rückkehr-Versprechen erneut aufgreift (DSS 1263-1268). Die mögliche Wiederkehr des Aeneas stellt nicht die einzige Alternative zu Vergils Konzept des Fatum dar, die Hardy in seinem Drama aufzeigt. Schon vorher hatte Anna Dido damit zu beruhigen versucht, dass nicht Aeneas selbst, sondern, wenn überhaupt, Ascanius eines Tages aufbrechen werde, um das italische Reich zu unterwerfen (DSS 211-215). Auch der von Anna zur Sprache gebrachte Vorschlag der gemeinsamen Flucht von karthagischem Herrscherhaus und Aeneaden (DSS 1256) zielt in diese Richtung. Gleichzeitig lässt er sich auch auf der Folie des allseits präsenten Ariadne-Mythos lesen. Geht die Vergil-Forschung heute dahin, die Reminiszenzen an Catull carm. 6438 zugunsten der intertextuellen Bezüge zum Medea-Epos des Apollonios Rhodios in den Hintergrund zu drängen,39 scheint die Klage der Ariadne allen Figuren von Hardys Tragödie präsent zu sein. Zweimal ist metaphorisch von einem Labyrinth die Rede (DSS 51, 183),40 Aeneas wird mehrmals anhand der in den Wind –––––––––––– Grund zu entziehen (Aen. 4,376-380). Bei Hardy ist der Zuschauer darüber im Bilde, dass der Troerfürst tatsächlich diesen Besuch erfunden hat. 38 So spricht zumindest Wendell Vernon Clausen: Virgil’s Aeneid and the Tradition of Hellenistic Poetry, Berkeley u.a. 1987, 40f. noch von einer doppelten Bezugnahme Vergils, sowohl auf Apollonios Rhodios wie auch auf Catull. 39 So z.B. Glei, 1991 (wie Fußn. 35), 155f.; Werner Suerbaum: Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999, 226f. und 292-294, sowie Damien Nelis: Vergil’s Aeneid and the Argonautica of Apollonius Rhodius, Leeds 2001 (Arca 39); anders Alden Smith: The primacy of vision in Virgil’s ‘Aeneid’, Austin/TX 2005, 106, 110, 114, dem es indes weniger um Intertextualität geht, als um eine textimmanente Typologie des Sehens. Natürlich kann bei der Beurteilung der größeren intertextuellen Verbindlichkeit die Frage des Genres nicht außer Acht gelassen werden, was den Vergleich zwischen Rhodier und Manteser als den logischeren erscheinen lässt. 40 Und schon im metaphorischen Gebrauch des mythosschwangeren Ausdrucks „dédale“ zeigen sich die unversöhnlichen Sichtweisen von Dido und Aeneas: Während Aeneas seine gegenwärtige Unschlüssigkeit so bezeichnet, ist in Vers 183 rückwärtsgewandt die existentielle Not gemeint, aus der Dido die Aeneaden gerissen hatte.

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gerufenen Schmähworte der Minos-Tochter apostrophiert,41 seine Gefährten schelten ihn als Theseus (DSS 593) und Dido dient sich in Analogie zu Catull 64,161 schließlich Aeneas als Sklavin an (DSS 779). Spinnt man diese Parallelität zum Ariadne-Mythos weiter, stößt man auf die Frage, ob Hardy mit dem Vorschlag der Anna nicht sogar eine Ausgangsalternative im Hinterkopf hatte, in der Anna als Figuration der Phaedra gedeutet werden könnte – was die Bitte um Mitnahme in ein schlechtes Licht rückt.42 Wenn überhaupt scheint Hardy – statt wie Vergil auf die Medea aus dem Argonautenepos – auf die Protagonistin der Dramen des Euripides und Seneca Bezug zu nehmen. Der Euripideischen Medea43 scheint das Bemühen darum entnommen zu sein, männlichem Ehrenkomplex gemäß zu handeln, in diesem Falle: zu sterben (DSS 1521f.), – und das, obwohl bei Hardy die positive Herrscherinnenbilanz (DSS 653-656), wie sie solche Gedanken einleiten könnte, völlig fehlt –, der Senecanischen Medea44 hingegen scheint die Selbstopferung als Sühneopfer für die Manen des Sychaeus (DSS 1340) nachempfunden. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass das Hardy’sche Dido-Drama zwar vielerorts aus direkten Übertragungen aus Vergils viertem Aeneis-Buch besteht und sein effektiver Plot mit jenem übereinstimmt, dass aber durch Handlungs-Ummotivierungen und die Bezugnahme auf andere Intertexte gerade hinsichtlich der „Schuld […] als Kehrseite der pietas“45 neue Schwerpunkte gesetzt werden. Hardy, als „Dichter der Transformation“ –––––––––––– 41 Insbesondere sind das die Worte: „perfide“ DSS 425, 652, 927 = Catull 64,132f., 174, „cruel“ DSS 787 = crudelis Catull 64,136 u. 175, „parjure“ DSS 400,593 = periuria Catull 64,135 u. 148. 42 Dieser Eindruck könnte durch die Gegenlektüre von Hardys im selben Band publizierter Tragikomödie „Ariadne ravie“ (UA laut Stengel, 1883-1884 (wie Fußn. 1) um 1610-1615) noch verstärkt werden: Hier nimmt Theseus sowohl die mit einem Eheversprechen zur Hilfe animierte Ariadne als auch die durch eine Verlobung mit Hippolytos gelockte Phaedra mit auf sein Schiff, um sich dann auf Naxos für die Weiterfahrt allein mit seiner neuen Liebe Phaedra zu entscheiden. 43 Vgl. z.B. Eur. Med. 1049-1052; zum Kontrast zwischen der mit männlichem Mut weibsgemäße Dinge ausführenden Medea und dem mannsgemäße Taten mit unmännlichen Tugenden vollbringenden Jason, s. von Kurt Fritz: „Die Entwicklung der Iason-Medea-Sage und die Medea des Euripides“, A&A 8, 1959, 33-106, hier: 62 u. 74f. 44 Vgl. Sen. Med. 957; zum Sühnecharakter des Kindsmords vgl. z.B. Bernd Seidensticker: Die Gesprächsverdichtung in den Tragödien Senecas, Heidelberg 1969 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, N.F. 32 = Diss. Hamburg), 95. 45 Vgl. Otto Seel: „Vergil und die Schuld des Helden (Aeneis, 6,468)“, in: Ders.: Verschlüsselte Gegenwart. Drei Interpretationen antiker Texte, Stuttgart 1972, 95-110, hier 105.

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sowohl Renaissance-Dramatiker als auch Präklassizist,46 verlegt die bei Vergil erst von den Jupiter-Weisungen ausgelöste Krise ins Innere der Helden – eine dramaturgische Strategie, die der Klassizist Racine zur Meisterschaft ausfeilen wird – und erweitert sie um einige zumindest rhetorisch und gedanklich ausgestaltete Handlungs-Alternativen. Doch diese entpuppen sich – ganz barock – oft nur als Schein: Aeneas hätte in Karthago bleiben und die Eroberung Ausoniens eines Tages seinem Sohn Ascanius überlassen können; er hätte Dido und Anna mit auf sein Schiff nehmen können; die Selbstanklage der Anna hätte nach Art eines Sündenbocks eine Entschuldung und damit ein Weiterleben der Dido möglich machen können; die angedeutete karthagische Teleologie hätte mit einem anderen Ausgang des Dritten Punischen Krieges in einer ruhmreichen Rache Didos münden können (DSS 1704). Auch das bei Vergil im sechsten Buch ausgestaltete Unterweltsglück von Dido und Sychaeus wird hier nur noch unter dem Vorzeichen der gedanklichen Alternative, als „douce illusion“ (DSS 1470-1486), als Tagtraum, vorgestellt. Denn in letzter Konsequenz wird sich der Krieger Aeneas, obwohl er sich bezüglich seines Schuldigseins gegenüber der Liebes-pietas keinen Illusionen hingibt – und hierüber scheinen gegenüber der Vergilischen Version keine Zweifel offen zu bleiben –, für die Einlösung seiner Helden-pietas gegenüber Gefährten, Sohn und damit auch gegenüber dem Schicksal entscheiden. Denn der Troerchor wird trotz des Wissens, dass das Landleben ihm größeres Glück bescheren könnte, das eigene Festgelegtsein mit Gleichmut ertragen, ohne gleichwohl den Bauern die zum Glück nötige Außensicht vermitteln zu können. Denn Dido wird in ihrer an der christlichen Lehre ausgerichteten Hoffnungslosigkeit keinen Zweifel daran lassen, dass ein Wiedersehen mit Sychäus nach der „Unzucht“ (DSS 1474)47 mit Aeneas nicht möglich ist. Der zeitgenössische Zuschauer mag die nur zum rhetorischgedanklichen Aufscheinen dieser Alternativen führenden Ursachen für sich in die eigenen von der Ständegesellschaft und dem christlichen Glauben auferlegten Zwänge übersetzen. Die durch die Abwesenheit konkreter Götter und Befehle angedeutete vermeintlich größere Freiheit der dramatis personae führt zwar zu einer dramaturgisch positiven Spannungssteigerung, auf der anderen Seite aber auch zu einer größeren metaphysischen Distanzerfahrung. Lässt sich der Vergilische Dido-Aeneas–––––––––––– 46 Vgl. White, 1975 (wie Fußn. 5), 168f. 47 Hier, in der nicht durch die Institution der Ehe legitimierten Liebesbeziehung, wäre auch die tragische Schuld der Heldin zu suchen; das bei Vergil als Didos culpa identifizierte Treueversprechen als Selbstverfluchung [vgl. Rudd, 1990 (wie Fußn. 31), 152] fehlt bei Hardy jedenfalls völlig.

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Konflikt auch als Widerstreit zwischen epikureischer und stoischer Lebensauffassung, zwischen Anthropozentrismus und Theozentrismus48 lesen, bleiben die Hardy’schen Helden sich selbst überlassen, ohne dass für erlittene Zwänge direkt die Götter oder das Schicksal haftbar gemacht würden.49 Der Götterwille scheint schwerer ergründbar, eine Geschichtsteleologie nicht vorhanden.50 Wenn Vergils Aeneas ohne inneren Zwiespalt der Weisung des Fatum folgt und das Leiden Didos in Kauf nimmt, dann nicht nur, weil letzteres leichter wiegt,51 sondern weil er sich in Anbetracht des der römischen Religion zugrunde liegenden „do ut des“Gedankens darauf verlassen kann, dass dies nicht umsonst sein wird. Ein Jahrhundert nach dem Thesen-Anschlag Luthers und 20 Jahre vor der Blüte der jansenistischen Bewegung in Frankreich scheint Hardy die Frage, wie die Erlösung des Menschen eigentlich zustande kommt, nur noch in dieser beider Sinne beantworten zu können. Keine der Hardy’schen Figuren versucht auch nur durch eine wie auch immer geartete Eigenleistung pietas gegenüber den Göttern zu bekunden. Der vielfach beschworene Wankelmut des Menschen (DSS 55, 59, 63, 569f., 984f.) und der Gleichmut der Götter (DSS 982f., 1359f., 1719) sind darum – mögen sie sich auch aus den bei Vergil so deutbaren Passagen speisen – nicht Ausdruck einer epikureischen Lebenseinstellung, sondern spiegeln die Sichtweise wider, dass göttliche Gnade eben nicht wie im römischen Epos durch menschliches Verhalten ausgelöst werden kann. Mag der im Titel angedeutete Charakter eines Kommentars auch nicht ganz erfüllt sein, Hardy jedenfalls wollte – nicht nur durch die in der Rezeption ohnehin schon implizierte Aufforderung zum Vergleich mit der Vorversion – den Leser explizit auf das Vergleichen stoßen, wenn er in seinem Vorwort schreibt: „Meine Didon […] wird dir [sc. lieber Leser] die Freude bereiten, dass du meine Fassung mit denen der Anderen52 vergleichen kannst“.53 Dass ihm bei dieser Äußerung vor allem ein Vergleich mit Vergil vorschwebte, mag nicht nur daraus hervorgehen, dass er an gleicher Stelle anfügt, die Didon sei „fast vollständig dem lateinischen Dichter –––––––––––– 48 Vgl. Robert Deryck Williams: „Dido’s Reply to Aeneas (Aen. 4.362-387)“, in: Henry Bardon u.a. (Hgg.): Vergiliana. Recherches sur Virgile, Leiden 1971 (= Roma Aeterna 3), 422-428, hier 426f. 49 So ist z.B. auch nie die Rede davon, dass Dido nur durch Junos und Venus’ Werk der fatalen Liebe zu Aeneas verfallen ist. 50 Die Gründung Roms wird nicht einmal erwähnt. 51 Vgl. Pöschl, 31977 (wie Fußn. 31), 80. 52 Zu den Vorgängern vgl. Fußn. 18. 53 Hardy, 1884 (wie Fußn. 1), Bd. 1, 4f.

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nachempfunden“,54 sondern auch aus dem hier Vorangehenden klar geworden sein.

–––––––––––– 54 Ebenda.

Jakob Balde und der Rex Poetarum Vergil – von der Pudicitia vindicata zur Expeditio Polemico-Poëtica. Ein Überblick* ECKARD LEFÈVRE (Freiburg) Während Horaz Balde stärkstens inspiriert hat – mit den Carmina und Epodi in den der mittleren Periode angehörenden Lyrica und mit den Sermones in dem satirischen Spätwerk –, tritt Vergil als anregende Quelle zurück.1 Das ist verständlich. Horaz ist – auch nach dem eigenen Selbstverständnis – ein Meister der kleinen Formen, deren intimer Charakter dem Dichter Balde recht eigentlich den Mund öffnet. Nicht daß die vor den Lyrica (1643) liegenden Werke ohne Bedeutung wären,2 aber der große Ruhm beginnt mit der Horaz-Nachfolge, zu der ihn, wie man wohl sagen darf, die 1631 veröffentlichten Lyricorum libri quattuor, Epodon liber unus alterque epigrammatum des polnischen Jesuiten Kasimierz Sarbiewski (15951640) inspiriert haben.3 Vergils Dichtung ist im Vergleich zu der des Lyrikers Horaz ‘offizieller’, auch wenn der streckenweise persönliche Charakter der Werke, nicht nur der Bucolica, sondern auch der Georgica und der Aeneis, nicht zu verkennen ist. Unter diesen Umständen verdient es Beachtung, daß Balde in der 1664 gedichteten Expeditio Polemico-Poëtica sive Castrum Ignorantiæ Bœotorum Arcadumque Reginæ à Poëtis Veteribus ac Novis –––––––––––– * 1

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Das Manuskript ist an einer Reihe von Stellen durch Thorsten Burkard dankenswerterweise gefördert worden. Einzelhinweise gibt Andrée Thill: „Vergil-Rezeption im Werke Jacob Baldes (1604-1668)“, WJA 8, 1982, 129-136 = Dies.: Jacob Balde. Dix ans de recherche, Paris 1991 (Travaux et Recherches des Universités Rhénanes 7), 43-51, die S. 44 „Vergilnachahmung als Ausdrucksmittel und Ausschmückung“ und „Vergilnachahmung als Grundempfinden und Anschauungsverwandtschaft“ unterscheidet. Leicht erweiterte Darstellung: Dies.: „Jacob Balde et Virgile“, HumLov 32, 1983, 325-341 = Dies. 1991, 53-68. Überblick bei Wilfried Stroh: „Plan und Zufall in Jacob Baldes dichterischem Lebenswerk“, in: Thorsten Burkard u.a. (Hgg.): Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche, Regensburg 2006 (Jesuitica 9), 198-244, dort 201-221. Leiden 1631, Antwerpen 1632. Vorangegangen waren Lyricorum libri tres, Köln 1625.

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Obsessum, expugnatum, eversum4 Vergil den führenden Platz unter den römischen Dichtern zuweist. Es dürfte von Interesse sein zu fragen, welche Rolle der Mantuaner in den der Expeditio vorausliegenden Werken spielt. Freilich können in diesem Rahmen nur einige Spuren verfolgt werden.

I. Stationen der Vergil-Rezeption im frühen und mittleren Werk In der zu Baldes Lebzeiten nicht veröffentlichten P u d i c i t i a v i n d i c a t a , seu Tres virgines a S. Nicolao Episcopo dotatæ. Triplici Stylo Poëtarum Statii, Lucani, et Virgilii5 zeigt sich Balde mit Vergil vertraut.6 Es handelt sich um ein Frühwerk.7 Drei Sprecher – es sind wohl wie im Regnum Poetarum Schüler aus Baldes Humanitas-Klasse am Münchener Gymnasium8 – sollen eine Episode aus der Legende des heiligen Bischofs Nikolaus (der drei von einer verarmten vornehmen Familie in ein Bordell gesteckte Töchter mit Gold auslöst) im Stil von Statius, Lukan und Vergil in Verse bringen und vortragen. Zunächst äußern sich Statius und Lukan zu der Aufgabe. Vergil hat das nicht nötig:9 Virgilium nemo quærere audebat, quid sentiret, quando totus mundus sciebat, omnia Virgilium esse, & posse omnia. Vergil wagte keiner um seine Meinung zu fragen, weil alle Welt wußte, daß Vergil alles bedeute und alles vermöge.

Vergil wird von vornherein eine Ausnahmestellung zugedacht, die über den späteren Ausgang keinen Zweifel aufkommen läßt. Es folgen Statius’ –––––––––––– 4

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Jacobi Balde è Societate Jesu Opera Poëtica Omnia, Tomus I-VIII, München 1729, Neudruck hrsg. und eingeleitet v. Wilhelm Kühlmann u.a., Frankfurt a. M. 1990, VI, 433. Die Expeditio (S. 433-475) wird wie alle anderen Werke Baldes nach dieser Ausgabe zitiert. Ihr folgen auch die Kursivierungen und die Majuskelschrift. Balde, Opera (wie Fußn. 4), III, 305-317 (Seite 317 verheftet). Veronika Lukas: „Balde als Leser. Statius, Lucan und Vergil in der Pudicitia vindicata“, in: Burkard u.a. (wie Fußn. 2), 2006, 13-26. Georg Westermayer: Jacobus Balde, sein Leben und seine Werke. Eine literärhistorische Skizze, München 1868, neu hrsg. von H. Pörnbacher u.a., Amsterdam u.a. 1998: zwischen 1626 und 1628; Wilfried Stroh: Baldeana. Untersuchungen zum Lebenswerk von Bayerns größtem Dichter, hrsg. von BiancaJeanette Schröder, München 2004 (Münchner Balde-Studien 4), 309: 1627(?); Lukas, 2006 (wie Fußn. 6), 14: im Winterhalbjahr 1627 / 1628. Lukas, 2006 (wie Fußn. 6), 13. Balde, Opera (wie Fußn. 4), III, 306.

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und Lukans Versuche. Vergil ergreift als dritter das Wort. Die Einleitung, die der Sprecher gibt, verheißt etwas Besonderes:10 Jam verò longè quàm maxime omnium animi, & vota erigebantur ad Virgilium audiendum, qui gravissimo vultu divinum aliquid, & Maroniano Cothurno dignum meditari videbatur; ne tamen longam moram necteret, audientia sponte oblatâ, ita cecinit. Aber schon längst richteten sich aller Denken und Wünsche nachdrücklich darauf, Vergil zu hören, der mit sehr gewichtiger Miene auf etwas Göttliches und der maronianischen Stilhöhe Würdiges zu sinnen schien; doch damit er nicht länger eine Verzögerung bewirke, da man ihm bereitwillig Aufmerksamkeit entgegenbrachte, sang er folgendermaßen.

Am Ende erkennen ihm die Hörer den Sieg zu:11 Enim verò vix finem composito ad gravitatem vultu dederat, ingens subito plausus secutus est laudantium tam castam & sinceram ubique dictionem. Hunc unum verè Poëtam esse, qui affectus in versu & excitare, & rursus componere norit. Quanquam aliqua capitum præcipitia non defuerunt, qui Statium in multis excellentiorem assererent, integrum autem opus inspiciendo, sine dubitatione Virgilium summas tenere. Kaum aber hatte er mit gesetztem Antlitz geschlossen, als plötzlich gewaltiger Beifall von denen erfolgte, die die so zuchtvolle und reine Ausdrucksweise lobten. Er sei als einziger wahrhaft ein Dichter, der Affekte im Vers sowohl zu wecken als auch wieder zur Ruhe zu bringen wisse. Freilich fehlten nicht einige Hitzköpfe, die behaupteten, Statius sei in vielem hervorragender, Vergil aber halte unter Würdigung des Gesamtwerks ohne Zweifel den ersten Platz.

Hier werden für Vergils Vorrang die casta et sincera ubique dictio sowie die Beherrschung der Affekte12 in der Darbietung13 geltend gemacht.14

–––––––––––– 10 Balde, Opera (wie Fußn. 4), III, 314. 11 Balde, Opera (wie Fußn. 4), III, 317 (falsch paginiert statt 327). 12 Zu den Affekten bei Vergil vgl. Rudolf Rieks: Affekte und Strukturen. Pathos als ein Form- und Wirkprinzip von Vergils Aeneis, München 1989 (Zetemata 86). 13 Die Kriterien werden von Lukas, 2006 (wie Fußn. 6), 17 so erklärt: „Wenn das Epos eine exemplarische Verwirklichung des genus grande darstellt und wenn das Ziel des hohen Stils im movere besteht, dann hat Vergil offenbar als einziger eine wirklich epische Dichtung vorgetragen.“ 14 Lukas, 2006 (wie Fußn. 6), 25 beobachtet, daß Balde besonders viele VergilZitate bringe, so daß der Text stellenweise fast wie ein Cento wirke. Es könne durchaus sein, „daß er sich, als er diesen, den schlechthin vollkommenen Dichter, imitieren wollte, selbst etwas unsicher gefühlt hat, daß er sich eine Imitation seiner spezifischen, musterhaften Sprache weniger zugetraut hat als die eines Statius und daß er durch wörtliches Zitieren sichergehen wollte.“

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Ebenfalls ein Jugendwerk aus dem Winter 1627 / 162815 ist die handschriftlich erhaltene,16 unveröffentlichte Declamatio seu R e g n u m P o ë t a r u m . In quo Stylus, cuiusque Poëtæ ad exemplum veterum conformatur, eiusque diversitas cum materiæ varietate tum etiam alia atque alia Harmonia explicatur.17 Balde gibt mitten im Dreißigjährigen Krieg als Lehrer seiner Gymnasialklasse eine Darstellung des Böhmischen Kriegs, den zwölf seiner Schüler im Stil von zwölf römischen Dichtern vortragen. Nach Horaz, Lukrez, Lukan, Ovid, Martial, Plautus, Catull und Seneca sprechen als neunter und zehnter Statius und Claudian – die wie Lukan auch schon in der Pudicitia vindicata eine Rolle spielen. Nach einem auflockernden Intermezzo des Satirikers Juvenal kommt als krönender Abschluß Vergil zu Wort, „der Dichterkönig“, der „die Schlacht am weißen Berge und Maximilians Heldenmuth gewaltig vorführt.“18 Die Konstellation ist in epischer Hinsicht der der Pudicitia vindicata vergleichbar. Wieder wird Vergil über die Konkurrenten, auch Statius und Claudian, erhoben.19 Während der Orator eine Einleitung in den Wettstreit gibt und wie meistens auch Martial zwischen den einzelnen Kontrahenten das Wort ergreift, wird Vergils Vortrag weder eingeführt noch kommentiert. Er steht für sich, womit sein einzigartiger Rang dokumentiert wird.20 Es fehlen somit aber auch Kriterien, die die Vorzugsstellung begründen. Die rezitierten 95 –––––––––––– 15 Westermayer, 1868 (wie Fußn. 7), 34: Epiphanias 1628; Stroh, 2004 (wie Fußn. 7), 309: nach Epiphanias 1628. 16 Die Handschrift wird von Peter Lebrecht Schmidt: „Balde und Claudian. Funktionsgeschichtliche Rezeption und poetische Modernität“, in: Jean-Marie Valentin (Hg.): Jacob Balde und seine Zeit, Bern 1986 (Jahrb. für Internat. Germanistik A 16), 157-184 = Ders.: Traditio Latinitatis. Studien zur Rezeption und Überlieferung der lateinischen Literatur, hrsg. von Joachim Fugmann / Martin Hose / Bernhard Zimmermann, Stuttgart 2000, 356-372, hier 367-368 beschrieben. Der Einblick in eine vorzügliche Photokopie wird Eckart Schäfer verdankt. 17 Westermayer, 1868 (wie Fußn. 7), 34; Schmidt, 2000 (1986) (wie Fußn. 16), 356358; Stroh, 2006 (wie Fußn. 2), 206-208. 18 Westermayer, 1868 (wie Fußn. 7), 34. 19 „Welch ein Werk! Es ist in der Tat erstaunlich, wie es hier dem gerade erst vierundzwanzigjährigen Lehrer Balde gelungen ist, die Stileigentümlichkeiten so vieler verschiedenartiger Dichter und Gattungen nachzubilden, ohne die Sache je ins Lächerliche zu treiben – es handelt sich ja um keine Parodien im heutigen Sinne – und vor allem ohne im Übermaß Verse oder Versstücke aus den nachgeahmten Autoren zu borgen. Kein Zweifel: Hier wollte Balde seinem Lehrer Keller und vor allem sich selber beweisen, dass er ein Dichter sei, der es auf allen Gebieten mit den Klassikern aufnehmen könne“ (Stroh, 2006 (wie Fußn. 2), 207-208). 20 Dieser geht ferner wohl daraus hervor, daß zuvor die Chronologie der Ereignisse eingehalten wird, Vergil sich aber zu der Schlacht am Weißen Berg von 1620 zurückwendet.

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Verse,21 die weder ein Proömium22 noch einen Epilog aufweisen, sollen für sich sprechen. Der Orator sagt zu Anfang grundsätzlich, daß es nur auf den Stil, nicht aber auf die Darstellung der Affekte ankomme: Stylos ita moderabimur, ut potius diuersitas dignosci possit, quàm ut meris affectibus, qui cum metro transeant, seruiat. Die Stile (der einzelnen Dichter) werden wir so vorführen, daß mehr ihre Verschiedenheit (überhaupt) erkannt werden kann, als daß diese (d. h. die Verschiedenheit) den bloßen Affekten (d. h. der Darstellung derselben) dient, die mit dem Vers (d. h. mit der Rezitation) vorüberrauschen.

Der Stil der einzelnen Dichter ist wichtiger als deren Darstellung von Affekten. Nach der Rezitation kann man sich an den Stil23 gut erinnern, nicht aber an die vorgeführten Affekte.24 Damit werden die beiden Kriterien angesprochen, in denen Balde Vergil sich am Ende der Pudicitia vindicata vor den anderen Dichtern auszeichnen läßt: casta et sincera ubique dictio und affectus in versu et excitare et rursus componere. dictio entspricht dem stylus, in versu dem metrum. Baldes Blickwinkel ist in diesem Fall eingeschränkter als beim ersten Unternehmen. Beidemal wird Vergils Stil der erste Rang zugewiesen. Die 1643 erschienenen L y r i c a zeigen dem Genos gemäß keinen systematischen Einfluß Vergils, wenn er in motivischer und sprachlicher Hinsicht auch vielfach präsent ist. Zwei Beispiele mögen seine ganz unterschiedliche Aufnahme vorführen. Daß Balde Vergil eher zitiert als nachbildet (was selten ist), zeigt Lyr. 1,8 Equus Troianus.25 In dieser Ode sind die Anspielungen auf den alten Dichter ingeniös. Balde vergleicht das Wagnis der Protestanten im Dreißigjährigen Krieg, den Schwedenkönig Gustav II. Adolf in das Land zu Hilfe zu holen, mit der Einholung des Hölzernen Pferds durch die ver–––––––––––– 21 Hermann Wiegand: „Jacob Balde und die Anfänge des Dreißigjährigen Krieges – seine poetischen Gestaltungen der Schlacht am Weißen Berg 1620 im Vergleich“, in: Burkard u.a. (wie Fußn. 2), 2006, 71-89, hier 79-82. 22 „Im Geist Vergils geht er sofort medias in res“ (Wiegand, 2006 (wie Fußn. 21), 79). 23 Balde folgt Vergils Stil in freier Weise. Nach Wiegand, 2006, (wie Fußn. 21), 82 ist festzustellen, „dass die Gestaltung des Stückes ‘stylo Maroniano’ nicht bedeutet, dass sich Balde – bis auf wenige Versatzstücke – phraseologisch oder in der Bildsprache eng an Vergil angelehnt hätte.“ 24 Wenn man den Satz so versteht, muß man weder mit Stroh, 2006 (wie Fußn. 2), 206 statt seruiat seruiatur noch mit Leonhardt (daselbst Anm. 68) seruiant konjizieren. 25 Eckard Lefèvre: „Jakob Baldes Equus Troianus (Lyr. 1,8)“, in: Ders. (Hg.): Balde und Horaz, Tübingen 2002 (NeoLatina 3), 49-58.

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blendeten Trojaner im Trojanischen Krieg: Natürlich bedeutet beides Unglück. Deshalb hat die Ode den Untertitel Germaniam suis cupiditatibus perire. Die Erzählung von dem Priester Laocoon und der sich seinem Rat verschließenden Landsleute aus dem zweiten Buch der Aeneis ist zu allen Zeiten berühmt gewesen. Balde setzt daher voraus, daß die Rezipienten sie genau im Ohr haben. Denn nur so können sie den virtuosen Umgang mit ihr verstehen. Die wörtlichen Aufnahmen der bekannten VergilWendungen26 beweisen nicht die Einfallslosigkeit des jesuitischen Dichters, sondern im Gegenteil seinen Einfallsreichtum im Umgang mit der gefeierten Vorlage. Als Beispiel sei die fünfte Strophe angeführt: urgente Fato fata quis arceat? praesagiebat Laocoon dolum: sed in cavernas nempe frustra (20) impulerat moniturus hastam. Wer könnte das Geschick abwehren, wenn das Fatum drängt? Laocoon sah die List vorher: Aber vergebens hatte er bei seiner Mahnung (20) die Lanze in die Höhlung geschleudert.

Hier scheinen nacheinander folgende vergilische Dicta aus dem zweiten Buch der Aeneis auf: fatoque urgenti (653); cavernae (53); impulerat (55); hastam (50 / 52), zu denen der jeweilige Zusammenhang zu assoziieren ist. Denn auf diesen kommt es an, wenn man das souveräne Spiel mit dem ‘Original’ erkennen will. Balde geht wie ein alexandrinisch-neoterischer Poet vor. Das Gedicht lebt bewußt von dem Bezug auf Vorgegebenes. Ein ganz anders geartetes Beispiel ist die Ode Lyr. 2,33 Choreae mortuales.27 In ihr erscheinen nachts tanzende Schatten der Toten und fordern in eindringlichem Gesang die Lebenden auf, des Tods eingedenk zu sein. Das ist eine volkstümliche Vorstellung. Der ebenso bekannte „Totentanz“, bei dem der Tod selbst mittanzt, ist nicht gemeint.28 Dem Thema gemäß wird auf das Unterweltsbuch der Aeneis angespielt, ja man –––––––––––– 26 Im einzelnen: Lefèvre, 2002 (wie Fußn. 25), 55-56. 27 Andrée Thill: „Cimetière et Champs Élysées. Jacob Balde, Choreae mortuales (Lyrica, II, 33) et Virgile, Enéide, VI“, in: Hommage à Jean Granorolo, (Annales de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de Nice 50), Paris 1985, 339-347 = Dies. 1991 (wie Fußn. 1), 123-134. 28 Die Übersetzung von Choreae mortuales als „Totentanz“ (Johann Baptist Neubig: Bavaria’s Musen in Joh. Jak. Baldes Oden, aus dem Latein in das Versmaß der Urschrift übersetzt, Bd. II, München 1829, 149; Max Wehrli: Jacob Balde, Dichtungen, Lateinisch und Deutsch, in Auswahl hrsg. und übers., Köln u.a. 1963, 71) ist daher mißverständlich. Thill gibt den Titel genau wieder: „Danses des morts“.

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hat dieses als „hypotexte“ bezeichnet.29 Doch ist das irreführend. So verschieden die Situationen der Gefilde der Abgeschiedenen bei Vergil und des Gräberfelds bei Balde sind, so dezent sind die Hinweise auf den alten Dichter.30 Die Charakterisierung „palimpseste“31 darf nicht zu der Annahme verleiten, hier werde Römisches in Christliches oder wenigstens: in Zeitgemäßes übertragen. Im Gegensatz zum Equus Troianus käme Balde auch ohne die Bezugnahmen aus. Es handelt sich gewissermaßen um ein poetisches Plus, das zu der inhaltlichen Präsentation hinzutritt. Der Jesuit wendet die traditionelle „Szene behutsam ins Lyrische und Humanistische“.32 Neben dem Epiker Vergil ist Balde auch der Bukoliker Vergil vertraut. Am Anfang des zweiten Buchs der Sylvae, die in demselben Jahr wie die Lyrica erscheinen, stehen fünf E c l o g a e ,33 die in Form, Namengebung, Schauplatz und vielen Wendungen an die Bucolica erinnern.34 In der einleitenden Widmung sagt Balde zu der ungewöhnlichen Aufnahme des Genos:35 Pastorales Odas, latissima significatione ECLOGAS inscripsi, non nescius, hoc, sive canendi, sive sermocinandi genus, Lyricis vatibus familiare non esse. At enim neque singuli Sylvas scripserunt, in quibus resonare possent. Deinde, cum Lyra propria pastorum sit; cur non Lyrico metro æquè ac Heroico, gaudia ruris emodulanda videantur? Ländliche Oden habe ich in weitester Bedeutung Eclogae genannt, wohl wissend, daß diese Art des Singens bzw. Disputierens lyrischen Dichtern nicht eigen ist. Aber nicht wenige (lyrische Dichter) haben Silven geschrieben, in denen sie ihr Inneres widerhallen lassen konnten. Zudem: Da die Lyra den Hirten eigen ist, warum sollten die Freuden des Landes nicht im lyrischen Maß ebenso wie im heroischen (d. h. im Hexameter, dem Versmaß der Bucolica) gesungen werden?36

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Thill, 1991 (1985) (wie Fußn. 27), 129. Im einzelnen: Thill, 1991 (1985) (wie Fußn. 27). Thill, 1991 (1985) (wie Fußn. 27), 132. Wehrli, 1963 (wie Fußn. 28), 130. Balde, Opera (wie Fußn. 4), II, 36-48. Anton Henrich: Die lyrischen Dichtungen Jakob Baldes, Straßburg 1915 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der Germanischen Völker 122), 172. 35 Balde, Opera (wie Fußn. 4), II, 35. 36 Zwei Wendungen mögen auf antike Stellen zurückgehen, resonare auf Verg. ecl. 1,5, emodulanda (in derselben Form) auf Ov. am. 1,1,30. Beide wären passend auf die Gattung bezogen, im ersten Fall bei dem Vergleich Lyrik / Bukolik (bei Vergil lehrt Tityrus die Wälder, den Namen seiner Geliebten widerhallen zu lassen;

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Balde versteht sich als Lyricus vates, dessen Gebiet nicht die größere Eklogendichtung ist. Doch beruft er sich auf andere Lyriker, die Silven geschrieben hätten.37 Vielleicht hat er die Silviludia seines großen Vorbilds für die Aufnahme der horazischen Oden- und Epoden-Dichtung, Sarbiewskis, im Blick,38 die zwar erst mehr als ein Jahrhundert nach dessen Tod gedruckt werden, von denen er aber sicher gehört oder gelesen hat.39 In einem Brief vom November 1637 spricht Sarbiewski im Blick auf das Werk selbst von seinem lyricus impetus.40 Zwar geht es vornehmlich um die Schönheit der ländlichen Szenerie, doch vergißt der Jesuit darüber den Himmel nicht. So hat das fünfte der zehn Gedichte den Titel: Poëta prata ac silvas perambulat, dum Aulici venatui vacant, Seu Cælestis Amoris amœnitas.41 Baldes Eclogae sind religiösen Inhalts. Die Hirten, deren Namen mit einer Ausnahme aus Vergil bekannt sind, besingen Maria und Jesus. 1. Mopsus und Lycon (Daphnis natus: sive Christi infantia, in Bethlehemico stabulo; à pastoribus culta), 2. Alexis, Corydon und Tityrus (Certamen pastoritium Parthenij Amoris, erga puerum Jesum, & Virg. Matrem), 3. Corydon und Menalcas (De forma pueri JESU & Mariæ Virg. CARMEN AMOEBÆUM), 4. Tityrus und Lycidas (Daphnis occisus: sive historia Christi patientis), 5. Tityrus und Lycidas (Laus Christi JEsu Servatoris, & Detestatio Proditoris. In persona Daphnidis Christus exprimitur: In persona Idmonis Judas Ischariotes. Unde Diræ Scarioticæ nomen sumserunt, quibus devovetur in Ps. 108). Wieder müssen die Gedichte für sich sprechen. Poetologische Erklärungen werden nicht gegeben. Insgesamt handelt es sich um ein zusammenhängendes Beispiel

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bei Balde steht kein Objekt), im zweiten Fall bei dem Vergleich Heroische Dichtung / Lyrik. Henrich, 1915 (wie Fußn. 34), 173 Anm. 1 verweist auf Friedrich von Spee (in deutscher Sprache). Daß Sarbiewski eine Reihe von wörtlichen Entlehnungen aus dem titelverwandten Pastoraldrama Ludovicus. Tragicum Sylviludium des italienischen Jesuiten Mario Bettini übernimmt, steht auf einem anderen Blatt. Hierzu wie überhaupt zu den Silviludia eingehend Lore Benz: „Sarbiewskis Silviludia“, in: Eckart Schäfer (Hg.): Sarbiewski. Der polnische Horaz, Tübingen 2006 (NeoLatina 11), 255-269. Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands, Wiesbaden 1976, 126 erwägt, daß Sarbiewskis Lyrik Balde von polnischen Adligen unter seinen Studenten in Ingolstadt nahegebracht wurde. Vgl. Eckard Lefèvre: „Die wandernden Musen. Jakob Baldes Huldigung an Sarbiewski (Sylv. 5,19)“, in: Schäfer, 2006 (wie Fußn. 38), 231-243, hier 240. Benz, 2006 (wie Fußn. 38), 255. Matthiæ Casimiri Sarbievii e Societate Jesu, Carmina. Nova editio, prioribus longè auctior & emendatior, Paris 1791, 338.

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für die Parodia Christiana, die Balde so oft praktiziert.42 Die Eclogae zeigen gut, daß die Neuformungen zugleich einen spielerischen und einen seriösen Charakter haben. Wie die Renaissance- und Barock-Baumeister antike Bogen, Portiken, Säulen oder Kapitelle in neue Zusammenhänge übernehmen und dieser Vorgang nicht als Erfindungsarmut, sondern als Neubelebung einer wertvollen alten Tradition empfunden wird, ist auch Baldes Vorgehen zu verstehen. Er vermittelt mit Hilfe der alten Vorstellungen und Formulierungen ein neues – christliches – Weltbild, an dessen Ernsthaftigkeit nicht zu zweifeln ist. So sagt er mit einem passenden Vergleich im Dithyrambus Parthenius43 selbst:44 Multa vetustatis spolia & fragmenta profanæ Roma sacros nova vertit in usus. Viele Spolien und Fragmente des profanen Altertums wendet das Neue Rom zu heiligem Gebrauch.

An diesem Neuen Rom45 baut der religiöse Dichter Balde mit. Der Dithyrambus Parthenius a versibus lyricis steht am Ende des zweiten Buchs der Sylvae, dessen Anfang die fünf Eclogae bilden. Er bietet gewissermaßen die Theorie zu der in ihnen vorgeführten Praxis. Die Eclogae vermitteln in der bisherigen Betrachtung einen ganz neuen Aspekt der Vergil-Nachfolge: Der alte Dichter wird genosbildend. Seine Vorbildhaftigkeit ist dominant. In der poetologischen Schrift D i s s e r t a t i o p r ævia, d e s t u d i o p o e t i c o von 1658,46 der Einleitung zu dem Vultuosæ Torvitatis Encomium, die „in gewisser Weise das Resümee aus einem langen, an Erfahrungen reichen Dichterleben“ zieht,47 erhält Vergil en passant seinen Platz. Bei –––––––––––– 42 Ausführlich: Martin Heinrich Müller: ‘Parodia Christiana’. Studien zu Jacob Baldes Odendichtung, Diss. Zürich 1964, bes. 84-122. 43 Müller, 1964 (wie Fußn. 42), 91; Andreas Heider: Spolia vetustatis. Die Verwandlung der heidnisch-antiken Tradition in Jakob Baldes marianischen Wallfahrten: Parthenia, Silvae II 3 (1643), eingeleitet, hrsg. und erläutert, Münchner BaldeStudien 1, München 1999, 145-180. 44 Balde, Opera (wie Fußn. 4), II, 63-65. Dazu: Heider, 1999 (wie Fußn. 43), 158160. 45 „Neu-Rom ist, ganz im Sinne des Begriffspaares sacer-profanus, das christliche Rom im Gegensatz zur antiken, heidnischen Roma vetus“ (Heider, 1999 (wie Fußn. 43), 158). 46 Balde, Opera (wie Fußn. 4), III, 319-357 (teilweise verheftet). 47 Thorsten Burkard: Jacob Balde, Dissertatio de studio poetico (1658). Einleitung, Edition, Übersetzung, Kommentar, München 2004 (Münchner Balde-Studien 3), p. I.

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der Besprechung der Epithalamien von Catull, Statius und Claudian weist Balde Claudian Paris’ Apfel, d. h. den ersten Preis, zu, Statius aber sonst48 nach Vergil überall den ersten Preis, Ego ultimo [scil. Claudiano] assignarem: Statio post Vergilium in omnibus primas.49 Es ist ein hohes Lob, doch sähe man es in einer theoretischen Schrift gern begründet. Das ist nicht der Fall. So kann man zu dieser Stelle nur lakonisch feststellen: „Vergil ist a u c h in der Expeditio der unumstrittene rex poetarum, das aureae aetatis primarium sidus“.50 Eine solche ‘Wahrheit’ bedarf für Balde keiner Rechtfertigung.

II. Vergil als archistrategus in der Expeditio Polemico-Poëtica 1664 verfaßt Balde die Expeditio Polemico-Poëtica sive Castrum Ignorantiæ Bœotorum Arcadumque Reginæ à Poëtis Veteribus ac Novis Obsessum, expugnatum, eversum.51 In ihr geht es in der allegorischen Form eines regelrechten Feldzugs um das Bestreben der Neulateiner, die von Petrarca angeführt werden, humanistische Studien und Dichtungen gegenüber der ‘Ignoranz’ an den Schulen und Universitäten zu verankern. Die Burg der Unwissenheit (Ignorantia) wird zuerst von bedeutenden neulateinischen Autoren (poetae neoterici) zu erobern versucht, doch sind sie zu schwach. Es kommt zu manchen komischen Szenen. Daraufhin probieren es die klassischen Autoren (poetae veteres) unter der Führung Vergils. Tatsächlich wird die Burg erobert, doch die Dummheit kann entfliehen. Balde wertet die Neulateiner nicht gegenüber den Klassikern ab; vielmehr beruhen die Neuen auf den Alten, und beide leiten gemeinsam die Renaissance ein. So geistreich-satirisch das kleine Werk ist, so ernst meint Balde seine Hauptthese und die Wertungen der einzelnen Dichter. Im 15. Kapitel werden in verschieden begründeter Reihung 18 römische Dichter bemüht: Vergil, Horaz, Ovid, Lukan, Seneca, Statius, Silius, Claudian, Ennius, Lukrez, Catull, Tibull, Properz, Plautus, Terenz, Martial, Juvenal, Persius. Der senatus bellicus berät über das Vorgehen. Im 16. Kapitel geht es darum, welcher Part Vergil strategisch zuzuweisen sei:52 –––––––––––– 48 Nach Burkard, 2004 (wie Fußn. 47), 17 eingefügt. 49 Balde, Opera (wie Fußn. 4), III, 317 (falsch paginiert statt 327). 50 Burkard, 2004 (wie Fußn. 47), 144 (Sperrung ad hoc). Das Zitat wird in dem folgenden Kapitel nachgewiesen. 51 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 433-475. Gute Einführung: Peter Lebrecht Schmidt: „The Battle of Books auf Neulatein: Jakob Baldes Expeditio polemicopoetica“, AU 27.6, 1984, 37-48, 74-81 = Ders. 2000 (wie Fußn. 16), 340-355. 52 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 452f.

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Rebus maturè deliberatis, per majora suffragia, in hanc sententiam pedibus poëticis itum est. Primò: non placuit, VIRGILIUM educi in campum, ad minùs honorificum certamen. Non decere ejus Majestatem, uni nido Bœotiæ expugnando vacare. Ad nova Pergama, Urbemque Latini, vel Ardeam Dauni, meliùs reservari. Tunc enimverò cum suo Ænea & Turno, Pandaro & Bitia, gloriosiùs processurum. Equum Troianum, honeste opponi asinis non posse. rectiùs facturum Maronem, si permanens in tabernaculo, Dictatoris curam suscipiat, & ad bellum ituros, ex longinquo dirigat. Assensum est à plerisque: non tamen ab omnibus, quippe retorquentibus argumentum. Inscitiam per scientissimum utique expugnandam esse; adeoque Virgilium quàm maximè adhibendum. intercesserunt cæteri, in quem usum belli argutiæ Criticorum speculatrices? Inter arma non tantùm silere subtiles nugas, sed & Leges. Scilicet si Pagus tumultuetur: ad comprimendam vilium rusticorum seditionem, Achilles statim vel Hector citabitur! sufficiet quisque inferioris ordinis tribunus, vel centurio. Laudavere responsum omnes. STATIUS certè, quamvis æmulatione satis manifesta præfervidum, ægriùs fortasse laturum metuebant, Thebaidem suam ejus pedibus statim subjecit, sic librum affatus: nec tu divinam Æneida tenta: Sed longè sequere, & vestigia semper adora.

[Theb. 12,816] [Theb. 12,817]

PROPERTIUS præconem agens elatâ voce: Cedite Romani scriptores, cedite Graij, Nescio, quid majus nascitur Iliade.

[2,34,65] [2,34,66]

Nachdem man die Lage reiflich beratschlagt hatte, einigten sich die Dichter unter größerem Beifall auf folgenden Beschluß: Erstens solle Vergil nicht zu einem weniger ehrenvollen Kampf ins Feld geführt werden. Es zieme nicht seiner Majestät, sich mit der Eroberung eines Winkels von Böotien abzugeben. Er werde besser für das neue Troja, Latinus’ Stadt oder Daunus’ Ardea aufgespart. Denn dann werde er mit seinen Gestalten Aeneas und Turnus, Pandarus und Bitias ruhmvoller vorrücken. Das trojanische Pferd könne den Eseln nicht in ehrenvoller Weise entgegengestellt werden. Richtiger werde Maro handeln, wenn er im Feldherrnzelt bleibe, das Amt des Diktators übernehme und die in den Krieg Ziehenden aus der Ferne dirigiere. Von den meisten kam Zustimmung, aber nicht von allen; ja, sie drehten das Argument um: Die Unwissenheit müsse durch den Wissendsten ganz und gar unterworfen werden; deshalb sei Vergil am meisten vonnöten. Die übrigen wandten ein, welchem Kriegsnutzen spekulierende Spitzfindigkeiten der Kritiker dienten? Im Krieg schwiegen nicht nur subtile Lappalien, sondern sogar Gesetze. ‘Natürlich: Wenn ein Dorf in Aufruhr gerät, werden gleich Achilleus oder Hektor zitiert, um einen Aufstand gemeiner Bauern zu unterdrücken! Jeder untergeordnete Tribun oder Zenturio wird genügen.’ Alle lobten diese Antwort. Obwohl sie fürchteten, Statius werde sich in seinem offenbaren Wettstreben erregen und es vielleicht ziemlich übelnehmen, unterwarf er seine Thebais sofort den Füßen Vergils, indem er das Buch so ansprach:

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Nicht eifere der göttlichen Aeneis nach, sondern folge ihr in einigem Abstand und bete stets ihre Spuren an. Properz übernahm die Rolle des Herolds und rief mit erhobener Stimme: Weicht, ihr römischen Schriftsteller, weicht, ihr griechischen, etwas Größeres als die Ilias entsteht.

Einige Erläuterungen zum Text: nidus: = Winkel (eigentlich: Nest), vgl. Mart. 1,117,15; 7,17,5. Vergils majestas: ebenso Kap. 18. nova Pergama: das neue Troja, die Nachbildung des zerstörten Troja durch den geflohenen Priamus-Sohn Helenus in Epirus (Aen. 3,336, 350). Urbs Latini: Latinus ist König von Latium, seine Residenz Laurent(i)um; die Junktur urbemque Latini findet sich Aen. 6,891. Ardea Dauni: Daunus ist Turnus’ Vater; über Turnus wird Aen. 10,688 gesagt: Dauni defertur ad urbem. Gemeint ist Ardea in Latium. Aeneas und Turnus: Hauptkontrahenten in der zweiten Hälfte der Aeneis. Pandarus und Bitias: Aen. 9,672-755 wird die Episode der trojanischen vom Ida stammenden riesigen Brüder Pandarus und Bitias geschildert (672 gibt das Stichwort: Pandarus et Bitias, Idaeo Alcanore creti). Turnus erschlägt beide im Kampf. Die berühmte Erzählung lehnt sich an die Tat der beiden Lapithen Polypoites und Leonteus im 12. Buch der Ilias an. asini: Die Bewohner der Burg werden gleich zu Anfang mit wenig schmeichelhaften Namen belegt. Dementsprechend gibt es einen Pons asinorum und eine Turris asinaria zum Schutz der Befestigung (Kap. 3). Dictatoris cura: vgl. Kap. 22: sed interposuit auctoritatem Dictatoriam VIRGILIUS. Ein Diktator wurde in Rom nur in Notsituationen, zudem zeitlich begrenzt, ernannt. nec tu […] adora: Statius spricht mit diesen Worten am Ende der Thebais (12,816f.) sein Buch an, das auf den Vorrang der Aeneis hinweist. Cedite Romani […] Iliade: Properz kündigt 2,34,65f. mit diesen Worten das Entstehen der Aeneis an. Vergil wird von vornherein auf ein besonderes Podest gehoben. Der Rang ist unbestritten, nur über seine Rolle sind sich einige zunächst nicht im klaren. Man fürchtet, daß sich der (kampferfahrene) Epiker Statius zurückgesetzt fühlen könnte. Doch der attestiert mit den Versen aus der Sphragis der Thebais selbst den Vorrang der Aeneis. Hier begegnet dieselbe Plazierung Vergils vor Statius wie an den besprochenen Stellen in der Pudicitia vindicata, im Regnum poetarum und in der Dissertatio de studio poetico. In witziger Weise avanciert Properz zum Kronzeugen, den Balde

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seinen Ausruf an die griechischen und römischen scriptores zitieren läßt, die Aeneis werde etwas Größeres sein als die Ilias! Die antiken Dichter präludieren dem Urteil des modernen Kollegen. So hat Vergil das nötige Ansehen, bei der Rivalität zwischen Juvenal und (dem Satiriker) Horaz einzuschreiten (Kap. 22):53 Sed interposuit auctoritatem Dictatoriam VIRGILIUS: remitterent hos spiritus communi bono: (nam HORATIUM aliquis horror perstrinxerat.) Servarent hanc ferociam in veros hostes. Aber Vergil schritt mit seiner Autorität als Diktator ein: Sie sollten diese Zornausbrüche zugunsten des gemeinsamen Wohls aufsparen: (Denn Horaz hatte Entsetzen gepackt.) Sie sollten sich diese Wildheit (für den Angriff) gegen die wahren Feinde reservieren.

Der Diktator entscheidet. So ernennt er Statius zum Anführer, nachdem sich Lukan falsche Hoffnung gemacht hatte (Kap. 24):54 Veruntamen inani spe delusus, ludibrio se obnoxium præbuit. Quippe Maro paullò pòst hanc Provinciam Papinio Statio demandaverat; & fatebantur omnes, post MARONEM, nullum certiùs grandiusque Heroico passu incedere. Aber in eitler Hoffnung getäuscht, bot sich Lukan dem Gespött dar. Denn wenig später hatte Vergil diese Aufgabe Papinius Statius übertragen; und alle bekannten, nach Vergil gehe niemand sicherer und großartiger im heroischen Schritt einher.

Damit wird eindeutig der Aeneis der erste, der Thebais der zweite Preis gereicht. Balde jongliert in der Expeditio mit den Versen der alten Dichter. Der Poeta doctus schreibt für Lectores docti. Denn nur, wenn man die Subtexte kennt – wie in der besprochenen Ode Lyr. 1,8 Equus Troianus –, versteht man den Witz der Zitate. Das gilt besonders für Kap. 26-28, in denen es eine längere Auseinandersetzung zwischen Vergil und Claudian gibt.55 Sie entzündet sich an der Entscheidung Vergils, Statius als zweiten Mann nach sich zu bestimmen und Claudian auf den dritten Rang zu verweisen. Ausgangspunkt ist die Frage, zu welcher Tageszeit man die Gegner angreifen solle. Persius empfiehlt die tiefe Nacht, Claudian den hellen Tag, Statius die abendliche Dämmerung, Ovid den Morgen. Hierauf hält –––––––––––– 53 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 455. 54 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 456. 55 Zum Thema Balde und Claudian in neuerer Zeit: Schmidt, 2000 (1984) (wie Fußn 51); Schmidt, 2000 (1986) (wie Fußn. 16), 356-372; Marie-France Gineste: „Claudien et les satires de Jacob Balde“, in: Gérard Freyburger u.a. (Hgg.): Balde und die römische Satire / Balde et la satire romaine, Tübingen 2005 (NeoLatina 8), 25-40; Lukas, 2006 (wie Fußn. 6), 24f.

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Vergil als Anführer eine Rede, auf die Claudian zunächst laut antwortet und sodann einen inneren Monolog anfügt. Schließlich spricht Vergil ein Machtwort. In der geistvollsten Weise wird der Rang der Dichter bestimmt.56 XXVI. […] Cur enim Auroram OVIDIUS? nisi quia sopore vix deterso, statim promptus est ad factitandos versus. Vel summo mane paratum invenies, fatali felicitate. Quomodo orto sole, aves, simul atque evigilaverint, momento temporis vestiuntur, lavantur, pectuntur, comuntur, canunt. At STATII operosior Poësis, non sine mora & pompa, in caliginem aliquam declinat, sacrum horrorem spirans, præsertim, cùm Arma fluunt, longisque crepat singultibus aurum

[Theb. 7,682]

Cæterùm, ut crepuscula vespertina non omnino injucunda sunt, ita licet aliquid obscuritatis invehat Thebais, ingrata rudibus; tamen bis senos multùm vigilata57 per annos, eruditas aures mulcet. Macte Vatum doctissime. Parthenope, quæ tibi Patria est, mea Nutrix fuit. Macte, inquam, & sub vesperum, si potes, invade stolidos hostes ac debella. Mirum! si asini, ferre hinnitum equi Neapolitani queant. Jam verò Persianas noctes, ad victoriam vel claritatem nominis consequendam, nemini suaserim. exhalant Satyræ hujus Viri graves nebulas. Omnia crassis vaporibus fumant, non tantummodò inimicum Lectorem, sed & amicum terrentia. XXVII. His è diametro contraria opponuntur scripta, CL. CLAUDIANI. quibus nihil esse illustrius pronuncio. etiam noctem in diem vertit. etiam,58 cùm Inferni Raptoris equos, Orphnæum & Alastora, ex imis terræ cavernis profert, radiatis versibus fulget. In Spadone vexato quàm severè splendidus, quantâ acrimoniâ festivus! (vultumque ad Jun. Juvenalem converterat, velut invidiam moturus) In creatis Consulibus laudandis quàm copiosus ac nitens! porrò quoties Hymenæum cecinit, aut calathos deliciis Heliconii Veris exoneravit: Tunc & Solis equos, tunc exsultâsse choreis

[21,84]

Astra, ferunt: mellisque lacus, & flumina lactis

[21,85]

Erupisse Solo. tunc & Callæcia risit Floribus, & roseis formosus Duria ripis. in Stilic.

[21,86a / laus Serenae 71a] laus Serenae 72]

Obstupuerunt omnes ad hoc VIRGILII præconium, quòd STATIUM laudâsset; meritum fuisse submissione. qualis in Claudiano non reperitur. At quantum hoc! Regem Poëtarum, aureæ ætatis primarium sidus, sic extollere quadringentis pòst annis natum, Florentiæ an Canopi dubitabilem vernam? cùm jam argenteum quoque seculum in æs, si non in ferrum degenerâsset. Sed cur à floribus & forma, & ni-

–––––––––––– 56 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 457-459. Vergils und Claudians Reden sowie Claudians innerer Monolog sind in Anführungszeichen gesetzt. 57 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 457: vigilatæ. 58 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 457: pronuncio etiam noctem in diem vertiti etiam, cùm. Vgl. Schmidt, 2000 (1984) (wie Fußn. 51), 353.

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tore, & tantùm non apertiùs à calamistro & Stibio commendavit? Sagaciores aliqui, MARONIS facetiam, lepôrem, jocum, quidam & contemptum interpretabantur. Ipse certè CLAUDIANUS in ancipiti stetit, famam suspectans. Nam nimia laus, proxima vituperio est. Ergo ut eliceret veram mentem; ipse quoque laudatori suo alienos versus, ex Æneide reposuit. Haud equidem tali me dignor honore. O quem te memorem, VATES, namque haud tibi vultus

[Aen. 1,335b] [Aen. 1,327]

Mortalis: nec vox hominem sonat icta Deo mens

[Aen. 1,328a]

Totum numen habet. Quæ te tam læta tulerunt

[Aen. 1,605b]

(5) Secula? qui tanti talem genuere parentes?

[Aen. 1 606]

In freta dum fluvij currunt, dum montibus umbræ

[Aen. 1,607]

Lustrabunt convexa: Polus dum sidera pascet:

[Aen. 1,608]

Semper honos, nomenque tuum, laudesque manebunt.

[Aen. 1,609]59

Hæc dicens posuit genu, Dictatorem veneratus. ille procumbentem mox allevavit, professus vera & seriò dixisse; omninoque velle, ut PAPINIUM, quem secundum à se agnoscat, semper exterior comitaretur. conscenderent uterque equos, quos tantis plausibus celebrâssent. ex ungula Pegasi fluxisse carmina, quæ in caballorum phaleras & frena sumptuosè sparsissent. Quibus signis abstergenda erat suspicio, geminata est, & crevit in mente CLAUDIANI: omninò VIRGILIUM pergere manifestiùs jocari, & quodammodò mimum agere. Laudat equos meos, quorum cursum jubasque & ornamenta descripsi! Ac si equilia Mantuana lib. 3. Georg. statuta non intrassem! ubi Continuò pecoris generosi pullus in arvis 60

[georg. 3,75]

Altiùs ingreditur, & mollia crura reponit.

[georg. 3,76]

Circumstant properi Aurigæ, manibusque lacessunt

[Aen. 12,85]

Pectora plausa cavis, & colla comantia pectunt.

[Aen. 12,86]

XXVIII. Hæc tacitè secum. dissimulavit tamen etiam hac vice, & pressit vocem. Tum VIRGILIUS: Quod dixi, repeto. STATII individuus comes esto. Alterum ab altero temperandum censeo. Ille tibi majestatem addet: tu vicissim ipsius caligantibus Thebis serenam lucem affundes. In hac verò expeditione contra Barbaros, volumus, jubemus, ut agmen agas equitum & florenteis ære catervas. Nam famâ accepimus, ibi ad lævam arcis impiæ, tesqua spinis, vepribusque & senticetis obsita squalere. Spes est, liliis & rosis tuis locum repurgari posse. Tanto Floræ Florentinæ apparatu omnia facilè sternentur.

–––––––––––– 59 An das Zitat ist die falsche Angabe Æneid. l. 2 angefügt. 60 Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 459: armis (so auch in der Ausgabe von 1664), was wohl ein Druckfehler ist. Th. Burkard erwägt eine bewußte Änderung Baldes.

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26. […] „Warum hat Ovid die Morgenröte genannt? Doch nur, weil er sofort, sobald er den Schlaf gerade erst abgewischt hat, zum Versemachen entschlossen ist. Sogar in aller Frühe wirst du ihn bei seiner fatalen Fruchtbarkeit bereit finden – so wie die Vögel bei Sonnenaufgang sofort nach dem Erwachen im Augenblick sich ankleiden, waschen, kämmen, schmücken und singen. Statius’ ausgefeiltere Dichtung dagegen, die nicht ohne langsames Voranschreiten und Pomp ist, neigt zu einer gewissen Dunkelheit und atmet heiligen Schauder – besonders wenn die Waffen fließen und mit langen Seufzern das Gold ertönt.

Wie im übrigen die abendliche Dämmerung nicht ganz unerfreulich ist, so ergötzt die durch zwölf Jahre viel durchwachte Thebais die gebildeten Ohren, mag sie auch einige Dunkelheit mit sich führen, die den Ungebildeten unangenehm ist. Glück auf, gelehrtester Dichter! Neapel, das dein Vaterland ist, war meine Amme. Glück auf, sage ich, und greif am Abend, wenn du es vermagst, die törichten Feinde an und besiege sie. Es wäre ein Wunder, wenn die Esel das Wiehern des neapolitanischen Pferds aushalten könnten. Aber Persius’ Nächte möchte ich niemandem empfehlen, um Sieg oder Ruhm des Namens zu erringen. Seine Satiren atmen dichten Nebel aus. Alles raucht von drückendem Dunst, der nicht nur den feindseligen, sondern auch den geneigten Leser erschreckt. 27. Persius’ Werken stehen diametral entgegengesetzte Schriften gegenüber, nämlich die Claudians. Ich verkünde, daß nichts lichtvoller ist als sie. Er verwandelt tatsächlich die Nacht in Tag, ja wenn er die Pferde des Räubers aus der Unterwelt, Orphnaeus und Alastor, aus den innersten Höhlen der Erde hervorholt, leuchtet er mit strahlenden Versen. Wie streng blitzt und wie scharf leuchtet er im Verspotteten Eunuch! (Er hatte das Gesicht zu Iunius Iuvenalis gewendet, als wolle er seinen Neid anstacheln.) Wie glänzend ist die Wortfülle in der Wahl der lobreichen Konsuln! Ferner: Wie oft hat er ein Hochzeitslied gesungen oder Körbe mit Köstlichkeiten vom frühlingshaften Helikon entleert! Dann sollen die Rosse der Sonne, dann die Sterne im Reigen getanzt haben und Teiche von Honig und Flüsse von Milch aus dem Boden geströmt sein. Dann auch lachte Galizien mit Blumen und der schöne Duria mit rosenbestandenen Ufern.“

Alle waren starr über diese Verkündigung Vergils. Daß er Statius gelobt hatte, habe sich dieser durch Unterordnung erdient – wie sie bei Claudian nicht gefunden wird. Aber wie unglaublich sei das denn! Der König der Dichter, das erste Gestirn des Goldenen Zeitalters, lobe dermaßen den vierhundert Jahre nach ihm Geborenen, den Sklaven, von dem man nicht wisse, ob er in Florenz oder Canopus geboren worden sei, als schon das Silberne zum Ehernen, wenn nicht Eisernen Zeitalter degeneriert sei? Warum

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aber sprach er in seiner Empfehlung von Blumen, Schönheit und Glanz und nicht offener von Brenneisen (Schnörkelei) und Augenschminke? Einige Klügere legten Maros Aufgeräumtheit als Scherz und Witz aus, andere aber auch als Spott. Claudian wenigstens war sich im unklaren und vermutete üble Nachrede. Denn zu großes Lob liegt nahe bei einem Tadel. Damit er also Vergils wahre Meinung herauslocke, setzte er auch selbst seinem Lobredner fremde (d. h. nicht eigene) Verse aus der Aeneis vor: „Nicht halte ich mich solcher Ehre für würdig. O wie nenne ich dich, Dichter? Denn du hast kein sterbliches Antlitz, deine Stimme ist nicht die eines Menschen. Mein Geist ist gottgetroffen und gotterfüllt. Welche glückliche Zeit hat dich hervorgebracht? Welche bedeutenden Eltern haben dich gezeugt? Solange Flüsse in das Meer fließen, solange auf Bergeshängen Schatten wandern, solange der Himmel die Gestirne weidet: Immer werden deine Ehre, dein Name und dein Ruhm bleiben.“

Mit diesen Worten beugte er das Knie und erwies dem Diktator Reverenz. Der hob den Knienden sogleich auf und versicherte, daß er wahr und ernsthaft gesprochen habe. Er wolle auf jeden Fall, daß er Statius, den er als den Zweiten nach sich anerkenne, immer zur Linken begleite. Sie beide sollten Pferde besteigen, die sie unter solchem Beifall der Leser gerühmt hätten. Aus Pegasus’ Huf seien die Gedichte geströmt, die sie reichlich auf dem Brustschmuck und den Zügeln der Pferde verbreitet hätten. Durch dieses Signal, durch das er hätte zerstreut werden müssen, wurde der Verdacht in Claudians Kopf verdoppelt und vermehrt: Es sei klar, daß Vergil fortfahre, offen zu scherzen und gewissermaßen ein loses Spiel zu treiben: „Er lobt meine Pferde, deren Lauf, Mähnen und Schmuck ich beschrieben habe – als hätte ich den Mantuaner Pferdestall, der im dritten Buch der Georgica errichtet ist, nicht betreten! Wo sogleich das Fohlen aus edler Herde gerüstet stolz einhergeht und die Beine geschmeidig aufsetzt. Ringsumher stehen die rührigen Wagenlenker und tätscheln mit hohler Hand die Brust der Pferde und kämmen die Mähnen an den Hälsen.“

28. Das sprach er zu sich. Dennoch verbarg er dieses Mal seine Stimme und unterdrückte sie. Darauf Vergil: „Was ich schon sagte, wiederhole ich. Sei Statius’ unzertrennlicher Begleiter! Ihr sollt euch gegenseitig unterstützen. Er wird dir Hoheit verleihen, du wirst deinerseits sein nebliges Theben mit heiterem Licht übergießen. In dieser Expedition gegen die Barbaren wollen, ja befehlen wir, daß du den Reiterzug und die von Erz blühenden Scharen führst. Denn wir haben Kunde erhalten, daß dort zur Linken der abscheulichen Burg Steppen öde daliegen, die von Stacheln, Dornbüschen und Sträuchern übersät sind. Es besteht Hoffnung, daß der Ort durch deine

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Lilien und Rosen wieder reinlich werde. Mit diesem großen Aufwand an Florentiner Blüte wird alles leicht bedeckt werden.“ In Kap. 26 wird zunächst Ovid kurz abgetan. Wenn ihm eine fatalis felicitas attestiert wird – offenbar Vielschreiberei –, könnte das eine Verballhornung der curiosa felicitas sein, mit der Eumolpus Horaz auszeichnet.61 Die Empfehlung des Morgens durch Ovid mag darin begründet sein, daß er bereits früh am Tag zu schreiben beginnt, um möglichst viel zu schaffen.62 Statius’ Dichtung wird demgegenüber eine operosior poesis genannt. operosus dürfte dasselbe meinen wie curiosus. Vielleicht ist direkt auf Horaz angespielt, der seine Oden im Gegensatz zu Pindars Gesängen operosa carmina (‘sorgfältig gearbeitete Gedichte’) nennt.63 Balde ist die Umdeutung der stilkritischen Termini zuzutrauen. Statius’ dunkler Stil ist treffend erfaßt. Das wahrlich obskure Zitat stammt aus der Thebais (7,682): Capaneus durchstößt mit einer Lanze den Schild des goldbewehrten Bacchus-Priesters Eunaeus, so daß ihm die Waffen zu Boden ‘fließen’ und sein langes Stöhnen an dem Gold widerhallt! Balde läßt Vergil geradezu genial fortfahren: Wie die abendliche Dämmerung nicht ganz unangenehm sei, dürfe auch die Thebais einige Dunkelheit aufweisen. Damit nimmt er Statius’ Vorschlag auf, die Feinde in der abendlichen Dämmerung anzugreifen! Da dieser aber zwölf Jahre lang das Epos nächtelang ausgefeilt habe (o mihi, bissenos multum vigilata per annos | Thebai (Theb. 12,811f.), entzücke es die Gebildeten. Einen besonderen Gruß verdiene Statius zudem, weil er aus Neapel stamme, wo Vergil von Siro unterrichtet worden sei. So hübsch das gesagt ist: Das Qualitätskriterium ist nicht auf die Goldwaage zu legen. Statius möge also gegen die Feinde in der (beginnenden) Dunkelheit vorgehen (wozu er nach Vergils Meinung durch die Dunkelheit seines Stils qualifiziert ist). Es wäre ein Wunder, wenn die Esel (d.h. die Bewohner der Burg)64 dem Wiehern des neapolitanischen Rosses (d.h. Statius)65 widerstehen könnten. Hierauf wird Persius’ Vorschlag, in der Nacht anzugreifen, mit der paradoxen Begründung abgelehnt, sie –––––––––––– 61 Petron. 118,5 (Ehlers: „umsichtige Genialität“; Schnur: „auf höchster Sorgfalt beruhende glückliche Wortwahl des Horaz“). Vielleicht ist zu verstehen: „glückliche Sorgfalt“. 62 Das Frequentativum factitandos ist wohl abwertend. 63 Hor. carm. 4,2,31f. 64 Vgl. zur Bezeichnung asini oben die Erklärungen zu Kap. 16. 65 Der equus Neapolitanus könnte geistreich auf den aus Neapel stammenden Autor des berühmten Einleitungsgedichts der Silvae, des Equus Maximus Domitiani Imperatoris anspielen. Auch die Bewohner der Burg werden ja durch eine Tiermetapher umschrieben.

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tauge nicht, Helligkeit des Ruhms und des Namens zu erringen! Wieder wird die strategische Empfehlung mit dem Charakter des Werks in Verbindung gebracht: Die Satiren seien so dunkel (nebelhaft), daß sie Freund und Feind erschreckten – ein gewiß modernes Urteil. Damit ist nach Ovid am Anfang nun auch Persius sowohl hinsichtlich seines Kriegsrats als auch hinsichtlich seiner Dichtung erledigt. In Kap. 27 wendet sich Vergil Claudian zu, der zum hellen Tag als Angriffszeit geraten hatte: Nichts sei luzider als seine Schriften.66 illustris ist mit lucere / lux verwandt. Wieder steht – in geistreicher Kombination – der Stil der Werke mit der vorgeschlagenen Strategie in Zusammenhang. Doch damit nicht genug des Witzes! Zum Beweis beruft sich Vergil auf die Schilderung der Pferde des Unterweltsgotts Pluto, der aus der Tiefe mit dem Gespann kommt, um Proserpina zu rauben (inferni raptoris equos ist der Anfang des ersten Buchs des Epos De raptu Proserpinae). Damit ist das im folgenden beherrschende Pferdethema angeschlagen. Zwei Rosse werden zitiert: Orphnaeus und Alastor (rapt. Pros. 1,284 / 286). Abermals gebraucht Vergil ein Paradoxon: Die Pferde kommen ex imis terrae cavernis, aber Claudian schildert sie radiatis versibus. Sodann wird der Glanz – das ist der weiterleitende Begriff – der Invektive gegen den Eunuchen Eutropius, der 399 Konsul von Ostrom wurde, gerühmt.67 Das Lob des satirischen Werks gibt Vergil Veranlassung, einen Seitenhieb gegen den schärfsten römischen Satiriker, Juvenal, von sich zu geben. Auch als Autor der Preisgedichte auf die Wahl der Konsuln Honorius, Theodorus und Stilicho erhält Claudian die Lichtmetapher nitens. Ferner rühmt er das Epithalamium de nuptiis Honorii Augusti68 und das Epithalamium dictum Palladio V. C. tribuno et notario et Celerinae.69 Vergil schließt seine Rede, indem er Claudian selbst zitiert, zunächst mit De consulatu Stilichonis 1,84-86a, sodann Laus Serenae 71b-72.70 Die beiden Stellen sind kunstvoll kombiniert; die erste bezieht sich auf die Hochzeit von Stilicho und Serena, die zweite auf die Geburt Serenas.71 Bei Balde erscheinen sie als fortlaufender Text, in den er tunc et einfügt. Man soll das am Anfang angeschlagene Pferdethema durch alle –––––––––––– 66 Vgl. zu diesem Passus Gineste, 2005 (wie Fußn. 55), 30. 67 Spado vexatus ist eine lässige Umschreibung für In Eutropium (Diss. de stud. poet. 8 spricht Balde von dem Irrisus Spado). Vgl. im folgenden creatis Consulibus laudandis. 68 Hymenaeus volkstümlich für Epithalamium. 69 Dieses findet sich unter den kleineren Gedichten (25). 70 Auf die letzten anderthalb Verse aus dem Loblied auf Stilichos Frau Serena trifft die Bezeichnung in Stilic. im Druck von Balde, Opera (wie Fußn. 4) nicht zu. 71 Die zitierten Verse dienen als Beleg dafür, daß Claudian, wie Vergil einleitend sagt, Körbe mit Frühlingsblumen vom Helikon ausschüttet. Der vierte Vers nimmt die Blumenmetapher auf (floribus / roseis).

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vier Verse hindurch im Ohr behalten. Das ist insofern raffiniert gedacht, als Galizien in der Tat durch die Pferdezucht berühmt war.72 Der Witz liegt aber darin, daß in dem nächsten Vers (Laus Serenae 73), den Balde fortläßt, von Schafen die Rede ist! Der Claudian-Kenner soll das natürlich bemerken – und würdigen. Alle sind darüber verwundert, daß Vergil Claudian derart preist. Wie könne das erste Gestirn der Goldenen Latinität einen Sklaven zweifelhafter Herkunft – aus Ägypten oder Florenz73 – so rühmen, der vierhundert Jahre später geboren sei, als das Goldene Zeitalter zu einem Ehernen, wenn nicht Eisernen herabgesunken war? Warum spreche er von Blumen, Schönheit und Glanz, statt das Gekünstelte der Dichtung herauszustellen?74 Während Einsichtigere Vergils freundlichen Esprit erkennen, ist Claudian selbst über dessen Absicht im ungewissen. Um die wahre Meinung zu erkunden, verleiht er seinerseits mit Vergil-Zitaten der Verehrung des großen Dichters Ausdruck. Der folgende Cento ist noch witziger als der, der ihm zuteil wurde. Den ersten Vers richtet Venus an Aeneas, die dem Sohn vor Karthago in Menschengestalt gegenübertritt, aber von ihm als Göttin apostrophiert wird (Aen. 1,335b).75 In gleicher Art weist Claudian die nach seiner Ansicht unverdiente Würdigung durch Vergil zurück. V. 2-3a entspricht Aeneas’ Anrede an die als Jungfrau verkleidete Mutter: o quam te memorem, virgo? namque haud tibi voltus | mortalis nec vox hominem sonat (Aen. 1,327-328a). Das ist geistreich. Wenn es bei Balde quem […] vates statt quam […] virgo heißt, erschließt sich nur dem Vergil-Kenner die Pointe, ebenso bei der folgenden Feststellung, weder Antlitz noch Stimme sei die einer Sterblichen.76 V. 4b-8 sind Aeneas’ Dankrede an Dido entnommen (Aen. 1,605b-609)77 und werden von Claudian auf den –––––––––––– 72 In der Laus Serenae heißt es kurz vorher über Spanien (wo Serena geboren wurde), es sei dives equis (v. 54). Callaecia wird herausgegriffen, und den Duria könnte man als Südgrenze dieses Landesteils bezeichnen. Grattius Cyn. 514 spricht von Callaeci (Enk: Callaici) equi. 73 Der Irrtum geht wohl auf Petrarca zurück: Burkard, 2004 (wie Fußn. 47), 134. 74 Vgl. calamistro et Stibio: „gekräuselter und geschminkter Stil“ (Schmidt, 2000 (1986) (wie Fußn. 16), 364). 75 In ernsthaftem Sinn (als Parodia Christiana) bezieht Balde die Apostrophe auf Maria Lyr. 4,40,1 o quam te memorem, Dea; dazu Eckard Lefèvre: „Antike Gestalt und neuer Gehalt. Betrachtungen zur Form des Hymnus bei Jakob Balde“, in: Yves Lehmann (Hg.): L’hymne antique et son public. Recherches sur les Rhétoriques religieuses 7, Turnhout 2007, 689-713, dort 693f. 76 V. 3b-4a (ad hoc recte wiedergegeben) sind offenbar Überleitungen Baldes im Stil klassischer Dichter. 77 Die Ausgabe von 1729 druckt in V. 6 currunt; Vergil setzt wie bei den folgenden Verben das Futur (current).

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‘göttlichen’ Vergil bezogen, dessen Ruhm ewig währen werde. Beidemal wird der ‘jungfräuliche’78 Vergil mit Apostrophen bedacht, die er selbst an Frauen gerichtet hat. Die Anerkennung ist inhaltlich perfekt, die Form zweischneidig. Claudian schlägt Vergil mit seinen eigenen Waffen. Das ist ein kleines Meisterstück. Damit nicht genug. Balde läßt Claudian vor Vergil das Knie beugen und seine Verehrung darbringen. Doch der versichert, er habe alles ernst gemeint. Seinen Stellvertreter Statius solle Claudian zur Linken79 begleiten – beide auf Pferden, die sie so trefflich besungen hätten, kämen doch aus Pegasus’ Hufschlag80 die vielen Verse, die sie auf den Schmuck und die Zügel gedichtet hätten. Natürlich ist das schon wieder ein Scherz, denn Pegasus fördert alle Dichtung, nicht nur Pferdepoesie! Claudian bemerkt das deutlich, gestaltet seine Erwiderung aber nur in der Form eines inneren Monologs. Er bereut es, den ‘Mantuaner Pferdestall’ der Georgica betreten zu haben. Gemeint ist die Darstellung der Pferdezucht im dritten Buch der Georgica (3,72-122) des aus Mantua stammenden Vergil, aus deren Anfang zwei Verse (75f.) mit zwei Versen aus der Aeneis kombiniert werden, in denen geschildert wird, wie Wagenlenker bei Turnus’ letzter Ausfahrt die Pferde tätscheln (Aen. 12,85f.). Auch sie gehören zum Mantuaner Pferdestall. Damit hat Claudian, wie vorher Vergil, Pferdemotive aus dem Werk des Kontrahenten zitiert. Es steht unausgesprochen 1 : 1. In Kap. 28 läßt Balde Vergil Claudian, der Statius nachzustehen hat, mit diesem. Zunächst wird wiederholt, daß Claudian Statius’ unzertrennlicher Begleiter sein soll. Sodann wird die Ebene des Kampfs wiederum mit der des Stils vermischt, indem Claudian von Statius Erhabenheit (majestas) und Statius (nebliges Theben, d.h. dunkle Thebais) von Claudian heiteres Licht (serena lux) bekommen sollen. In dem Vergilzitat agmen agens equitum et florentis aere catervas (Aen. 7,804) klingt das Pferdethema noch einmal an. Vielleicht hat die Erinnerung an diese Worte eine tiefere Bedeutung. Denn die kriegerische Tüchtigkeit ist die einer Frau, der Volskerfürstin Camilla, die Anmut mit Kraft verbindet – eben das, was Vergil den beiden Dichtern empfiehlt. –––––––––––– 78 Sueton (Donat), Vita 11. 79 Anspielung auf Hor. sat. 2,5,16f. ne tamen illi | tu comes exterior, si postulet, ire recuses. „comes exterior scheint nur hier vorzukommen […]. Erklärt wird es sogleich mit latus tegit [18], dem stehenden ursprünglich militärischen Ausdruck vom untergeordneten Begleiter, der im allgemeinen zur Linken des Höhergestellten geht“ (vgl. den Kommentar von Kießling / Heinze 1921, 283, mit Belegen). 80 Der Hufschlag des geflügelten Rosses Pegasus ließ die Musenquelle Hippokrene am Helikon entstehen

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Wenn die Rede mit dem Lob der reinigenden Wirkung von Claudians lieblicher Dichtungsart schließt, ist vielleicht das Fazit zu ziehen, daß Balde einen Stil, der, grob gesagt, in der Mitte zwischen Statius’ und Claudians Ausdrucksweise liegt, als einzigen betrachtet, der dem Vergils an die Seite treten könnte. Die geistreichen Reden Vergils stellen nicht nur eine Hommage an den großen Dichter dar, sondern spiegeln auch – darin liegt der tiefere Sinn – Baldes eigene Wertung der besprochenen Dichter wider. In der Form der Satire betreibt er Literaturkritik – wie sie im alten Rom dem Genos immanent ist. Während der Stil nahezu aller anderen Dichter (zum Teil auch aus heutiger Sicht) treffend charakterisiert wird,81 fällt auf, daß Vergils Ausnahmestellung nicht nachgewiesen wird. Er ist einfach, wie es in Kap. 27 heißt, Rex Poëtarum, aureæ ætatis primarium sidus. Sein Spitzenplatz wird nur in den Jugendschriften Pudicitia vindicata und, weniger explizit, Regnum Poetarum begründet. Freilich darf das als communis opinio in Baldes Zeit angesehen werden. Wenn Vergil mehrfach bei den Rivalitäten der die Burg belagernden Dichter überlegen eingreift und dabei sogar witzige Züge erkennen läßt, stützt sich diese Zeichnung nicht auf den historischen Vergil, dem die Antike eher zurückhaltende ‘jungfräuliche’ Züge beilegt.82 Die Souveränität als Feldherr – VIRGILIUM, quasi Archistrategum, primas tenere, quis nescit? sagt Balde im Nachwort83 – wird nicht aus dem ‘Leben’, sondern aus dem literarischen Rang hergeleitet. Daneben ist ein spielerischer Grund wichtig. Vergil ist wegen der Schlachtschilderungen der Aeneis Sachverständiger für Fragen des Kriegs und der Kriegsführung. Er zeichnet sich durch den heroicus passus aus.84 In eben der Weise, in der er bei dem Feldzug unter den alten Dichtern als erster Stratege anzusehen ist, erweist sich Hieronymus Vida unter den neueren aufgrund seiner Schacchias als Feldherr, der den ersten Angriff gegen die Burg der Ignorantia leitet (Kap. 7).85 Die in dem literarischen Werk niedergelegten Strategien kommen beiden Dichtern im Kampfgeschehen zugute! Lukan, Statius und Claudian stehen –––––––––––– 81 82 83 84 85

Schmidt, 2000 (1984) (wie Fußn. 51), 346. Vgl. weiter oben zu Kap. 27. Balde, Opera (wie Fußn. 4), VI, 475. Vgl. weiter oben das Zitat aus Kap. 24. Eckard Lefèvre: „Kritik und Spiel – Julius Caesar Scaliger (Poet. 6, 4) und Jakob Balde (Exp. 4-7) über Michael Marullus’ Falco (Epigr. 1, 4)“, in: Ders. u.a. (Hgg.): Michael Marullus. Ein Grieche als Renaissancedichter in Italien, Tübingen 2008 (NeoLatina 15), 265-276, hier 272f.

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hinsichtlich der Quantität ihrer Schlachtschilderungen hinter Vergil nicht zurück – wohl aber nach Baldes Urteil hinsichtlich der Qualität. Es ist zu sehen, daß Balde in seinem Gesamtwerk Vergil nicht generell nachfolgt.86 Die Ursache dafür liegt darin, daß Balde für die Lyrica und Sylvae der mittleren Periode und die satirische Dichtung der späten Zeit Horaz unbestritten am meisten verdankt. Dessen persönliche Ausdrucksweise liegt ihm mehr als Vergils fast stets ins Allgemeine strebende Poesie. Ein ‘deutscher Horaz’ ist er geworden,87 ein deutscher Vergil zu sein hat er nicht angestrebt.

–––––––––––– 86 Thill, 1991 (1982), 43. 87 Schäfer, 1976 (wie Fußn. 39).

Simon Dach als neulateinischer Bukoliker. Seine Eklogen zum Weihnachts- und Osterfest (1651/1652) LOTHAR MUNDT (Berlin) 1. Gattungsgeschichtliche Voraussetzungen Der Königsberger Dichter und Professor poeseos Simon Dach (1605– 1659)1 gehört mit Martin Opitz, Andreas Gryphius, Daniel Czepko und Paul Fleming zu den bedeutenden deutschen Barockautoren, die neben ihren deutschsprachigen Werken auch lateinische Dichtungen von beachtlichem Umfang verfaßt haben, die also die späthumanistische Tradition, auf der letztlich die deutsche Barockliteratur im Gefolge der Opitzschen Reformen – als Transposition der humanistischen Literaturauffassung in das Medium der deutschen Sprache – beruht, auch in ihrem originären lateinischen Medium weiterbetrieben und -gepflegt haben. Opitz selbst hat ja im übrigen keinen Zweifel daran gelassen, daß er, abgesehen von dem besonderen poetischen Ingenium, das ein Dichter brauche, eine gründli–––––––––––– 1

Den aktuellen Stand der Dach-Forschung dokumentiert der folgende Sammelband mit Beiträgen zu der von seinem Herausgeber 2005 in Dachs Vaterstadt Memel, dem heutigen Klaipeda, aus Anlaß des 400. Geburtstags des Dichters organisierten Tagung: Axel E. Walter (Hg.): Simon Dach (1605-1659). Werk und Nachwirken, Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 126). Als wichtige Ergänzung des mit diesem Sammelband erfaßten Themenkreises ist die erschöpfende Darstellung Walters zur gesamten Geschichte der Dach-Editionen im Rahmen der Geschichte seiner Rezeption zu nennen: Axel E. Walter: „Bemühungen um Simon Dach. Eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung zu den Dach-Ausgaben und zur Rezeption eines ‘ostpreußischen’ Dichters“, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 14, 2006, 7-106, des weiteren auch die folgende Arbeit desselben Verfassers: Axel E. Walter: „Simon Dach – der preußische Archeget der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts“, in: Jens Stüben (Hg.): Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine historische Literaturlandschaft, München 2007 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 30), 205-233.

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che Schulung in der griechischen und lateinischen Literatur der Antike (und wohl auch des Renaissancehumanismus) für unerläßlich halte, um in der Dichtung Anerkennenswertes zu leisten. Er schreibt nämlich im Buch von der Deutschen Poeterey, dem 1624 erschienenen Gründungsprogramm der deutschen Barockliteratur: Vnd muß ich nur bey hiesiger gelegenheit ohne schew dieses errinnern/ das ich es für eine verlorene arbeit halte/ im fall sich jemand an vnsere deutsche Poeterey machen wolte/ der/ nebenst dem das er ein Poete von natur sein muß/ in den griechischen vnd Lateinischen büchern nicht wol durchtrieben ist/ vnd von jhnen den rechten grieff erlernet hat; das auch alle die lehren/ welche sonsten zue der Poesie erfodert werden/ vnd ich jetzund kürtzlich berühren wil/ bey jhm nichts verfangen können.2

Nach neuesten Untersuchungen machen die heute bibliographisch nachweisbaren lateinischen Gedichte von Simon Dach ungefähr ein Fünftel des umfangreichen lyrischen Gesamtwerkes aus: Das wären etwa 300 Texte, die ebenso wie die deutschsprachigen teils als zeitgenössische Einzeldrucke, teils als Beigaben zu Gelegenheitsdrucken mit Schriften mehrerer Verfasser überliefert sind.3 Im Unterschied zu den deutschen Gedichten Dachs, die Walther Ziesemer in vier Bänden 1936–1938 herausgegeben hat,4 ist das Corpus der lateinischen Gedichte, für die ohnehin schwach entwickelte Dach-Forschung eine terra incognita, bisher unediert geblieben, abgesehen von einigen wenigen verstreut publizierten Einzeltexten.5 –––––––––––– 2 3

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Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. [...], hrsg. von Herbert Jaumann, Stuttgart 2002 (Universal-Bibliothek 18214), 25. Vgl. dazu Axel E. Walter: „Dach digital? Vorschläge zu einer Bibliographie und Edition des Gesamtwerks von Simon Dach nebst einigen erläuternden Beispielen vernachlässigter bzw. unbekannter Gedichte“, in: Walter, 2008 (wie Fußn. 1), 465-522, hier 489. Die Angabe Dünnhaupts, daß Dachs lateinische Gedichte „fast die Hälfte des Gesamtœuvres“ ausmachten, ist damit als gegenstandslos anzusehen: Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock, 2., verbesserte u. wesentlich vermehrte Aufl. des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur, 2, Stuttgart 1990 (Hiersemanns bibliographische Handbücher 9, II), 996-1230, hier 996. Nicht nur in dieser Hinsicht bietet Dünnhaupts Dach-Bibliographie Anlaß zur Kritik; vgl. dazu Walter, 2006 (wie Fußn. 1), 95-99 (Abschnitt 8.1.: „Dünnhaupts gescheiterte ‘Personalbibliographie’ Simon Dachs“). Simon Dach: Gedichte, hrsg. von Walther Ziesemer, 4 Bde., Halle a.d. Saale 1936-1938 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft 4-7). Ziesemer hat innerhalb der bibliographischen Anhänge seiner Edition ein paar Kostproben aus Dachs lateinischer Lyrik mitgeteilt: Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), 1, 326f., zu Nr. 54; S. 330, zu Nr. 70; S. 331f., zu Nr. 74; Bd. 2, S. 351f., Nr. 40; S. 355-357, Nr. 58; Bd. 4, S. 514f., Nr. 59; S. 516-518, Nr. 67; S. 520f., Nr. 83;

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Der größte Teil der lateinischen – nicht anders als der deutschen – Lyrik Dachs ist Gelegenheitsdichtung zu diversen Anlässen des bürgerlichen und akademischen Alltagslebens.6 Hierzu gehört auch das früheste von Dach bekannte poetische Werk überhaupt: ein lateinisches Epicedium von 1625 für den in diesem Jahr verstorbenen Magdeburger Pfarrer Christian Vogler, einen entfernten Verwandten Dachs, in dessen Haus er in den Jahren 1623–1626 wohnte, als er das Gymnasium in Magdeburg besuchte.7 Eine gesonderte, scharf umgrenzte Abteilung innerhalb der lateinischen Lyrik Dachs bilden die Festgedichte zu den drei großen christlichen Feiertagen, die er von Amts wegen zu schreiben hatte und in den zwanzig Jahren seiner Amtstätigkeit als Professor der Poesie von 1639, dem Jahr seiner Berufung, bis zu seinem Todesjahr 1659 regelmäßig verfaßt und in Druck gegeben hat.8 In diese Serie von etwa 60 gewissermaßen amtlich veranlaßten geistlichen Festgedichten gehören auch die beiden

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S. 521-523, Nr. 89; S. 526, Nr. 113. Des weiteren vgl. Joachim Dyck: „‘Lob der Rhetorik und des Redners’ als Thema eines Casualcarmens von Simon Dach für Valentin Thilo“, Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 5, 1978, 133-140, die in Fußn. 7 aufgeführte Arbeit von Michael Schilling mit der Edition von Dachs frühem Epicedium und Lothar Mundt: „Simon Dachs lateinische Gelegenheitslyrik. Analysen ausgewählter Gedichte“, in: Walter, 2008 (wie Fußn 1), 225-294, hier 257-294 (Textanhang). Vgl. hierzu ebd. Vgl. Michael Schilling: „Simon Dach in Magdeburg. Ein unbekanntes Epicedium aus der Schulzeit des Königsberger Poeten“, in: Mirosława Czarnecka u.a (Hgg.): Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928-1992), Wrocław 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2504), 367-377 (Text mit Übersetzung 373-375). Zusammengestellt bei Dünnhaupt, ²1990 (wie Fußn. 3), 1002-1009, Nr. 8-65. Die Festdichtungen Dachs beginnen aber nicht erst mit dem Ostergedicht (Solemnibus Resurrectionis Dominicae [...]) des Jahres 1640 (bei Dünnhaupt, ebd., S. 1002, Nr. 8, mit der irrigen Kennzeichnung „1640, Pfingsten [!]“). Bereits aus dem Jahr 1639 ist eine Dünnhaupt unbekannt gebliebene Pfingstdichtung überliefert (einzig bekanntes Exemplar in einem Sammelband der Warschauer Nationalbibliothek, Sign.: XVII 3, Nr. 6303). In ebendieses Jahr gehört auch die von Dünnhaupt, ebd., 1002, unter Nr. 10 verzeichnete und dort fälschlich auf 1640 datierte Weihnachtsdichtung. Ich verdanke die vorstehenden Richtigstellungen der Angaben Dünnhaupts einer noch unveröffentlichten größeren Arbeit von Klaus Garber zur Überlieferungssituation der Werke von Simon Dach.

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Eklogentexte zu Weihnachten 16519 und Ostern 1652,10 die in diesem Beitrag vorgestellt werden sollen. Ob es unter Dachs sämtlichen akademischen Festdichtungen oder auch innerhalb des Gesamtcorpus seiner lateinischen Lyrik über die von mir hier mitgeteilten Texte hinaus noch weitere gibt, bei denen sich der Autor der Eklogenform bedient hat, ist mir nicht bekannt. In den drei Dach-Sammelbänden im Besitz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin (Signatur: Yi 851 R) ist die Osterekloge von 1652 der einzige lateinische Text in Eklogenform (hier in Bd. 2 unter Nr. 74). Auf die Ekloge zum unmittelbar vorangehenden Weihnachtsfest (1651) bin ich bei der Durchsicht der von Dünnhaupt in der Liste der akademischen Festdichtungen Dachs mitgeteilten Initien gestoßen.11 Bei einem Initium wie diesem: Quin, formose Mycon, moesta tuae fata Amaryllidis12, lag es nahe, daß es zu einem bukolischen Text gehörte, und diese Annahme bestätigte sich auch, als mir das Osnabrücker Interdisziplinäre Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit auf meine Bitte freundlicherweise eine Kopie nach einem Mikrofilm dieses Gedichtes aus der kompletten Verfilmung der an der Universitätsbibliothek Wrocław (Breslau) vorhandenen Dachiana13 zur Verfügung stellte (Signatur des Originaldrucks: 354 241). In seiner deutschsprachigen Lyrik, jedenfalls soweit sie in den vier Bänden von Ziesemers Edition erfaßt ist, hat Dach auf die Form der Ekloge nicht zurückgegriffen. Sehr gering scheint auch sein Interesse an –––––––––––– 9 10

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Simon Dach, JESV CHRISTI Dei ab æterno â Patre geniti, & in temporis complemento ex Maria Virgine Hominis nati Redemptoris nostri opt. max. honori natalitio, o.O. 1651. 4°. 2 ungez. Bll. Simon Dach, JESV CHRISTO æterno Dei filio post ignominiosissimam mortem Peccatorum mortis atque inferni triumphatori gloriosissimo, Redemptori nostro optimo maximo, o.O. 1652. 4°. 2 ungez. Bll. – Diplomatischer Nachdruck bei Ziesemer: Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), 4, im bibliographischen Anhang „Lateinische Gedichte“, 507-526, hier 521-523, Nr. 89. Dünnhaupt, ²1990 (wie Fußn. 3), 1006, Nr. 43. Ebd. Der Ursprung dieses größten bibliothekarischen Bestandes an Originaldrucken von Gedichten Simon Dachs geht zurück auf die Sammeltätigkeit des Breslauer Gymnasialdirektors Johann Caspar Arletius (1707-1784). Nach seinem Tode ging seine Sammlung von Dach-Drucken in den Besitz der von Rhedigerschen Stadtbibliothek über, die ihrerseits in der Universitätsbibliothek Wrocław aufgegangen ist. Vgl. hierzu Klaus Garber: „Ein Sammler im Breslau des 18. Jahrhunderts und seine Verdienste um die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts. Johann Caspar Arletius und seine Sammlung der Dichtungen Simon Dachs“, in: Ulrich Kronauer u.a. (Hgg.): Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. Festgabe für Jörn Garber zum 65. Geburtstag, Eutin 2007, 63-104; Walter, 2006 (wie Fußn. 1), 21-24.

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pastoraler Thematik überhaupt gewesen zu sein. Nicht mehr als zwei Texte dieses Genres lassen sich bei Ziesemer finden: die vor 1640 entstandene Klage eines verliebten Schäfers vber die Vntrew seiner Phyllis14 und das Dach nicht mit Sicherheit zuzuschreibende Gespräch Coridons vnd seiner Galatheen auff dem Pilkoppischen Gebirge.15 Als Dach seine beiden geistlichen Eklogen schrieb, lagen die Anfänge der neulateinischen deutschen Bukolik etwa 170 Jahre zurück.16 Seit den ers–––––––––––– 14 Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), 1, 70-72. 15 Ebd., 2, 329-331. 16 Vgl. hierzu meinen bis etwa zur Mitte des 16. Jahrhunderts reichenden Überblick in der Einleitung zu: Simon Lemnius: Bucolica. Fünf Eklogen, hrsg., übers. u. komm. von Lothar Mundt, Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 29), 9-54; als Materialübersicht mit gesamteuropäischer Perspektive nach wie vor unentbehrlich: William Leonard Grant: Neo-Latin literature and the pastoral, Chapel Hill 1965; vgl. ferner: Lothar Mundt: „Die sizilischen Musen in Wittenberg. Zur religiösen Funktionalisierung der neulateinischen Bukolik im deutschen Protestantismus des 16. Jahrhunderts“, in: Walther Ludwig (Hg.): Die Musen im Reformationszeitalter, Leipzig 2001 (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 1), 265-288; darüber hinaus auch die folgenden Editionen humanistischer deutscher Eklogendichtung: Bartholomaeus Coloniensis: Ecloga bucolici carminis. Silva carminum, eingel., hrsg., übers. u. mit Anmerkungen vers. von Christina Meckelnborg u. Bernd Schneider, Wiesbaden 1995 (Gratia 26); Armgard Müller: Das Bucolicon des Euricius Cordus und die Tradition der Gattung. Text, Übersetzung, Interpretationen, Trier 1997 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 27) [nur Edition der Zweitfassung, 1518]; Ioanna Paschou: Euricius Cordus, Bucolicon. Kritische und kommentierte Ausgabe, Hamburg 1997 (Hamburger Beiträge zur Neulateinischen Philologie 1) [Edition der Erst- und Zweitfassung (1514/1518) in Paralleldruck, ohne Übersetzung; zu dieser sehr schwachen Editionsleistung vgl. meine Rezension Mittellateinisches Jahrbuch 35, 2000, 171-178]; Johannes Bocer: Sämtliche Eklogen. Mit einer Einführung in Leben und Gesamtwerk des Verfassers, hrsg., übers. u. komm. von Lothar Mundt, Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 46); Joachim Camerarius: Eclogae / Die Eklogen, hrsg. von Lothar Mundt unter Mitwirkung von Eckart Schäfer u. Christian Orth, Tübingen 2004 (NeoLatina 6); Lothar Mundt: „Herzog Albrechts von Preußen zweite Hochzeit (Königsberg 1550) in zeitgenössischer bukolischer Darstellung. Zwei lateinische Eklogen von Georg Sabinus und Andreas Münzer (Muncerus)“, Daphnis 32, 2003, 435-490; ders.; „Das Königsberger Schmeckebier und die Sage von seiner Einsetzung in bukolischer Darstellung. Eine lateinische Ekloge von Johannes Andreas Pomeranus aus dem Jahre 1552“, in: Axel E. Walter (Hg.): Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber, Amsterdam u.a. 2005 (Chloe 36), 657-702; Helius Eobanus Hessus: The poetic works. hrsg., übers. und komm. von Harry Vredeveld, 1: Student years at Erfurt, 1504 - 1509, Tempe, AZ 2004 (Renaissance text series 18 = Medieval and Renaissance texts and studies 215),

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ten deutschen Eklogenverfassern, den Frühhumanisten Bartholomaeus Coloniensis (geb. vor 1465, gest. um 1516)17 und Heinrich Bebel (um 1472–1518),18 hatte sich ein bis ins 17. Jahrhundert hinein kultiviertes literarisches Medium von großer Anwendungs- und Funktionsvielfalt entwickelt. Ein großer Teil der deutschen Bukolik des 16. Jahrhunderts ist Gelegenheitsdichtung mit ihren diversen, nach unterschiedlichen Anlässen spezifizierten Spielarten: Fürstenpanegyrik (gewöhnlich in Anlehnung an Vergils 4. und 5. Ekloge), Hochzeits- und Trauerdichtung. Daneben diente sie vorwiegend als Medium der allegorischen Darstellung und Diskussion zeitgeschichtlicher (autobiographischer, politischer, sozialer) Themen, aber auch als Instrument scharfer konfessioneller Polemik, sowohl im Kampf lutherisch gesinnter Autoren gegen die katholische Kirche und das Papsttum wie auch in den erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern.19 Eine starke Tendenz zur Moraldidaktik läßt sich in dem umfangreichen bukolischen Werk von Joachim Camerarius (1500–1574) feststellen.20 Einen sehr geringen Anteil an der deutschen Bukolik des 16. Jahrhunderts haben Texte, die außerhalb der Zeitgeschichte liegende Themen behandeln: solche z.B., in denen ohne jeden historischen Hintersinn rein fiktive Stoffe bearbeitet werden wie etwa der Liebeszauber eines Mädchens unter Rückgriff auf Vergils 8. Ekloge bei Petrus Lotichius Secundus (1528–1560)21 und Johannes Bocer (1526[?]–1565)22 oder in ganz zweckfreier spielerischer Absicht auf sonstige literarische Traditionen zurückgegriffen wird wie z.B. auf die des mittelalterlichen Streitgedichts in zwei Eklogen von Eobanus Hessus (1488– 1540) und Nicolaus Cisnerus (1529–1583), in denen sich Hirten über die –––––––––––– 17 18

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265-381 (die unter dem Titel Bucolicon 1509 in Erfurt erschienene Erstausgabe seiner Eklogen). Seine Ecloga bucolici carminis wurde ediert von C. Meckelnborg u. B. Schneider (vgl. Fußn. 16). Heinrich Bebel: Egloga contra vituperatores poetarum, in: H.B.: Opuscula nova et adolescentiae labores, Straßburg: M. Schürer 1512, Bl. O4v–Q2r; ders.: Egloga triumphalis de victoria Caesaris Maximiliani contra Bohemos, in: Rerum Germanicarum scriptores varii. Tomus secundus. Ex bibliotheca Marquardi Freheri primum editus, nunc denuo recognitus, hrsg. von Burkhard Gotthelf Struve, Straßburg 1717, 511-514. Vgl. hierzu Mundt, 2001 (wie Fußn. 16). Vgl. Camerarius, Eclogae (wie Fußn. 16), Einleitung, S. XXXV-XXXVII. Petrus Lotichius Secundus: Poëmata omnia, quotquot reperiri potuerunt, hrsg., komm. und eingel. von Petrus Burmannus Secundus, 1, Amsterdam 1754, 599609 (Ecloga V: Daphnis). Bocer, Sämtliche Eklogen (wie Fußn. 16), 72-79 (Aeglogae septem: Aegloga VII. Pharmaceutria).

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Vorzüge von Ziegen und Schafen (Hessus)23 oder von Frühling und Herbst (Cisnerus)24 auseinandersetzen. Kein besonders ausgeprägtes Interesse bestand auch an der Bearbeitung spezifisch geistlicher Themen. Die Rezeption der Weihnachtsgeschichte, die sich doch im Hinblick auf den pastoralen Hintergrund des biblischen Geschehens und Vergils 4. Ekloge für eine Bearbeitung innerhalb der Bukolik geradezu anbot, erfolgte bei den deutschen Humanisten erst am Beginn der 50er Jahre des 16. Jahrhunderts, mit fast hundertjähriger Verspätung gegenüber dem italienischen Humanismus.25 Während hiervon in den fünfzig Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts, wie das Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts (VD 16) ausweist, relativ viele Texte vorliegen, sind Eklogen zu anderen christlichen Feiertagen relativ dünn gesät. Auffällig ist, daß bukolische Texte zu christlichen Feiertagen größtenteils von Autoren stammen, die sich sonst als Dichter keinen Namen gemacht bzw. sich nur gelegentlich, z.B. als Pfarrer, in poetischen Produktionen dieser Art versucht haben.26 Hingegen haben sich die aus der Lite–––––––––––– 23 Im ersten Teil der 7. Ekloge des Bucolicon von 1509: Hessus: The poetic works, 1 (wie Fußn. 16), 324-335. 24 Nicolaus Cisnerus: Idyllion de veris et autumni comparatione. De eodem argumento oratio scripta, eodem autore, Wittenberg: Joh. Crato 1551. Ich benutzte den Nachdruck in: Delitiae poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium. Collectore A.F.G.G. Frankfurt a.M.: Excudebat Nicolaus Hoffmannus, sumptibus Iacobi Fischeri 1612, Pars II, 446-455 (hier betitelt: Idyllion de Maii et veris laudibus). 25 Die erste humanistische Weihnachtsekloge verfaßte anscheinend der Italiener Francesco Patrizi (1413-1492) mit De natali Christi (geschrieben 1460 für Papst Pius II.); vgl. Grant, 1965 (wie Fußn. 16), 259f. 26 Seit die von der Datenbank VD 16 erfaßten Bestände über das Internet voll zugänglich und mittels der verfügbaren Suchfunktionen vielseitig erschließbar sind, ist es sehr leicht, auch poetische Werke von Gelegenheitsautoren, die in den vorhandenen literaturgeschichtlichen Werken nicht berücksichtigt werden, ausfindig zu machen. Ich gebe im folgenden eine alphabetische Liste solcher Autoren, die ich beim Abruf der Stichworte Ecloga / Eclogae und Idyllion als (mir bisher unbekannte) Verfasser von selbständig erschienenen lateinischen Weihnachtsund Ostereklogen ermitteln konnte (hinter dem Namen des Autors das Erscheinungsjahr und danach die Titelnummer in VD 16, über die der volle Titel abgerufen werden kann). Verfasser von Weihnachtseklogen: Martin Brasch, 1590, ZV 15789; Paul Cherler, 1583, ZV 25315; Adam Enickl, 1590, ZV 21511; Johann Eschner, 1569, E 3961; Valentin Fesenbeck, 1566, ZV 22045; Samuel Gervesius, 1587, ZV 16524; Sebastian Goldammer, 1590, ZV 22775; Balthasar Henricus, 1564, ZV 16226; Johannes Henricus, 1572, ZV 2150; Johannes Knorr, 1588, ZV 9027; Peter Kruse, 1580, K 2475; Jakob Madsen, 1569, ZV 10223; Johannes Marschall, 1576, M 1120; Jakob Milich d.J., 1574, M 5214; Christoph Thanner, 1551, T 697; Johannes Wilbrand, 1568, W 2914. – Verfasser von Ostereklogen: Arnold von

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raturgeschichte bekannten Dichter des 16. Jahrhunderts, die als Bukoliker mit größeren Eklogenzyklen hervorgetreten sind, also Eobanus Hessus, Euricius Cordus, Simon Lemnius, Petrus Lotichius Secundus, Joachim Camerarius und Johannes Bocer, in der Bearbeitung geistlicher Stoffe deutlich zurückgehalten. Bei den genannten Autoren finden sich ganze zwei Eklogen zu geistlichen Themen: bei Eobanus Hessus mit dem Lobpreis der Jungfrau Maria27 und dem Wechselgesang zweier Hirten zum Ruhm der jungfräulichen Empfängnis und der Allmacht Gottes und seiner Werke28 und bei Euricius Cordus (1486–1535) mit den frommen Lobgesängen und Gebeten, mit denen der Hirte Pius am Pfingsttag auf freiem Feld seinen eigenen Gottesdienst abhält (in der 7. Ekloge der 1518 erschienenen zweiten Ausgabe des Bucolicon.)29 Die Frage, inwieweit die Gattung der Ekloge innerhalb der lateinischsprachigen deutschen Barockliteratur weiterhin kultiviert worden ist, läßt sich nur sehr vorläufig und in skizzenhaften Andeutungen beantworten, da es hierzu an grundlegenden bibliographischen Ermittlungen30 und literarhistorischen Spezialuntersuchungen fehlt. Von Martin Opitz sind zwei lateinische Eklogen bekannt, die nacheinander in Buch 3 der 1631 erschienenen Silvarum libri III abgedruckt sind. Die erste, betitelt Daphnis, ist eine schon 1617 als Einzeldruck erschienene Huldigung an den kaiserlichen Rat Tobias Scultetus, eigentlich Tobias von Schwanensee und Bregoschitz (1565–1620),31 die zweite, betitelt Nisa Ecloga,32 ist ein Lobgesang des Hirten Aegon auf seine Liebste, das Hirtenmädchen Nisa. –––––––––––– 27 28 29 30 31

Hohenkamp, 1581, ZV 16234/24980; Martin Petermann, 1579, ZV 12330; Kaspar Ruger, 1584, ZV 13429; Jakob Ursinus, 1590, ZV 19869. In der letzten (11.) Ekloge des Bucolicon von 1509: Helius Eobanus Hessus: The poetic works, 1 (wie Fußn. 16), 362-367. In der 5. Ekloge des Bucolicon: ebd., 310-317. Paschou (Hg.): Cordus, Bucolicon (wie Fußn. 16), 75-81 (in Paralleldruck 74-80 die Fassung des Textes der Erstausgabe von 1514, hier als Nr. 5). Eine zuverlässige Grundlage für solche Ermittlungen wird natürlich die noch nicht abgeschlossene Internet-Datenbank VD 17 sein, mit deren Erarbeitung 1996 begonnen wurde. Martin Opitz: Silvarum libri III. Epigrammatum liber unus. E Museio Bernhardi Guilielmi Nüssleri, Frankfurt a. M.: David Müller 1631, 75-78; wissenschaftliche Edition des Werkes in: M. O.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. von George Schulz-Behrend. Bd. 1: Die Werke von 1614 bis 1621, Stuttgart 1968 (Bibliothek des Literarischen Vereins 295), 77-80. – Hierzu gibt es eine informative ungedruckte Arbeit von Klaus Garber, von der ich eine Fotokopie besitze: Daphnis. Ein unbekanntes Epithalamium und eine wiederaufgefundene Ekloge von Martin Opitz in einem Sammelband des schlesischen Gymnasium Schönaichianum zu Beuthen der litauischen Universitätsbibliothek Vilnius.

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Die umfangreiche, 1652, also im selben Jahr wie Dachs Osterekloge erschienene Ecloga bucolica des Münsteraner Arztes und Späthumanisten Bernhard Rottendorf (1594–1671),33 die im ersten Teil eine Totenklage auf den 1650 verstorbenen Fürstbischof von Münster und im zweiten einen Panegyricus auf dessen 1652 inthronisierten Nachfolger enthält, ist ein beredtes Zeugnis dafür, daß die lateinische Ekloge auch in der Mitte des 17. Jahrhunderts noch als geeignetes Medium für derartige Gelegenheitsdichtung angesehen wurde. Es ist anzunehmen, daß von dieser Art personen- oder ereignisbezogener lateinischer Kasualdichtung noch einiges mehr im Laufe des 17. Jahrhunderts erschienen ist. Von dem Jesuitendichter Jacob Balde (1604–1668) gibt es einen fünfteiligen geistlichen Eklogenzyklus, der das zweite Buch seiner Sylvae (zuerst in sieben Büchern 1643, auf neun erweitert 1646) eröffnet.34 In der ersten Ekloge besingen zwei Hirten die Geburt Christi, im Zentrum der zweiten steht ein Wechselgesang zweier Hirten, von denen der eine seine Liebe zu Jesus, der andere seine Liebe zur Gottesmutter schildert. In der dritten preisen zwei Hirten im Wechsel die Schönheit des Jesuskindes und der Jungfrau Maria. In der vierten berichtet ein Hirte dem anderen von Passion und Kreuzigung Christi; die fünfte ist wieder ein Wechselgesang, bei dem der eine Hirte den Heiland Jesus preist und ein anderer den Verräter Judas verflucht. Wie schon Antonio Geraldini (1448/49–1489) in seiner Ekloge De passione salvatoris (1485)35 und später Simon Dach legt auch Balde Jesus Christus den Hirtennamen Daphnis bei (in den Eklogen 1, 4 und 5). Eine Beurteilung dieses kleinen bukolischen Werkes von Balde hätte natürlich zunächst im Rahmen der lateinischen Ordensdichtung des Späthumanismus und der Barockzeit zu erfolgen; sie hinge auch von der Beantwortung der Frage ab, inwieweit Jesuitendichter die bukolische Gattung überhaupt geschätzt und kultiviert haben. Untersuchungen hierzu liegen aber m.W. noch nicht vor. Für die deutschsprachige Jesui–––––––––––– 32 Opitz, Silvarum libri III (wie Fußn. 31), 78-80. 33 Als Reprint (mit gegenüberliegender deutscher Übersetzung) abgedruckt in: Hermann Hugenroth: Zum dichterischen Werk des Münsterschen Arztes und Humanisten Bernhard Rottendorf (1594-1671). Mit Beiträgen von Helmut Lahrkamp u. Bertram Haller, hrsg. von Franz-Josef Jakobi, Münster 1991 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster. N.F. 15 = Nr. 1 der Serie C), 195-225; Erläuterungen hierzu 226-249. 34 Jacob Balde S.J.: Opera Poetica Omnia. Neudruck der Ausgabe München 1729, hrsg. u. eingel. von Wilhelm Kühlmann u. Hermann Wiegand, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1990 (Texte der frühen Neuzeit), 36-48. 35 Sigrun Leistritz (Hg.): Das Carmen Bucolicum des Antonio Geraldini. Einleitung, Edition, Übersetzung, Analyse ausgewählter Eklogen, Trier 2004 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 61), 116-127.

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tendichtung wäre hier auf Friedrich von Spees Trutznachtigall (Erstdruck Köln 1649) zu verweisen, in der mehrere Eklogen enthalten sind, in denen Christus als Hirte Daphnis angesprochen wird.36

2. Dachs geistliche Eklogen der Jahre 1651 und 1652 Mit den folgenden Darstellungen erhält der Leser – auf der Grundlage der im Anhang beigefügten erläuterten Edition und Übersetzung – Inhaltsanalysen zu beiden Texten nebst Hinweisen auf deren Stellung innerhalb der neulateinischen deutschen Weihnachts- und Osterbukolik und innerhalb von Dachs lyrischem Gesamtwerk. 2.1. Die Weihnachtsekloge (1651) Die beiden Hirten Mopsus und Mycon sind offenbar zusammengetroffen, um sich die Zeit mit Gesang zu vertreiben. Mopsus schlägt seinem Gefährten Mycon, einem noch sehr jungen, aber für seine Sangeskunst schon berühmten Mann, vor, das Klagelied über seine verstorbene Freundin Amaryllis fortzusetzen, das wegen des Einbruchs des nun zu Ende gehenden Winters abgebrochen worden war (eine deutliche Reminiszenz an den Anfang von Vergils 1. Ekloge, V. 4–5: tu, Tityre, lentus in umbra | Formosam resonare doces Amaryllida silvas). Mycon lehnt es aber ab, sich mit derlei vergänglichen Dingen, wie es die Beziehung zu Amaryllis war, zu beschäftigen. Sein Denken sei jetzt vielmehr auf Himmlisches und auf Gott gerichtet. Konsterniert von dieser Auskunft bemerkt Mopsus, da könne es wohl bei Mycon nicht mit rechten Dingen zugehen, irgendeine Medea oder Kirke müsse ihn behext haben. Dies weist Mycon energisch zurück. Er habe allem Zauberwesen abgesagt und wolle seinen Geist nur noch dem Guten widmen, nachdem er durch die Geburt des Knaben Daphnis, Sohnes einer Jungfrau, zur rechten Einsicht gelangt sei. Die Frage des Mopsus, von welchem Knaben und welcher Jungfrau Mycon denn spreche, beantwortet dieser mit dem Bericht der Weihnachtsgeschichte: Wie er mit anderen Hirten aufgrund der nächtlichen Botschaft eines Engels nach Bethlehem gegangen sei, um den neugeborenen, in einer Krippe liegenden Daphnis, dessen Kommen die Propheten den Vorvätern schon angekün–––––––––––– 36 Friedrich Spee: Trutznachtigall. Mit Einleitung u. kritischem Apparat hrsg. von Gustave Otto Arlt, Halle a.d. Saale 1936 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. u. XVII. Jahrhunderts 292-301), 228-234, 235-243, 243-249, 275-281, 281-292, 297-305, 305-314.

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digt hätten, zu besuchen und ihm zu huldigen. Von dem Kind sei ein göttliches Leuchten ausgegangen, und seine Mutter, eine Jungfrau, habe ihn auf ihrem Schoß gehalten und ihn gesäugt. Jetzt erinnert sich Mopsus daran, daß ihm sein Vater einstmals viel von der segenbringenden Ankunft dieses verheißenen Knaben erzählt habe, und schlägt vor, ihm Wechselgesänge zu widmen. Zwar seien Gesänge von Hirten nur kunstlos im Vergleich zu denen der himmlischen Heerscharen, doch werde Gott auch sie nicht verachten. Schließlich sei auch der Psalmist David in seiner Jugend Hirte gewesen. Es folgt nun ein Wechselgesang, in dem zunächst das mit der Geburt des Daphnis/Jesus beginnende neue Zeitalter als eine Epoche des Wohlstands (ohne die Voraussetzung schwerer Arbeit), der Gerechtigkeit, des absoluten Friedens in Natur und Menschenwelt und der Befreiung von allen Gefährdungen beschrieben wird – ein natürlich der 4. Ekloge Vergils mit der Schilderung des mit der Geburt eines Kindes einsetzenden Goldenen Zeitalters verpflichteter beliebter Topos in der Weihnachtsbukolik seit ihren Anfängen in der italienischen Renaissance bei Franciscus Patricius (Patrizi) aus Siena (1413–1492).37 Danach geben die Sänger einen Ausblick auf die Zeit, in der der Knabe zum Mann herangewachsen sein wird: auf seine Funktion als Verkünder des Weges zum menschlichen Heil und auf sein Auftreten als Wundertäter (Auferweckung des Lazarus und der Tochter des Jairus, Heilung von Blinden und Lahmen, Bezähmung des Meeres und Speisung der Fünftausend). Mit dem Gedanken, daß die Menschheit undankbar sei und Verdienste nicht zu würdigen wisse, leitet Mycon zum dritten und letzten Teil der Gesänge über: auf die Betrachtung der Daphnis/Jesus bevorstehenden schweren Leidenszeit und seines Todes am Kreuz. Die Ekloge endet mit dem Hinweis des Mopsus auf den anbrechenden Abend (auch dies ein beliebter Topos der frühneuzeitlichen Bukolik, übernommen aus Vergil, ecl. 1,82f.; 10,75–77) und der Ankündigung, daß der Wettgesang am morgigen Tage wieder aufgenommen werden solle. Eine vergleichende Durchsicht aller mir bekannten Texte der neulateinischen Weihnachtsbukolik (über die in Grants Handbuch zur neulateinischen Bukolik aufgeführten38 hinaus noch vier weiterer von deutschen Autoren des 16. Jahrhunderts)39 erbrachte die folgenden Beobachtungen. –––––––––––– 37 Vgl. die Inhaltsangabe von Patrizis Ekloge bei Grant, 1965 (wie Fußn. 16), 259f. 38 Ebd., 258-273; vgl. auch meine Besprechung von Zeugnissen protestantischer Weihnachtsbukolik des 16. Jahrhunderts: Mundt, 2001 (wie Fußn. 16), 281-287. 39 Fridericus Weydenbram [= Widebram]: Ecloga de veteri politia Iudaica et de regno Christi. [...]. Wittenberg: o.Dr. [Veit Kreutzer] 1554; Paulus Fabricius:

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Bei der Wahl der Sprechernamen scheint sich Dach an den beiden Weihnachtstexten aus dem geistlichen Eklogenzyklus von Antonio Geraldini (1448/49–1489)40 orientiert zu haben. Am Anfang der ersten Ekloge dieses Zyklus, betitelt De salvatoris nativitate,41 ergreift ebenso wie bei Dach ein Mopsus (auch hier der ältere der beiden Hirten) mit einer den Partner (hier ein Lycidas) zum Hirtengesang aufmunternden Frage das Wort: Quid gelidi vitrea dum sic recubamus in herba, non placidum bifori modularis harundine carmen, o, Lycida, resonent quo curvo margine rupes, proximus et labens per culta resultet Hiberus, defluat ac placidis applaudens Gallegus undis? Quis topor te habet? Dudum mulcere solebas pastorum tetricas blandis modulatibus aures.42

Warum spielst du, während wir so frierend im eisigen Grase liegen, nicht auf der Doppelflöte ein ruhiges Lied, von dem die Felsen mit dem sich auftürmenden Rücken widerhallen, o Lycidas, und der nahe Ebro, der sich durch die Felder windet, widertönen und dem mit sanften Wogen Beifall plätschernd der Gallego dahinfließen könnte? Welche Trägheit hat dich erfasst? Eben noch pflegtest du die strengen Ohren der Hirten mit schmeichelnden Weisen zu verzaubern.43 In Geraldinis zweiter Ekloge, De regum adoratione ad infantem Iesum,44 einem Gespräch der Heiligen Drei Könige vor ihrem Aufbruch nach Bethlehem, ist dem Melchior der Hirtenname Mycon zugewiesen (Kaspar heißt Granicus, Balthasar Battus). ––––––––––––

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Tityrus. Idyllion de nativitate servatoris nostri Iesu Christi. [...]. Wien: Raphaël Hofhalter 1557; Henricus Graniveldus [i.e. Cranifeldus]: Ecloga. De nativitate filii dei Christi Iesu domini et salvatoris omnium credentium unici et sufficientissimi. Anno 1558. Accessit huc de puero Iesu oda. [...]. Wittenberg: o.Dr. 1558; Ioachimus Craniveldus: Ecloga de utilitate salutaris nativitatis aeterni filii dei domini nostri Iesu Christi, veri dei et veri hominis, redemptoris nostri unici: dedicata magnifico et clarissimo viro, D. Hieronymo Kisewittero U.I.D. [...]. Dresden: Gimel Montanus 1571. Neben der kritischen Edition von Sigrun Leistritz (wie Fußn. 35) ist weiterhin von Nutzen die ältere Ausgabe von Mustard: Antonio Geraldini: The eclogues, hrsg., eingel. und komm. von Wilfred P. Mustard, Baltimore 1924 (Studies in the renaissance pastoral 4). Leistritz, Carmen Bucolicon (wie Fußn. 35), 54-67. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 68-77.

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Das Motiv, daß ein Hirte einen zweiten, der von dem Weihnachtsgeschehen noch nichts gehört hat, hierüber ins Bild setzt, findet sich auch in der Weihnachtsekloge des als Calvin-Gegner bekannten französischen Theologen Sebastian Castellio (1515–1563), Sirillus. Ecloga de nativitate Christi (1546):45 Der Hirte Damon hat das Erscheinen des Engels, seine Aufforderung an die Hirten und deren Besuch beim Jesuskind verschlafen. Sein Kollege Sirillus macht ihm deshalb Vorwürfe und gibt ihm einen ausführlichen Bericht von den Ereignissen, woraufhin Damon versichert, daß er dem Schlaf keinen Raum mehr gewähren wolle, bevor er nicht seinerseits das heilige Kind in der Krippe gesehen habe. Castellios Text ist ausschließlich überliefert in der großen Anthologie antiker und humanistischer Bucolica, die der Basler Drucker Oporinus, bei dem Castellio seinerzeit als Redaktor beschäftigt war, herausgegeben hatte. Die Kenntnis eines solchen Standardwerks innerhalb der frühneuzeitlichen Geschichte der Bukolik ist bei dem Professor poeseos Dach vorauszusetzen. Sehr auffällig ist die Übereinstimmung eines Details aus Dachs Schilderung des mit der Geburt Jesu heraufkommenden Goldenen Zeitalters mit der entsprechenden Schilderung in der Weihnachtsekloge des Leipziger Poetikprofessors und späteren Zerbster Gymnasialrektors Gregor Bersman (1538–1611), die den ersten Teil eines dreiteiligen geistlichen Eklogenzyklus bildet.46 Bersmans Ekloge (Ecloga I. Iesus Christus. Natalitia Iesu Christi, filii aeterni patris, et matris sempervirginis Mariae, alternis canunt pastores Simeon et Iudas)47 besteht aus Wechselgesängen der Hirten Simeon und Judas zum Lobpreis der Geburt Jesu und ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung. Wie Mycon bei Dach (V. 67–72), so spricht auch Simeon über die wundersamen Auswirkungen des Goldenen Zeitalters auf die Pflanzenwelt:

–––––––––––– 45 Abgedruckt als letzter Text in: Ioannes Oporinus (Hg.): En habes lector Bucolicorum autores XXXVIII, quotquot videlicet à Vergilii aetate ad nostra usque tempora, eo poëmatis genere usos, sedulò inquirentes nancisci in praesentia licuit: Farrago quidem eclogarum CLVI mira cùm elegantia tum varietate referta, nuncque primum in studiosorum iuvenum gratiam atque usum collecta. [...], Basel: Ioannes Oporinus 1546, 796-799. – Zur Biographie Castellios vgl. Hans R. Guggisberg: Sebastian Castellio 1515-1563. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1997; die Ekloge hier erwähnt S. 22f. (Anm. 32), 49 u. 332. 46 Gregorius Bersmanus: Poemata in libros duodecim divisa, Leipzig: Iohannes Steinmann 1576, 1-15. – Nachdruck in: Delitiae poetarum Germanorum (wie Fußn. 24), Pars I, 424-435. 47 Bersmanus, Poemata (wie Fußn. 46), 1-5.

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Ipsae mella ferunt quercus, paliurus olivam, Balsama corticibus sudant preciosa myricae.48

Die entsprechende Stelle bei Dach (V. 70f.) lautet: [...] salices parturient nunc opobalsamum. Et pinguis sterili vel platano myrrha fluet [...]

Nun sind zwar beide Passagen letztlich eine Variation von Vergils 8. Ekloge, V. 52–54: [...] aurea durae Mala ferant quercus, narcisso floreat alnus, Pinguia corticibus sudent electra myricae.

Von ‘balsamum’ bzw. ‘opobalsamum’, den bei Bersman die Tamarisken, bei Dach die Weidenbäume hervorbringen sollen, ist aber bei Vergil nicht die Rede. Daß Dach den Lobgesang der Hirten auf das Jesuskind mit dem Ausblick auf Passion und Kreuzestod enden läßt,49 ist eine Besonderheit, die sich ähnlich auch in der Weihnachtsekloge von Fabio Chigi (1599–1667), dem späteren Papst Alexander VII. (1655–1667), findet. In diesem kleinen Text von 43 Versen, enthalten in der zuerst Köln 1645 erschienenen Sammlung der Jugendgedichte Chigis (Philomathi Musae Juveniles),50 bringt ein Hirte dem gerade geborenen Puer aethereus Superûm demissus ab arce (V. 1) einen Lobgesang dar und beklagt die winterliche Kälte und das harte Lager der Krippe, unter denen der Gottessohn zu leiden habe – wenn auch wenigstens Gethsemane und der Kalvarienberg noch in weiter Ferne lägen: –––––––––––– 48 Ebd., 5. 49 Vgl. zum theologischen Hintergrund (im Sinne der lutherischen Orthodoxie) Johann Anselm Steiger: „Mein Niedrig=gehn sol Euch erheben. Zur poetischmeditativen Passionsfrömmigkeit des barocken Luthertums am Beispiel eines Gedichtes von Simon Dach (1605-1659)“, in: Hans-Jörg Nieden u.a. (Hgg.): Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Wolfgang Sommer zum 60. Geburtstag, Stuttgart u.a. 1999, 175-199. 50 Ich benutzte die folgende, mit einer deutschen Übersetzung in Paralleldruck versehene Reprintausgabe: Fabio Chigi: Philomathi Musae Juveniles – Des Philomathus Jugendgedichte, Tl. 1: Faksimile der Ausgabe Paris 1656 mit der Übersetzung von Hermann Hugenroth; Tl. 2: Zum dichterischen Werk des Fabio Chigi [...]. Einführung, literarhistorische und dichtungstheoretische Kommentare von Hermann Hugenroth, Köln u.a. 1999. – Der Text der Ekloge mit Übersetzung Tl. 1, 254-259 unter der Nr. LXIII.: Christi natalis meditatio. Quem Auctor ipso Peruigilio Natiuitatis, Eclogae in modum, purè simpliciterque meditans, ita expressit; Erläuterungen dazu Tl. 2, 163-171.

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[...] cruciatibus aetas Non isthaec matura tuis. Praesepia culmis Hispida, tam sancto capiti, membrisque tenellis Quàm malè conueniunt! Distant Bethlemica tecta Horto Gethsemani: non Aula, aut compita dirae Hîc adsunt Solymae, aut feralis culmina montis. (V. 27–32)51 Deine Schmerzen wollen gar nicht passen zu deinem Alter. Wie wenig taugt aus hartem Stroh die Krippe, wie wenig für dein so hehres Köpfchen und deine so zarten Glieder. In weiter Ferne von Bethlehem noch liegt der Garten von Gethsemane; hier gibt’s keinen Königshof, weder Straßenkreuzungen wie im verhängnisvollen Jerusalem noch die Höhe des Kalvarienberges.52

Mit der Wahl des Metrums – des Asclepiadeus maior, den er auch in der Osterekloge verwendet –, bewegt sich Dach gänzlich außerhalb der Traditionen der antiken und humanistischen Bukolik. Im 16. Jahrhundert dominiert, den antiken Vorbildern entsprechend, ganz entschieden der Hexameter die lateinische Eklogendichtung.53 Im 17. Jahrhundert steht Dach in dieser Hinsicht aber nicht allein. Auch Jacob Balde hat in dem oben beschriebenen Eklogenzyklus asklepiadeische Verse (den Asclepiadeus minor) verwendet54 und könnte damit als Vorbild gedient haben. Dach verfügte über große Belesenheit, und seine literarischen Interessen und Neigungen waren in keiner Weise etwa durch seinen protestantischen Glauben oder durch seine Amtsstellung an einer protestantischen Universität konfessionell eingeengt,55 wenn er sich auch, wie es die Ergebnisse von Johann Anselm Steigers Analysen geistlicher Lieder Dachs nahelegen,56 im allgemeinen durchaus auf dem Boden orthodoxer lutherischer Theologie bewegte.

–––––––––––– 51 Ebd., Tl. 1, 256-258. 52 Ebd., 257. 53 Ganz ungewöhnlich ist die Einschaltung von Wechselgesängen in elegischem Maß in der 6. Ekloge (Carpolimaeus) von Joachim Camerarius: Camerarius, Eclogae (wie Fußn. 16), 40-51, hier 42-47. 54 Dies gilt für die Eklogen I, II und IV dieses Zyklus: Balde, Opera Poetica Omnia, Bd. 2 (wie Fußn. 34), 36-40 u. 42-44. 55 Vgl. hierzu die Hinweise in: Mundt, 2008 (wie Fußn. 5), 231f.; ferner auch: Dieter Breuer: „Simon Dachs Übersetzung des Christus Patiens von Carolus Malapertius SJ“, in: Walter, 2008 (wie Fußn. 1), 337-348, hier 342-345. 56 Außer der oben in Fußn. 49 genannten Arbeit vgl. auch Johann Anselm Steiger: „Der Mensch in der Druckerei Gottes und die imago Dei. Zur Theologie des Dichters Simon Dach (1605-1659)“, Daphnis 27, 1998, 263-290; ders.: „Simon Dachs geistliche Dichtung und die Poiesis des himmlischen Jerusalem“, in: Walter, 2008 (wie Fußn. 1), 363-395.

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Innerhalb von Ziesemers Edition der deutschsprachigen Lyrik Dachs finden sich nicht mehr als zwei Texte zur Weihnachtsthematik: ein Weihnachtslied von drei Strophen (Erstdruck 1642 in der Sammlung Preußische Festlieder von Johannes Eccard und Johannes Stobaeus; nachgedruckt im Preußischen Gesangbuch von 1657)57 und eine große, 1648 als Einzeldruck erschienene Dichtung (Christliche Weinacht=Frewde [...]) von 416 Versen Umfang.58 Diese Dichtung ist für unseren Zusammenhang nicht nur deshalb von Interesse, weil auch hier, ebenso wie in der lateinischen Ekloge von 1651, die Geburt Christi explizit in den Gesamtzusammenhang der menschlichen Heilsgeschichte gestellt wird, sondern weil hier auch ein Gesang eines der Jesus an der Krippe besuchenden Hirten eingefügt ist, der nicht nur wegen des Sängernamens (Iolas)59 Erinnerungen an die antike und humanistische Bukolik-Tradition weckt und deshalb hier vollständig nebst den ihn einleitenden Versen mitgeteilt werden soll: Sie gehn vnd finden auch das Kind in seiner Wiegen, Die eine Krippe war, auff dürrem Grase liegen, Den frommen Joseph stehn, die Mutter auch dabey. O wer beschreibt mir hie jhr’ Andacht, Lieb’ und Trew? Wie heilig fallen sie Jhm hin zu seinen Füssen, Wie behten sie Jhn an, da siehet man ein küssen. Zuletzt beschencken sie Jhn auch mit einer Gab’, Ein jeder wie er weis, nach seiner armen Hab’. Jolas, Milcons Sohn, der ältest’ vnter jhnen, Der schon für Schäfer erst in Basan60 pflag zu dienen, Vnd jenseit dem Jordan so manche liebe Nacht Bey seiner Heerde nur mit Singen zugebracht, Daß offt von seinem Spiel auch Seir61 wiederklungen, Der manchen Ziegen=Bock den Hirten abgesungen, Hält sich für Frewden nicht. O, spricht er: süsses Kind, Bist du, von welchem wir so viel berichtet sind? Wird also viel von Dir gemeldet vnd gelesen? Bist du den Vätern schon im Geist bekandt gewesen? Hofft Jsrael auff Dich? hab’ eben ich die Zeit Jch armer Hirt’, erlebt? bringst du die Seeligheit?

–––––––––––– 57 Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), Bd. 3, 79 (Text: Auff Weihnachten) u. 470, Nr. 74 (bibliographischer Nachweis). 58 Ebd., 241-250. 59 Zu diesem auf Vergil (ecl. 2,57; 3,76.79) zurückgehenden Hirtennamen und seinem Nachleben in der neulateinischen deutschen Bukolik vgl. Camerarius, Eclogae (wie Fußn. 16), 301f. 60 Hochebene östlich des Sees Genezareth, die heutigen Golan-Höhen. 61 Name von zwei Gebirgszügen: der eine südwestlich des Toten Meeres, der andere in Juda.

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Wird Davids Stuel durch Dich in Ewigheit bestehen? Wirst Du der Jüden Reich biß an die Stern’ erhöhen? Wie aber liegst du hier so nackt, ohn Pracht, ohn Liecht? Die Armuth reimt sich ja zu grosser Herrschafft nicht. Verzeih, o Schatz, mich wird dein Engel nicht betriegen, Der sang mir schon vorhin von deiner armen Wiegen, Denn warlich du must seyn ein mächtig hoher Gast, Weil Du auch Engel selbs zu deiner Botschafft hast. Jst von der Heerde doch auch David erst genommen Vnd zu des Scepters Macht vom Hirten=Stabe kommen. Jhr Brüder, dieser ist’s, den [!] unser Nacht=Geschrey Allein erklingen sol, last eure Wald=Schalmey Jhn, das gewünschte Pfand, bey eurer Heerde preisen. Was mich betrifft, ich wil mit meinen schlechten Weisen Jhn rühmen, als ich kan, ich wil mit meiner Stimm’ Jhn biß durch Gilead62 vnd gantzes Ephraim63 Stets wissen kund zu thun, ich wil von seinen Ehren Die Wälder, so ich weis, gesampt erschallen lehren. Jch wil mit seinem Lob’ auch an die Wolcken gehn, Er sol durch meine Hand an allen Cedern stehn. Du wollest mich nur, Kind, für deinen Knecht erkennen, Laß allzeit mich nach Dir in reiner Liebe brennen, Schleuß mich, gleich wie ich Dich, auch deinem Hertzen ein Vnd laß mein Erb’ hinfort in deinem Reiche seyn.64

2.2. Die Osterekloge (1652) Die Grundkonstellation des Gesprächs der beiden Hirten in diesem Text ist ähnlich der der Weihnachtsekloge. Klärte dort der Hirte Mycon seinen Partner Mopsus über die diesem noch unbekannte Tatsache der Geburt Jesu und deren Bedeutung auf, so versucht hier der Hirte Celadon die Zweifel des Hirten Sarnis an der Tatsache der Auferstehung Jesu, dem auch hier der Name Daphnis beigelegt wird, zu beseitigen. Die Ekloge beginnt damit, daß Celadon Sarnis voller Freude mitteilt, daß Daphnis Tod und Hölle überwunden habe und nun kein Grund zum Trauern mehr bestehe. Sarnis zweifelt an der Richtigkeit dieser Botschaft, da sie den Gesetzmäßigkeiten der Natur widerspreche. Kein Toter könne wieder ins Leben zurückkehren. Celadon weist solchen Zweifel zurück mit –––––––––––– 62 Biblische Bezeichnung für das Ostjordanland insgesamt oder bestimmter dort liegender Regionen. 63 Wohngebiet des Stammes Ephraim, eines der zwölf Stämme Israels (im Südteil des gleichnamigen Gebirges in Mittelpalästina). 64 Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), Bd. 3, 246f.

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dem Argument, daß der Göttlichkeit des Daphnis nichts unmöglich sei. Da diese ihm erlaubt habe, Menschen, die schon gestorben waren, wieder zum Leben zu erwecken, müsse es ihm möglich sein, auch für seine eigene Person den Tod zu überwinden. Er habe ja auch seinen Jüngern vorausgesagt, daß er am dritten Tage von den Toten wiederauferstehen werde. Sarnis möchte nun aber handgreifliche Beweise haben: Aussagen von Menschen, die die Auferstehung bezeugen könnten. Celadon verweist nun auf mehrere Hirten, die Daphnis nach seiner Auferstehung begegnet seien; als erste habe ihn Herpylis (d.i. Maria Magdalena) gesehen. Man habe auch Nachricht, daß Engel vom Himmel herabgekommen seien, um die steinerne Grabplatte beiseite zu schaffen – wobei die Wächter in Schrecken geraten seien. Sarnis gibt sich aber auch damit noch nicht zufrieden und hebt die Diskussion auf eine höhere, theologische Ebene: Warum denn Daphnis überhaupt habe sterben wollen, wenn er jetzt doch wieder ins Leben zurückgekehrt sei. Celadon beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf alte Orakel (d.h. das Alte Testament), die vorausgesagt hätten, daß Gott sich einmal als berühmter Hirte opfern werde, um der Herde Sicherheit vor den Angriffen des Wolfes zu verschaffen. Dies erinnert Sarnis an David, der als junger Mann die Herde seines Vaters gegen einen Löwen und einen Bären verteidigt habe. Celadon bestätigt Davids große Leistungsfähigkeit: Er habe auch einen Riesen besiegt und ein ganzes Heer in die Flucht geschlagen. Mit dem Hirten Daphnis könne er sich aber dennoch nicht messen. Damit ist der Disput zwischen Sarnis und Celadon beendet, und die beiden halten nach beiderseitiger Aussetzung von Siegespreisen einen Wettgesang ab. Dessen Thema gibt Celadon vor: Lobpreis des Sängers Daphnis, der ebenso wie Orpheus sowohl die Menschen als auch die belebte und unbelebte Natur in seinen Bann gezogen habe. Alles, was am Himmel und auf der Erde existiere, verdanke seinen Bestand nur dem göttlichen Walten des Daphnis. Mit dem Hinweis auf das Jüngste Gericht, das Daphnis, der die Liebe und Anfang und Ende aller Dinge sei, mit einem Gesang einleiten werde, endet der Wettgesang, und damit endet auch, etwas abrupt, die Ekloge. Jeder der beiden Hirten nimmt den Siegespreis, den er ausgesetzt hatte, wieder an sich, und Celadon schlägt einen weiteren Wettgesang vor, mit dem Hirten Molon als Schiedsrichter. Vorbilder innerhalb der neulateinischen Bukolik, bei denen sich Dach auch für seine Osterekloge Anregungen geholt haben könnte, sind nicht auszumachen. Die Menge der verfügbaren Texte, die in Frage kommen, ist allerdings auch nicht groß. Im Verlauf meiner mehrjährigen intensiven Beschäftigung mit diesem Zweig der neulateinischen Literatur habe ich,

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nicht anders als W. Leonard Grant,65 gerade einmal zwei humanistische Eklogen ausfindig machen können, in denen das Ostergeschehen thematisiert wird.66 Sie sind enthalten in den oben schon genannten geistlichen Eklogen-Zyklen von Antonio Geraldini67 und Gregor Bersman.68 Einzig bei dem sehr ausgefallenen, nicht antiken Namen Sarnis, den Dach einem der beiden Hirten gegeben hat, läßt sich eine Verbindung zu einem Bukoliker des 16. Jahrhunderts herstellen, zu Petrus Lotichius Secundus nämlich, in dessen erster Ekloge Sarnis, Venator (Der Jäger Sarnis) der Jäger Lycidas die Abwesenheit seines Freundes Sarnis beklagt.69 Auch mit dem Namen des zweiten Hirten, Celadon (ebenfalls der antiken Bukolik fremd), könnte Dach sich bei Lotichius bedient haben. In dessen fünfter Ekloge (Daphnis) beklagen der Vogelsteller Myrtilus und der Jäger Celadon den Tod ihres Freundes Daphnis.70 Höchst aufschlußreich ist der inhaltliche Zusammenhang von Dachs akademischer österlicher Festdichtung in Eklogenform mit der großen deutschsprachigen Dichtung, die er zum Osterfest desselben Jahres (1652) der brandenburgischen Kurfürstin Luise Henriette gewidmet hatte: Lobgesang JESU CHRJSTJ [d.h. auf Jesus Christus!] wegen seiner Sieg= und Frewdenreichen Aufferstehung Von den Todten.71 Erst nach der Lektüre dieses Textes wird deutlich, was Dach dazu bewogen hat, die beiden Hirten seiner Ekloge, den rückhaltlos gläubigen Celadon und den Zweifler Sarnis, über das Geschehen der Auferstehung Christi disputieren zu lassen. Deren Disput verläuft eigenartig ergebnislos, wenn es auch am Schluß der Ekloge (V. 89–92) so scheint, als sei Sarnis endgültig überzeugt worden. Wesentlich dezidierter äußert sich Dach selbst hingegen zu dieser Thema–––––––––––– 65 Grant, 1965 (wie Fußn. 16), 268f. u. 273. 66 Vgl. aber oben, Fußn. 26, die vier dort verzeichneten Ostertexte, auf die ich erst durch Nachforschungen innerhalb der Internetdatenbank VD 16 gestoßen bin und die ich bislang nicht einsehen konnte. Da es sich um Autoren handelt, die sich in der neulateinischen deutschen Literatur keinen Namen gemacht haben, dürfte ihre Auswertung für vorliegenden Zusammenhang auch kaum von großer Bedeutung sein. 67 Leistritz, Carmen Bucolicum (wie Fußn. 35), 128-135: Ecloga octava: De resurrectione salvatoris. Collocutores: Maria Magdalena sub nomine Egle et Iesus sub nomine Acanthi. 68 Bersmanus, Poemata (wie Fußn. 46), 6-10: Ecloga II. Iesus Christus. De merito salutiferae mortis ac gloriosae resurrectionis Domini ac Servatoris nostri Iesu Christi canentes introducuntur Ioach. Camerarius et alius quidam pastor. Die beiden Hirten tragen die Namen Iosias (= J. Camerarius) und Banaias. 69 Lotichius Secundus, Poëmata omnia, 1 (wie Fußn. 21), 569-578. 70 Ebd., 599-609. 71 Dach, Gedichte (wie Fußn. 4), Bd. 3, 435-459.

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tik in dem jener deutschsprachigen Osterdichtung vorangestellten Widmungsbrief an die Kurfürstin. Zu Anfang dieses Briefes führt er aus, daß Menschen in vorchristlicher Zeit hauptsächlich deshalb an der Existenz Gottes gezweifelt hätten, weil in der Welt die Bösen und Verkehrten oft eitel Wolleben, Glück und Überfluß genössen, die Frommen aber meistentheils lauter Vnglück und Wiederwertigkeit auszustehen hätten.72 Wenn es nämlich einen Gott gäbe, wäre er ein gerechter Gott und würde die Welt nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit einrichten. Solche atheistischen Überzeugungen haben laut Dach ihre Ursache darin, daß man zu jener Zeit von einem Leben nach dem Tode nichts gewußt habe: Vnd diese Gotteslästerliche Meinung rühret daher, daß sie die Aufferstehung der Todten entweder gar nicht gewust, oder nichts davon gehalten haben, im wiedrigen hätten sie leicht abnehmen können, daß in jenem andern Leben sich das Blat würde wenden müssen, und ein jeglicher empfangen den verdienten Lohn seiner Wercke. Weil sie aber die Schrifft nicht wusten oder annehmen wolten, kam es ihrer Vernunfft gantz ungereimet vor, daß, was einmahl zu Asch und zu nichte wäre worden, wiederumb leben und aufferstehen könte.73

Wenigstens habe aber das bohrende schlechte Gewissen schon den Übeltätern bei den Heiden die Vorstellung nahegebracht, es müsse nach diesem leben mit ihnen nicht gar aus seyn, sondern sie würden nach demselben erstlich ihr rechtes Vrtheil zu erwarten haben.74 Insofern werde ganz deutlich, daß die Aufferstehung der Todten gleichsam eine ZuchtSchul ist des verruchten und boßhafften Lebens, daher sind die schönen Worte: Gedenck an das Ende so wirst du nimmermehr Vbels thun.75 Die Verbindung dieses Aspekts mit dem der Auferstehung Jesu sieht Dach auf folgende Weise als gegeben: Weil nun auch zu Pauli Zeiten sich Epicurer gefunden, die von dieser Lehre wenig hielten, als wiederlegt er sie unwiedertreiblich sonderlich mit dieser gantz statlichen Folge, daß, wo unsre Leiber nicht aufferstehen solten, auch Christus nicht müsse aufferstanden seyn, aus welchem alle Irrthüme [!] und Schanden ihren Vrsprung nehmen würden, also daß Christi Aufferstehung zum einigen Grunde der Vnseren von ihm geleget ist. Wann nun an seiner Aufferstehung so viel gelegen, daß, im fall diese geleugnet werden könte, auch alle seine Wolthaten, so er uns erwiesen, zu Wasser und nicht gemachet werden [...] als hat die alte Kirche gar wol und löblich gethan, daß sie der Aufferstehung Christi dieses hohe Fest, dieselbe recht inniglich und Christlich zu betrachten zu geeignet, damit ein

–––––––––––– 72 73 74 75

Ebd., 435. Ebd. Ebd., 436. Ebd.

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jeglicher seinen Erlöser für seinen bittern Tod vnd herlichen Sieg über denselben von Hertzen dancken möchte.76

Dieser Gedanke wird am Schluß des Gedichtes selbst noch einmal aufgegriffen: Das beste welches wir in diesem Leben wissen, Vnd alle Kunst beschämt, ist blohs daß du, HErr Christ, Ein starcker Sieges=Held vom Tod’ erstanden bist. Laß aller Wissenschafft und Weißheit Gut verschwinden, Wenn wir in dieser Kunst uns nur gelehrt befinden, Sie bleibt uns doch zu hoch, ob gleich die stoltze Welt Sie und dein Creutz dazu für lauter Thorheit hält. Gieb du uns nur darein Begierde zuzunehmen, Daß wir die böse Lust durch ihr Erkäntniß zähmen, Denn dein Erstehung scheint doch dahin bloß zu gehn, Daß wir von unserm Fleisch und seinem Tod erstehn. Wer sich der Sünden Tod noch stets wil halten lassen Hat deiner Wiederkunfft sich wenig anzumassen, Vnd wer den Lüsten dient und wandelt nicht im Liecht Des Geistes der begreifft noch dein’ erstehung nicht. Hilff daß wir täglich uns in wahrer Busse kräncken Vnd also an das Creutz den alten Adam hencken, Der in der Finsterniß der Hellen=werck volbringt Vnd mit dem schwachen Geist ohn ablaß sorglich ringt. Laß uns durch deinen Sieg im Sieg und oben schweben, Vnd dir ergeben seyn in einem newen Leben, Thu allezeit von uns den Wust der Sünden ab, Denn deine Tücher auch behält das finstre Grab.77

3. Die Texte Die nachfolgende Edition der beiden Eklogen Dachs basiert auf den beiden oben (Anm. 9 u. 10) genannten, jeweils zwei ungezählte Blätter in 4° umfassenden Einzeldrucken der UB Wrocław (Breslau), Sign.: 354 241 (Weihnachtsekloge), und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851-2,74 R (Osterekloge). Die Interpunktion wurde modernisiert; die Orthographie blieb unverändert, abgesehen von den heute meist üblichen typographischen Glättungen: Regulierung der i/j- und u/v-Schreibung nach modernem Usus, Auflösung von Ligaturen, Großschreibung bei Eigennamen und bei Satzbeginn. –––––––––––– 76 Ebd. 77 Ebd., 458.

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Akzente wurden übernommen. Die Sprechernamen, in den Originaldrucken stets abgekürzt am Anfang der Verszeilen, wurden ausgeschrieben und dem betreffenden Vers auf eigener Zeile in Kapitälchen vorangestellt. Die Großschreibung am Versbeginn wurde beibehalten, ebenso alle weiteren Großschreibungen der Originaldrucke (hauptsächlich bei Sakralwörtern). Druckfehler wurden korrigiert, mit Angabe der Fehlform im Apparat. Blatt- bzw. Seitenübergänge sind durch Angabe der Recto- und VersoSeiten der einzelnen Blätter innerhalb von Spitzklammern kenntlich gemacht. Den beiden Texten schließen sich jeweils kurzgefaßte Erläuterungen und eine Übersetzung an.78 Die Lemmata im Erklärungsteil sind bezogen auf die von mir den beiden Texten hinzugefügte Verszählung. Drei Punkte innerhalb des Lemmas zeigen an, daß das gesamte Textstück Gegenstand der Erläuterung ist; stehen die drei Punkte in Spitzklammern, so bezieht sich die Erläuterung nur auf die Wörter vor und nach diesem Zeichen.

–––––––––––– 78 Den Herausgebern vorliegender Festschrift habe ich für sachliche und stilistische Verbesserungsvorschläge zu den beiden Übersetzungen und für Ergänzungen zu den Erläuterungsteilen zu danken.

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3.1. Die Weihnachtsekloge (1651) IESU CHRISTI Dei ab aeterno â Patre geniti, et in temporis complemento ex Maria Virgine Hominis nati Redemptoris nostri opt. max. honori natalitio.

Mopsus. Mycon. 79 Quin, formose Mycon, moesta tuae fata Amaryllidis Fletu continuas, quem subitis imbribus haud ita Pridem rupit hyems nos dirimens et tenerum gregem? Et iam caeruleo sol rediit purior aethere, 5 Iam turbata leves rursum animant rura favonii, Et dulci strepitu frondiferis arboribus sonant. Te verò, iuvenis, bucolico carmine nobilem Silvae urbesque ferunt, te nemorum discere numina Et nymphae cupiunt. Quot patulis lutea frondibus 10 Pendent serta tibi, sub tugurî cespite quot tui Servas pocula, quot fronte truces, spem generis, capros Omni rure, tuae, scit Lycabas, munera fistulae! MYCON. Nil me dona movent, nîl querulae nomen arundinis Et vanae Dryades, nec me iterum, Mopse, precor posce Amaryllida. 15 Nil mortale canam, iam melior pectora vis subit. Iam spirare polos, iam didici ferre animis Deum. MOPSUS. Quae Medea tibi quisve magus tàm citò pristinos Sensus eripuit? Tene valens carmine mystico Ter Circe radio summa notans tempora contigit? MYCON. Tune impune viris obiicias talia? Thessalae Quid scrutentur anus,80 sintne Hecates numina quae putant,

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–––––––––––– 79 Fehlt im Originaldruck.

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Fugi scire. Utinam dispereant, haec sacra qui colunt. Detestanda mihi nomina sunt Zopyrion senex, Euphorbus, Pterelas, tum Pholoë carminibus polo Lunam diripiens, docta animam reddere mortuis, Umbris imperitans et superis et tumido mari, Impellensque sacra, sic perhibent, pectora naenia. Constat mens animi recta mihi corpus ut integrum. At qui desipui, Mopse, diu, nunc sapio probè, Postquam propitiis sideribus Daphnis adest puer, Quem virgo peperit concubitus nescia masculi.

MOPSUS. Quem narras puerum, parve Mycon, quam mihi virginem? MYCON. Quem desideriis, caede boum thureque, condito A mundo, proavûm spes petiit vatibus eminus 35 Iam visum. Media nocte mihi nuncius adstitit Coelestis sociisque attonitis lumine plurimo Iam natum referens et positum Daphnida sordido Praesepi; propero solliciti Bethlemiam gradu Iremus. Pedibus continuò nos ferimur citis, 40 Inventum colimus supplicibus protinus osculis. Lux ô sidereis quanta oculis, qui lepor ô genis Aut quae floridulo, Mopse, fuit gratia corpori? Iures esse Deum. Sed genitrix lumina dulciter Demisit residens, virgo, tamen facta puerpera, 45 Et charum tenerâ filiolum fovit alens manu. Quidam fortè senex iuxtim asino pabula praebuit. MOPSUS. Nunc patrem memini stultus ego plurima dicere Hoc nobis solitum de puero non sine lachrymis, Venturum populis praesidium, Isacigenis decus, 50 Tunc vulgò lapides aureolos sub pede quolibet Et gemmas fore, tunc lacte novo, flumina tunc vaga Undatura mero, tunc pecori nîl fore noxium. MYCON. Hic est ille puer, sic iuvenes aetherii canunt. MOPSUS. Alternis igitur dignus erit carminibus, Mycon. MYCON. Iamdudum meditor. Non humilis Musa decet Deum,

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–––––––––––– 80 Quid scrutentur anus durch Beschneiden des oberen Randes stark dezimiert, unter der Zeile hsl. vollständig mitgeteilt. Das Quid ist auch verbürgt als Kustos auf Bl. 1r.

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Quem certant acies sidereae tollere laudibus. MOPSUS. Pastorumne putem voce rudi nolle Deum cani? Et quondam Isaides pastor erat montibus his agens Chari patris oves, at Superos movit arundine. MYCON. Quis nato taceat, plausum agitant omnia, Daphnide? Et silvae strepitu subsiliunt, et resonant sacrae Quercus, et trepidant laetifico murmure flumina.

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MOPSUS. Daphnis cuncta novat, reddit agris et pecori decus. MYCON. Secum candida fert fata suo Daphnis ab aethere, 65 Et prisco melius seculum equis provehit aureis. Tellus agricolam non subiget vomere, non bovem. Crescet sponte Ceres, musta sui non capient lacus. Vix gestabit ovis purpurei pondera velleris, Vix baccas oleae. Perpetuis fructibus arbores 70 Nutabunt, salices parturient nunc opobalsamum. Et pinguis sterili vel platano myrrha fluet, rosas Quaevis et violas terra ferax puniceas feret. MOPSUS. Pax et iuris amans sancta fides rus iterum colunt, Iam non insidias latro parat, sanguine non vias 75 Infamat, manibus portat opes conficiens iter, Et complet vacuum tutus ubique aëra cantibus. MYCON. Et nunc innocuis errat ovis mista leonibus, Nec saevi metuit capra salax os rabidum lupi. Non infecta bibit bos petulans vaccaque flumina, 80 Nec corrupta metit comminuens gramina dentibus. Non armenta luem tabificam non homines timent. MOPSUS. Ergo, optate puer, nulla tuum lux decus auferet. Donec parca thymo gaudet apis, pascua gramine, Vivo fonte nemus, purpureis ver breve floribus, 85 In nostris tua laus semper erit pectoribus virens. MYCON. Dum nox atra diem persequitur, pulverulentam hyems Aestatem, fluviorum usque recens unda supervenit Undae, te vituli sanguine, te lacte vocabimus. MOPSUS. Felix cresce puer! Quantus eris, cum tua mel merum

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Fundet lingua, docens nostra salus vitaque cardine Quo vertatur, iter quod liquidum ducat in aethera, Cum caecis roseum restitues unica lux diem, Claudis crura, sonum nulla priùs verba loquentibus, Et vitam domitis iam nece. Tunc aequoream manu Compesces81 rabiem, traiicies undisonum mare Non udis pedibus, tunc populis exiguo improbam Franges pane famem, quin trucium spirituum gregi Formidandus eris, quem subiges imperio domans.

MYCON. Heu quàm stat meritis nulla solo gratia par tuis! 100 Nunc horres tenebris82 atque gelu, panniculis miser Abiectis tegeris membra toro laesus ab hispido. Post haec pontificum ludibriis, plebis et infimae Sannis expositum te peragent, Daphni, crucis reum. Sed cum roborea sustulerint innocuum trabe, 105 Tecum quaelibet in fata, precor, nos, sequimur, rape. MOPSUS. Pastor, coge pecus, praecipitat vespera coelitùs. Fumat villa procul, meque epulis Nisa domi manet Iamdudum, stipulam carminibus cras iterabimus. M.DC.LI.

Simon Dachius.

Erläuterungen Die Namen der beiden Sprecher sind aus der antiken lateinischen Bukolik bekannt. Mopsus heißt auch einer der beiden Hirten in Geraldinis Weihnachtsekloge De salvatoris nostri nativitate (s.o., S. 212). Zu Mycon (= Micon) vgl. auch Dachs Osterekloge, V. 62. 1 Amaryllidis] Amaryllis als Name eines Hirtenmädchens bei Vergil (ecl. 1,4–5) und Calpurnius (4,38). 17–19 Medea Circe] Die kolchische Zauberin Medea und ihre Tante Kirke, die Tochter des Sonnengotts, werden schon bei Theokrit 2,15f. als Magierinnen für einen Liebeszauber angerufen. 19 Circe] Vgl. Verg. ecl. 8,70.; die Verwandlung der Gefährten des Odysseus durch Berühren mit einem Stab ist bei Ovid met. 14,278 ähnlich formuliert: et tetigit summos virga dea dira capillos. 20–21 Thessalae anus] Thessalien galt im Altertum als ein Land der Zaubereien und Hexenkünste (vgl. Lukan 6,434–444). –––––––––––– 81 Compescos Originaldruck 82 tenerbis Originaldruck

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21 Hecates numina] Hekate hier als Göttin der Zauberei. 23 Zopyrion] Gemeint ist vermutlich Zopyros, ein Magier und Physiognom, der zur Zeit des Sokrates in Athen wirkte. Er soll Sokrates wegen seines Aussehens verspottet (Cic. fat. 10) und ihm einen gewaltsamen Tod vorausgesagt haben (Tusc. 4,80). 24 Euphorbus] Ein phrygischer Hirte, der durch neuartige Opfer eine Dürre und Hungersnot abgewendet haben soll. So hieß u.a. auch ein homerischer Held, dessen Inkarnation Pythagoras zu sein glaubte (Ov. met. 15,161) – Pterelas] Gemeint ist hier wohl Pterelaus, König der Teleboer, der durch eine goldene Locke, die er von Poseidon erhalten hatte, Unsterblichkeit erlangte (Apollod. 2,60; Paus. 9,10,4; Hdt. 5,59). – Pholoë] Name für spröde Mädchen bei Tibull (1,8,69) und Horaz (carm. 1,33; 2,5,17; 3,15,7). Wie die dieser Pholoë von Dach in V. 24–27 beigelegten magischen Fähigkeiten nahelegen, handelt es sich hier um eine vage, nicht ganz sachgerechte Reminiszenz an Tib. 1,8,17–19. 24–25 carminibus ... diripiens] Vgl. Verg. ecl. 8,69; Ov. met. 12,263–264. 30 Daphnis] Jesus Christus hier wie auch in der Osterekloge unter dem Namen des in Vergils 5. Ekloge besungenen mythischen Hirten Daphnis, der eines grausamen Todes stirbt und, betrauert von der gesamten Natur, verklärt zum Himmel aufsteigt und von den Hirten fortan als Gott verehrt wird. Mit dem Vergilischen Daphnis ist nach Servius (ecl. 5,20) allegorisch auf Caesars Tod Bezug genommen. 35–39 Media nocte ... citis] Nach Luc. 2,8–16. 46 Quidam senex] Der hl. Josef. 49 Isacigenis] Vgl. die Stammtafel Jesu Matth. 1,1–16. 51–52 tunc lacte ... mero] Vgl. exod. 3,8. 52 nîl fore noxium] Vgl. Is. 11,9. 58 Isaides pastor] David, der als jüngster Sohn des Isai in Bethlehem seines Vaters Schafe hütete (I Sam. 17,15). Vgl. die Osterekloge, V. 36. 59 Superos movit arundine] Anspielung auf den Psalter, als dessen Verfasser David galt. Vgl. Am. 6,5. 61–62 Das Lob Gottes durch den Kosmos (etwa psalm. 95,11–13: Laetentur caeli et exultet terra, commoveatur mare et plenitudo eius, gaudebunt campi et omnia, quae in eis sunt. Tunc exultabunt omnia ligna silvarum a facie Domini, quia venit ) wird u.a. wiederaufgegriffen bei Is. 49,13: Laudate, caeli, et exulta, terra, iubilate, montes, laudem. 63–81 Mit der Geburt Jesu wird also ein Reich des Glücks, des Wohlstands, der Gerechtigkeit und allgemeinen Friedens anbrechen. Wie in der frühneuzeitlichen Weihnachtsbukolik üblich, verbindet sich hier Jesajas Prophetie vom Friedensreich des Messias (Is. 11) mit der Vision von der Neubelebung des Goldenen Zeitalters mit der Geburt eines Kindes in Vergils 4. Ekloge.

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68 Vix ... velleris] Vgl. Verg. ecl. 4,42–45. 71 Et pinguis ... fluet] Vgl. Verg. georg. 2,70: et steriles platani malos gessere valentis (steriles besagt hier, daß die Platane keine für den Menschen brauchbaren Früchte hervorbringt). 77 innocuis ... leonibus] Vgl. Verg. ecl. 4,22. 83 Donec ... apis] Vgl. Verg. ecl. 5,77: dumque thymo pascentur apes. 86–87 pulverulentam Aestatem] Vgl. Verg. georg. 1,66. 87–88 unda supervenit Undae] Vgl. Hor. epist. 2,2,176: velut unda supervenit undam. 89 Felix cresce puer!] Vgl. Verg. ecl. 4,60/62: Incipe, parve puer. 92 caecis ... diem] Matth. 9,27–30; Marc. 8,22–25; Luc. 7,21. 93 Claudis crura] Matth. 9,6–7; 15,30–31; 21,14. – sonum ... loquentibus] Matth. 9,32–33; Marc. 7,32–35. 94 vitam ... nece] Ioh. 11,32–44 (Lazarus); Marc. 5,35–42 (Tochter des Jairus). 94–95 aequoream ... rabiem] Luc. 8,24. 95–96 traiicies ... pedibus] Matth. 14,25. 96–97 populis ... famem] Matth. 15,32–38. 97–98 trucium spirituum ... domans] Matth. 8,30–32. 106 coge pecus] wörtlich Verg. ecl. 3,20. 107 Fumat villa procul] Vgl. Verg. ecl. 1,82: Et iam summa procul villarum culmina fumant. – Nisa] Nysa, Name einer Mädchengestalt in den Eklogen von Vergil (8,18.26) und Nemesian (3,26). Vgl. Osterekloge, V. 50.

Übersetzung Zu Ehren des Geburtstages Jesu Christi, unseres gnädigsten und größten Erlösers, der, Gott von Ewigkeit her, vom Vater gezeugt und, als die Zeit erfüllt war, von der Jungfrau Maria als Mensch geboren wurde.

Mopsus. Mycon.

Warum, schöner Mycon, fährst du nicht fort mit der Klage über den traurigen Tod deiner Amaryllis – der Klage, die der Wintersturm durch plötzliche Regengüsse vor gar nicht langer Zeit unterbrochen hat, indem er uns und die junge Herde voneinander trennte? Schon ist die Sonne heller am blauen Himmel zu-

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rückgekehrt, schon beleben sanfte Winde aufs neue die aufgewühlten Felder und rauschen lieblich in den belaubten Bäumen. Wälder und Städte, junger Mann, verkünden aber deinen Ruhm in der Hirtendichtung, die Gottheiten der Haine und die Nymphen sind begierig, dich kennenzulernen. Alle die aus ausgebreitetem Laubwerk gewundenen goldgelben Kränze, die für dich aufgehängt sind, alle die Becher, die du unter der Rasendecke deiner Hütte verwahrst, und alle die ungebärdigen Ziegenböcke, Hoffnung ihres Geschlechts, auf dem ganzen Landgut: Alles das sind – Lycabas weiß es – Geschenke für dein Flötenspiel. MYCON. Gaben beeindrucken mich gar nicht, nicht der Ruhm der klagenden Flöte und die banalen Dryaden. Verlange bitte auch nicht wieder von mir, Mopsus, daß ich Amaryllis besinge. Ich will nicht von Sterblichem singen, eine bessere Macht hat jetzt mein Herz ergriffen, jetzt habe ich gelernt, vom Himmel beseelt zu sein und Gott im Herzen zu tragen. MOPSUS. Welche Medea oder welcher Zauberer hat dir so schnell deine alte Denkungsart geraubt? Hat Kirke, die stark ist durch geheimen Zauberspruch, dich dreimal mit ihrer Rute berührt und oben am Kopf gezeichnet? MYCON. Kannst du ungestraft Männern derartige Vorwürfe machen? Ich will gar nicht wissen, was die alten Frauen in Thessalien erforschen und ob es das Walten der Hecate gibt, an das sie glauben. Zugrunde gehen sollen die, die solche Riten abhalten! Verabscheuungswürdige Namen sind mir das: der Greis Zopyrion, Euphorbus, Pterelas, sodann Pholoë, die mit Zaubergesängen den Mond vom Himmel zerrt, fähig ist, Toten das Leben zurückzugeben, die über das Schattenreich, über die obere Welt und das schwellende Meer gebietet und die, wie man sagt, mit einer Zauberformel Herzen verleitet. Das Innerste meines Herzens ist unbeirrt auf das Gute gerichtet, so wie mein Körper unversehrt ist. Ich, der ich lange ein Tor war, Mopsus, besitze nun aber gehörige Einsicht, seitdem unter günstigen Gestirnen der Knabe Daphnis da ist, den eine Jungfrau geboren hat, die noch mit keinem Mann geschlafen hatte. MOPSUS. Von welchem Knaben, von welcher Jungfrau sprichst du mir da, mein kleiner Mycon? MYCON. Von dem, nach dem die Hoffnung der Vorväter seit Erschaffung der Welt sehnsüchtig, mit der Opferung von Rindern und mit Weihrauch, verlangte und den die Propheten in der Ferne schon gesehen hatten. Mitten in der Nacht erschien ein himmlischer Bote mir und meinen Gefährten, die wir ganz betäubt waren von seinem hell strahlenden Leuchten, und sagte uns, daß Daphnis jetzt geboren sei und in einer ärmlichen Krippe liege; wir sollten zusehen, eilends nach Bethlehem zu gehen. Schnellen Schrittes machten wir uns sogleich auf den Weg, und als wir Daphnis gefunden hatten, bezeugten wir ihm ungesäumt mit demütigen Küssen unsere Verehrung. O, welch herrliches Leuchten war in seinen sternengleichen Augen, welche Anmut ruhte auf seinen Wangen, Mopsus, welch ein Liebreiz auf

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seinem blühenden Leib! Du würdest schwören, dass er Gott ist! Seine Mutter aber saß dort und senkte anmutig die Augen, Jungfrau und doch Wöchnerin geworden, und sie hielt ihr liebes Söhnchen sorglich mit zarter Hand, während sie es säugte. Ein alter Mann gab gerade in ihrer Nähe einem Esel Futter. MOPSUS. Jetzt erinnere ich Einfaltspinsel mich daran, daß mein Vater uns unter Tränen von diesem Knaben sehr viel zu erzählen pflegte: Er, der Stolz für die Nachfahren Isaaks, werde kommen als Beschützer der Völker. Dann würden überall unter jedem Fuß Steine aus Gold und Juwelen sein, dann würden die wallenden Flüsse überfließen von frischer Milch und von reinem Wein, dann würde dem Vieh nichts mehr schaden können. MYCON. Dies ist ebenjener Knabe: So verkünden es die himmlischen Jünglinge. MOPSUS. Also wird er würdig sein, Mycon, daß man ihm Wechselgesänge widmet. MYCON. Längst schon denke ich darüber nach. Doch eine niedere Muse ziemt sich nicht für Gott, um dessen Lobpreis die himmlischen Heerscharen miteinander wetteifern. MOPSUS. Soll ich glauben, daß Gott von der kunstlosen Stimme der Hirten nicht besungen werden will? Einstmals trieb in diesem Gebirge auch der Sohn des Isai als Hirte die Schafe seines lieben Vaters, und dennoch rührte er die Himmlischen mit seiner Flöte. MYCON. Wer könnte schweigen, da doch Daphnis geboren wurde? Alles lässt Beifall erschallen. Auch die Wälder frohlocken mit Rauschen, die heiligen Eichen hallen wider, und die Flüsse strömen schnell mit fröhlichem Tosen. MOPSUS. Daphnis macht alles neu, gibt Glanz den Feldern und dem Vieh. MYCON. Von seinem Himmel her bringt Daphnis ein glückliches Geschick mit, und mit goldenen Pferden führt er ein Zeitalter herauf, das besser ist als das frühere. Die Erde wird mit der Pflugschar nicht den Bauern und nicht den Ochsen zermürben. Von selbst wird das Getreide wachsen, den Most werden seine Kufen nicht fassen. Kaum wird das Schaf das Gewicht des purpurnen Vlieses tragen können, kaum die Ölbäume ihre Beeren. Die Bäume werden schwanken unter den allzeit vorhandenen Früchten, die Weiden jetzt Balsam hervorbringen. Sogar von der unfruchtbaren Platane wird ein öliger Strom von Myrrhe fließen, und jeder Boden wird ohne Unterschied fruchtbar sein und Rosen und purpurrote Veilchen tragen. MOPSUS. Der Friede und die das Recht liebende heilige Treue bewohnen wieder das Land,

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der Straßenräuber liegt nicht mehr auf der Lauer, schändet nicht mehr die Wege mit Blut, der Reisende trägt seinen Besitz offen in Händen und lässt überall gefahrlos seinen Gesang in die freie Luft erschallen. MYCON. Jetzt schweift das Schaf inmitten harmloser Löwen umher, und die übermütige Ziege fürchtet nicht das reißende Maul des wilden Wolfes. Das ausgelassene Rind und die Kuh trinken aus unverseuchten Flüssen und rupfen und zermahlen mit ihren Zähnen keine vergifteten Kräuter. Weder das Vieh noch die Menschen haben eine zehrende Seuche zu befürchten. MOPSUS. Also wird, ersehnter Knabe, kein Tag deine Herrlichkeit rauben können. Solange sich die sparsame Biene am Thymian erfreut, die Wiese am Gras, der Hain am lebendigen Quell, der kurze Frühling an purpurnen Blüten, so lange wird dein Ruhm stets in unseren Herzen leben. MYCON. Solange die schwarze Nacht auf den Tag folgt und der Winter auf den staubigen Sommer, solange in den Flüssen immerfort eine neue Welle die alte überwallt, so lange werden wir dich anrufen mit dem Blut eines Kalbes und mit Milch. MOPSUS. Knabe, wachse glücklich heran! Wie groß wirst du sein, wenn deine Zunge reinen Honig wird fließen lassen, indem sie uns lehrt, um welche Angel sich unser Heil und Leben dreht, welcher Weg in den klaren Himmel führt, – wenn du, einzigartiges Licht, den Blinden den rosigen Schein des Tages, den Lahmen den Gebrauch der Beine, denen, die zuvor kein Wort sprechen konnten, die Stimme und denen, die schon der Tod bezwungen hat, das Leben zurückgibst. Dann wirst du mit der Hand das Toben des Sees bezähmen, das von Wellen rauschende Meer trockenen Fußes überqueren, dann wirst du einer großen Volksmenge mit einer geringen Menge Brotes ihren unbändigen Hunger stillen, ja du wirst der Herde wilder Dämonen ein Schrecken sein: Du wirst sie zähmen und deinem Befehl unterwerfen. MYCON. Ach, wie so gar keinen Dank gibt es auf Erden, der deinen Verdiensten gleichkäme! Jetzt frierst du schaudernd in Finsternis und Kälte, elend bedeckst du dich mit armseligen Lumpen, deine Glieder verletzt ein rauhes Lager. Später wird man dich, ausgesetzt dem Hohn der Hohenpriester und den Grimassen des Pöbels, anklagen, Daphnis, und zum Kreuzestod verurteilen. Doch wenn sie dich unschuldig mit den eichenen Balken erhöhen werden, so nimm uns bitte mit dir fort – zu welchem Geschick auch immer, wir werden wir dir folgen! MOPSUS. Hirte, treibe das Vieh zusammen! Der Abend senkt sich schnell vom Himmel herab. In der Ferne steigt Rauch auf vom Landhaus, und Nisa erwartet mich zu Hause schon längst zum Essen. Morgen werden wir noch einmal zum Gesang auf der Rohrpfeife spielen. 1651

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3.2. Die Osterekloge (1652) IESU CHRISTO aeterno Dei filio post ignominiosissimam mortem Peccatorum, mortis atque inferni triumphatori gloriosissimo, Redemptori nostro optimo maximo.

Celadon. Sarnis. CELADON. Est verò, ut referunt, vivit io Daphnis ab inferis Cocytoque redux, et querulus, Sarni, tuum coquit Cor mentemque dolor? Sat lachrymis hactenus est datum. SARNIS. Ne te fama loquax decipiat tàm citò credulum. 5 Quos trux imperio mors, Celadon, iam domitos premit, Victuros iterum credere me tàm facile autumas? Quid, Iordanis aquae si repetant fontis originem Et sol hesperio manè caput promat ab aequore, Mirum parturiant virus apes et mel araneae? CELADON. Ergo, Sarni, tuam difficilis demorer ut fidem Et turbare meam te patiar laetitiam? Scio Et credo. Quoties vivus adhuc ipse neci datis Vitam restituit dexter! Ego non semel his meis Vidi luminibus, quos tenebris atra subegerat 15 Iam mors, rursus in hunc isse diem munere Daphnidis83. Credas esse Deum, cur nequeat reddere sidera Surgens ipse sibi? Nam toties se fore tertia Vivum luce suis discipulis fallere nescius Affirmârat. 10

SARNIS. 20

Ut hoc edocear, dic agedum mihi Id quo teste probes? Nam solitum mira nec omnium Admissura fidem saepe videns obstupui edere.

–––––––––––– 83 Daphidis Originaldruck.

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CELADON. Viderunt Cephalus, tum Dorylas et prior Herpylis. His adde et Diophan, his Lycaban atque Palaemona Pastores fidei non dubiae. Quin Galilaeida, 25 Si visum est, venias, quo subitus iam tetulit gradum. SARNIS. Mirabar, tremulum quidnam hodie concuteret solum, Festinaret equis sol solito splendidioribus. Excepere suum laetitia terra polusque herum. CELADON. Fulgentes etiam siderea luce satellites 30 Descendisse ferunt, et tumuli pondera saxei Laxasse, excubiis attonitis et fugientibus. SARNIS. In vitam quoniam nunc rediit, cur placuit mori? CELADON. Respondit foliis ista Deo fata parantibus Iamdudum, rabidi nobilior pastor ut ex lupi 35 Rictu dente truci comminuendum assereret gregem. SARNIS. Sic olim Isaides Upilio, cum ferus hinc leo, Illinc ursus oves ore minax diriperent, eos Comprensos iuvenis magnanimo robore perculit Assertor patrii, sic memorant, intrepidus gregis. CELADON. 40 Non se David huic, quem canimus, Sarni, ferat parem Pastori, Tityum mole licet terribili puer Deiecit, decies mille viros unus agens manu. SARNIS. Pastorum quis enim sese avidis obiiciat lupis, Et solum innumeris, ferre necem non dubius, suas 45 Ut conquirat oves per nemora et tesqua diu vagas? CELADON. Et nobis animos, Sarni, dolor vulnere sauciet Vivo Daphnide84? Quin Arcadicus quam mihi tibiam Victori Lycidas inferior quippe modis dedit Nuper, Sarni, cedo! Non ego nunc deterius canam. SARNIS. 50 Nec me despicias, servitio Nisa licet mihi Usque insultet agens. Sic etiam Myrmidoni institit

–––––––––––– 84 Daphide Originaldruck.

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Festinanti operam non validis sic satis artubus. At cantu didici vincere vel, si veniat, Chromin. Si vis, deposito congrediar pignore, sic enim Certatur melius. Nec metuo quemlibet arbitrum.

CELADON. Haec si mens animi est, non fugiam. Pignoris en loco Hunc caprum statuo: iam tenerum ducere scit gregem, Iam captat socias spes numerosi ampla peculii. Tu contra quid habes, aequiparet quod pretio meum? SARNIS. Hoc depono pedum grande senis munus Amyntoris: Armant aera caput, Sicaniis digna laboribus Et docto Sterope. Saepe caprum pollicitus Mycon Illud me petiit, sed, vitulam det licet, haud feret. Verum de grege nîl tango, pecus bis numerant die.

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CELADON. Non sum difficilis, sed merito carmine quis levet Daphnin, Sarni? Suos ipse docet, quae populis canant, Quos sol exoriens, quos subiens oceanum videt, Quae vatis modulos Threicii, quae superent tubas, Infandis rabiem ponere vel docta leonibus, 70 Exarmare tigres, duritiem frangere rupium Et sedare furentum Zephyrorum et pelagi minas. 65

CELADON. Daphnis voce viros immemores distinuit cibi Abstraxitque domo, coniugibus proleque carminis Divini cupidos. Tunc siluit ventus, et omnibus 75 Aures arboribus mens et amor venit, in abditis Serpentes latebris lethifero tunc sine toxico Haesere attoniti, tunc pecudes carpere gramina Oblitae ambrosii se satiarunt dape carminis. SARNIS. Pisces quin etiam difficiles antè capi suâ, 80 Ut Daphnis cecinit, rete teres sponteque et agmine Intrarunt valido, verriculo non capiente eos. CELADON. Cantu triste chaos noctis et os Cerbereum potens Daphnis perdomuit, funere iam compositos suo In lucem revocans. Immò, patrum si stabilis fides 85 Sanctorum placitis, illa poli machina lucidi, Sol et cum facibus noctis amans Luna minoribus, Aer, terra, fretum, quicquid et haec undique continent, Constant numine, nunc quem colimus, voceque Daphnidis.

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SARNIS. Et si fatidicis porrò fides tuta sat est viris, 90 Non haec ante suum, quae celebras, interitum trahent, Quàm cum terribili voce canens omnia solverit Rerum Daphnis amor, principium clausulaque omnium. CELADON. Et cantus, iuvenis, tempus erit claudere rivulos. Laudis Daphnis aquis ecce suae nos simul obruit 95 Sorbendos miserè, nî subito desinimus pares Annis et studiis bucolica vincere tibia. Caprum tollo meum, Sarni, tuum tolle bonus pedum. Quamprimum socio cum pecore huc se tulerit Molon, Hoc certare tibi non renuo, si placet, arbitro. M. DC. LII.

Simon Dachius.

Erläuterungen Die Namen der beiden Sprecher sind in der antiken Bukolik nicht belegt. Die Wahl des sehr ausgefallenen Namens Sarnis dürfte eine Reminiszenz an die erste Ekloge (Sarnis venator) von Petrus Lotichius Secundus sein (s.o., S. 208). Auch der Name Celadon findet sich bei Lotichius (in der fünften, Daphnis betitelten Ekloge, s.o., ebd.). 1 Daphnis] S.o. zur Weihnachtsekloge, V. 30. 10 tuam ... fidem] Konstruktion etwas undurchsichtig. Übersetzung dem vermuteten Sinn entsprechend. 17–19 Nam toties ... Affirmârat] Vgl. Matth. 16,21; Luc. 24,46; Ioh. 2,19. 18 fallere nescius] Vgl. Is. 53,9; I Petr. 2,22. 22 Cephalus] Der Namensähnlichkeit wegen ist hier an Kephas zu denken, also den Jünger Simon, dem Jesus diesen Beinamen mit der Bedeutung ‘Fels’ (lat. Petrus) verliehen hatte (vgl. I Cor. 15,5; Luc. 24,34). – Dorylas] Vermutlich beliebig gewählter Hirtenname für einen der Jünger Jesu. In der römischen Bukolik begegnet der Name nur ein einziges Mal (Calpurnius 2,96). – Herpylis] Damit ist natürlich Maria Magdalena gemeint, die dem Auferstandenen als erste begegnete (Marc. 16,9). 23 Diophan Lycaban Palaemona] Wie Dorylas ebenfalls fiktive Hirtennamen für verschiedene Jünger Jesu. In der antiken Bukolik ist nur der Name Palaemon belegt (Verg. ecl. 3). 24–25 Quin Galilaeida ... tetulit gradum] Vgl. Matth. 26,32; 28,7.10; Marc. 14,28; 16,7. 29–31 Fulgentes ... fugientibus] Vgl. hierzu vor allem Matth. 28,2–4, wo aber nur von einem Engel die Rede ist, ebenso auch Marc. 16,5. In den

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anderen beiden Evangelien befinden sich zwei Engel am leeren Grab des Auferstandenen (Luc. 24,4; Ioh. 20,12). 33 foliis ista ... parantibus] folia bezeichnen hier in Anlehnung an die Blätter der Sibylle (Aen. 3,443f.: insanam vatem aspicies, quae rupe sub ima | fata canit foliisque notas et nomina mandat) das Alte Testament hinsichtlich der in ihm enthaltenen Ankündigungen des Erscheinens Christi als Erlösers des Menschengeschlechts (vgl. I Cor. 15,3; Is. 53,4–12). 36 Isaides Upilio] David (s.o. zur Weihnachtsekloge, V. 58). Der folgende Bericht über seinen Kampf mit einem die Herde bedrohenden Löwen und einem Bären nach I Sam. 17,34–35. 41 Tityum] Der von David besiegte riesenhafte Philister Goliath (I Sam. 17) erscheint hier unter dem Namen des Riesen Tityos: nach dem griechischen Mythos ein Sohn Jupiters, der zur Strafe dafür, daß er sich an Apollos Mutter Latona vergehen wollte, von Jupiter mit einem Blitzstrahl getötet wurde. In der Unterwelt lag er lang ausgestreckt gefesselt am Boden, und ein Geier fraß ihm immer aufs neue seine stets nachwachsende Leber ab. 42 decies ... agens manu] Der Sieg Davids über Goliath demoralisierte die Philister derart, daß ihr ganzes Heer von zehntausend Mann die Flucht ergriff und von den sie verfolgenden Israeliten unter der Führung Davids geschlagen wurde (I Sam. 17,51–58; 18,7). 48 Lycidas] Ein in der römischen Bukolik häufig vorkommender Name (vgl. Vergil, 9. Ekloge). 50 Nisa] S.o. zur Weihnachtsekloge, V. 107. 51 Myrmidoni] Kein aus der antiken Bukolik bekannter Name. 53 Chromin] Hirtenname bei Verg. ecl. 6,13. 60–63 Hoc depono pedum ... haud feret] Inspiriert von Verg. ecl. 5,88–90: At tu sume pedum, quod, me cum saepe rogaret, | Non tulit Antigenes, et erat tum dignus amari, | Formosum paribus nodis atque aere, Menalca. 61–62 Sicaniis ... Sterope] Steropes heißt einer der Kyklopen, die in Sizilien, am Fuße des Aetna, als geschickte Schmiedeknechte des Gottes Vulkan arbeiteten. Vgl. Claudian, Panegyricus dictus Honorio Augusto tertium Consuli (= Carmen 7), 194–195; ders., De raptu Proserpinae 1,240–241. 62 Mycon] = Micon, Hirtenname bei Verg. ecl. 3,10; 7,30, Calpurnius (5,1; 6,91) und Nemesianus (3,1); in der Weihnachtsekloge der Name eines der beiden Sprecher. 64 Verum ... die] Nach Verg. ecl. 3,32–34: De grege non ausim quicquam deponere tecum: | Est mihi namque domi pater, est iniusta noverca; | Bisque die numerant ambo pecus, alter et haedos. 68 vatis ... Threicii] Der thrakische Dichter ist der sagenhafte Sänger Orpheus, der mit seinem Gesang wilde Tiere und selbst die unbelebte Natur zu bezwingen vermochte.

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72 Die eigentlich unnötige Wiederholung des Sprechernamens Celadon ließe sich, falls nicht etwa eine Zwischenbemerkung des Sarnis beim Druck verloren gegangen sein sollte, allenfalls so erklären, daß eine Stropheneinteilung markiert werden sollte (der davorstehende wie der folgende Text Celadons umfaßt jeweils 7 Verse, ebenso alle folgenden Beiträge dieses Hirten). 77–78 pecudes ... Oblitae] Vgl. Verg. ecl. 8,2: immemor herbarum ... iuvenca. 93 iuvenis ... rivulos] Vgl. Verg. ecl. 3,111: Claudite iam rivulos, pueri. 97 tuum tolle bonus pedum] Vgl. Verg. ecl. 5,88: At tu sume pedum. 98 Molon] Als Hirtenname in der antiken Bukolik nicht belegt.

Übersetzung Für Jesus Christus, den ewigen Sohn Gottes, der nach einem äußerst schimpflichen Tode über Sünden, Tod und Hölle herrlich triumphierte, unserengnädigsten und größten Erlöser.

Celadon. Sarnis. CELADON. Es ist wahrhaftig so, wie man berichtet, hurra, Daphnis lebt, er ist aus Hölle und Unterwelt zurückgekehrt – und doch quält dein Herz und deinen Geist, Sarnis, jammervoller Schmerz? Mit den Tränen soll es jetzt genug sein! SARNIS. Laß dich von der geschwätzigen Fama nicht betrügen und schenke ihr nicht so schnell leichthin Glauben! Meinst du, ich glaubte so ohne weiteres, Celadon, daß Menschen, die schon der grimmige Tod seiner Herrschaft unterworfen hat, wieder zum Leben erwachen werden? Wie wäre es denn, wenn die Wasser des Jordan wieder zu dem Ursprung ihrer Quelle zurückflössen und die Sonne am Morgen ihr Haupt aus dem Abendmeer erhöbe, wenn, o Wunder, die Bienen Gift und die Spinnen Honig erzeugten? CELADON. Soll ich also, Sarnis, griesgrämig [meinem] Glauben Schranken setzen wie du dem deinen und zulassen, daß du meine Freude störst? Ich weiß, und ich glaube! Wie oft hat er selbst noch zu Lebzeiten Menschen, die dem Tode verfallen waren, gnädig das Leben wiedergegeben! Nicht nur einmal habe ich mit diesen meinen Augen gesehen, daß Menschen, die schon der finstere Tod dem Dunkel unter-

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worfen hatte, durch die Gnade des Daphnis wieder an dieses Tageslicht zurückgekehrt sind. Wenn du nur glaubst, daß er Gott ist, warum sollte er dann nicht auferstehen und sich selbst das Himmelslicht zurückgeben können? So oft hatte er, der ohne Falsch war, ja seinen Jüngern versichert, daß er am dritten Tage lebendig sein werde. SARNIS. Wohlan denn, sag, um mich davon zu überzeugen, mit welchem Zeugen du es beweisen kannst! Denn oft habe ich verblüfft gesehen, wie er Wunderdinge zu vollbringen pflegte, die nicht für jedermann glaubwürdig waren. CELADON. Gesehen haben ihn Cephalus, ferner Dorylas und als erste Herpylis. Diesen füge auch Diophas hinzu, auch Lycabas und Palaemon, Hirten, die Glauben verdienen. Komm doch, wenn es dir recht ist, nach Galiläa, wohin er schon sogleich seine Schritte gelenkt hat. SARNIS. Verwundert fragte ich mich, was heute den Erdboden erbeben ließ, warum die Sonne mit glänzenderen Rossen als üblich dahineilte. Erde und Himmel haben ihren Herrn mit Freude empfangen. CELADON. Man sagt, daß auch von himmlischem Licht strahlende Helfer herabgestiegen seien und die Last des steinernen Grabes gelockert hätten, nachdem die Wächter in besinnungslosem Schrecken geflohen seien. SARNIS. Da er doch jetzt ins Leben zurückgekehrt ist – warum wollte er denn überhaupt sterben? CELADON. Es entsprach den Orakelblättern, die Gott schon vor langer Zeit dieses Schicksal zubestimmten, auf daß er, ein edlerer Hirte, der Herde Sicherheit verschaffe vor dem Rachen des wilden Wolfes, der sie mit grimmigem Zahn zu zerfleischen drohte. SARNIS. So hat auch einst ein junger Schäfer, der Sohn Isais, als von einer Seite ein wilder Löwe, von der anderen ein Bär die Schafe drohenden Maules reißen wollte, sie mit beherzter Kraft gepackt und niedergestreckt, als ein, wie man erzählt, unerschrockener Beschützer der väterlichen Herde. CELADON. Mit dem Hirten, den wir besingen, Sarnis, kann David sich nicht messen, wenn er auch als Knabe einen Riesen von fürchterlicher Größe niedergestreckt hat, mit seiner Hand allein zehntausend Männer vertreibend. SARNIS. Wer von den Hirten wollte sich denn auch gierigen Wölfen entgegenwerfen, einer allein gegen unzählige, bereit, den Tod auf sich zu nehmen, um seine Schafe einzusammeln, die seit geraumer Zeit in Wäldern und Einöden umherstreifen?

Simon Dach als neulateinischer Bukoliker

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CELADON. Und soll uns, Sarnis, Leid das Herz versehren, da Daphnis doch lebt? Reiche mir lieber die Flöte, die neulich der Arkadier Lycidas mir, dem Sieger, da er im Flötenspiel unterlegen war, gegeben hat! Ich werde jetzt nicht schlechter spielen. SARNIS. Verachte mich auch nicht, obwohl Nisa mich ständig verspottet, wenn sie mich zum Knechtsdienst antreibt. Ebenso hat sie auch Myrmidon zugesetzt, als er sich bei der Arbeit mit seinen kräftigen Armen nicht so recht beeilte. Im Gesang aber verstehe ich sogar Chromis zu besiegen – falls er kommen sollte. Wenn es dir recht ist, möchte ich mit dir einen Wettstreit mit einem Wetteinsatz ausfechten: So kämpft es sich nämlich besser. Ich fürchte auch keinen Schiedsrichter. CELADON. Wenn du dazu Lust hast, werde ich mich nicht entziehen. Sieh, ich setze diesen Ziegenbock ein. Er versteht schon die junge Herde zu führen und trachtet schon nach Gefährtinnen – eine große Hoffnung auf reichen Zuwachs. Doch was hast du deinerseits, was an Wert meinem Einsatz gleichkommen könnte? SARNIS. Ich setze diesen großen Hirtenstab, ein Geschenk des alten Amyntor. Sein Ende hat einen bronzenen Beschlag, würdig sizilischer Arbeit und des Geschicks eines Steropes. Oft hat Mycon ihn von mir erbeten und mir dafür einen Ziegenbock versprochen, doch auch, wenn er ein Kalb gibt, wird er ihn nicht bekommen. Doch von der Herde rühre ich nichts an – sie zählen das Vieh zweimal am Tag! CELADON. Ich sperre mich nicht – aber wer kann Daphnis mit würdigem Gesang preisen, Sarnis? Er selbst lehrt seine Anhänger, was sie den Völkern singen sollen, die die Sonne erblickt, wenn sie aufgeht, und die sie erblickt, wenn sie in den Ozean eintaucht: Lieder, die die Weisen des thrakischen Dichters und seine volltönende Rede übertreffen, bestens geeignet, die Wildheit abscheulicher Löwen zu mildern, Tiger zu zähmen, die Härte von Felsen zu brechen und die Drohungen wütender Winde und des Meeres zu besänftigen. CELADON. Daphnis hat mit seinem Gesang Männer so abgelenkt, daß sie das Essen vergaßen, und hat sie, die begierig waren nach göttlichem Lied, fortgezogen von Haus, Weib und Kindern. Dann schwieg der Wind, und alle Bäume gewannen Ohren, Geist und Liebe. Dann verharrten in unzugänglichen Verstecken betäubt die Schlangen, ohne todbringendes Gift. Dann vergaßen die Schafe, Gräser zu rupfen, und sättigten sich an der Speise des göttlichen Liedes. SARNIS. Ja sogar die Fische, die sich zuvor schwer fangen ließen, kamen, als Daphnis sang, freiwillig und in mächtigem Schwarm in sein festgeknüpftes Netz – das Schleppnetz war zu klein, sie zu fassen! CELADON. Daphnis bezwang mit seinem Gesang machtvoll das trauervolle Dunkel der Nacht und das Maul des Zerberus und rief die, die schon beigesetzt worden wa-

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ren, ins Licht zurück. Ja, wenn die Lehren der heiligen Väter unverbrüchliche Wahrhaftigkeit besitzen, dann verdanken jener Bau des lichtvollen Himmels, die Sonne und, zusammen mit den kleineren Lichtern, der nachtliebende Mond, die Luft, die Erde, das Meer und alles, was diese überall in sich bergen, ihren Bestand dem göttlichen Walten und dem Wort des Daphnis, den wir jetzt verehren. SARNIS. Und wenn ferner das Vertrauen in die Propheten hinreichend sicher begründet ist, so wird all dies, was du rühmst, seinen Untergang nicht eher erleben, als bis mit schrecklicher Stimme seinen Gesang anheben und damit alles auflösen wird Daphnis, die Liebe, der Anfang und das Ende aller Dinge. CELADON. Es wird auch an der Zeit sein, junger Mann, die Kanäle des Gesangs zu schließen. Siehe, Daphnis überschüttet uns zugleich mit den Wassern seines Lobes, und wir werden elendiglich in einen Sog geraten, wenn wir nicht sofort aufhören, die, die uns gleich sind an Jahren und Neigungen, auf der Hirtenflöte zu besiegen. Ich nehme meinen Ziegenbock, Sarnis. Nimm du, sei so lieb, deinen Hirtenstab! Sobald sich Molon in Begleitung seiner Schafe hierher begeben hat, weigere ich mich nicht, mit dir unter seinem Urteil einen Wettstreit auszutragen, wenn es dir recht ist. 1652

SIMON DACH

Vulcanus und Constantia als Waffenschmiede – die Schildbeschreibungen in Vergils Aeneis und Ubertino Carraras Columbus MARKUS SCHAUER (Bamberg) Helden werden durch Dichter unsterblich, die Dichter durch ihre Werke – und die Werke selbst …? Sie können, wie Horaz und Ovid prophezeiten, beständiger sein als alles Irdische, wenn sie in jeder Generation wieder gelesen und weitergegeben werden. Die Werke der Dichtung sind unvergänglich, weil die Fortexistenz ihrer Verse nicht an die Lebensdauer des Papyrus, Pergaments oder Papiers gebunden sind, auf denen sie geschrieben wurden. Selbst Steininschriften verwittern und dennoch können ihre Texte überleben, solange es Menschen gibt, die sie tradieren. Immer wieder haben Dichter mit verschiedenen poetischen Bildern die Unsterblichkeit ihrer Werke zum Ausdruck gebracht: Pindar (Pyth. 6,7) und Vergil (georg. 3,12-39) vergleichen ihr Werk mit einem Schatzhaus bzw. Tempel, wobei auf Vergils Tempel in Bildern der Inhalt seines zukünftigen Werks beschrieben wird, Horaz bezeichnet seine Odensammlung als Monument, das beständiger ist als Erz und die Pyramiden Ägyptens (carm. 3,30,1-3); ähnlich äußert sich Ovid (met. 15,871f.). Die genannten Dichter haben aber alle nur die Unsterblichkeit ihres eigenen Werkes vor Augen. Es ist ein reizvoller Gedanke, sich auszumalen, in welchem poetischen Bild man die Unsterblichkeit aller großen antiken Werke visualisieren könnte. Es ist kein Zufall, daß eine solche poetische Imagination erst in der Neuzeit ersonnen worden ist, der die Antike pauschal als vorbildlich galt: Im Epos Columbus (erschienen 1715) des Jesuiten Ubertino Carrara (16421716)1 finden wir ein solches Bild, den Baum der Poesis: Er ist eine große Zeder, die hundert Äste hat, riesig und alt, aber ohne Blattlaub. Statt des–––––––––––– 1

Francisca Torres Martínez (Hg.): Ubertino Carrara. Columbus. Edición, introducción, traducción y notas, Madrid 2000 (mit spanischer Übersetzung); Florian Schaffenrath (Hg.): Ubertino Carrara SJ. Columbus. Carmen epicum (1715), herausgegeben, übersetzt und kommentiert, Berlin 2006, dort auch ein Forschungsbericht zum Columbus, 5-19.

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sen sind seine Rinden über und über mit lateinischen und griechischen Versen der großen antiken Epiker bedeckt.2 Die Nymphe Poesis sitzt als Wächterin vor der Zeder und erklärt, daß dies kein gewöhnlicher Baum aus dem Reich der Pflanzen sei, sondern ein Baum, der alles, was auf ihm geschrieben stünde, für lange Zeit dem Gedächtnis bewahren werde. Er werde nicht von Fäulnis, Feuer und Regen zerstört, er sei beständiger als Erz und sein Anblick erhabener als die Pyramiden: Quod semel hic fixum, carie delebile nulla, / igne nec imbre Iovis manet aere perennius omni / Pyramidumque situ sublimius (Col. 4,96f.). Poesis zählt auch einige Dichter auf, deren Verse auf der Zeder verewigt seien: Homer, Apollonius Rhodius (vgl. unten), Valerius Flaccus, Statius, Lucan, und – auf dem höchsten Ast – Vergil: Qui [scil. ramus] tamen e cunctis caput arduus aethere miscet, / sustinet Aenean (Col. 4,105f.). Der Aeneis-Ast ragt also gleichsam bis in den Himmel. Der Jesuit Carrara macht damit nicht nur deutlich, daß er von allen heidnischen Werken die Aeneis Vergils am meisten schätzt, sondern auch, daß er – hierin folgt er einer langen Tradition – in ihr ein Werk sieht, das bei entsprechender Deutung mit der christlichen Lehre vereinbar ist. Und in der Tat hat er in seinem Epos Columbus strukturell, motivisch und sprachlich in vielfacher Weise – neben anderen antiken, aber auch frühneuzeitlichen Autoren – Vergils Aeneis rezipiert.3 Daher soll in diesem Aufsatz das Augenmerk weniger den zahlreichen Anspielungen Carraras auf Homer, Apollonius Rhodius, Valerius Flaccus, Ariost und Tasso gelten, sondern seiner Auseinandersetzung mit Vergil. Im folgenden möchte ich an einem Beispiel Carrara mit Vergil vergleichen, um zum einen zu zeigen, wie Carrara vergilische Motive aufnimmt, verändert und zu verbessern oder zu überbieten versucht, zum anderen aber auch, wie die Lektüre neulateinischer Epen durchaus einen neuen Blick auf Vergil eröffnen und für die Vergil-Interpretation anregend sein kann. Als besonders signifikantes Beispiel bietet sich ein Vergleich der Schildbeschreibungen an, die in beiden Epen eine wichtige Rolle spielen –––––––––––– 2

3

Vgl. zur Tradition, in der Carrara hier steht, Elisabeth Klecker: Dichtung über Dichtung. Homer und Vergil in lateinischen Gedichten italienischer Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts, Wien 1994. – Vgl. zu Bauminschriften und Verwendung von Rinde als Schreibmaterial Andreas Heil: „Dichter in Goldener Zeit. Die Sorge des Mystes im carmen Einsidlense 2“, A&A 54, 2008, 161-172, hier: 163-166. Carrara steht hier auch in einer volkssprachlichen Tradition. Zur Vergil-Rezeption bei Carrara vgl. Francisca Torres Martínez und José A. Marín: „El poema epico Columbus de Ubertino Carrara“, in: Juan Gil u.a. (Hgg.): Humanismo Latino y Descubrimiento, Sevilla 1992, 205-218; Heinz Hofmann: „Aeneas in Amerika. Komplikationen des Weltbildwandels im Humanismus am Beispiel neulateinischer Columbusepen“, Philologus 139, 1995, 36-61.

Schildbeschreibungen in Vergils Aeneis und Ubertino Carraras Columbus

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(Aen. 8,608-731 bzw. Col. 3,476-666): Beide Schildbeschreibungen bieten – wie schon die homerische – eine Gesamtschau, in der das menschliche Leben, die Welt und der Lauf der Dinge in einem einzigen Bilderzyklus verdichtet und auf knappem Raum präsentiert wird. Eine epische Schildbeschreibung fokussiert zentrale Aspekte des Geschichtsbildes und der Weltsicht, die jeweils vermittelt werden sollen. Schildbeschreibungen können somit als eine Art weltanschaulicher Landkarten verstanden werden, als Binnen-Epyllia en miniature.4 –––––––––––– 4

Vgl. allgemein zur vergilischen Schildbeschreibung Carl Becker: „Der Schild des Aeneas“, WS 77, 1964, 111-127; Gerhard Binder: Aeneas und Augustus. Interpretationen zum 8. Buch der Aeneis, Meisenheim am Glan 1971; Ulrich Eigler: „Augusteische Repräsentationskunst als Text? Zum Problem der Erzählbarkeit von bildender Kunst in augusteischer Dichtung am Beispiel des Schildes des Aeneas“, Gymnasium 105, 1998, 289-305; Michael C. J. Putnam: Virgil’s epic designs. Ekphrasis in the Aeneid, New Haven u.a. 1998; weitere Lit. hierzu bei Werner Suerbaum: „Hundert Jahre Vergil-Forschung: Eine systematische Arbeitsbibliographie mit besonderer Berücksichtigung der Aeneis“, ANRW II 31.1, 1980, 249251; vgl. ferner Niklas Holzberg in seiner detaillierten Internet-Bibliographie zur Aeneis, München 2005. http://www.klassphil.uni-muenchen.de/extras/ downloads/index.html (Stand: 11.2.10). – Zur Rezeption der vergilischen Schildbeschreibung in der Neuzeit vgl. Heinz Hofmann: „The Shield of Aeneas in the Hands of Columbus. The Reception of Vergils Description of Aeneas Shield in Some Neo-Latin Poems on Columbus and the Discovery of the New World“, HumLov 56, 2007, 145-179, der die Schildbeschreibungen dreier Columbusepen miteinander vergleicht: der Columbeidos libri priores duo des Julius Caesar Stella (Rom 1585), der Atlantis retecta des Vincentius Placcius (Hamburg 1659) und Carraras Columbus (Rom 1715). Während Hofmann sich hauptsächlich auf den Vergleich dieser drei Ekphraseis konzentriert, geht es mir im folgenden vor allem darum, Vergils und Carraras Schildübergabeszenen im Hinblick auf die daraus hervorgehende unterschiedliche Heldenkonzeption zu untersuchen. Dazu habe ich zusätzliche Passagen der Aeneis als Prätexte herangezogen (z.B. die Heldenschau, die Flucht aus Troja), die, wie wir sehen werden, für die vergleichende Interpretation der beiden Szenen nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. – Ein sehr wichtiger Prätext für Carraras Columbus insgesamt ist außerdem Tassos Gerusalemme Liberata (vor allem der 14. bis 17. Gesang). Dementsprechend finden sich dort auch viele Motive und Parallelen der Schildübergabe bzw. beschreibung (vor allem 17. Gesang, Stanze 64-95), die von Carrara aufgenommen worden sind, doch kann dem Vergleich zwischen Tasso und Carrara an dieser Stelle nicht nachgegangen werden; vgl. zu Tasso Sabine Grebe: „Die Schildbeschreibung in Vergils Aeneis und Tassos Gerusalemme Liberata“, in: Martin Korenjak u.a. (Hgg.): Pontes I. Akten der ersten Innsbrucker Tagung zur Rezeption der Klassischen Antike. Comparanda 2, Innsbruck 2001, 131-148. Weitere Literatur zu antiken und neuzeitlichen Schildbeschreibungen bei Heinz Hofmann, 174-179.

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Vergil und Carrara vertreten völlig verschiedene ‘Welten’, die Antike der augusteischen Zeit bzw. das neuzeitliche Christentum der Jesuiten. Doch es gibt Berührungspunkte: In beiden Epen steht im Mittelpunkt ein ‘Held’,5 der von einer Sendung geleitet wird: Aeneas soll die vertriebenen Trojaner in eine neue Heimat führen, Columbus soll Indien6 entdecken und dort das Christentum verbreiten; der eine folgt den fata, der andere Gott und – seinem Hunger nach Ruhm; beide Helden werden mit göttlichen Waffen ausgestattet, um ihre Aufgaben meistern zu können, und beide freuen sich über das Göttergeschenk. Zunächst seien die beiden Szenen der Waffenübergabe in ihrem jeweiligen Kontext kurz vorgestellt. Zuerst zur vergilischen Aeneis: Nachdem Aeneas endlich Italien erreicht hat, rüsten die Italer gegen die Ankömmlinge zum Krieg. Aeneas gewinnt die Arkader und den größten Teil der Etrusker als Verbündete und marschiert gegen die feindlichen Latiner. Erst als der Krieg unmittelbar bevorsteht (8,520-540), nimmt Venus ihn beiseite und übergibt ihm – abseits der anderen – die versprochenen und von Vulcanus geschmiedeten Waffen (8,606-625). Dabei fordert sie ihren Sohn auf, nicht zu zögern, die Italer zum Kampf zu fordern (8,613f.). Aeneas betrachtet die Waffen und die Bilder auf dem Schild voll Freude. Was die Bilder darstellen, versteht er nicht; dennoch hebt er sich den Schild ohne weitere Erklärung auf die Schultern (miratur rerumque ignarus imagine gaudet / attollens umero famamque et fata nepotum (8,730f.). Von der vergilischen unterscheidet sich die Waffenübergabe bei Carrara bereits durch ihre ganz andere Positionierung – sie findet schon zu Beginn der Fahrt statt: Columbus bricht mit einer Flotte von Spanien auf, um über den Atlantik nach Indien zu segeln. Seine Flotte gerät in einen Seesturm und wird bis auf sein eigenes Schiff nach Gran Granaria verschlagen. Die dortige Herrscherin nimmt die Seefahrer auf und hält sie in einem Zaubergarten gefangen. Das Schiff des Columbus jedoch strandet auf der Vulkaninsel Teneriffa. Columbus geht an Land, durchschreitet –––––––––––– 5 6

Vgl. zum antiken und christlichen Heldenbild Nikolaus Thurn: Heros Aeneas und Iuno, die Hera. Der Wandel des Heldenbegriffes von der Antike zur Moderne, in diesem Band S. 8-28. India bezeichnet bei Carrara Amerika. Es wird im Epos auch der neue Name Amerika, der sich von Amerigo Vespucci ableitet, erwähnt: Die Tochter des kubanischen Königs, Auria, soll später einmal, nach ihrer Heirat mit Amerigo Vespucci, den Namen America annehmen. Hofmann, 2007 (wie Fußn. 4), 171 (mit Anm. 77), betont die merkwürdige Diskrepanz zwischen dem historischen Columbus, der bis zum Schluß der Meinung war, die Ostküste Asiens erreicht zu haben, und dem literarischen Columbus bei Carrara, der durch Aretia darüber informiert wird, daß er einen neuen Kontinenten entdecken werde.

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einen Janusbogen, der Vergangenheit und Zukunft scheidet, und wird in einem prächtigen tempelartigen Kirchenbau von Aretia empfangen, der Personifikation der Tugend, die zugleich sein Schutzengel ist.7 Sie verkündet seinen Auftrag, in Indien das Christentum zu verbreiten, und geleitet ihn durch hundert Türen und Höfe zur Spitze des Palastes, zum Sitz der heiligen Tugenden: Religio, Virginitas, Clementia, Themis und Constantia. Constantia schafft eine herrliche Rüstung und Waffen herbei, darunter einen Schild, den Aretia Columbus überreicht, mit dem Hinweis, daß sie unsichtbar stets an seiner Seite kämpfen werde. Columbus freut sich, legt die Rüstung sofort an und wird dadurch sogleich mit Kampfeslust erfüllt (3,497-501. 618-626). Carrara betont, daß diese Waffen nicht unter dem Aetna, also von Vulcanus, geschmiedet wurden, sondern von der dea, die die Edelsteine in der Glut der Sterne geschmolzen und kunstvoll zu einem Bildrelief verarbeitet hat. Damit entwirft Carrara eine Gegenversion zur vergilischen Schildentstehung – und das durchaus offensiv: denn daß er die himmlische Herstellung des Schildes des Columbus ausgerechnet auf der Vulkan-Insel Teneriffa ansiedelt, ist sicherlich wohl bedacht. Wie Aeneas betrachtet Columbus die Bilder eingehend. Darüber hinaus stellt er zweimal eine Frage zu den Darstellungen, die ihm Aretia ausführlich beantwortet.8 Schließlich nimmt er den Schild in die Linke: Erneut durchfährt ihn Kriegslust, doch Aretia ermahnt ihn, maßvoll mit den Waffen umzugehen und sie nur gegen die Kannibalen einzusetzen – und um seine gefangenen Freunde zu befreien.9 Nach diesem Hinweis ist Columbus nicht mehr aufzuhalten: Er brennt darauf, seine geliebten Gefährten zu befreien. Daraufhin klärt Aretia Columbus über das Schicksal der Gefährten auf und läßt ihn ziehen. Indem Carrara die Waffenübergabe eher an den Anfang setzt – nämlich in das dritte Buch, lange vor den entscheidenden Kämpfen mit den Kannibalen –, stellt er die gesamte Fahrt unter das Zeichen der bewaffne–––––––––––– 7

8 9

Es ist nicht leicht zu entscheiden, welche Episode in Carraras Epos der vergilischen Katabasis entspricht: Neben dem Besuch des Columbus im Palast der Aretia auf Teneriffa käme auch der Besuch seines Sohnes Fernandus im unterseeischen Palast der Aletia in Frage. Gil, 1992 (wie Fußn. 3), 216f. sehen zu Recht in den Personifikationen der Mühen, denen Columbus vor dem Conclave der Tugenden begegnet (3,420ff.), eine Parallele zur vergilischen Vorhalle des Orcus (Aen. 6,273-277). Hofmann, 2007 (wie Fußn. 4), 173 weist zu Recht darauf hin, daß für die antike Literatur keine Ekphraseis belegt sind, die mit einem Dialog verknüpft sind. Der Schild übernimmt hier die Funktion des Zauberkrauts Moly, das in der homerischen Odyssee den Titelhelden vor den Zauberkünsten Kirkes schützt (Hom. Od. 11,302ff.). Vgl. auch den magischen Schild des Ruggiero in Ariosts Orlando Furioso und den Zauberschild des Rinaldo in Tassos Gerusalemme Liberata.

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ten Christianisierung und somit unter ein das ganze Epos umfassendes Deutungsmuster. Die göttliche Hilfe und das angestrebte Ziel sind ständig präsent – anders als in der Aeneis, in der der göttliche Auftrag über weite Strecken nur vage bekannt ist und Hilfe immer nur sporadisch kommt. Auch im einzelnen sind beim Vergleich der Übergabeszenen große Unterschiede zu erkennen: Bei Vergil hat Vulcanus, der Gemahl der Venus, in der Tiefe der Erde zusammen mit den Kyklopen die Waffen geschmiedet, bei Carrara Constantia, eine Personifikation der himmlischen Tugend, in der Glut der Sterne: Indem Carrara hier die antike Mythologie abstreift und die Herstellung und Übergabe der Waffen durch Personifikationen christlicher Tugenden vollziehen läßt, überbietet er Vergil, der in seinem Epos noch dem ‘homerischen’ Schmiedegott einen Auftritt gewährt: Die Waffen des Columbus erscheinen als reiner, göttlicher, himmlischer als die des Aeneas. Bei Vergil muß Venus zudem ihren zögernden Gatten (Aen. 8,388) mit Bitten und Argumenten bedrängen und mit ihrem Liebreiz bezirzen, ehe dieser sich, dann aber eifrig, zur Fertigung der Waffen bereit erklärt und mit einer Liebesnacht belohnt wird (Aen. 8, 369451). Verführung und List (laeta dolis et formae conscia; 8,393) sind notwendig, um Aeneas die entscheidenden Waffen zu verschaffen, und sie gelingt, da die Schutzpatronin des Aeneas die Göttin der Liebe ist. Aretia, die tugendhafte Schutzpatronin des Columbus, muß hingegen keine List anwenden, um Constantia zur Herstellung des Schildes zu bewegen: die himmlischen Mächte ziehen – dem christlichen Monotheismus entsprechend – an einem Strang und stellen Columbus die Waffen ohne Diskussion zur Verfügung. Sein göttlicher Auftrag, das Christentum zu verbreiten, ist sozusagen ‘einstimmig’. Unterschiedlich sind auch die Reaktionen der beiden Helden auf das Geschenk. Aeneas betrachtet Waffen und Schild nur und schultert sie dann. Columbus aber legt die Waffen sogleich an, nimmt den Schild wie im Kampf in die Linke und wird dadurch von kaum zu bändigendem Kampfgeist erfüllt. Aretia ermahnt ihn daraufhin, die Waffen maßvoll zu gebrauchen (Col. 3,630-635): “Disce”, ait, “o fortis moderatius arma sitire! Virtutis pars est virtuti ponere frenum. Tempus erit, cum iam tandem delatus ad Indos

Cannibales anthropophagos te dente tuosque ore voraturos descendere monte videbis. Tunc pete praesidium clipeo! [...]“10 –––––––––––– 10 Gil, 1992 (wie Fußn. 3), 215 verweisen zu Recht darauf, daß diese Verse denen entsprechen, in denen die Sibylle von Cumae Aeneas die bevorstehenden Kriege prophezeit (Aen. 6,83-97). Die Sibylle mahnt Aeneas, die Leiden eines Krieges

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Venus dagegen spornt Aeneas bei der Waffenübergabe zum Krieg an (ne mox aut Laurentis, nate, superbos / aut acrem dubites in proelia poscere Turnum; 8,613f.). Man gewinnt den Eindruck, daß Carraras Columbus viel eher ein ‘homerischer’ Krieger ist als Vergils Aeneas, der zwar – wie schon in der Ilias – als der größte trojanische Kämpfer neben bzw. nach Hektor gilt (vgl. Aen. 11,289-292), der aber zögert, den Krieg zu beginnen. Columbus verhält sich eben so, wie man es von einem ungebrochenen Helden erwartet: Der schaut Waffen nicht nur voll Bewunderung an, sondern will sie gleich ausprobieren und brennt auf den Kampf. Die Kampfbegierde des Columbus ist auch nicht nur eine Reaktion auf die Nachricht von der Gefangenschaft seiner Gefährten: schon bevor er davon erfährt, glüht er vor Kampfeslust – ganz im Gegensatz zu Aeneas, den Venus erst ermuntern muß und der sich selbst noch am Ende, als es schließlich zum Entscheidungskampf mit Turnus kommt, erst in Kampfstimmung bringen muß (Aen. 12,107-109): interea maternis saevos in armis

Aeneas acuit Martem et se suscitat ira, oblato gaudens componi foedere bellum.

In den Waffen seiner Mutter wirkt er düster, nicht strahlend (saevos); er selbst freut sich nicht auf den Kampf als ‘sportliche’ Auseinandersetzung, sondern auf die Aussicht, den Krieg dadurch zu beenden. Kampf ist für ihn Pflicht, die er vortrefflich, aber ohne Begeisterung erfüllt.11 Im Vergleich mit Carraras Columbus, der früh schon den Krieger und Eroberer erkennen läßt, erscheint Vergils Aeneas unkriegerisch und voll Sehnsucht nach Frieden. Ein weiterer Unterschied der beiden Szenen besteht darin, daß Aretia Columbus die Darstellungen auf dem Schild erklärt, während Venus ihrem Sohn den Schild ohne Erläuterung übergibt. Da nur geschichtliche Ereignisse dargestellt sind, die erst nach dem Tod des Aeneas stattfinden, bleibt ihm die Bedeutung der Bilder verborgen: Er kann sie nur bewundern, nicht aber, wie Vergil ausdrücklich sagt, verstehen. Ganz anders bei Carrara: Als Aretia bemerkt, daß Columbus bei der Betrachtung der Bilder einen der Könige mit besonderem Interesse ansieht, erläutert sie ausführlich, um wen es sich handelt: Es sei Karl V., einer der mächtigsten Könige und erfolgreichsten Eroberer, dessen Reich beide Teile der Welt (Europa –––––––––––– nicht zu meiden (tu ne cede malis, sed contra audentior ito, / quam tua te fortuna sinet; Aen. 6,95f.). Genau wie Venus im achten Buch, ermuntert sie Aeneas also (audentior), Aretia hingegen gebietet Columbus Einhalt (moderatius). 11 Vgl. Gabriele Thome: „Tanton placuit concurrere motu, / Iuppiter, aeterna gentis in pace futuras? (Aen. 12,503f.). Der Krieg in Vergils Aeneis“, AClass 36, 1993, 65-82.

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und Indien bzw. Amerika) umfassen werde. Groß sei er, weil er Königreiche erobern, noch größer, weil er nur durch sich selbst besiegt und seiner beiden Reichsteile beraubt sein werde. Damit spielt Aretia auf den freiwilligen Rückzug Karls V. von seiner Weltherrschaft an (Col. 3,517-533): At quia prae reliquis sollers Aretia notarat

unius a vultu regis pendere Columbum et quasi poscentem tacite rescire, quis esset, “Hic vir, hic est” digitoque virum monstravit “et huius nomen” ait “Carolus, quintus cognomine. Nosse si cupis acta viri […] […] Dic per mare magnum victrices egisse rates Peruanaque sceptra adiecisse suis, magnus, quod vincere regna sciverit, at maior, quod se post omnia vicit. A Carolo Carolus mundo spoliatus utroque est!”

Columbus, der Eroberer, der nach Ruhm sucht, der Entdecker, der nach Erkenntnis strebt, stellt Fragen zur Geschichte und Geographie. Ihn faszinieren erfolgreiche Herrschergestalten und entlegene Weltgegenden. Als er am unteren Ende des Schildes die noch völlig unbekannte Welt Ostasiens erblickt, will er voll Erregung wissen, wer denn der Glückliche sei, der die Wiege der aufgehenden Sonne entdecken dürfe (Col. 3,568-570): “[…]

Quis ille beatus,

dic, precor, Aurorae cui claustra recludere primum fas erit et parvi solis deprendere cunas?”

Aretia klärt ihn über die Entdeckungsreise Vasco da Gamas auf, mahnt ihn aber zugleich, daß er keinen anderen um seinen Ruhm beneiden solle (ne invidia externae tangere famae; 3,584), denn auf ihn warte noch viel Größeres (te longe maiora manent; 3,585). Ruhm, Wetteifer, Streben nach Größe (gloria, invidia, maiora) sind die Motive, die Columbus antreiben, auf erfolgreiche Eroberer (Karl V. von Spanien) und glückliche Entdecker (Vasco da Gama) zielen seine Fragen. Vergils Aeneas stellt bei der Übergabe des Schildes keine Fragen: Er nimmt ihn in Empfang und freut sich im stillen über die bunte Bilderwelt, die nicht die seine ist. Und Venus erteilt ihm auch von sich aus keine weiteren Auskünfte über die abgebildete Zukunft. Doch Carrara zieht hier ganz offensichtlich auch einen weiteren der großen „Durchblicke“ der Aeneis heran: hic vir, hic est wiederholt wörtlich die Ankündigung des Augustus durch Anchises in der sogenannten Heldenschau im 6. Buch (6,791). Auch der dialogische Charakter der Darstellung, daß also Columbus einen Ansprechpartner hat, dem er Fragen stellen kann, erinnert an die Heldenschau. Ähnlich wie Aretia Columbus, führt Anchises dem Aeneas die Gestalten und Ereignisse der Nachwelt vor Augen. Insofern

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entspricht das Gespräch zwischen Anchises und seinem Sohn in der Unterwelt demjenigen zwischen Aretia und ihrem Schützling bei der Schildübergabe auf Teneriffa. Doch wie anders verläuft das Gespräch zwischen Anchises und Aeneas bei Vergil! Der Sohn hört die längste Zeit schweigend den Ausführungen des Vaters zu. Dieser, so scheint es, versucht ihn wortreich für die großen Gestalten der künftigen römischen Geschichte zu begeistern: die Seelen des Romulus, Camillus, Cato, Cossus, Pompeius, Caesar und Augustus und anderer treten auf und werden gepriesen. Zu diesen allen schweigt Aeneas.12 Nur zweimal meldet er sich zu Wort und verrät damit, was ihn wirklich bewegt: gleich zu Beginn das Schicksal der Seelen, die ihrer Wiedergeburt harren: weshalb sie denn so heillos danach strebten, zum zweiten Mal das Licht der Welt zu erblicken – quae lucis miseris tam dira cupido? (Aen. 6,721). Sodann – erst 140 Verse später – der herausragende junge Mann, der den Marcellus, den Zerstörer von Syrakus, begleitet, der aber freudlos und von Tod umschauert sei (Aen. 6,863-866): “Quis, pater, ille, virum qui sic comitatur euntem?

Filius anne aliquis magna de stirpe nepotum? Qui strepitus circa comitum, quantum instar in ipso, sed nox atra caput tristi circumvolat umbra.”

Anchises erklärt ihm, daß es sich um Marcellus, den Neffen des Augustus handelt, den vielversprechenden Kronprinzen, der aber, bevor er Herrschaft und Ruhm werde erringen können, bereits in jungen Jahren sterben werde. – Nur zweimal fragt Aeneas also nach, und beide Male ist es das Unglück, das seine besondere Aufmerksamkeit weckt: die miseri, die nach erneuertem Leben drängen, und der miserandus puer – so spricht Anchises den todgeweihten Marcellus an (Aen. 6,882) –, der mit trauerumwölkter Stirn auf sein Leben wartet und dem großer Ruhm durch seinen allzu frühen Tod versagt sein wird. Man kann sagen, daß Aeneas menschliches Leid, Columbus menschlicher Ruhm interessiert: eine völlig verschiedene Charakterzeichnung der beiden epischen Titelfiguren. Geographisch ist auf dem Schild des Aeneas die gesamte damals bekannte Welt vertreten, wobei die erwähnten Völkerschaften entweder bei Actium kämpfen oder in Rom Augustus huldigen: Italien (Itali, Romani; vv. 626. 678. 714f.), Gallien (Galli, vv. 8,656f.), Ägypten, der Orient (Aegypti, Oriens, Nilus; vv. 687, 705, 711), Persien (Bactra), Indien (Indi; v. 705), Arabien (Arabs, Sabaei; v. 706), Afrika (Afri, Nomades; v. 724), Kleinasien (Leleges, Cares; v. 725), der Balkan (Geloni; v. 725), Syrien (Euphrates; v. 726), Belgien (Morini, Rhenus; v. 727), Daghestan (Dahae; v. 728), Armenien –––––––––––– 12 Vgl. Silke Anzinger: Schweigen im römischen Epos. Zur Dramaturgie der Kommunikation bei Vergil, Lucan, Valerius Flaccus und Statius, Berlin 2007, 42-55.

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(Araxes; v. 728). Man gewinnt den Eindruck, als habe sich die gesamte Welt bei Actium bzw. in Rom versammelt. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß nur die in Italien bzw. im Machtbereich Roms lebenden Völker, nicht aber deren Länder dargestellt würden; denn drei große Flüsse, der Euphrat, der Rhein und der Araxes, werden in einer Weise beschrieben, die nicht nahelegt, daß sie als Personifikationen auftreten.13 Damit ist der ganze Weltkreis nicht nur figurativ erfaßt, sondern auch geographisch abgebildet.14 Die gesamte Bilderwelt ist aber um die Darstellung der Schlacht von Actium mit Augustus in der Schildmitte angeordnet (Aen. 8,675-6713).15 Auf dem Schild des Columbus hingegen thront im Zentrum der spanische König Ferdinand V., der als gentis caput imperiique (Col. 3,510) bezeichnet wird, zu seiner Rechten seine Nachkommen mit dem Namen Karl – unter ihnen der bereits genannte Karl V. –, zu seiner Linken die mit dem Namen Philipp. Unterhalb dieser Könige schließen sich Abbildungen der jeweiligen Königreiche mit ihren Städten, Flüssen und Bergen an; auch die Pyrenäen und Atlas, der das Himmelsgewölbe trägt, sind zu erkennen. Gegenüber Spanien befindet sich Italien mit Neapel, dem Apennin und Sizilien. Doch damit nicht genug: Carrara stellt auch die noch unbekannte Welt dar: Ganz am Rand ist der ferne Osten abgebildet, den erst viel später Vasco da Gama erkunden wird, und auch die neue Welt, für deren Entdeckung Columbus auserkoren ist, ist auf dem Schild bereits berücksichtigt. Und zwar auf überraschende Weise – die Neue Welt, die Welt der Antipoden, ist auf der Innenseite des Schildes wiedergegeben, und so hat Carrara buchstäblich im Handumdrehen die bemalte Schildoberfläche und damit die dargestellte Welt verdoppelt. –––––––––––– 13 Vom Euphrat heißt es, daß er nun schon sanfter wogt – eine Anspielung auf die pax Augusta; der Rhein wird mit zweifacher Mündung und der Araxes wütend über die ungewohnte Brücke beschrieben (Euphrates ibat iam mollior undis […] Rhenusque bicornis […] pontem indignatus Araxes; Aen. 8,726ff.). Der Nil hingegen tritt als Gott auf, der die Besiegten in seinen blauen Schoß zurückwinkt (Aen. 8,711). 14 Es fällt auf, daß Spanien überhaupt nicht vertreten ist, das, wie wir gleich sehen werden, in Carraras Schildbeschreibung eine wichtige Rolle spielt. 15 Die visuelle Umsetzung der für eine Ekphrasis typischen additiven Beschreibung ist schwierig, wurde aber in der Neuzeit auf verschiedene Weise versucht. Vgl. zur Rezeption der vergilischen Schildbeschreibung in der Kunst Werner Suerbaum: „Die Schildbeschreibung Vergils in Worten und Bildern zur Aeneis (8,608-731)“, in: Stefan Freund u.a. (Hgg.): Vergil und das antike Epos. Festschrift Hans Jürgen Tschiedel, Stuttgart 2008, 451-481.

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Auch Columbus wird von der Innenseite des Schildes überrascht: Noch auf der Vorderseite, ganz am Ende, ist der ferne Osten erkennbar, und Columbus ist voller Neid auf den, der die Wiege der aufgehenden Sonne entdecken darf (Col. 3,564-570, vgl. oben). Aretia erzählt von den Entdeckungsreisen Vasco da Gamas, tröstet aber Columbus damit, daß ihn Größeres erwarten werde: sie dreht den Schild um und zeigt ihrem Schützling die Welt der Antipoden, die er entdecken wird (Col. 3,585589): “Te longe maiora manent. Vis noscere, mentem

et magnis firmare malis? Huc conice visus.” Dixit et, inversa clipei qua parte latebat, mundum obicit. Longo tum tempore fabula visi Antipodes patuere.

Columbus bestaunt die ihm völlig unbekannten Lande – Carrara vergleicht ihn mit Adam, der als erster Mensch die junge Welt bewundert – und sieht künftige Ereignisse seines Eroberungszugs bereits dargestellt. Und so kann er sogar sich selbst erkennen, wie er in den bevorstehenden Kriegen, solange er bei den Indern das Christentum verbreitet, immer siegreich mit eben den Waffen kämpfen wird, die er gerade probeweise in der Hand hält (Col. 3,613-618): Se quoque cum clipeo clipeo cognovit in illo16

gestantemque manu gladium, quem tempore eodem gestabat manibus. Videt hoc in vindice semper prospera bella geri, donec victoria victis prosit et ingenti cum fenore finibus Indis sic potiatur Iber, potiatur ut India caelo.

Der Höhepunkt der vielen Erkenntnisse, die Columbus durch das Betrachten der Bilder gewinnt, ist also auch eine Selbsterkenntnis: Er sieht nicht nur die Geschichte voraus, sondern auch sein eigenes Wirken darin. Und auch hier wieder dienen die Bilder nicht dem Ansporn, sondern mäßigen und zeigen die Grenzen seines Tatendrangs auf: donec victoria victis prosit. Aufgrund der Bilder und der Erläuterungen der Aretia weiß Columbus lange im voraus genau, was ihn erwartet, während Aeneas den Schild ignarus rerum schultert. So hat Aeneas auch in den früheren Büchern über Prodigien, Orakel und Epiphanien erst nach und nach erfahren, was genau

–––––––––––– 16 Der Mise en abyme, daß sich der Schild als Bild auf dem Schild wiederfindet, entspricht auch die raffinierte sprachliche Gestaltung: Die Geminatio cum clipeo clipeo cognovit in illo gerät zur Figur der abbildenden Darstellung: Wie hier zweimal clipeo nebeneinander steht, befindet sich der Schild im Schild abgebildet.

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das Schicksal von ihm verlangt. Der Christengott und der Schutzengel Aretia hingegen lassen ihren Helden nicht im Unklaren. Dass Columbus selbst auf der Innenseite des Schildes abgebildet ist, impliziert noch mehr: Er wird während der Kämpfe stets sich selbst und seine Siege vor Augen haben (videt hoc in vindice semper / prospera bella geri; Col. 3,615f.). Dies ist nicht nur ein hübscher Einfall Carraras, sondern führt auf einen der wichtigsten Unterschiede zwischen Aeneas und Columbus. Denn nicht nur ist Aeneas auf seinem Schild nicht abgebildet: In allen drei Durchblicken auf die Zukunft spielen Aeneas selbst und die Kämpfe seiner Trojaner bei der italischen Landnahme so gut wie keine Rolle (vgl. Fußn. 17). Das ist kein Zufall, sondern entspringt der grundsätzlichen Konzeption, die Vergil für seinen Titelhelden entworfen hat: Aeneas inszeniert sich selbst nie. Er benimmt sich weder als König noch trägt er besondere Herrscherinsignien noch verfügt er über einen besonderen Titel: Er ist stets ‘nur’ pius Aeneas oder pater Aeneas. Dies gilt nicht nur für die Handlungsebene, sondern auch für die Erzählebene. Nirgends in der Aeneis findet sich eine glorifizierende Inszenierung des Titelhelden – auch nicht in den drei sogenannten Vorausdeutungen (in der Juppiterprophezeiung, in der Heldenschau und eben in der Schildbeschreibung): hier wird etwa Augustus gepriesen, Aeneas geht aber weitgehend leer aus.17 Von seinen socii wird er zwar hoch geachtet, aber kaum je wie ein König behandelt, bejubelt, bedient, bewundert oder gar gefürchtet. Er ist einer von ihnen, wenn auch der beste, und daher hören alle auf ihn und folgen seinen Entscheidungen. Doch diese fallen ihm nicht leicht, er zögert oft und berät sich mit seinem treuen Begleiter Achates. Dazu stimmt auch, daß der kostbare und von Götterhand gefertigte Schild bei der herrscherlichen Inszenierung des Aeneas kaum eine Rolle spielt und –––––––––––– 17 Juppiter honoriert in seiner Prophezeiung, die allerdings nur Venus zu Ohren kommt (Aen. 1,254-296), am ehesten noch die Leistung des Aeneas, indem er die zu bestehenden Kriege und die dreijährige Herrschaft in Lavinium erwähnt (261266) – doch erscheinen diese nur als kleine Stufe auf dem Weg zum eigentlichen Ziel, der Herrschaft der Römer; auch Anchises betont in der Heldenschau (Aen. 6,713-892) vor allem die Ruhmestaten der Römer; die bevorstehenden Kriege, die Aeneas noch wird führen müssen, kennzeichnet er als zu bewältigende Aufgabe, ohne auf den Ruhmesaspekt einzugehen (memorat […] docet; 6,890f.); in der Schildbeschreibung schließlich kommen die Kämpfe der Trojaner in Italien nicht einmal vor (sie beginnt chronologisch erst mit den Nachfahren des Ascanius: genus omne futurae / stirpis ab Ascanio; Aen. 8,628f.). Somit wird Aeneas sowohl in der Heldenschau als auch in der Schildbeschreibung mit einer Zukunft konfrontiert, zu der er kaum einen emotionalen Bezug herstellen kann, nicht einmal in Form der Gewißheit des Ruhms bei der Nachwelt.

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noch mehr, daß er auf diesem nicht als ruhmreicher Held abgebildet ist.18 Vergil präsentiert uns mit Aeneas keinen imponierenden Herrscher, kampflustigen Krieger oder ehrgeizigen Eroberer, den Macht oder Kriegsruhm locken, sondern einen Mann, der den Göttern und den Menschen gegenüber seine Pflicht tut und zu diesem Zwecke – wenn es denn sein muß – auch Kriege führt: pietas ist sein entscheidendes Handlungsmotiv, gloria hingegen das des Columbus in Carraras Epos. Als Columbus bei der Waffenübergabe erfährt, daß seine übrigen Gefährten auf der Nachbarinsel Gran Granaria gefangen gehalten werden, will er ihnen sofort zu Hilfe eilen. Er erklärt Aretia ausführlich, warum ihm das Schicksal seiner Gefährten so sehr ans Herz geht: Bei der Abfahrt in Gades, als gerade das Tau gekappt werden sollte, hätten die Schiffsleute beinahe aus Liebe zu den zurückgelassenen Familien (pietas; 3,645. 648) ihr Unternehmen aufgegeben, wenn nicht in diesem Moment Gloria und India ihre Häupter aus dem Atlantik erhoben hätten: Von diesem Augenblick an sei die alte Liebe zur Familie (amores / antiquos; 3,652f.) in diese starke Gefährtenliebe (amores […] comitumque; 3,652f.) übergegangen. Das Schiff sei für sie von da an zu ihrem Haus und zu ihrer Heimat (domus […] et patria; 3,655) geworden (Col. 3,642-655): Ad Gades proiecimus olim

in commune animas, cum vela vocantibus auris navita rupturus funem iam stringeret ensem. Saepe tamen pietas limen suaderet aviti respectare Laris, flentes in litore matres oraque natorum patrum clamantia nomen. Vicisset pietas, nisi eodem tempore ponto ex Atlanteo nitidum caput ostentasset Gloria, detecto patuisset et India vultu. Praecipitata mora est. Divellimur, ipsa removit India complexus, scidit oscula, solvit amores antiquos comitumque in pectora transtulit omnes. –––––––––––– 18 Vgl. dazu meine Untersuchung: Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augusteischer Zeit (Zetemata 128), München 2007, bes. 172-196; zur gesellschaftlichen Bedeutung des Schildes vgl. ebenda 192 (mit Anm. 478). Der Schild des Columbus hingegen entfaltet bei der Rettung der Gefährten, die auf Gran Canaria von der Zauberin Theromantis gefangen gehalten werden, nicht nur magische Kräfte (Col. 4,605-612), sondern schlägt sogar ein dreiköpfiges Ungeheuer (mit den Gesichtern des Juppiter, des Neptun und des Hades) in die Flucht (Col. 7,485-601). Auch sonst zeichnet der besondere Waffenschmuck den Anführer Columbus aus, so z.B. beim Geschenketausch auf Hispaniola, wo es von ihm heißt: Sociis in classe relictis / ipse viris saeptus primoribus aureus armis incessuque gravis (Col. 6,637-639) – vgl. dagegen die oben zitierte Aeneis-Stelle, wo vom saevos Aeneas die Rede ist (Aen. 12,107-109).

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Ortus amor tunc est factusque flagrantior, ex quo una ratis nobis domus esse et patria coepit.

Eine bemerkenswerte Passage: Damit der Aufbruch überhaupt möglich ist, muß erst die pietas, die Verursacherin von mora, besiegt werden. Die Siegerin über die pietas ist Gloria, die in India auf die Seeleute wartet. Und wie die alte pietas durch einen neuen amor zu den Gefährten, so wird die alte Heimat durch eine neue, das Schiff ersetzt. Interessanterweise versteht Carrara pietas ganz im vergilischen Sinne, wenn er sagt: pietas limen suaderet aviti / respectare Laris (Col. 3,645f.). Zurückzublicken auf die alte Heimat, auf sie Rücksicht zu nehmen, sie nicht verlassen zu wollen, die Rückkehr zu ersehnen, das ist eine Charakterisierung der pietas des Aeneas, wie sie sich im zweiten und in einer Bemerkung im vierten Buch, wie wir sogleich sehen werden, manifestiert. Carrara bringt hier ganz klar zum Ausdruck, daß Columbus und seine Gefährten aus anderem Holz geschnitzt sind und der pietas-Begriff für sie nicht mehr angebracht ist. Ihm setzt er den amor-Begriff entgegen, der das leidenschaftliche Streben nach etwas, das vielleicht auch Gefahr bedeutet, einschließt. Was Carrara hier eindrucksvoll und drastisch beschreibt, beruht auf einer zweifellos einleuchtenden Erkenntnis: Nur wer in der Lage ist, zugleich mit dem Haltetau auch alle Bindungen zu kappen und hinter sich zu lassen, hat die Kraft, eine neue Welt zu entdecken. Fernweh (India) und Streben nach Ruhm (Gloria) müssen stärker sein als die Liebe (pietas) zu Heimat und Familie. Das Pendant zur Aufbruchsszene in Gades im Columbus ist in der Aeneis die Fluchtszene aus Troja.19 Ein kurzer Blick auf beide Szenen läßt sogleich zwei wesentliche Unterschiede erkennen: Erstens befindet sich Columbus in einer ganz anderen Lage als Aeneas, seine Matrosen sind Haudegen, die sich (zumindest in Carraras Darstellung) freiwillig und voller Begeisterung für das bevorstehende Abenteuer zusammengefunden haben (Col. 1,71-74). Aeneas hingegen muß ein ganzes Volk, mit Frauen, Kindern, Alten, alle traumatisiert vom Untergang Trojas, in eine neue Heimat bringen. Zweitens ist Aeneas kein Entdecker oder Eroberer, auch wenn ihm vom Schicksal der Aufbruch in ein neues Land bestimmt ist. Er verläßt wider Willen seine Heimat und muß immer wieder Anläufe nehmen: zum Aufbruch aus seinem Elternhaus, zum Abschied von seiner Frau Creusa und zur Abreise aus Karthago. Und jedes Mal sind es pietas bzw. amor, die den Aufbruch verzögern, ja sogar gefährden. –––––––––––– 19 Große Ähnlichkeit besteht insbesondere mit dem Aufbruch der Argonauten bei Valerius Flaccus, ebenfalls Helden, die Ruhmbegier und Abenteuerlust folgen (Argonautica 1,309ff.; zu Gloria vgl. 1,76-78). Dieser Vergleich kann aber im Rahmen dieses Aufsatzes nicht weiter ausgeführt werden.

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Als Aeneas sich entschlossen hat, aus dem zerstörten Troja zu fliehen, sucht er sein Elternhaus auf, um seine Familie mitzunehmen. Doch sein Vater Anchises weigert sich, das Haus zu verlassen und verlangt, daß Aeneas ihn zurückläßt (Aen. 2,634-649). Für Aeneas ist dies allerdings eine völlig unakzeptable Vorstellung. Schon will er sich erneut in den Kampf stürzen, als sich Anchises aufgrund eines Götterzeichens anders besinnt und nun keinen Aufschub der Flucht mehr duldet (iam iam nulla mora est; Aen. 2,701).20 Also bricht die Familie gemeinsam auf: Aeneas, den Vater auf der Schulter und den kleinen Sohn an der Hand – ein Anblick, der zum Symbol für die pietas nicht nur des Aeneas, sondern, wie römische Münzprägungen mit diesem Motiv belegen,21 der römischen überhaupt wurde. Die Familie wird aber dennoch auseinandergerissen. Creusa, die sich zunächst dicht hinter Aeneas hält (die Gattin spielt in der Bildtradition keine Rolle), bleibt unbemerkt im brennenden Troja zurück. Aeneas kehrt, nachdem er Vater und Sohn außerhalb der Stadt in Sicherheit gebracht hat, zurück, um sie zu suchen. Er trifft nur noch auf den Schatten der Toten, der ihn auffordert, sich nicht heillosem Schmerz hinzugeben, sondern in eine neue Heimat zu fliehen. Aeneas jedoch weint und versucht vergeblich sie dreimal zu umarmen, ehe er zu seinen Leuten zurückkehrt (Aen. 2,749-795). Und ein drittes Mal muß sich Aeneas von einem Menschen, den er liebt, losreißen, um seine Bestimmung zu erfüllen. Es ist Dido, mit der er sich – wie das Gerücht geht – schon vermählen will, als Juppiter Merkur schickt, um Aeneas energisch zum Aufbruch zu mahnen (Aen. 4). Erschrocken trifft Aeneas Vorbereitungen zur Abfahrt, doch Dido wittert Verrat und stellt ihn zu Rede. Aeneas begründet seine Aufbruchpläne mit –––––––––––– 20 Auch in Carraras Aufbruchsszene in Gades muß die mora überwunden werden, die durch pietas und amor gegenüber der alten Heimat und der Familie entsteht (praecipitata mora est; Col. 3,651). 21 So etwa der Denar des M. Herennius aus dem Jahr 108/107 v. Chr. (Crawford, RRC 317f., Nr. 308/1), dessen Rückseite 42 v. Chr. auf einem Aureus von L. Livineius Regulus kopiert worden ist. Vgl. dazu Gabriele Thome: „Ostentatio pietatis. Von der Inszenierung einer virtus Romana“, in: Niklas Holzberg u.a. (Hgg.): Ut poesis pictura II. Antike Texte in Bildern. Band 2: Untersuchungen (Auxilia 33), Bamberg 1993, 41-51; Martin Spannagel: „Zur Vergegenwärtigung abstrakter Wertbegriffe in Kult und Kunst der römischen Republik“, in: Maximilian Braun u.a. (Hgg.): Moribus antiquis res stat Romana. Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr. (BzA 134), München 2000, 237-269, hier 263f. – Warum ich gerade diese Münze als Beispiel nenne, ist dem Jubilar wohlbekannt.

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seiner göttlichen Mission, läßt aber zwischendurch auch erkennen, was er, wenn er freie Hand hätte, wirklich täte (Aen. 4,340-347): me si fata meis paterentur ducere vitam

auspiciis et sponte mea componere curas, urbem Troianam primum dulcisque meorum reliquias colerem, Priami tecta alta manerent, et recidiva manu posuissem Pergama victis. Sed nunc Italiam magnam Gryneus Apollo, Italiam Lyciae iussere capessere sortes; hic amor, haec patria est.

Demnach wäre er viel lieber in seine Heimatstadt Troja zurückgekehrt, um sie wieder aufzubauen; die Götter hätten ihm jedoch befohlen, nach Italien zu gehen. Daher sei Italien für ihn als Ort seiner Liebe, als neue Heimat bestimmt.22 Trotz dieser Erkenntnis, die eher wie ein Bekenntnis wirkt, fällt Aeneas der Abschied schwer. Wieder ist es der amor, der ihn beinahe wankend macht (multa gemens magnoque animum labefactus amore; Aen. 4,395). Doch er gehorcht den Göttern und segelt ab. Sowohl Columbus als auch Aeneas erfüllen eine göttliche Mission. Doch Vergil hat der göttlichen Mission eine individuelle Problematik beigemischt, die gerade durch jene Haltung entsteht, die für Aeneas so bezeichnend ist, durch die pietas, aber auch durch die Bereitschaft des Sohnes der Venus zum amor. Es sind pietas bzw. amor, die Aeneas dreimal beinahe den nötigen Aufbruch versäumen lassen. Götterzeichen, Totenerscheinungen und Götterboten sind notwendig, um ihn dazu zu bewegen, die Bande persönlicher Beziehungen zu zerreißen und sich zum Aufbruch zu überwinden. Bei Carrara hingegen wird das Problem der pietas buchstäblich auf einen Schlag, nämlich mit dem Schwerthieb, der das Haltetau des Schiffs zerschlägt, gleich am Anfang und endgültig gelöst: Durch das Auftauchen der personifizierten Gloria und India aus dem Atlantik, die ein wenig an dei ex machina erinnern,23 ist alle mora wie weggefegt und eine neue Art von amor, geboren, die zu den Gefährten, die alle das gemeinsame Ziel vor Augen –––––––––––– 22 Hier findet – erzwungen von den Göttern – sozusagen eine Art translatio amoris statt, die an Carrara erinnert (vgl. oben Col. 3,656): statt Dido bzw. Troja soll er Italien lieben, statt Karthago bzw. Troja soll Italien seine Heimat sein. 23 Die Erscheinung der Gloria als Ansporn geht wohl auf Valerius Flaccus zurück (Argonautica 1,76-78). Das Motiv göttlichen Eingreifens durch Wunderzeichen findet sich aber vielfach auch in der christlichen Literatur. Das bekannteste Beispiel hierfür dürfte das himmlische Kreuz mit der griechischen Inschrift (üblicherweise in lateinischer Form zitiert: In hoc signo vinces) sein, das Konstantin an der Milvischen Brücke 312 n. Chr. erschienen sein soll.

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haben: in eine neue Welt zu segeln und sie zu erobern. Es ist kein Zufall, daß Columbus gerade im Moment der Waffenübergabe von den Stimmungsschwankungen bei der Abreise berichtet. Der Schild mit den Darstellungen der glorreichen Kämpfe in India bestärken in ihm in ähnlicher Weise aufs Neue Entdeckerlust und Streben nach Ruhm wie in den Matrosen damals bei der Abfahrt die Visionen der Gloria und India. Aus all dem gewinnt man den Eindruck, daß die Columbus-Rede vor Aretia, der Personifikation der Tugend, Kritik an der pietas bzw. am amor des zögernden und immer wieder mit seinen Gefühlen kämpfenden Aeneas impliziert: Die Leidenschaft des amor muß sich auf die wahren und großen Ziele richten, und die rückwärtsgewandte Tugend der pietas muß, wie die Abschiedsszene in Gades zeigt, überwunden werden, wenn sie dem Streben nach Höherem entgegensteht. Und das ist der entscheidende Unterschied: Aeneas hat nicht den Wunsch, nach Höherem zu streben, sondern er wird dazu genötigt – gloria als alleiniger Ansporn ist ihm fremd. Hätte sich Aeneas wie Columbus vor allem vom Streben nach Ruhm leiten lassen und hätten Gloria und Italia seine pietas und seinen amor besiegt, dann wäre Vergils Aeneas nicht mehr jener berühmte pius Aeneas, der eben mehr ist als ‘nur’ ein Held. So scheint im Gegensatzpaar pietas und gloria, das Columbus Aretia so nüchtern erklärt, ein, wenn nicht der zentrale Unterschied zwischen den beiden epischen Helden auf. Es dürfte – zumindest in Ansätzen – deutlich geworden sein, wie sich Carrara mit seinem großen Vorbild Vergil auseinandersetzt: In seiner aemulatio mit dem antiken Epiker steckt so manche – und zwar nicht nur christlich motivierte – correctio. Aber gerade diese Korrekturen lenken den Blick auf die Eigenart und Einmaligkeit des vergilischen Aeneas. So kann die neulateinische Literatur, die sich durchaus, wie Carraras Epos zeigt, mit der antiken messen darf, auch dazu beitragen, daß die Besonderheiten der antiken Literatur augenfällig werden. Im Falle des Aeneas ist es die Tatsache, daß ein epischer Held nicht nach Krieg und Ruhm strebt. Und doch wird er weiterleben, auch wenn er nicht auf seinem Schild ruhmvoll in Szene gesetzt ist. Würde lediglich ein Schild, so kunstvoll gefertigt er auch sein mag, seine Taten bezeugen, die Erinnerung an Aeneas wäre mit dem Schild zugrunde gegangen. Glücklicherweise hat sich aber ein Dichter des trojanischen Helden angenommen. So wird Aeneas – verewigt in Vergils Versen – vom höchsten Ast des Baumes der Poesis bis in den Himmel gehoben.

Zu Voltaires Vergilrezeption in der Henriade RUDOLF RIEKS (Bamberg) Nach einer allgemeinen (I.) Einführung zur Vergilrezeption, zu Voltaires Henriade und zur neueren Voltaireforschung soll im (II.) Hauptteil die Vergilrezeption Voltaires an drei Musterbeispielen aufgewiesen werden: 1. Muse und Wahrheit; 2. Priamus und Coligny; 3. Dido und Gabrielle. Am Ende steht eine (III.) Schlussbetrachtung.

I. Einführung Das Gesetz von der ununterbrochenen Kette der Tradition und der Rezeption in der vorderorientalisch-europäischen Kultur und Literatur hat als erster Cicero in zwei lapidaren Sätzen formuliert: nihil est enim simul et inventum et perfectum; nec dubitari debet quin fuerint ante Homerum poetae.1 Die moderne Rezeptionsforschung hat in der klassischen Philologie zwei Gründerväter: Georg Finsler mit dem Buch über: „Homer in der Neuzeit“ (1912)2 und Georg Nikolaus Knauer mit dem Werk: Die Aeneis und Homer (1964).3 Hatte schon Finsler Vergil als den profundesten Homerkenner stets in seine Überlegungen einbezogen, so hat dann vollends Knauer die unvorstellbar dichten intertextuellen Bezüge zwischen Homers Epen und der Aeneis – in die aber noch viele andere Texte aus griechischen und römischen Autoren integriert sind – mit Hilfe von antiken und neuzeitlichen Kommentaren aufgewiesen. In diesem Zusammenhang würdigt er auch die Vergilrezeption Voltaires in der Henriade als bewusste Mittlertätigkeit und erinnert an seinen beachtenswerten Vorläufer Frédéric Gustave Eichhoff, der in einer präg–––––––––––– 1 2 3

Cic. Brutus 71. Georg Finsler: Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe. Italien. Frankreich. England. Deutschland, Leipzig u.a. 1912. Georg Nikolaus Knauer: Die Aeneis und Homer. Studien zur poetischen Technik Vergils mit Listen der Homerzitate in der Aeneis, Göttingen 1964 (Hypomnemata 7).

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nanten Studie ein ausgewogenes und nachdenkliches Urteil über Voltaires Epos gefällt hat.4 „Es bleibt uns noch, von einer Dichtung anderer Art zu sprechen, deren Frankreich sich mit Recht rühmt, obwohl man sie nicht in denselben Rang setzen kann, wie die Mehrzahl der Meisterwerke, die wir gerade genannt haben. Unsere Literatur, die den anderen in so vielen Hinsichten überlegen ist, hatte noch nicht ein Epos hervorgebracht, das würdig war, der Nachwelt überliefert zu werden, als Voltaire seine Henriade schuf. Indem er einen nationalen und von seiner Zeit wenig entfernten Stoff (sujet) wählte, weckte er zugunsten seines Werkes die allgemeine Aufmerksamkeit und Neugierde; aber er beraubte sich auf der anderen Seite einer Unzahl von Stoffelementen (resources), die die Entfernung der Orte, die Ungewissheit der Überlieferungen und die Leichtgläubigkeit der Völker den anderen Ependichtern im Überfluss lieferten. Der Stil der Henriade ist vornehm und elegant; er atmet oft eine glückliche Kühnheit: die Bartholomäusnacht, die Traumvision von Henri IV, die Schlacht von Ivry, die Hungersnot – das sind Stücke von einer großen Energie; aber der Komposition im ganzen fehlt es an Reichtum und an Abwechslung, man sucht dort vergebens die Wahrheit der Sitten (mœurs), die Glaubwürdigkeit der Ortsschilderungen. Voltaire hat die Aeneis nachgeahmt, aber er hat sich zu wenig an diese Nachahmung gebunden; er hat sich nicht seiner Begabung zu überlassen gewusst und diesen großen und stolzen Griff zu wagen, der die inspirierten Dichter auszeichnet.“ Deutlich ungnädiger hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Ästhetik über das Epos Voltaires geurteilt, in dem er die Totalität einer Weltauffassung vermisst, die für die Nation des Dichters – zumindest während einer besonders glanzvollen historischen Epoche – repräsentativ sein müsse: „Ganz nach einer anderen Seite hin [sc. als in Klopstocks Messias] geht es in gewisser Rücksicht auch in Voltaires Henriade nicht wesentlich anders zu. Wenigstens bleibt auch hier die Poesie um so mehr etwas Gemachtes, als sich der Stoff, wie ich schon sagte, für das ursprüngliche Epos nicht geeignet zeigt.“5 Eine Generation später hat sogar der Historiker Theodor Mommsen in seiner Römischen Geschichte das von den Römern erfundene historische Epos, das uns in den Werken von Livius Andronicus, Naevius, Ennius –––––––––––– 4

5

Frédéric Gustave Eichhoff: Etudes grecques sur Virgile ou recueil de tous les passages des poètes grecs imités dans les Bucoliques, les Géorgiques et l’Enéide, avec le texte Latin et des rapprochemens littéraires, 3 Bde., Paris 1825, hier: vol. 2,47f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke [in zwanzig Bänden], hg. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 13-15: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1-3; dort: Bd. 3, 414.

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und schließlich auch in der Aeneis Vergils entgegentrete, für ein unerträgliches Zwittergebilde erklärt, da es die historische Faktizität mit der literarischen Fiktionalität vermische.6 Versetzen wir uns nun über fast zwei Jahrhunderte hinweg in die Zeit Voltaires, so mögen wir unseren Augen nicht trauen. Der unvorstellbare Erfolg von Voltaires Henriade (Genève 1723)7 lässt sich sowohl daran ermessen, dass sie schon zu seinen Lebzeiten sechzig Neuauflagen erfuhr, wie auch daran, dass nach ihrem Vorbild etwa fünfzig weitere französische Versepen gedichtet wurden.8 Unter den vielen verschiedenen Impulsen, die Voltaire zur Abfassung der Henriade veranlasst und die als inhärente Energien diese überwältigende Anerkennung des Epos im 18. Jahrhundert bewirkt haben, seien drei besonders hervorgehoben: die tiefe Imprägnierung mit der lateinischen Sprache und Literatur, die Voltaire als Zögling des Collège de Louis-le-Grand (1704-1711) der Pariser Jesuiten9 vor allem seinem zeitlebens verehrten Rhetorikprofessor Charles Porée verdankte;10 die erschütternden Erfahrungen tiefen Elends, die er 1713 als designierter Attaché der französischen Botschaft in Den Haag mit sehr vielen Asyl suchenden hugenottischen Landsleuten machte, als in den letzten Lebensjahren des nun sehr bigotten Louis XIV die Bestimmungen der Révocation de l’édit de Nantes (1685) mit unerbittlicher Härte durchgeführt wurden; und schließlich die detaillierten historischen Schilderungen, die sein väterlicher Freund aus dem Libertinenkreis des Temple, Lefèvre de Caumartin, ein ehemals hoher, untadeliger Staatsbeamter unter Louis XIV, ihm seit 1715 auf seinem Landgut aus seinem untrüglichen und unerschöpflichen Gedächtnis über die französischen Bürgerkriege und deren glorreiche Beendigung durch Henri IV vortrug. Um es noch schärfer und persönlicher zu pointieren: Voltaire selbst, der als Collegiat hunderte von lateinischen Versen auswendig gelernt hatte, der 1710 mit dem Großen Preis für lateinische Dichtung ausgezeichnet worden war, wollte als neuer Vergil für Frankreich erst-mals ein großes –––––––––––– 6 7

Theodor Mommsen: Römische Geschichte, Bd. 1, Wien 141933, 923f. Genaue Dokumentation sämtlicher Ausgaben bei Owen R. Taylor: La Henriade, Edition critique, Genève 21970, 232-253. 8 Dietrich Briesemeister: „Columbus als ,Apostel und Eroberer’ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts“, in: Titus Heydenreich (Hg.): Columbus zwischen zwei Welten. Historische und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten, Frankfurt/M. 1992 (Lateinamerika-Studien 30), 307-324, 307. Vgl. Ira O. Wade: The Intellectual Development of Voltaire, Princeton N.J. 1969, hier 93-119. 9 Gustave Dupont-Ferrier: Du college de Clermont au lycée Louis-le-Grand (15631920), vol. 1-3, Paris 1921-1925. 10 Joseph de La Servière: Un professeur d’ancien régime: le père Charles Porée, S.J. (1676-1741), Paris 1899.

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nationales Epos schaffen, in dem Henri IV als neuer Aeneas mit der Hilfe Elisabeths I. von England zwei tödlich verfeindete Bürgerkriegsparteien kraft der überlegenen Idee der Toleranz zu dem von Gott selbst verfügten Frieden führt. Hatte Charles Perrault in seinem berühmten Poème sur le siècle de Louis le Grand (1687) die gegenwärtige Epoche wegen ihres technischen Fortschritts und wegen der Blüte der schönen Künste als neues Augusteisches Zeitalter und den Herrscher als neuen Augustus apostrophiert,11 so wollte Voltaire dagegen als visionärer neuer Vergil mit dem Wahrheitsanspruch des Dichtersehers (vates) die wirkliche, ‘erhabene’ Größe Henri IV zusprechen, der wie Augustus einst nach langen Bürgerkriegen einen glanzvollen Frieden gestiftet hatte. Dieser geniale Rückgriff auf eine über hundert Jahre zurückliegende Großtat impliziert den bitteren Vorwurf an Louis XIII und Louis XIV, dass sie beide unter dem Vorwand des Glaubenseifers aus reinen Machtinteressen ganz Europa für ein weiteres Jahrhundert mit furchtbaren Kriegen überzogen hatten. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die Voltaire-Forschung große Fortschritte erzielt. Theodore Besterman, dem wir auch die heute maßgebende Biographie von Voltaire verdanken,12 hat eine neue internationale Gesamtausgabe der Werke Voltaires begründet. In zwei opulenten Bänden wird dort das gesamte Material zur Henriade bereitgestellt. Owen R. Taylor hat seiner mustergültigen Textausgabe eine ausführliche Einleitung (Komposition, Publikation, Konzeption, Quellen, Wirkungsgeschichte, Textgestaltung) vorangestellt; unterhalb des Textes sind dann die wichtigsten früheren Versionen und die auffälligsten Zitate oder Similien aus älteren Autoren dokumentiert.13 Zusammen mit Richard Waller hat sodann David Williams in einem eigenen Band die zwei von Voltaire im Hinblick auf das englische Publikum in englischer Sprache verfassten Essays: An essay of the civil wars of France (besorgt von R.W.) und An essay on epic poetry (bes. v. D.W.) nebst deren späteren Übersetzungen ins Französische: Essais sur les gueres civiles en France (übers. v. Granet; bes. v. R.W.), Essai sur la poésie épique (übers. v. Voltaire; bes. v. D.W.) und: Essai sur la poésie épique (übers. v. Desfontaines; bes. v. D.W.) herausgegeben und aus-

–––––––––––– 11 Vgl. Charles Perrault: „Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les arts et les sciences (1688)“, in: Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Texte und Abhandlungen, Bd. 2. Mit einer einleitenden Abhandlung von Hans Robert Jauss und kunstgeschichtlichen Abhandlungen von Max Imdahl, München 1964. 12 Theodore Besterman: Voltaire, Oxford 31976. 13 Taylor, 21970 (wie Fußn. 7).

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führlich kommentiert.14 Im Hinblick auf Voltaires Rezeption und Imitation Vergils darf man hier schon feststellen: Dass die Essays erst nach der Vollendung des Epos geschrieben sind und offensichtlich den primären Zweck verfolgen, möglichst viele englische Subskribenten einzuwerben, darf nicht ihre Qualität in Frage stellen.

II.1 Muse und Wahrheit Nach der Auffassung von Homer und Hesiod beschenken die Musen, die Töchter des Zeus und der Titanin Mnemosyne, die von ihnen erwählten Dichter mit vielen besonderen Gaben und Fähigkeiten wie Stimme, Sprache, Schöpferkraft, Kunstverstand, Wissen.15 Den falschen oder anmaßenden Dichtern können sie zwar auch, wie Hesiod es ihre Vorsängerin sagen lässt, vieles Lügnerische, dem Wahren nur Ähnliche eingeben, ihre wesentliche und wichtigste Leistung aber ist die Offenbarung der Wahrheit, die sie allein für alle drei Zeitdimensionen kennen und den begnadeten Dichtern zu künden vermögen.16 Die klassischen römischen Dichter, allen voran Vergil und Horaz, haben diese Vorstellungen übernommen und für sich jeweils noch verfeinert.17 Es sind gerade diese beiden, die Voltaire sein Leben lang als seine Lieblingsdichter betrachtet hat.18 Durch die Erzählungen des Freundes Lefèvre de Caumartin fühlte er sich zu einer Dichtung inspiriert, die sich in die europäische Tradition des heroischen Epos als erstes französisches Beispiel dieser Gattung einfügen sollte.19 Neben seinen ausgiebigen Studien der Geschichtsquellen hat er daher nach Homer, Vergil, Lucan auch die großen neuzeitlichen europäischen Epen eifrig studiert. Dennoch kann man feststellen, dass das Proömium seiner Dichtung in der ersten Ausgabe (Genève 1723; Amsterdam 1724) in genauer Anlehnung an Vergils Aeneis gestaltet ist. Das gilt sowohl für die klare Zweiteilung in Themenangabe (propositio; V. 1-6) und Musenanru–––––––––––– 14 David Williams: The English essays of 1727 (An essay on the civil wars of France. Critical edition by Richard Waller, p. 9-116). An essay on epic poetry / Essai sur la poésie épique. Critical edition by David Williams, 117-613. 15 Homer, Ilias 2, 484-493. Vgl. Walter F. Otto: Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens, Darmstadt 1954. 16 Hesiod, Theogonia, 22-34. 17 Hellfried Dahlmann: „Vates“, Philologus 97, 1948, 337-353. 18 Vgl. Raymond Naves: Le goût de Voltaire, Paris 1938, 168-170. 19 Vgl. Besterman, 31976 (wie Fußn. 12), 63f.: Zur Förderung der Henriade durch L. de Caumartin, Marquis de Saint-Ange.

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fung (invocatio; V. 7-10) wie für die sehr deutlichen inhaltlichen und formalen Entsprechungen. Kein anderes Epos aus der bezeichneten europäischen Tradition, die sich stets ausdrücklich und einhellig von Vergil hergeleitet hat, zeigt eine solch enge Bindung an den römischen Dichter. Am ehesten kommt noch Torquato Tasso in der Musenanrufung zu Beginn seiner Gerusalemme liberata und in verschiedenen einzelnen Episoden seines Epos dem Vorbild Vergils sehr nahe.20 Der Text der Ausgaben von 1723 und 1724 beginnt:21 Je chante les combats, et ce roi généreux Qui força les Français à devenir heureux,

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Qui dissipa la Ligue et fit trembler l’Ibère, Qui fut de ses sujets le vainqueur et le père; Dans Paris subjugué fit adorer ses lois, Et fut l’amour du monde et l’exemple des rois. Muse, raconte-moi quelle haine obstinée Arma contre Henri la France mutinée, Et comment nos aïeux, à leur perte courants, Au plus juste des rois préféraient des tyrans. Valois régnait

Verschiedene Überlegungen mögen Voltaire bei diesem ungewöhnlichen künstlerischen Griff geleitet haben: Gegenüber seinen europäischen Vorgängern im Epos wollte er die Unübertrefflichkeit Vergils betonen; diese Rangeinstufung veranlasste ihn selbst dazu, mit dem höchsten Vorbild in Konkurrenz zu treten; er wollte schon in seiner Grundkonzeption und später in der Durchführung eine möglichst dichte typologische Angleichung seines Helden an Vergils Aeneas erreichen; er wollte betonen, dass die göttliche Muse, die einst Vergil inspirierte, auch nach siebzehn Jahrhunderten noch in seiner Seele dieselbe wunderbare Wirkung hervorzurufen vermochte wie bei jenem. Außer dieser Musenanrufung gibt es nur noch eine weitere, in der Voltaire die Muse um die Angabe der Namen jener Mitglieder des Senats im Parlement (Gerichtshof von Paris) bittet, die sich der Entmachtung durch die Sechzehn, den Exekutivausschuss der von der Ligue in Paris ausgerufenen Volksrepublik, widersetzten und dafür in die Bastille geschickt wurden (Ch. 4,447-448).22 Diese Tatsache ist zunächst nicht ungewöhnlich. Zwei Musenanrufungen – eine generelle am Beginn und eine spezielle zur genauen Erinne–––––––––––– 20 Vgl. Torquato Tasso: Gerusalemme liberata a cura di Lanfranco Caretti, Torino 1971. GL 1, st. 2-3. Dazu Henr. 1,1-6; 7-20, mit dem Similienapparat von Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 365f. 21 Ibid.; mit Verweis auf die Erstfassung auf S. 365 der Ausgabe von Taylor. 22 Vgl. Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 461f.; dazu die ‘Notes de l’éditeur’ auf S. 468.

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rung an die Namen von sechs heldenhaften Männern – mögen für ein Epos, das knapp halb so lang ist wie die Aeneis, genügen. Aber eine solche Erklärung kann nicht zutreffen, wenn wir beobachten, dass Voltaire an mehr als einem Dutzend Stellen die Wahrheit ins Spiel bringt, als relative vérité auf der menschlichen Handlungsebene, aber auch als göttliche Wesenheit Vérité in stetiger enger Verbindung mit Gott (Dieu; Eternel; TrèsHaut, Tout-Puissant). Die Unausgewogenheit zwischen der einen knappen Musenanrufung des Anfangs einerseits und der häufigeren Zitierung der vérité wie der gelegentlichen Beschwörung der Vérité andererseits bedarf einer Erklärung. Ohne sogleich einen ausschließenden Gegensatz zu vermuten, können wir zweierlei feststellen. Voltaire hat, durchaus in Anlehnung an das Vorbild der Aeneis und ihres Helden Aeneas, als sein Hauptthema die innere Entwicklung von Henri de Bourbon gewählt und er hat mit dem kunstvollen erzählerischen Rückgriff der Gesänge 2 und 3, dem Bericht über die Bürgerkriege von 1572-1590, unsere Spannung als Hörer oder Leser – gegen die historische Wahrheit23 – ganz auf die Jahre 1589/1590 und die für Henri so glanzvolle endgültige Konversion gelegt. Diese Sinnlinie lässt sich mit wenigen Zitaten belegen. Der weise alte Eremit auf der Insel Jersey, der unverkennbar Züge von Voltaires Freund Lord Bolingbroke trägt, belehrt Henri und Mornay, dass die Wahrheit der Existenz und der Verehrung Gottes (la vérité sacrée) bei den Menschen von Irrtümern umgeben sei, weil Gott selbst – hier deistisch aufgefasst – der Menschen nicht bedürfe (Ch. 1,255f.). Zahllose Sekten führten um Gott einen unversöhnlichen Krieg, während er selbst sich stets gleich bleibe und die Wahrheit (La Vérité) ihm allein diene, aber nur selten einen stolzen Menschen aufkläre (Ch. 1,249-252). Entscheidend wichtig ist zuletzt, dass er Henri und Mornay die Erleuchtung ihres Geistes durch die Vérité als notwendige Bedingung zur Gewinnung von Paris aufgibt (Ch. 1,259f.). In scharfer Polemik gegen Papst Sixtus V., der Henri de Bourbon 1585 und im Jahr 1589 auch Henri III feierlich exkommuniziert hatte, preist Voltaire die einstige Gründung der Römischen Kirche (Ch. 4,187-190): Là, Dieu même a fondé son Eglise naissante, Tantôt persécutée, et tantôt triomphante: Là, son premier apôtre, avec la Vérité, Conduisit la Candeur et la Simplicité.

–––––––––––– 23 Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 620, note h): „Ce blocus et cette famine de Paris ont pour époque l’année 1590, et Henri IV n’entra dans Paris qu’au mois de mars 1594. Il s’était fait catholique en juillet 1593; mais il a fallu rapprocher ces trois grands événements, parce qu’on écrivait un poème, et non une histoire.“

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Umgekehrt aber bedauert er sehr, dass es Politique, einer Abgesandten des Vatikans, gelungen sei, durch Bestechung die Theologische Fakultät der Sorbonne in der Loyalität des Papstes und der Ligue zu halten (Ch. 4,309f.): Parmi les cris confus, la dispute et le bruit, De ces lieux, en pleurant, la Vérité s’enfuit.

Kurz vor seinem tödlichen Attentat auf Henri III wird Jacques Clément, weil er sich verdächtig gemacht hat, einem strengen Verhör unterzogen. Es gelingt ihm aber, Unschuld vorzutäuschen und dies als die Wahrheit (vérité) erscheinen zu lassen (Ch. 5,286-288). Nach dem Tod von Henri III wird im Parlement der Führer der Ligue, der Duc de Mayenne, für die Wahl zum König vorgeschlagen. Dem widersetzt sich in einer langen, klugen und mutigen Rede (Ch. 6,83-134) Potier de Blancmesnil, der Präsident des Parlement, der sich schon früher mit dem gesamten Senat gegen die Sechzehn gestellt hatte,24 und betont den alleinigen Thronanspruch von Henri de Bourbon, den auch Henri III kurz vor seinem Tod als einzigen legitimen Nachfolger bezeichnet hatte. Die anwesenden Ligueurs reagieren mit Entsetzen auf die für sie bittere Wahrheit seiner Worte (Ch. 6,137f.): Ils repoussaient en vain de leur cœur irrité Cet effroi qu’aux méchants donne la vérité.

Das plötzliche Anrücken von Henri mit dem Heer setzt der Diskussion ein jähes Ende. Die Situation entspricht genau derjenigen im elften Buch der Aeneis (Aen. 11,445ff.), als nach den kontroversen Reden von Drances und Turnus im Latinerrat ein neuer Angriff des Aeneas zum sofortigen Kampf zwingt. Im siebten Gesang, der aber in der Erstfassung von 1723/1724 noch als sechster Gesang gezählt wurde und mithin dem sechsten Aeneis-Buch entspricht, unternimmt Henri – wie Aeneas mit Anchises – unter Führung seines Urahnen Louis IX, des Heiligen und Stammvaters der Bourbonen, im Traum eine Seelenreise durch die Hölle und den Himmel. In der Hölle sieht er die Fürsten, Könige und Tyrannen, denen die Liebedienerei und Gewandtheit ihrer Höflinge die Wahrheit verbarg, so dass sie jetzt von der göttlichen Macht der Vérité die schlimmsten Seelenqualen erleiden müssen (Ch. 7,183-185): De qui la complaisance, avec dextérité, A leurs yeux éblouis cachait la vérité. La Vérité terrible ici fait leurs supplices.

–––––––––––– 24 Vgl. S. 265 u. Fußn. 22.

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Im achten Gesang will der Duc de Mayenne seinen Gefolgsleuten und sich selbst die Wahrheit der Niederlage von Ivry nicht eingestehen (Ch. 8,502-504: la vérité cruelle) und vertraut darauf, mit der von ihm besetzten Stadt Paris auch weiterhin seine Macht behaupten zu können. Im Schlussbuch – dem neunten Gesang in den ersten Ausgaben (1723/1724), dem zehnten Gesang in allen späteren – lässt Voltaire in deutlichem Anschluss an die von Venus erwirkte Iuppiterprophetie im ersten Aeneis-Buch (Aen. 1,223-304) Louis IX vor den Thron Gottes treten und vom Vater des Universums, dem Allmächtigen Gott, Gnade auf seinen großen Diener Henri herabflehen, damit er in Paris als König residieren, ganz Frankreich befrieden und zum Dienst des einen und wahren Gottes verpflichten könne (Ch. 10,445-466). Der Ewige erhört seine Bitte, und Henri spürt sogleich, dass der Höchste ihm beisteht (Ch. 10,467-472). Voltaire hat allerdings hier in der Schlusssequenz, wie er in seinen Notes de l’éditeur vermerkt, mit dichterischer Freiheit Ereignisse aus den Jahren von 1590 (Blockade von Paris) bis 1594 (Einzug in Paris) zusammengezogen.25 Als Botin des Höchsten und Vollstreckerin seines Willens erscheint Vérité (Ch. 10,473-480): Soudain la Vérité, si longtemps attendue, Toujours chère aux humains, mais souvent inconnue, 475 Dans les tentes du roi descend du haut des cieux. D’abord un voile épais la cache à tous les yeux: De moment en moment, les ombres qui la couvrent

Cèdent à la clarté des feux qui les entr’ouvrent: Bientôt elle se montre à ses yeux satisfaits,

480 Brillante d’un éclat qui n’éblouit jamais.

Voltaire hat jene Iuppiter-Venus-Szene vom Anfang der Aeneis vor allem deswegen als Vorbild gewählt, weil es ihm einerseits um den Gnadenerweis Gottes und die endgültige Konversion von Henri ging, und weil er andererseits eine vom höchsten Gott verfügte Zukunftsverheißung für Henri und für ganz Frankreich darstellen wollte. Das äußere Zeichen für diese gnadenhafte Wendung war die Rückgewinnung der Hauptstadt Paris. Die Vérité versteht er als eine Emanation des göttlichen Heilsplanes, die zwar nicht, wie er in den Notes de l’éditeur feststellt, die historische, aber doch die theologische und poetische Gültigkeit seiner Darstellung garantiert.26 Nach sieben Jahren intensiver dichterischer Arbeit hat er seinen Helden Henri zu einer unangefochtenen, ruhmreichen Herrschaft geführt und sich selbst, nachdem er an verschiedenen Orten in Paris öffentliche Rezitationen veranstaltet hatte, den Ruhm eines ‘neuen Vergil’ erworben. –––––––––––– 25 Vgl. Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 620, note h). 26 Taylor, 21970 (wie Fußn. 7).

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Dass der junge König Louis XV, der im Oktober 1722 zum König gekrönt wurde und im Februar 1723 die Regentschaft übernahm, die ihm angebotene Widmung des Epos ablehnte und außerdem sogar ein Druckverbot für Frankreich verfügte, hat Voltaire schwer gekränkt und in seiner Absicht, Frankreich möglichst bald zu verlassen, bestärkt. Im Hochgefühl seines früh erworbenen Ruhmes hat er während der Drucklegung seines Werkes schon mit dessen Umarbeitung begonnen. Die umfangreichste Änderung war innerhalb von sechs Monaten im Jahr 1724 die Hinzufügung des jetzigen sechsten Gesanges, der die Gesamtzahl der Gesänge auf zehn erhöhte. Zur selben Zeit dürfte Voltaire den Titel seiner Dichtung geändert haben. Nur die auch sonst kaum voneinander abweichenden Erstdrucke der Jahre 1723 und 1724 bieten den Werktitel: La Ligue ou Henri le Grand. Dann hat Voltaire offenbar eingesehen, dass dieser Alternativtitel einen unvereinbaren Gegensatz ausdrückte, somit eine Spaltung des Interesses der Hörer oder Leser bewirkte und den Ruhm seines wahren Helden, ganz im Gegensatz etwa zur Aeneis, eher verdunkelte. Seit der Londoner Edition (1728) trug daher das Epos den Titel: La Henriade. Die bedeutsamste Änderung jedoch hat er selbst im Schaffensprozess der Dichtung vollzogen, als sich ihm immer stärker die Denkfigur der Vérité – sei sie als christliche, profane oder poetische verstanden – als Schlussformel für sein Epos aufdrängte. Mit dieser Entscheidung Voltaires war aber letztlich eine beträchtliche, um nicht zu sagen: radikale Distanzierung von der Vergilischen Musenanrufung zu Beginn seines Epos indiziert. In seinem Essay upon the epick poetry (1726), den er in England schrieb, um ihn der englischen Ausgabe der Henriade (London 1728) voranzustellen, wird er im Lucan-Kapitel deutlicher. Er sieht nämlich einen besonderen Vorzug dieses von ihm sonst nicht so sehr geschätzten Dichters darin, dass er den traditionellen Götterapparat abgeschafft hat.27 Zwei gewichtige Gründe scheinen ihm dafür ausschlaggebend: Zum einen war der Kampf zwischen Pompeius und Caesar um Republik oder Monarchie, den Lucan selbst geradezu für einen Weltkrieg erklärt hat,28 –––––––––––– 27 In seinem englischen Essay on epick poetry (Williams, 1727 [wie Fußn. 14], 330) hat Voltaire dies noch ausdrücklich unterstrichen: „He is to be commended for having laid the Gods aside, as much as Homer and Virgil for having made use of that Machinery.“ 28 Lucan, Pharsalia 1,1-7: Bella per Emathios plus quam ciuilia campos iusque datum sceleri canimus, populumque potentem in sua uictrici conuersum uiscera dextra cognatasque acies, et rupto foedere regni

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ein wichtiges Kapitel der jüngsten römischen Geschichte, das Lucan in seinem faktischen Verlauf keineswegs nach Belieben poetisch umgestalten konnte und wollte. Zum anderen hat Cato selbst, für Lucan der wahre, stoische Held der Pharsalia, in seiner Ablehnung der Befragung des Orakels des Iuppiter Hammon den Polytheismus früherer Zeit durch eine verinnerlichte monotheistische Gottesvorstellung ersetzt.29 Voltaire hat mit Empörung vermerkt, dass der Abbé Desfontaines schon 1728 eine eigene, nicht autorisierte französische Übersetzung dieses seines Essays anonym in Paris erstellte, die aus technischen und merkantilen Gründen sogar noch Eingang in die Pariser Edition der Henriade von 1732 fand. Erst 1733 konnte Voltaire seine eigene französische Version des Essai sur la poésie épique publizieren, in der er, um die große Bedeutung der CatoRede für ihn selbst zu unterstreichen, diese in einer Übersetzung von Georges de Brébeuf zitiert.30 Da aber Catos Rede, die bei Lucan 19 Verse umfasst (Phars. 9,566-584), bei Brébeuf auf 39 Alexandriner ausgedehnt ist, die wiederum Voltaire um 14 Zeilen gekürzt hat, schien es hier zweckmäßig, Lucans Cato-Rede im Original zu zitieren, allerdings nicht ohne aus der vorherigen Aufforderung des Labienus zur Orakelkonsultation die zwei wichtigsten Verse anzuführen. Diese Verse lauten (Phars. 9,554f.): Nam cui crediderim superos arcana daturos dicturosque magis quam sancto vera Catoni?

Labienus (Phars. 9,550-563) argumentiert oberflächlich und provokant, wenn er erklärt, Cato als der allein Würdige solle sich diese Gelegenheit zur Befragung nicht entgehen lassen; durch die zitierte rhetorische Frage relativiert er ironisch die Gewissheit einer wahren Auskunft. Der Kontrast zu Cato, den Lucan hier unserer Aufmerksamkeit anbietet, könnte schärfer nicht sein (Phars. 9,564-584): ille deo plenus tacita quem mente gerebat

565 effudit dignas adytis e pectore uoces.

‘quid quaeri, Labiene, iubes? an liber in armis

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certatum totis concussi uiribus orbis in commune nefas, infestisque obuia signis signa, pares aquilas et pila minantia pilis. 29 Lucan, Pharsalia 9,566-584. Dieser Gottesbegriff ist bereits im Zeushymnos des Kleanthes ausgebildet (Stoicorum Veterum Fragmenta, hg. v. Arnim, I 537). Vgl. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde., Göttingen 21959, Bd. 1, 108-110; Bd. 2, 62f. 30 David Williams (Hg.): Œuvres complètes de Voltaire, 3 Bde., Oxford 1996, 437f.; Georges de Brébeuf: La Pharsale de Lucain, Rouen u.a. 1657 (zitiert nach der Ausgabe von D. Williams).

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occubuisse uelim potius quam regna uidere? an sit nostra brevis, nil, longane differat aetas? an noceat uis nulla bono fortunaque perdat 570 opposita uirtute minas, laudandaque uelle sit satis et numquam successu crescat honestum? scimus, et hoc nobis non altius inseret Hammon. haeremus cuncti superis, temploque tacente nil facimus non sponte dei; nec uocibus ullis 575 numen eget, dixitque semel nascentibus auctor quidquid scire licet. sterilesne elegit harenas ut caneret paucis, mersitque hoc puluere uerum, estque dei sedes nisi terra et pontus et aer et caelum et uirtus? superos quid quaerimus ultra? 580 Iuppiter est quodcumque uides, quodcumque moueris. sortilegis egeant dubii semperque futuris casibus ancipites: me non oracula certum sed mors certa facit. pauido fortique cadendum est: hoc satis est dixisse Iovem.’

Es soll hier nicht um Catos überlegene Abfertigung eines haltlosen Spötters gehen, sondern um den Anspruch der Wahrheitserkenntnis. Entweder hatte Voltaire die besagte Wahrheitsdebatte Lucans schon bei der Abfassung der Schlusssequenz bis zum oder im Jahr 1722 vor Augen, oder er hat sie spätestens 1726, also bis zur Fertigstellung seines Essay on epick poetry, gelesen. Vieles spricht für die erste Annahme. Denn seine Einführung der Vérité als einer direkten Emanation des Allmächtigen Gottes (Ch. 10,473-480) korrespondiert gar nicht mit der ursprünglichen Musenanrufung zu Beginn (Ch. 1,1-10), wohl aber mit einer sehr erhabenen, stoisch-epikureischen, deistischen Auffassung der Götter oder des einen Gottes, die dem Menschen selbst, zumal dem wahrhaft Weisen, die alleinige Verantwortung für sein Handeln zuspricht. Unter diesen Voraussetzungen jedenfalls hat Voltaire die Musenanrufung der ersten Ausgabe (1723/1724) für alle späteren Ausgaben durch eine Anrufung der Vérité ersetzt (Ch. 1,1-20):

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Je chante ce héros qui régna sur la France Et par droit de conquête et par droit de naissance; Qui par de longs malheurs apprit à gouverner, Calma les factions, sut vaincre et pardonner, Confondit et Mayenne, et la Ligue, et l’Ibère, Et fut de ses sujets le vainqueur et le père. Descends du haut des cieux, auguste Vérité! Répands sur mes écrits ta force et ta clarté! Que l’oreille des rois s’accoutume à t’entendre; C’est à toi d’annoncer ce qu’ils doivent apprendre: C’est à toi de montrer, aux yeux des nations, Les coupables effets de leurs divisions.

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Dis comment la Discorde a troublé nos provinces; Dis les malheurs du peuple et les fautes des princes; Viens, parle; et s’il est vrai que la Fable autrefois Sut à tes fiers accents mêler sa douce voix, Si sa main délicate orna ta tête altière, Si son ombre embellit les traits de ta lumière, Avec moi sur tes pas permets-lui de marcher, Pour orner tes attraits, et non pour les cacher. Valois régnait encore

Welche Vorzüge hoffte Voltaire durch diese radikale Neufassung des Proöms zu gewinnen? Es ging ihm keinesfalls um eine Abkehr von Vergil, aus dem er – wie der Similienapparat von Taylor ausweist – fast ebenso viele Motive, Szenen, Personen, Strukturen, Konfigurationen adaptiert hat wie aus allen anderen antiken und modernen Vorbildautoren zusammen. Vielleicht kann ein abgewandeltes Sprichwort, mit dem ursprünglich Aristoteles sein Verhältnis zu Platon beschrieben hat, seine Intention erhellen: amicus Vergilius, sed magis amica veritas. Oder als Paradox formuliert: von Vergils Muse zur christlichen Wahrheit geführt, hat er diese programmatisch zum Ausgangspunkt der gesamten Dichtung erklärt. Er hat damit nicht nur Catos – oder besser: Lucans – Kritik an allzu anthropomorphen Gottesvorstellungen entkräftet, sondern erscheint selbst von vornherein als der inspirierte Künder einer umfassenden christlichen Heilsbotschaft. Aber damit nicht genug. Die restlose Ersetzung des traditionellen Musenanrufes durch eine Apostrophierung der Vérité ist eine ungeheuerliche Provokation des Ancien Régime, die Voltaire nur aus der Sicherheit seines englischen Asyls heraus wagen durfte. Er sieht sich selbst in der Rolle des Anklägers und Richters und erklärt die Vérité zur Zeugin und Vollstreckerin (ta force et ta clarté). Sie soll die Könige und die Völker über die strafwürdigen Wirkungen ihrer Zwistigkeiten aufklären. Sie muss die schlimmen Schäden der Zwietracht (Discorde) in den Provinzen, die Missgeschicke des Volkes und die Fehler der Fürsten kundtun. Sie soll kommen und sprechen. Soweit (V. 7-15a) der auffordernde Teil, der acht Imperative enthält, wenn man den Ausdruck: C’est à toi – zu den Imperativen rechnet. Mit Vers 15b bis Vers 20 kehrt er zur Rolle des Dichters zurück, der die aufdeckende und strafende Gewalt der Vérité mit seiner Erzählkunst verkleidet und verschönert.31 Mit 14 Versen übersteigt die Länge dieser Anru–––––––––––– 31 Dieser Abschnitt ist Torquato Tasso nachempfunden, der in der zweiten und dritten Stanze des ersten Gesanges die soeben angerufene Muse um Verzeihung bittet, wenn er, um auch mit ihr nicht vertraute Leser zu gewinnen, von ihrer Wahrheit abweiche, und nach der Weise des Lucrez (4,8-25) den Rand des Bechers der bitteren Medizin der Wahrheit mit dem Honig der schönen Verse benetze.

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fung die der Musenanrufung in der Erstausgabe (Ch. 1,7-10), aber auch die Länge ihres Schlussauftritts (Ch. 9 bzw. 10,473-480) sehr deutlich. Hier hören wir schon die Fanfaren der französischen Revolution, Voltaires Vérité trägt in sich die Töchter Liberté, Égalité, Fraternité.

II.2 Priamus und Coligny In der ersten Gesangstrias hat Voltaire den ordo artificialis Vergils genau nachgebildet.32 Anstatt seinen engen Vertrauten Mornay allein mit einem Hilfsgesuch zu Königin Elisabeth I. von England zu schicken, wie es der historischen Wahrheit entsprach, lässt er Henri de Bourbon selbst gemeinsam mit dem Freund die Seereise antreten. Durch Seesturm, Schiffbruch, Zwangsaufenthalt auf Jersey – mit der oben erwähnten vorausdeutenden philosophisch-politischen Unterweisung des Eremiten, der Züge des in Frankreich exilierten und Voltaire eng befreundeten Lord Bolingbroke trägt – und glückliche Ankunft in London schafft er im ersten Gesang den von Horaz postulierten unmittelbaren Handlungseinsatz.33 Er gewinnt so den Ansatzpunkt für den erzählerischen Rückgriff der Gesänge 2 und 3, in denen Henri der Königin auf deren Wunsch zunächst (Ch. 2) die Bartholomäusnacht als blutigen Beginn neuer Religionskriege und dann (Ch. 3) den weiteren Verlauf dieser verlustreichen Kriege bis zur gegenwärtigen Belagerung von Paris durch König Henri III und ihn selbst schildert (1589), um daran seine Hilfsbitte zu knüpfen. Elisabeth ist bewegt, erfüllt seinen Wunsch, und er – in Wirklichkeit Mornay allein – kehrt mit einem 1000 Mann starken englischen Reiterkontingent zu den Belagerungstruppen vor Paris zurück. Voltaire stattet Elisabeth mit einigen Zügen von Vergils Dido aus: sie ist souveräne Herrscherin, Gastgeberin, Gesetzgeberin, Zuhörerin bei der Erzählung von Krieg und Leid der Nachbarvölker. Ohne Liebe zwischen Henri und Elisabeth zu insinuieren, betont er doch eine starke wechselseitige Sympathie. Ihre Seelenverwandtschaft und gleichgeartete historische Größe markiert er mit dem von ihm nur den überragenden Heldenfiguren zuerkannten Epitheton: auguste. Deutlich tritt auch Voltaires persönliche Begeisterung für England, dessen Verfassung, Rechtssystem, religiöse Toleranz und bürgerliche Freiheiten hervor. Nun zu einer vergleichenden Analyse der Iliupersis (Aen. 2) und der Bartholomäusnacht (Henr., Ch. 2). –––––––––––– 32 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde, München 1960, §§ 316f., §§ 449f.; Franz Josef Worstbrock: Elemente einer Poetik der Aeneis, Münster 1963 (Orbis Antiquus 20), 43-45. 33 Hor. ars 147-149.

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Beide Bücher bieten einen Musterfall der klassischen Rhetorik, der in hellenistischer Zeit auch Eingang in die so genannte ‘tragische’ Geschichtsschreibung gefunden hat:34 die anschauliche Schilderung (ἐνάργεια; evidentia) der – oft, wie auch hier, nächtlichen – Eroberung einer feindlichen Stadt mit detaillierter Ausmalung der Gräueltaten.35 Allerdings sind hier doch gravierende Unterschiede der Ausgangssituation, der Konfiguration, der Kampfinszenierung und der Erzählperspektiven nicht zu übersehen. Paris wurde weder belagert noch erobert, sondern Königin Catherine de Médicis, Regentin für ihren minderjährigen Sohn Charles IX, hatte zur Hochzeit ihrer Tochter Marguerite mit dem Protestanten Henri de Bourbon, König von Navarra, auch dessen Glaubensgenossen, etwa 3000 Hugenotten aus ganz Frankreich nach Paris eingeladen.36 Nach der Hochzeit am 18. August 1572 wurde mehrere Tage gefeiert. Erst als dann am frühen Abend des 23. August ein von der Königin ihrem Sohn aufgenötigtes Attentat auf den am Hof sehr mächtigen Hugenottenführer, Admiral de Coligny, der wenige Tage später mit einem Heer zur Unterstützung der protestantischen Niederlande gegen die Spanier ausrücken sollte, fehlschlug, gab Charles IX auf erneutes Drängen seiner Mutter seinen Anhängern den Befehl zu dem allgemeinen nächtlichen Gemetzel gegen die in Paris weilenden Hugenotten.37 Henri fungiert zwar in diesem Gesang formal als Ich-Erzähler, muss aber gegen Ende (Ch. 2,322-344) zugeben, dass er selbst jene Morde und Gräueltaten nicht gesehen hat, weil er in jener Nacht unbehelligt im Louvre geschlafen hat. Die Gesandtschaftsreise nach England war eine erzähltechnisch kluge und überzeugende Korrektur der Geschichte. Aber Henri auf der Seite der Protestanten kämpfen zu lassen – man hat ihn nicht vor der Hochzeit, aber später noch im Jahr 1572 als Gefangenen des Hofes (bis 1576) zum abermaligen Übertritt zum Katholizismus gezwungen38 – verbot sich für –––––––––––– 34 Vgl. Norbert Zegers: Wesen und Ursprung der tragischen Geschichtsschreibung, Diss. Köln 1959. 35 Lausberg, 1960 (wie Fußn. 32), §§ 810-819, 399-407. Für Quintilian (inst. 8,3,6770) gilt die Stadteroberung als ein Musterfall einer solchen Schilderung. 36 Eine kompakte Darstellung der von Voltaire geschilderten historischen Ereignisse bietet der von Peter C. Hartmann herausgegebene Sammelband: Französische Könige und Kaiser der Neuzeit. Von Ludwig XII. bis Napoleon III. (1498-1870), München 1994; dort: Rainer Babel: Karl IX. 1560-1574, 99-119; Ilja Mieck: Heinrich III. 1574-1589, 120-142; Ernst Hinrichs: Heinrich IV. 1589-1610, 143-170. 37 Rainer Babel spricht in seinem Artikel (wie Fußn. 36) auf S. 115 von 1500-2000 Todesopfern der Bartholomäusnacht in Paris. 38 Henri IV (*15. 12. 1553) wurde katholisch getauft, aber von seiner Mutter Jeanne d’Albret als Sohn des Antoine de Bourbon protestantisch erzogen; am Hof in Pa-

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Voltaire, weil das in jedem Fall – bei einem Sieg oder bei einer Niederlage – zu unsinnigen Konsequenzen geführt hätte. Mit Recht hat er also versucht, in künstlerischem Wettstreit mit Vergil dessen poetische Fiktion der Eroberung und Zerstörung Troias durch seine Darstellung der tatsächlichen Gräueltaten der Bartholomäusnacht zu überbieten. Wenn Vergil den Aeneas mehrfach gleichsam formelhaft seine Augenzeugenschaft betonen lässt,39 so bleibt selbst ihm, dem Kampfteilnehmer, der räumlich und zeitlich weitaus größte Teil des Geschehens verborgen – oder wird ihm nur gegen Ende durch eine repräsentative Offenbarung der Venus erhellt, um ihn von der Notwendigkeit der Flucht zu überzeugen.40 Gemäß den Nachweisen des sorgfältigen Kommentars von Owen R. Taylor41 finden sich im Gesamtvergleich von Aeneis und Henriade die engsten Strukturparallelen und die häufigsten Zitatanklänge zwischen der Ermordung des Priamus (Aen. 2,506-525; 526-546; 547-558) und der Tötung des Gaspard de Coligny (Henr. Ch. 2,175-196; 197-220; 221-244). Es scheint angemessen, hier den Begriff der ‘Paraphrase’ aus der klassischen Rhetorik wieder zu der Geltung zu bringen, die er in der Musik durchaus bis heute besitzt:42 Voltaire bietet eine schöpferische Neugestaltung des Themas der Überwindung eines gewaltigen Gegners, die die Meisterschaft beider Dichter in vollem Glanz erstrahlen lässt. In Vergils Iliupersis markiert der Tod des greisen Königs Priamus, den der Ich-Erzähler Aeneas als ungesehener und ohnmächtiger Augenzeuge miterlebt hat, das Ende des zehnjährigen Krieges, den Untergang Troias und einer jahrhundertelangen Herrschaft über Asien. Aeneas ist, von seiner Mutter Venus geleitet, deswegen anwesend, weil er als Nachfahre des Iuppitersohnes und Troiagründers Dardanus in sechster Generation beru––––––––––––

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ris (1564-1566) wurde er wieder katholisch, bei seiner Rückkehr nach Pau abermals protestantisch. Nach den blutigen Ereignissen in Paris wurde er Ende 1572 erneut katholisch, aber nach seiner Flucht 1576 wiederum protestantisch, bis er 1593 endgültig zum Katholizismus übertrat. Beispielshalber seien zitiert: Aen. 2,5f.: quaeque ipse miserrima uidi / et quorum pars magna fui; 2,499-501.: uidi ipse furentem / caede Neoptolemum geminosque in limine Atridas, / uidi Hecubam; 2,560-562: obstipui; subiit cari genitoris imago, / ut regem aequaeuum crudeli uulnere uidi / uitam exhalantem. Aen. 2,589-633; 624f.: Tum uero omne mihi uisum considere in ignis / Ilium et ex imo uerti Neptunia Troia. Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 400-404. Vgl. Lausberg, (1960), §§ 1099-1106, 530-533. Die Schüsselstelle zur schöpferischen Paraphrase findet sich bei Quintilian im Zusammenhang mit der Übung der Übersetzung aus dem Griechischen ins Lateinische: inst. 10,5,2-8. Als Beispiel aus der Musik könnte man die Orgelparaphrasen zu Dantes Divina Commedia von Franz Liszt nennen.

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fen ist, in Italien ein neues Reich zu begründen, das einst über Europa, Asien und Africa herrschen soll.43 Wir erkennen eine klare Dreigliederung: 1. (Aen. 2,506-525): Mittels einer rhetorischen Frage setzt Aeneas bei Dido Neugier nach den weiteren Schicksalen des Priamus voraus, die ihm und uns in den Bildszenen des karthagischen Iunotempels begegnet waren (Aen. 1,483-487). Hier berichtet Aeneas von einer letzten Wappnung des hilflosen Greises, der sich todesmutig den Feinden stellen will, bis schließlich Hecuba ihn zu den Frauen führt, die als Schutzflehende am Hausaltar Zuflucht gesucht haben44. 2. (Aen. 2,526-546): Verfolgt von dem tobenden Achillessohn Pyrrhus (= Neoptolemus) schleppt sich mit letzter Kraft der Priamussohn Polites herein und bricht, von Pyrrhus’ Lanze getroffen, mit starkem Blutverlust vor den Augen der Eltern tot zusammen. Priamus, selbst schon dem Tode nahe, verflucht Pyrrhus wegen seiner Erbarmungslosigkeit, fleht die Rache der Götter auf ihn herab, spricht ihm die Herkunft von Achill ab, da ihm dessen Edelmut fehle, und greift ihn mit einem kraftlosen Lanzenwurf an. 3. (Aen. 2,547-558): Mit drei knappen Sätzen delegiert Pyrrhus höhnisch den Greis als Boten zu Achill in die Unterwelt, schleift den Zitternden und im Blut des Sohnes Ausgleitenden zum Altar, packt ihn mit der Linken bei den Haaren und stößt ihm mit abgewandtem Gesicht mit der Rechten das Schwert bis zum Heft in die Flanke. In einem Epilog beklagt Vergil den unwürdigen Tod des einst so mächtigen Herrschers. Wenn er hinzufügt, dass später sein Rumpf und der abgetrennte Kopf unerkannt am Meeresstrand lagen, so erklärt sich das aus der Weisung an Pyrrhus, das Haupt des Priamus als Trophäe zum Grabmal seines Vaters am Kap Sigeion zu tragen. Vergil will aber gewiss auch auf das ebenso schmähliche Ende des Pompeius am Strand von Ägypten im Bürgerkrieg hinweisen.45 Der ordo artificialis ist erst dann geglückt, wenn die Rekapitulation der Vorgeschichte sich auf das Wesentliche beschränkt. Als Kenner des Ho–––––––––––– 43 Vgl. Werner Suerbaum: „Aeneas zwischen Troja und Rom. Zur Funktion der Genealogie und der Ethnographie in Vergils Aeneis“, Poetica 1, 1967, 176-204. 44 Michael Lobe: Die Gebärden in Vergils Aeneis. Zur Bedeutung und Funktion von Körpersprache im römischen Epos, Frankfurt/M. 1999, 114-117 (Classica et Neolatina 1), charakterisiert treffend die Hilflosigkeit des Priamus. Umso schärfer wirkt dann aber im Kontrast seine Zornrede. 45 Lucan beendet das achte Buch der Pharsalia (8,692-872) mit einer Klage über den unwürdigen Tod des einst so mächtigen Pompeius, dessen Leichnam ohne sein Haupt nur notdürftig von seinem früheren Quaestor Cordus am Strand von Ägypten bestattet werden kann. Aus den rätselhaften tibicines Vergils (Aen. 2,557b-558), die dieser noch vervollständigen wollte (vgl. S. 288 u. Fußn. 50 zu Neoptolemus in Epirus), ist so ein unbestimmter Klagetopos geworden, den Voltaire auf Coligny überträgt.

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raz46 lässt Voltaire daher Henri der Königin – außer ihr ist nur Mornay als stummer Zuhörer anwesend – zunächst nur über zwei Themen Bericht erstatten: über die Glaubensspaltung und ihre katastrophalen politischen Folgen (2,1-82) sowie über seine persönlichen Verhältnisse und die seiner Gegenspieler am Königshof (2,88-174). Nach seiner – von Voltaire ihm soufflierten Überzeugung – haben Adel und Klerus aus Gier nach Macht und Besitz das Schisma vertieft, ist das Volk aus Unaufgeklärtheit und Existenzangst seinen Landesherrn blind gefolgt, hat der Hof gewaltsam im Namen des Katholizismus seine unantastbaren Privilegien und seinen absoluten Herrschaftsanspruch behauptet. Im Sinn eines aufgeklärten Deismus rühmt er die von Elisabeth geleitete anglikanische Kirche, die, ohne die Zwangsalternative zwischen Rom und Genf, England zu einem freien, friedlichen, prosperierenden Staat mache (2,33-42). Er selbst habe als Kind unter dem Einfluss seines Vaters (gest. 1562) gestanden, sei dann als König von Navarra und als Kämpfer für die protestantische Sache dem Vorbild seines Onkels, des Prince de Condé (gest. 1569), und zuletzt dem des Admirals de Coligny gefolgt. Catherine de Médicis hingegen sei unberechenbar, machtgierig, gefühlskalt und verschlagen. Der Mittelteil des Buches schildert als Beginn und sogleich grausigen Höhepunkt der Bartholomäusnacht den Märtyrertod von Coligny als paradoxe Umkehrung einer klassischen Aristie und als Gegenstück zur Ermordung des Priamus. Auch Voltaire markiert drei Abschnitte: 1. (2,175-196): In seinem Gasthof hinter Saint-Germain-l’Auxerrois – gegenüber der Ostfront des Louvre – wird Coligny vom Lärm der fanatisierten Soldaten geweckt. Er sieht aus der ersten Etage das Haus von Flammen und Waffen umgeben, seine Diener blutüberströmt in den Flammen erstickt. Die Angreifer rufen die Parole: ‘Für Gott, für die Königin, für den König’. Er hört seinen Namen widerhallen. In der Ferne streckt der blutende, tödlich verwundete Comte de Téligny, sein junger Schwiegersohn, die Hände nach ihm aus und bittet um Rache. 2. (2,197-220): Der kampferprobte Held (héros) erkennt, dass er sich ohne Waffen weder rächen noch verteidigen kann, er will mit Ruhm und Tapferkeit sterben. Nicht als kraftloser Greis tritt er den Mördern entgegen, sondern mit der Ruhe und Würde des Feldherrn. Er öffnet ihnen selbst die Tür, sie erstarren in Ehrfurcht vor seinem Anblick. Soldatisch knapp bittet er sie als seine Kameraden (compagnons), ihm den Tod zu ge–––––––––––– 46 Vgl. Hor. ars 147-149: nec gemino bellum Troianum orditur ab ouo: semper ad euentum festinat et in medias res non secus ac notas auditorem rapit

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ben. Sie werfen sich vor ihm auf die Knie, einer lässt die Waffen fallen, einer netzt seine Füße mit Tränen. Von seinen Mördern umgeben, gleicht er einem von seinem Volk angebeteten mächtigen König – eine kontrastierende Reminiszenz an Priamus. 3. (2,221-244): Ein deutscher Söldner namens Besme, willfähriges Werkzeug der Königin, stürmt herbei und stößt dem unerschrocken dastehenden Coligny das Schwert in die Flanke, wendet aber die Augen ab, da ein Blick in jenes erhabene Antlitz seinen Arm hätte erzittern und seinen Mut gefrieren lassen. Schließlich trennt Besme noch sein Haupt ab, um es später der Königin vorzulegen. Voltaire lässt ihn also genau dem schrecklichen Beispiel des Pyrrhus folgen, obschon dies mit den historischen Fakten kaum vereinbar ist.47 Zum Vergleich seien die letzten Reden von Priamus – diese mit der knappen Erwiderung des Pyrrhus – und von Coligny hier einander gegenübergestellt: Aen. 2,535-543; 547-550 vs. Henr. 2,210-215: 535 ‘at tibi pro scelere’, exclamat ‘pro talibus ausis

di, si qua est caelo pietas quae talia curet, persoluant grates dignas et praemia reddant debita, qui nati coram me cernere letum fecisti et patrios foedasti funere uultus. 540 at non ille, satum quo te mentiris, Achilles talis in hoste fuit Priamo; sed iura fidemque supplicis erubuit corpusque exsangue sepulcro reddidit Hectoreum meque in mea regna remisit.’ 544-546 … [Lanzenwurf des Priamus] … cui Pyrrhus: ‘referes ergo haec et nuntius ibis Pelidae genitori. illi mea tristia facta degeneremque Neoptolemum narrare memento. 560 nunc morere.’ [...] 210 ‘Compagnons, leur dit-il, achevez votre ouvrage, Et de mon sang glacé souillez ces cheveux blancs, Que le sort des combats respecta quarante ans; Frappez, ne craignez rien; Coligny vous pardonne; Ma vie est peu de chose, et je vous l’abandonne … 215 J’eusse aimé mieux la perdre en combattant pour vous ...’

–––––––––––– 47 Warum sollte Besme genauso mit abgewandtem Blick Coligny das Haupt abgeschlagen haben wie einst Pyrrhus dem Priamus? Beide Vorgänge sind literarische Erfindungen, also hat Voltaire Vergil nachgeahmt. In den ‘Notes de l’éditeur’ (Taylor, 21970 [wie Fußn. 7], 412) insistiert Voltaire darauf, dass das Haupt von Coligny Catherine de Médicis überbracht worden sei. Dann aber kann es nicht stimmen, dass, wie er sofort danach versichert, die Leiche von Coligny wie die anderer prominenter Opfer, an den Füßen hängend, öffentlich ausgestellt worden ist.

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Zunächst zum lateinischen Text. Priamus will mit seinem Fluch wegen des Eindringens in den sakrosankten innersten Bezirk des Hauses und der frevelhaften Ermordung des Polites vor seinen Augen die Strafe der Götter gegen Pyrrhus heraufbeschwören. Durch die Leugnung seiner unbestreitbaren Abkunft von Achilles will er Pyrrhus tödlich beleidigen und zur Ermordung seiner selbst provozieren, da er die von den Göttern verhängte Katastrophe erkennt und sich ihrem Willen beugt.48 Sein Lanzenwurf bleibt vergeblich, verstärkt jedoch die Provokation. Pyrrhus seinerseits repliziert nicht auf Priamus, sondern tötet ihn auf grausame Weise und verhöhnt ihn mit einer Botschaft an seinen ihm selbst unbekannten Vater Achilles. Es handelt sich um eine asymmetrische Konfrontation, die sich in ganz kurzer Zeit abspielt und keine regelrechte rhetorische Kontroverse zulässt. Priamus ist hochbetagt, Pyrrhus blutjung, Priamus will die Rache der Götter für den Sohn, Pyrrhus Rache für den Vater. Da jeder von beiden in seiner eigenen Wahnwelt lebt, haben sie keine gemeinsame Kommunikationsebene. Beide handeln aus einer Grundhaltung des Fatalismus, die sich, da sie beide die Letzten ihres Geschlechtes sind, aus dem von den Göttern verhängten Geschlechterfluch ergibt. Aeneas selbst, hier noch tief betroffener heimlicher Zeuge, erhält schon bald auf seinen Irrfahrten Aufschluss über das weitere Schicksal der Überlebenden von Troia (Aen. 3,294-471). In Epirus erfährt er, dass der Fluch des Priamus sich an Pyrrhus erfüllt hat: Er habe die Menelaostochter Hermione geheiratet und die Beutesklaven Andromache und Helenus füreinander zur Ehe freigegeben, sei dann aber von Orestes, dem er Hermione geraubt hatte, aus Eifersucht erschlagen worden.49 Wenden wir uns nun der Rede von Coligny zu (Henr. Ch. 2,210-215). Sie steht genau im Zentrum des dramatischen Geschehens und zieht unsere gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Coligny trägt zwar einige Züge von Priamus – wie jener wird auch er unverdient zum Märtyrer – aber er offenbart im Angesicht des sicheren Todes die überlegene Charakterstärke des wahrhaft großen Feldherrn, wie sie die Historiker besonders an Caesar gerühmt haben, und wie Voltaire selbst sie später in seiner Tragödie La mort de César (1726/1733) dargestellt hat.50 Er öffnet der Mörderbande selbst die Tür und diktiert dann wie in seinen vielen Schlachten selbst das –––––––––––– 48 Roland G. Austin: P. Vergili Maronis Aeneidos Liber Secundus, edited with a commentary, Oxford 1964, 207, gibt eine eindringliche Interpretation der Szene. 49 Vgl. Apollodor, epit. 6,12-14. Jean Racine, der von Voltaire am meisten bewunderte und auch in der Henriade oft zitierte Vorgänger, hat diesen Stoff in seiner Tragödie Andromaque (1667) mit großer Kunst behandelt. 50 Vgl. Henry Carrington Lancaster: French Tragedy in the Time of Louis XV and Voltaire. 1715-1774, 2 Bde., Baltimore 1950, Bd. 1, 135-139.

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Geschehen (2,201-206). Er spricht sie als seine Kameraden (compagnons) an, fordert sie auf, ihre Befehle auszuführen und verzeiht ihnen im Voraus. Dies ist nicht rhetorische Strategie, sondern in vierzig Jahren erprobte furchtlose Schicksalsergebenheit und Todesverachtung. Die prägnanten sechs Verse bieten ein Musterbeispiel von brevitas imperatoria, für die wiederum Caesar als größtes Vorbild gilt.51

II.3 Dido und Gabrielle Im vierten Aeneis-Buch erscheint Dido, die nun nach Aeneas’ Erzählungen gemäß dem gemeinsamen Plan der Göttinnen Iuno und Venus eine leidenschaftliche Liebe für den Helden hegt, zum ersten Mal beim Auszug zur Jagd in ihrer ganzen Schönheit (Aen. 4,133-139): reginam thalamo cunctantem ad limina primi Poenorum exspectant ostroque insignis et auro 135 stat sonipes ac frena ferox spumantia mandit. tandem progreditur magna stipante caterua Sidoniam picto chlamydem circumdata limbo; cui pharetra ex auro crines nodantur in aurum, aurea purpuream subnectit fibula uestem.

Im Hinblick auf Didos natürliche Schönheit sind ergänzend noch zwei Ausdrücke hinzuzufügen (Aen. 4,589-591; 698f.): terque quaterque manu pectus percussa decorum,

590 flauentisque abscissa comas ‘pro Iuppiter! ibit

hic’, ait ‘et nostris inluserit aduena regnis?’ […] 698 nondum illi flauum Proserpina uertice crinem abstulerat Stygioque caput damnauerat Orco.

Im ersten Text wird den Karthagern, Troern, Aeneas und uns Dido vermittels ihres stolzen Pferdes und ihrer prachtvollen äußeren Attribute indirekt, implizit, distanziert, geradezu monumental – ganz anders als auf dem bekannten Bild von Claude Lorrain52 – vor Augen gestellt. Das Pferd –––––––––––– 51 Als Beleg mag ein Urteil Ciceros genügen. Im Dialog Brutus sagt er von Caesars Commentarii de bello Gallico (262): valde quidem, inquam, probandos; nudi enim sunt, recti et venusti, omni ornatu orationis tamquam veste detracta […] nihil est enim in historia pura et inlustri brevitate dulcius. 52 Marcel Röthlisberger: Claude Lorrain. The Paintings, vol. I: Critical Catalogue; vol. II: Illustrations, New Haven 1961,Bd. I, 438-441. Beschrieben ist ein Exemplar des Bildes von 1676 in englischem Privatbesitz. Weitere Exemplare befinden sich in London (British Museum). Detroit (Institute of Arts) und in der Hambur-

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hat eine purpurne Satteldecke, Zaumzeug und Sattel sind reichlich mit Gold verziert. Dido trägt einen purpurnen Mantel mit golddurchwirktem Saum und einen goldenen Köcher, ihre blonden Haare sind mit einem goldenen Netz zu einem Knoten zusammengefasst, so wie auch eine goldene Spange ihr Untergewand zusammenhält. Als Zuschauer, Leser oder Hörer sind wir von der Pracht und Fülle der Gewänder, Schmuckstücke und Kleinodien überwältigt. Antike und moderne Kommentatoren versäumen nicht den Hinweis, dass Dido, wie schon ihr anfängliches Zögern im Brautgemach (thalamo) zeige, sich bewusst sei, dass sie in Wahrheit nicht zur Jagd, sondern zu ihrer Hochzeit ausziehe.53 Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die Königin, wie wir erst später erfahren, nach dem Willen Vergils blonde Haare hat, so dass nicht nur sie selbst nach antiker Vorstellung ein besonderes Schönheitsideal erfüllt,54 sondern auch ihre gesamte Erscheinung mit der hier aufgebotenen Farbenpracht wunderbar harmoniert. Das Gesamtbild wird aber erst mit dem Aufzug der Phrygier – ein Synonym für die Troer, das besonders auf ihre farbenfrohe Kleidung hinweist – des frohgemuten Iulus und des überaus schönen Aeneas (ante alios pulcherrimus) vollendet, der in einem Gleichnis mit dem Delischen Apollo verglichen wird (Aen. 4,140-150). Da Didos Schönheit (pulcherrima Dido) bereits bei ihrem ersten Auftreten im ersten Buch mit einem vielfach korrespondierenden Diana-Gleichnis illustriert wurde (Aen. 1,494-504), ist die schicksalhafte wechselseitige Zuordnung der beiden Heldengestalten unverkennbar. Wie nimmt nun Voltaire die Motive und Arrangements Vergils im neunten Buch der Henriade auf? Er beginnt mit der Schilderung eines Dämonenreiches, das in Idalie, dem antiken Idalion auf Cypern, in einer alten Kultstätte der Venus, die immer noch wirkmächtigen Allegorien aller Tugenden und Laster beherbergt. Unter ihnen hat Amour, der gute und böse Wirkkräfte in sich vereint, eine führende Rolle. Er eilt auf Bitten seiner Schwester Discorde, der er vielfach verpflichtet ist, nach Frankreich, um dem milden, friedfertigen, versöhnlichen Henri eine unbezwingbare Liebe einzugeben, die ihn nach dem Sieg von Ivry von seinem –––––––––––– ger Kunsthalle. Im Liber Veritatis trägt das Bild die Nummer 186. Das 1672 entstandene Bild: ‘Aeneas auf Delos’ (LV 179) ist das Gegenstück. Vgl. auch Marcel Röthlisberger u.a.: L’opera completa di Claude Lorrain, Milano 1975, Tav. LVLVIII, 121-122. 53 Claud. Don. Aen. (hg. v. H. Georgii, Leipzig 1905, vol. 1, Aen. 4,135, 372): totum quod habuit aut aurum fuit aut purpura pretiosa, et ideo tandem: sic enim processerat ut amans et quae placere cuperet et amari. R.G. Austin, P. Vergili Maronis Aeneidos IV, Oxford 1955, ad 4,133 (thalamo cunctantem): „[…] she hesitates as a bride might“. 54 Vgl. Arthur Stanley Pease: Publi Vergili Maronis Aeneidos liber quartus, Darmstadt 21967, 471-473, mit ausführlicher Kommentierung von Didos Blondheit.

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Heer fernhalten und letztlich doch noch den Bürgerkrieg verlieren lassen soll. Durch ein nächtliches Unwetter im Wald leitet er Henri heimlich zu Schloss Anet, das er selbst mitgestaltet hatte, als Henri II es für seine Geliebte Diane de Poitiers erbauen ließ. Ohne sich mit Topographie, Architektur, Gartenanlagen oder Intérieurs irgendwie aufzuhalten, entwirft Voltaire ein dreiaktiges Liebesdrama, das ohne weitere Personen, ohne Dialoge, ohne fassbare Handlung als geschlossenes seelisches Geschehen von höchster Intensität vor unserer Phantasie abläuft. Die Exposition (Ch. 9,159-180) malt das Bild einer jungen, unverheirateten Frau, die die Natur über die Maßen mit ihren liebenswürdigen Gaben überhäuft hat. Weder Helena als Frau des Menelaos habe so geglänzt, noch Kleopatra, die doch einst Antonius zuliebe in Tarsos als Venus aufgetreten ist und von den Menschen als Göttin verehrt wurde.55 Gabrielle erscheint als das vollkommene Ideal einer jungen Braut (9,173-180): Elle entrait dans cet âge, hélas! trop redoutable, Qui rend des passions le joug inévitable. 175 Son cœur, né pour aimer, mais fier et généreux, D’aucun amant encor n’avait reçu les vœux: Semblable en son printemps à la rose nouvelle, Qui renferme en naissant sa beauté naturelle, Cache aux vents amoureux les trésors de son sein, 180 Et s’ouvre aux doux rayons d’un jour pur et serein

Die Hochzeitsvorbereitung (Ch. 9,181-204) des Amour gilt einzig der Braut Gabrielle: Zugleich mit der Ankündigung von König Henri steigert er ihre Schönheit und ihre Liebessehnsucht und führt sie dann vor den Herrscher (9,193-204): L’art simple dont lui-même a formé sa parure Paraît aux yeux séduits l’effet de la nature: 195 L’or de ses blonds cheveux, qui flotte au gré des vents, Tantôt couvre sa gorge et ses trésors naissants, Tantôt expose aux yeux leur charme inexprimable. Sa modestie encore la rendait plus aimable: Non pas cette farouche et triste austérité 200 Qui fait fuir les Amours, et même la beauté; Mais cette pudeur douce, innocente, enfantine, Qui colore le front d’une rougeur divine, Inspire le respect, enflamme les désirs, Et de qui la peut vaincre augmente les plaisirs.

–––––––––––– 55 Vgl. Plutarch, Antonius, c. 26.

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Voltaire begabt Amour mit seiner eigenen Kennerschaft und Raffinesse in Liebesdingen: Amour vertraut der Wirkung der Natur mehr als dem übertriebenen Aufwand. Das lange blonde Haar, das die wohlgeformte Figur von Gabrielle umspielt, verdeckt bald ihre Reize, bald bringt es deren Zauber zur Geltung. Sie gibt sich bescheiden, nicht aber abweisend sittenstreng, weil dies die Liebeswallungen und sogar ihre Schönheit vertreiben würde. Sanfte, unschuldige, kindliche Scham überzieht ihr Gesicht mit einer herrlichen Röte, die Achtung einflößt, aber das Verlangen entfacht und die Freuden dessen, der sie gewinnen kann, vergrößert. Wie wir sehen, formuliert Voltaire – im Sinne des Amour – so genau, so situationsgerecht, dass sich eine wörtliche Übersetzung kaum vermeiden lässt. Als ein Ergebnis sei hier schon festgehalten, dass zwar Vergils Dido Voltaires wichtigstes Vorbild für Gabrielle darstellt, dass ihm aber auch in vielen wesentlichen Zügen die Gestalt der Lavinia vor Augen gestanden hat. Ihr, bei aller bangen Betrübnis, wunderschöner Auftritt ist es ja im Schlussbuch der Aeneis (12,64-80), der Turnus unweigerlich in den Entscheidungskampf mit Aeneas treibt. Jean Regnauld de Segrais, der die für Voltaire maßgebende französische Übersetzung der Aeneis geschaffen hat, gibt Lavinia, wie zuvor schon Dido, ebenfalls blonde Haare.56 Neben John Dryden muss Voltaire in der frühen Neuzeit mit seinem Essai sur la poésie épique (1733) als der entschiedenste Verfechter einer positiven Bewertung der Gestalt des Turnus in der zweiten Aeneis-Hälfte gelten.57 Dieses Urteil Voltaires impliziert aber auch, dass er dem Aeneas der zweiten Aeneis-Hälfte eine gewisse Langeweile und jedenfalls nur geringes Interesse für Lavinia vorwirft. –––––––––––– 56 Jean Regnauld de Segrais: Traduction de l’Enéide de Virgile, Amsterdam 1700, 130f.: ‘Sur les lys de son sein on void ses tresses blondes / Au gré des doux Zephirs floter en grosses ondes’; später von Lavinia, 328: ‘L’or de ses blonds cheveux, & son teint, & ses traits:’; und 331: ‘Et sur ses blonds cheveux sa fureur exerçant’. (zitiert nach Taylor, 21970 [wie Fußn. 7] 584f.). 57 Das tritt in seinem Essay von 1728 und dessen französischer Übersetzung von Pierre François Guyot de Desfontaines (1732) noch kaum hervor, ist aber in Voltaires eigener Übersetzung (1733) deutlich ausgeprägt. Vgl. Williams (Hg.), 1996 (wie Fußn. 14), 195-197 zum Unterschied zwischen Voltaires beiden Fassungen. Seine zwei wichtigsten Aussagen lauten (432f.): „Pour moi, s’il m’est permis de dire ce qui me blesse davantage dans les six derniers livres de l’Enéide, c’est qu’on est tenté en les lisant de prendre le parti de Turnus contre Enée … Il (sc. Enée) envoie une ambassade au roi Latin pour obtenir un asile; le bon vieux roi commence par lui offrir sa fille, qu’Enée ne demandait pas; de la suit une guerre cruelle; … Turnus, en combatant pour sa maîtresse est tué, impitoyablement par Enée; … (433). … il fallait peut-être qu’Enée eût à délivrer Lavinie d’un ennemi, plutôt qu’à combattre un jeune et aimable amant, qui avait tant de droits sur elle …

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Das Liebesidyll (Ch. 9,205-238) ist ein nach dem nächtlichen Unwetter von Amour spontan erschaffener bukolischer locus amoenus, der bei strahlendem Sonnenschein durch ein verschlungenes Myrtendickicht an kühlen Bächen Schatten spendet und die Liebenden in seinen Bann schlägt. Sie lassen die reale Welt hinter sich und verfallen an der Seite ihrer Liebsten in einen somnambulen Dämmerzustand, der sie alle Pflichten vergessen macht und in süße Trunkenheit versetzt. Es ist das Reich des Amour, der sie hier seine ganze Macht spüren lässt. Die Herolde dieser der Liebe hingegebenen Welt sind die Vögel mit ihrem Geschnäbel, ihren Liebkosungen und Gesängen. Die Repräsentanten der ländlichen Szene, der Schnitter und die Schäferin, lassen ihre Arbeit ruhen und finden zueinander. Gemäß der hierarchischen Stufenordnung der Natur erfasst der unwiderstehliche Impuls des Amour in einer Kettenreaktion nach den Elementen, den Tieren und den Landleuten zuletzt die adlige Jungfrau und den König. Dezent und diskret schildert Voltaire zuerst, wie die Frau an diesem verhängnisvollen Tag (funeste jour) ihrer Jugend, ihrem Herzen, dem Helden und dem Amour nachgibt (9,229-232). Schließlich muss auch die unbezwingbare Tapferkeit (valeur immortelle) von Henri, die ihn nach Ivry zu seinem Heer ruft, der Macht des Amour weichen, seine berauschte Seele liebt, sieht, hört, kennt nur noch Gabrielle (9,233-238). Will man nicht annehmen, dass Voltaire die Verbindung von Henri und Gabrielle aus moralischen Gründen missbilligt, ist für seine Gestaltung ganz vornehmlich das altepische Motiv des Sich-Verliegens des Helden zu erkennen, das zumeist zwei Spannungsmomente entfaltet: den Rückzug des gekränkten oder erzürnten Helden zu seiner Frau, seiner Geliebten oder seinem Freund und später – oft erst auf ausdrückliches Geheiß der Götter – die Überwindung des Widerstandes der Frau, der Geliebten, des Freundes, um im Kampf wiederum wahre heldische Größe zu beweisen.58 In ihrer Auffassung des vierten Aeneis-Buches als einer Didotragödie lässt Antonie Wlosok den ersten Akt mit der unheilvollen Vereinigung von Dido und Aeneas in der Nymphengrotte schließen (Aen. 4,1-172).59 Im zweiten Akt (4,173-295) löst dann der von Dido als Freier abgewiesene Gaetulerkönig Iarbas durch Anrufung seines Vaters Iuppiter Hammon die Gegenbewegung aus: Mercur bringt Aeneas Iuppiters Weisung zur Weiterfahrt, die Aeneas sogleich vorbereitet. Im dritten Akt (4,296-449) setzt –––––––––––– 58 Vgl. Johannes Th. Kakridis: „The Rôle of the Woman in the Iliad“, Eranos 54, 1956, 21-27. 59 Antonie Wlosok: „Vergils Didotragödie. Ein Beitrag zum Problem des Tragischen in der Aeneis“, in: Herwig Görgemanns u.a. (Hgg.): Studien zum antiken Epos, Meisenheim 1976 (Beitr. z. Klass. Phil. 72), 228-250.

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Aeneas den drei immer leidenschaftlicheren Reden Didos – darunter eine von Anna überbrachte letzte Botschaft (4,416-435) – nur eine endgültige Absage entgegen (4,333-361a). Als Sohn des Iuppiter Hammon hatte Iarbas keinen Grund an der Existenz seines Vaters zu zweifeln, sehr wohl aber wirft er in seinem Gebet (4,206-218) die provokante Frage auf, ob Iuppiter überhaupt noch am Handeln und Leiden der von den Göttern geschaffenen Menschen Anteil nehme. Diese kritische Anfrage, die Lucan später durch Cato Uticensis aufgreifen und negativ beantworten lässt,60 hat seit jeher als ein locus classicus des antiken wie des neuzeitlichen Deismus gegolten.61 Als erklärter Anhänger dieser Denkweise behält sich Voltaire das direkte Eingreifen Gottes – vermittels seiner Botin Vérité – für die Überwindung der äußersten Krise im Schlussbuch vor. Im 9. Buch aber, da es gilt, den pflichtvergessenen König aus der Gewalt des Amour zum Entscheidungskampf zurückzuführen, bedient er sich einer Impulskette nach altepischem Muster. Dem Dämon Amour stellt er den übermächtigen Glücksgenius (Génie heureux) von Frankreich, dem Privatvergnügen das Staatswohl entgegen. Dieser Genius beseelt Mornay, den Freund von Henri und strengen Vernunftmenschen nach dem Vorbild von Platon und Marc Aurel (9,239260). Voltaire betont seinen unbeugsamen Charakter, seine Tugendliebe, Arbeitswut, Vergnügungsfeindlichkeit und strenge Reinheit (9,261-272). Dann schickt er ihn unter Führung der Weisheit (Sagesse) gegen die sanfte Verweichlichung (Mollesse), die Henri in Schloss Anet beherrscht, während zugleich Amour sich bemüht, die Wonnen von Henri zu verstärken und zu verlängern (9,273-280). Er muss jedoch zu seinem Zorn erfahren, dass Mornay mit Hilfe der Sagesse seine Verlockungen missachtet (9,281-288). Aus diesen ungewissen Antagonismen der allegorischen Figuren lässt Voltaire schließlich eine letzte Liebesbegegnung zwischen Gabrielle und Henri sich entfalten, die die zarten Reize und innigen Gefühlswallungen der Rokokoepoche im Stil der Damen de La Fayette62 und Deshoulières63 und der Maler Antoine Watteau und François Boucher mit geschliffener Stilkunst und lebhafter Sympathie schildert (9,289-304): –––––––––––– 60 Lucan Pharsalia 9,549-586. 61 Vgl. Viviane Mellinghoff-Bourgerie: Les incertitudes de Virgile. Contributions épicuriennes à la théologie de l’Enéide, Bruxelles 1990 (Collection Latomus 210), 43-45; 112; 226. 62 Zu Ch. 9,294-295 nennt Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 589 als Parallele Mme. de La Fayette: La Princesse de Clèves (Paris 1719), 3e Part., 138f. 63 Zu Ch. 9,297 nennt Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 589 als wörtliche Parallele Antoinette Deshoulières de Lafon de Boisguérin: Poésies, Bruxelles 1709, 1,89.

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Au fond de ces jardins, au bord d’une onde claire,

290 Sous un myrte amoureux, asile du mystère,

D’Estrée à son amant prodiguait ses appas; Il languissait près d’elle, il brûlait dans ses bras. De leurs doux entretiens rien n’altérait les charmes; Leurs yeux étaient remplis de ces heureuses larmes, 295 De ces larmes qui font les plaisirs des amants: Ils sentaient cette ivresse et ces saisissements Ces transports, ces fureurs, qu’un tendre amour inspire, Que lui seul fait goûter, que lui seul peut décrire. Les folâtres Plaisirs, dans le sein du repos, 300 Les Amours enfantins désarment ce héros: L’un tenait sa cuirasse encore de sang trempée, L’autre avait détaché sa redoutable épée, Et riait, en tenant dans ses débiles mains Ce fer, l’appui du trône et l’effroi des humains.

Konzentrieren wir uns zunächst auf die Beziehungen zur Aeneis. Deren Held genießt nach dem Bericht des Dichters unter unheilvollen Vorzeichen nur kurz sein Liebesglück (Aen. 4,165-168). Auch das durch Fama entstellte und durch Iarbas gehässig kommentierte weitere Geschehen erscheint als wenig glücklich (Aen. 4,173-197: Fama; 198-218: Iarbas). Jedoch bietet Aeneas nach längerem Aufenthalt bei Dido dem Mercur, der ihn im Auftrag des Iuppiter zur sofortigen Abreise auffordern soll, ein Bild der Verweichlichung (Aen. 4,260-278). Zwei äußere Attribute sind besonders hervorgehoben: sein am Knauf mit einem rötlichen Jaspis verziertes Prunkschwert und der von Dido mit Goldfäden durchwirkte Purpurmantel. Noch im Anfang der ihm von Iuppiter mit etwas anderen und ausführlicheren Worten aufgetragenen Scheltrede64 kennzeichnet Mercur die derzeit unwürdige innere und äußere Verfassung des Aeneas mit dem Epitheton: uxorius. Aeneas nimmt die harsche Scheltrede des Mercur ohne Widerrede hin. Die Analyse zeigt, dass Voltaires Rezeption des Dido-AeneasKomplexes konsequent einem chiastischen Schema folgt, insofern als die von Vergil ausgesparte direkte Liebesbegegnung zwischen Dido und Aeneas vom französischen Dichter in der Liebesszene von Henri und Gabrielle explizit geschildert ist, während umgekehrt Mornay, als er im Garten von Schloss Anet das Liebespaar Henri und Gabrielle erblickt, betroffen schweigt, dann aber Henri selbst schuldbewusst seine Pflichtvergessenheit eingesteht und in tätiger Reue mit Mornay nach Ivry aufbricht. –––––––––––– 64 Vgl. Aen. 4,219-237 (Iuppiters Auftrag); Aen. 4,265-278 (Mercurs Botschaft und Entschwinden).

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Einige Bemerkungen zu der zitierten Liebesszene seien noch angefügt. Obwohl Vergil seine Figuren bei vielen Gelegenheiten und am häufigsten seinen Titelhelden Aeneas Tränen vergießen lässt, gibt es keine Szene, in der zwei Liebende gemeinsam weinen. Wir werden also die Tränen der wechselseitigen inneren Ergriffenheit von Henri und Gabrielle mit Erich Auerbach aus den Stilkonventionen der Epochen der Empfindsamkeit und des Rokoko herleiten.65 Die neckische Schilderung der zwei Eroten, die während der Liebesvergessenheit von Henri und Gabrielle mit dem Küraß und dem Schwert, den beiden wichtigsten Rüstungsteilen des Königs, spielen, könnte zwar auch im hohen Epos als bedenkliches Indiz für die völlige Pflichtvergessenheit des Helden gelten, ist hier aber ebenfalls wohl eher als spielerisch-heiteres Ornament der Rokokozeit zu werten. Voltaires bukolische Szenerie mag am ehesten von Watteau inspiriert sein, den er sehr schätzte. Sowohl von der sehr freizügigen Aeneis-Szene, in der Venus ihren Gatten Vulcan um neue Waffen bittet (Aen. 8,370-406), als auch von Voltaires Liebesszene scheinen drei Bilder von François Boucher angeregt: das erste (1732) zeigt Venus, mit einer Nymphe und zwei Eroten zu dem hingestreckten Vulcan herabschwebend, der mit einem Lendenschurz bekleidet ist und ein Schwert hält; das zweite (1754) zeigt Venus, die den sitzenden Vulcan umschmeichelt; auf dem dritten (1757) kommt Venus mit einer Nymphe und vielen Amoretten in die Schmiede Vulcans, der ein Schwert und andere Waffen für Aeneas bereithält.66

III. Schlussbetrachtung Voltaire versteht sich in der Henriade nicht nur als Dichter, sondern ebenso als Historiker, Philosoph und Politiker. Wie die von ihm geschätzten und rezipierten Vorbilder, unter denen Vergil mit weitem Abstand vorangeht, will er in seinem Epos eine universale Weltanschauung zur Geltung bringen. Ernst Zinn hat diese Intention, ein ‘Weltgedicht’ (Rudolf Alexander Schröder) zu schaffen, als einen besonders für die römischen Epiker –––––––––––– 65 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 21959, Kap. XVI: Das unterbrochene Abendessen (371-403). Er wählt zu Beginn ein Beispiel aus Manon Lescaut (1731) des Abbé Prévost, um darzulegen, dass in jener Epoche des Rokoko zu einer Liebesgeschichte unweigerlich Tränenergüsse beider Liebenden gehören. 66 Vgl. Georges Brunel: Boucher, Paris 1986, 64; 69f.; Abb. 30; Hochformat: 252x175 (1732; Louvre); 48; Abb. VIII; Hochformat: 166x85 (1754; The Wallace Collection, London); 158; Abb. 268; Format: 320x320 (1757; Louvre).

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wirksamen Impuls nachgewiesen.67 Im ersten Kapitel konnte gezeigt werden, dass Voltaire die Henriade mit einem sehr eng an Vergil angelehnten Musenanruf (Ch. 1,1-10) zunächst ganz konventionell begonnen, dann aber aus starker Anglophilie, aus dem libertinen Gedankengut des Temple, aus persönlichen Erfahrungen und aus den staatspolitischen Lehren des Lord Bolingbroke heraus scharfe Kritik an den sozialen, rechtlichen, konfessionellen und politischen Verhältnissen im einstigen und im zeitgenössischen Frankreich geübt hat. Aus seiner eigenen französischen Version des Essai sur la poésie épique (1733) konnten wir ersehen, dass er auch durch ein genaueres Verständnis der Gestalt des Cato Uticensis in Lucans Pharsalia – wo der Hass gegen Caesar Lucan die Feder führt – etwa 1721/1722 darin bestärkt wurde, die Schlusssequenz des Epos der Vérité als einer Emanation des Allmächtigen Gottes zu unterstellen, um damit implizit die Musenanrufung des Proöms zu revozieren. Daraus erst ergab sich für die englische (1728) und für alle weiteren Ausgaben die Konsequenz, die eher schlichte ursprüngliche Musenanrufung durch eine längere, ausgesprochen provokante Anrufung der Vérité zu ersetzen (Ch. 1,12). Diese Anrufung gibt der Dichtung nunmehr von vornherein einen überzeitlichen, zukunftsweisenden, universalen Anspruch. Im zweiten Kapitel konnten wir als Hörer oder Leser wahrnehmen, wie der bühnenerfahrene Epiker Voltaire durch die Tiefendimension der Intertextualität das grauenvolle Geschehen der Bartholomäusnacht auf dem Hintergrund der Eroberung Troias lebendig werden lässt. Die Realität der Bartholomäusnacht lag für Voltaire anderthalb Jahrhunderte zurück und die Zeugnisse über das tatsächliche Geschehen waren lückenhaft und widersprüchlich, wie es aus seiner wenig kohärenten Darstellung und aus seinen hier besonders zahlreichen Notes de l’éditeur hervorgeht.68 So greift er denn auf Vergils bewegende Schilderung der Iliupersis zurück und lässt in einer ersten großen Parallele den Erzähler Henri wie sein Vorbild Aeneas nur mit einer Anwandlung des Schauders den Bericht beginnen (Aen. 2,3; 12; Henr. 1,379f.): infandum, regina, iubes renouare dolorem … animus meminisse horret ≈ Plût au ciel irrité, témoin de mes douleurs, / Qu’un éternel oubli nous cachât tant d’horreurs! Eine Parallele zwischen Téligny und Polites wird von Henri nur kurz angedeutet, bevor er dann in Kontrastparallele zum zornig-erhabenen Untergang des mächtigen Herrschers Priamus berichtet, wie der Politiker, Feldherr und Märtyrer seines protestantischen Glaubens, Coligny, mit einer stolzen Rede seinen Mördern die Stirn geboten und den Tod verachtet hat. –––––––––––– 67 Ernst Zinn: „Die Dichter des alten Rom und die Anfänge des Weltgedichts“, A&A 5, 1956, 7-26. 68 Vgl. Taylor, 21970 (wie Fußn. 7), 409-414.

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Was wirklich in Troia und was genau in Paris geschah, werden wir nie erfahren, aber die innere Wahrheit beider Erzählungen wird niemand anzweifeln. Gewiss hat die bewegende Schilderung Voltaires großen Anteil daran, dass in Paris an der Rue de Rivoli beim Temple de l’Oratoire ein 1889 errichtetes Denkmal mit einer Marmorstatue des Admirals de Coligny die Erinnerung an diesen wachhält. Die Inschrift auf dem Sockel lautet: Ce monument a été érigé en 1889 à la mémoire de l’amiral de Coligny. Très haute figure protestante du XVIe siècle. Victime de l’intolérance qui était celle de son temps lors de la nuit de la Saint Barthélemy. “Il n’avait dans le cœur que la gloire de l’état”. Montesquieu

Der 9. Gesang ist die anmutigste und empfindsamste Kreation in diesem heroischen Epos. Nicht umsonst lässt Voltaire den Amour auf seiner Anreise die von seinen Schützlingen Theokrit und Vergil besungenen bukolischen Stätten auf Sizilien besuchen und auch Petrarcas Vaucluse überfliegen, bevor er zu Schloss Anet gelangt. Gemäß seiner Doppelnatur bewirkt er nach einem furchterregenden nächtlichen Unwetter einen strahlenden Sonnentag, der Henri mit der überaus schönen Gabrielle in glücklicher Liebe vereint. Die unheilvollen Vorzeichen, die die Hochzeit von Aeneas und Dido begleiten, sind ferngehalten. Nichts im Verhalten von Henri bestätigt seinen bekannten Beinamen des ‘Vert-Galant’, des wüsten Frauenverführers; die in der Aeneis nur an einigen Indizien erkennbare und erst durch Mercur angeprangerte Liebesknechtschaft des Helden fehlt ebenso wie der tragische Untergang der Heroine, der Voltaire als einer klugen Mätresse – der Renaissance oder des Rokoko – eine tiefe Ohnmacht und schwere Betrübnis verordnet hat, von der aber Amour sie alsbald wieder befreit. Trotz manchen kritischen Vorbehalten gegenüber Vergil, die sich besonders auf dessen vermeintlich zu große Nähe zu Augustus und auf angebliche poetische Schwächen der zweiten Aeneis-Hälfte bezogen, hat Voltaire – nach Horaz – keinen anderen Dichter höher geschätzt als Vergil und ist mit ihm in der Henriade bis zur Auflage letzter Hand (271775) in einen fast lebenslangen ‘Dialog der Texte’ eingetreten, der den Interpreten beider Dichter in nie versiegender Aktualität reiche und immer wieder neue Anregungen bietet. Eine Wiederentdeckung der poetischen Qualitäten und der zukunftsweisenden politischen Einsichten Voltaires in der Henriade anhand des unübertrefflichen Kommentars von Owen R. Taylor ist daher auch für die wissenschaftliche wie für die private Rezeption Vergils von hohem Wert.

Die Dido der Charlotte von Stein HANS JÜRGEN TSCHIEDEL (Eichstätt) In den letzten Monaten des Jahres 1794 vollendete Frau von Stein ihre Tragödie Dido. Sie stand damals im 52. Lebensjahr, war seit kurzem verwitwet und konnte auf die mit Goethe durchlebte Zeit inniger Verbundenheit (1776–1787) aus desillusionierender Distanz zurückblicken. Der Titel des Dramas weckt Erwartungen, die so nicht erfüllt werden; denn es handelt nicht vom traurigen Schicksal der von Aeneas verlassenen Dido, wie es Vergil vornehmlich im vierten Buch seiner Aeneis gestaltet hat. Statt dessen tritt eine karthagische Königin entgegen, die in edelmütiger Hochgesinntheit ihr Leben opfert, um ihre Ehre zu wahren und der Stadt Krieg und Verheerung zu ersparen. Die stoffliche Grundlage liefert die Epitoma Historiarum Philippicarum Pompei Trogi des Justin, wo im 18. Buch (3ff.) vom Ursprung der Karthager berichtet wird. Demnach gelangt Elissa auf der Flucht vor ihrem Bruder Pygmalion, dem Mörder ihres Gatten Acherbas (18,4), zuerst nach Zypern und dann nach Afrika, wo sie ein Stück Land erwirbt, qui corio bovis tegi posset (18,5,9), und darauf consentientibus omnibus (18,5,14) Karthago gründet. Die Stadt erblüht rasch zu Macht und Reichtum, was den König der Maxitaner Hiarbas veranlaßt, unter Androhung von Krieg die Ehe mit der Landesherrin zu fordern (18,6,1): Elissae nuptias sub belli denuntiatione petit. Gesandte der Punier machen mit dem fremden König gemeinsame Sache und bringen Elissa durch arglistige Täuschung in eine Zwangslage, in der sie der ihr zugemuteten, aber verabscheuten Verbindung mit Hiarbas nur durch den Tod entgehen zu können meint. Unter der Vorspiegelung, vor der Hochzeit noch die Manen ihres früheren Gatten Acherbas durch Opfer besänftigen zu wollen (18,6,6: velut placatura viri manes inferiasque), läßt sie einen Scheiterhaufen errichten, auf dem sie sich dann selbst mit dem Schwert das Leben nimmt (18,6,7).1 –––––––––––– 1

Eine ganz ähnliche Version vom Ende der karthagischen Königin fand sich offenbar schon bei Timaios (vgl. FrGrHist 566. F 82), ist also weit älter als die jedermann geläufige Geschichte von Dido und Aeneas, wie sie Vergil erzählt. Zu der Frage, warum Pompeius Trogus die bekannte und berühmte Fassung der Aeneis verschweigt und statt dessen einer Erzählung den Vorzug gibt, welche den

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Charlotte von Stein läßt die Handlung ihres Dramas2 in dem Augenblick einsetzen, da die Gesandten Karthagos vom Jetulischen König Jarbes zurückgekehrt sind, um Dido dessen Verlangen nach ehelicher Verbindung zu überbringen. An ihrer Spitze stehen die drei Gelehrten Aratus, ein Historiker, Dodon, ein Philosoph, und Ogon, ein Dichter. Sie unterstützen das Ansinnen des Jarbes, verraten ihre Königin und wiegeln das Volk gegen sie auf. Als Jarbes zusammen mit seinem Feldherrn verkleidet und darum unerkannt in die Stadt kommt, schließen sie sich ihm an und versuchen gemeinsam mit ihm, den Priester Albicerio zum Treubruch zu bewegen. Doch der bringt seiner Königin tiefe Zuneigung entgegen und weist die ungebetenen Besucher aus der ihm anvertrauten heiligen Stätte. Daraufhin wenden sich Aratus und Ogon an Elissa, die Freundin Didos, werden aber auch von ihr schroff abgefertigt. Dido hat inzwischen längst ihren Entschluß gefaßt: Um ihrem gemordeten Gatten die versprochene Treue halten zu können, gleichzeitig aber auch die Stadt vor der drohenden Invasion zu retten, will sie sich in die Einsamkeit zurückziehen und die Herrschaft ihrem Bruder Pygmalion abtreten. In einer Höhle bei einem alten Einsiedler findet sie Zuflucht. Doch die Hoffnung, dort auch ihren Frieden zu finden, trügt. Denn sie muß erfahren, daß das Heer des Jarbes bereits in die Stadt eingedrungen ist und er nun ihre Getreuen zwingen will, ihren Aufenthaltsort preiszugeben. Als Albicerio, der sein Schweigen nicht bricht, bereits zur Hinrichtung geführt wird, trifft Dido, die ihre Edlen nicht im Stich lassen möchte, wieder in der Stadt ein, um sich Jarbes zu stellen. Unter dem Vorwand, für die Rettung der Freunde ein Dankopfer darbringen zu wollen, läßt sie Albicerio einen Scheiterhaufen errichten, auf dem sie sich statt dessen am Ende selbst ersticht, um so dem toten Gatten die versprochene Treue zu halten. ––––––––––––

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trojanischen Ahnherrn der Römer aus dem Spiel läßt, sei auf die ansprechenden Vermutungen von Seel verwiesen: Otto Seel: Eine römische Weltgeschichte. Studien zum Text der Epitome des Iustinus und zur Historik des Pompeius Trogus (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 39), Nürnberg 1972, 161f. Dido, / ein Trauerspiel / in 5. Aufzügen. / der Schauplatz ist in Carthago. Einen zuverlässigen Text bietet Susanne Kord (Hg.): Charlotte von Stein. Dramen (Frühe Frauenliteratur in Deutschland, hg. v. Anita Runge, Bd. 15), Hildesheim u.a. 1998; die Dido findet sich darin als Nachdruck der Seiten 489-534 aus: Goethes Briefe an Frau von Stein, hg. v. Adolf Schöll, Zweite vervollständigte Aufl. bearbeitet v. Wilhelm Fielitz. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1885. Zum ersten Mal publiziert und mit für das Verständnis wichtigen Anmerkungen zu Bezügen auf Goethe und die Weimarer Hofgesellschaft versehen wurde das Stück von Heinrich Düntzer: Dido, Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Charlotte Albertine Ernestine von Stein-Kochberg (1794), Frankfurt a. M. u.a. 1867.

Die Dido der Charlotte von Stein

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Schon diese knappe Skizze des Handlungsgerüstes läßt erkennen, wie sich Charlotte von Stein einerseits im wesentlichen an Trogus/Iustinus angelehnt hat, wie sie aber andererseits Personen und Begebenheiten hinzugefügt hat, die das Werk von einem bloßen Historienspektakel absetzen und ihm ein durchaus eigenes, sehr persönliches Gepräge verleihen. Von daher standen seit jeher vor allem die Auftritte der drei verräterischen Gelehrten im Mittelpunkt des Interesses, eines Interesses, das freilich mehr von der Goetheforschung gespeist ist und nur in zweiter Linie Frau von Stein und ihrem Drama gilt. Bereits Düntzer sah in dem Dichter Ogon ein Zerrbild Goethes, entstanden aus „dem eifersüchtigen Grolle der um ihr höchstes Glück in ihm sich betrogen fühlenden Frau“, zusammengesetzt „aus allerlei Zügen […], die ihre leidenschaftlich erregte Einbildung ihr vorspiegelte oder die sie zur grellen Charakterisirung nöthig glaubte.“ „Ihr Ogon“, so fährt Düntzer fort, „mußte nach der Handlung des Stückes nicht allein zu einem äußerst selbstsüchtigen Menschen, sondern auch zu einem verrätherischen Schurken werden.“3 Diese Deutung der Tragödie als Werk der Rache einer gekränkten Frau am treulosen Freunde oder Liebhaber hat weitgehend Anerkennung gefunden und bestimmt im wesentlichen bis heute das Verständnis des Stückes. So heißt es etwa noch bei Koopmann: „Das Stück enthielt eine einzige Kritik an Goethe [...]. Hier kulminieren alle Vorwürfe, die sie [scil. Frau von Stein] Goethe gemacht hat: Herzlosigkeit, Lieblosigkeit, das Künstlertum über das Leben gesetzt, das Marmorkalte an ihm: es war eine literarische Hinrichtung, an der Charlotte von Stein sich da versucht hatte, und das läßt erkennen, wie sehr sie verletzt war, wie sehr sie aber auch Rache wollte“. 4 –––––––––––– 3

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Heinrich Düntzer: Charlotte von Stein, Goethe’s Freundin. Ein Lebensbild, mit Benutzung der Familienpapiere / entworfen von Heinrich Düntzer, Bd. 2 17941827, Stuttgart 1874, 21f. – Vor diesem Hintergrund erfahren auch die übrigen Personen der Tragödie eine aktualisierende Identifizierung: Hinter dem Philosophen Dodus verberge sich Knebel, hinter dem Historiker Aratus Bertuch, hinter König Jarbes der Herzog Carl August, hinter Dido die Herzogin Charlotte, hinter Elissa, der Freundin Didos, Frau von Stein selbst und hinter dem Priester Albicerio niemand anderer als Herder. Helmut Koopmann: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe, München 2002, 262. Teilweise bis zur Übereinstimmung reichende Ähnlichkeit zeigen die Urteile von Wilhelm Bode: Charlotte von Stein, Berlin 1910, 397-399, Alexander von Gleichen-Rußwurm (im Vorwort seiner Ausgabe: Charlotte von Stein, Dido, Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, Berlin 1920, 16 – hier allerdings verbunden mit einer Apologie: „Nicht ein Werk der Rache ist Goethes Bild als Ogon, es ist ein Werk der Selbsterlösung, indem sich eine gekränkte Frau von einem Ideal

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Susanne Kord hat demgegenüber im Vorwort ihrer Ausgabe (pp. VIVIII) nicht nur daran erinnert, daß Ogon-Goethe in der Dido keineswegs die herausragende Rolle spielt, welche die meisten Interpretationen ihm zuschreiben möchten; sie hat vor allem auch darauf aufmerksam gemacht, daß das von der Dichterin geübte Verfahren, Personen der Hofgesellschaft – auch mit ihren Schwächen – zu portraitieren, völlig mit der Praxis des damaligen Weimarer Liebhabertheaters im Einklang steht. Die im Rahmen eines solchen Stückes vorgenommene Karikierung des Dichterfürsten und anderer höchst bekannter Persönlichkeiten war daher so ungewöhnlich nicht, und das angeblich Anstößige daran verliert sich erst recht, wenn man berücksichtigt, daß die Dido zunächst gar nicht zur Aufführung bestimmt war.5 Der Behauptung, Frau von Stein habe das Werk aus Verbitterung und im Haß geschrieben, ist damit der Boden entzogen.6 Zugleich öffnet sich damit aber der Weg zu einem vorurteilsfreien und umfassenderen Verständnis des Dramas, das dann auch das hohe Lob, das Schiller ihm gezollt hat,7 als gar nicht mehr so abwegig erweisen könnte, wie man es gemeinhin ansieht.8 ––––––––––––

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losringt“), Lena Voß: Goethes unsterbliche Freundin Charlotte von Stein. Eine psychologische Studie an der Hand der Quellen, Leipzig 1922, 173-176, Eberhard Semrau: Dido in der deutschen Dichtung (Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur 9, hg. v. Paul Merker u.a.), Berlin u. a. 1930, 65f., Walter Hof: Goethe und Charlotte von Stein, Frankfurt a. M. 1979, 171-179, Doris Maurer: Charlotte von Stein. Ein Frauenleben der Goethezeit. Biographie, Bonn 1985, 164-168, Renate Seydel: Charlotte von Stein und Johann Wolfgang von Goethe. Die Geschichte einer großen Liebe hg. v. Renate Seydel, München 1993, 326, Jochen Klauß: Charlotte von Stein. Die Frau in Goethes Nähe, Zürich 1995, 236242. – Vereinzelt (etwa bei von Gleichen-Rußwurm, 1920, 10f., Maurer, 1985, 164, Klauß, 1995, 236) gesellt sich zu solch bekenntnishafter Deutung des Stückes die Auffassung, es spiegle sich darin auch Frau von Steins Abneigung vor den revolutionären Ereignissen in Frankreich. Erst 1798 bemühte sich Charlottes Sohn Fritz um eine Aufführung des Stückes in Breslau, und Schiller drängte wiederholt vergeblich zur Publikation. Dazu ausführlich Düntzer, 1874 (wie Fußn. 3), II 87-95. Nicht überzeugen kann hingegen die These von Arnd Bohm: „Charlotte von Stein’s Dido, Ein Trauerspiel“, in: Colloquia Germanica 22, 1989, 38-52, die Dido sei „a subtle refutation of Iphigenie“ (47). Von Thoas und Iphigenie führt kein Weg zu Jarbes und Dido. Nachdem Schiller die Dido gelesen hatte, reichte er der Verfasserin das Manuskript zurück, bat sie bei dieser Gelegenheit um eine Kopie desselben und schrieb ihr dazu unter anderem (Schillers Werke. Nationalausgabe. Briefwechsel. Bd. 29: Schillers Briefe 1.11.1796-31.10.1798, hg. v. Norbert Oellers u.a., Weimar 1977, Nr. 31, 33: Brief an Charlotte von Stein vom 2. Januar 1797): „Ich habe weniges, ja vielleicht noch nie etwas in meinem Leben gelesen, was mir die Seele, aus der es floß, so rein und klar und so wahr und prunklos überliefert hätte, und darum

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Zunächst stellt sich die Frage – und man wundert sich, warum sie offenbar nie wirklich ernsthaft gestellt wurde –, wie Charlotte von Stein auf die kaum bekannte, von Vergils Behandlung des Themas völlig in den Schatten gestellte Version des Pompeius Trogus verfallen konnte, als sie sich entschloß, eine Dido-Tragödie zu dichten. Daß ihr das vierte Buch der Aeneis bekannt war, darf als gesichert gelten. Dafür sprechen nicht nur ihre Belesenheit und ihr steter Umgang mit den geistvollsten Köpfen des damaligen Weimar,9 sondern auch und vor allem die Tatsache, daß kaum zwei Jahre zuvor (1792) Schillers Übersetzungsbruchstücke aus der Aeneis erschienen waren.10 Wenn Charlotte von Stein dessen ungeachtet auf eine Fassung der Dido-Geschichte zurückgriff, die nichts von der Liebe zu Aeneas wußte, so traf sie damit offensichtlich eine überlegte, willentliche Entscheidung. Das gilt auch, ja erst recht, für den Fall, daß sie von der erstmals 1744 gedruckten Dido des Johann Elias Schlegel Kenntnis hatte. Denn darin war die bei Justinus erwähnte Aggression des Hiarbas in der Weise mit der Aeneas-Handlung verbunden, daß der Troer noch vor seiner Abfahrt von Karthago den nahenden Feind besiegen und durch diesen Beistand der Königin, die er verlassen mußte, seine Dankbarkeit beweisen wollte.11 Charlotte von Stein beschränkt sich indes – ganz dem Handlungsgang ihrer Quelle folgend – auf die Bedrohung durch Iarbes und verzichtet gänzlich auf Aeneas, auf Didos Verliebtheit, auf die ‘Flucht’ des Troers, auf Wut und Verzweiflung der Königin. Dafür muß sie Gründe gehabt haben, denen nachzugehen sich lohnen sollte; denn es –––––––––––– rührte es mich mehr als ich sagen kann. Aber so individuell und wahr es auch ist, daß man es unter die Bekenntniße rechnen könnte, die ein edles Gemüth sich selbst und von sich selbst macht, so p o e t i s c h ist es bey dem allen, weil es wirklich eine productive Kraft, nehmlich eine Macht beweißt, sein eigenes Empfinden zum Gegenstand eines heitern und ruhigen Spiels zu machen und ihm einen äußern Körper zu geben“. 8 Vgl. Semrau, 1930 (wie Fußn. 4), 64: „das günstige Urteil Schillers ist uns heute völlig unverständlich“; ähnlich Koopmann, 2002 (wie Fußn. 4), 262; ferner die bemühten Erklärungsversuche von Hof, 1979 (wie Fußn. 4), 179, Klauß, 1995 (wie Fußn. 4), 240f., Voß, 1922 (wie Fußn. 4), 176. 9 Außer Goethe sind vor allem Herder, Knebel, Schiller und Wieland zu nennen, nicht zu vergessen deren Ehefrauen und viele andere gebildete Damen, allen voran die Herzoginnen Anna Amalia und Louise. Ergiebig zum geistigen Umfeld Effi Biedrzynski: Goethes Weimar. Das Lexikon der Personen und Schauplätze, Zürich 31994. 10 In den beiden ersten Heften der Neuen Thalia. Die Übersetzung des vierten Buches der Aeneis stand zudem unter dem Titel DIDO (Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 15/1, hg. v. Julius Petersen), Weimar 1993, 153-183). 11 Zu den Einzelheiten, insbesondere zu einem denkbaren Einfluß der Oper Didone abbandonata von Pietro Metastasio (1724), vgl. Semrau, 1930 (wie Fußn. 4), 47-56.

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versteht sich gewiß nicht von selbst, daß die bekannteste und als Stoff für eine Tragödie geradezu ideale Darstellung Vergils12 hier einfach beiseite geschoben ist. Wenn Bode schreibt: „Vergils Darstellung einer Liebe zwischen Dido und Aeneas vergaß Charlotte ganz darüber oder übersah sie geflissentlich, denn dergleichen Liebeskrankheiten nachzuschildern, hatte sie durchaus keine Neigung“13, erklärt das gar nichts. Lena Voß ergeht sich in Vermutungen: „Eine antike Fabel, von der verwitweten Karthagerkönigin Dido, der eine ältere Sagenversion zugrunde liegt, als die der vergilischen Aeneis, wählte sie, um ihre eigenen Erlebnisse zu verkörpern. Treue der liebenden Frau über den Tod hinaus war vermutlich der Gedanke, den Frau von Stein dichterisch darstellen wollte“.14 Semrau beschränkt sich auf die lapidare Feststellung: „Virgil war Frau von Stein natürlich bekannt, Einflüsse freilich sind nirgends vorhanden“.15 Letzteres ist, wie sich zeigen wird, unrichtig. Bohm macht die Dichterin unfreiwillig zur Historikerin, wenn er erklärt: „von Stein was not demonstrating an incapacity to deal with Vergil. No, she chose the version which was most authoritative, closer to the origin, and free of the awkward chronological problem, noted by Hederich, namely that Carthage was founded three centuries after the destruction of Troy. […] Furthermore one could note that the story told by the Aeneid places the emphasis on the destiny of the male, whereas the earlier version, the one selected by von Stein, keeps the woman’s fate in the center of attention“.16 Nur den letzten Worten wird man zustimmen können, während das übrige schon im Ansatz verfehlt ist. Ebenfalls wenig überzeugend erscheint die Ansicht von Klauß, der zum Thema der Aeneis meint: „Das paßte im Jahre 1794 gar nicht zu den Intentionen der Stein, die vermutlich die Treue der liebenden Frau über den Tod hinaus hatte thematisieren wollen“.17 Susanne Kord schließlich will „Von Steins Wahl der Justinus-Quelle und ihre Ablehnung der bekannteren von Vergil [...] aus ihrem Versuch“ erklären, „männliche und weibliche politische Praxis miteinander zu vergleichen“. Sie fährt fort: „Obwohl beide Versionen mit –––––––––––– 12 Vgl. Antonie Wlosok: „Vergils Didotragödie. Ein Beitrag zum Problem des Tragischen in der Aeneis“, in: Studien zum antiken Epos, hg. v. Herwig Görgemanns u.a. (Beitr. zur Klass. Philologie 72), Meisenheim am Glan 1976, 228-250; erneut abgedr. in: Antonie Wlosok: Res humanae – res divinae. Kleine Schriften, hg. v. Eberhard Heck u.a., Heidelberg 1990, 320-343. 13 Bode, 1910 (wie Fußn. 4), 397. 14 Voß, 1922 (wie Fußn. 4), 172. 15 Semrau, 1930 (wie Fußn. 4), 64. 16 Bohm, 1989 (wie Fußn. 6), 46. 17 Klauß, 1995 (wie Fußn. 4), 236.

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Didos Selbstmord enden, schreibt Vergil ihren Tod ihrer Liebe zu Aeneas zu, wogegen Didos Selbstmord bei Justinus eindeutig politisch motiviert ist“.18 Daran ist sicherlich etwas Richtiges; nur ob damit der maßgebliche Grund für Charlotte von Steins Entscheidung für Trogus und gegen Vergil getroffen ist, bleibt zu bezweifeln. Überhaupt stimmt bedenklich, daß die vorgeschlagenen Erklärungen19 so gut wie nichts Gemeinsames haben. Das läßt es nicht nur berechtigt, sondern sogar geboten erscheinen, nach einer neuen und vielleicht befriedigenderen Lösung zu suchen. Den Weg dazu könnten von Vergil hinterlassene Spuren weisen, die sich bei näherem Hinsehen durchaus in Frau von Steins Tragödie entdecken lassen. So mag es zwar zunächst bedeutungslos erscheinen, verdient in dem Zusammenhang aber wohl Beachtung, daß die karthagische Königin und Titelheldin hier Dido heißt, während Justin – wenigstens in dem als Quelle anzusehenden 18. Buch seiner Epitoma – ausschließlich den Namen Elissa verwendet.20 Vergil kennt beide Namen, doch erscheint Dido bei ihm ungleich häufiger (34 mal) als Elissa (nur 3 mal). Der Befund gewinnt dadurch an Bedeutung, daß auch im Weimarer Drama beide Namen vorkommen, nur sind es dort zwei Personen, die sie tragen: Zur Königin Dido tritt jetzt deren Freundin Elissa, und es ist vielleicht mehr als ein Zufall, daß das Stück mit einem – wenn auch noch so kurzem – Auftritt eben dieser beiden Frauen beginnt. Er zeigt, wie sie einander in innigster Verbundenheit zugetan sind. Es scheint, als habe die Dichterin die Königin ihrer Vorlage – eine Freundin gibt es darin nicht – in zwei wesensähnliche, durch die Namensgebung als im Grunde identisch gekennzeichnete Persönlichkeiten aufspalten wollen, um so eine zweite Frauenrolle zu gewinnen, die sie der ansonsten rein männlichen Besetzung des Stückes mit gegenüberstellen kann. Damit liegt im Grunde die gleiche Konstellation wie in der Aeneis vor, wo zu Dido die Schwester Anna gehört, und beide als die einzigen Frauen – von Barce (IV 632), der alten Amme des Sychaeus, einmal abgesehen – in der Männergesellschaft des vierten Buches erscheinen. Im Gespräch mit der jeweils engsten Vertrauten wird es beiden Königinnen ermöglicht, ihr Innerstes zu offenbaren, sich zu erklären, aber auch geheimzuhaltende Vorhaben ins Werk zu setzen. Wenn –––––––––––– 18 Kord, 1998 (wie Fußn. 2), IX. 19 Düntzer, von Gleichen-Rußwurm, Hof, Maurer, Seydel, Koopmann schenken dem Problem überhaupt keine Beachtung. 20 Sollte Charlotte von Stein Benjamin Hederichs Gründliches mythologisches Lexicon (Leipzig 1770, Nachdr. Darmstadt 1967) zu Rate gezogen haben, stieß sie dort unter dem Stichwort ‘Dido’ (Sp. 920-926) auf beide Namen (Sp. 921): „Eigentlich hieß diese Königinn Elissa [...]. Hernach aber bekam sie den Namen Dido“.

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Anna der Schwester die Argumente liefert, die auf der menschlichen Ebene die von Juno und Venus angestrebte eheliche Verbindung mit Aeneas rechtfertigen sollen (Aen. 4,31-55), zeigt sie sich lebensnah, pragmatisch und ganz von dem Wunsch nach Didos Wohlergehen beseelt. Das gilt in ähnlicher Weise für Elissa, in der man die der Herzogin herzlich verbundene Charlotte von Stein zu erkennen meinte. Elissa liebt nicht nur das unverblümte Wort (II 2, III 1/2, IV 4), sondern bringt ihrer Herrin auch Verständnis entgegen, als sie – fälschlich – glaubt, diese werde dem Jarbes doch noch die Hand zum Ehebund reichen und damit ihr Treuegelübde brechen (V 15). Beide, Anna und Elissa, erkennen nicht die wahre Absicht, in der Dido einen Scheiterhaufen errichten läßt (Aen. 4,672-684; vgl. V 15: „Götter! Rettung! Wir verstanden ihre Abschiedsrede nicht!“). Wenn die aufgezeigten Korrespondenzen auch nicht zu dem zwingenden Schluß berechtigen, Charlotte von Stein habe, als sie ihrer Dido eine Freundin Elissa an die Seite stellte, Vergils viertes Aeneisbuch vor Augen gehabt, so legen sie eine solche Annahme doch immerhin nahe. In dieselbe Richtung weist die Figur des Priesters Albicerio. Dieser engste männliche Vertraute der Königin ist ein Bruder ihres ermordeten Gatten Acerbas (V 8), und obwohl ihm wie Elissa eine tragende Rolle zukommt, entstammt er nicht der historischen Quelle.21 Das Opfer, das er darbringt, um zu Didos Entschluß, die Herrschaft niederzulegen, göttliche Zustimmung zu erbitten (II 6), mißlingt und erinnert damit entfernt an das Opfer, mit dem sich Vergils Dido vor einer Verbindung mit Aeneas der göttlichen Huld versichern möchte (Aen. 4,56-66), und mehr noch an das düstere Omen, das der ohnehin schon zum Tode Entschlossenen bei ihrer Spende von Weihrauch und Wein (Aen. 4,452-456) zuteil wird. Charlotte von Stein hat ihrem Albicerio aber noch einen Zug mitgegeben, der ihn unverkennbar in die Nähe des Aeneas rückt: Der Priester liebt seine Königin, und er liebt sie – anders als der eigensüchtige, machthungrige, gefühllos begehrende Jarbes – aus aufrichtigem Herzen (vgl. II 8, III 8, V 3). Der Erfüllung dieses Sehnens steht freilich Didos Treuegelöbnis entgegen. Ihre unauflösliche Bindung an den gemordeten Gatten gehört der Quelle (Iust. 18,6,5-7) an. Doch die Bilder, in denen diese Bindung ihren Ausdruck findet, gehen auf die Aeneis zurück. Dort nämlich glaubt Dido in ihrer Verzweiflung, die Stimme des nach ihr rufenden Sychaeus zu hören (Aen. 4,460f.), und später, bei der Begegnung in der Unterwelt, wendet sie sich diesem zu und von Aeneas ab (Aen. 6,472-476). Wenn Char–––––––––––– 21 Nach Iust. 18,4,5 war Acherbas selbst ein Priester des Herakles. Auf Zypern schließt sich Elissa ein Jupiterpriester an (Iust. 18,5,2: pactus sibi posterisque perpetuum honorem sacerdotii). Die Episode bleibt allerdings völlig folgenlos.

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lotte von Steins Königin sich am Schluß der Tragödie auf dem Scheiterhaufen ersticht,22 tut sie das mit den Worten: „ – und nun mein Acerbas zu dir!“ und entgeht so der von ihr geforderten Ehe mit Jarbes. Bereits zuvor hat sie den Toten, der sich ihr gleich nach seiner Ermordung als Traumgesicht gezeigt hatte,23 angerufen und um Beistand gebeten (IV 14): „O mein Acerbas erscheine mir noch einmal in einer glücklichern Gestalt und gieb Freude meiner Seele – „. Dieser Dido wird der Antrag des Königs der Jetulier nicht nur durch die drei Gelehrten übermittelt (I 5), sondern Jarbes tritt ihr auch persönlich gegenüber. Um sich von ihr und ihrer Herrschaft ein eigenes Bild zu machen und die zum Erreichen seines Ziels notwendige Bestechung ihrer Anhänger selbst in die Hand zu nehmen, hat er sich zusammen mit seinem Feldherrn und ehemaligen Lehrer – „als gemeine Jetulier verkleidet“ (I 9) – in Didos Stadt begeben. Mag in dieser Szene auch „eine Beeinflussung durch Metastasio oder Schlegel“24 naheliegen, sollte man doch nicht vergessen, daß auch dieser nicht sonderlich glückliche Einfall letztlich in der Aeneis wurzelt. Dort verbirgt Venus ihren Sohn und Achates in einer nebelartigen Hülle, so daß sie zunächst unbemerkt das Treiben in Karthago und den Auftritt der Königin beobachten können (Aen. 1,411-414): At Venus obscuro gradientis aere saepsit, et multo nebulae circum dea fudit amictu, cernere ne quis eos neu quis contingere posset molirive moram aut veniendi poscere causas.25

Noch deutlicher verrät sich die Präsenz der Aeneis in einer Szene, der man ihren herausragenden poetischen Reiz nicht absprechen mag: Mit dem Ende des dritten Aufzugs verläßt Dido Karthago, um der Macht zu entsagen und so ihre Stadt und sich selbst vor der Bedrohung durch Jarbes zu retten. Nur ihren Getreuen, Albicerio und Elissa, verrät sie ihr Ziel (III 8): „Mein erster Ruheplaz wird bei dem ehrwürdigen Einsiedler in dem Gebürg, zwei Stunden von hier, seyn, [...] und in dieser Einöde wird mich niemand vermuthen“. Zu Beginn des nächsten Aufzugs sieht man dann Dido am neuen Schauplatz: „Einöde mit Felsen, eine Wohnung von Baumästen geflochten, im Felsen eine Grabhöle“. Hier ist der Ort, wo sie –––––––––––– 22 Übrigens scheint schon bei Trogus (Iust. 18,6,7) der Tod durch das Schwert von Vergil (Aen. 4,663-665) beeinflußt zu sein, denn Timaios (FrGrHist 566. F 82) kennt nur den Sprung in den brennenden Scheiterhaufen. 23 Der Bericht erinnert sehr an die Traumerscheinung des von Wunden entstellten Hector, der Aeneas zur Flucht aus dem von Feinden besetzten Troia auffordert (Aen. 2,270-297). 24 Semrau, 1930 (wie Fußn. 4), 65. 25 Vgl. dazu Aen. 1,439f.; 516; 580; 586f.

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dem alten Einsiedler begegnet, der in ihr seinen Todesengel sieht und – allem Irdischen schon entrückt – sein Ende nahen fühlt (IV 2). Zusammen mit der Besucherin begibt er sich in die Höhle, um dort, an ihrer Seite (IV 14) „Willig und ergeben [...] mit Ehrfurcht, Freundlichkeit und Dank“ zu sterben. Eine Höhle bestimmt Charlotte von Stein also zu der Stätte, wo ihre Dido sich mit der Todeserfahrung auseinandersetzen muß und von wo sie dann auch umkehrt, um zurück nach Karthago und damit ihrem selbstgewählten Ende auf dem Scheiterhaufen entgegenzugehen. Denn bei der Grotte erreicht sie alsbald die Kunde, daß ihre Lieben daheim der Willkür des Jarbes ausgesetzt sind und in höchster Gefahr schweben. Um sie zu retten, muß und will sie sich opfern. Den Schauplatz folgenschweren, die Peripetie der Handlung markierenden Geschehens gibt die Höhle schon im vierten Buch der Aeneis ab. Geführt von göttlichem Willen suchen Aeneas und Dido darin Schutz vor dem Unwetter und finden in Liebe zueinander (Aen. 4,165ff.). Doch der beglückende Akt des Lebens wird für die Königin zur Ursache ihres Leidens und Sterbens (Aen. 4,169f.): ille dies primus leti primusque malorum / causa fuit. Sieht es nicht nach pointierter, in gewissem Sinne kontradiktorischer Bezugnahme aus, wenn im Drama der Charlotte von Stein der Weg der Königin gerade zu einer Höhle führt, wenn sie gerade dort in der Begegnung mit dem vergeistigten Einsiedler – also in betontem Gegensatz zur Sinnlichkeit des vergilischen Bildes – zu der Einsicht gelangt, die ihr den Tod als letzten Ausweg aus dem Dilemma empfiehlt? Damit sind diese Überlegungen an einem Punkt angelangt, von dem aus erneut – und jetzt noch dringlicher – die Frage nach Sinn und Absicht der Weimarer Dido-Tragödie zu stellen ist. Allzulange hat die Fixierung auf die drei ‘Schöngeister’, Ogon, Dodus und Aratus, und die Persönlichkeiten, die sich hinter ihnen verbergen sollen, insbesondere auf Goethe, den Blick auf andere und – wie sich herausstellen wird – bedeutsamere Zusammenhänge verstellt. So erklärt es sich, daß die offensichtliche Vertrautheit der Dichterin mit Vergils Version der Dido-Geschichte unbemerkt blieb und der Frage, warum nicht diese allgemein bekannte Darstellung als Hauptvorlage diente, sondern die des Trogus, kaum Beachtung geschenkt wurde. Dabei verspricht gerade die Beantwortung dieser Frage erhellende Aufschlüsse zu den Motiven, welche Frau von Stein bei der Abfassung ihrer Tragödie geleitet haben. Als sie im Jahre 1792 Schillers eben erschienene Übersetzung des vierten Aeneisbuches las, muß das für sie weit mehr als ein Bildungserlebnis gewesen sein. Denn in dieser Geschichte – ob sie sie nun erst durch Schiller kennengelernt hat oder nicht, ist dabei kaum von Belang – wurde ihr ein Stück ihres eigenen Lebens vor Augen geführt. Der Mann aus der

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Fremde, der bei Dido gastliche Aufnahme findet, läßt an den jungen Goethe denken, dem durch Herzog Karl August der Weg von Frankfurt nach Weimar gewiesen wird, und der – dort am 7. November 1775 angekommen – schon wenige Tage später im Hause von Stein als gern gesehener Besucher ein und aus geht. Ein Bildnis der Herrin dieses Hauses kannte er schon durch eine Silhouette, die ihm der Arzt Johann Georg Zimmermann im Juli 1775 gezeigt und die ihn so beeindruckt hatte, daß er dazu im August 1775 eine stichwortartige Charakteristik entwarf.26 Bei Vergil ist es Venus, die ihrem Sohn von Dido erzählt (Aen. 1,340-368),27 so daß er in Karthago auf keine Unbekannte trifft. Umgekehrt besitzen auch die Frauen ein Vorwissen von dem Mann, der ihnen alsbald in persona gegenübertreten soll: Vergils Dido kennt Herkunft und Vergangenheit des Troers (vgl. Aen. 1,615-626) und hat seine Kämpfe mit in die Tempeldarstellungen aufnehmen lassen (Aen. 1,488f.). Frau von Stein hatte Die Leiden des jungen Werthers gelesen und interessierte sich deshalb für den Verfasser. Ihre Wißbegier stillt Zimmermann, der ihr am 19. Januar 1775, als ob er die spätere Beziehung zu Goethe vorausgeahnt hätte, schreibt: „Sie wünschen ihn zu sehen, und Sie wissen nicht, bis zu welchem Punkt dieser liebenswürdige Mann Ihnen gefährlich werden könnte!“.28 Dido und Aeneas finden die Erfüllung ihrer Liebe in einer Höhle (Aen. 4,117-127; 160-172). Einer Höhle kommt auch in den Begegnungen Goethes mit Frau von Stein ganz außerordentliche Bedeutung zu: Schon am 21. Juli 1776 spricht Goethe in einem Brief an Charlotte von Stein von „der Höhle unter dem Herrmannstein meinem geliebten Aufenthalt wo ich möcht wohnen und bleiben [...] Wenn du nur einmal hier seyn könntest es ist über alle Beschreibung und Zeichnung“.29 Wenige Tage später geht der Wunsch in Erfüllung, so daß Goethe am 8. August 1776 der Freundin in leidenschaftlich bekenntnishaften Worten den gemeinsamen Besuch in Erinnerung rufen kann: „Heut will ich auf den Herrmannstein, und womöglich die Höhle zeichnen hab auch Meisel und Hammer die Inschrifft zu machen, die sehr mystisch werden wird. [...] Ich schwör dir ich weis nicht wie mir ist. Wenn ich so dencke, dass Sie mit in meiner Höhle war, dass ich ihre Hand hielt indeß sie sich bückte und ein Zeichen –––––––––––– 26 In einem Brief an Lavater; vgl. dazu Klauß, 1995 (wie Fußn. 4), 48-53. 27 Eine überraschend neue Sicht dieser Begegnung des Aeneas mit der göttlichen Mutter bietet jetzt Therese Fuhrer: „Wenn Götter und Menschen sich begegnen: Komische Szenen in Vergils Aeneis?“, in: Vergil und das antike Epos. Festschrift Hans Jürgen Tschiedel, hg. v. Stefan Freund u.a. (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 20), Stuttgart 2008, 221-236, hier 224-230. 28 Ausführlich dazu Koopmann, 2002 (wie Fußn. 4), 10-20. 29 Vgl. Seydel, 1993 (wie Fußn. 4), 74.

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in den Staub schrieb!!!“.30 Und am 6. September 1780 schreibt er ihr von einem Besuch in Ilmenau: „Meine beste ich bin in die Herrmannsteiner Höhle gestiegen, an den Plaz wo Sie mit mir waren und habe das S, das so frisch noch wie von gestern angezeichnet steht geküsst und wieder geküsst, dass der Porphyr seinen ganzen Erdgeruch ausathmete um mir auf seine Art wenigstens zu antworten. Ich bat den hundertköpfigen Gott, der mich so viel vorgerückt und verändert und mir doch Ihre Liebe, und diese Felsen erhalten hat, noch weiter fortzufahren und mich werther zu machen seiner Liebe und der Ihrigen“31. Wie tief das gemeinsame Erleben auch im Gedächtnis der Frau haftet, verraten noch die Zeilen, die sie fast ein Vierteljahrhundert später (Ende April 1800) an ihren Sohn Friedrich richtet: „Armer Goethe, daß ihm mit seiner Jugend so alles vorübergegangen ist! Die schöne, bleibende Liebe ist für jedes Alter geschaffen. In der Herrmannshöhle steht mein Name von ihm in den Fels gegraben; der Fels hat ihn, aber er lange nicht mehr in seinem Herzen“.32 Der Bruch mit Goethe war zu dieser Zeit längst Vergangenheit, aber die Enttäuschung und Verbitterung wirken sichtlich noch nach. Seine überstürzte Abreise nach Italien glich damals eher einer Flucht und wurde von ihm selbst als eine solche gesehen.33 Goethe flieht vor einengenden Fesseln, die ihm das Leben am Weimarer Hof anzulegen droht, er flieht aus der Bindung an die dominierende Frau, er flieht nach Italien, in das Land seiner Sehnsucht, das ihm den geistigen Nährboden bieten soll, auf dem seine schöpferische Genialität sich zu neuer Blüte entfalten kann. Die Freundin verletzt er mit dem sie kränkenden Verhalten zutiefst,34 so daß sie ihn beim ersten Wiedersehen nach 22 Monaten der Trennung äußerst kühl und abweisend empfängt.35 Jahre später schreibt sie dann nach einer zufälligen Begegnung mit Goethe an Charlotte Schiller: „Es ist mir noch immer unbegreiflich, daß er mir so fremd werden konnte“.36 Das Band –––––––––––– 30 31 32 33

Seydel, 1993 (wie Fußn. 4), 75. Seydel, 1993 (wie Fußn. 4), 129f. Seydel, 1993 (wie Fußn. 4), 355. Vgl. Goethes Briefe an Charlotte von Stein vom 2. und 3. September 1786 (Seydel, 1993 [wie Fußn. 4], 263): „Morgen Sonntags d. 3ten September geh ich von hier ab, niemand weiß es noch, niemand vermuthet meine Abreise so nah“. – „d. 3. Sept. früh 3 Uhr stahl ich mich aus dem Carlsbad weg, man hätte mich sonst nicht fortgelassen“. 34 „Diese Flucht begreift die 44jährige Frau als eine Flucht allein vor ihr, als einen tödlichen Treue- und Vertrauensbruch des geliebten Mannes.“ (Klauß, 1995 [wie Fußn. 4], 109). 35 Vgl. Koopmann, 2002 (wie Fußn. 4), 230f. 36 Seydel, 1993 (wie Fußn. 4), 341.

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der Liebe und Freundschaft zwischen diesen beiden Menschen war zerrissen. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, wie es der enttäuschten und verlassenen Charlotte von Stein zumute gewesen sein muß, als sie bei der Lektüre von Schillers Übersetzung des vierten Aeneisbuches – wohl kaum zum ersten Mal, aber nun mit neuem, Herz und Gemüt berührendem Interesse – einen Mythos in sich aufnahm, der ihr gleichsam wie eine Präfiguration ihres eigenen Erlebens erscheinen mußte. Denn da fanden sich nicht nur der Schmerz der verletzten Liebenden (Aen. 4,296ff.), nicht nur der fluchtartige nächtliche Aufbruch des Mannes ins ersehnte Italien (Aen. 4,554-583), nicht nur der bittere Groll der Verlassenen (Aen. 4,586-629), nicht nur die abweisende Unversöhnlichkeit der Enttäuschten (Aen. 6,450-476), sondern da traten auch Züge zutage, wie sie der Beziehung zwischen Charlotte von Stein und Goethe ihr durchaus eigenes Gepräge geben: die Sorge der verheirateten bzw. verwitweten Frau, dem Gatten die Treue zu halten und den eigenen Ruf nicht aufs Spiel zu setzen (Aen. 4,15-29), die Bedeutsamkeit des Beisammenseins in der Höhle und nicht zuletzt – davon war bis jetzt noch nicht zu sprechen – die einem Kinde zufallende Aufgabe, den Liebesbund zu knüpfen und zu festigen. Bei Vergil (Aen. 1,657-722) übernimmt es Gott Amor höchstselbst, in Gestalt des Aeneassohnes Iulus die zärtlichen Gefühle der Königin zu wecken und ihre Leidenschaft zu entfachen. In der Realität der Beziehung zwischen Goethe und Frau von Stein ist es umgekehrt der Mann, der von Fritz, dem jüngsten Sohn der Freundin, bezaubert wird. Ihn hat der Dichter so ins Herz geschlossen, daß er den Elfjährigen im Mai 1783 auf Dauer zu sich nimmt: „In ihm liebte er auch die Mutter, und diese vertraute dem Freund ihren Jüngstgeborenen an wie einem Gatten“.37 Die erstaunlichen Analogien zwischen Vergils Geschichte der Dido und dem eigenen Erleben müssen Charlotte von Stein die Augen geöffnet haben. Die Lektüre der Aeneis ließ sie gleichsam in einen Spiegel blicken, der ihr ein ins grelle Licht des Mythos getauchtes Bild entgegenwarf, in dem sie nun mit erschreckender Deutlichkeit sich selbst und die Rolle erkannte, die sie im Leben Goethes gespielt hatte. Was sie da zu sehen bekam, gefiel ihr nicht, konnte ihr nicht gefallen: Die Frau als die vom Manne Zurückgestoßene, Verschmähte, als leidendes Opfer. Ein solches Bild war ganz und gar nicht mit dem Ideal einer Weiblichkeit zu vereinbaren, wie Charlotte von Stein es für sich in Anspruch nahm und zu leben glaubte. Nicht nur die Zeitgenossen beschreiben sie als eine mit prakti–––––––––––– 37 Klauß, 1995 (wie Fußn. 4), 166. Sogar an eine Adoption des Knaben war offenbar gedacht; dazu Hof, 1979 (wie Fußn. 4), 64f.

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scher Vernunft begabte Persönlichkeit, deren Sinn für das rechte Maß ihr verantwortungsbewußtes Handeln bestimmte. Auch aus ihren Briefen spricht ein auf die Wahrung von Distanz und Würde bedachtes Naturell. Sie besteht auf der sittlichen Überlegenheit der Frau, die sie vor dem der Leidenschaft und dem Machtstreben ergebenen Manne auszeichne.38 Düntzer, der wohl beste Kenner der Zeugnisse, hat zu ihrer Charakterisierung warme Worte gefunden: Ein „Hang zum Ernsten, Würdigen, ja Schwermüthigen, [...] zartes Gefühl für Anstand und Würde, hohe Weiblichkeit, mächtige Willenskraft, besonnene Fassung [...] bildeten die Grundzüge ihres Wesens.“39 Wenn diese Frau im Werk Vergils auf eine Episode stieß, die ihr die für sie so bedeutungsvolle Zeit mit Goethe aufs eindringlichste ins Bewußtsein rufen mußte, war sie einerseits gewiß fasziniert und angerührt von der hier zu findenden emotionalen Nähe, die ihr gar keine andere Wahl ließ, als an der tragischen Botschaft des Mythos die eigene Erfahrung zu messen. Andererseits konnte sie die daraus resultierende bittere Erkenntnis, auch selbst am Schicksal der Verlassenen, Verschmähten, Gedemütigten teilzuhaben, so nicht hinnehmen. Sie sah sich zwar – provoziert vom Schicksal Didos – genötigt, sich intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was ihr selbst widerfahren und nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Doch sich mit der Rolle zu identifizieren, welche die karthagische Königin in der Aeneis zu spielen hatte, lehnte sie ab. Es ist dieser Widerspruch, der Charlotte von Stein zu einer Version des nämlichen Mythos greifen läßt, der die Königin eben nicht als der Leidenschaft hingegebene, dem Manne verfallene, ihre Aufgaben vernachlässigende und ihr Ansehen aufs Spiel setzende schwache Frau zeigt, sondern ihr herrscherliches Pflichtbewußtsein, selbstlosen Verzicht, Edelsinn und Stärke bescheinigt. Ausgestattet mit diesen Eigenschaften spiegeln die beiden – in eins zu sehenden – Frauengestalten des Dramas der Charlotte –––––––––––– 38 In der Dido (II 4) könnte Elissas gegen die Männer gerichtete Kritik durchaus von der Dichterin selbst gesprochen sein: „O zerstörendes Geschlecht! Ohne euch wär uns die Kriegslust unbekannt. Warum gabst du Natur! Den Männern dieses Treiben, diese Thatensucht, um den ruhigen Gang nach einem besseren Ziele, wozu deine Ewigkeiten dir genug Zeit lassen, widrig zu stören? – „. Vgl. dazu Charlotte von Steins Brief an Knebel vom 1.5.1813 (Hof, 1979 [wie Fußn. 4], 25): „So lieb ich Sie als einen treuen Freund habe, so wäre es doch besser, es wären keine Männer in der Welt: da gäb’s dann keine Eroberer!“. 39 Düntzer, 1874 (wie Fußn. 3), II 523. Weitere, im Kern übereinstimmende Urteile über ihre Persönlichkeit finden sich bei von Gleichen-Rußwurm, 1920 (wie Fußn. 4), 7ff., Voß, 1922 (wie Fußn. 4), 173-176, Bode passim, Hof, 1979 (wie Fußn. 4), 7-35, Maurer, 1985 (wie Fußn. 4), 168-171, Seydel, 1993 (wie Fußn. 4), 27, Klauß, 1995 (wie Fußn. 4), 71-73, 143, 224, Koopmann passim.

Die Dido der Charlotte von Stein

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von Stein, Dido und Elissa, jene Haltung wider, welche die Dichterin nicht umhin konnte, für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Die Dido-Tragödie der Frau von Stein ist keine vom Haß diktierte Abrechnung mit Goethe, sondern ein Zeugnis des Beharrens der Dichterin auf Selbstachtung, ihres Wunsches, sich als die Frau zu behaupten, die sie sein wollte, und ihres Anspruchs auf humane Überlegenheit. Die Anregung dazu kommt von Vergil; seine Spuren bleiben auch und gerade in der Negation seiner Darstellung sichtbar.

Ah Virgil, Virgil! – der Speichellecker des julischen Hauses Die literarische Bedeutung des Lateinischen in Thomas Manns Zauberberg

ANDREAS PATZER (München) Für Werner Suerbaum zum 75. Geburtstag Thomas Mann erwähnt in seinem literarischen Œuvre, das der Antike in allen ihren Epochen und Ausprägungen so viel Aufmerksamkeit entgegenbringt, den römischen Dichter Vergil nur in einem einzigen Werk: im Roman Der Zauberberg, der 1924 erschienenen ist (GKFA 5.1 2002 ed. M. Neumann). Dieser Befund ist bemerkenswert und verdient eine genauere Betrachtung – ein erwünschter Anlaß, auch über die literarische Bedeutung nachzudenken, die dem Lateinischen insgesamt in diesem Roman zukommt, der nicht von ungefähr mit einer lateinischen Formel schließt, die durch Majuskeln besonders hervorgehoben wird: FINIS OPERIS. Der Zauberberg gehört zur Gattung des Bildungsromans, der seinerseits eine moderne Spezies des älteren, bis in die Antike zurückreichenden Abenteurer- und Schelmenromans ist. Der Autor selbst konstatiert diese Tatsache, wenn er in der Einführung (SGAW 1966 S. XV) rhetorisch fragt: „Und was ist denn wirklich der deutsche Bildungsroman, zu dessen Typ der Wilhelm Meister sowohl wie der Zauberberg gehören, anderes, als die Sublimierung und Vergeistigung des Abenteurerromans?“ Im Zauberberg geht es darum, daß ein junger Mann, der Hamburger Patrizier Hans Castorp, den der Autor expressis verbis als „einfach“ (GKFA S. 9 & 11), „simpel“ (S. 1085) und „mittelmäßig, wenn auch in einem recht ehrenwerten Sinn“ (S. 54) charakterisiert, während eines siebenjährigen Aufenthaltes in einem Schweizer Lungen-Sanatorium „Abenteuer im Fleische und Geist“ erlebt, die seine Einfachheit „steigerten“, so daß ihm „aus Tod und Körperunzucht ahnungsvoll und regierungsweise ein Traum von

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Liebe erwuchs“ (S. 1085). So gesteigert „durch hermetischen Zauber“ (S. 1074) wird „des Lebens treuherziges Sorgenkind“ (S. 1085; vgl. S. 467, 489, 499, 536, 552, 615, 736, 750, 826, 910) entlassen in das Grauen des Ersten Weltkrieges, den er wohl nicht überleben wird. „Deine Aussichten sind schlecht“, ruft ihm der Autor nach, „und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst“ (S. 1085). Die „alchymistischen Abenteuer“ (S. 1074), denen der einfache Held seine „Transsubstantiation […] zum Höheren“, also seine „Steigerung“ (S. 902) verdankt, sind vielfältiger Art. Da ist zunächst der hermetische Ort der Geschichte, das Luxus-Sanatorium, in dem Müßiggang und Konkupiszenz, Krankheit und Tod gleichermaßen und gemeinsam obwalten; da ist die Erfahrung persönlicher Todesnot im Hochgebirgs-Schneesturm; da ist weiter die heillose erotische Verfallenheit an Clawdia Chauchat, eine russische Apartheit, die als Frau noch einmal jener schöne slawische Knabe ist, dem die erste stürmische Liebe des Schülers gegolten hat; da ist die Begegnung mit verstörenden Autoritätspersonen, mit Hofrat Behrens und Mynheer Peeperkorn, melancholischer Schwadroneur der eine, der andere ein Mann von Format, vor dessen peremptorischer Gebärdensprache aller intellektueller Scharfsinn zuschanden wird; da ist die Bekanntschaft mit Dr. Krokowski, dessen psychoanalytisches Wühlen in den dunklen Bereichen der Seele schließlich in fragwürdigsten Okkultismus ausartet; da ist endlich, aber nicht zuletzt die Konfrontation mit zwei extremen, einander diametral entgegengesetzten Weltanschauungen, deren Träger, der Humanist und Freimaurer Ludovico Settembrini und der Jesuit und Kommunist Leo Naphta, sich, wie es Hans Castorp vorkommt, pädagogisch um seine arme Seele raufen „wie Gott und Teufel um den Menschen im Mittelalter“ (S. 719). In jenen uferlosen Gesprächen, die die beiden „Widersacher im Geiste“ (S. 764) einzeln oder gemeinsam vom Zaune brechen, um Hans Castorps Seele zu gewinnen, kommt nun auch Vergil zur Sprache: Zweimal gedenkt Settembrini des Dichters namentlich im Gespräch mit Hans Castorp (S. 96f. & 148), einmal ist Vergil Gegenstand eines dialektischen Streitgespräches zwischen Settembrini und Naphta (S. 783f.), worüber sich der Autor im Nachhinein verwundert (S. 788). Das ist alles – gesetzt, daß man eine versteckte Anspielung auf einen Vergilvers nicht übersieht, die Settembrini in einem späteren Streitgespräch mit Naphta fallen läßt (S. 890). Will man recht verstehen, was es mit diesen zwar kargen, aber gleichwohl oder vielmehr ebendeshalb bedeutsamen Äußerungen über Vergil auf sich hat, so muß man sich der Persönlichkeit und der Weltanschauung jener beiden Kontrahenten versichern, denen diese Äußerungen in den Mund gelegt werden.

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Ludovico Settembrini, der im Roman früher auftritt als sein Gegenspieler Leo Naphta und also längere Zeit gegenüber Hans Castorp ideologisch allein das Feld behauptet, ist, wie der Name kundtut, Italiener, ein politischer Literat, krankheitshalber ins Sanatorium verschlagen, das er jedoch, aus finanziellen Gründen, verlassen muß, um in einem bescheidenen Privatlogis Unterkunft zu finden. Mit großer Liebe und Ehrerbietung erzählt Settembrini von seinen Voreltern. Der Vater war ein Humanist, ein uomo letterario nach dem Geschmacke Boccaccios, ein Meister der toskanischen Prosa, des idioma gentile, in dem er auch formvollendete Erzählungen zu verfassen wußte, zudem ein lateinischer Stilist von Rang. Anders der Großvater: ein Freiheitskämpfer oder carbonaro, Patriot, Redner und Agitator, nach einem Putschversuch in Turin gejagt von den Häschern Metternichs, im Exil für die Freiheit Spaniens und Griechenlands kämpfend, schließlich als Advokat und „Oppositionsmann“ in Mailand für die Einheit und Freiheit Italiens wirkend (S. 233f.). Aus dieser Herkunft leitet Hans Castorp den Beruf oder besser die Berufung Ludovico Settembrinis ab: „Nicht umsonst war er ein Literat, das hieß: eines Politikers Enkel und Sohn eines Humanisten“ (S. 704). Diese geistvolle Deduktion verdankt Hans Castorp Settembrini selbst: In ihm, so doziert er, habe sich die politische Tendenz des Großvaters und die humanistische des Vaters vereinigt, insofern er ein Literat und freier Schriftsteller geworden sei: „Denn die Literatur sei nichts anderes als eben dies: sie sei die Vereinigung von Humanismus und Politik, welche sich um so zwangloser vollziehe, als ja Humanismus selber schon Politik und Politik Humanismus sei“ (S. 242f.). Und weiter: „Alle Sittigung und sittliche Vervollkommnung entstamme dem Geiste der Literatur […], welcher zugleich auch der Geist der Humanität und der Politik sei. Ja, dies alles sei eins, sei ein und dieselbe Macht und Idee, und in einem Namen könne man es zusammenfassen […] er laute: Zivilisation!“ (S. 243f.). Diese Äußerungen, denen sich unschwer noch andere ähnlicher Art hinzufügen ließen, stellen außer Zweifel, daß Settembrini ein „Zivilisationsliterat“ ist, wie er im Buche steht: Thomas Mann hat in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) diesen besonderen Typus des politischen Literaten erfunden, um seine Position als unpolitischer bürgerlicher und deutscher Denker davon abzusetzen. Folgt man den sententiösen Ausführungen der Betrachtungen, so ist die geistige und politische Heimat des Zivilisationsliteraten Frankreich. Er bekennt sich zum aufklärerischen Denkens Rousseaus und Voltaires und verficht die jenem Denken verpflichteten Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und die damit eng verknüpften Ideen von Humanität, Humanismus, Pazifismus, Fortschritts-

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glaube, Demokratie und Weltbürgertum – ein Komplex von Ideen, die im Ideal der Zivilisation kulminieren, das durch Literatur im schönen Stil weltweit werbewirksam zu propagieren und siegreich zu etablieren das Hauptanliegen des Zivilisationsliteraten ist: ein politisches Anliegen au fond. Daher kann Settembrini auch sagen: „Der Menschenfreund kann den Unterschied von Politik und Nichtpolitik überhaupt nicht anerkennen. Es gibt keine Nichtpolitik. Alles ist Politik“ (S. 776). Zwar ist die geistige Heimat des Zivilisationsliteraten Frankreich – Ludovico Settembrini jedoch, in dem der Typus des Zivilisationsliteraten literarisch Form und Gestalt gewinnt, ist kein Franzose, sondern Italiener – eine nationale Metathese, über deren Gründe nachzudenken verlohnt. Ein Franzose als Repräsentant des französischen Geistes wäre ein vergleichsweise platter Einfall gewesen, der dem ästhetischen Empfinden des Autors offenbar widerstrebte. Ein Russe oder ein Spanier kamen auch nicht in Frage, wenn anders sich Hans Castorp über die Geistesart jener beiden Völker so äußern sollte, wie er sich äußert: Beide Völker bildeten in Europa die „außerhumanistischen Lager“ (S. 761): Hier nämlich walte Weichheit als Formlosigkeit, dort Härte als Überform und Todesstrenge statt Todesauflösung. Auch ein Engländer kam nicht in Frage: Englische Geistesart ist zwar politisch, aber politisch-pragmatisch und ökonomisch und insofern der Ideologie des Zivilisationsliteraten unwillkommen; weshalb dieser auch, wie Settembrini, gegenüber allem Englischen ein nachgerade feindseliges Schweigen an den Tag legt. Verbliebe Deutschland. Das ging nun gar nicht. Der unpolitisch-bürgerliche deutsche Geist, so die Betrachtungen, steht dem französischen Geist so fremd und abwehrend gegenüber, daß er nachgerade ein Gegenentwurf und Konkurrenzmodell ist – es sei denn, er wäre bereits der zivilisationsliterarischen Propaganda erlegen. Aber dann hätte der Autor seinen Bruder Heinrich literarisch in Szene setzen müssen, wie er es schon einmal in dem Roman Königliche Hoheit (1909) getan hatte. Aber was vor dem Ersten Weltkrieg möglich gewesen war, das war nach dem Bruderzwist, der wegen und während des Krieges entstanden war, nunmehr durchaus undenkbar. – Also war es und mußte es ein Italiener sein, der den Zivilisationsliteraten literarisch verkörperte, Ludovico Settembrini also, der, als Romane, nicht minder einleuchtend demonstriert als ein Franzose, daß die Ideologie des Zivilisationsliteraten ihrer Herkunft und Substanz nach ein Erzeugnis des westlichen, um nicht zu sagen: des lateinischen Geistes ist, dessen klassische Luzidität Sprache und Denken der romanischen Völker ja so tiefgreifend bestimmt und kommandiert. Ludovico Settembrini erweist sich denn auch sogleich im Umgang mit der Sprache als rechter Romane. Daß er das Italienische „mit äußerstem Genuß“ (S. 148; vgl. S. 153) spricht, versteht sich beinahe von selbst. Aber

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auch das Deutsche handhabt er „ohne fremden Akzent“ (S. 89), grammatisch einwandfrei, ohne sich zu versprechen „mit einem offensichtlichen, sich mitteilenden und heiter stimmenden Behagen“ (S. 98). Und weiter heißt es: „Die Worte kamen prall, nett und wie neuschaffen von seinen beweglichen Lippen“ (S. 98). Als Hans Castorp diese façon de parler zu beschreiben versucht, gibt ihm Settembrini das kennzeichnende Adjektiv „plastisch“ (S. 99) an die Hand, und von der prallen Plastizität und wohlgeformten Klarheit, mit der sich Settembrini im Deutschen ausdrückt, ist dann im Verlaufe des Romans immer wieder die Rede (S. 146, 152, 155, 298, 369, 495, 538, 576, 596, 681, 700, 997) – ein starker leitmotivischer rappel, der gewährleisten soll und gewährleistet, daß sich der Leser stets bewußt bleibt, daß, wer da so makellos Deutsch spricht, ein Zögling westlich-romanischer Kultur und Zivilisation ist und daß, was er spricht, sich dem Geiste jener kulturellen und zivilisatorischen Sphäre verdankt, die Voltaire und Rousseau zu ihren Ahnherren zählt. Allerdings bringt es die Verschiebung der Nationalität mit sich, daß Settembrini, um pädagogisch auf Hans Castorp im Sinne seiner Weltanschauung einzuwirken, mehr auf die italienische Geistes- und Kulturtradition zurückgreift als auf die französische, so hoch er diese auch achtet. Es ist eine stattliche Reihe von Namen und Personen aus der gesamten italienischen Kultursphäre, die Hans Castorp im Laufe der Erzählung von Settembrini zu hören bekommt: Carducci (1835–1907), der zweimal vorgestellt wird (S. 92–94 & 242), Petrarca (1304–1374) (S. 96), Boccaccio (1313–1375) (S. 147), Leopardi (1798–1837) (S. 153), Manzoni (1785– 1873) (S. 242), Dante (1265–1321) (S. 242; vgl. S. 783), Brunetto Latini (ca. 1220–1295) (S. 243) und Aretino (1492–1556) (S. 564). Die kulturund literaturgeschichtlichen Belehrungen Settembrinis fallen nicht auf unfruchtbaren Boden. Hans Castorp, dem jene belehrenden Informationen gelten, erinnert sich ihrer im Laufe der Erzählung immer wieder: So erwähnt er je einmal Petrarca (S. 615) und Leopardi (S. 337), dreimal Brunetto Latini (S. 535, 537, 789) und nicht weniger als fünfmal Carducci (S. 297, 337, 498, 537, 697). Der statistische Befund lehrt, daß der Autor der Person Carduccis besonderes Interesse entgegenbringt. Dieses Interesse kommt nicht von ungefähr. Giosuè Carducci, der 1906 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, war eine der maßgeblichen geistigen Persönlichkeiten Italiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Gegner der Romantik und des Katholizismus, Begründer einer neuheidnischen klassizistischen Poesie, auch ein großer Redner und Volkserzieher, der Italien in Hinblick auf die große Vergangenheit des Imperium Romanum zu erneuern bestrebt gewesen ist. In alledem erweist sich Carducci als typischer Zivilisationsliterat, nicht anders als Settembrini auch, der sich nicht von ungefähr als Schüler

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Carduccis bekennt (S. 92) und den Ansichten seines Lehrers so ungeteilten Beifall zollt, daß außer Frage steht, daß Settembrini ein Pendant Carduccis ist und sein soll, die poetische Transformation einer historischen Person im Horizont zivilisationsliterarischer Ideologie – einer Ideologie, die sinnfälligen Ausdruck findet in Carduccis berühmtem Gedicht Inno a Satana aus dem Jahre 1865, dessen Anfang Settembrini italienisch zitiert (S. 92f.), um später noch einmal beifällig auf jenes Gedicht zurückzukommen (S. 242), dessen sich viel später auch Hans Castorp noch erinnert (S. 697). Damit nicht genug: Das Kapitel, in dem Settembrini Hans Castorp und dem Leser vorgestellt wird, trägt den Titel Satana (S. 88) und annonciert so im Vorgriff die geistige Identität, die zwischen Settembrini und Carducci waltet. Das Panorama des italienischen Geistes, das Settembrini vor Hans Castorps Augen entstehen läßt, um ihn pädagogisch und ideologisch zu beeinflussen, ist weit gespannt: Es reicht von der unmittelbaren Moderne (Carducci) bis in die Zeit der Frührenaissance (Latini, Dante, Petrarca), in der das Klassische Latein neu entdeckt wurde und sich zugleich das Italienische als eigenständige Sprache aus dem Lateinischen zu entwickeln begann – eine gegenstrebige Entwicklung, die besonders sinnfällig im Falle der Göttlichen Komödie zutage tritt, die Dante in italienischer Sprache gedichtet hat, nachdem er lange Zeit das Lateinische als Sprache für das Gedicht erwogen und favorisiert hatte. Kein Wunder hiernach, daß auch das Lateinische im Bildungshorizont Settembrinis und also auch im Bildungshorizont Hans Castorps eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Wie hoch Settembrini das Lateinische, die Mutter des Italienischen, schätzt, davon kündet eine ergötzliche Episode: Er – Settembrini – sei bei der Postausgabe Zeuge eines Streites geworden zwischen Staatsanwalt Paravant aus Düsseldorf und einem Russen; innerlich habe er, ohne Kenntnis des Sachverhalts, sofort Partei für den Staatsanwalt ergriffen. Der Grund: „Er ist zwar ein Esel, aber er versteht wenigstens Latein.“ Im übrigen nennt Settembrini den streitbaren Russen einen „Iwan Iwanowitsch ohne Weißzeug“ (S. 366) und bekundet so, daß, wer kein Latein kann, auch in allen anderen kulturellen Belangen ein tiefstehender Mensch sei. Dieses doktrinäre Vorurteil gegen das „lateinlose Halbasien“ (S. 1077) tritt noch einmal in Kraft. Am sogenannten „Schlechten Russentisch“ trifft Settembrini auf einen Medizinstudenten höheren Semesters, der des Lateinischen vollkommen unkundig ist und nicht einmal weiß, was ein Vakuum ist. Er gehört zu jenen russischen Patienten, die dem Humanisten „lebhafte Abstandsgefühle“ (S. 347) erregen, denn: „Sie aßen mit dem Messer und besudelten […] die Toilette“. Womit der enge Konnex zwischen Latein und Zivilisation, wie ihn Settembrini vertritt, noch einmal

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unterstrichen wird. Hans Castorp teilt dieses Vorurteil nicht: Die Leute, die am Schlechten Russentisch speisten, bemerkt er ganz am Schluß der Erzählung, seien ehrenwerte Mitglieder der Menschheit, „wenn sie auch kein Latein verstanden und sich beim Essen nicht übertrieben zierlich benahmen“ (S. 1072). Ironischerweise ist der Humanist Settembrini nicht der erste, der sich im Roman der lateinischen Sprache bedient, sondern Hofrat Behrens: Er gibt Hans Castorp beim ersten Zusammentreffen „ganz sine pecunia“ (S. 74) den Rat, sich für die Zeit seines Aufenthaltes ebenso zu verhalten wie sein kranker Vetter. Dieser Ausdruck, der den Roman leitmotivisch durchzieht (S. 95, 226, 306, 499), um auf die Kostspieligkeit des Sanatoriumsaufenthaltes zu verweisen, steht am Anfang einer größeren Anzahl von Latinismen, die der Hofrat fraglos seinem Medizinstudium verdankt: „tuberculosis pulmonum“ (S. 74; vgl. S. 949), „ad penates“ (S. 163; vgl. S. 448), „moribundus“ (S. 163; vgl. S. 164, 448, 460, 805, 953, 1078), „mortis causa“ (S. 265), „hilus“ (S. 271), „praeter-propter“ (S. 275), „ein Prä“ (S. 393), „libido“ (S. 628), „laryngea“ (S. 799), „locus minoris resistentiae“ (S. 799). Mit dem Mediziner- und Studenten-Latein, dessen sich der Hofrat mit Fleiß bedient, damit die Latinität in toto in den Blick des Lesers gerückt werde, hat das Latein, das Settembrini im Sinne seiner Weltanschauung propagiert, ebenso wenig gemeinsam wie das Theologen-Latein, das Naphta favorisiert. Bedeutsam und belehrend sind in dieser Hinsicht gleich die ersten lateinischen Worte, die Settembrini gegenüber den Vettern äußert: „Mein Gott, ich bin Humanist, ein homo humanus“ (S. 93). Wenn der Autor den Sprecher bei seiner Selbstvorstellung so unvermittelt und ohne Not ins Lateinische fallen läßt, so signalisiert er, daß ein Humanist wie Settembrini im Grunde ein Lateiner ist und daß der Haupt- und Kerngedanke des Zivilisationsliteraten – der Humanismus – seine Heimat in jener lateinisch geprägten Geistessphäre hat, die die Humanisten der Renaissance im Rückgriff auf die Antike und namentlich im Rückgriff auf das Klassische Latein, das in der Epoche des christlichen Mittelalters nahezu in Vergessenheit geraten war, gegen das christliche Denken neu gewonnen und nachhaltig etabliert haben: „Die Errungenschaften […] von Renaissance und Aufklärung“, konstatiert Settembrini sententiös, „heißen Persönlichkeit, Menschenrecht, Freiheit!“ (S. 602). Die Neigung zum Klassischen Latein, der hier verdeckt, aber deutlich genug das Wort geredet wird, ist Settembrini von langer Hand auch familiär vorgegeben: Sein Vater nämlich, verkündet Settembrini rühmend, sei „ein lateinischer Stilist gewesen wie keiner mehr“ (S. 236). Die lateinische

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Bildung des humanistischen Vaters eignet sich der Sohn an, um sie nunmehr politischen Zwecken dienstbar zu machen. Der Autor hat Sorge getragen, daß der ideologisch aufgeladene lateinische Begriff homo humanus dem Leser nicht aus dem Gedächtnis schwindet. Hans Castorp erinnert sich seiner nicht weniger als dreimal (S. 227, 301, 498) – ein leitmotivischer Topos, der gewährleistet, daß man nicht vergißt, wes Geistes Kind Settembrini sei: ein Zögling der lateinischen Kultur, ein Zivilisationsliterat also. Im übrigen muß weder Settembrini noch muß später Naphta befürchten, daß Hans Castorp die Latinismen, die der eine ebenso gern gesprächsweise in die Rede einfließen läßt wie der andere, nicht verstünde. Hans Castorp, ein Zögling des Wilhelminischen Realgymnasiums verfügt sehr wohl über nicht unbeträchtliche Lateinkenntnisse. „in der Schule“, so erzählt er seinem Vetter, „haben wir immer bloß Tapferkeit gesagt, wenn virtus im Buche stand“ (S. 156). Schlecht kann dieser Schulunterricht nicht gewesen sein, wenn anders sich Hans Castorp imstande fühlt, die Schrift des Papstes Innozenz III. De miseria humanae conditionis, auf die ihn Naphta aufmerksam macht, im Original zu lesen: „Wenn ich mein Latein zusammennähme, vielleicht könnte ich sie lesen“ (S. 595). Auch zeigt sich Hans Castorp durchaus in der Lage, seinen Vetter über den Unterschied zwischen Klassischem und Mönchslatein zu belehren (S. 445). Nicht davon zu reden, daß auch er seine Rede mit Latinismen schmückt, die er nicht von Settembrini oder Naphta gelernt hat: „requiescat in pace“ (S. 282; vgl. S. 445), „sit tibi terra levis. Requiem aeternam dona ei, Domine“ (S. 445; vgl. S. 677f.), „valet“ (S. 489), „mulus“ (S. 499), „rite“ (S. 636), „exodus“, „exitus“ (S. 648), „Aurum potabile“ (S.769) und „suicidium“ (S. 944). Im Vertrauen auf Hans Castorps vergleichsweise solide Lateinkenntnisse, die der Autor offenbar auch beim Leser voraussetzt, läßt sich Settembrini im Laufe des Gespräches unbesorgt immer wieder auf Lateinisch vernehmen. Die Latinismen, mit denen er seine Rede schmückt, sind vielfältiger Art. Es finden sich Reminiszenzen aus der scholastischen Philosophie wie „in abstracto“ (S. 100) oder „actu“ (S. 620), Titel aus derselben Sphäre wie „princeps scholasticorum“ (S. 564) oder „Doctor angelicus“ (S. 768), eine etymologische Ableitung des Wortes Humor (S. 565), Zitate sprichwörtlicher Art wie „Roma locuta“ (Augustin, J.-B. Grécourt) oder „mundus vult decipi“ (S. Franck) und schließlich auch ein Ausdruck offenbar eigenständiger Prägung: „in Baccho et ceteris“ (S. 231). Alle diese Latinismen werden vorgetragen, ohne daß der Autor Sorge trüge oder Sorge tragen müßte, den Leser, sofern überhaupt möglich, über ihre Herkunft zu informieren.

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Ungenannt, aber nicht unerkannt bleibt der Autor auch in einem anderen Falle. Settembrini äußert zu Hans Castorp, um ihn zu sorgfältiger Nutzung der Zeit anzuhalten: „Carpe diem! Das sang ein Großstädter“ (S. 369). Dieses lateinische Zitat verdankt sich, wie Hans Castorp und auch der Leser wissen bzw. wissen sollten, dem römischen Dichter Horaz (carm. 1,11,8), den Settembrini hier ebenso als Großstädter feiert, wie Carducci es mit Dante getan hatte (S. 242): Wie Carducci die Donna gentile e pietosa aus Dantes Vita nuova (cap. 36 & 38) nicht als die mystagogische Beatrice verstanden wissen will, sondern als Dantes lebensbejahende und lebenstüchtige Ehefrau, so will Settembrini hier Horazens Aufforderung zum unmittelbaren Lebensgenuß verstanden wissen als Aufforderung zu sozial verantworteter Bewirtschaftung der Zeit – zwei Beispiele zivilisationsliterarischer Hermeneutik, deren Voreingenommenheit Hans Castorp im Falle des Horaz ebenso hätte durchschauen sollen und womöglich auch durchschaut hat wie im Falle Dantes, dessen Interpretation seitens Carducci er zu Recht sehr mißtraut „in Anbetracht der Windbeutelei des Vermittlers“ (S. 242). Verhüllten Ursprungs ist auch die lateinische Sentenz placet experiri, die Settembrini in einem frühen Gespräch mit Hans Castorp gleich zweimal – in italienischer Aussprache – zitiert (S. 150 & 155) – ein literarisches Signal, das auf die Bedeutung hinweist, die dieser Sentenz im Roman zukommt: Hans Castorp zitiert diese Sentenz im Fortgang der Erzählung nicht weniger als viermal (S. 228, 483f., 539, 960), einmal (S. 539) sogar ebenfalls in italienischer Aussprache. Der Autor unterstreicht am Ende noch einmal die Bedeutung dieser leitmotivischen Zitate: „Das Placet experiri […] saß fest in Hans Castorps Sinn; seine Sittlichkeit fiel nachgerade mit seiner Neugier zusammen […]: mit der unbedingten Neugier eines Bildungsreisenden“ (S. 997). Über die Herkunft dieser Sentenz erhält der Leser vergleichsweise spät und auch nur verdeckt Auskunft. Um seinen Verkehr mit Naphta zu rechtfertigen, bemerkt Hans Castorp: „Aber demgegenüber könne man ja Petrarca anführen mit seinem Wahlspruch, Herr Settembrini wisse schon“ (S. 615). Selbstredend weiß Settembrini, daß die Sentenz placet experiri, auf die Hans Castorp hier anspielt, auf Petrarca zurückgeht. Aber woher weiß es Hans Castorp? Settembrini jedenfalls hat es ihm nicht gesagt. Er kommt zwar im ersten Gespräch mit Hans Castorp „im Nu“ auf Petrarca zu sprechen, den er den „Vater der Neuzeit“ (S. 96) nennt. Die lateinische Sentenz wird hier jedoch nicht erwähnt, sondern erst in einem späteren Gespräch (S. 150 & 155), ohne daß hier Petrarcas gedacht würde. Sollen wir glauben, daß Settembrini Hans Castorp unterderhand, gewissermaßen hinter dem Rücken des Lesers, über den Ursprung der Sentenz unterrichtet habe oder daß der Bildungshorizont Hans Castorps und also auch der

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des Lesers so fundiert sei, daß beide solcher Belehrung gar nicht bedurften? Beides ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, daß der Autor in diesem Falle in der Textur seines Riesenwerkes eine Masche hat fallen lassen. – Es kommt hinzu, daß die Sentenz placet experiri durchaus nicht der „Wahlspruch“ Petrarcas gewesen ist, sondern ihm von zwei Gelehrten des ausgehenden 19. Jahrhunderts (P. de Nolhac 1892 & F.X. Kraus 1895) post festum vindiziert worden ist. Der einzige lateinische Autor, den Settembrini offen und ohne Umschweife mit Namen nennt, ist Vergil, dessen Name im Roman zweimal (S. 148 & 605) in der korrekten lateinischen Form zitiert wird, fünfmal (S. 96f., 783f., 788) dagegen in der von Spätantike und Mittelalter bevorzugten inkorrekten Form als Virgilius bzw. Virgil, ohne daß der Wechsel der Form eine literarische Ratio erkennen ließe. Wohl aber verweist die auffällige Bevorzugung, die Settembrini durch mehrfache Namensnennung Vergil zuteil werden läßt, darauf, daß Roms größter Dichter, wie in der abendländischen Tradition, so auch in der Ideologie des Zivilisationsliteraten eine herausragende Stellung einnimmt. Die Bewunderung Vergils findet sich bereits bei Settembrinis humanistischem Vater, von dem der Sohn erzählt: „Sein Gärtchen baute er nach dem Beispiele Vergils“ (S. 148). Das Beispiel, an dem sich Settembrinis Vater orientiert, findet sich im vierten Buche der Georgica (4,116-148) Vergil erwähnt hier in Form einer Praeteritio kurz den Gartenbau und erzählt bei dieser Gelegenheit, wie der Greis aus Korykos in der Nähe Tarents auf wenigem und kargem Boden erfolgreich Gartenbau betrieben hat, der ihm zu heiterer Autarkie verhalf. So verfährt also auch Settembrini, der Vater, die poetische Schilderung jenes bescheidenen Gartens ins Praktische wendend – eine Hommage an Vergil, anrührend wie kaum eine andere. Die Bewunderung, die der Sohn Vergil entgegenbringt, ist nicht praktisch, sondern ästhetisch und grenzenlos. Ausdrücklich vermerkt der Autor, daß Settembrini Vergil „abgöttisch liebte“ (S. 783). Es kann hiernach nicht wundernehmen, daß Settembrini im ersten Gespräch, das er mit Hans Castorp und Joachim Ziemßen führt, alsbald auf Vergil zu sprechen kommt. Nicht sofort allerdings. Zuvor nämlich greift Settembrini auf die griechische Mythologie zurück, indem er die beiden Anstaltsärzte als „Minos und Radamanth“ (S. 90) bezeichnet und den Anstaltschef im weiteren Verlauf des Gespräches noch gleich zweimal „Radamanth“ (S. 94f.) nennt. Hans Castorp übernimmt diese Metapher in einem Selbstgespräch (S. 247) wie selbstverständlich, obwohl er sich über die Bedeutung der mythologischen Anspielung nicht recht im Klaren ist. In einem späteren Gespräch mit Settembrini kommt er, nun selber Patient und im Bette liegend, noch

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einmal auf die Sache zurück: Settembrini habe den Hofrat mit einem „Höllenrichter“ verglichen, mit „Radames“ (S. 296) nämlich. Worauf Settembrini berichtigend den vollen Namen der mythologischen Person nennt: „Radamanthys“ (296). Nun versteht Hans Castorp offenbar: „Radamanthys, natürlich! Minos und Radamanthys!“ (S. 297). Was Hans Castorp – man weiß nicht wie und warum – versteht, müßte oder muß auch der Leser wissen, ohne daß es ihm der Autor expressis verbis sagt: daß nämlich die Zeus-Söhne Minos und Rhadamanthys, Könige in Kreta, ob der Gerechtigkeit ihres irdischen Lebenswandels nach ihrem Tode in der Unterwelt als Richter eingesetzt wurden, um über Schuld und Unschuld der toten Seelen ein gerechtes Urteil zu fällen. Der Name des Unterweltsrichters Rhadamanthys begegnet dem Leser im Verlaufe des Romans nicht weniger als achtmal als Chiffre und Synonym für Hofrat Behrens, viermal in der Kurzform „Radamanth“ (S. 489, 633, 842f.), viermal in der vollständigen Form „Radamanthys“ (S. 674, 795, 947, 1072), wobei überall die inkorrekte Schreibweise ohne aspirierten H-Laut (Rh) angewendet wird. Korrekte Orthographie war des Autors Sache notorisch nicht und offenbar auch nicht Sache des Lektors, der den Fehler hätte bemerken und emendieren müssen. Der Wechsel in der Namensform läßt hier ebenso wenig eine literarische Absicht erkennen wie im Falle Vergils, wohl aber verfolgt die leitmotivische Verwendung der mythologischen Namens-Chiffre eine literarische Absicht, insofern der Leser immer wieder daran erinnert wird, was die hochgelegene Luxus-Lungen-Heilanstalt, in die es Hans Castorp verschlagen hat, recht eigentlich ist: ein unterweltlicher Ort au fond, in dem der leitende Arzt über die armen Seelen der Kranken ebenso inappellabel gebietet wie der Unterweltsrichter Rhadamanthys über die Schatten der Toten im Hades. Die mythologische Vorstellung von der Unterwelt, die die Nennung der mythischen Totenrichter evoziert hat, wird im Verlauf des Gespräches festgehalten. Settembrini vergleicht nämlich Hans Castorp mit Odysseus: „Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich?“ (S. 90). Diese Anspielung auf die Unterweltsfahrt des Odysseus, die der elfte Gesang der Odyssee erzählt, krönt Settembrini mit dem Zitat zweier Verse aus der berühmten Begrüßungsrede, die der tote Achill an Odysseus richtet (Od. 11.475f.): „Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen“ (S. 90). Die deutschen Hexameter verdankt Settembrini, oder besser: verdankt der Autor der Odyssee-Übersetzung von Johann Heinrich Voss (1781), die im deutschen Bildungsbürgertum bis ins 20. Jahrhundert hinein ein nachgerade kanonisches Ansehen hatte. Wie Settembrini den Beginn des Gespräches in den Horizont antiker Unterweltsmythen gestellt hat, so beendet er es auch, nun allerdings nicht

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aus griechischer, sondern aus römischer Poesie schöpfend. Joachim Ziemßen drängt zur Liegekur, und Settembrini willfährt seinem Drängen: „Gehen wir also. Wir haben den gleichen Weg, – ‘rechtshin, welcher zu Dis, des Gewaltigen, Mauern hinanstrebt’.“ (S. 96). Wie die Erwähnung des römischen Totengottes Dis anzeigt, entstammt dieses HexameterZitat einer Unterweltserzählung, die in der lateinischen Literatur beheimatet ist. Den Autor nennt Settembrini sogleich: „Ah, Virgil, Virgil!“ (S. 96). Aus diesen Vorgaben kann und soll der gebildete Leser erschließen, daß das Zitat aus der Aeneis stammt, und zwar aus dem sechsten Buche, in dem Vergil, in konkurrierender Nachahmung Homers, die Unterweltsfahrt des Trojaners Aeneas schildert. Das Zitat selbst, dessen deutsche Fassung sich der Aeneis-Übersetzung von J.H. Voss (1822) verdankt, stammt aus der kurzen Rede der Prophetin Sibylla, die Aeneas auf seiner Fahrt begleitet und ihm den richtigen Weg weist: Nicht links solle er sich halten, wo im Tartaros die schweren Frevler büßen, sondern nach rechts gehen, um zum Palast des Dis und ins Elysium zu gelangen (Aen. 6,541). Tiefsinniger kann man kaum zitieren. Nach rechts sich wendend, wie Aeneas, gelangen Settembrini und die Vettern zum „Schreckenspalast“ (S. 96) des Unterweltsrichters Behrens, wo sie jene luxuriöse Atmosphäre erwartet, die man elysisch nennen kann, wenn man nicht vergißt, daß auch das Elysium Teil der Unterwelt ist und ausschließlich Tote beherbergt. Nachdem Settembrini den Namen Vergils vocativisch genannt hat, konstatiert er den singulären Rang dieses Dichters: „er ist unübertroffen“ (S. 96). Hierauf präzisiert er: „Ich glaube an den Fortschritt, gewiß. Aber Virgil verfügt über Beiwörter, wie kein Moderner sie hat“ (S. 96f.). In dieser Auslassung verschränken sich zwei Gedanken, ein literarhistorischer und ein weltanschaulicher: daß nämlich die poetische Singularität Vergils auch und vor allem in der Auswahl der Adjektive gründe und daß angesichts ästhetischer Vollkommenheit das zivilisationsliterarische Dogma vom Fortschritt suspendiert werden müsse. Weshalb der poetische Ruhm Vergils ausgerechnet auf dem Gebrauch der Adjektive beruhe, bleibt Settembrinis Geheimnis und also auch das Geheimnis des Autors – ein Geheimnis, das auch der weltberühmte Vergil-Spezialist, dem diese Studie gewidmet ist, nicht lösen zu können bekannt hat. Gar nicht rätselhaft ist demgegenüber Settembrinis Eingeständnis, daß der Fortschrittsgedanke, der dem Zivilisationsliteraten so teuer ist, außer Kraft gesetzt wird, wenn man ihn mit einer als mustergültig anerkannten Tradition konfrontiert. Der Zivilisationsliterat pflegt diesem Dilemma auszuweichen, indem er die großen Texte im Sinne seiner Ideologie interpretiert: So hält es Settembrini mit Horaz (S. 369), so hielt es, wenn man Settembrini glauben darf, Carducci mit Dante (S. 242). Allein, diese ohnehin fragwürdige Ausflucht versagt, wo es nicht um die inhaltliche, sondern

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um die formale Interpretation des Mustergültigen geht. In aestheticis gilt kein vermittelndes Ausweichen: Entweder man erkennt das FormalMustergültige an und gibt zumindest in diesem Punkte dem Fortschrittsgedanken Abschied, oder man leugnet das ästhetisch Vollkommene und erliegt so, bloß um der Fortschrittsideologie willen, einem unfruchtbaren Krittler- und Nörglertum. Es ehrt Settembrini, daß er, was Vergil, was besonders die Sprache Vergils betrifft, der ersten Alternative den Vorzug gegeben hat, auch wenn und weil die partielle Preisgabe des Fortschrittsgedankens eine geistige Schwäche und Inkonsequenz signalisiert, wie sie jeder in sich geschlossenen Ideologie notwendig innewohnt. Auf dem Heimweg trägt Settembrini lateinische Verse vor – zweifellos Vergilische Verse, und zwar, wie der Autor hinzufügt „in italienischer Aussprache“ (S. 97). Auch im Falle des Placet experiri hatte der Autor zweimal (S. 150 & 155; vgl. 539) darauf hingewiesen, daß Settembrini das Lateinische in italienischer Aussprache zitiere. Die literarische Absicht liegt auf der Hand: Dem Leser soll bewußt gemacht werden und bewußt bleiben, daß die geistige Heimat des Zivilisationsliteraten, die Latinität, eine Einheit ist, insofern die romanischen Sprachen und das Italienische ganz besonders dem Lateinischen sprachlich und also auch gedanklich zutiefst verpflichtet sind. Leo oder Leib Naphta, der geistige Widerpart und Gegenspieler Settembrinis, entstammt der Kultursphäre des östlichen Judentums. Sein Vater, in einem Dorf an der galizisch-wolhynischen Grenze beheimatet, war ein jüdischer Metzger (Schächter oder Schochet), zugleich ein rabulistischer Ausleger der Thora und ein medizinierender Wundermann (Zadikk). Er wird während eines Pogroms ermordet, und die Familie flieht in eine kleine Stadt in Vorarlberg (Feldkirch). Hier überwirft sich der junge Naphta, dessen scharfer und querulatorischer Intellekt, ein Erbteil des Vaters, früh hervortritt, mit seinem Lehrer, dem Kreisrabbiner, den die wühlerischen, bald auch revolutionär-gesellschaftskritischen Ansichten seines Zöglings zunehmend entsetzen. Den Entwurzelten gewinnt der Jesuitenpater Unterpertinger für den Katholizismus: Naphta konvertiert und findet Aufnahme im Jesuiten-Gymnasium in Feldkirch. Auch hier bewährt sich Naphtas überragende Intellektualität, so daß die Oberen seinem Wunsche, Theologie zu studieren, willfahren. Das Studium an der Jesuiten-Universität im holländischen Falkenburg muß Naphta jedoch krankheitshalber abbrechen und kehrt als Lehrer der Humaniora und der Philosophie in das Gymnasium in Feldkirch zurück, ohne es in der Laufbahn des Ordens weiter als bis zum Subdiakonat zu bringen. Eine weitere Verschlimmerung des Lungenleidens erzwingt einen Kuraufenthalt im Hochgebirge, der, vom Orden bezahlt und durch eine Tätigkeit als Latein-

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lehrer am Krankengymnasium gerechtfertigt, nunmehr ins sechste Jahr geht, ohne daß ein Ende abzusehen wäre … (S. 663-673). Wie verschieden Naphta und Settembrini nach Herkunft, Lebenslauf und Denken auch sein mögen, so haben sie doch eines gemeinsam: daß ihr Lebensplan – hier das Priesteramt, dort die praktische Tätigkeit als politischer Agitator – durch die Krankheit unterbrochen und vereitelt worden ist, so daß der Autor die beiden geistigen Kontrahenten nicht von ungefähr in ein und derselben bescheidenen Privatunterkunft angesiedelt hat, fernab vom Sanatorium, dessen finanziellen Ansprüchen sie auf Dauer nicht nachkommen können, auch wenn es Naphta bei alledem vergleichsweise komfortabel getroffen hat, komfortabler jedenfalls als der mittellose Settembrini, der Hans Castorp eröffnet, Naphta werde durch den Jesuitenorden „von hinten“ versorgt (S. 618; vgl. S. 910). Daß der jüdische Konvertit und Jesuit Naphta anders denken würde als der in der liberalen Sphäre des italienischen Humanismus erzogene Settembrini, hätte man sich gedacht. Der Autor aber hat gewollt, daß der eine nicht nur anders denkt als der andere, sondern daß beider Denken in diametralem Gegensatz stehe – ein Antagonismus, der dadurch zustande kommt, daß beide ihre Weltanschauung, die durch die Aufnahme fremder Denkinhalte jeweils ein durchaus originelles Gepräge annimmt, durch den dialektischen Wettstreit befeuert, jeweils in extremis formulieren und artikulieren. Die Weltanschauung Naphtas erschließt sich am besten, wenn man ihre Kernbegriffe mit jenen Kernbegriffen kontrastiert, die der Zivilisationsliterat Settembrini favorisiert: An die Stelle der Politik, in der sich für Settembrini Denken und Handeln erfüllt, setzt Naphta die Religion, an die Stelle der Freiheit den Terror, und der fortschrittlichen Weltzivilisation stellt Naphta die klassenlose Gesellschaft gegenüber, in der sich die Gotteskindschaft des Menschen, von der das Mittelalter geträumt habe, endlich verwirklichen werde. Das Religiöse vertritt Naphta in jener extremen Form eines militanten Katholizismus, wie ihn der Gründer des Ordens, Ignatius von Loyola (1491-1556), geprägt hat, der für Naphta als geistiger Führer eine ähnliche Rolle spielt wie Carducci für Settembrini. Die Militanz der jesuitischen Theologie, die im Ordensreglement, das Ignatius selbst entworfen hat, Ausdruck gefunden hat, richtet sich sowohl nach innen wie nach außen: nach innen gegen die Mitbrüder des eigenen Ordens, denen unbedingtester Gehorsam gegenüber den Oberen, dem Papst und der Kirche abverlangt wird bis hin zur Selbstaufgabe der Persönlichkeit – der berüchtigte Kadavergehorsam (vgl. S. 688); nach außen gegen alle Gegner und Feinde des orthodoxen römischen Katholizismus,

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gegen die alle Mittel erlaubt sind, sie zu vertilgen, namentlich auch Lüge und sogar Mord. Im Sinne dieses extremen geistlichen Reglements verwirft Naphta den demokratischen Individualismus, das Palladium des Zivilisationsliteraten, und propagiert und favorisiert stattdessen den politischen Terror: „Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist – der Terror“ (S. 604). Den Geist des politischen Terrors findet Naphta wieder in der modernen Bewegung des Kommunismus, dessen antikapitalistische Stoßrichtung gegen die liberale und bürgerliche Verrottung ziele und danach trachte, die von der Kirche des Mittelalters propagierte Gotteskindschaft des Menschen wiederaufzurichten oder doch ihrer Wiederaufrichtung vorzuarbeiten. Die Diktatur des Proletariats erweise sich so als „politisch-wirtschaftliche Heilsforderung der Zeit“, und ebensowenig wie die Kirche unter Gregor VII. (1073–1085) werde das Proletariat seine Hand „zurückhalten dürfen vom Blute“ (S. 608f.). Denn: „Seine Aufgabe ist der Schrecken zum Heile der Welt und zur Gewinnung des Erlösungsziels, der staats- und klassenlosen Gotteskindschaft“ (S. 609). Die Verbindung zwischen jesuitischer Theologie und kommunistischer Ideologie, der Naphta das Wort redet, ist entschieden eine kühne gedankliche Konstruktion – viel kühner als die Verbindung zwischen der zivilisationsliterarischen Weltanschauung mit dem Freimaurertum, wie sie Settembrini vertritt. Die Freimaurerei, die Naphta in einem Vier-Augen-Gespräch mit Hans Castorp einmal bissig als „die bourgeoise Misere in Klubgestalt“ (S. 773) bezeichnet, läßt sich sehr wohl mit der Ideologie des Zivilisationsliteraten vereinigen; sie ist gewissermaßen deren geheimbündlerischer Ausdruck – ein merkwürdiges Phänomen, insofern sich die Aufklärung in Form eines Geheimbundes darstellt, der, wenn man Naphta glauben darf, zu Zeiten nicht davor zurückgeschreckt sei, sich mit der mittelalterlichen Alchemie einzulassen, aus deren Fachsprache Naphta Hans Castorp die lateinischen Termini „physica mystica“, „lapis philosophorum“, „res bina“ und „prima materia“ zu Gehör bringt (S. 769f.). Jesuitische Theologie hingegen läßt sich mit der prononciert atheistisch-materialistischen und sozioökonomisch orientierten Ideologie des Kommunismus nicht in Einklang bringen – es sei denn im gedanklichen Horizont des antiindividuellen und antikapitalistischen religiösen Terrorismus, wie ihn Naphta hier künstlich herstellt. Ganz richtig bemerkt denn auch Settembrini zu Hans Castorp über die kühnen Theorien Naphtas, jener trachte „nach neuen Kombinationen, Anpassungen, Anknüpfungen, zeitgemäßen Abwandlungen“ (S. 619).

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Es liegt auf der Hand, daß das Lateinische und die Latinität in Naphtas terroristischem Denken eine ganz andere Rolle spielen und ganz anderen Zwecken dienstbar gemacht werden, als sich der Zivilisationsliterat, geborgen und etabliert im Horizont eines lateinischen Humanismus und lateinischer Humanität, auch nur vorzustellen in der Lage ist. Das wird besonders deutlich im Falle des Exerzierreglements des Ignatius, das der Autor nicht nur ausführlich referiert, sondern auch wörtlich zitiert. Aus der lateinischen Übersetzung des Reglements (Exercitia spiritualia, erschienen 1548) führt der Autor Kernbegriffe auch auf Lateinisch an: „insignes esse“, „ex supererogatione“ „rebellio carnis“, „agere contra“ und „resistere“ (S. 675). Wenig später ergänzt Naphta diese Liste im Gespräch noch durch vier weitere lateinische Zitate aus derselben Quelle (S. 677 & 683). Damit nicht genug. Der Autor zitiert auch aus dem spanischen Urtext des Reglements (Exercicios espirituales, verfaßt 1521-1523, endgültig niedergeschrieben 1541, erschienen 1671). Naphta, so heißt es, habe sich mit Vorliebe spanischer Ausdrücke bedient: Er spricht von den „dos banderas“, den beiden Fahnen, unter denen sich in endzeitlicher Schlacht die geistlichen Truppen vor Jerusalem unter Christus als „capitán general“ sammeln würden, während Luzifer als „caudillo“ die höllischen Regimenter vor Babylon kommandiere (Exercicios espirituales, 2. Woche, 4. Tag, 1. Betr.) (S. 674f.; vgl. S. 705f.). Es leidet keinen Zweifel, daß der Autor diese Fülle fremdsprachlicher Zitate mit Vorbedacht angeführt hat. Denn indem neben dem Lateinischen auch das Spanische in Kraft tritt im Denken Naphtas, wiederholt sich mutatis mutandis jene Konstellation, die für das Denken Settembrinis kennzeichnend war, insofern hier das Lateinische in Verbindung mit dem Italienischen auftrat. Aber während sich das Italienische mit dem Lateinischen verbindet, um im Horizont der Latinität die demokratischhumanitäre Weltanschauung des Zivilisationsliteraten zu gewährleisten, verbindet sich das Lateinische mit dem Spanischen zu einer ganz anderen Latinität, welche nicht zivilisationsliterarischer Menschenfreundlichkeit, sondern militantem, menschenverachtendem Terror das Wort redet. Der Dissens liegt darin begründet, daß die beiden Kontrahenten jeweils auf eine andere Epoche des Lateinischen rekurrieren, um Sprache und Geist jener Epoche jeweils ihren ideologischen Zwecken dienstbar zu machen. Das Spanische beherrscht Naphta, anders als Settembrini das Italienische, nicht als native speaker, sondern nur bruchstückhaft und partiell, theologische Leitbegriffe des spanischen Ordensgründers zitierend. Im Lateinischen dagegen ist Naphta nicht weniger firm als Settembrini, auch wenn er diese tote Kultursprache ganz anders erlernt hat als jener.

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Bereits der Kreisrabbiner in Feldkirch hat Naphta nicht nur im Hebräischen, sondern auch in den Klassischen Sprachen unterrichtet (S. 666). Daß er auf dem Jesuiten-Gymnasium in Feldkirch gründlich Latein gelernt hat, versteht sich von selbst. Im Novatiathaus in Tisis sprach man dann offenbar ausschließlich Lateinisch. „Ad haec quid tu?“, fragt Naphta querulatorisch seinen Exerzitienmeister im dialektischen Diskurs; worauf jener ihn zum Gebet vermahnt, nicht ohne den Zweck des Gebetes lateinisch zu formulieren: „ut in aliquem gradum quietis in anima perveniat“ (S. 672). Dieser gründlichen Ausbildung im Lateinischen, die sich während des Theologie-Studiums in Falkenburg noch vertieft haben muß, verdankt Naphta seine Anstellung als Lateinlehrer am Krankengymnasium Fridericianum in Davos, durch die der Zwangsaufenthalt des Lungenkranken im Hochgebirge „beschönigt“ (S. 673) wird (vgl. auch S. 467, 617, 784). Hiernach kann nicht verwundern, daß Naphta im Gespräch immer wieder das Lateinische heranzieht und verwendet, zumal er darauf vertrauen kann, daß Settembrini, aber auch Hans Castorp in dieser Sprache hinlänglich bewandert sind, um zu verstehen, was er sagt. Das Lateinische tritt im ersten Streitgespräch zwischen Naphta und Settembrini sogleich in Kraft, insofern Settembrini Naphta den Vettern als „princeps scholasticorum“ (S. 564) vorstellt und so zugleich jene Epoche der Latinität kennzeichnet, die Naphta favorisiert. Das Spiel mit dem Lateinischen setzt sich alsbald fort, indem Naphta Settembrini ironisch um eine lateinische Übersetzung des Wortes ‘Feuchtigkeit’ (humor) ersucht (S. 565). Wenig später zitiert Naphta dann einen vollständigen lateinischen Satz: „Solet Aristoteles quaerere pugnam“ (S. 566). Daß dieser Satz aus Lessings Hamburgischer Dramaturgie (70. Stück) stammt, muß nicht einmal der Sprecher wissen, geschweige denn der Leser, wenn er nur, wie Settembrini und Hans Castorp, hinreichend Latein versteht, um den Sinn des Satzes zu verstehen. Wiederum wenig später befürchtet Naphta – ebenfalls ironisch –, Settembrini werde ihn einen „Feind der Menschheit“ nennen und fügt diesem Tadelwort, das sich der Kriegspolemik der Entente gegen Deutschland verdankt, sogleich die lateinische Übersetzung bei: „inimicus humanae naturae“ (S. 568), auf daß der Horizont der Latinität in seinen Ausführungen nicht in Vergessenheit gerate. Sehr prononciert erscheint das Lateinische sodann, als Naphta von der „Idee des Homo Dei“ (S. 570) spricht. Gelehrter Spürsinn hat festgestellt, daß dieser Ausdruck auf den Bußprediger Berthold von Regensburg (um 1210-1272) zurückgeht, der so die Gottesebenbildlichkeit des Menschen interpretiert, von der die Genesis (1,26) spricht: „Homo Dei, gotes mensche“. Wichtiger indes als die Herkunft der Formel ist ihre leitmotivi-

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sche Verwendung im weiteren Verlauf des Romans (S. 589, 621, 719) als Chiffre für den religiös beunruhigten, suchenden Menschen. Die Reminiszenz an das Alte Testament wird beschlossen durch ein Zitat: „assument pennas ut aquilae“ (S. 577), zitiert Naphta aus den Prophezeiungen des Jeremias (40,30f.), um ironisch auf Settembrinis Neigung zum Zivilisationskrieg gegen Österreich-Ungarn anzuspielen – eine Anspielung, die auch der Gebildete nicht ohne weiteres identifizieren können wird; auch hier genügt, daß er den lateinischen Text versteht. Daß Naphta hier das Alte Testament (wie später noch zweimal das Neue) lateinisch zitiert, ist allerdings bedeutsam, weil es den Katholiken und Jesuiten kennzeichnet: Der Rückgriff auf die lateinische Übersetzung des hebräischen bzw. griechischen Urtextes gewährleistet die dogmatische Deutungshoheit der Römischen Kirche über den Text der Heiligen Schrift. Weniger entschieden tritt die Lateinische Sprache im zweiten Streitgespräch in den Vordergrund, das Naphta und Settembrini miteinander führen. Allerdings gebraucht Naphta gleich zu Beginn des Gespräches, noch bevor Settembrini anwesend ist, gegenüber den Vettern den lateinischen Ausdruck „Signum mortificationis“ (S. 594), um die gotische Pietà in seiner Wohnung als „Mahnzeichen zur Abtötung“ zu kennzeichnen. Wenig später verweist Naphta Hans Castorp auf die Schrift des Papstes Innozenz III. De miseria humanae conditionis (aus dem Jahre 1195), in der der pessimistisch-asketische Geschmack der Gotik, wie ihn die Pietà bildlich zeige, literarischen Ausdruck finde (S. 594). Hans Castorp zeigt sich interessiert an der Lektüre dieses lateinischen Werkes und erhält denn auch am Ende des Gespräches das Werk, „einen morschen Pappband“ (S. 611), leihweise von Naphta ausgehändigt. Nach diesem Präludium spricht Naphta im weiteren Verlauf des Gespräches, an dem nun auch Settembrini teilnimmt, nur noch einmal lateinisch: Er zitiert, um das voluntaristische Element nachzuweisen, das jedem Beweise innewohne, auf Lateinisch die berühmte Schlußformel, die antike und mittelalterliche Gelehrsamkeit dem griechischen Mathematiker Eukleides (um 300 v. Chr.) abgelauscht hat: „quod erat demonstrandum“ (S. 599). Im dritten Streitgespräch, das gleich die lateinische Überschrift Operationes spirituales (S. 663) trägt, tritt das Lateinische in Naphtas Rede wieder stärker hervor. Er zitiert, wie zuvor schon der Autor (S. 675), Kernbegriffe aus der lateinischen Übersetzung der Exerzitien des Ignatius von Loyola: „amor carnalis“ und „commoda corporis“ (S. 677) sowie „in statu degradationis“ und „pudoris et confusionis sensus“ (S. 683), nicht ohne am Schluß noch einmal expressis verbis darauf hinzuweisen, was den Gesprächsteilnehmern bzw. dem Leser womöglich entgangen sein könnte:

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daß alle jene Formeln und Begriffe dem theologischen Regelwerk des Heiligen Ignatius entstammen. Wenig später zitiert Naphta aus der Bibel, diesmal aus dem Neuen Testament: „Quis me liberabit de corpore mortis hujus?“ (S. 684). Anders als im Falle des Jeremias-Zitates dürfte hier nicht nur der Gelehrte, sondern auch der bibelfeste Leser gewußt haben, daß dieses Zitat aus dem Römerbrief (7.24) des Apostels Paulus stammt, den Naphta selbstredend in der kanonischen lateinischen Übersetzung des Kirchenvaters Hieronymus anführt. Im übrigen verfügt auch Hans Castorp über ein lateinisches PaulusZitat (1. Kor. 7,31), in dem sich ebenfalls die weltverneinende Theologie des frühen Christentums ausspricht, der Naphta das Wort redet: „Praeterit figura hujus mundi“, sagt er zu sich selbst in der Schneeinsamkeit; „in einem Latein, das nicht humanistischen Geistes war“, fügt der Autor hinzu. Und er fügt noch hinzu, was den Leser kaum überraschen dürfte: „er hatte die Redensart von Naphta gehört“ (S. 720). In der Tat: Das Latein, das Naphta vorbringt, ist nicht humanistischen Geistes; es stammt aus der Sphäre spätantiker und vor allem scholastischmystischer Geistigkeit, die Naphta einmal, zur Empörung Settembrinis, als „klassisches Mittelalter“ (S. 566) bezeichnet, insofern man damals dem Geiste und dem Glauben gelebt und dem Heile der Seele höheren Wert zuerkannt habe als dem Körper und allen weltlichen und diesseitigen Belangen. Über Art und Ursprung dieses Lateins, das die Philologie als Mittellatein bezeichnet, um es gegen das antike Latein einerseits und andererseits gegen das Neulatein der Humanisten abzugrenzen, belehrt Hans Castorp seinen Vetter und also auch den Leser sehr gründlich, als er am Totenbett des Herrenreiters steht: „Requiescat in pace […]. Sit tibi terra levis. Requiem aeternam dona ei, Domine. Siehst du, wenn es sich um den Tod handelt […], so tritt auch wieder das Latein in Kraft […]. Aber es ist nicht aus humanistischer Courtoisie, daß man Lateinisch redet zu seinen Ehren, die Totensprache ist kein Bildungslatein […], sondern von einem ganz anderen Geist, einem ganz entgegengesetzten, kann man wohl sagen. Das ist Sakrallatein, Mönchsdialekt, Mittelalter“. Und er fügt hinzu: „Settembrini fände keinen Gefallen daran, es ist nichts für Humanisten und Republikaner und solche Pädagogen“ (S. 445). Hiernach kann nicht verwundern, daß die lateinischen Autoritäten, die Naphta im Gespräch anführt, um seine terroristisch-kommunistisch inspirierte Theologie zu rechtfertigen und zu befestigen, nicht dem Klassischen Latein entnommen sind, sondern vielmehr teils aus der Spätantike, teils aus der frühen Neuzeit stammen, vor allem aber der Sphäre der mittelalterlichen Theologie angehören.

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Was die Spätantike betrifft, so verweist Naphta einmal auf die Väter der Kirche im allgemeinen (S. 607), einmal auf die Lehrer der „jungen Kirche“, die sogenannten Apologeten (S. 784); namentlich erwähnt er den Apologeten Laktanz (um 300) (S. 600f.) und den Kirchenvater Augustin (354-430) (S. 599). Ins Hohe Mittelalter, die Blütezeit der Scholastik wie der Mystik, gehören Gregor VII. (1073-1085) (S. 606 f., 609), Bernhard von Clairvaux (1090-1153) (S. 568), Innozenz III. (1160-1216) (S. 594, 611), Bonaventura (1221-1274) (S. 566) und Thomas von Aquin (12251274) (S. 566, 608). Der frühen Neuzeit schließlich gehört Ignatius von Loyola (1491-1556) an, der Begründer des Jesuitenordens, den der Jesuit Naphta – ironischerweise – nur einmal namentlich zitiert (S. 683), sowie der Mystiker Miguel de Molinos (1640-1697), der ebenfalls nur einmal zitiert wird (S. 569). Gegenüber dem Klassischen Latein bewahrt Naphta ein entschieden feindseliges Schweigen, das an Mißachtung grenzt. Er nennt und zitiert aus dieser Sprachsphäre nur einen einzigen Autor mit Namen: Vergil. Nicht anders hatte es Settembrini gehalten. Diese Übereinstimmung ist kein Zufall, sondern literarisch gewollt: Vergil, der größte römische Dichter, fungiert als pièce de résistance, an der sich die hermeneutischen und also auch ideologischen Gegensätze der beiden Kontrahenten im Geiste besonders eindrucksvoll und nachdrücklich manifestieren können und sollen. Anders als Settembrini kommt Naphta nicht sogleich auf Vergil zu sprechen, sondern erst im Verlaufe des zweiten Streitgespräches, das er mit Settembrini vor den Vettern führt. Die Rede ist vom nationalen Staat, den Naphta verachtet, Settembrini aber für einen erwünschten Zwischenund Vorzustand der demokratischen Weltrepublik ansieht. Naphta zeigt sich über Settembrinis Hochschätzung des Nationalstaates orientiert und zitiert: „‘Über alles geht die Vaterlandsliebe und die grenzenlose Ruhmesbegier’“. Nachgerade wegwerfend fügt er hinzu: „Das ist Vergil“ (S. 605). In der Tat zitiert Naphta hier, diesmal in Prosa, einen berühmten Vers aus dem sechsten Buch der Vergilischen Aeneis (6,823): Anchises, der Aeneas in der Unterwelt einen Vorblick auf die römische Geschichte gibt, erzählt, daß der Freiheitskämpfer Brutus im Namen der Freiheit seine Söhne wird hinrichten lassen, da sie einen bewaffneten Umsturz planten. „Der Unglückliche!“ – Infelix! – kommentiert Anchises oder vielmehr der Dichter. Wie auch immer die Nachwelt über diese Taten urteilen möge: vincet amor patriae laudumque immensa voluptas.

Dieser Vers kontrastiert die wahren Motive des Brutus mit dem Urteil der Nachwelt und begründet so das Unglück, das ihm zuteil werden wird: Nicht Vaterliebe wird sein Handeln bestimmen, sondern Liebe zum Va-

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terland und unermeßliche Begierde nach Ruhm – ein durchaus kritischer Kommentar des Dichters, ganz dazu angetan, die Tat des Brutus und das lobende Urteil der Nachwelt über Brutus in fragwürdigem Licht erscheinen zu lassen. Die kritische Reserve gegen das traditionelle Brutus-Lob, wie sie der Dichter hier unüberhörbar zum Ausdruck bringt, hat selbstredend nicht verhindert, daß man jenen Vers, in dem sie sich ausspricht, aus dem Zusammenhang gerissen hat, um ihn für die Zwecke einer platten nationalistischen Ideologie zu mißbrauchen. Naphta folgt dieser mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Verses, um seinerseits Vergil, wenn nicht als gedanklichen Erfinder, so doch als maßgeblichen Propagator des nationalen Staates in Anspruch zu nehmen. Hiernach hat Settembrini nicht mehr viel zu tun, um Vergil vollends für die zivilisationsliterarische Ideologie zu vereinnahmen: „Sie korrigieren ihn [Vergil]“, bemerkt Naphta zu Settembrini, „durch etwas liberalen Individualismus, und das ist die Demokratie“ (S. 605). Die ebenso unverhohlene wie unberechtigte Kritik an Vergil als Kronzeugen für den nationalen Staat ist das Präludium einer ungleich massiveren Kritik, die Naphta zu Beginn des dritten Streitgespräches äußert und den heftigen Widerspruch Settembrinis hervorruft, so daß Vergil hier und jetzt unmittelbar in den Streit der beiden Geistes-Kontrahenten hineingezogen wird. Dieser beginnt damit, daß Settembrini die Rückkehr der Madame Chauchat zum Anlaß nimmt, auf Dantes Göttliche Komödie anzuspielen: „Ihre Beatrice kehrt wieder?“, bemerkt er zu Hans Castorp, „Nun, ich will hoffen, daß Sie auch dann die leitende Freundeshand Ihres Virgil nicht ganz verschmähen werden!“ (S. 783). Diese Äußerung Settembrinis, die der Autor selbst als „harmlos“ bezeichnet, führt zu einem „unerschöpflichen Geisteszwist“ (S. 783), der das Gespräch in der nächsten Zeit beherrscht. Es beginnt damit, daß Naphta, der, wie dem Leser hier mitgeteilt wird, gegen Vergil und gegen die lateinische Poesie überhaupt „schärfste Geringschätzung“ (S. 783) bekundet hatte, die Gelegenheit wahrnimmt, um über den römischen Dichter Vergil, den Settembrini über alles schätzte, herzuziehen. Es sei eine „äußerst gutmütige Zeitbefangenheit des großen Dante“ gewesen, bemerkt Naphta, diesen „mittelmäßigen Versifex“ (S. 783) in seinem Gedichte so hoch zu ehren. Naphta weiter: „Was es denn weiter auf sich gehabt habe mit diesem höfischen Laureatus und Speichellecker des julischen Hauses, diesem Weltstadtliteraten und Prunkrhetor ohne einen Funken Produktivität, dessen Seele, wenn er eine gehabt habe, jedenfalls aus zweiter Hand gewesen, und der überhaupt kein Dichter, sondern ein Franzose in augusteischer Allongeperücke gewesen sei!“ (S. 784).

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Auf diese grobe Attacke entgegnet Settembrini, er zweifele nicht daran, daß Naphta seine „Verachtung der römischen Hochzivilisation“ (S. 784) mit seinem Amte als Lateinlehrer in Einklang zu bringen wisse. Auch möge er – Naphta – bedenken, daß das von ihm so hochgehaltene Mittelalter der Größe Vergils auf seine einfältige Art salutiert habe, indem es aus ihm einen „weisheitsmächtigen Zauberer“ (S. 784) gemacht habe. Falsch, so Naphta, vielmehr habe hier das Mittelalter einmal mehr seine Schöpferkraft bewährt „in der Dämonisierung des Überwundenen“ (S. 784). Auch seien die Lehrer der „jungen Kirche“ nicht müde geworden, vor den heidnischen Philosophen und Dichtern zu warnen, namentlich davor, „sich mit der üppigen Beredsamkeit des Virgil zu beflecken“ (S. 784). In der heutigen Zeitenwende könne man diesen Protest wieder nachfühlen. Settembrini solle überzeugt sein, daß er – Naphta – sein Amt als Lateinlehrer mit jener „reservatio mentalis“ (S. 784) betreibe, wie sie einem klassisch-rhetorischen Erziehungsbetrieb gegenüber geboten sei, dessen Abschaffung nur noch eine Frage der Zeit sei. Die Frage sei nämlich an der Tagesordnung, ob die klassisch-humanistische Überlieferung, anders als sie glaube, nicht menschlich-ewig sei, sondern bloß Zubehör der bürgerlich-liberalen Epoche und mit ihr sterben werde. Es sei nicht ausgemacht, daß die Entscheidung in dieser Sache im Sinne jenes „lateinischen Konservatismus“ (S. 785) fallen werde, wie ihn Settembrini vertrete. Mit dieser boshaften Äußerung gerät das Gespräch schließlich vollends in die Weite, nicht ohne daß der Autor rückblickend anmerkt, daß Settembrini „mit seinem kleinen Scherz vom Lateiner Virgil“ (S. 788) den Anstoß gegeben habe zu solchen gedanklichen Weitläufigkeiten. Daß Naphta Vergil geringschätzt, hat der Leser bereits erfahren. Neu für den Leser ist, daß Naphta der lateinischen Poesie in toto „schon mehr als einmal“ (S. 783) Geringschätzung bekundet habe – eine Generalverdammung, die Naphtas allerdings krassen Widerwillen gegen Vergil mit dem Tonzeichen des Exemplarischen versieht: Naphta verachtet und verwirft die römische Hochzivilisation, wie sie sich in der heidnischvorchristlichen Epoche etabliert hat, ebenso kompromißlos und radikal, wie er Vergil verwirft, ihren hervorragendsten Repräsentanten. Über Herkunft und geistigen Ursprung dieser negativen Auffassung des Römertums gibt der Autor einen Fingerzeig. Am Ende seiner fulminanten Invektive leugnet Naphta, daß Vergil überhaupt ein Dichter gewesen sei und nicht vielmehr ein Franzose in augusteischer Allongeperücke (S. 784). Mit dieser einigermaßen überraschenden Schlußbemerkung nimmt Naphta den römischen Dichter und mit ihm im Grunde die ganze Augusteische Kultur für die französische Kultur der Epoche Ludwig XIV. in Haft, in der die Allongeperücke notorisch à la mode gewesen ist.

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Die Kritik an der Kultur und namentlich an der Literatur jener Epoche, während der das Französische ganz Europa dominiert hat, ist nun ein fundamentales Ereignis der deutschen Geistesgeschichte. Gotthold Ephraim Lessing (Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, 1759-1765; Laokoon, 1766; Hamburgische Dramaturgie, 1767-1769) und Johann Gottfried Herder (Fragmente zur deutschen Litteratur, 1767) haben in ihren literaturtheoretischen und literaturkritischen Schriften mit Verve gegen die damals als mustergültig angesehene französische Literatur – namentlich gegen das französische Drama – polemisiert und dieser reglementierten und rhetorisch orientierten klassizistischen Form der Dichtung die Griechen und Shakespeare als die wahren literarischen Musterbilder gegenübergestellt. Die Kritik Herders und Lessings war in Deutschland überaus folgenund erfolgreich: Shakespeare und die Griechen bestimmen im 19. Jahrhundert im wesentlichen die geistige Kultur Deutschlands und verhelfen ihr zu triumphaler Eigenständigkeit und Größe, nachdem sie im 18. Jahrhundert wegen der Dominanz des Französischen kaum zu eigener Entwicklung zu gelangen vermochte. Noch bedeutsamer als die Begegnung mit Shakespeare, der durch die Übersetzung August Wilhelm Schlegels (1797-1810) nachgerade auch ein deutscher Autor geworden ist, war die Begegnung mit den Griechen. Daß die Griechen – um mit Jacob Burckhardt zu reden – das „geniale Volk auf Erden“ seien, die „in allem Geistigen“ Grenzen erreicht haben, „hinter welchen die Menschheit […] nicht mehr zurückbleiben darf“, ist eine Entdeckung des deutschen Geistes, wie er sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts machtvoll etabliert und vielfältig manifestiert hat: poetisch in Goethe, Schiller und Hölderlin (um nur diese zu nennen), philosophisch in Fichte, Schelling und Hegel, literaturästhetisch und sprachwissenschaftlich in den Brüdern Schlegel und Wilhelm von Humboldt, philologisch in Friedrich August Wolf, August Boeckh, Gottfried Hermann und Friedrich Gottlieb Welcker. Diese Entdeckung des Griechischen Wunders, wie die Historiker dieses Phänomen zu recht nennen, da sie es nicht erklären können, dominiert die deutsche Geistesgeschichte dann während des ganzen Jahrhunderts und kulminiert in der existential-ästhetischen Philosophie Friedrich Nietzsches, die dem archaischen Griechentum und besonders den Vorsokratikern, die er nachgerade entdeckt hat, entscheidende Denkanstöße verdankt. Was die Griechen an Hochschätzung gewannen, das verloren, wie nicht anders zu erwarten, die Römer, die bis dahin als Maßstab und Musterbild der europäischen Kultur galten und bei den romanischen Völkern im Grunde heute noch gelten. Nicht so bei den Deutschen: Die Adaptation der griechischen Kultur durch die Römer, die damit gegebene stark klassizistisch und formalistisch ausgerichtete Art ihrer Hervorbringungen,

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das Vorwalten von Politik, Geschichte und Rhetorik bei gleichzeitigem von Unfähigkeit kommandiertem Widerwillen gegen philosophisches Denken verfiel dem Verdikt des deutschen Geistes und mußte ihm verfallen, nachdem dieser sich so entschieden auf die Griechen eingelassen hatte. Es ist dieser im deutschen Denken tiefverwurzelte soupçon gegen die Latinität, in der Naphtas Verachtung der lateinischen Poesie und namentlich die Verachtung Vergils gründet. Die tadelnden Äußerungen über Vergil, die die Radikalität, wo nicht Brutalität, die Naphtas terroristisches Denken kennzeichnet, einmal mehr hervortreten lassen, versammeln denn auch alle jene Verdikte, die die deutsche Literaturkritik gegen die römische Literatur in toto vorgebracht hat: die allzu glatte und gekonnte Manier des Versbaus („Versifex“), das Vorwalten der Rhetorik („Prunkrhetor“), die Einbeziehung der Politik in die Poesie („höfischer Laureatus“, „Speichellecker des julischen Hauses“) und, als Gipfel, der Vorwurf seelenloser Unproduktivität (ohne einen Funken von Produktivität, Seele aus zweiter Hand). Settembrini hat dieser scharfen Invektive nicht viel entgegenzusetzen, insofern sein penchant zur Klassischen Latinität nicht auf den festesten Füßen steht. Der Autor deutet das an, indem er bemerkt, daß Settembrinis „abgöttische Liebe“ zu Vergil dazu geführt habe, daß er Vergil noch „über Homer stellte“ (S. 384) – entschieden ein exzessives ästhetisches Urteil, nur zu erklären aus dem Geiste der Latinität, die Settembrinis zivilisationsliterarisches Denken prägt bis hin zu einer manifesten Voreingenommenheit in aestheticis, wie sie auch die romanischen Völker heute wohl nicht mehr billigen würden. Entsprechend schwach fällt denn auch Settembrinis Replik aus: Er verweist auf Naphtas Amt als Lateinlehrer, das dergleichen kritische Ansichten über Roms größten Dichter wohl schwerlich erlaube – ein Argumentum ad hominem, das Naphta zu widerlegen ebenso leicht fällt wie im Falle von Settembrinis Verweis auf die mittelalterliche Legende vom Zauberer Vergil. Aber auch Naphtas Argumentation ist durchaus nicht schlüssig. Wenn er darauf verweist, daß die apologetischen Väter vor der Beredsamkeit Vergils gewarnt hätten, so könnte er sich auf den Rigoristen Tertullian (um 160 – nach 220) berufen, muß aber verschweigen, daß dessen bildungsfeindliche Tendenz in der frühen Kirche durchaus nicht unumstritten gewesen ist: Die Stellung der lateinischen Apologeten zu Vergil bzw. zur heidnischen Literatur und Kultur überhaupt ist durchaus ambivalent, und durchgesetzt hat sich schließlich nicht die bildungsfeindliche Tendenz, sondern eine maßvolle, teils sogar bewundernde Anerkennung jener kulturellen Leistungen, die das Heidentum vollbracht hatte, bevor Chris-

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tus die Welt erleuchtete. Wäre es anders gewesen, so wäre die vorchristliche lateinische Literatur wahrscheinlich spurlos untergegangen. Der Streit um Vergil hat noch ein Nachspiel. Es ist noch einmal, wenn auch verdeckt, von Vergil die Rede im Roman, in einem jener späteren Streitgespräche zwischen Settembrini und Naphta, an denen nun auch Mynheer Peeperkorn teilnimmt, dessen überwältigende Persönlichkeit der Brisanz des Diskurses, wie Hans Castorp mit Erstaunen wahrnimmt, „den „Stempel des Müßigen“ (S. 887) aufdrückt. Naphta verteidigt gegen Settembrini den Demokratismus der Kirche, die, anders als Römer und Germanen, auch Sklaven, Kriegsgefangenen und Unfreien die Sukzessions- und Testierfähigkeit zugestanden habe. Das sei wohl nicht ohne Seitenblick auf den Anteil geschehen, der der Kirche bei jeder Nachlaßverfügung zugestanden habe (portio canonica), entgegnet Settembrini. Und weiter: Solche „Pfaffendemagogie“ beweise ihre ungezügelte Machtgier eben gerade dadurch, daß sie versuche, „die Unterwelt in Bewegung zu setzen, wenn die Götter begreiflicherweise nichts von einem wissen wollten“ (S. 890). Settembrini spielt hier, dem gebildeten Leser wohl bemerkbar, frei auf einen berühmten Vers aus dem siebten Buch der Aeneis (7,312) an: Juno, empört über das Bündnis zwischen Latinern und Trojanern, das ihre Rachepläne endgültig scheitern zu lassen droht, beschließt, um dennoch Unfrieden und Blutvergießen zu bewirken, die Unterweltsfurie Allecto heraufzurufen: flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.

So wie Juno hat sich auch die Kirche, wenn man Settembrini glaubt, schließlich nicht anders zu helfen gewußt, um ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen, als durch die Präokkupation des Jenseits und der Schrecknisse seiner Strafen. Denselben Vergilvers hat übrigens, wie der Autor sehr wohl wußte, kein Geringerer als Sigmund Freud als Motto seinem epochemachenden Buch Die Traumdeutung (1900) vorangestellt. Das Motto kennzeichnet die Psychoanalyse als Heraufrufung unterweltlicher Entitäten – ein Gedanke ganz im Geiste des Romans; denn auch Dr. Krokowski, der Seelenzergliederer und spätere Okkultist, fungiert ja, nicht anders als sein Herr und Meister, Hofrat Behrens, als Unterweltsrichter (S. 90). Aus alledem erhellt, daß sowohl Naphta wie auch Settembrini Vergil als pièce de résistance heranziehen, um den größten römischen Dichter jeweils in den Dienst ihrer Weltanschauung zu nehmen. Daß diese Indienstnahme jeweils nicht ohne hermeneutische Verbiegungen, ja Gewaltsamkeiten abgeht, versteht sich von selbst und wird besonders verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß die Lateinische Philologie, die solche

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ideologischen Kontroversen, wie Naphta und Settembrini sie austragen, nicht austragen muß, ihrerseits dennoch durchaus nicht im Stande war und ist, auch nur ansatzweise über Vergil einen hermeneutischen Konsens herzustellen. Deutlich ist auch soviel, daß Vergil im Roman nur als Chiffre und Paradigma fungiert für die Klassische Latinität, die für Settembrini ewiggültiger Ausdruck der Menschheitskultur ist, für Naphta dagegen nur ein Versatzstück der bürgerlich-liberalen Epoche, die demnächst abgelöst werden wird durch die Diktatur des Proletariats, das berufen ist, die Gotteskindschaft des Menschen, von der die frühchristliche und mittelalterliche Latinität geträumt hat, ins Werk zu setzen. Hiernach dient die Latinität in größerem Maßstabe denselben Zwecken wie das Paradigma Vergil: Sie eröffnet den beiden ideologischen Kontrahenten jeweils einen kulturellen Horizont, in dem sie ihre Weltanschauung jeweils entwickeln und rechtfertigen können. Indes wohnt dem Rückgriff auf die Latinität noch ein anderer, literarischer Sinn inne, der offenbar wird, wenn man in Betracht zieht, daß der Autor im Rahmen der Latinität die lateinische S p r a c h e in einem Maße zu Wort kommen läßt wie wohl kein anderer zeitgenössischer Romanschriftsteller, auch nicht Heimito von Doderer, in dessen Dämonen (1956) das Lateinische ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Die großzügige Zulassung oder besser die bewußte Heranziehung der lateinischen Sprache ist wiederum Teil einer größeren literarischen Konzeption, die sich darin ausdrückt, daß fremde Sprachen – moderne Fremdsprachen – im Text immer wieder hervortreten und so den Text nicht unmaßgeblich formen und bestimmen. Das „Internationale Sanatorium Berghof“ (S. 15, 60, 541) macht seinem Epitheton alle Ehre. Gleich eingangs bemerkt Joachim Ziemßen zu Hans Castorp, es sei nicht leicht, im Sanatorium Bekanntschaften zu machen, „schon weil so viele Ausländer unter den Gästen sind“ (S. 67). Hofrat Behrens zeigt sich dieser internationalen Klientel durchaus gewachsen: „er beherrschte alle Sprachen, auch Türkisch und Ungarisch“ (S. 660). Auch die Oberin erweist sich entschieden als polyglott; sie redet den erkälteten Hans Castorp beim ersten Eintreten französisch, englisch und russisch an, um dann ins Deutsche zu fallen (S. 253). In der Tat ist es kaum glaublich, aus wie vielen Ländern, Völkern und Staaten sich Patienten im Sanatorium zusammenfinden. Wenn man dem Alphabet folgt, ergibt sich folgende stattliche Liste: Ägypten, Amerika, Armenien; Belgien, Bucharien, Bulgarien; China; Dänemark, Deutschland; England; Finnland; Galizien, Georgien, Griechenland; Holland; Italien; Kurdistan; Mexiko; Österreich; Polen; Rumänien, Rußland; Spanien,

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Schweden; Tschechien; Ungarn. Hiernach muß im Sanatorium ein nachgerade babylonisches Sprachengewirr geherrscht haben. Selbstredend sind nicht alle Sprachen aller dieser Völker literarisch relevant; vielmehr hebt der Autor aus dem internationalen Sprachengemisch einige Sprachen als für seine literarischen Zwecke mehr oder minder bedeutsam hervor. Auffällig geringes Interesse findet das Englische. Zwar gibt es in Davos ein „Englisches Viertel“ (S. 213). Aber unter den Patienten findet sich nur eine einzige Engländerin, Miss Robinson, mit der sich Hans Castorp in englischer Konversation versucht (S. 70f., 113). Die Sprache selbst tritt dann einmal in Kraft in dem geistlosen Satz „Did you ever see the devil with a night-cap on?“ (S. 958), der reihum geht. Zweimal sind es dann, bezeichnenderweise, keine Engländer, die englisch sprechen, sondern einmal ein Deutscher, Joachim Ziemßen nämlich, der Hans Castorp mit den Worten „Na, go on“ (S. 24) zum Essen drängt; ein anderes Mal ist es ein Chinese, der Mynheer Peeperkorns abgerissene Expektorationen mit dem Lobesausruf „Very well!“ (S. 832) kommentiert. Das ist alles, und es ist wenig genug. Auch wenn man berücksichtigen muß, daß die Weltgeltung der englischen Sprache als Lingua franca zur damaligen Zeit noch wenig ausgeprägt war, so ist ihre Vernachlässigung dennoch auffällig: Sie verdankt sich offenbar der Tatsache, daß das politisch praktische und ökonomisch orientierte Denken Englands nicht in das geistige Konzept paßt, das dem Roman zugrunde liegt. Die Lingua franca der Epoche war nicht das Englische, sondern das Französische, dem denn auch in der Erzählung eine sehr viel größere Bedeutung zukommt als dem Englischen. Französisch spricht der Türhüter zu Hans Castorp, als er sich zu spät zu Dr. Krokowskis Vortrag einstellt (S. 190). Französisch radebrecht die Mexikanerin, „tous-les-deux“ genannt, weil ihre beiden Söhne an Tuberkulose erkrankt sind (S. 65f., 166-168, 468f.). Französisch spricht auch der theatralische Sohn der Mexikanerin, als er gegenüber den Vettern torerohaft seinen Todesmut bekundet (S. 469). Hans Castorp drückt der trostlosen Mutter sein Bedauern ebenfalls auf französisch aus und versucht, wenn auch vergeblich, mit Madame Chauchat französisch zu sprechen (S. 325). Madame Chauchat, von Hause aus Russin, ist zwar auch – wenn auch mit Einschränkungen – des Deutschen mächtig, spricht aber lieber Französisch und flicht immer wieder französische Sätze in ihre deutsche Rede ein. Triumphal tritt dann das Französische in Kraft in dem langen Gespräch, das Hans Castorp mit Madame Chauchat anläßlich der Faschingsfeier führt (S. 504-520) – ein Gespräch, in dem das Französische das Deutsche immer mehr dominiert und kulminiert in Hans Castorps flammender Liebeserklärung, die er ganz auf Französisch vorträgt, weil er das im doppelten Sinn des Wortes Unge-

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heure, das er zu sagen hat, im angestammten Deutsch wohl niemals über die Lippen bringen würde (S. 517-520). Im übrigen setzt der Autor wie bei allen fremdsprachlichen Auslassungen so auch hier stillschweigend voraus, daß der Leser Hans Castorp riskiertes und exaltiertes französisches Liebesgestammel verstehe. Es ist daher keine kleine Insipidität, wenn die neueste kritische Ausgabe des Zauberbergs das französische Liebesgespräch zwischen Hans Castorp und Madame Chauchat in deutscher Übersetzung als Anhang abzudrucken für nötig befunden hat (S. 1086-1098). Auch das Spanische findet vergleichsweise großes Interesse. Zwar findet die Mexikanerin tous-les-deux niemanden, der mit ihr Spanisch spricht (S. 66), aber ein buckliger Landsmann, der sich später einstellt und die Umwelt durch Asthmaanfälle ängstigt, kommt immerhin einmal in den Genuß einer spanischen Unterhaltung, die der polyglotte Hofrat mit ihm führt (S. 310, 660). Mehr Gewicht erhält das Spanische dadurch, daß der Autor aus der spanischen Urfassung der Exerzitien des Ignatius von Loyola wörtlich zitiert (S. 674f.; vgl. S. 703, 705f., 761). Das Spanische tritt so in Verbindung mit der terroristischen Ideologie des Jesuiten Naphta, und Spanien selbst erscheint als westlicher Vertreter außerhumanistischer Denk- und Lebensformen: Mit seiner vornehmen Formhaftigkeit und Todesstrenge ist es Gegenbild und Kontrapost zum slawischen Osten, der ebenfalls, wenn auch in gegensätzlichem Sinne, von der humanistischen Mitte Europas abliege (S. 760f.; vgl. S. 446). Hiernach kann nicht verwundern, daß der Autor dem Russischen großes Interesse entgegenbringt. Die Russen stellen dem Sanatorium offenbar auf Dauer ein besonders großes Kontingent an Patienten. Das zeigt sich an der Institution des „Guten“ und des „Schlechten Russentisches“, die im Verlauf der Erzählung immer wieder in Erinnerung gebracht wird (S. 120, 206, 219, 319, 438, 453, 455, 641. 830 & 316, 320, 347, 494, 797, 1072, 1083). Dementsprechend viel wird denn auch im Sanatorium Russisch gesprochen. Gleich zu Anfang trifft Hans Castorp auf eine große Familie mit Kindern, die Russisch sprechen (S. 71). Russisch spricht auch Dr. Krokowski (nomen est omen) mit dem unmanierlichen russischen Ehepaar, an dessen geschlechtlichen Aktivitäten zur Morgenstunde Hans Castorp Anstoß genommen hatte (S. 125f., vgl. S. 22, 63f.). Russisch, und zwar ausschließlich, spricht das Mädchen Marusja (S. 106f.) – die letzte Liebe Joachim Ziemßens, der seinerseits Russisch lernt, weil er sich davon Vorteile im militärischen Avancement verspricht (S. 101). Russisch, wenn auch nicht ausschließlich, spricht natürlich die Russin Clawdia Chauchat, der Hans Castorp in heilloser Liebesleidenschaft verfallen ist. Aus Liebesinteresse läßt er sich denn auch von Anton Karlowitsch Ferge Madame Chauchats Muttersprache vorsprechen und läßt das „wildfremde, verwaschene und knochenlose Idiom“ auf sich wirken (S. 472). So oder so ähn-

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lich charakterisiert der Autor die russische Sprache noch an zwei anderen Stellen (S. 177 & 347). Der äußere Eindruck der Sprache wird betont, weil er auf den Geist verweist, dem sie dient, als welcher ein Geist nachlässiger Weichheit und Formlosigkeit sei, ein Geist der Todesauflösung und insofern das außerhumanistische östliche Pendant und Gegenstück zur außerhumanistischen Formenstrenge Spaniens (S. 760f.). Der Italiener Settembrini repräsentiert die Italianità so vollkommen, daß andere Italiener neben ihm erst gar nicht erscheinen und ebensowenig erscheinen können wie Franzosen, weil das Französische als eigentlicher Träger der zivilisationsliterarischen Ideologie eben durch das Italienische ersetzt wird und stattdessen als Lingua franca der Sanatoriumseinwohner fungiert. Dementsprechend bedeutend ist die Rolle, die dem Italienischen als Stellvertreter des Französischen im Roman zukommt. Als typischer Romane spricht Settembrini seine Muttersprache gerne und mit lustvollem Behagen. Schlagendes Beispiel: Er zitiert Verse des Dichters Leopardi in schönster Aussprache, ganz unbekümmert darum, daß die Vettern den vorgetragenen Text (den der Autor dem Leser vorenthält) gar nicht verstehen (S. 153). Auch in Augenblicken innerer Erregung fällt Settembrini gerne ins Italienische: so anläßlich Hans Castorps abenteuerlicher Hinwendung zu Madame Chauchat in der Faschingsnacht (S. 504; vgl. S. 719, 878), beim Selbstmord Naphtas (S. 1070) oder beim endgültigen Abschied von Hans Castorp (S. 1080). Aber auch sonst ist das Italienische in seiner Rede so allgegenwärtig, daß man sich wundert, wieso er überhaupt Deutsch redet. Aber dieses, das Deutsche, beherrscht er wiederum so hervorragend und spricht es so fehlerfrei und makellos, daß der Leser fast wieder vergißt, daß es ein Italiener ist, der zu ihm spricht, wäre da nicht die allzu große Akkuratesse in Aussprache und Wortwahl, die schließlich doch wieder den Romanen verrät. Das Ganze ist ein nachgerade genialer Kunstgriff des Autors, der so das Deutsche als Grundsprache in Settembrinis weitläufigen zivilisationsliterarischen Expektorationen beibehalten kann, ohne daß je in Vergessenheit geriete, daß die Ideologie des Zivilisationsliteraten, die hier so beredten Mundes vorgetragen wird, Ursprung und Heimat hat im westlichen Denken, im Geiste nichtdeutscher Latinität. Daß den modernen Sprachen im Roman so viel Raum eingeräumt wird, ist ebenso erstaunlich wie literarisch sinnvoll. Der hermetische Ort, der Zauberberg, in dem der Siebenschläfer Hans Castorp gefangen ist, erscheint nicht und soll nicht als einsame Höhle erscheinen, sondern als internationale Begegnungsstätte sowohl medizinischer wie mondäner Art, eine Luxusklinik, in der sich gewissermaßen toute l’Europe zusammenfindet, um, unter günstigsten äußeren Bedingungen, Heilung zu finden von der schlimmsten inneren Krankheit der Zeit, der Tuberkulose.

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Daß dieser hermetische Ort ein mondäner Ort europäischen Zuschnitts ist, ja recht eigentlich sein muß, liegt darin beschlossen, daß die Geschichte, die Hans Castorp hier als Bildungsreisender erlebt, recht betrachtet, ja nichts anderes und nichts Geringeres ist als die Bildungsgeschichte der europäischen Seele, die durch die Erfahrung von Tod und Erotik – wenn sie denn solche Erfahrungen zu machen gewillt ist – zu einer neuen Humanität finden könnte, die jenseits liegt von bürgerlichliberaler und kommunistisch-totalitärer Gesinnung: „Der Mensch soll um der Liebe und Güte willen“, heißt es in herausgehobenem Druck, „dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“ (S. 748). Diese Erkenntnis wird Hans Castorp zuteil, dem aufnahmelustigen deutschen Jüngling, in der Todesnot des Schneesturms. Aber er vermag sie nicht – noch nicht? – festzuhalten: „Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht“ (S. 751). Um aber zu solcher Erkenntnis gelangen und sie womöglich dermaleinst festhalten zu können, mußte die europäische Seele, die in Hans Castorp langsam und zögernd-unvollkommen neue Gestalt annimmt, ursprünglich und grundsätzlich jene Form und Fasson erhalten haben, die sie als spezifisch europäisch kennzeichnet und womöglich auch auszeichnet. Daß sie jene Form und Fasson der Latinität, will sagen: der lateinischen Kultur und Sprache verdankt, wer wollte es leugnen? Der Autor gewiß nicht; anders hätte er, neben den modernen Fremdsprachen, dem Lateinischen nicht so großen Raum eingeräumt in seiner Erzählung. Das Lateinische repräsentiert, wenn man eine Formel will, die i n t e r n a t i o n a l e V e r g a n g e n h e i t Europas, ohne welche Europa gar nie eine kulturelle und geistige Einheit hätte werden können. Im Streit der Ideologien um die moderne Seele Europas wird das Lateinische im Roman in Anspruch genommen von beiden Seiten, der bürgerlich-liberalen und der totalitär-terroristischen. Ob es auch die Macht hätte, jene neue Humanität zu stützen und zu fördern, die Hans Castorp im Schneesturm ahnungsweise als Idee vorschwebte? Quaeritur.

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Andreas Patzer

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Wo Britting irrte, oder: Wie die Presse Vergil am Verstummen hindert RENATE PIECHA (München) Der Mantuaner Vergil: Verstummt. In schwarzen Lettern schweigt nun sein süßes Lied.

Auf diesen wenig erfreulichen Nenner – immerhin sind die Lettern noch vorhanden! – bringt Georg Britting in seinem Gedicht Mantua die Vergilrezeption, zumindest was dessen Heimatstadt Mantua angeht.1 Hat er Recht? Natürlich wird Vergil nach wie vor an den Universitäten und, in abgemilderter Form, an den Gymnasien behandelt und im weitesten Sinn rezipiert. Aber sogar in Bayern – einer unbestrittenen Hochburg des Lateinunterrichts – kommen die Schüler nach diversen Reformen selbst bei Latein als erster Fremdsprache im Rahmen des verpflichtenden Unterrichts nicht mehr mit einer zusammenhängenden originalen Vergillektüre in Berührung, sondern können höchstens bei entsprechender Fächerwahl in der Oberstufe Einblicke gewinnen. Das heißt aber nicht, dass vergilische Themen nicht mehr präsent sind. Das Schicksal des Aeneas vor und nach dem Untergang Trojas gehört zu den Stoffen, die in Varianten unterschiedlicher Schwerpunktsetzung in die Lehrwerke aufgenommen werden. Diese Art der Rezeption ist aber erwartbar, sie folgt in ihrer Tendenz fachwissenschaftlichen Debatten. Für die Präsenz Vergils außerhalb der Fachwelt ist sie kein echter Gradmesser. Was bleibt, wenn man schulische und universitäre Reservate verlässt? Künstlerisch Interessierte mögen einmal beobachten, welche Angaben etwa Einsteller bei Ebay für Druckgrafik aus dem Bereich der Vergilillustrationen ihren Angeboten beifügen – nicht selten handelt es –––––––––––– 1

Fassung letzter Hand von 1965 = Georg Britting. Sämtliche Werke, hrsg. von Ingeborg Schuldt-Britting, München 1996, Bd. 4, 273, hier zitiert nach dem 1998 von Werner Suerbaum herausgegebenen Beiheft 4 zu der von ihm initiierten Ausstellung Vergil Visuell: Werner Suerbaum (Hg.): Beiheft 4 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell, München 1998, 19.

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sich dem Anschein nach um mehr oder weniger glücklich kompilierte Handbuchartikel, die erkennen lassen, wie viel – oder wie wenig – der Anbieter selbst weiß bzw. beim Publikum voraussetzt. Eine genauere Betrachtung wäre durchaus aufschlussreich. Beschränken wir die Untersuchung aber auf Druckmedien. Als Hypothese mag gelten, dass die Kenntnis schon des bloßen Namens ‘Vergil’ ein gewisses Bildungsniveau voraussetzt. Eine Schlagzeile der BILD-Zeitung, in der Cäsar genannt wird, ist nicht völlig ausgeschlossen, weil sich eine breitere Öffentlichkeit unter dem Namen dieses antiken Schriftstellers (und vor allem: Politikers) zumindest vage etwas vorstellen kann. Für Vergil erscheint eine solche Verwendung abwegig. Als mögliche Fundorte für eine Vergilrezeption außerhalb von Universität und Schule kommen vorrangig solche in Betracht, die ein Publikum mit breiterer Allgemeinbildung aufsucht. Ein kleines Florilegium mehr oder weniger deutlicher Spuren, die Vergil in den letzten Jahren bei Lesern vor allem der Süddeutschen Zeitung hinterlassen hat, soll illustrieren, inwieweit Vergil bzw. vergilische Themen in diesem Medium präsent sind. Die Wahl der Süddeutschen Zeitung als Leitmedium, ergänzt durch weitere Zufallsfunde (im Folgenden wird, soweit nicht anders gekennzeichnet, immer auf die Süddeutsche Zeitung, SZ, verwiesen), bietet sich aus mehreren Gründen an: Sie ist eine in ihrer Kategorie auflagenstarke Publikation, als Münchner Blatt eine Heimatzeitung Werner Suerbaums und durch ein im Internet zugängliches Archiv (http://archiv.sueddeutsche.de, ab 1992) gut erschlossen. Die Suche nach ‘Vergil’ führt für die Jahre 1992-2008 zu 275 Nennungen, die nach ‘Aeneas’ oder, unterschiedslos, ‘Äneas’, der – zugegebenermaßen nicht von Vergil erfundenen – Hauptfigur seines wichtigsten Werkes, zu 239, die durchaus nicht immer mit den Vergil-Einträgen korrelieren (kurioserweise sind allerdings für beide Suchbegriffe manche Belegstellen mit leicht unterschiedlicher Wortzahl doppelt gelistet; weitere Begriffe wurden nicht überprüft). All diese Ergebnisse hier abzuarbeiten, ist nicht möglich; es fragt sich auch, wie aufschlussreich ein solches Vorgehen wäre. Denn zum einen wertet das Archiv offenkundig nur den redaktionellen Teil der Zeitung aus (inklusive Kreuzworträtsel, die sowohl Aeneas als auch Vergil gelegentlich erfragen), nicht aber Anzeigen; auch Abbildungen können so nicht unbedingt erfasst werden. Zum anderen besteht ein nicht unerheblicher Teil der Treffer aus Hinweisen auf diverse Aufführungen von Purcells Oper Dido und Aeneas (mitunter auch einer entsprechenden Rezension), Berichten vom Kunstmarkt zu passenden Objekten oder Lektürelisten diverser Berühmtheiten. Eine Auswertung solcher Erwähnungen mag statistisch interessant sein, auch im Vergleich mit anderen Autoren, kann im Grunde aber nur untermauern, dass Vergil

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für die eine oder andere gebildete Anspielung taugt. Das tut er, wie wir sehen werden, sehr wohl. Der Streifzug auf den Spuren Vergils wird auch nicht Rezensionen von einschlägigen Fachbüchern zu Vergil oder nahe stehenden Themen berücksichtigen (die gibt es auch, z. B. am 8. September 2006 in der Süddeutschen Zeitung eine Doppelrezension von Johan Schloemann zu Niklas Holzbergs 2006 erschienenem Buch Vergil und der Aufnahme der Aeneis, gelesen von Rolf Boysen, garniert mit Luca Signorellis Vergilporträt aus dem Dom von Orvieto), sondern völlig subjektiv und in wechselnder Ausführlichkeit die bunt gestreuten Splitter unterschiedlicher Größe und Bedeutung aufsuchen, in denen die Kenntnis von Vergil und seinen Werken aufblitzt. Das Spektrum ist breit. Dass sogar bloße Namen, die Vergil benutzt, nachgerade gefährlich werden können, belegen die Erfahrungen einer Mutter, die um ihr Sorgerecht kämpfen muss, da sie in den Verdacht geriet, psychisch gestört zu sein, wobei die diagnostizierte psychische Störung „beispielsweise am Vornamen ihres Sohnes festgemacht wurde.“ Das Kind heißt Aeneas, der Amtsarzt beteuerte gegenüber der Süddeutschen Zeitung, hoffentlich nicht nur mit Blick auf den Aspekt der Namensgebung, er habe es sich wirklich nicht leicht gemacht (Artikel mit der Überschrift „Die Sache Aeneas. Bamberger Schweigemärsche für ein Kind“, von Martin Zips; 23. September 2005). Welche Weiterungen sich aus dieser Namenswahl ergeben haben, erfährt der staunende Leser fast vier Jahre später genauer aus dem Artikel „Chronik eines Albtraums“ von Olaf Przybilla in der SZ vom 18./19. April 2009 (allerdings ohne dass der Name Aeneas fällt!): Das Kind lebt immer noch im Heim, die Schweigemärsche dauern an, der begutachtende Amtsarzt wollte bei der Mutter nachfragen lassen, inwieweit sie sich konkret in die Mythologie vertieft hat – schließlich habe sich die Geliebte des gleichnamigen Helden „suizidiert“. Ein kritischer Beobachter spricht von amtsärztlicher Bildungshuberei und weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll, denn die Mutter hat als ausgebildete Konzertsängerin den Namen schlicht einer Oper entnommen, die ihr gefällt (wohl Purcells Dido und Aeneas; Vergil wird in keinem der Artikel erwähnt). Auf weitere außerliterarische Aspekte dieses Falles kann hier nicht eingegangen werden. Tröstlicherweise hält die SZ im Sportteil den Verteidiger Aeneas Williams (1. Dezember 1999) von den San Francisco 49ers und bei den Geburten einen Julius Nikolaus Aeneas H. (9. März 2007) bereit, außerdem hin und wieder den späteren Papst Pius II. unter seinem bürgerlichen Namen Aeneas Silvius Piccolomini (mehrfach in der lateinischen statt italienischen Namensform) und den Journalisten Aeneas Rooch.

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Apropos Namen: Am 1. Februar 2003 adelt die Süddeutsche Zeitung einen zeitgenössischen Barden zum „klampfenden Hasenbergl-Vergil Willy Astor“ (für Nichtmünchner: das Hasenbergl gilt in der bayerischen Landeshauptstadt als sprichwörtliches Problemviertel), wie schon das Verbum „klampfen“ nahe legt, ist die Bezeichnung ironisch zu verstehen. Gelegentlich finden sich Vergilzitate oder -reminiszenzen, sogar mit entsprechenden Erläuterungen, um eine Aussage plastischer oder eindrücklicher zu machen, ihr wohl auch eine Art kulturellen Mehrwert zu verleihen; die genauen Fundstellen werden dabei natürlich nicht angegeben. So wird in einem Artikel zum Kosovo-Krieg die Schilderung des gefesselten Krieges (Aen. 1,293-296) auf Deutsch zitiert, gefolgt vom Hinweis „Vergil, aus dessen Aeneis diese grimmig-verheißungsvolle Utopie des ein für alle mal besiegten Krieges stammt …“ (5. Juni 1999). In der Rubrik „Aktuelles Lexikon“ erfährt der Leser zum Stichwort „Etikett“: „Auch ein Kenner wie Vergil verzweifelte an der Menge der schon damals gehandelten Rebsorten: ‘Aber wer die Zahl der Arten und Namen zu wissen begehrt, der lerne erst zählen, wie viele Sandkörner wirbelnd der Westwind peitscht durch die libysche Wüste’“ (18. Dezember 2007, zitiert wird georg. 2,105f.). Mitunter ist der Kontext eher überraschend, etwa wenn von den Bekenntnissen einer Prostituierten berichtet wird, denen ein gekürztes Vergilzitat (Aen. 6,126-129) vorangestellt ist: „Das Hinabsteigen in die Unterwelt ist leicht. Aber das Wiederaufsteigen…“ (18. April 2007: „Arbeit muss Spaß machen. Kate Holden berichtet aus dem Leben einer Prostituierten“), oder wenn der Gerichtsreporter die Gerüchte über die Kontakte eines prominenten Mordopfers zum Rotlichtmilieu kommentiert: „Vergil hat die Fama einmal als grausiges Wesen mit zahlreichen schwatzenden Mäulern und Zungen beschrieben“ (nach Aen. 4,174-190, zum Mordprozess Böhringer, 8. September 2007). Hin und wieder wird lateinisch zitiert, dann handelt es sich um die Klassiker des Zitatenschatzes, mit deutscher Übersetzung und explizitem Verweis auf Vergil, etwa Quos ego in einem Beitrag zum hundertjährigen Gedenken an Zolas J’accuse (13. Januar 1998, Aen. 1,135), Flectere, si nequeo superos, Acheronta movebo (Titel: „Wir Kinder des Acheron“, 5. November 1998, Aen. 7,312), Quidquid id est (Aen. 2,49, abgekürzt zitiert, deutsche Übersetzung vollständig, zur Verleihung des Friedensnobelpreises an Kofi Annan, 13. Oktober 2001) oder Sed fugit interea, fugit inreparabile tempus (27. Oktober 1998, georg. 3,284). Auch in rezensierten oder direkt abgedruckten literarischen Werken finden sich immer wieder einmal Vergilzitate (3. Mai 2006: Sigmund Freud schickte seinem Werk Die

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Traumdeutung Vergilverse voraus;2 24. September 2005: in der polnischen Erzählung Die Fahrradpost von Pawel Huelle rezitiert der Held den Vergilvers Ibant obscuri sola sub nocte per umbras, Aen. 6,268). Recht häufig wird auf Vergil als Führer Dantes angespielt, sei es durch einen echten Vergleich (z. B. „wie einst Vergil bei Dante – als leitender Vermittler“, 29. Januar 1997; „wie Dantes Reise mit Vergil“, 8. Februar 2006) oder verkappt („Savianos Vergil heißt Xian“, 18. August 2007; „Er trifft aber keinen Vergil mehr, keine Beatrice, nur eine minderjährige Hure nimmt ihn an die Hand“, 6. Mai 2000). Ein besonders dankbares Gebiet für die Suche nach Spuren der Antike in Zeitungen ist generell die Karikatur. Unangefochtene Dauerbrenner dieses Genres dürften nach eigenen, hier nicht weiter belegten Beobachtungen Europa samt Stier (der doppeldeutige Name ‘Europa’ ist geradezu prädestiniert für die politische Karikatur!) sowie die römische Wölfin mit Begleitern sein, Kombinationen also, die nicht zuletzt durch das Mitwirken eines Tieres einen hohen Wiedererkennungswert aufweisen und für vielfältige aktuelle Assoziationen offen sind (beim Stier etwa BSE). Die antiken Quellen, denen wir die Überlieferung verdanken, spielen dabei gar keine Rolle, die Bildkombination spricht für sich. Dass ein weiteres sehr beliebtes Motiv, nämlich das Trojanische Pferd (wieder ein auch bei karikaturistischen Abwandlungen leicht erkennbares Tier!), bei Vergil im zweiten Buch der Aeneis vorkommt, dürfte den meisten Betrachtern unbekannt sein. Da Vergil das Trojanische Pferd nicht erfunden hat, taugt es nur bedingt zur Untersuchung der Vergilrezeption, soll aber wegen seines hohen Bekanntheitsgrades, der sich heutzutage vermutlich auch aus der Verwendung als Terminus technicus der Informatik herleitet, nicht unberücksichtigt bleiben. Trojanisches Pferd oder Trojaner i.S.v. ‘nützlich erscheinendes Programm, das unbemerkt ein Schadprogramm installiert’, ist auch Nichtphilologen bekannt. Man denke außerdem an das berühmte Diktum des latinistisch gebildeten Franz Josef Strauß, der 1982 die Grünen als trojanische Sowjetkavallerie bezeichnete. Beispiele für entsprechende Karikaturen finden sich immer wieder einmal, so etwa zwei Belege aus den letzten Jahren zur Debatte um die staatliche Datenüberwachung: Minister Schäuble in einem hölzernen Pferd, dessen Kopf der Bundesadler bildet, 1./2. September 2007, von Murschetz, Beischrift: BundesTrojaner; ein Trojanisches Pferd mit der Aufschrift „OnlineDurchsuchung“, an dessen Tür ein mit BVG (für Bundesverfassungsgericht) gekennzeichneter Mann klopft, mit den Worten „Fahrzeugkontrolle! –––––––––––– 2

Es handelt sich dabei um den oben zitierten Vers aus dem siebenten Buch der Aeneis (7,312).

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Ihre Papiere!“, 28. Februar 2008, von Horsch, Beischrift: „Kontrolle der Kontrolleure“. Auch die Werbung nutzt das einprägsame Trojanische Pferd, wie zwei Beispiele zeigen. Das erste kombiniert ein Bild der Einholung des Trojanischen Pferdes mit dem Text „Die falsche Einschätzung eines Unternehmens kann fatale Folgen haben“, es folgt ein Werbetext der Unternehmensberatung KPMG (18. Februar 2004); im zweiten finden sich hinter dem Foto eines neuen Mazda-Modells in antikem Ambiente gezeichnete lachende Kämpfer vor einer Mauer, ohne Pferd, zum Text „Das Prinzip des überraschend großen Innenraums hat schon die Trojaner beeindruckt“ (DIE ZEIT, 9. September 1999). Beide Belege lassen sich klar und problemlos aus dem Mythos heraus verstehen, wobei die Autoreklame wohl die pfiffigere ist. Kühner, um nicht zu sagen für einen Großteil der Zielgruppe undurchsichtig, wirkt dagegen die Werbebeilage der Kaufhauskette Karstadt (Süddeutsche Zeitung, 28. Januar 1997), die zu einer mit antikisierenden Tieren – auch Pferden – bedruckten Bettwäsche texten lässt: „Mercerisierte Wendebettwäsche in trojanischem Multi-Colordruck“. Eine ursprünglich ebenfalls tierische Komponente nutzt der Karikaturist Murschetz, wenn er Altbundeskanzler Schröder im Hinblick auf seine Betätigung für Gazprom umschlungen von Pipelines darstellt, mit der Beischrift „Laokoon im Gasgeschäft“, in leichter Anlehnung an die Vatikanische Laokoongruppe und durch das Thema mit der Episode im zweiten Buch der Aeneis (2,40-234) verbunden (9. April 2006). Für die Darstellung des Laokoon gilt aber, dass sie meist deutlich erkennbar mehr von der bekannten Statuengruppe als von der Schilderung bei Vergil beeinflusst ist. Bezeichnenderweise verweist der Journalist Heribert Prantl, der in seinen Kommentaren in der SZ sehr gern antikes Bildungsgut zitiert und erläutert, im Zusammenhang mit der Föderalismusreform (der politische Organismus der Bundesrepublik Deutschland wird seiner Meinung nach vom Föderalismus erwürgt wie Laokoon von den Schlangen, 15. April 2004, Titel: „Der Laokoon-Föderalismus“) in seinen beigegebenen Erläuterungen auf die Plastik, nicht auf Vergil. Bei einer anderen Verwendung (zur Strategie Helmut Kohls in der Schreiber-Affäre: das Schauspiel als Ablenkungsmanöver und Vorbote des Untergangs, 3. Februar 2000) verweist er in der Erläuterung dagegen nur allgemein auf den griechischen Mythos. Übrigens steht für Prantl immer der Aspekt der Würgeschlange zur Debatte, während Vergil eine überirdische, so nicht existente Mischung aus Würge- und Giftschlange schildert. Zur Abwechslung einmal nicht die Aeneis, sondern georg. 2,490 zitiert eine Anzeige der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel in der ZEIT vom 23. Mai 2001: Ein Handwerker mit etlichen Gerätschaften steht vor dem

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Bundesadler, Beischrift: Rerum cognoscere causas, darunter: „‘Den Dingen auf den Grund gehen’ – unter diesem Leitsatz informiert der Tagesspiegel direkt aus der Hauptstadt …“. T-Mobile wirbt am 4. September 2002 in der Süddeutschen Zeitung für einen „Mobile Digital Assistant“, eine „Synthese aus Pocket PC und GPRS-Handy“, dessen vielfältige Funktionen mit den branchenüblichen Schlagworten aufgelistet werden. Die im Wirtschaftsteil der SZ geschaltete Anzeige trägt die plakativ groß gesetzte Überschrift „Einer für viele. (Vergil)“, wobei der Name des römischen Dichters allerdings deutlich kleiner gedruckt ist. Bemerkenswertweise wird die hier angesprochene Zielgruppe – Leser des Wirtschaftsteils, nicht vorrangig des Feuilletons – ohne erkennbare Notwendigkeit mit dem Namen Vergil konfrontiert. Im Kontext der Anzeige ist das Zitat leicht und eindeutig verständlich: Das angepriesene Gerät ist für viele Benutzer und Aufgaben zu gebrauchen. Die Originalstelle bei Vergil (unum pro multis, Aen. 5,815) steht in einem ganz anderen Zusammenhang: Neptun lässt Venus wissen, dass Palinurus, der Steuermann des Aeneas, sterben wird, während seine Gefährten ihr Ziel Latium erreichen werden. Der Tod des Palinurus, der von Somnus, dem Gott des Schlafes, gewaltsam über Bord gestürzt wird (5,835-861), ist ein Opfer, das den anderen die Erfüllung ihrer Mission ermöglicht. Dass Zitate sich aus ihrem ursprünglichen Kontext verselbständigen (sonst wären sie als Zitate ja nicht brauchbar), ist natürlich nicht ungewöhnlich. Im Fall der T-Mobile-Anzeige bleibt offen, ob die Namensnennung hier ein unreflektiertes Bildungszitat ist, das der Anzeige und ihren Adressaten einen gewissen kulturellen Mehrwert verleihen soll, oder ob sozusagen für Kenner, denen die Originalstelle bekannt ist, noch ein kleiner Gag eingebaut sein soll. Letzteres ist vermutlich eher nicht zu erwarten. Die Gestalt des in der Werbeanzeige nicht genannten Palinurus dient dem bereits erwähnten Heribert Prantl in einem Kommentar zur Bedrohung der Demokratie durch Terroranschläge als Aufhänger, allerdings mit einer gänzlich anderen Tendenz. Er beginnt den Beitrag mit der zweizeiligen Überschrift „Der 3. Oktober nach dem 11. September. Dem Terror zum Trotz: Deutsche Einheit ist auch die Einheit von Alt- und Neubürgern“ (4. Oktober 2001) mit den Worten „Palinurus, der sagenhafte Steuermann des Aeneas, war am Ruder eingeschlafen und musste diese Fahrlässigkeit mit dem Leben bezahlen: Im Schlaf wurde er von Bord gespült und dann von den Eingeborenen erschlagen“, und folgert: „Seit dem 11. September [gemeint: 2001, dem Tag des Terroranschlags auf das World Trade Center in New York] mehren sich die Stimmen derer, die die freiheitliche Demokratie für eine palinurische, also eine fahrlässig unachtsame Demokratie halten.“ Ob die schöne Wendung „palinurische Demokratie“ eine Neu-

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prägung Prantls ist (was die mitgelieferte Erläuterung nahe legt), geht aus dem Kommentar nicht hervor. Einschlägige Internetrecherchen verweisen, wenn überhaupt, auf diese Fundstelle oder Zitate daraus. Im Gegensatz zur Werbeagentur von T-Mobile unterlässt Prantl einen Hinweis darauf, woher er seine Kenntnisse über Palinurus bezieht (andere Quellen als Vergil kommen wohl kaum in Frage), setzt aber offenbar voraus, dass seine Leser mit dem Namen Aeneas etwas anfangen können. Allerdings fällt auf, dass Prantl von einem fahrlässigen Versagen des Palinurus ausgeht, was ja bei Vergil durch das Eingreifen des Gottes Somnus gerade nicht gegeben ist. Im weiteren Verlauf des Zeitungsartikels wird Palinurus nicht mehr erwähnt. Missverständnisse oder schiefe Vergilreminiszenzen gibt es auch sonst. So sagt Alexander Kluge in einem Gespräch mit dem Künstler Thomas Demand über dessen Fotografie Die Grotte: „Vergil beschreibt, wie Äneas Dido in einer Grotte verführt“ (7. Juni 2006), eine Aussage, die schwerlich aus der Aeneis (4,160-168) abzuleiten ist. Auch die Erinnerung an den Unterweltsgang des Aeneas im sechsten Buch scheint in der dortigen Dunkelheit zu verschwimmen – die Fotografin Diane Arbus bekennt über ihre Recherchen: „Du gehst hinunter, wie Orpheus, Alice oder Vergil“ (im Kunstmarkt zitiert am 19. Januar 2008), und ganz ähnlich wird Freud in einer Studie zur Unterweltreise in der Literatur unterstellt, er trete „sein eigenes Unbewusstes analysierend, wie Vergil um des toten Vaters willen eine epische Unterweltfahrt an“ (31. Mai 2005, zum Vergilzitat, das Freud selbst verwendet, vgl. Anm. 2; im Epos spricht diesen Vers allerdings die auf Rache sinnende Juno, nicht Aeneas im Hinblick auf seinen Unterweltsgang). Tröstliche Vergil-Reminiszenzen bewegten die Hinterbliebenen dazu, eine am 25./26. Oktober 2008 in der SZ geschaltete Traueranzeige mit den Worten „OMNIA VINCIT AMOR. / Vergil“ einzuleiten. Ob die so gewürdigte Verstorbene (laut Anzeige eine Diplom-Volkswirtin, keine Lateinlehrerin) oder die Auftraggeber der Anzeige auf diese Weise als Vergilliebhaber erkennbar sein wollten oder ob ohne weitere Reflexion auf einen bewährten Fundus an passenden Sinnsprüchen (hier ecl. 10,69) zurückgegriffen wurde, mag offen bleiben. Vergils eigener Tod wird relativ breit und in durchaus unerwartetem Zusammenhang am 19. Dezember 2008 in der Süddeutschen Zeitung thematisiert. Zu Beginn eines fast ein Drittel der ersten Seite des Feuilleton-Teils füllenden Artikels zur Problematik der Patientenverfügungen ist Angelika Kauffmanns Gemälde „Vergil schreibt in Brundisium auf seinem Totenbett sein Epitaph“ in Farbe abgedruckt. Die Bildlegende beginnt mit folgenden Worten:

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Es war keine Patientenverfügung, sondern seine eigene Grabinschrift, die Vergil, Schöpfer der „Aeneis“, auf seinem Totenbett verfasste: … [Anm.: Es folgt eine deutsche Übersetzung des bekannten Grabepigramms]. Doch spiegelt die Szene – das friedliche Regeln des eigenen Ablebens – den Traum aller für ihre letzten Tage.

Im zweiten Abschnitt der Bildlegende wird auf den als Quelle dienenden Ausstellungskatalog verwiesen,3 in dem der Interessierte, sollte er den Katalog zur Hand haben und auf S. 387 nachschlagen, neben Angaben zur Geschichte des Gemäldes auch eine kurze Beschreibung der Szene und ihrer historischen Einordnung fände und so erfahren könnte, dass die Personen neben Vergil seine Freunde Varius Rufus und Plotius Tucca sowie eine trauernde Muse darstellen. Die Historizität des Geschehens wird im Katalog ansatzweise problematisiert („Legende, nach der der Dichter sich gewünscht haben soll …“), in der Bildlegende gar nicht. Der Artikel selbst nimmt auf Vergil keinerlei Bezug, was in Verbindung mit der nicht ganz schlüssigen Bildlegende den Eindruck verstärkt, dass hier vor allem ein dekoratives buntes Bild als Blickfang an prominenter Stelle eingesetzt werden sollte (im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung wird mit Bildern häufig so verfahren). Dasselbe Bild findet sich übrigens auch im Ausstellungskatalog der Münchener Vergil-Ausstellung Vergil Visuell (Beiheft 5, S. 10), gefolgt von einem zweiseitigen Beitrag zum genannten Grabepigramm aus der Hand des Jubilars,4 der den Wahrheitsgehalt der Legende stark in Zweifel zieht. Am Ende der Spielzeit 2005/2006 verabschiedete sich der scheidende Stuttgarter Operndirektor Klaus Zehelein mit der mehrfach rezensierten Aufführung einer heute kaum bekannten Oper, nämlich Aeneas in Karthago von Joseph Martin Kraus (1756-1792), ursprünglich zur Eröffnung des königlich-schwedischen Opernhauses in Stockholm im Jahr 1782 geplant. Die Oper galt als „Ausgrabung des Jahres“ (vgl. SZ vom 4. Oktober 2006: „Oper des Jahres. Stuttgart zum 6. Mal gewählt“), und allein die Geschichte dieses Werkes wäre eine eigene Abhandlung wert, sie bietet unter anderem eine vor der Uraufführung vor ihren Gläubigern fliehende Primadonna, einen deutschen, von Haydn bewunderten Komponisten, der am Vorabend der Französischen Revolution seinem königlichen Gönner zuliebe eine Barockoper schreibt und eben diesen schwedischen König Gustav III., dessen Tod bei einem Attentat seinerseits als Vorlage für eine Oper, –––––––––––– 3 4

Bettina Baumgärtel (Hg.): Angelika Kaufmann, Düsseldorf u.a. 1999. Werner Suerbaum: „Das Grabepigramm Vergils. Thema mit Variationen“, in: Ders. (Hg.): Beiheft 5 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell, München 1998, 11f.

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nämlich Verdis Un ballo in maschera, diente. Leider scheint keine allgemein zugängliche Einspielung der Oper auf dem Markt zu sein, so dass eine Auseinandersetzung mit diesem Werk mangels akustischen Eindrucks notgedrungen blass und unvollständig bleiben muss. Interessenten seien auf das sehr informative Programmheft zur Aufführung verwiesen.5 Da die Oper im Gegensatz zu den thematisch verwandten Werken von Henry Purcell (Dido und Aeneas) und Hector Berlioz (Les Troyens) kaum bekannt ist und daher eine reizvolle Alternative zur Behandlung von Vergilrezeption in der Musik darstellt, mögen einige Informationen, die sich dem Programmheft entnehmen lassen,6 der Auswertung einschlägiger Rezensionen vorangehen. Der schwedische König Gustav III. (reg. 1771-1792), ein Neffe Friedrichs II. von Preußen, orientierte sich aufgrund seiner Erziehung am Vorbild des französischen Hofes. Aus kulturpolitischen Erwägungen und persönlichem Interesse heraus skizzierte er selbst einige Libretti zu nationalen oder antiken mythologischen Themen. Für Aeneas in Karthago, dessen Libretto von Johan Henrik Kellgren ausgeführt wurde, verarbeitete er außer Vergils Aeneis Jean-Jacques Le Franc Marquis de Pompignans Didon von 1734, eine den Regeln des französischen Barocktheaters verhaftete Tragödie.7 Da der Aeneas Vergils nach den damaligen höfischen Idealen den Zeitgenossen als treuloser Liebhaber, schwacher Prinz und ängstlicher Frömmler erschien, nahm Le Franc de Pompignan markante Änderungen vor, die Aeneas als honnête homme etablieren. So kämpft er vor seiner Abreise erfolgreich gegen den Numiderkönig Jarbas und rettet damit seine moralische Integrität, da er Dido nicht schutzlos dessen Angriffen überlässt. Übrigens verzichtet Le Franc de Pompignan wie später Berlioz in Les Troyens, aber im Gegensatz zur schwedischen Oper, auf den Götterapparat des Epos. Vergleicht man Kellgrens Fassung direkt mit Vergil, so fällt besonders auf, dass Dido Aeneas schon seit einer Begegnung vor Zeiten in Tyrus liebt und erst nach dieser Begegnung Sychaeus geheiratet hat. Dieser erscheint als Unheil verkündender Schatten ausgerechnet in der Grotte, in der Aeneas Dido gerade gestanden hat, dass er sich als mittello–––––––––––– 5

6 7

Staatsoper Stuttgart, Spielzeit 2005/06. Joseph Martin Kraus. Aeneas in Karthago. Premiere: 2. Juli 2006; auf Anfrage wurde mir von der Staatsoper Stuttgart freundlicherweise ein Exemplar zugänglich gemacht, es enthält auch das deutsche Libretto. Vgl. vor allem den Originalbeitrag von Ida Elling Magnus: „Blütezeit. König Gustav III. von Schweden und die gustavianische Epoche“, 60-66. Vgl. dazu und zum folgenden Vergleich der Werke von Le Franc de Pompignan, Kellgren und Vergil insgesamt besonders den Originalbeitrag von Katharina Strein: „Epos, Ehre und Empfindung“, S. 51-59 im erwähnten Programmheft; den Originaltext der Didon habe ich nicht eingesehen.

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ser Flüchtling ihr nicht ebenbürtig fühlt. Die dennoch anberaumte Hochzeit der beiden im Tempel wird durch ein Erdbeben verhindert, und wie bei Le Franc de Pompignan tötet Aeneas Jarbas, bevor er abfährt. Dido wird – als Beschützerin Karthagos, wie Iris verkündet – von Jupiter in den Olymp aufgenommen. Natürlich steht nicht zu erwarten, dass Rezensionen der Inszenierung sich ausführlicher mit den rezeptionsgeschichtlichen Aspekten des Stückes befassen. Vergleicht man die Rezensionen von Volker Hagedorn in der ZEIT8 und Wolfgang Schreiber in der SZ,9 fällt aber auf, dass Hagedorn Vergil überhaupt nicht erwähnt, und in der Legende zum beigegebenen Bild aus dem Finale der Oper von „griechischen“ Göttern die Rede ist, obwohl im Rezensionstext Juno, Jupiter, Venus usw. genannt werden (dasselbe Bild verwendet übrigens auch die SZ). Es bleibt zu hoffen, dass nur Schlampigkeit und nicht grundsätzliche Unkenntnis die Ursache einer solchen Fehlleistung ist. Immerhin wird der große Dialog zwischen Dido und Aeneas, der dem Entschluss zur Abreise vorausgeht, in Anlehnung an den – wie passend! – schwedischen Filmregisseur Ingmar Bergman und nebenbei durchaus in der Tendenz Vergils als „Szene einer Beinahehe“ charakterisiert. Dagegen fällt der Name ‘Vergil’ bei Wolfgang Schreiber an markanter Stelle, fast genau in der Mitte des dreispaltigen Textes, nach einer Zwischenüberschrift. Vergils Aeneis wird als „Gründungsmythos des römischen Reichs“ bezeichnet, die Zwischenüberschrift „Gründung Roms emotional“ könnte allerdings schon eher in dem Sinn verstanden werden, wie es weiter unten (und ähnlich auch bei Hagedorn) dann tatsächlich ausgeführt wird: „Venus … bekämpft Dido, weil sie Aeneas Rom gründen lassen will.“ Das ist bekanntlich nicht die von Vergil geschilderte Variante, der bis zur Gründung Roms ein paar Generationen mehr ansetzt, ergibt sich aber aus dem deutschen Libretto (dritter Akt, sechste Szene, S. 82), in dem die Personifikation der Ehre Aeneas in recht poetischer Syntax ins Gewissen redet: „Aeneas, weißt du nicht, was du versprachst und ehrtest, und deiner Götter Sturz und Griechenlands Verrat, die Herrschaft über Rom, die dir versprochen ist?“ Ansonsten schildern beide Rezensenten, was angesichts der Umstände nahe liegt, mehr oder weniger ausführlich die Entstehungsgeschichte des Werkes und geben Informationen zum Komponisten und seiner musikgeschichtlichen Einordnung; auch Personalprobleme im Vorfeld der aktuel–––––––––––– 8 9

„Genialer Pechvogel. Mit 224 Jahren Verspätung wurde in Stuttgart die Oper ‘Aeneas in Karthago’ von Joseph Martin Kraus uraufgeführt“, 6. Juli 2006. „Die Quadratur des Kreises. Merkwürd’ger Fall: Die riesige ‘Aeneas’-Oper von Joseph Martin Kraus in Stuttgart“, 4. Juli 2006.

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len Aufführung sowie natürlich deren künstlerische und musikalische Gestaltung werden angesprochen. Wer sein schwärmerisch-romantisches Italienbild revidieren will, möge zu Karl Victor von Bonstettens Schriften über Italien 1800-1808 greifen, deren neue historisch-kritische Ausgabe am 14. Oktober 2008 in der Literaturbeilage der SZ vorgestellt wurde. Der Autor Bonstetten schildert im Gegensatz zu manchen Zeitgenossen seine Eindrücke vom aktuellen Italien, d. h. von seiner Reise in den Jahren 1802/1803 offenbar sehr kritisch, was Klima, Land und Leute angeht – daher auch die Überschrift der Rezension: „Im Süden ist die Luft so schlecht“, Untertitel: „Nur mit Vergils ‘Aeneis’ in der Hand kann man überhaupt frei atmen …“), so dass Dieter Richter, der Verfasser der Rezension, sich fragt, ob man als „gebildeter, reisefroher Mensch in einem solchen Italien glücklich werden“ kann. Er fährt fort: Bonstetten kann es. Denn er ist mit Vergils „Aeneis“ in der Hand unterwegs, und die Lektüre entführt ihn in eine Zeit, in der hier noch blühende Landschaften (sic!) waren und Aeneas, aus dem zerstörten Troja kommend, an Latiums Küste ein Weltreich begründete. „Reise über den Schauplatz der sechs letzten Bücher der Aeneis“: So lautet der Untertitel des ersten Teils der „Reise nach Latium“, und Bonstetten ist damit zum Vorläufer einer lektüregeleiteten Archäologie im Sinne eines Heinrich Schliemann geworden. Wie dieser aus seiner HomerLektüre zu den Spuren des historischen Troja fand, so hat es sich Bonstetten in den Kopf gesetzt, die „Aeneis“ als historisches Buch zu lesen und die Schauplätze der sechs letzten Bücher, beginnend mit der Landung des Aeneas an der Tibermündung, geographisch in der realen Landschaft zu verorten. „Erinnerungslandschaften“ hat Ekkehard Stärk jene imaginativen Bilder von ItalienReisenden genannt, die „einen poetischen Blick auf die Landschaft und einen topographischen Blick in die Dichtung“ warfen.

Inwieweit Bonstetten eventuell der erste oder ein besonders wichtiger „Vorläufer einer lektüregeleiteten Archäologie“ ist, mögen andere beurteilen. Es ist aber nicht ohne Reiz, Vergil und sein literarisches Vorbild Homer in dieser Weise verbunden zu sehen, zumal beide nicht nur in derselben Gattung dichten, sondern auch der von den beiden Epikern behandelte Stoff enge inhaltliche Verbindungen aufweist. Dass Bonstettens Ansatz in gewisser Weise zeittypisch ist, beweist die Existenz von Bilderzyklen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die als Vergilillustrationen gedacht waren, aber gerade nicht in der Art von Historienbildern antike Helden oder auch nur antike Bauwerke wiedergeben, sondern zeitgenössische italienische Landschaften – gegebenenfalls mit Ruinen –, wogegen schon Goethe 1820 polemisierte, als er Friedrich Gmelins Kupferstiche zu Vergil kritisierte:

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So sehr man aber auch hier seine Nadel bewunderte, so sehr bedauerte man, daß er solchen Originalen habe seine Hand leihen müssen. Diese Blätter, zur Begleitung einer Prachtausgabe der ‘Aeneis’ von Annibale Caro bestimmt, geben ein trauriges Beispiel von der modernen realistischen Tendenz, welche sich hauptsächlich bei den Engländern wirksam erweist. Denn was kann wohl trauriger sein als einem Dichter aufhelfen zu wollen durch Darstellung wüster Gegenden, welche die lebhafteste Einbildungskraft nicht wieder aufzubauen und zu bevölkern wüßte? Muß man denn nicht schon annehmen, daß Virgil zu seiner Zeit Mühe gehabt, sich jenen Urzustand der lateinischen Welt zu vergegenwärtigen, um die längst verlassenen, verschwundenen, durchaus veränderten Schlösser und Städte einigermaßen vor den Römern seiner Zeit dichterisch aufzustutzen? Und bedenkt man nicht, daß verwüstete, der Erde gleichgemachte, versumpfte Lokalitäten die Einbildungskraft völlig paralysieren und sie alles Auf- und Nachschwungs, der allenfalls noch möglich wäre, sich dem Dichter gleichzustellen, völlig berauben?10

Sachkundigen Freunden verdanke ich nicht nur den Hinweis auf Goethe, sondern auch die Bekanntschaft mit einem solchen Illustrationszyklus.11 Das Bändchen bietet zwar keinerlei Vergiltext, gibt aber zu den lateinisch und italienisch verfassten Bildunterschriften die passenden Vergilstellen an, z. B.: „Palinurum. Palinuro. Aen Lib VI 337“. Der Eindruck der Abbildungen ist nicht gar so deprimierend, wie Bonstetten und Goethe erwarten lassen, wozu auch die Staffagefiguren beitragen. Überhaupt steht die heutige Vergilphilologie Bildern bekanntlich durchaus nicht abweisend gegenüber. Nach den vorliegenden Stichproben ist Vergil samt seinem Werk – erstaunlicherweise? – nicht nur im Feuilleton, sondern bis in die Werbung hinein immer noch (oder besser: immer einmal wieder) visuell wie textuell präsent, auch wenn sein Name manchmal gar nicht genannt wird, obwohl er doch für Aeneas, das Trojanische Pferd oder Palinurus sicherlich die wichtigste zugrunde liegende Quelle bildet. Eine grobe Kenntnis der Aeneis wird gelegentlich vorausgesetzt, mitunter das nötige Hintergrundwissen mehr oder weniger philologisch korrekt referiert. Dieses Werk wird auch am breitesten rezipiert, vielleicht, weil es durch seine epische Handlung am bekanntesten ist. Manche Fundstellen sind von Tod und Trauer überschattet (obwohl gerade das Zitat in der Todesanzeige eine erfreuli–––––––––––– 10 Johann Wolfgang von Goethe, Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, hrsg. von Peter Boerner, dtv-Gesamtausgabe Bd. 30, München 1962, 254f. 11 Fünfzig Bilder zu Virgils Aeneide, gestochen unter der Leitung von Carl Ludwig Frommel, Karlsruhe, ohne Jahr. Näheres zu diesem wohl 1827 oder 1828 erschienenen Werk, eventuellen Vorläufern, Abhängigkeiten und Goethes Kritik erfährt man bei Werner Suerbaum: Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben 1502-1840, Hildesheim 2008, 624-628, Nr. VP 1827A.

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chere Perspektive eröffnen will) – Vergil ist nun einmal kein Dichter, mit dem man landläufig Vergnügen und Heiterkeit assoziiert. Formal handelt es sich, wie bei Zeitungen nicht anders zu erwarten, bei einigen Erwähnungen von Vergil oder seinen Themen nicht um Rezeption im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem Vergiltext, sondern sozusagen um eine Rezeption zweiten Grades, etwa wenn implizit oder explizit auf Dante, Freud, Bonstetten oder Operninszenierungen rekurriert wird. Dass Vergil hie und da präsent ist, bedeutet aber noch lange nicht, dass die Verwendung von Anspielungen oder Zitaten den Vergilkenner überzeugt, haben sie sich doch mitunter sehr weit von dem ursprünglichen Kontext entfernt. Aber die Rezeption eines Autors ist grundsätzlich frei und nicht an philologische Diskussionen gebunden. Für den Vergilliebhaber bleibt die beruhigende Tatsache, dass zumindest in den Blättern für die gebildeten Stände Vergil noch lange nicht völlig verstummt ist.

Von Troja nach Gondor. Tolkiens „The Lord of the Rings“ als Epos in vergilischer Tradition SILKE ANZINGER (München) Tolkiens Lord of the Rings (im Folgenden: LR)1 ist das erfolgreichste Werk der fiktionalen Literatur im 20. Jahrhundert. Als es erschien, hätte ihm niemand diesen – oder überhaupt einen – Erfolg vorausgesagt; der Verlag rechnete fast mit einem Verlustgeschäft.2 Es stand in keiner Tradition, und die Rezensenten wussten nicht, womit sie es vergleichen sollten. Die wohlwollenden meinten, dass es heroisch sei, und C.S. Lewis, ein Freund des Autors, war so mutig oder so unklug, auf Ariost zu verweisen, was bei den Kritikern einen Sturm von Hohn und Entrüstung hervorrief.3 Diese hielten es nämlich für ein Kinderbuch, gerade anspruchsvoll genug, um einer Siebenjährigen vorgelesen zu werden.4 Es handelt sich um eine tausend Seiten lange Abenteuererzählung (zur Gattungsfrage später), die in einer erfundenen Welt namens Mittelerde spielt. Diese Welt wird bevölkert von Menschen und verschiedenen nichtmenschlichen Völkerschaften, die man teils aus Märchen und Sagen kennt oder zu kennen glaubt (Elben, Zwerge, Trolle), die ansonsten aber –––––––––––– 1

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Am Ende dieses Aufsatzes ist eine Inhaltsübersicht zum LR beigefügt, auf die gelegentlich verwiesen wird, anstatt den Text mit Erklärungen von Namen und Zusammenhängen zu belasten. Kenner des LR mögen diese Hinweise einfach ignorieren. Der LR wird im Folgenden nach Buch und Kapitel zitiert. Die Seitenzahlen sind nach der einbändigen Paperback-Ausgabe (11968, viele Nachdrucke) angegeben. Zusätzlich werden die Seitenzahlen der verbreiteten dreibändigen deutschen Übersetzung von Margaret Carroux angegeben. Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie, München 1991, 245f. Vgl. Carpenter, 1991 (wie Fußn. 2), 249; 250ff.; über den Ariostvergleich im besonderen spottet Edmund Wilson in seiner Rezension „Die bösen, bösen Orks“, in: Helmut W. Pesch (Hg.): J.R.R. Tolkien. Der Mythenschöpfer, Meitingen 1984, 51-56, hier 52. Wilson (wie Fußn. 3); vgl. auch die Rezension von Edwin Muir, zit. in: Carpenter, 1991 (wie Fußn. 2), 254.

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ebenfalls erfunden sind (Hobbits, Orks, Ents).5 Sie hat ihre eigenen Sprachen, die sich nicht nur in den elbischen Orts- und Personennamen niederschlagen, sondern die insofern tatsächlich existieren, als Tolkien sie erfunden und in einigen von ihnen sogar Gedichte verfasst hat. Tolkiens Welt hat zudem ihre eigene Geographie, eine Mythologie und eine Geschichte, die von der Schöpfung der Welt bis in das Jahr 3018/19 des Dritten Zeitalters reicht, in dem die Handlung des LR hauptsächlich spielt. Die älteren Mythen und Geschichten sind für das Verständnis der Handlung wichtig – ebenso wie die Kenntnis der Sagen um den Trojanischen Krieg nötig oder von Vorteil ist, um die Handlung der Aeneis zu verstehen – und werden im LR oftmals nacherzählt oder angedeutet: und „nacherzählt“ ist wörtlich zu verstehen, denn Tolkien hatte an den Sagen des „Ersten Zeitalters“ bereits zwanzig Jahre gearbeitet, als er mit dem LR begann.6 Schon diese kurzen Hinweise zeigen, dass die Welt des LR eine sagenhafte oder mythische, aber ganz offensichtlich nicht die der griechischen oder römischen Antike ist. Die Helden, nämlich der Hobbit Frodo und seine Gefährten, begeben sich auf eine Fahrt wie Odysseus, Jason oder Aeneas, und begegnen dabei den erstaunlichsten Fabelwesen, aber –––––––––––– 5

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Tom A. Shippey hat in seinen Büchern J.R.R. Tolkien. Author of the Century, London 2000 (dt. 2002) und noch gründlicher in dem älteren The Road to Middle Earth, London 1982 (dt. 2008) allerdings gezeigt, dass die Namen dieser Völkerschaften zum Teil aus entlegenen angelsächsischen Quellen stammen und sehr oft ein philologisches Problem aufgreifen, für das die Darstellung im LR gewissermaßen eine Lösung anbietet. „Erfunden“ sind aber letztlich alle Völkerschaften insofern, als Tolkien ihnen in seiner Mythologie Beschreibungen und Rollen nach eigenen Vorstellungen zuweist: Besonders deutlich ist das bei den Elben, bei denen Tolkien davon überzeugt war, dass seine Interpretation ihrer „ursprünglichen“ Gestalt und Charakter näher sei als die verniedlichten Blumenelfen in Kinderbüchern, die er hasste (vgl. John R. R. Tolkien (im Folgenden: J.R.R.T.): „On Fairy-Stories“, in: J.R.R.T.: The Monsters and the Critics and Other Essays, London 2006 [= 1936], 109-161, hier 111). Das Silmarillion, das diese Sagen enthält, war vor dem LR fertig, und eine Zeitlang bestand Tolkien darauf, die beiden Bücher gemeinsam herauszubringen, da der LR ohne die Sagen des Ersten Zeitalters nicht zu verstehen sei. Der Plan zerschlug sich, und nach der Veröffentlichung des LR begann Tolkien von neuem, das Silmarillion umzuschreiben, um es dem LR anzupassen und neue Gedanken aufzunehmen. In seiner jetzigen Fassung wurde es postum von Tolkiens Sohn Christopher zusammengestellt und herausgegeben. Außerdem gibt es auch die Anhänge zum LR (zuerst mit der zweiten, überarbeiteten Auflage des LR 1966 erschienen), in denen Tolkien für Interessierte detaillierte Zusatzinformationen zusammengestellt hat: etwa die Annalen der Könige und Herrscher des Zweiten und Dritten Zeitalters, Zeittafeln, Familienstammbäume, Alphabete und anderes mehr.

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Zyklopen und Zentauren, Nymphen und Nereiden sind nicht darunter. Dennoch ist der LR von der Aeneis Vergils stark und tiefgreifend beeinflusst. In welcher Weise, wird im Folgenden gezeigt werden.

1. Einflüsse und Quellen Tolkiens Es besteht kein Zweifel, dass Tolkiens Welt und mythische Erfindungen sich in erster Linie den Epen, Sagen und Märchen Nordeuropas verdanken. Er selbst war in den Dreißiger und Vierziger Jahren des 20. Jhs., als er am LR schrieb, Professor für Angelsächsisch in Oxford, daneben beschäftigte er sich auch mit dem Isländischen, Finnischen, Gotischen, Walisischen und der jeweiligen Literatur in diesen Sprachen. Von der angelsächsischen Literatur ist besonders das Beowulf-Epos hervorzuheben, über das Tolkien 1936 einen noch immer bedeutenden Aufsatz veröffentlichte: dieses und andere Themen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit haben auch sein literarisches Schaffen beeinflusst. Die Sekundärliteratur zu den ‘Quellen’ des LR nennt außerdem unter anderem das Kalevala, das Mabinogion, die Sigurdsagen, die Ältere Edda, die Wölsungensaga sowie die Artusepik.7

2. Klassische Literatur und Mythologie, besonders Vergil Auch Einflüsse der antiken Mythologie und Geschichtsschreibung sind nachgewiesen worden,8 aber es kann kein Zweifel bestehen, dass diese zumeist marginal sind. Sofern es sich um ein Einzelmotiv oder eine Personenkonstellation handelt, stellt sich außerdem die Frage, auf welchem Wege es in Tolkiens Werk gelangt ist: direkt oder auf Umwegen? Gibt es das Motiv nicht auch und vielleicht näherliegend in der Literatur, mit der –––––––––––– 7

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Neben den Büchern von Tom A. Shippey, der sich vor allem mit den Reflexen angelsächsischer Wörter im LR beschäftigt (vgl. Fußn. 5), seien genannt: Verlyn Flieger: Medieval epic and romance motifs in J.R.R. Tolkien’s The Lord of the Rings, Ann Arbor 1977; Robert Giddings u.a.: J.R.R. Tolkien. The Shores of Middle-earth, London 1981. Die keltischen Einflüsse untersucht Dimitra Fimi, „Tolkien’s ‘Celtic’ type of legends: Merging Traditions“, in: Tolkien Studies 4, 2007, 51-71. Z.B. Miryam Librán-Moreno, „Parallel Lives: The Sons of Denethor and the Sons of Telamon“, in: Tolkien Studies 2, 2005, 15-25; dies., „Greek and Latin Amatory Motifs in Éowyn’s Portrayal“, in: Tolkien Studies 3, 2006, 73-97; James Obertino, „Barbarians and Imperialism in Tacitus and The Lord of the Rings“, in: Tolkien Studies 3, 2006, 117-131.

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sich Tolkien nachweislich und intensiv beschäftigte? Viele Motive der antiken Mythologie und Epik sind im Mittelalter wiederaufgenommen, den jeweils einheimischen Erzählungen adaptiert und mit anderen Gestalten verbunden worden. Muss man nicht, wenn man eine Verbindung von der Antike zu Tolkien herstellen will, jeweils auch dieses ‘Missing Link’ suchen? Tolkien ist natürlich mit der klassischen Literatur aufgewachsen. Er konnte Latein und Griechisch und studierte ein Semester Klassische Philologie, bevor er sich seiner wahren und bleibenden Leidenschaft, dem Altenglischen, zuwandte. Vergil kennt er gut, in seinem Beowulf-Aufsatz (1936) nimmt er Bezug auf ihn und vergleicht ihn mit dem BeowulfDichter.9 Ein oder zwei Jahre später begann Tolkien mit der Arbeit am LR.10 Und wiederum einige Jahre später, als er gerade an den Kapiteln schrieb, die jetzt Buch IV bilden, hatte Tolkien Gelegenheit, seine Kenntnis des römischen Klassikers wiederaufzufrischen, denn sein Freund C. S. Lewis arbeitete 1943/44 an einer Vergilübersetzung, aus der er bei gemeinsamen Treffen vortrug.11

3. Forschungsliteratur zu Tolkien und Vergil Dass die Kenntnis Vergils in Tolkiens eigenem erzählerischen Werk Spuren hinterlassen hat, muss also nicht verwundern. In der Forschungsliteratur zu Tolkien wird auch gelegentlich darauf hingewiesen: Die 2006 erschienene Tolkien-Enzyklopädie weist ein Lemma „Vergil“ auf;12 es gibt

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J.R.R.T.: „Beowulf, The Monsters and the Critics“, in: J.R.R.T., 2006 (wie Fußn. 5), 5-48, hier 22; 24ff.; 27f. 10 Das erste Kapitel, „A long-expected Party“, schrieb er bereits im Dezember 1937; danach allerdings war ihm sehr lange nicht klar, wie es weitergehen sollte, vgl. Carpenter, 1991 (wie Fußn. 2), 212ff.; Interessierte seien auf Christopher Tolkiens Edition und detaillierte Dokumentation der Vorstufen zum LR verwiesen: J.R.R.T.: The History of Middle Earth, Bde. VI-IX, London 1988-1992, hier Bd. VI: The Return of the Shadow. 11 Humphrey Carpenter (ed.): The Letters of J.R.R. Tolkien, New York 2000 (zuerst London 1981), Nr. 81 vom 23./25. 9. 1944: „We heard […] a long specimen of his translation of Vergil“. Bereits im September 1943 hatte Tolkien in einem unpublizierten Brief erwähnt, dass Lewis Vergil in gereimte Alexandriner übersetzte (vgl. Anm. 1 zu Nr. 81). 12 Cecilia Barella: „Virgil“, in: Michael D.C. Drout (Hg.): J.R.R. Tolkien Encyclopedia. Scholarship and critical Assessment. New York u.a. 2006, 695-696.

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einige Aufsätze über Einzelmotive;13 und bereits 1986 ist eine recht umfangreiche Untersuchung über Tolkien und Vergil von Robert E. Morse erschienen.14 Morse befasst sich in erster Linie mit Übereinstimmungen zwischen den Charakteren, ihren Tugenden und den Wertsystemen bei beiden Autoren: Frodo der Hobbit, der die Bürde des Rings unfreiwillig und zögernd, aber doch in der Gesinnung von labor und pietas auf sich nimmt, entspricht dem Aeneas der ersten Eposhälfte, Aragorn, der Krieg um das Land Gondor und die Neugründung des Reiches führt, dem der zweiten.15 In diesen Darstellungen wird jedoch nicht auf die Frage eingegangen, auf welcher Grundlage der LR überhaupt mit der Aeneis verglichen werden kann: Haben wir es lediglich mit Motivübernahmen, intertextuellen Anspielungen und mit Ähnlichkeiten in der Figurenkonzeption zu tun, oder reicht die Übereinstimmung tiefer? Welcher literarischen Gattung gehört der LR überhaupt an? Und falls es sich wirklich um eine Art Epos handelt, in welcher Hinsicht steht es als Ganzes in der Tradition Vergils? Diese Fragen stehen zunächst im Zentrum, ehe an konkreten Beispielen Bezüge zwischen der Aeneis und dem LR aufgezeigt werden.

4. Die Gattungsfrage Welcher literarischen Gattung der LR angehört, ist in der Tat alles andere als klar. Das Buch ist lang, es ist Prosa, aber kann man es deshalb einen Roman nennen? Heute wird es dem Genre der Fantasy oder genauer, der heroischen Fantasy (denn es gibt inzwischen zahlreiche Subgenres) zuge–––––––––––– 13 Obertino, James: „Moria and Hades: Underworld Journeys in Tolkien and Virgil“, in: Comparative Literature Studies 30 (no. 2), 1993, 153-169; Greenman, David: „Aeneidic and Odyssean Pattern of Escape and Return in Tolkien’s ‘The Fall of Gondolin’ and ‘The Lord of the Rings’“, in: Mythlore 18 (no. 2), 1992, 49. 14 Morse, Robert E.: Evocation of Virgil in Tolkien’s Art: Geritol for the Classics, Oak Park (Illinois) 1986. 15 Die drei Hauptkapitel sind „Frodo and Aeneas“, „Aragorn and Aeneas“ sowie „Dido and Denethor“ überschrieben. Auf den letzteren Vergleich wird im Folgenden nicht weiter eingegangen, daher an dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung: Denethor, der Herrscher von Gondor, seines Titels aber nur Truchsess und dazu bestimmt, von Aragorn von der Herrschaft verdrängt zu werden, kann sich wie Dido nicht mit dem fatum anfreunden, verstrickt sich in Zauberei, verzweifelt schließlich und begeht Selbstmord (vgl. Übersicht, § 8-9; 15). – Ein viertes Kapitel, „The Nordic Myth“, befasst sich mit der Rolle des fatum bzw. Schicksals in beiden Werken.

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rechnet; aber eben diese Gattung existierte damals noch nicht, sondern wurde erst durch den LR geschaffen.16 Zur Zeit seines Erscheinens (1954/55) war der LR hingegen – in den Worten Shippeys – „quite clearly a sport, a mutation, a lusus naturae, one-item category on its own“.17 Tolkien selbst hat das Buch ohne Gattungsbezeichnung veröffentlicht. Auch im Vorwort zur zweiten Auflage (1966), in dem er zu seinen Intentionen und einer möglichen „Botschaft“ des Buches Stellung nimmt („it has in the intention of the author none“), vermeidet er jede Festlegung auf eine literarische Gattung oder Tradition. An einer Stelle bezeichnet er sich als Geschichtenerzähler, und das ist alles: „The prime motive was the desire of a tale-teller to try his hand at a really long story […]“.18 Doch wie ist das Buch zu klassifizieren? In anderen Selbstaussagen Tolkiens, insbesondere in seinen Briefen, stößt man auf drei Begriffe, um den LR zu bezeichnen, nämlich fairy-story, epic und romance. Inwiefern können nun diese Begriffe für eine Gattungsdefinition des LR in Anspruch genommen werden? Im Jahre 1939, als er bereits seit einiger Zeit am LR arbeitete, hielt Tolkien einen Vortrag „On Fairy-Stories“ (publiziert 1947);19 und manches, was er darin zur Rechtfertigung des Märchens20 als einer Literaturform für Erwachsene sagt, kann man auch als Erläuterung und Rechtfertigung seiner eigenen Intentionen als Erzähler ansehen. Auch nennt Tolkien in mehreren Briefen den LR eine fairy-story.21 Aber kann das Buch deshalb wirklich als Märchen bezeichnet werden?22 –––––––––––– 16 Freilich gab es auch vorher schon eine in der Epoche der Romantik wurzelnde Tradition phantastischer Literatur und auch umfangreiche heroisch-phantastische Erzählungen; als ‘Vorläufer’ der modernen Fantasy sind hier etwa die Romane von William Morris (Ende des 19. Jh.) und von Edgar Rice Burroughs (Anfang des 20. Jh.) erwähnenswert; Tolkien kannte und schätzte Die Königstochter aus Elfenland von Lord Dunsany (1924) und Der Wurm Ouroburos von E. R. Eddison (1926). 17 Shippey, 2000 (wie Fußn. 5), xviii. 18 LR, S. 8 [dt. S. 10; in der deutschen Ausgabe ist „tale-teller“ mit „Märchenerzähler“ wiedergegeben]. 19 Jetzt in: J.R.R.T., 2006 (wie Fußn. 5), 109-161. 20 Fairy-story ist freilich nicht ganz dasselbe wie „Märchen“, denn es bedeutet „Feengeschichte“, und auf diese Bedeutung geht Tolkien in seinem Vortrag ausführlich ein. 21 An eine Leserin schreibt er z.B., der unerwartete Erfolg des LR rechtfertige seinen Glauben, „that the ‘fairy-story’ is really an adult genre, and one for which a starving audience exists“, J.R.R.T., Letters 1981/2000 (wie Fußn. 11), Nr. 159 (vom 3. März 1955; an Dora Marshall); vgl. Nr. 163, S. 216. In Nr. 181, S. 232, erklärt er: „It is a ‘fairy-story’, but one written […] for adults“; ähnlich Nr. 215, S. 297; Nr. 234, S. 310. Mehrfach nimmt Tolkien hierbei auch auf den Essay „On

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Tolkiens Selbstäußerungen in diese Richtung sind recht zahlreich und können nicht einfach ignoriert, doch müssen sie in ihren Kontexten betrachtet werden. In seinem Brief an Michael Straight (Nr. 181) beispielsweise weist Tolkien vor allem zurück, dass der LR mit irgendeiner „Botschaft“ befrachtet sein könnte, ganz ähnlich, wie er auch im oben zitierten Vorwort zur 2. Auflage argumentiert: „There is no ‘allegory’, moral, political, or contemporary in the work at all. It is a ‘fairy-story’ […]“. Das Wort fairy-story dient hier weniger als Gattungsbezeichnung denn als Negativbegriff, um bestimmte Ansprüche an das Buch zurückzuweisen: „Märchen“ ist weniger ein Begriff für das, was der LR ist, als ein Gegenbegriff zu dem, was er auf keinen Fall sein will. Es sei auch darauf hingewiesen, dass Tolkien das Wort gerne in Anführungszeichen setzt, so als sei ihm selbst klar, dass es nicht voll und ganz der Sache entspricht. In der Forschungsliteratur und von den Lesern wird die Bezeichnung „Märchen“ offensichtlich nicht akzeptiert (und im allgemeinen ignoriert) – und das hat Gründe: Der LR entspricht nicht den Gattungsmerkmalen eines Märchens; vor allem ist er viel zu lang und weist eine Komplexität der Welterfindung auf, die für das Märchen – und auch die fairy-story – gerade nicht typisch ist. So ist das Märchen typischerweise in Raum und Zeit unbestimmt,23 und derart unbestimmt fängt in der Tat The Hobbit, der ‘Vorgänger’ des LR,24 an: „In einem Loch am Boden, da lebte ein Hobbit“: das mag man –––––––––––– fairy-stories“ Bezug und äußert in Nr. 234, das Nachdenken über Märchen habe dem LR gutgetan, denn dieser sei „a practical demonstration of the views that I expressed“. (Hier und öfter geht es um einen Vergleich zwischen dem LR und seinem ‘Vorgänger’, dem Hobbit; der Hobbit sei für Kinder geschrieben, aber das Nachdenken über Märchen habe den Autor dazu gebracht, zu begreifen, dass Geschichten dieser Art auch für Erwachsene erzählt werden könnten und sollten.) 22 Dieter Petzold: J.R.R. Tolkien. Fantasy Literature als Wunscherfüllung und Weltdeutung, Heidelberg 1980, 102ff., diskutiert die Begriffe novel und romance und gelangt schließlich zu der Auffassung, dass es sich um ein Kunstmärchen (engl. fantasy fiction) handle. 23 Vgl. Lothar Bluhm, „Märchen“, Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearb. Aufl. hg. v. Dieter Burdorf u.a., Stuttgart u.a. 2007, S. 472-474. 24 Der Hobbit, die erste längere Erzählung, die Tolkien veröffentlicht hatte, war ein Kinderbuch, das die Abenteuer des Hobbits Bilbo auf der Jagd nach einem Drachenschatz schildert. Das Buch wurde ein unerwarteter Erfolg, und von seinem Verleger dazu gedrängt, machte Tolkien sich daran, eine Fortsetzung zu schreiben. Am Anfang dieser Fortsetzung standen nur Bilbo, sein Neffe Frodo, der Ring, den Bilbo auf seiner Fahrt gefunden hatte (weil der Ring nach Tolkiens Ansicht als einziges Motiv im Hobbit noch nicht ausgeschöpft war), und die vage

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als das „Es war einmal“ des Märchens verstehen. Der LR war ursprünglich als Fortsetzung des Hobbit geplant, in der die Abenteuer des Hobbits Bilbo von dessen Neffen Frodo weitergeführt werden sollten; doch im Schreiben erkannte Tolkien allmählich, dass die neue Erzählung keine Geschichte für Kinder sein würde. Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Märchen in On Fairy-Stories half ihm bei der Neukonzeption, da sie ihm deutlich machte, dass „solche Geschichten“ durchaus auch Erwachsene ansprechen könnten und sollten. Daraus wird vollends deutlich, welche Bedeutung der Begriff des Märchens für Tolkien als Schriftsteller hatte: Es ist die Gattung, an die er anknüpft, weil er darin verschiedene Elemente findet, die dem entsprechen, was er erzählen will (z.B. Welterfindung [sub-creation], Magie, Trost, Happy End) – aber das heißt nicht, dass tatsächlich ein Märchen das Ergebnis seines Erzählens ist. In welcher Hinsicht aber ist das Buch ein „Epos“? Um mit dem Einfachsten anzufangen: eben weil es überaus lang ist. Der Autor hat vielleicht nicht den Entschluss gefasst, ein Epos zu schreiben – aber eine so lange Erzählung erfordert mehr und auch eine andere Organisation als die eines Märchens.25 Sie erfordert, dass der Autor anderes Wissen und andere Traditionen, lange Geschichten zu erzählen, zu Hilfe ruft. Die Geschichte verzweigt sich beim Erzählen, Komplexität entsteht, und die Komplexität erzeugt die intentio textus. Die Absicht des Epikers ist es nicht, Sinn be–––––––––––– Idee, dass Frodo ebenfalls das Auenland verlassen sollte, um Abenteuer zu erleben. Das erste Kapitel, A long-expected Party, war schnell geschrieben, doch fand Tolkien über viele Wochen keine Fortsetzung und schrieb das Kapitel wieder und wieder um, ohne dass ihn das weiterbrachte. Was fehlte, war ein Motiv: Frodo sollte das Auenland halb aus Abenteuerlust verlassen, wie Bilbo, halb aus einem handfesteren Grund: Bilbos Gold ist aufgebraucht (ein Motiv, das in der Endfassung als Vorwand überlebt hat: Als Frodo sein Haus verkauft und wegzieht, gibt er vor, es geschehe aus Geldnot), und Frodo will nun selbst Drachengold erwerben (vgl. J.R.R.T.: History VI, 1988 [The Return of the Shadow; wie Fußn. 10], S. 41 u.ö. Eine Zusammenfassung dieser frühen Phase bietet Carpenter, 1991 [wie Fußn. 2], 210-217). Aber aus irgendeinem Grunde vermochte diese bewährte Idee die Geschichte nicht in Gang zu bringen. Erst als die Notwendigkeit geschaffen war, dass Frodo seine Heimat verlässt, weil er wegen des Ringes verfolgt wird, und damit aus Abenteuer und Drachenjagd Flucht und Verbannung wurden, war die Grundidee gefunden, die von einem ‘Hobbit Nr. 2’ zu einem völlig neuen Werk führte, dem Herrn der Ringe. 25 Bei den letzten Kapiteln des vierten Buches des LR etwa fürchtet Tolkien, er werde überhaupt kein Ende mehr finden, und spricht in diesem Zusammenhang von seinem „epischen Temperament“: „I’m afraid in making my sequel too long and complicated and too slow in coming out. It is a curse having the epic temperament in an overcrowded age devoted to snappy bits!“ (J.R.R.T., Letters 1981/2000 [wie Fußn. 11], Nr. 77, S. 90; vom 31. Juli 1944; vgl. Nr. 47, S. 58).

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wusst zu konstruieren, sondern die intentio textus zur Geltung zu bringen. Tolkien wusste das; deshalb schreibt er in seinem Vorwort – wie oben zitiert – nicht, dass seine Geschichte keine Bedeutung habe, sondern dass sie seiner Absicht nach keine habe.26 An einer anderen Stelle drückt er das deutlicher aus: „far greater thing may colour the mind in dealing with the lesser things of a fairy-story“.27 Auch die Bezeichnung epic gebraucht Tolkien in seinen Briefen, wenngleich seltener als den Märchenbegriff, für den LR, und zwar vor allem im Hinblick auf dessen Länge und Komplexität. Er nennt auch konkrete Namen: Auf Widersprüche im LR angesprochen, erwidert er: „There are, I suppose, always defects in any large-scale of work; and especially in those of literary form that are founded on an earlier matter which is put to new uses – like Homer, or Beowulf, or Virgil […]“:28 Als Beispiele kommen ihm also sofort die antiken Epiker in den Sinn, und mit ihnen assoziiert er nicht nur ein langes Werk, sondern eines, das mythologischhistorische Stoffe zu etwas Neuem verarbeitet und ihnen dabei – in der oben umschriebenen Weise – einen neuen Sinn verleiht. Der Unterschied ist, dass die alten Epiker ihre Mythologie überliefert vorfanden, während Tolkien die seine selbst erfunden hatte.29 –––––––––––– 26 Zur Erzeugung von Sinn vgl. etwa auch seine Auffassung über den BeowulfDichter: „Had the matter [d.h. die Interpretation, die Tolkien soeben vorgetragen hatte] been so explicit to him, his poem had certainly been the worse.“ (J.R.R.T., Beowulf 2006 [wie Fußn. 9], 18). 27 J.R.R.T., Letters 1981/2000 (wie Fußn. 11), Nr. 213, S. 288. In diesem und anderen Briefen nimmt Tolkien auf seinen katholischen Glauben Bezug; Interpretationen von Lesern wie z.B., dass die Figur Galadriels und die Anrufungen an Elbereth etwas mit der katholischen Marienverehrung zu tun hätten, nimmt er zustimmend zur Kenntnis, obgleich ihm diese Bezüge im Schreiben nicht bewusst oder beabsichtigt waren. 28 J.R.R.T., Letters 1981/2000 (wie Fußn. 11), Nr. 156, S. 201. 29 Ebd. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Unterschiede zum klassischen Epos, vor allem die Verwendung von Prosa und das Fehlen eines „Götterapparats“ (zur antiken Gattungsdefinition vgl. Werner Suerbaum: Vergils Aeneis, Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999, 43f.). Allerdings gibt es in Tolkiens Mythologie so etwas wie Götter, die Valar des Silmarillion, die sogar recht antik konzipiert sind; im LR treten sie zwar nicht auf, aber Andeutungen (vor allem von Gandalf, ihrem Abgesandten) verweisen auf sie. Auch die unsterblichen Elben haben Ähnlichkeit mit Göttern. Lässt man überhaupt inhaltliche statt formalen Kriterien gelten, ist die Eposdefinition Bachtins (Formen der Zeit im Roman, Frankfurt 1989, 220) erhellend: Gegenstand des Epos sei die nationale Vergangenheit, die von der Gegenwart durch eine absolute Distanz getrennt sei, seine Quelle sei die nationale Überlieferung, nicht persönliche Erfahrung. Diese konstitutiven Elemente hat Tolkien sozusagen ‘perfekt gefälscht’.

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Ein Kennzeichen epischen Dichtens ist es also für ihn, mythologische Stoffe durch einen neuen Sinn zu beleben. Eine solche Erneuerung schreibt er in seinem berühmten Aufsatz dem Beowulf zu, und es ist genau dieser Punkt, in dem er den Beowulf-Dichter mit Vergil vergleicht: Der Beowulf-Dichter stehe in einer Zeitenwende, gleichermaßen beeinflusst von den Stoffen der nordischen Epik mit der darin enthaltenen Weltdeutung wie von der neuen christlichen Lehre: nicht so, dass er den heidnischen Stoff zu einer Allegorie christlicher Auffassungen umgestalte, sondern so, dass er etwas Neues schafft, das eine Verschmelzung aus beidem darstellt. Ähnlich Vergil: „We have the great pagan on the threshold of the change of the world; and the great (if lesser) Christian just over the threshold of the great change in his time and place: the backward view: multa putans sortemque animo miseratus iniquam“.30 Der angelsächsische und der römische Dichter bejahen in Tolkiens Sicht beide das Neue, sind aber gleichzeitig der Vergangenheit zugewandt und voller Melancholie angesichts des ungerechten Schicksals vergeblichen Heldentums.31 Diese Charakterisierung trifft zumindest teilweise auch auf Tolkien selbst und sein mythologisches Schaffen zu. Auch er sieht sich in einer Zeitenwende, und er fühlt sich gleichermaßen von der heidnischen Epik angezogen und dem katholischen Glauben verpflichtet,32 den heroischen Tugenden gilt seine Sympathie, aber seine Verbundenheit dem Lebensgefühl der Jahrhundertwende, wie es die Hobbits repräsentieren.33 –––––––––––– 30 J.R.R.T., Beowulf 2006 (wie Fußn. 9), 24 (das Vergilzitat ist Aen. 6,332). Bei diesem Vergleich will sich Tolkien nicht einmal auf die Behauptung festlegen, dass der Beowulf-Dichter Vergil wirklich kannte; es geht nicht um Nachahmung im Detail, die Tolkien (zu Recht) „inconclusive“ findet, „while the real likeness is deeper and due to certain qualities in the authors“ (ebd.). 31 „In fact the real resemblance of the Aeneid and Beowulf lies in a constant presence of a many-storied antiquity, together with its natural accompaniment, a stern and noble melancholy. In this they are really akin“, ebd., Anm. 21, S. 46. 32 Vgl. Petzold, 1980 (wie Fußn. 22), 60ff., der meint, dass dieser Konflikt bei Tolkien echt sei, habe seinem Schaffen gutgetan. Dass Tolkien überzeugter Katholik war, merkt man auf der Textoberfläche dem LR nicht an, der ebenso wie der Beowulf auf religiöse Allegorisierung verzichtet; doch legte er Wert darauf, dass der LR der katholischen Lehre nicht widerspricht (vgl. etwa J.R.R.T., Letters 1981/2000 [wie Fußn. 11], Nr. 142; Nr. 165, S. 220). 33 Die Hobbits unterscheiden sich erheblich von den heroischen Protagonisten des Silmarillion: sie sind im Prinzip, wie Shippey 2000 (wie Fußn. 5), 5f. gezeigt hat, Engländer und sogar überraschend genau zu datieren – auf das Ende des 19. Jh. Sie stellen das Bindeglied zwischen der heroischen Vergangenheit in der Welt des LR und der Modernität des Lesers dar und vermitteln ständig zwischen beiden. Christopher Tolkien zeigt in seinem Vorwort zum Book of the Lost Tales (= J.R.R.T., History I-II [wie Fußn. 10]), an einigen Beispielen, etwa Sams Kommen-

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Ein besonders wichtiges Element ist dabei für Tolkien die bewusste Erzeugung von ‘Zeittiefe’, die er sowohl dem Beowulf-Dichter als auch Vergil zuschreibt: Die erzählte Geschichte verweist auf eine Vielzahl unerzählter Geschichten,34 die nicht nur Kulisse sind, sondern die den Eindruck einer ganzen, komplexen, wirklich vorhandenen, sich unermesslich in Zeit und Raum erstreckenden Welt vermitteln, von der die aktuell erzählte Geschichte nur einen Ausschnitt bietet. Auch wenn der BeowulfDichter und Vergil sich dabei auf eine vorhandene Mythologie stützen, während Tolkien die seine zur Gänze selbst erfunden hat, handelt es sich doch in allen drei Fällen um die Erschaffung einer neuen Welt (sub-creation), ist der Eindruck ihrer Wirklichkeit das Ergebnis poetischer Kunst.35 In die Richtung epischen Erzählens weist auch der dritte von Tolkien selbst benutzte Begriff, romance: „My work is not a ‘novel’ but an heroic romance, a much older and quite different variety of literature“.36 Trotz der Bestimmtheit im Ton ist auch dies keine absolute Aussage; vielmehr geht es auch hier um die Ablehnung einer Gattungsbezeichnung und der damit verbundenen Lesererwartungen an das Buch. Novel hat im Englischen eine engere Bedeutung als „Roman“: Es steht für jene Art eher realistischer und gegenwartsbezogener Literatur, der Tolkien desinteressiert bis feindlich gegenüberstand. Er lehnt es daher ab, am novel-Begriff gemessen zu werden, und verweist auf eine ältere literarische Tradition. Romance ist die englische Bezeichnung für den mittelalterlichen Versroman, insbesondere für die Artusepik; typisch für sie ist die Form der –––––––––––– taren zu Gimlis Lied über Durin, den Stammvater der Zwerge, wie erst die unbefangenen und oft unbedarften Kommentare der Hobbits dem Leser einen Zugang zur fingierten heroischen Vergangenheit eröffnen: Erst durch sie wird der zeitliche und mentale Abstand dazu sowohl verdeutlicht als auch überbrückt. 34 Vgl. dazu Fußn. 31 („many-storied antiquity“). 35 Wer den im Epos angedeuteten unerzählten Geschichten nachtrauert, weil sie scheinbar interessanter sind als das, was tatsächlich erzählt wird, der fällt letztlich auf diese Kunst herein; vgl. J.R.R.T., Beowulf 2006 (wie Fußn. 9), 27f. Tolkien setzt sich hier mit der seinerzeit weithin üblichen positivistischen Interpretation auseinander, die die alten Dichter vor allem als Steinbruch benutzte, um verlorene Quellen zu rekonstruieren; ironisch (aber nicht nur ironisch) ruft er aus: „Alas for the lost lore, the annals and old poets that Virgil knew, and only used in the making of a new thing!“ 36 J.R.R.T., Letters 1981/2000 (wie Fußn. 11), Nr. 329, S. 414. Bisweilen stellt er auch unterschiedliche Gattungsbezeichnungen nebeneinander, wie in der ironischen Selbstcharakterisierung in Nr. 165, S. 219: „The authorities of the university might well consider it as an aberration of an elderly professor of philology to write and publish fairy stories and romances […]“.

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Queste-Erzählung mit Liebe und Abenteuer als Hauptthemen.37 Als Bezeichnung für neuere Erzählungen hat das Wort oft eine pejorative Konnotation – Kitsch, Unterhaltung: Nicht ohne Grund fügt Tolkien seiner Klassifizierung das Wort heroic hinzu, mit dem er das epische Kolorit seines Werks hervorhebt und sich von seichteren, neueren und „romantischeren“ Ausprägungen der Gattung abgrenzt.

5. Wieviel „Romantik“ verträgt ein heroisches Epos? Der LR kann also als Epos betrachtet werden, wobei es wenig sinnvoll scheint, diese Gattung von dem, was Tolkien heroic romance nennt, scharf abzugrenzen. Die Aeneis im besonderen rezipiert Tolkien sowohl direkt als auch auf dem Umweg über den mittelalterlichen Versroman, der seinerseits auf die Aeneis zurückgeht. Der entscheidende Punkt ist: es ist die Tradition heroischen Erzählens, die Tolkien erneuert, wiederbelebt, auch verwandelt; und es lässt sich zeigen, dass und in welcher Weise er sich dabei an Vergil orientiert. Der Hauptunterschied zwischen dem klassischen Epos und der Romance besteht in der Behandlung des Liebesthemas. Die Liebe ist eines der zentralen Themen der Romance, wie in den mittelalterlichen Artusepen oder im Amadis oder auch in der Parodie des Don Quichote: Der Held begibt sich auf eine Fahrt und besteht eine Reihe von Abenteuern, um am Ende die Liebe einer Dame zu gewinnen. Oberflächlich betrachtet, entspricht bereits die Aeneis diesem Schema – der ‘Plot’, nicht aber die Ausführung: denn Aeneas begibt sich unfreiwillig auf die Fahrt; er hatte bereits eine Familie: seine Frau ist in Troja umgekommen; auch Dido verlässt er unfreiwillig, und die Heirat mit Lavinia, bereits im 2. Buch geweissagt, ist niemals sein Wunschziel, sondern lediglich ein politisches Zweckbündnis, das der Erzähler durch keinerlei Romantik versüßt. Das gleiche Schema liegt auch dem LR zugrunde: Wie Aeneas, heiratet Aragorn am Ende die ‘Prinzessin’, in seinem Fall die unsterbliche Elbin Arwen. Anders als bei Aeneas ist es keine politische Zweckheirat, sondern eine aus Liebe. Arwen zu gewinnen ist von Anfang an Aragorns Ziel gewesen, wenn nicht sein einziges38 – sein Motiv ist insofern das eines romantischen Ritters. –––––––––––– 37 Zur Gattungsdefinition vgl. Christoph Schöneich, „Romance“, Metzler Literaturlexikon (wie Fußn. 23), S. 662. 38 Zu Galadriel (vgl. Übersicht, § 10) sagt er: ‘Lady, you know all my desire, and long held in keeping the only treasure that I seek. Yet it is not yours to give me […]; and only through darkness shall I come to it’ (LR, II 8, S. 395 [dt. S. 452]).

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Aber der Leser weiß es nicht. Es ist Aragorns Geheimnis, über das nur ganz wenige Andeutungen gemacht werden; und alle sind so formuliert, dass der Leser sie missverstehen muss.39 Einmal zum Beispiel entdeckt Frodo Aragorn, wie er in Gedanken versunken dasteht und „zu jemandem, der nicht da ist“, Worte sagt, die der Leser nicht entschlüsseln kann;40 niemand kennt den Grund seiner kurzen Geistesabwesenheit, und er scheint auch nicht weiter wichtig.41 Aragorn erblickt Frodo, lächelt freundlich, und der Moment ist wie weggeblasen. Viele Kritiker haben moniert, dass Liebe im LR überhaupt keine Rolle spielt, und sehen dies als Hauptgrund, das Ganze als Kinderbuch abzutun.42 Indessen ist eine solche Aussparung nicht ausschließlich ein Charakteristikum von Kinderbüchern, sondern kann auch als Ausweis heroischen Erzählens gelten.43 Die Liebe hat in der Welt des Epos keinen Platz; ob–––––––––––– 39 Die Hochzeit am Ende kommt für die Leser – wie für die Hobbits – überraschend, die Vorgeschichte erfährt man erst aus der Erzählung von Aragorn und Arwen in den Anhängen (wie Fußn. 6) zum LR, in die Informationen über Aragorns Kindheit und Jugend gewissermaßen ausgelagert werden. Auch die Aussparung der Jugend des Helden ist übrigens typisch für das heroische Epos, vgl. Suerbaum, 1999 (wie Fußn. 29), 129. 40 ‘Arwen vanimelda, namarië’ (LR, II 6, S. 371 [dt. S. 425]). Die Worte sind elbisch und bedeuten: „Geliebte Arwen, leb wohl“. Im Gegensatz zu anderen elbischen „Zitaten“ im LR werden sie nicht übersetzt, und der Leser kann die Bedeutung nur mithilfe anderer elbischer Gedichte entschlüsseln, darunter Galadriels Abschiedslied, das etliche Seiten später gesungen wird (LR, II 8, S. 398 [dt. S. 455f.]) – was wohl nur die wenigsten tatsächlich tun. 41 Die Versunkenheit des Ritters in Gedanken an seine Dame ist ein typisches Motiv des Versromans. Bei Wolfram von Eschenbach ist Parzival einmal derart in Gedanken an Condwiramurs versunken, dass er unterdessen zwei Ritter hintereinander durch sein Schweigen beleidigt und dann im Kampf besiegt, ohne es überhaupt zu bemerken (Buch 6, § 283-302). 42 So schreibt z.B. Edwin Muir in seiner Rezension: „Das Erstaunliche ist […], dass alle Figuren kleine Jungen sind, die sich als erwachsene Helden maskieren. Die Hobbits oder Halblinge sind gewöhnliche Jungen, die rein menschlichen Helden gehen schon in die Fünfte Klasse, doch kaum einer weiß Bescheid über Frauen, außer vom Hörensagen“ (zit. n. Carpenter, 1991 [wie Fußn. 2], 254; vgl. auch oben Fußn. 2 und 3). Eine einfühlsamere Deutung desselben Befundes gibt Marion Zimmer Bradley: „Von Helden und Halblingen“, in: Pesch, 1984 (wie Fußn. 3), 57-90: Sie interpretiert den LR als rite de passage bzw. eine Art Entwicklungsroman mit den Hobbits als jugendlichen Helden, die am Ende in die Erwachsenenwelt eingegliedert werden. 43 Vgl. oben Kap. 4. Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass Liebe auch im BeowulfEpos kaum thematisiert wird; insbesondere nicht im Hinblick auf den Titelhelden selbst. Nach seinen jugendlichen Heldentaten wird Beowulf schließlich König,

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wohl der LR mit einer (Liebes-)Heirat endet, ist die Liebe kein Bestandteil der epischen Handlung und Wirklichkeit. Es gelten also im LR die Regeln des Epos, wie wir sie von Vergil kennen: 1. Es gibt keine glückliche Liebe. 2. Soweit Liebe vorkommt, befördert sie nicht die Erfüllung des heroischen Auftrags, sondern verzögert sie oder droht sie sogar zu verhindern. 3. Liebende Frauen können dargestellt werden, liebende Helden aber niemals. In der Aeneis gelten diese Regeln nicht nur für Aeneas’ Kampf um Lavinia, der nichts mit Liebe zu tun hat, sondern auch für seine Beziehung mit Dido, die, solange sie glücklich ist, dem Leser nur in Form von Gerüchten und aus der Außenperspektive des Iarbas, Jupiters und schließlich Merkurs dargestellt wird.44 Nur aus der Distanz wird der Leser mit der Vorstellung konfrontiert, dass „die Liebenden“, also auch Aeneas, ihre Verantwortung und ihren guten Ruf vergessen haben.45 Die gleichen Regeln gelten auch für Aragorn, der zwar liebt, dessen Liebe dem Leser aber verschwiegen wird und dessen Heldentum im übrigen nicht mehr Vergesslichkeit verträgt als das des Aeneas. Es gibt auch im LR eine Frau, der mehr oder weniger die Rolle Didos zukommt, ohne im Übrigen große Ähnlichkeit mit ihr zu haben, nämlich Éowyn, Prinzessin von Rohan.46 Im Unterschied zur Aeneis bleibt die Liebe Éowyns einseitig – was jedoch nicht verhindert, dass Aragorn schließlich vor dem gleichen Problem steht wie Aeneas: Éowyn will ihn zurückhalten, während er ihr klarzumachen versucht, dass sie, soeben zur Regentin ihres Volkes ernannt, ebenso wie er ihrer Pflicht folgen müsse.47 –––––––––––– 44 45 46

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bleibt aber unverheiratet, und als er nach fünfzig Regierungsjahren im Kampf gegen den Drachen stirbt, hinterlässt er keine Nachkommen. Vgl. dazu Verf.: Schweigen im römischen Epos: Zur Dramaturgie der Kommunikation bei Vergil, Lucan, Valerius Flaccus und Statius, München u.a. 2007, 68-71. Vgl.: regnorum immemores (Aen. 4,195); oblitos famae melioris amantis (Aen. 4,21). Vgl. Übersicht, § 12 und 16. Anklänge an Dido erblickt auch Librán-Moreno, 2006 (wie Fußn. 8). Sie zeigt, dass das Bild Éowyns, obwohl vorwiegend und deutlich nordisch, doch auch in hohem Maße durch Zitate aus der antiken Literatur geprägt ist. „‘Your duty is with your people,’ he answered. ‘Too often I have heard of duty,’ she cried“, etc. (LR, V 2, S. 815 [dt. S. 60]). – So wie der Krieg gegen Sauron, die Rolle des Königreichs Rohan in diesem Krieg und Éowyn selbst konzipiert sind, kann sie ihn nicht bitten, seine Mission einfach aufzugeben; sie versucht ihn jedoch von einem ganz bestimmten Weg zurückzuhalten, den er einzuschlagen be-

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Er untermauert dies auf die gleiche Weise wie Aeneas – indem er seinen eigenen unerfüllten Herzenswunsch preisgibt: ‘Aragorn,’ she said, ‘why will you go on this deadly road?’ ‘Because I must’, he said. ‘Only so I can see any hope of doing my part in the war against Sauron. […] Were I to go where my heart dwells, far in the north I would now be wandering in the fair valley of Rivendell.’ For a while she was silent, as if pondering what this might mean.48

Ähnlich äußert sich Aeneas: ‘Me si fata meis paterentur ducere vitam auspiciis et sponte mea componere curas, urbem Troianam primum dulcisque meorum reliquias colerem’ (Aen. 4,340ff.).

In beiden Fällen eröffnet die Dame (wirklich oder scheinbar) die Alternative „Krieg vs. Liebe“, und es ist zu erwarten, dass der Held das eine wünscht, während er das andere tut – doch irritierenderweise äußert er den Wunsch nach etwas Drittem und lässt so diese (elegische?) Alternative insgesamt hinter sich. Dass Aragorn auf Arwen anspielt, die in Rivendell wohnt und die er am Ende heiraten wird, kann der Leser (wie auch Éowyn) zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Es entsteht der Eindruck – und er ist nicht falsch –, dass für Aragorn Rivendell das gleiche bedeutet wie Troja für Aeneas: Heimat und Ort der Kindheit, zu dem zurückzukehren unmöglich ist. Weder Aeneas noch Aragorn können die jeweilige Dame von der Notwendigkeit ihres Tuns überzeugen oder wenigstens ihren Schmerz lindern. Dido tötet sich selbst, und zwar auf männliche Art, mit dem Schwert. Éowyn verkleidet sich als Krieger und zieht heimlich mit dem Heer von Rohan, in der Absicht, in der Schlacht umzukommen. Wie Aeneas löst also Aragorn eine tragische Katastrophe aus; im Unterschied zu Aeneas hat er Éowyn aber nie verführt oder ermutigt und hat sich also nichts vorzuwerfen. Interessanterweise war er jedoch nicht von Anfang an so unschuldig konzipiert: In der ersten, in der History dokumentierten Fassung der Éowyn-Episode – in diesem Stadium gab es noch keine Arwen – war es nämlich Aragorn, der sich zuerst in Éowyn verliebt: So Aragorn saw her for the first time […], and after she had gone he stood still, looking at the dark doors and taking little heed of other things.49

–––––––––––– absichtigt, den „Pfaden der Toten“ (dazu Übersicht, § 16; vgl. auch unten Kap. 10). 48 LR, V 2, S. 814 [dt. S. 60]; zu Sauron vgl. Übersicht, § 1-2.

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Damals plante Tolkien, dass die beiden am Ende heiraten sollten, entschied sich aber bald dagegen, um einen tragischen Ausgang ins Auge zu fassen.50 Auch in der früheren Fassung kommt es zu einem schmerzlichen Abschied: (Legolas erzählt:) ‘And that fair lady, […] Éowyn, wept at his [scil. Aragorn’s] going. Indeed at the last in the sight of all she set her arms about him imploring him not to take that road, and when he stood there unmoved, stern as stone, she humbled herself to kneel in the dust. It was a grievous sight.’51

Dido erspart sich einen ähnlich mitleiderregenden öffentlichen Verlust der Contenance, indem sie ihre Bitten von Anna überbringen lässt, indessen mit einem ganz ähnlichen Ergebnis: haud secus adsiduis hinc atque hinc vocibus heros tunditur et magno persentit pectore curas: mens immota manet, lacrimae volvuntur inanes (Aen. 4,447-449).

Was geht in dem Helden vor, der äußerlich so steinern wirkt?52 Vergil lässt darüber keinen Zweifel: Aeneas empfindet Mitleid und Schmerz über die Unmöglichkeit, Trost und Linderung zu spenden.53 In Tolkiens Frühfassung wird dem Bild des harten Helden, „unmoved, stern as stone“, keine mildernde Innensicht entgegengesetzt. In der Endfassung ist das anders: Then he kissed her hand, and sprang into the saddle, and rode away, and did not look back; and only those who knew him well and were near to him saw the pain that he bore.54

–––––––––––– 49 J.R.R.T., History VII, 1989 (The Treason of Isengard [wie Fußn. 10]), 445, vgl. S. 447. Dieses Verhalten Aragorns widerspricht natürlich eklatant den oben formulierten ‘Regeln’. 50 In seinem Manuskript notiert Tolkien als Begründung: „Cut out the love-story of Aragorn and Éowyn. Aragorn is too old and lordly and grim. Make Éowyn […] a stern amazon woman. […] Probably Éowyn should die to avenge or save Théoden“ (J.R.R.T., History VII, 1989 [wie Fußn. 10], 448). 51 J.R.R.T., History VIII, 1990 (The War of the Ring [wie Fußn. 10]), 406; zu Legolas s. Übersicht, § 7 und 16. 52 Manche haben unter Hinweis darauf, dass bei Vergil nicht der Körper, sondern die Gesinnung (mens) des Helden unbewegt bleibt, argumentiert, dass hier nicht von den Tränen Didos, sondern von denen des Aeneas die Rede sei (vgl. etwa Viktor Pöschl: Die Dichtkunst Virgils, Berlin 31977). Das schließt aber nicht aus, dass Tolkien an die andere Interpretation denkt, die gewiss als ‘interpretatio facilior’ betrachtet werden kann. 53 So auch schon mehrfach zuvor in der Auseinandersetzung mit Dido; vgl. dazu Verf., 2007 (wie Fußn. 44), 78ff. 54 LR, V 2, S. 817 [dt. S. 61].

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Aragorns äußere Haltung ist hier annähernd die gleiche wie in der Frühfassung, auch wenn die Szene dynamischer und der Steinvergleich verschwunden ist,55 darüber hinaus weist der auktoriale Erzähler auf Aragorns Schmerz hin, der zwar gerade derjenigen, die es am meisten angeht, verborgen bleibt, den seine Gefährten aber bemerken und sozusagen bezeugen können.56 Es ist kein Liebesschmerz, der Aragorn zugeschrieben wird, als müsste auch er vor dem Odium des gewissenlosen Verführers bewahrt werden, es geht nicht darum, ihn zu rechtfertigen. Aber gerade weil er Éowyns Liebe nicht erwidert, scheint die Erzählung es zu erfordern, dass seine heroische Haltung durch einen ‘menschlichen’ Zug vertieft und gemildert wird. Wie Aeneas, so empfindet Aragorn Schmerz – eine Spur mehr als nur ‘Mitleid’, das oft mit einem Überlegenheitsgefühl verbunden ist – um diejenigen, denen durch ihn (nicht durch seine Schuld) Leid geschieht. Tolkien hatte also ursprünglich mehr „Romantik“ vorgesehen, kam aber dann davon ab. Auch das Konzept eines tragischen Endes einer Liebe zwischen Aragorn und Éowyn gab er auf. Die romantische Episode passte insgesamt nicht zu Aragorn, nicht zu der heroischen Erzählung, wie sie sich inzwischen entwickelt hatte. Die Endfassung ist zum einen „vergilischer“ und heroischer als die früheren: insofern als Aragorn die Liebe Éowyns nicht erwidern kann, während seine eigene Liebe (zu Arwen) nicht Gegenstand der Erzählung ist. Zum anderen aber verkürzt Tolkien das, was Vergil für heroisch oder einem Helden zumutbar hielt, insofern, als Aragorn, obgleich er in eine ähnliche Verstrickung gerät wie Aeneas, im Gegensatz zu diesem keiner Schwäche nachgegeben und sich absolut nichts vorzuwerfen hat. Wir können demnach in Aragorn nicht

–––––––––––– 55 Genauer gesagt, ist der Steinvergleich nicht ganz aufgegeben, sondern auf Éowyn verschoben: „But Éowyn stood still as a figure carven in stone, […] and she watched them until they passed into the shadows“ (ebd.). Man mag hier an die Szene im VI. Buch der Aeneis denken, in der, korrespondierend mit dem Eichengleichnis für Aeneas (Aen. 4,441-446), das Steingleichnis für Dido verwendet wird (Aen. 6,470f.). Tolkien benutzt sonst kaum Vergleiche oder gar Gleichnisse, vielleicht weil dies für ihn ein allzu typisches Stilelement des klassischen Epos ist, das er nicht nachahmen will. 56 Ähnlich wissen die Gefährten des Aeneas genug, um seine düsteren Ahnungen angesichts des von Karthago aufsteigenden Rauchs zu teilen: duri magno sed amore dolores / polluto, notumque furens quid femina possit, / triste per augurium Teucrorum pectora ducunt (Aen. 5,5-7).

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nur einen ‘halbierten’,57 sondern auch einen gewissermaßen bereinigten Aeneas erblicken.

6. Die Motive der handelnden Personen: Aragorn und die Gründung eines Königreichs Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, den Motiven der Helden für ihre Queste. Morse teilt in seiner Untersuchung über Tolkien und Vergil den LR in zwei Hälften: „between the wandering of Frodo and the fighting of Aragorn“.58 Dementsprechend sei auch der Held zweigeteilt: Frodo entspreche dem wandernden Aeneas in der ersten, odysseischen Eposhälfte, Aragorn dem kämpfenden in der zweiten. Das trifft zu, ist aber ein wenig zu schematisch. Anders als Aeneas und als Frodo hat Aragorn, wie wir gesehen haben, durchaus persönliche Motive, sich auf das Abenteuer einzulassen: Er will die Hand Arwens erringen; außerdem will er das Königtum in Gondor wiederherstellen, denn das ist die Bedingung für die Heirat.59 Beide Motive spielen jedoch in der Handlung keine Rolle: wird das eine überhaupt verschwiegen, so wird das andere so weit wie möglich heruntergespielt. Warum eigentlich nimmt Aragorn Mühen und Gefahren auf sich? Die Erzählung ist so konstruiert, dass sich diese Frage gar nicht erst stellt: Erzählt wird aus der Perspektive der Hobbits, und Aragorn begegnet ihnen und damit dem Leser zuerst in Bree als Freund und Stellvertreter des (guten) Zauberers Gandalf:60 ‘But I am the real Strider […]’, he said, looking down at them with his face softened by a sudden smile. ‘I am Aragorn, son of Arathorn; and if by life or dead I can save you, I will.’

Die Frage nach der Ursache so großer Hilfsbereitschaft stellt sich den Hobbits, so misstrauisch sie zunächst auch alle Äußerungen des Fremden hinterfragen, hier ebenso wenig wie bei Gandalf selbst. Es scheint klar zu sein, dass Aragorn ebenso wie Gandalf in der großen Welt jenseits des Auenlandes zu Hause ist, wo die Großen und Weisen unablässig und mit selbstverständlicher Uneigennützigkeit daran arbeiten, die Weltordnung zu –––––––––––– 57 Wie oben angedeutet, teilt er sich die Rolle des epischen Helden mit Frodo; vgl. dazu im Folgenden. 58 Morse, 1986 (wie Fußn. 14), 1. 59 Vgl. J.R.R.T., Anhänge 1966 (wie Fußn. 6), 46: In der dort abgedruckten Erzählung von Aragorn und Arwen stellt Arwens Vater Elrond diese Bedingung. 60 LR, I 9, S. 187 [dt. S. 214]; vgl. Übersicht, § 1-4.

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bewahren bzw. wiederherzustellen. Aragorn unterstützt die Mission des Ringes, weil er zu einer Kategorie von Personen gehört, die für so etwas einfach zuständig sind. Dass Aragorn der Erbe des alten, verschwundenen Königtums ist, ist im ersten Buch, während er die vier Hobbits von Bree nach Rivendell führt, ohne Bedeutung, weil die Hobbits von den „historischen Hintergründen“ ebenso wenig wissen wie der Leser. Erst Elronds Rat in Rivendell bringt zusätzliche Informationen: Frodo erfährt, wer Aragorn wirklich ist, und Aragorn begegnet Boromir, dem Sohn und Erben Denethors von Gondor,61 wobei die Rivalität zwischen ihnen sofort – wenn auch gedämpft – deutlich wird. Boromir ist sehr bedacht darauf, die Taten und den Ruhm des gegenwärtigen Gondor (einschließlich seiner eigenen) in das rechte Licht zu rücken. Nach Boromirs Rede steht Aragorn auf, doch es ist Elrond, der dessen Namen und Abstammung nennt. Nach einem Zwischenspiel, in dem sich vor allem Frodo über diese Enthüllung verblüfft zeigt, stellt Aragorn Boromir die entscheidende Frage: ‘Now you have seen the sword that you sought, what would you ask? Do you wish for the House of Elendil to return to the Land of Gondor?’ ‘I was not sent to beg any boon, but to seek only the meaning of a riddle,’62 answered Boromir proudly. ‘Yet we are hard pressed, and the Sword of Elendil would be a help beyond our hope – if such a thing could indeed return out of the shadows of the past.’63

Trotz seines prahlerischen Auftretens reagiert Boromir im Grunde recht geistesgegenwärtig. Er übergeht den Herrschaftsanspruch, der in Aragorns Worten verborgen liegt, und konzentriert sich ganz auf den Aspekt des Hilfsangebots, wobei er die Insinuation zurückweist, um ein solches gebeten zu haben, und nebenbei noch die Erbschaft, die Aragorns Anspruch begründet, Elendils Schwert, generell in Zweifel zieht. Ich bin auf diese Stelle genauer eingegangen, weil sie die einzige ist, an der Aragorn seine Absicht, „das Haus Elendil nach Gondor zurückzuführen“, überhaupt formuliert. Im Vordergrund steht dabei aber die Unterstützung, die er all denen, die gegen Sauron64 kämpfen, wie selbstverständlich zu geben bereit ist. Viele Seiten später instruiert Gandalf den Hobbit –––––––––––– 61 LR, II 2; vgl. Übersicht, § 8. 62 Boromir ist nach Rivendell gereist, um die Bedeutung einer Prophezeiung zu entschlüsseln; darauf bezieht sich auch Aragorns vorausgehende Bemerkung über „the sword that you sought“. 63 LR, II 2, S. 264 [dt. S. 300]. 64 Vgl. Übersicht, § 1-2.

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Pippin,65 wie er vor Denethor zu reden habe, und bittet ihn insbesondere, möglichst nichts über Aragorn zu sagen: ‘Do as I bid! It is scarcely wise when bringing the news of the death of his heir66 to a mighty lord to speak over much of the coming of one who will, if he comes, claim the kingship. Is that enough?’ ‘Kingship?’ said Pippin amazed. ‘Yes,’ said Gandalf. ‘If you walked all these days with closed ears and mind asleep, wake up now!’67

Nicht wenige Leser werden Pippins Erstaunen teilen – aus diesem Grunde hält der Erzähler es ja auch für nötig, so kurz vor dem Ende der Geschichte durch Gandalf auf diese elementaren Dinge hinzuweisen: Seit dem Rat von Elrond könnte man wissen, dass Aragorn Anspruch auf die Königswürde erheben wird, aber man bemerkt es nicht oder vergisst es wieder, weil es anscheinend keine Bedeutung hat. Aragorn selber zögert den Augenblick, sich in Gondor offen als König zu erkennen zu geben, selbst noch nach Denethors Tod hinaus.68 Aragorn zeigt also in Hinblick auf seinen Rang und Anspruch große Zurückhaltung, die allerdings nie mit einem Mangel an Selbstvertrauen oder Entschlossenheit zu verwechseln ist; und in beidem gleicht er Aeneas.69 Aeneas betrachtet es als seine Hauptaufgabe, die Penaten nach Italien zu bringen und für sein Volk eine neue Heimat, für seinen Sohn eine Zukunft zu schaffen. Unterdessen vermeidet er es, sich selbst König zu nennen; kurz vor dem entscheidenden Zweikampf erklärt er sogar, er sei nicht ausgezogen, um für sich ein Königreich zu gewinnen: nec mihi regna peto (Aen. 12,190). Er „sieht sich in der Rolle des Wegbereiters, ist –––––––––––– 65 66 67 68

Vgl. Übersicht, § 3 und 15. Das bezieht sich auf Boromirs Tod (LR, III 1); s. Übersicht, § 11. LR, V 1, S. 784 [dt. S. 23]. Vgl. LR, V 8, S. 895ff. [dt. S. 152ff.]: Selbst nach der siegreichen Schlacht hält Aragorn die Zeit für diese Erklärung noch nicht für reif, denn sie könnte, während der Krieg noch nicht gewonnen ist, Konflikte zwischen den Verbündeten heraufbeschwören (vgl. insbes. S. 895). Auch damit stellt Aragorn das Allgemeinwohl über die eigenen Interessen. 69 Vgl. Markus Schauer: Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augusteischer Zeit, München 2007, 177, der das Nebeneinander aus Zurückhaltung und Sendungsbewusstsein bei Aeneas so zusammenfasst: „Aeneas ist sich also seiner Führungsstellung und seiner göttlichen Herkunft wohl bewusst. Auch wenn er den Königstitel nicht benutzt und stattdessen seine pietas betont, also seine Verantwortung […], betrachtet er sich als vom Schicksal bestimmten Anführer, der […] ein Königtum errichten soll.“

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das Ziel aber erreicht, will er kein König sein.“70 Während indessen Aeneas auf seinem Weg zum Ziel vieles aufgeben muss, liegen für Aragorn Glück und Pflicht in der gleichen Richtung: Aragorn widmet sein Leben dem Kampf gegen Sauron, im Vertrauen darauf, dass sich das Übrige, wenn das Schicksal es so bestimmt hat, von selbst daraus ergibt; und so geschieht es dann auch.71 Aber für beide steht der persönliche Erfolg nicht im Vordergrund ihres Strebens; beide Helden stellen labor und pietas, die Mühen, die sie für andere auf sich genommen haben, über rein persönliche Interessen. Morse folgt in seiner Untersuchung einem traditionellen und zum Teil auch schematischen Bild des Aeneas, demzufolge dieser mit dem Gang durch die Unterwelt Zaudern und Zweifel überwindet und eine Verwandlung „from a reluctant man of destiny into a willing warrior of the fate“ erlebt.72 Aragorn entspricht durchaus dieser Beschreibung des gereiften Aeneas der zweiten Eposhälfte, denn er ist zu keiner Zeit „a reluctant man of destiny“ und nimmt am Ende seiner Mühen erfreut das entgegen, wofür er gekämpft hat. Indessen erlebt Vergils Aeneas nicht nur in der ersten Eposhälfte, wie Morse meint, sondern bis zum Ende Momente des Zweifels und der Trauer. Und auch dieser andere Aeneas hat im LR seinen Nachfolger gefunden: in Frodo, dem Hobbit.

–––––––––––– 70 Vgl. dazu Schauer, 2007 (wie Fußn. 69), 173-177, hier 177. 71 Das Schicksal ebnet ihm nicht nur den Weg zu Arwen, auch in vielen Details und Nebenhandlungen ist Aragorn glücklicher als Aeneas. Vor allem räumen seine Rivalen um die Macht in Gondor, Boromir und Denethor, ohne sein Zutun das Feld, indem sie auf unterschiedliche Weise durch die Macht Saurons in Versuchung geführt, getäuscht und getötet werden (vgl. Übersicht, § 11 und 15). Boromir scheint dazu prädestiniert, die Rolle des Turnus zu übernehmen, doch der Zweikampf, der das Ende der Aeneis verdunkelt, bleibt Aragorn erspart. In seinem ersten Entwurf hatte Tolkien bezeichnenderweise einen solchen vorgesehen, vgl. J.R.R.T., History VII, 1989 (The Treason of Isengard [wie Fußn. 10]), 212: „What about Boromir? Does he repent? […] No – slain by Aragorn“. 72 Morse, 1986 (wie Fußn. 14), 17. Mit dieser fast allgemeinen Auffassung vom „passion-prone Aeneas in book 1-6 [who] becomes a determined and controlled Aeneas in book 7-12“ setzt sich etwa Lyne auseinander: R.O.A.M. Lyne, „Vergil and the politics of war“, in: Stephen J. Harrison (Hg.): Oxford Readings in Vergil’s Aeneid, Oxford u.a. 1990, 316-338, hier 337. Vgl. auch Schauer, 2007 (wie Fußn. 69), 140-155, sowie Gabriele Thome, „Tanton placuit concurrere motu,/Iuppiter, aeterna gentis in pace futuras? (Aen. 12,503f.). Der Krieg in Vergils Aeneis“, in: AClass 36, 1993, 65-81.

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7. Die Motive der handelnden Personen: Frodo und der Auftrag des Schicksals Aeneas gewinnt im Laufe seiner Fahrten Klarheit über die Absichten der Götter und des Schicksals und erntet schließlich wie Aragorn den Lohn von pietas und labor. Aber diese Ernte kommt letztlich anderen zugute – Ascanius und dem Volk der Troer –, und man mag durchaus zweifeln, was das ‘Happy End’ für ihn persönlich bedeutet, wenn er kurz vor dem Ende Ascanius gegenüber sein Leben so charakterisiert: ‘disce, puer, virtutem ex me verumque laborem, fortunam ex aliis.’ (Aen. 12,435f.)

Es ist dieser andere Aeneas, der sich in Frodo wiederfindet, gerade auch am Ende des LR. Frodo ist es, dem die „Bürde“ des Ringes auferlegt wird und der damit einen schicksalhaften Auftrag erhält, den er nicht begehrt hat. Das Schicksal zwingt ihn, die Heimat zu verlassen; es ist eine Flucht und ein Exil, kein Abenteuer.73 Er selbst charakterisiert seine Situation als eine Art Anti-Queste: ‘For where I am to go? […] What is to be my quest? Bilbo went to find a treasure, there and back again; but I go to lose one, and not return, as far I can see.’74

Wie Aeneas, enthüllt sich ihm das Schicksal erst nach und nach. Er weiß, dass Sauron nach ihm und dem Ring sucht, und geht zunächst nach Rivendell, ohne eine klare Vorstellung von dem, was ihn danach erwarten könnte. In der Beratung bei Elrond wird dann geklärt, dass der Ring weder verborgen noch zum Guten benutzt werden kann, sondern vernichtet werden muss.75 Doch wer soll den mühevollen Weg zum Schicksalsberg auf sich nehmen? Auf diese Frage Bilbos folgt ein langes Schweigen, und so wird der Ringträger ausgewählt: No one answered. The noon-bell rang. Still no one spoke. Frodo glanced at all the faces, but they were not turned to him. All the Council sat with downcast eyes, as if in deep thought. A great dread fell on him, as if he was awaiting the pronouncement of some doom that he had long and vainly hoped might after all never be spoken. An overwhelming longing to rest and remain at peace by Bil-

–––––––––––– 73 Im Einzelnen hierzu Morse, 1986 (wie Fußn. 14), 1-16. 74 LR, I 3, S. 79 [dt. S. 90]. „There and back again“ zitiert den Originaltitel des Hobbit, „The Hobbit or There and Back Again“. Frodos Äußerung spielt damit auch auf die Gattungsfrage an: Wir haben es nicht mit einer Queste-Erzählung zu tun, wie es Der Hobbit, die Erzählung von Bilbos Abenteuern, war. 75 Vgl. Übersicht, § 5-7.

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bo’s side in Rivendell filled all his heart. At last with an effort he spoke, and wondered to hear his own words, as if some other will was using his small voice. ‘I will take the ring,’ he said, ‘though I do not know the way.’76

Frodo drängt sich weder nach dem Ring der Macht, der – anscheinend – durch Zufall in seinen Besitz gelangt ist, noch nach dem Auftrag, der Mühe und Gefahr bedeutet: das Pflichtgefühl trägt den Sieg davon.77 Schicksal und freier Entschluss halten sich die Waage: Es geschieht nichts, was nicht psychologisch erklärt werden kann, vor allem aus der Situation eines drückenden Schweigens heraus, das dringend nach einem erlösenden Wort zu verlangen scheint. Auch das Gefühl, dass einem in einer solchen Situation die eigene Stimme fremd ist, liegt nicht jenseits der gewöhnlichen Erfahrung. Und doch vermittelt Frodos Entscheidung stark den Eindruck, ihm zugleich von einer höheren Macht eingegeben und geradezu in den Mund gelegt worden zu sein.78 Er erwartet erst eine „Verkündigung des Schicksals“ und spricht diese dann selbst aus, doch mit dem Gefühl, als sei nicht er es, der spricht. Und Elrond bestätigt seine Entscheidung und hebt dabei das Zusammenspiel von Bestimmung und freiem Willen abermals hervor: ‘I think that this task is appointed for you, Frodo; and if you do not find a way, no one will. […] But it is a heavy burden. So heavy that none could lay it on another. I do not lay it on you. But if you take it freely, I will say that your choice is right; and though all the mighty elf-friends of old […] were assembled together, your seat should be among them.’79

–––––––––––– 76 LR, II 2, S. 288 [dt. S. 329]. 77 Ähnlich kommt Aeneas wie von selbst zu seinem Amt als Anführer der Troer; die Troer machen ihn dazu, eben indem sie ihm folgen – und er seine Rolle annimmt (vgl. Schauer, 2007 [wie Fußn. 69], 136ff.). 78 Es gibt im LR keinen epischen Götterapparat, obwohl es nicht stimmt, dass überhaupt keine Götter vorkommen (vgl. oben Fußn. 29). Auf diesen Komplex kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden; vgl. dazu Colin N. Manlove: „Der Herr der Ringe“, in: Pesch, 1984 (wie Fußn. 3), 91-121, hier 95f. Hier sei nur angemerkt, dass sich Tolkien, was das Eingreifen höherer Mächte in das Leben und die Entscheidungen des Einzelnen und in die Geschichte angeht, sehr bedeckt hält. Selbst Gandalf, der am ehesten darüber Bescheid weiß, wagt keine sicheren Behauptungen aufzustellen, sondern deutet lediglich an, dass z.B. die Tatsache, dass der Ring ausgerechnet zu Frodo gelangt ist, mehr als nur ein absurder Zufall sein könnte. So finden wir in diesem Bereich stets eine Art doppelte Motivation vor – d.h. dass das Eingreifen des Übernatürlichen immer auch von der Situation und den Charakteren her motiviert ist – wie man sie ähnlich auch bei Vergil antrifft. 79 LR, II 2, S. 288 [dt. S. 329].

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Wie Aeneas, ist auch Frodo keine „Marionette des Schicksals“, er hat sich frei entschieden.80 Das Aufsichnehmen der Mission gewährt Frodo, obwohl er nur ein Hobbit aus dem Auenland ist, einen Platz in den Reihen der alten Helden: labor erwirbt gloria. Doch ist der Ruhm ebenso wenig Frodos eigentliches Ziel wie das des Aeneas. Es ist diese Konstruktion von fatum, pietas und labor, also eines göttlichen Auftrags, für den der Held auserwählt wird, den er aber auch bewusst und willig annehmen muss; der zum Ruhme führt, aber Mühe beinhaltet, der anderen nützt, aber für ihn selbst den Verlust von Heim, Herd und Privatleben bedeutet, was den LR schon auf den ersten Blick und evident mit der Aeneis verbindet. Und es ist genau diese vergilische Grundkonstruktion und Motivation, deren Erfindung (oder Nacherfindung) es Tolkien überhaupt erst ermöglichte, das Buch so zu schreiben, wie es ist: als eine „heroic romance“, anstelle der märchenhaften Abenteuererzählung, die ursprünglich geplant war.81

8. Den Weg zu Ende gehen Das Motiv oder die Idee des harten Weges, den Frodo zu Ende gehen muss, setzt sich in der ganzen Erzählung fort, und hier ließen sich nicht nur im Gedanken, sondern auch in der Formulierung zahlreiche Parallelen zur Aeneis anführen. Vicit iter durum pietas (Aen. 6,688) trifft auch auf Frodo zu, sowie in den letzten Büchern auf Sam, Frodos Begleiter auf dem letzten bitteren Weg nach Mordor; denn während Frodo in Mordor immer schwächer wird, ist es Sam und seine Liebe zu Frodo, die alle Schwierigkeiten und Anfechtungen überwindet.82 Frodo ist dazu bestimmt, den Weg zu finden, auch wenn er durch nichts, jedenfalls nicht durch Klugheit, Tapferkeit, Heldenkraft oder Her-

–––––––––––– 80 Bedenkenswert ist hierzu allerdings die grundlegende Kritik von Manlove, 1984 (wie Fußn. 78), 97ff.: Die Willensfreiheit bleibe nur eine Behauptung, weil Frodo in Wahrheit gar keine Wahl habe und de facto nur als Marionette agiere – ähnliche Kritik ist auch gegen die Aeneis vorgebracht worden. Ein Hauptpunkt von Manloves Kritik lautet, dass Frodo trotz aller Schwierigkeiten, die er meistern muss, sich doch immer richtig entscheide (S. 100) und so ein echter Konflikt zwischen seinem Willen und dem des Schicksals – wie er etwa bei Aeneas durchaus vorkommt, z.B. in Karthago – gar nicht erst entstehe. 81 Vgl. dazu Fußn. 24. 82 Zu Sam s. Übersicht, § 3, 11, 17. Zu Sams pietas vgl. insbes. LR, IV 10 („The choices of Master Samwise“) und natürlich Buch VI passim.

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kunft, dazu prädestiniert scheint.83 Frodos Leistung erweist sich vor allem darin, unbeirrt weiterzugehen, im Bewusstsein seiner Pflicht und im Vertrauen auf das Schicksal. Dieses Vertrauen ist nicht unbedingt jenes ermutigende Gefühl, dass am Ende alles gut werden wird, sondern eine harte, grimmige Unbeugsamkeit, selbst in hoffnungsloser Lage nicht aufzugeben.84 Nachdem Frodo und Sam sich von der Gemeinschaft getrennt haben,85 scheinen sie den Weg zu verlieren, denn sie quälen sich tagelang durch ein ödes Gebirge, ohne vorwärtszukommen. Sam ist bereits der Verzweiflung nahe; doch Frodo, obwohl er auch nicht weiterweiß, sagt zu ihm: ‘It’s my doom, I think, to go to that Shadow yonder, so that a way will be found.’86

Eine solche Schicksalsergebenheit geht über die des Aeneas noch hinaus. Eine fast wörtliche Entsprechung zu Frodos Worten findet sich auch in der Aeneis, doch ist es nicht Aeneas, der sie spricht, sondern Jupiter: fata viam invenient (Aen. 10,113). Es ist Jupiter, der hinter den widerstreitenden Partialinteressen das Schicksal weiß; obgleich er im Augenblick keine Möglichkeit sieht, ihm zum Siege zu verhelfen, weiß er doch, dass es sich verwirklichen wird. Was also auf den ersten Blick als Ohnmacht Jupiters erscheinen könnte, ist in Wahrheit ein Zeichen seiner Stärke.87 Dass Jupi–––––––––––– 83 Schon zu Beginn sagt Gandalf auf Frodos Frage, warum er auserwählt wurde: „You may be sure that it was not for any merit that others do not possess: not for power or wisdom, at any rate. But you have been chosen, and you must therefore use such strength and heart and wits that you have.“ (LR, I 2, S. 74f. [dt. S. 84]). 84 Wobei diese Haltung auch durch den Beowulf bzw. durch das, was Tolkien als „Northern theory of courage“ definierte, inspiriert sein mag (vgl. J.R.R.T., Beowulf 2006 [wie Fußn. 9], 20f.). 85 Vgl. Übersicht, § 11. 86 LR, IV 1, S. 628 [dt. S. 240]. Vgl. Frodos spätere Äußerung: ‘Still we will have to try […]. I never hoped to get across. I can’t see any hope of it now. But I’ve still got to do the best I can’ (LR, VI 2, S. 959 [dt. S. 225]. 87 Gerade in Aen. 10,100ff. wird die Macht und Autorität Jupiters besonders deutlich, etwa durch die Art, wie er allein durch sein Auftreten die anderen Götter zum Schweigen bringt. Nach Reinhold Glei: Der Vater der Dinge. Der Krieg in Vergils Aeneis, Trier 1991, 216, gibt Jupiter hier „die stoische Devise aus, nach der alles vom Logos vorherbestimmt ist“; und dass er „den fata ihren Lauf lässt, ist also kein Zeichen schwachen Führungsstils, sondern hat Methode: Eine Parteinahme des höchsten Gottes wäre seinem Wesen unangemessen“. (Für die These der Führungsschwäche verweist er auf Gordon Williams: Technique and ideas in the Aeneid, New Haven u.a. 1983, 10; Williams schreibt an der Stelle aber nur: „That is, he [Juppiter] reasserts the distinction between events in the short

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ters Haltung im LR vom Protagonisten selbst repräsentiert wird, überrascht auf den ersten Blick, ist aber letztlich eine logische Konsequenz des Fehlens eines Götterapparats im LR: Die Auffassung des Schicksals ist jener der Aeneis ähnlich, aber es gibt keinen Mittler zwischen dem Fatum und den Menschen, keinen Adressaten für Gebete. Im Gegensatz zu Aeneas hat Frodo niemanden, mit dem er hadern könnte; er kann nur weitergehen oder aufgeben.

9. Das glückliche und das unglückliche Ende Wie schon gesagt, entspricht Frodo der ‘anderen Seite’ des Aeneas: Ist Aragorn derjenige, der einschlägige Voraussetzungen zum epischen Helden aufzuweisen hat mit seiner göttlichen (bzw. in seinem Fall: elbischen und königlichen) Abstammung, seinem Charisma und seiner erprobten kriegerischen Tüchtigkeit, so entspricht Frodo dem Privatmann Aeneas, wie er in Troja war, geachtet, aber kein Mitglied der Herrscherfamilie, kein Amtsträger und ohne erkennbare Anwartschaft darauf.88 Besonders deutlich wird diese Zweiteilung am Ende des LR. Wir haben schon gesehen, dass Aragorn das glückliche Ende der Aeneis zukommt: die Früchte des Sieges über den Dunklen Herrscher und der so erreichte Frieden, die Königsherrschaft und die Hand der Prinzessin bzw. Elbin, wodurch die Gründung einer neuen Dynastie erst möglich wird. Frodo hingegen erreicht scheinbar das, was Aeneas versagt bleibt: nach Troja zurückzukehren und es wiederaufzubauen (vgl. Aen. 4,340ff.). Wiederaufbau ist jedenfalls auch im LR nötig: Als die Hobbits am Ende ins Auenland zurückkehren, stellen sie fest, dass Diener der dunklen Seite auch hier eingedrungen sind und Schaden angerichtet haben. Und so erleben auch die Hobbits zum Schluss noch ihre eigene ‘iliadische Hälfte’ in nuce, die freilich mit demselben oder besserem Recht als odysseische bezeichnet wäre,89 indem die Hobbits, im Ringkrieg geschult, nun die Prasser und Unterdrücker aus ihrem eigenen Lande hinauswerfen. Doch Frodo bleibt an dieser Wiedergewinnung der Heimat merkwürdig unbeteiligt. An den Kämpfen nimmt er nur teil, um sie zu zügeln und einen Bürgerkrieg, das Töten von Hobbits durch Hobbits, zu verhin–––––––––––– term, which can be influenced, and the long-term pattern of destiny, which cannot […] Juppiter’s will cannot be other than identical with fate, even if he does nothing to assert it.“) 88 Vgl. Schauer, 2007 (wie Fußn. 69), 136ff. 89 Was freilich auch für die Aeneis selbst gilt: zur Frage der ‘odysseischen’ und ‘iliadischen Hälfte’ der Aeneis vgl. Suerbaum, 1999 (wie Fußn. 29), 143ff., 149.

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dern;90 an seinem Ruhm liegt ihm ebensowenig wie an seiner sozialen Stellung und am Bürgermeisteramt: nec mihi regna peto (Aen. 12,190).91 So werden im Auenland seine drei Gefährten schließlich berühmter als er selbst, besonders Sam. Sam, aus kleinen Verhältnissen stammend, heiratet eine Bauerntochter und wird der Begründer einer – für auenländische Verhältnisse – wohlhabenden und bedeutenden Familie; in späteren Jahren bringt er es, wie die Anhänge verraten (aber auch Frodo einmal prophezeit) zum Bürgermeister. Frodo hingegen hat wenig Ruhm, keine Nachkommen, sein Haus überlässt er Sam.92 Obwohl er in die Heimat zurückkehren durfte, wird er in ihr nicht mehr heimisch. Nicht unähnlich Aeneas, der sich virtus, aber nicht fortuna zuschreibt, sagt Frodo am Ende zu Sam: ‘I have been too deeply hurt, Sam. I tried to save the Shire, and it has been saved, but not for me. It must be often so, Sam, when things are in danger: some one has to give them up, lose them, so that others may keep them.’93

Das Verblassen seines Namens gleicht auf eigenartige Weise der Zukunft der „Übergangsfigur“ Aeneas:94 Aeneas müht sich für die Troer und für Ascanius-Iulus, und Iulus, nicht Aeneas, wird zum Begründer und Namengeber der julischen Dynastie, während die Troer Namen und Identität verlieren und sich mit den Italikern vermischen. Die entscheidende Gemeinsamkeit besteht darin, dass es weder Frodo noch Aeneas vergönnt ist, das Erreichte lange zu genießen. Aeneas sollen nach dem Sieg noch drei Jahre zu leben bleiben (Aen. 1,265f.); und das entspricht auch etwa der Frist, die Frodo nach seiner Rückkehr ins

–––––––––––– 90 Morse, 1986 (wie Fußn. 14), 25, erblickt zu Recht darin und besonders in Frodos Gnadenakt gegenüber Saruman (s. Übersicht, § 12 und 19) einen Gegensatz zu Aeneas und der Schlussszene der Aeneis; es sei aber daran erinnert, dass auch Aeneas im XII. Buch vor allem versucht, die neu ausbrechende Kampfeswut, nachdem die Entscheidung durch Zweikampf bereits beschlossen ist, zu verhindern (Aen. 12,311ff.). 91 Frodo wird stellvertretender Bürgermeister, doch nur für kurze Zeit und nur, um die Vorkriegsordnung im Auenland wiederherzustellen – gewissermaßen rei publicae restituendae causa. 92 Zu Frodos Rückzug vgl. LR, VI 9, S. 1063 [dt. S. 345]: „Frodo dropped quietly out of all the doings of the Shire […]“ 93 LR, VI 9, S. 1067 [dt. S. 349]. Vgl. Sarumans Prophezeiung in LR, VI 8, S. 1057 [dt. S. 338]: ‘Do not expect me to wish you health and long life. You will have neither. But that is not my doing. I merely foretell.’ 94 Vgl. Schauer, 2007 (wie Fußn. 69), 83ff.; 91; 271f.; Suerbaum, 1999 (wie Fußn. 29), 199, spricht von „eine[r] Art Selbstaufgabe“.

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Auenland noch zugemessen ist.95 Beide hinterlassen kein Grab. Aeneas wird zu den Göttern entrückt, und Frodo erhält die Erlaubnis, mit den Elben zu den unsterblichen Inseln im Westen zu segeln, um dort geheilt zu werden – unübersehbar eine Todesmetapher. Es ist eine Auszeichnung, aber zugleich ein Verschwinden, ein Abschied von der nicht wiedergefundenen Heimat, endgültiger noch als der Tod.96

10. Die Nekyia – von der Wanderung zum Kampf Einen Götterapparat gibt es im LR nicht, und es gibt auch keine Unterwelt im antiken Sinne. Gibt es aber dennoch so etwas wie eine Unterweltsfahrt? Der LR ist reich an dunklen, unheimlichen Orten, die in die Tiefe führen und in der einen oder anderen Weise unterweltlichen Charakter zu haben scheinen: z.B. die Hügelgräberhöhen, Moria, die Totensümpfe, vielleicht auch Cirith Ungol. Nicht alle diese Orte sind jedoch Symbole oder Entsprechungen der klassischen Unterwelt, auch wenn zu ihrer Beschreibung entsprechende Topoi benutzt werden.97 Moria ist gewiss „darkness, hollow and immense“,98 und vieles, was Frodo in den Totensümpfen oder in Mordor selbst sehen muss, ist ebenfalls düster und nimmt in einer langsamen Steigerung an Dunkelheit immer noch zu; aber sowohl Moria als auch Mordor gehören sehr eindeutig –––––––––––– 95 Vgl. das letzte Kapitel des LR, VI 9, sowie die tabellarische Chronologie in den Anhängen (wie Fußn. 6, Anhang B: Die Aufzählung der Jahre, hier das Jahr 3021/A.Z. 1421). 96 In ihrem Fluch charakterisiert Dido die Zukunft des Aeneas zwar einseitig, aber nicht verkehrt; das fehlende Begräbnis findet sich demnach auf der Negativseite der Bilanz seines Lebens: nec […] regno aut optata luce fruatur, / sed cadat ante diem mediaque inhumatus harena (Aen. 4,619f.). 97 Vgl. etwa Obertino, 1993 (wie Fußn. 13), der Bezüge zwischen der Katabasis des Aeneas und der Wanderung durch die Minen von Moria (LR, II 4-5; vgl. Übersicht, § 9) herstellt, wobei er vor allem auf die Archetypenlehre von C.G. Jung und dessen Schüler Erich Neumann zurückgreift. Er entdeckt gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Beschreibung der Umgebung von Moria und der des Eingangs zur Unterwelt (Aen. 6,237ff.), die jedoch eher unspezifischer Art sind; Tolkien orientiert sich hier allenfalls an einer allgemeinen Topik des locus horridus, die unter anderem auch den Eingang zur Unterwelt in der Aeneis kennzeichnet (vgl. dazu Verf., 2007 [wie Fußn. 44], 351ff., mit weiterer Literatur). Auch Morse, 1986 (wie Fußn. 14), 10ff., beschäftigt sich mit diesem Thema und führt Frodos Weg durch die Totensümpfe an. Vgl. auch Barella, 2006 (wie Fußn. 12), 695. 98 LR, II 4, S. 333 [dt. S. 382].

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dem Diesseits an. Als Katholik war Tolkien nicht der Meinung, dass ‘das Böse’ mit dem Tod gleichzusetzen sei; und er hat darauf geachtet, dass Sauron, der das Böse verkörpert, nicht zugleich als Repräsentant des Todes oder des Totenreichs aufgefasst werden kann. Eine epische Hadesfahrt sollte jedoch noch spezifischere Voraussetzungen erfüllen als die Darstellung einer düsteren und gespenstischen Atmosphäre: zumindest sollten die Protagonisten einer Welt begegnen, die nicht diese ist, in Kontakt mit den Toten treten, und die Begegnung sollte wesentliche Aufschlüsse bringen. Diese Kriterien erfüllen im LR zwei Episoden: Frodos Abenteuer im Hügelgrab und Aragorns Weg über die „Pfade der Toten“ – auch wenn beiden Episoden auf den ersten Blick nicht die Bedeutung und Stellung zukommt, die das 6. Buch in der Aeneis hat: Sie verblassen gegenüber der Finsternis von Mordor. Die Episode von den „Pfaden der Toten“ hat in der Motivik kaum Ähnlichkeit mit Vergils 6. Buch, verdient hier aber eine Erwähnung wegen des Orts, den sie in der Gesamtstruktur des LR einnimmt: Sie folgt auf die Éowyn-Episode wie Aeneas’ Hadesfahrt auf die Dido-Episode und fungiert als Überleitung, als die letzte und notwendige Stufe auf Aragorns Weg vom Waldläufer zum König Elessar. Sie ist der Durchgang von seinen Irrfahrten in allen Ländern zur Ankunft in der neuen Heimat und dem Königreich, das ihm bestimmt ist: Aus dem Wanderer wird damit nicht nur ein Krieger – kriegerischen Ruhm hat er, genau wie Aeneas, schon vorher errungen –, sondern ein Feldherr. Nicht nur erwirbt er auf den Pfaden der Toten eine Armee, sondern er qualifiziert sich, ähnlich wie Aeneas, in einer bestimmten Weise für das Kommende: indem er den Weg, der den gewöhnlichen Sterblichen verschlossen ist,99 findet, zu betreten wagt und zurückzukehren vermag.100 Auch Frodo erlebt eine Art Nekyia, als er und die anderen Hobbits, Sam, Pippin und Merry, von Totengeistern in die Hügelgräber gezogen und –––––––––––– 99 Vgl. LR, V 2, S. 815 [dt. S. 59]): (Éowyn:) „‘They do not suffer the living to pass.’ ‘They may suffer me to pass,’ said Aragorn.“ 100 Aragorns Anspruch auf den Palantír, den Sehenden Stein, ist von ähnlicher Bedeutung – er beansprucht und beweist eine Kraft, sich mit magischen Gegenständen auseinanderzusetzen und sie seinem Willen zu unterwerfen, wie man sie bis dahin nur Gandalf zugetraut hat. Es mag die Gefährten wie auch den Leser überraschen, aber es ist eben keine Hybris, wenn Aragorn Gandalfs guten Rat, den Palantír nicht zu benutzen, sowohl mit ererbtem Recht als auch mit Erfolg missachtet. Mit wie großem Erfolg, wird nur dem Leser klar: in einem entscheidenden Moment ist Sauron durch Aragorn abgelenkt, so dass Frodo und Sam in Mordor unbemerkt bleiben (LR, VI 2, S. 958 [dt. S. 224]).

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beinahe für immer dort eingesperrt werden.101 Die Episode steht eher am Anfang des LR und findet in einer Art Niemandsland, einem Landstrich zwischen ‘Drinnen’ und ‘Draußen’ statt, nachdem die Hobbits die Grenze des Auenlandes überschritten haben und bevor sie in Bree auf Aragorn treffen und in die ‘große Welt’, die Welt der Menschen, die Welt des Epos, eigentlich eintreten. Speziell Frodos Erlebnisse im Hügelgrab werden dadurch stark aufgewertet, dass Gandalf später darüber sagt, dies seien die gefährlichsten Momente der bisherigen Fahrt gewesen: ‘[…] But you have some strength in you, my dear hobbit! As you showed in the Barrow. That was touch and go: perhaps the most dangerous moment of all.’102

Das Erlebnis bedeutet eine Art Initiation – und markiert wie bei Aragorn den Übergang vom Wandern zum Kampf: denn nun werden die Hobbits von Tom Bombadil mit Waffen aus dem Hügelgrab ausgestattet, und dies macht ihnen erst bewusst, worauf sie sich eingelassen haben: Fighting had not before occurred to any of them as one of the adventures in which their flight would land them.103

Die Waffen verweisen die Hobbits auf ihre Zukunft in der epischen Welt, in der Schwerter zur Grundausstattung von Helden gehören, und stellen zugleich eine Verbindung mit der Vergangenheit her, auch wenn die Hobbits diese vorerst nur schemenhaft begreifen: Die Waffen sind Klingen von Westernis, vor langer Zeit geschmiedet und mit Zauberkräften ausgestattet, die sich am Ende als entscheidend erweisen werden.104 In diesem Zusammenhang wird in frappierender Weise die vergilische Heldenschau aufgegriffen. Nachdem Tom Bombadil die Waffen ausgeteilt und deren Geschichte kurz erläutert hat, erleben die Hobbits eine Vision: ‘Few now remember them [scil. the Men of Westernesse]’, Tom murmured, ‘yet still some go wandering, sons of forgotten kings walking in loneliness, guarding from evil things folk that are heedless.’ The hobbits did not understand his words, but as he spoke they had a vision as it were of a great expanse of years behind them, like a vast shadowy plain over

–––––––––––– 101 Vgl. Übersicht, § 3. 102 LR, II 1, S. 235 [dt. S. 268]. 103 LR, I 8, S. 161 [dt. S. 184]. 104 Vgl. LR, I 8, S. 161 [dt. S. 183f.]. Merry tötet später in der Schlacht von Minas Tirith (s. Übersicht, § 13 und 16) den Anführer der Nazgûl mit der Hügelgrabklinge; und sie ist genau dafür geschmiedet worden, denn der Nazgûl ist ebenjener Hexenkönig aus Angmar, den die Menschen von Westernis vor Jahrhunderten bekämpft haben.

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which there strode shapes of Men, tall and grim with bright swords, and last came one with a star on his brow.105

Drei Bezüge zur Aeneis sind in diesen Sätzen zu erkennen: erstens, das Unverständnis derer, denen die Schau zuteil wird;106 zweitens, die Erscheinung eines künftigen Helden; drittens, „one with a star on his brow“. Die Gestalten, die die Hobbits sehen, sind offenbar die Menschen von Westernis, über die Tom Bombadil eben gesprochen hat, Helden der Vergangenheit, die über das Meer gekommen sind, in dieser Gegend ein Reich gegründet haben, dann verschwunden sind und nun in den Hügelgräbern begraben liegen. Aber nicht alle sind tot, und es ist diese Bemerkung Toms, die die Hobbits nicht verstanden haben: denn die letzte Gestalt, „der mit dem Stern auf der Stirn“, kann nur Aragorn sein, der letzte Erbe der vergessenen Könige und dazu bestimmt, ihr Reich wiederherzustellen; diese Bestimmung enthüllt sich freilich erst viele hundert Seiten später.107 Es ist eine in der antiken Epik sonst nicht anzutreffende Besonderheit der Aeneis, dass der epische Held in der Unterwelt nicht nur den Toten, sondern auch Gestalten der Zukunft begegnet: Augustus wird nicht prophezeit, sondern seine Seele tritt sichtbar in Erscheinung (Aen. 6,788807). So sehen auch die Hobbits, ohne es zu wissen, den künftigen König, dessen Krönung letztlich das Ziel ihrer Mühen sein wird. Es gibt aber einen bezeichnenden Unterschied: am Ende der Reihe steht in der Aeneis nicht der mit dem Stern,108 sondern einer mit einem Schatten auf seiner Stirn: ‘filius anne aliquis magna de stirpe nepotum? qui strepitus circa comitum, quantum instar in ipso, sed nox atra caput tristi circumvolat umbra.’ (Aen. 6,864-866)

–––––––––––– 105 LR, I 8, S. 161 [dt. S. 183]. 106 So reagiert Aeneas allerdings nicht explizit in der Heldenschau, aber in ähnlichem Zusammenhang, angesichts der Bilder der römischen Zukunft, mit denen Vulcanus seinen Schild geschmückt hat: miratur rerumque ignarus imagine gaudet, / attollens umero famamque et fata nepotum (Aen. 8,730f.). Neben dem Motiv der Unwissenheit verweist auch das der Waffenübergabe auf das VIII. Buch der Aeneis. 107 Vgl. oben, Kap. 6. Die Bedeutung des Sterns wird überhaupt nie erklärt; eine Andeutung findet man am Ende, wo Aragorn in Minas Tirith einzieht: „his head was bare save for a star upon his forehead bound by a slender fillet of silver“ (LR, VI 5, S. 1002 [dt. S. 275]). Die Anhänge (wie Fußn. 6) nennen den Stern als eines der Wahrzeichen von Elendils Haus und verweisen dazu ausdrücklich auf Frodos Vision (Anhang A, Anm. 23). 108 Der Stern des Augustus war das sidus Iulium, das er auf viele seiner Münzen prägen ließ. Es wird in der Schildbeschreibung der Aeneis erwähnt: Augustus, […] cui […] patrium […] aperitur vertice sidus (Aen. 8,681).

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Aeneas, der Augustus und die anderen Helden stumm an sich hat vorüberziehen lassen,109 zeigt allein an dieser Gestalt ein erkennbares Interesse, an dem frühverstorbenen Augustusneffen Marcellus. Der strahlenden Erscheinung des Augustus steht so ein dunkles Gegengewicht gegenüber, dem dadurch, dass es die Reihe beschließt, noch mehr Bedeutung verliehen wird. Demgegenüber bietet Tolkien eine vereinfachte und idealisierte Heldenschau, gewissermaßen eine Heldenschau, wie sie sein sollte: Namenlose Gestalten ziehen vorüber, die gleichgültig bleiben; aber von dem letzten her, dem mit dem Stern auf der Stirn, wird die genealogische Linie deutlich, erhält der Strom Richtung und Ziel: die Vision der Hobbits macht so in einem einzigen Satz die Teleologie der Geschichte evident.

11. Geschichtsbild und Weltdeutung Wir haben gesehen, dass der LR in mancher Hinsicht episch und vergilisch ist, insbesondere was die verhalten geschilderte Liebesepisode und die Heldenkonzeption betrifft. Auch Einzelmotive der Aeneis, wie die Heldenschau oder das sidus Iulium, werden im LR wiederaufgegriffen. Darüber hinaus gibt es eine tieferliegende Gemeinsamkeit mit der Aeneis, die in der Gesamtdeutung von Welt und Geschichte liegt. Denn wie die Aeneis erzählt der LR nicht nur von den Abenteuern eines bzw. mehrerer Helden, sondern von einer Zeitenwende:110 Aeneas selbst mag nur eine Übergangsfigur und ein Wegbereiter sein, der Erfolg seines Auftrags ist jedoch die notwendige Voraussetzung für die Gründung Roms, für die Herrschaft des Augustus und das römische Weltreich, „unbegrenzt in Zeit und Raum“.111 Es geht also auch nicht nur um ein einziges Volk oder –––––––––––– 109 Vgl. dazu Verf., 2007 (wie Fußn. 44), 50ff. 110 Bereits Manlove, 1984 (wie Fußn. 78), 93, beschreibt den LR als ein Epos, „das eine zeitliche Crux wiedergibt und auf der Annahme beruht, dass die Geschichte nicht bloß zyklisch, sondern gerichtet ist. […] Das Geschichtsbild ähnelt somit dem der Äneis, insofern als etwas Dauerhaftes erreicht wird.“ Er führt diesen Vergleich allerdings nicht weiter aus. 111 So Jupiter in seiner Prophezeiung: his ego nec metas rerum nec tempora pono (Aen. 1,278). Diese räumliche Ausdehnung auf die ganze Welt wird auch durch die offenkundige Zusammengehörigkeit der Welt der Aeneis plausibel, die m.W. zuerst Schauer, 2007 (wie Fußn. 69), 91ff., so klar analysiert hat: Aeneas durchquert keine unentdeckten Gebiete voller Fremdheit und ungelöster Rätsel, sondern solche, die durch die Diplomatie Trojas, Verwandtschaft, durch Odysseus oder – im Fall Karthagos – durch andere Reisende und deren Erzählungen über Troja ausnahmslos erschlossen sind. Die Welt ist letztlich klein: man kennt sich. Und es ist bezeichnend, dass auch im LR die Ringgefährten auf kein Land stoßen, das nicht

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Königreich, sondern um die Geschicke der Menschheit: Der Auftrag des Aeneas verändert die Welt für immer; das Geschichtsziel wird erreicht werden, ein neues Goldenes Zeitalter anbrechen (Aen. 1,291-296). Ein solches teleologisches Geschichtsbild vermittelt auch der LR. Das eigentliche Ziel der Geschichte ist nicht die Herrschaft Aragorns, auch nicht die Erneuerung des Königreiches von Gondor und Arnor, sondern eine Wiederherstellung in einem tieferen und umfassenderen Sinn. Sie ist gebunden an die Niederwerfung Saurons, des letzten großen Feindes der Elben und Menschen in Mittelerde, und führt zum Anbruch eines neuen, des Vierten Zeitalters. Es ist ein glückliches Ende (jedenfalls weit besser als die Alternative), besonders für Gondor und das Auenland, also für Menschen und Hobbits. Im Lande der Hobbits erblüht tatsächlich einen Sommer lang ein Goldenes Zeitalter, sozusagen im auenländischen Kleinformat: Altogether 1420112 in the Shire was a marvellous year. Not only was there wonderful sunshine and delicious rain, in due times and perfect measure, but there seemed something more: an air of richness and growth, and a gleam of a beauty beyond that mortal summers that flicker and pass upon this middle-earth.113

Die Schilderung wendet sich dann dem reichen Erntesegen und den Freuden des ländlichen Lebens zu, und auch dies erinnert an eine vergilische Schilderung: at secura quies et nescia fallere vita, dives opum variarum, at latis otia fundis, speluncae vivique lacus et frigida Tempe mugitusque boum mollesque sub arbore somni non absunt; […] extrema per illos Iustitia excedens terris vestigia figit. (Verg. georg. 2,467-474)

Überall in der Welt mag Krieg herrschen, aber im Lande der italischen Bauern hat noch ein Rest des Goldenen Zeitalters überlebt; die Götter sind von der Erde verschwunden, aber hier haben sie eine Spur (vestigia) zurückgelassen. Auch der auenländische Sommer von 1420 verdankt sich einer solchen „Spur“: der Zaubererde, die Galadriel Sam geschenkt hat, während sie selbst Mittelerde verlässt.

–––––––––––– Gandalf oder Aragorn schon früher durchwandert hätten und dessen Geschichte unbekannt wäre. Es entsteht so ein Eindruck der Überschaubarkeit und Handhabbarkeit der Welt, so groß und vielgestaltig sie auch sein mag. 112 Nach der Auenland-Zeitrechnung; 3020 nach der allgemeinen Zeitrechnung. 113 LR, VI 9, S. 1061 [dt. S. 343].

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Denn dass das neue Vierte Zeitalter insgesamt ein goldenes sei oder erwarten lasse, wäre zuviel gesagt. Im LR gibt es anfangs unterschiedliche Meinungen zu der Frage, welche Folgen die Vernichtung des Ringes haben werde: ‘We know not for certain’, said Elrond sadly. ‘Some hope that the Three Rings, which Sauron have never touched, would then become free, and their rulers might heal the hurts of the world that he has wrought. But maybe when the One has gone, the Three will fail, and many fair things will fade and be forgotten. That is my belief.’114

Es gibt also die optimistische Auffassung, dass die Drei Elbenringe, die eine Art Gegengewicht zu dem Einen darstellen, dann unbelastet von der dunklen Macht wirken können, dass sich also das Gute ohne das Böse frei entfalten würde; das entspräche der Hoffnung auf ein Goldenes Zeitalter. Bewahrheiten wird sich aber die pessimistische Meinung: Die schönen Dinge verschwinden, die nichtmenschlichen Völker ziehen sich in ihre eigenen Welten zurück, insbesondere die Elben, die Mittelerde verlassen – was eher an das Eiserne als an das Goldene Zeitalter denken lässt.115 Das Vierte Zeitalter ist das Zeitalter der Menschen und natürlich alles andere als „golden“:116 es ist die Geschichte, die wir kennen. Denn auch in dieser Hinsicht nimmt der LR ein vergilisches Thema auf: obwohl Tolkien seine eigene Mythologie schafft, spielt seine Geschichte – anders als die spätere Fantasy-Literatur117 – doch in unserer Welt, geographisch leicht verändert, aber durchaus wiederzuerkennen. Sie spielt in einem mythischen Zeitalter, das vergessen ist, das aber in die wirkliche geschichtliche Welt mündet, ihre Entstehung erklärt und sie damit auch als notwendig rechtfertigt.

–––––––––––– 114 LR, II 2, S. 286 [dt. S. 327]. 115 Vgl. z.B. Ov. met. 1,150: ultima caelestum terras Astraea reliquit. 116 Vgl. den Disput zwischen Legolas und Gimli in LR, V 9, S. 907 [dt. S. 166]: (Legolas:) „‘[…] The deeds of men will outlast us, Gimli.’ ‘And yet come to naught in the end but might-have-beens, I guess,’ said the Dwarf. ‘To that the Elves know not the answer,’ said Legolas.“ 117 Zu den Ausnahmen gehören die Chroniken von Prydain (1964-1968) von Lloyd Alexander, die in einem leicht verfremdeten Britannien spielen und an deren Ende in ähnlicher Weise das Verschwinden der Magie und der Übergang vom mythischen zum geschichtlichen Zeitalter stehen.

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12. Zusammenfassung Tolkiens Lord of the Rings kann in vieler Hinsicht als Epos in der Nachfolge der Aeneis betrachtet werden: Tolkien selbst hat sich zwar bezüglich der Gattung nicht festlegen wollen, aber allein schon die Länge und Komplexität des Werks und die zeitliche und räumliche Ausdehnung der fiktiven Mythologie, die es präsentiert, verraten epischen Atem. Dazu kommen Stilelemente des Epos bzw. heroischen Erzählens: zum Beispiel werden Liebesbeziehungen ähnlich verhalten geschildert wie in der Aeneis. Gerade die Aragorn-Éowyn-Episode erinnert in vielem an die Dido-Episode. Auffallende Gemeinsamkeiten kann man auch in der Heldenkonzeption erkennen: Frodo und Aragorn, die nicht persönlicher Abenteuerlust oder Ruhmsucht, sondern einem schicksalhaften Auftrag folgen, um die Welt zu retten, haben beide Ähnlichkeit mit Aeneas: Erinnert Aragorn mehr an den Herrscher und Krieger Aeneas, so lässt Frodo vor allem an die menschliche Seite des vergilischen Helden denken. Beide Protagonisten des LR erleben auch eine Art Unterweltsfahrt, wobei Vergil in bezeichnender Weise abgewandelt wird: Die „Heldenschau“, die Frodo zuteil wird, ist schlichter und bereitet dem Verständnis keine Schwierigkeiten – wodurch sie auch ein Licht auf die irritierenden Momente wirft, die Vergils Epos hervorruft. Das gilt auch für andere Vergil-Reminiszenzen: die Dido-Episode und Aeneas’ Zweikampf gegen Turnus klingen beide im LR an, doch in einer ‘beschönigten’ Version, die es vermeidet, den Helden in ein zweifelhaftes Licht zu rücken.118 Verfolgt man die Entwicklung dieser Episoden in der History of Middle Earth, stellt man fest, dass die Vergilanklänge in den frühen Phasen des LR sogar stärker waren, dann aber zurückgedrängt wurden. Die bedeutsamste Gemeinsamkeit mit Vergil liegt aber in der teleologischen Geschichtsdeutung: Wie in der Aeneis, so erstreckt sich das Fatum auch im LR unbegrenzt in Zeit und Raum, wirkt das Handeln Weniger auf die ganze Menschheit und weit in die Zukunft; wird die Welt also nicht nur für den Augenblick gerettet, sondern für immer verändert. Und neben die Freude über das glückliche Ende tritt eine Melancholie über die Vergänglichkeit und darüber, dass jeder Sieg seinen Preis kostet. Darin erkennt man vielleicht am meisten Verwandt–––––––––––– 118 Zu Turnus vgl. Fußn. 71 und 90. Ich konnte hier nicht im Detail auf diejenigen Punkte eingehen, in denen Tolkien Vergil nicht folgt; dennoch sei auf die harmonisierende Tendenz des LR zumindest hingewiesen, für die der Umgang mit den ‘Turnusfiguren’ signifikant ist: Boromir fällt, aber nicht von Aragorns Hand; Saruman (s. Übersicht, § 12 und 19) wird getötet, obwohl Frodo ihn begnadigt: sein Frevel straft sich selbst, und die Hand des Siegers bleibt unbefleckt. Das wäre, auf Aeneas/Augustus übertragen, ein panegyrisches Ende!

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schaft mit Vergil, auch wenn Tolkien den Todesschatten des Marcellus aus seiner Heldenschau verschwinden ließ.

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Anhang: The Lord of the Rings – Inhaltsübersicht Buch I: (§ 1) Der Hobbit Frodo hat von seinem Onkel Bilbo einen goldenen Zauberring geerbt. Der Zauberer Gandalf findet heraus, dass dieser Ring der lange verschwundene Eine Ring des Dunklen Herrschers Sauron ist. Sauron, vor langer Zeit besiegt, gewinnt in seinem Lande Mordor wieder Kraft und sucht nach dem Ring. (§ 2) Der Ring verleiht absolute Macht, und es geht eine verderbliche Versuchung von ihm aus, die nur eine Lösung zulässt: den Ring in die Klüfte des Schicksalsbergs in Mordor zu werfen, wo er geschmiedet wurde. (§ 3) Auf Anraten Gandalfs verlässt Frodo mit drei Freunden, den Hobbits Sam, Pippin und Merry, das Auenland. Verfolgt von den Schwarzen Reitern (Nazgûl), durchqueren sie den Alten Wald, das Reich Tom Bombadils und die Hügelgräberhöhen. (§ 4) Im Gasthaus zu Bree treffen sie auf Aragorn, den sie nach anfänglichem Misstrauen als Führer akzeptieren, nicht zuletzt, weil er nachweisen kann, dass er ein Freund Gandalfs ist. Buch II: (§ 5) In Rivendell, der Wohnstatt des mächtigen und weisen Halbelben Elrond und anderer Elben, treffen die Hobbits Bilbo und auch Gandalf wieder. (§ 6) In einer langen Beratung mit Elrond, Gandalf und anderen wird beschlossen, dass tatsächlich keine andere Lösung in Frage kommt, als den Ring in die Schicksalsklüfte zu werfen, und dass Frodo dies vollbringen soll. (§ 7) Frodo werden acht Gefährten mitgegeben, doch außer ihm selbst ist keiner verpflichtet, bis zum Ende zu gehen: der Zauberer Gandalf, die Menschen Aragorn und Boromir, der Elb Legolas, der Zwerg Gimli sowie die Hobbits Sam, Pippin und Merry. (§ 8) Boromir ist der Sohn und Erbe Denethors, des amtierenden Herrschers von Gondor, seines Zeichens allerdings nur Truchsess: die gegenwärtigen Herrscher von Gondor stammen von den Truchsessen des vor etwa 1000 Jahren ausgestorbenen Königshauses ab und üben ihr Herrscheramt offiziell nur treuhänderisch aus, „bis der König zurückkommt“. (§ 9) In dieser Versammlung wird auch erstmals deutlich, wer Aragorn wirklich ist, nämlich der Nachkomme und Erbe der wahren Könige von Gondor. (§ 10) Die neun Gefährten wandern durch die Minen von Moria, wo Gandalf (scheinbar) stirbt, und durch das schöne Land Lórien, wo die Elbenherrin Galadriel wohnt. (§ 11) Boromir wird im Kampf von Orks erschlagen, Frodo und Sam trennen sich heimlich von den Gefährten, um allein nach Mordor zu gehen. So zerfällt die Gemeinschaft des Ringes. Buch III: (§ 12) Aragorn, Legolas und Gimli verfolgen die Orks, die Pippin und Merry gefangengenommen haben, durch das Land Rohan. Hier finden sie Gandalf wieder und lernen Théoden, den König von Rohan, und

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dessen Nichte Éowyn kennen. Zusammen mit Théoden bekämpfen sie den Zauberer Saruman, der zum Bösen abgefallen ist. (§ 13) Gandalf reitet mit Pippin nach Minas Tirith, der Hauptstadt von Gondor, wo Krieg gegen Sauron nahe bevorsteht. Buch IV: (§ 14) Frodo und Sam verzweifeln fast daran, den Weg nach Mordor allein zu finden. Sie treffen auf Gollum, die Kreatur, der Bilbo den Ring einst abgenommen hat, und die seitdem den Ring verfolgt. Obwohl durchaus nicht vertrauenswürdig, erweist sich Gollum als nützlicher Führer, der die beiden Hobbits schließlich über die Grenze des Schwarzen Landes bringt. Buch V: (§ 15) Gandalf und Pippin überbringen Denethor die Nachricht von Boromirs Tod. Minas Tirith wird belagert. Denethor verzweifelt und begeht Selbstmord. (§ 16) In Rohan beschließt Théoden, selbst in den Krieg nach Gondor zu ziehen, und Éowyn wird die Regentschaft übertragen. Aragorn zieht mit Legolas und Gimli über die „Pfade der Toten“ nach Gondor und begegnet dabei ein weiteres Mal Éowyn. Da er ihre Begleitung ablehnt, schließt sie sich heimlich dem Heer Théodens an. Alle nehmen an der Schlacht um Minas Tirith teil, die siegreich endet, aber den Krieg nicht entscheiden kann. Buch VI: (§ 17) Frodo und Sam gelangen unter großen Strapazen zum Schicksalsberg. Dort angekommen, erliegt Frodo der Versuchung des Rings und ernennt sich selbst zum Herrn der Ringe. Gollum beißt ihm den Ringfinger ab und stürzt mitsamt dem Ring in die Schicksalsklüfte. Damit ist Sauron vernichtet und der Krieg zu Ende. (§ 18) Aragorn wird König und heiratet Arwen, Elronds Tochter. Éowyn heiratet Faramir, den zweiten Sohn Denethors. (§ 19) Die Hobbits kehren ins Auenland zurück und vertreiben Saruman und seine Helfershelfer, die inzwischen dort die Macht ergriffen haben. Sam heiratet; Frodo verlässt Mittelerde.

Te, Palinure, petens Vergilrezeption in Palinurus’ The Unquiet Grave

SIEGMAR DÖPP (Berlin) I. Einführung Im Dezember 1944 warb die bei Curwen Press in London1 erscheinende Monatszeitschrift Horizon. A Review of Literature & Art für ein Buch, das vom Verlagsbüro2 bezogen werden könne: „ ... we are able to offer our readers and the general public a beautifully printed limited edition of an original work by an English author entitled The Unquiet Grave, by Palinurus“.3 Über den Inhalt des Werks hieß es in der Anzeige, sicher mit den Worten des Autors: „The Unquiet Grave is a year’s journey through the mind of a writer who is haunted by the turbulent Mediterranean figure of Palinurus, the drowned pilot whose uneasy ghost demands to be placated. Three movements indicate with deepening intensity the three blust’ring nights when he is adrift on the ocean, and the Epilogue examines the myth from both the historical and psychological aspects“. Zunächst erschien das Buch, für das der Verfasser ursprünglich den Titel The Tomb of Palinurus vorgesehen hatte,4 mit dem Untertitel A word cycle gebunden und als Paperback-Ausgabe in jeweils fünfhundert Exemplaren.5 Als erste exzellente Kritiken vorlagen,6 veröffentlichte der Londoner Verlag Hamish Hamilton im September 1945 eine durchgesehene Ausgabe (revised edition) in rund 3500 Exemplaren. Schon kurz darauf, im Dezember 1945, –––––––––––– 1 2 3 4 5 6

Plaistow E. 13 im Ostteil der Stadt. 6 Selwyn House, Lansdowne Place, London, W.C.I. Horizon, vol. 10, no. 60, Dezember 1944, auf einer unpaginierten Seite vor S. 367. Jeremy Lewis: Cyril Connolly. A life, London 1997, 383. Vgl. die Buchanzeige in Horizon 60, 1944. Z. B. von John Hayward: „Brev från London“, in: Bonniers Litterära Magasin, BLM 14, 1945, 498-501. Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Schwedischen danke ich Nils Jäger (Göttingen).

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Siegmar Döpp

erschien eine Ausgabe bei Cass Canfield in New York; auf deren Titelblatt war auf Drängen des Verlegers, gegen den Wunsch des Autors nach der Verfasserangabe Palinurus der Name Cyril Connolly in Klammern hinzugefügt.7 Es handelt sich um Cyril Vernon Connolly (10.9.1903 Coventry – 26.11.1974 London),8 den Herausgeber der Zeitschrift Horizon,9 einen höchst angesehenen Literaturkritiker10 und Schriftsteller.11 1951 ließ der Londoner Verleger Hamilton eine weitere Auflage folgen: „The Unquiet Grave. A word cycle by Palinurus. Revised edition with an introduction by Cyril Connolly“.12 Die neu hinzugekommene Einführung enthält für die Genese und

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Lewis, 1997 (wie Fußn. 4), 383. In der 1951 hinzugefügten Einführung (s. unten) schreibt Connolly: „The identity of the author-publisher was never regarded as a top secret“ (p. XIII). 8 Zu seinem Leben und Werk vgl. David Pryce-Jones: Cyril Connolly. Journal and memoir, New York 1984; Lewis, 1997 (wie Fußn. 4); Clive Fisher: Cyril Connolly. The life and times of England’s most controversial literary critic, New York 1996. 9 Die Zeitschrift existierte von 1940 bis 1950; zu Connolly als deren Herausgeber vgl. vor allem Michael Shelden: Friends of promise. Cyril Connolly and the world of Horizon, London 1989 (Nachdrucke 1990 und 1991). 10 Außer in Horizon veröffentlichte Connolly regelmäßig Beiträge in New Statesman, Observer und The Sunday Times. 11 Vor The Unquiet Grave hatte Connolly zwei größere Bücher veröffentlicht: The Rock Pool, einen satirischen Roman (1936), und The Enemies of Promise (1938), worin er zu erklären versucht, warum er das Meisterwerk nicht zu schaffen vermochte, das er nach dem Urteil anderer und seinem eigenen zu schreiben imstande gewesen wäre. 12 Diese mit einem Register versehene Ausgabe wurde mehrfach anastatisch nachgedruckt, zuletzt von Persea Books in New York 1999 (ISBN 0-89255-058-9). Es liegen zwei deutsche Übersetzungen vor: Palinurus, Das Grab ohne Frieden. Deutsch von Leonharda Gescher (Bibliothek Suhrkamp 11), Berlin und Frankfurt a. M. 1952; Palinurus, Das ruhelose Grab. Ein Wörterzyklus. Revidierte Ausgabe mit einer Einführung von Cyril Connolly. Übersetzung aus dem Englischen und Nachwort von Chris Hirte (Bibliothek Suhrkamp 1388), Frankfurt am Main 2006. Nach Auskunft des Waschzettels der Übersetzung von 2006 gehörte „Das Grab ohne Frieden“ zu den Lieblingsbüchern des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld (1924-2002). Das Register der englischen Ausgabe ist in den beiden deutschen Übersetzungen unverständlicherweise fortgefallen – und das, obwohl es in der Einführung (S. 15 der Übersetzung von 2006) erwähnt wird. In der Übersetzung von 1952 fehlt überdies die wichtige Einführung. Wenn in dieser Übersetzung der Titel des englischen Originals angegeben wird als „The Unquiet Grave. A word cycle by Palinurus (i. e. Cyril Connolly)“, so ist das irreführend, da sich der das Pseudonym auflösende Zusatz nur in der amerikanischen Ausgabe von 1951 und ihren Nachdrucken findet.

Te, Palinure, petens. Vergilrezeption in Palinurus’ The Unquiet Grave

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den literarischen Charakter des Buchs sowie für die Selbstauffassung des Autors wichtige Hinweise.13 Wie sich bereits der Buchanzeige von 1944 entnehmen lässt, umfasst das Werk selbst, von der späteren Einführung abgesehen, drei größere Kapitel sowie einen als Epilogue bezeichneten Abschnitt. Die Untersuchung des Palinurus-Mythos, die dieser Epilog bietet, besteht im Wesentlichen in einer Interpretation der einschlägigen Partien der Vergilischen Aeneis; in den drei Kapiteln, dem Kernstück des Buchs, werden zahlreiche Autoren der griechisch-römischen Antike erwähnt und zum Teil auch zitiert: Apuleius, Aristipp, Epiktet, Epikur, Homer, Horaz,14 Lucan, Lucrez, Martial, Ovid, Petron,15 Servius, Tacitus und Tibull. Connollys wichtigster Bezugsautor ist jedoch Vergil. Dessen Palinurus-Darstellung hatte Connolly bereits 1927 in der ersten mit seinem Namen gezeichneten Veröffentlichung erwähnt.16 Jetzt zielt er schon mit der Wahl der Selbstbezeichnung Palinurus auf die Aeneis, welch die ausführlichste und komplexeste antike Porträtierung dieser mythischen Gestalt enthält.17 Vor allem aber finden sich in den drei Kapiteln mannigfache Verweise auf Vergil. Freilich kennt und zitiert Connolly auch andere Erwähnungen des Palinurus in lateinischer Literatur: bei den nachvergilischen Autoren Lucan (7,36–50), Martial (3,78) und Servius (Verg. Aen. 6,378). –––––––––––– 13 Im Folgenden wird der englische Text nach der New Yorker Ausgabe von 1999 (p.) zitiert und die entsprechende Seite in der deutschen Version von 2006 jeweils hinzugefügt (S.). Die Übersetzung der englischen Zitate stammt von mir. 14 Zur Horazrezeption in The Unquiet Grave vgl. Theodore Ziolkowski: Uses and abuses of Horace: His reception since 1935 in Germany and Anglo-America, IJCT 12, 2005, 183-215. 15 Zu Connolly und Petron vgl. Barry Baldwin: Cyril Connolly and Petronius, PSN 30, 2000, 17f. 16 Vgl. The Unquiet Grave p. XII; S. 11; es handelt sich um die Besprechung einer Oxford-Ausgabe von Laurence Sternes Werken in New Statesman vom 25.6.1927 (Pryce-Jones, 1984 [wie Fußn. 8], 108). 17 Zu Palinurus-Darstellungen vor Vergil vhl. Otto Immisch: „Palinurus“, in: Wilhelm Heinrich Roscher (Hg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. 3, Abt. 1, Leipzig 1897-1902, 1295-1300, hier: 1298; Eduard Norden: P. Vergilius Maro: Aeneis Buch 6, Leipzig 1903 (Darmstadt 41957), 229f.; Jean Hubaux: Palinure, LEC 3, 1934, 174-194; Vinzenz Buchheit: Von der Entstehung der Aeneis, Nachrichten der Giessener Hochschulgesellschaft 33, 1964, 131-143, hier: 136; Thomas Köves-Zulauf: Die Steuermänner im Gesamtrahmen der Aeneis: Leucaspis, Menoetes, Palinurus, ACD 34/35, 1998-1999, 303-325, hier: 310; Nicholas Horsfall: Virgil, Aeneid 3. A commentary, Leiden/Boston 2006, 174.

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Im vorliegenden Beitrag soll es um Art und Umfang der Vergilrezeption in The Unquiet Grave gehen.18 Bevor wir aber in das Werk selbst schauen, seien als Folie für Connolly die Erwähnungen des Palinurus in Vergils Aeneis vergegenwärtigt.19

–––––––––––– 18 Mit diesem Thema haben sich bisher Theodore Ziolkowski: Virgil and the Moderns, Princeton 1993, 129-145; 256-257 und Alessandro Schiesaro: Virgil in Bloomsbury, PVS 24, 2001, 31-47 beschäftigt. 19 In neuzeitlicher Literatur ist Vergils Palinurus-Darstellung außer von Connolly noch mehrfach rezipiert worden. In Dante Alighieris Divina Commedia erscheint die Gestalt des Palinurus zwar nicht selbst, aber in den Canti 3-6 des Purgatorio weist die Schilderung der Begegnung mit Jacopo del Casero, Buonconte da Montefeltro und La Pia zentrale Motive aus Aen. 6,337-384 (s. unten) auf; dazu vgl. Hermann Knittel: Vergil bei Dante. Beobachtungen zur Nachwirkung des sechsten Äneisbuches (Diss. Freiburg i. Br. 1971), Konstanz 1971; Caron Ann Cioffi: Fame, prayer, and politics: Virgil’s Palinurus in Purgatorio V and VI, Dante Studies 110, 1992, 179-200; Aldo Setaioli: „Palinuro: genesi di un personaggio poetico“, BStudLat 27, 1997, 56-81, 77f. und Christine Godfrey Perkell: Irony in the underworlds of Dante and Virgil: Readings of Francesca da Rimini and Palinurus, MD 52, 2004, 125-140. In dem Prosawerk Palinurus sive De felicitate et miseria (1445) lässt Maffeo Vegio (1406/1407-1458) Palinurus in der Unterwelt ein Gespräch mit Charon führen; der Autor ist nicht allein durch Lukians Dialoge inspiriert, sondern in noch höherem Maße von Vergil (David Marsh: Lucian and the Latins. Humor and humanism in the early Renaissance, Ann Arbor 1998, 6771); in einer Lukianausgabe von 1470 wird der Dialog irrtümlich als Übersetzung eines Lukianischen Werks ausgegeben (Ernst Philip Goldschmidt: The first edition of Lucian of Samosata, JWI 14, 1951, 7-20, 13f.). Giuseppe Ungaretti (18881970) legt in Recitativo di Palinuro, einem Gedicht aus sechs Sestinen und einer abschließenden Terzine, Palinurus eine Rede in den Mund; entstanden 1947, gehört das Gedicht zu dem Zyklus La Terra Promessa. Frammenti 1935-1953, in dem Vergil weithin präsent ist (Ausgaben und deutsche Übersetzungen: Giuseppe Ungaretti, Das verheißene Land, Das Merkbuch des Alten, zweisprachige Ausgabe, deutsch von Paul Celan, Frankfurt am Main 1983; Giuseppe Ungaretti, Vita d’un uomo. Ein Menschenleben. Werke in 6 Bänden, Band 3. Herausgegeben von Angelika Baader und Michael von Killisch-Horn, München 1992, 28-31; 218f.); zu Ungarettis Vergilrezeption vgl. Manfred Lossau: Elpenor und Palinurus, WS 93 (N. F. 14), 1980, 102-124, 123f.; Mario Petrucciani: „La discesa nella memoria, il pilota innocente. Ungaretti e Virgilio (Altri prolegomeni a La Terra Promessa)“, Atti del Convegno Internazionale su Giuseppe Ungaretti, Urbino 3-6 Ottobre 1979, Urbino 1981, vol. 1, 597-637, und Setaioli (wie oben) 78-80. Von Ungaretti beeinflusst ist schließlich Russell Thomas’ Palinurus, eine poetische Rede des Protagonisten, die in der unpaginierten Sammlung Luminous Automatic Donkey (Nashville 1961) enthalten ist; vgl. dazu Setaioli (wie oben) 80 n. 159.

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II. Palinurus in Vergils Aeneis Bei der Betrachtung des Vergiltextes stellt sich allerdings das Problem, ob der in Manuskripten überlieferte Text des Epos in allem authentisch ist oder ob er nicht von fremden Händen Zusätze erfahren hat. Vor allem Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Petrus Hofmann Peerlkamp (1786–1865) und in jüngster Zeit Otto Zwierlein rechnen mit einer ganzen Reihe von Interpolationen; das Verdikt betrifft insgesamt folgende Partien: Aen. 3,201–20220; 3,512–51721; 5,814–81522; 5,855b–856a (cum puppis parte reuulsa / cumque gubernaclo)23; 5,865–86624; 5,870–87125 sowie die gesamte Palinurus-Handlung im sechsten Buch (6,337–384).26 Nun hat Connolly alle diese Partien offensichtlich für Vergilisch angesehen, wie dies in jüngerer Zeit etwa auch Roger A. B. Mynors in seiner Ausgabe (Oxford 1969) tut;27 so braucht das Echtheitsproblem jetzt, im Blick auf Conolly, ungeachtet seiner grundsätzlichen Bedeutung für die Vergilinterpretation nicht weiter erörtert zu werden. –––––––––––– 20 Otto Zwierlein: Die Ovid- und Vergil-Revision in tiberischer Zeit. Band I: Prolegomena, Berlin/New York 1999, 45; 47. 21 Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), 180-183; 306, n. 1; 309. 22 Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), 227 n. 1. 23 P. Vergilii Maronis Aeneidos libri. Edidit et annotatione illustravit P. Hofmann Peerlkamp, 1: Libri I-VI, Leiden 1843; Christian Gnilka: „Palinurus. Eine Schulgeschichte aus Westfalen“, in: Ders.: Philologische Streifzüge durch die römische Dichtung, Basel 2007, 11-16. 24 Peerlkamp, 1843 (wie Fußn. 23); Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), 38 n. 4; 64f. 25 Heyne (Publius Virgilius Maro varietate lectionis et perpetua adnotatione illustratus a Christ. Gottl. Heyne. Editio quarta, curavit Ge. Phil. Eberard. Wagner, volumen secundum: Aeneidis libri I-VI, Leipzig/London 1832), 839: […] nisi aurium iudicium animique sensus prorus me fallit, ultimi hi duo versus: O nimium caelo. Nudus in ignota a Virgiliana manu profecti non sunt. Nihil dici poterat frigidius et languidius, et grammatico acumine dignius; Peerlkamp, 1843 (wie Fußn. 23); Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), 63-65. Anders urteilt etwa Immisch, 1897/1902 (wie Fußn. 17), 1296: Aeneas’ „Seufzer nudus in ignota, Palinure, iacebis harena (871) schließt in feinersonnener Weise die Episode genau mit derjenigen Vorstellung ab, an welche die Wiederaufnahme des Motivs in der Nekyia anknüpft“. 26 Peerlkamp, 1843 (wie Fußn. 23); Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20), 101f. 27 Diese Ausgabe liegt der folgenden Inhaltsübersicht zugrunde. Leider erfährt man aus Mynors’ kritischem Apparat nichts von den Athetesen, die ältere Philologen wie Heyne und Peerlkamp an der Palinurus-Darstellung vorgenommen haben. Etwas bessere Auskunft bieten in dieser Hinsicht die Ausgaben von Geymonat: P. Vergili Maronis opera post Remigium Sabbadini et Aloisium Castiglioni recensuit Marius Geymonat, Turin 1973; P. Vergili Maronis opera edita anno MCMLXXIII iterum recensuit Marius Geymonat, Roma 2008.

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Das erste Mal tritt der Steuermann Palinurus innerhalb der autodiegetischen Erzählung auf, die Aeneas am Hofe Didos vorträgt (3,192–202). Es ist eine gefährliche Situation, in der Palinurus da erscheint, und Aeneas charakterisiert das Bedrohliche, indem er auf die große Erfahrung des Palinurus verweist. Nachdem nämlich die Schiffe der Trojaner Kreta verlassen haben, zieht, bevor sie zu den Strophaden gelangen, ein gewaltiger Sturm auf: Sogar Palinurus (ipse […] Palinurus),28 erzählt Aeneas, bekenne, Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden zu können und den Weg nicht mehr zu wissen (3,201f.). Noch dreimal kommt Aeneas in seiner Erzählung vor Dido auf Palinurus zu sprechen. Nach der Prophezeiung der Harpyie Celaeno fliehen die Aeneaden auf dem Meer, wobei sie sich ganz dem Wind und dem Steuermann anvertrauen (3,268–272). Als die Trojaner später in der Nähe der Ceraunia-Höhen rasten, schildert Aeneas, wie sich Palinurus munter vom Lager erhebt, die Winde erkundet, den Lüften lauscht und sämtliche Sterne bestimmt. Nachdem er gesehen habe, dass am Himmel alles in Ordnung sei, habe er vom Heck ein lautes Signal zum Aufbruch gegeben (3,512–520).29 Als die Aeneaden sodann in die Nähe der Charybdis gelangen, fordert Aeneas die Gefährten auf, sich in die Ruder zu legen: Als erster, so berichtet Aeneas, habe Palinurus den Bug in die Wellen zur Linken gedreht (3,561–567). Insgesamt zeichnet Aeneas in Buch 3 das Porträt eines überaus kundigen und bewährten, den Gefahren des Meeres entschlossen trotzenden Helfers.30 Das nächste Mal begegnet uns Palinurus zu Anfang des fünften Buchs (5,1–34):31 Als bald nach der Abfahrt der Flotte aus Karthago ein gewaltiger Sturm aufzieht, so berichtet jetzt der epische, d. h. der heterodiegetische, nicht-fokalisierende Erzähler,32 weist der Steuermann Aeneas auf die große Gefahr hin: Italien zu erreichen, könne er derzeit nicht hoffen. Angesichts der Überlegenheit Fortunas sei es ratsam, ihrem Wink zu folgen („[…] superat quoniam Fortuna, sequamur / quoque uocat, uertamus iter […]“ –––––––––––– 28 29 30 31

Ein das Versende überspannendes Hyperbaton. Vgl. dazu Horsfall, 2006 (wie Fußn. 17), 368. Horsfall, 2006 (wie Fußn. 17), 390: „an alert and energetic seaman“. Auf inhaltliche Probleme in dieser Partie weist besonders Wolf-Hartmut Friedrich: „Libyco cursu. Über Anfang und Schluß des 5. Buchs der Aeneis“, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Phil.-hist. Klasse, Jahrgang 1982, Nr. 2, Göttingen 1982, 69-101, hier: 71-81 hin. 32 Man könnte ihn auch als allwissenden, olympischen oder auktorialen Erzähler bezeichnen.

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[5,22b–23a]) und statt der italischen Küste das nahe Sizilien anzusteuern. Aeneas folgt dem Rat des Palinurus und erteilt seinen Leuten den entsprechenden Befehl (5,10–34). Als die Aeneaden schließlich nach den Leichenspielen zu Ehren des Anchises von Sizilien fortsegeln, wendet sich auf der Ebene der Götterhandlung Venus voller Sorge an Neptun; er versichert ihr, Aeneas werde, wie sie es wünsche, wohlbehalten im Hafen des Avernus (bei Cumae) landen. Einen nur werde sie vermissen, der im Strudel des Meeres untergegangen sei; nur ein Haupt werde für viele geopfert werden: unus erit tantum amissum quem gurgite quaeres, unum pro multis dabitur caput (5,814f).

Das gewaltsame Ende der nicht genannten Person wird von Neptun als stellvertretender Tod charakterisiert, als ein Opfer, dazu bestimmt, die glückliche Landung der übrigen Aeneaden in Italien zu sichern.33 Dass Neptuns Prophezeiung auf Palinurus zielt, wird im Gang der Erzählung sehr bald klar: in 5,827–841, „one of the most moving scenes of the Aeneid“.34 Bei ruhiger See und günstigem Wind segeln die Trojaner gen Italien. Den Zug der Schiffe führt Palinurus an, an dessen Kurs sich die anderen ausrichten sollen. Als sich kurz vor der Mitte der Nacht die Seeleute auszuruhen beginnen, gleitet vom Himmel Somnus, der Gott des Schlafs, herab. In einer besondere emotionale Anteilnahme signalisierenden Apostrophe an Palinurus gibt der allwissende Erzähler an, welches die Intention des Gottes ist: Er sei auf dem Weg zu Palinurus, um ihm, dem Unschuldigen (insons), tödliche Träume zu bringen: te, Palinure petens, tibi somnia tristia portans35 insonti (5,840f).

–––––––––––– 33 Zu diesem Motiv vgl. Cesáreo Bandera: „Sacrificial levels in Virgil’s Aeneid“, Arethusa 14, 1981, 217-239, hier: 223; Frederick E. Brenk: „Unum pro multis dabitur caput. Myth, history, and symbolic imagery in Vergil’s Palinurus incident“, Latomus 43, 1984, 776-781 = Brenk: Clothed in purple light: Studies in Vergil and in Latin literature, including aspects of philosophy, religion, magic, Judaism and the New Testament background, Stuttgart 1999, 34-59; Philip Hardie: The epic successors of Virgil. A study in the dynamics of a tradition, Cambridge 1993, 32; Dyson, Julia Taussig: King of the wood: The sacrificial victor in Virgil’s Aeneid, Norman 2001, 75-94; Michael von Albrecht: Vergil. Bucolica, Georgica, Aeneis. Eine Einführung, Heidelberg 2006, 4; 177. 34 Williams (Robert Deryck Williams: P. Vergilii Maronis Aeneidos liber quintus, edited with a commentary, Oxford 1960) z. St. 35 Zur Bedeutung von somnia tristia vgl. Hans Rudolf Steiner: Der Traum in der Aeneis, Bern u.a. 1952, 78-80.

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Der Gott zeigt sich, so berichtet der epische Erzähler, dem Palinurus freilich nicht in seiner wirklichen Gestalt, sondern tritt als Phorbas36 auf; dessen wahre Identität bleibt Palinurus verborgen.37 Den Steuermann redet Phorbas als Iaside Palinure an (5,844), d. h. als Nachkommen von Dardanus’ Bruder Iasius,38 diese trojanischen Urväter waren einst aus Italien nach Asien ausgewandert. Die See sei ruhig, so lässt sich Phorbas vernehmen; Palinurus möge sich ausruhen und ihm für kurze Zeit das Steuer überlassen (5,843–846). Ohne auch nur aufzublicken, entgegnet Palinurus, sein Gegenüber solle nicht so tun, als ob er, der Steuermann, die trügerische Ruhe des Meeres nicht kennte (5, 847–851). Unter diesen Worten umklammert Palinurus das Steuer, die Augen fest auf die Sterne gerichtet. Somnus schwenkt nun einen Zweig, von dem der ‘Tau des Vergessens’ hinabtropft (wohl einen Mohnstengel), über beide Schläfen des Palinurus und schließt dem langsam Nachgebenden die Augen. Kaum hat Palinurus zu schlafen begonnen, als der Gott sich über ihn beugt und ihn vom Schiff stößt; bei dem Sturz, so heißt es in den Handschriften, seien das Steuerruder und ein Stück des Hecks mit in die Tiefe gerissen worden: cum puppis parte reuulsa / cumque gubernaclo (5,858b–859a).39 Von den Wellen aus ruft Palinurus vergeblich seine Gefährten um Hilfe, derweil sich der Gott in die Lüfte erhebt (5,852–861). Trotz dem Verlust ihres Steuermanns fährt die Flotte, wie es Neptun versprochen hatte, sicher dahin. Als sie sich den Felsen der Sirenen nähert, bemerkt Aeneas das Fehlen des Palinurus. Daraufhin übernimmt er selbst die Lenkung des Schiffs – auf welche Weise Ersatz für das abgerissene Steuer und das Heckteil geschaffen worden ist, wird nicht erzählt. Erschüttert durch das tödliche Schicksal (casus), das den Freund (amicus) getroffen hat, ruft Aeneas in einer Apostrophe aus: –––––––––––– 36 Über ihn wird in der Aeneis nichts Näheres mitgeteilt. In der Ilias erscheint ein Phorbas als ein reicher Troer, der von Hermes geliebte Vater des Ilioneus (14,490f.); diese Stelle hat Connolly wohl im Auge, wenn er p. 132 schreibt: „ […] Phorbas was already dead – killed in the siege of Troy. He represents the ‘old school’ of Trojan“ (S. 172). 37 Vgl. dazu Werner Suerbaum: Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999, 250: „Auf der Ebene der epischen Handlung bleibt die wahre Identität des Phorbas den ihm begegnenden Menschen verborgen; nur dem Leser wird sie vom Dichter kundgetan. Dadurch wird die Bedeutsamkeit der Handlung gesteigert – an sich wäre es nicht nötig gewesen, einen Gott ‘einzusetzen’, damit der Steuermann des Aeneas ins Meer stürzt“. 38 Aen. 3,167f. 39 Vgl. dazu Thomas Berres: Die Entstehung der Aeneis, Wiesbaden 1982, 250-281, hier: 267.

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“O nimium caelo et pelago confise sereno, nudus in ignota, Palinure, iacebis harena” (5, 870f): „Der du allzu sehr dem heiteren Himmel und dem Meer vertraut hast, Palinurus, wirst nackt an unbekanntem Strand liegen!“

Mit diesen an ein Epitaph erinnernden Versen epigrammatischen Charakters40 endet das fünfte Buch. Dass Palinurus sich durch das ruhige Wetter habe täuschen lassen, muss Aeneas aus der Tatsache von Palinurus’ Verschwinden geschlossen haben: Denn da Aeneas die Begegnung zwischen dem Steuermann und Phorbas, die zuvor erzählt worden war, nicht miterlebt hat, kann er nicht wissen, wie sehr sich Palinurus gegen die Überwältigung durch Somnus/Phorbas gewehrt hat. Schließlich, im sechsten Buch, trifft Aeneas die (den Umriss einer Gestalt zeigende) Seele des Toten, als er, von der Cumäischen Sibylle geleitet, in die Unterwelt hinabsteigt: unter den Seelen der Unbestatteten, die sich am Ufer des Acheron drängen in der Hoffnung, von Charon übergesetzt zu werden (6,337–384). Vom epischen Erzähler wird Palinurus eingeführt als der Steuermann, der kürzlich auf der „Überfahrt von Libyen“ (Libyco […] cursu)41 beim Beobachten der Sterne vom Heck hinab gefallen und in die Wogen gestürzt sei (6,337–339). Hier lässt der Dichter – anders als in Buch 5 – Palinurus’ Unfall noch vor dem sizilischen Aufenthalt, bald nach der Abfahrt aus Karthago, stattfinden.42 Auch ist jetzt keine Rede von der Einschläferung durch Somnus, vielmehr wird der Eindruck erweckt, Palinurus habe die Pflicht der Himmelsbeobachtung allzu ernst genommen. Sobald Aeneas den Trauernden in der Dunkelheit erkannt hat, redet er ihn an mit der Frage, welcher Gott ihn denn den Gefährten entrissen und im Meer versenkt habe, wo doch Apoll einst prophezeit habe, Palinurus werde, ohne Schaden zu nehmen, zu den Ausoniern gelangen (6,337–346). Wo und wann Aeneas einen solchen Orakelspruch –––––––––––– 40 Vgl. dazu Alessandro Barchiesi: „Palinuro e Caieta. Due ‘epigrammi’ virgiliani“, Maia 31, 1979, 3-11, bes. 3-9; die Aussage ist nach Barchiesi, 8 durch tragische Ironie gekennzeichnet. 41 In diesem Sinne (und nicht im Sinne einer Fahrt nach Libyen) sind die Worte hier gemeint: Buchheit, 1964 (wie Fußn. 17), 148; Berres, 1982 (wie Fußn. 39), 277f.; Giovanni Laudizi: „Palinuro (Verg. Aen. V 827 ss.; VI 337 ss.)“, Maia 40, 1988, 57-73, hier: 59; Köves-Zulauf, 1999 (wie Fußn. 17), 311. Köves-Zulauf, 1999 (wie Fußn. 17), 312 ist der Ansicht, Vergil habe die Route im Auge, welche durch die weite Öffnung zwischen Sardinien und Westsizilien führt. 42 Friedrich, 1982 (wie Fußn. 31), 84.

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empfangen hat, wird in der Aeneis nicht berichtet. Auf Aeneas’ Frage entgegnet Palinurus, weder habe das apollinische Orakel getrogen (hat er Italiens Küste doch schwimmend erreicht)43 noch habe ihn ein Gott im Meer ertränkt, vielmehr sei das Steuer von ungefähr (forte) mit großer Wucht vom Heck losgerissen worden; bei seinem Sturz in die Tiefe habe er es mit sich hinab gezogen. Voller Sorge um das steuerlos fahrende Schiff sei er dann drei stürmische Tage von den Wogen dahingetragen worden. Am vierten Tag schließlich habe er Land gesichtet, sei ans Ufer geschwommen; dort habe ihn eine grausame Volksmenge getötet. Nun sei sein Körper ein Spielball des Meeres und der Küstenwinde. Aeneas möge entweder Erde auf seinen Leib werfen oder seine Schattengestalt über die Fluten des Acheron tragen (6,347–371).44 Während Aeneas im Schweigen verharrt, weist die Sibylle das Ansinnen, ohne vorherige Bestattung übergesetzt zu werden, entschieden ab. Doch kündigt sie Palinurus an, als Trost für sein hartes Geschick werde die Bevölkerung seinen Gebeinen Frieden geben (ossa piabunt), ein Grab (d. h. ein Kenotaph) für ihn errichten und dort Totenopfer darbringen; auch werde der Ort alle Zeit seinen Namen tragen. Diese Ankündigung, eine Aitiologie des Namens der Lokalität, vermag Palinurus’ Schmerz zu lindern (6,372–384). Alles in allem erscheint Palinurus bei Vergil nicht allein als überaus kundiger Steuermann, sondern auch als enger und hochgeschätzter Freund des Aeneas, mit dem er ganz weitläufig verwandt ist. Anders als dem Anführer Aeneas bleibt es ihm allerdings versagt, lebend nach Italien, in die Heimat seiner Vorväter, zu gelangen, mit seinem Opfertod trägt er jedoch zum Gelingen des ganzen Unternehmens bei. Zwischen der Schilderung von Palinurus’ Sturz in Buch 5 und der Rückschau auf dieses Ereignis im sechsten Buch bestehen gewichtige Diskrepanzen.45 So unterscheiden sich zum Beispiel die jeweiligen Wetterlagen voneinander: In Buch 5 herrscht bei Palinurus’ Sturz Windstille, während in Buch 6 ein Sturm tobt. Auch scheint, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die in der Unterwelt weilende Seele des Palinurus nichts von der –––––––––––– 43 Cioffi, 1992 (wie Fußn. 19), 184. 44 Als „erzählender Redner“ tritt Palinurus hier als „Konkurrent des erzählenden Dichters“ auf: Suerbaum, 1999 (wie Fußn. 37), 268. 45 Eine Zusammenstellung findet sich bei Immisch, 1897-1902 (wie Fußn. 17), 1296f.; Williams, 1960 (wie Fußn. 34), XXV-XXVIII; vgl. ferner G. Karl Galinsky: „Aeneid V and the Aeneid“, AJPh 89, 1968, 157- 185; Gordon Williams: Technique and ideas in the Aeneid, New Haven/London 1983, 281f.; Nicholas M. Horsfall: Virgilio: L’epopea in alambicco, Napoli 1991, 100-103.

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nächtlichen Begegnung mit Phorbas zu wissen. Die Aufgabe, derartige Inkonsistenzen zu analysieren und zu erklären, treibt die Vergilexegese seit der Antike um.46 Teils behilft man sich mit der bereits erwähnten Tilgung von Verspartien,47 teils sucht man die ermittelten Unterschiede zu minimalisieren oder gar zu eskamotieren;48 teils wertet man sie als Zeichen dafür, dass das Epos von Vergil nicht abgeschlossen werden konnte, und nimmt an, der Dichter würde sie bei einer Überarbeitung beseitigt haben;49 wieder andere setzen die Differenzen zu einer präsumtiven Ideologie in Beziehung: Vergil habe versucht, den hohen Preis, den die Gründung des römischen Imperiums kostete, zu verschleiern.50 Wie immer man die Unterschiede gewichtet – festzuhalten bleibt, dass Palinurus’ Sturz ins Meer bei Vergil von drei verschiedenen Instanzen und aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird.51 Der heterodiegetische Erzähler des Epos schildert das Geschehen als den durch göttliches Eingreifen bewirkten Stellvertretertod eines Unschuldigen. Aeneas führt das Verschwinden des Palinurus auf dessen allzu großes Vertrauen in den heiteren Himmel zurück, auf eine Verkennung der tatsächlichen Gefahr also (5,870f.); diese Fehleinschätzung des so überaus Erfahrenen kann er –––––––––––– 46 Am Anfang steht für uns Servius zu Aen. 6,338. 47 So namentlich Heyne, 1832 (wie Fußn. 25), Peerlkamp, 1843 (wie Fußn. 23), Zwierlein, 1999 (wie Fußn. 20) und Gnilka, 2007 (wie Fußn. 23). 48 Vgl. vor allem Buchheit, 1964 (wie Fußn. 17) und Thomas Edmund Kinsey: „The death of Palinurus“, La Parola del Passato 40, 1985, 379-380. 49 Dies nahm im Blick auf Aen. 6,365f. bereits der bei Aulus Gellius (2. Jahrhundert n. Chr.) mehrfach erwähnte Vergilkommentator Iulius Hyginus an (Gell. 10,16,15); s. ferner etwa Norden, 1903/1957 (wie Fußn. 17), 231; Richard Heinze: Virgils epische Technik, Leipzig/Berlin ³1915 (Nachdruck Darmstadt 1965), 146 n. 1; 452, n. 11; E. de Saint-Denis: „Où situer les écueils des Sirènes et la chute de Palinure?“, LEC 7, 1938, 489f.; Paul Jacob: „L’épisode de Palinure“, LEC 20, 1952, 163-167; Emanuele Salottolo: „Palinuro“, RAAN 27, 1952, 178-183; Steiner, 1952 (wie Fußn. 35), 81f.; Williams, 1960 (wie Fußn. 34), XXV-XXVII; Franz Josef Worstbrock: Elemente einer Poetik der Aeneis. Untersuchungen zum Gattungsstil vergilianischer Epik, Münster 1963, 53f.; Brooks Otis: Virgil. A study in civilized poetry, Oxford 1963, 417f.; Berres, 1982 (wie Fußn. 39), 281; Williams, 1983 (wie Fußn. 45), 281. Ältere Arbeiten verzeichnet Buchheit, 1964 (wie Fußn. 17), 136 n. 24 und 25. 50 Susanne Lindgren Wofford: The choice of Achilles: The ideology of figure in the epic, Stanford 1992, 176-203; 451-455; Michael Dyson: „Palinurus and his rudder: Vergil, Aeneid 5.858-9“, Antichthon 24, 1990, 70-78. 51 S. William S. Anderson: The art of the Aeneid, Wauconda Ill. 1969 (Nachdruck 1989), 55; Roland Gregory Austin,: P. Vergili Maronis Aeneidos liber sextus, Oxford 1977, zu Aen. 6,348.

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sich offensichtlich nur durch das Einwirken eines Gottes erklären (6,341b–342). Palinurus selbst, der zu Beginn des fünften Buchs in einem Gespräch mit Aeneas nachdrücklich auf die Macht der Fortuna hingewiesen hatte,52 sieht einen unvorhersehbaren Zufall am Werke. Auch die Berücksichtigung der unterschiedlichen Erzählinstanzen und perspektiven der Schilderung kann freilich die Differenzen nicht zum Verschwinden bringen.53

III. The Unquiet Grave: Epilog An der lebhaften philologischen Diskussion über die Vergilische Palinurus-Darstellung hat sich nun auch Cyril Connolly beteiligt: Der Epilogue genannte letzte Abschnitt von The Unquiet Grave ist der Frage gewidmet: Who was Palinurus? (p. 126–138; S. 165–179).54 Der Autor spricht hier – genau wie in der später hinzugefügten Einführung – ohne die Maske des Palinurus. Am Balliol College in Oxford hatte Connolly unter anderem bei Maurice Bowra (1898–1971) Classics studiert.55 So war er für eine Interpretation der Vergilischen Palinurus-Geschichte und anderer antiker Testimonien bestens gerüstet. Der Buchanzeige vom Dezember 1944 entsprechend, prüft er den Mythos unter historischen und psychologischen Gesichtspunkten, vor allem unter den letzteren. Die Untersuchung selbst gibt sich ironisch als the Psychiatrist’s confidential report aus, als Fallstudie; ironisch ist auch die Diagnose formuliert, gleich–––––––––––– 52 5,22b-23a. 53 Zu Recht schreibt Perkell, 2004 (wie Fußn. 19), 129: „ […] the differences between the passages are not trivial, and they can lead to questions of great moral and theological consequence“. 54 Zu dem Epilog finden sich in jüngerer Zeit Bemerkungen bei Cioffi, 1992 (wie Fußn. 19), 181, Ziolkowski, 1993 (wie Fußn. 18), 137-139, Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 18), 32-45 und Perkell, 2004 (wie Fußn. 19). 55 Seinem akademischen Lehrer hat Connolly in The Sunday Times vom 29. August 1971 einen Nachruf gewidmet, worin er Bowra als poet manqué bezeichnet; zu Bowras Leben s. vor allem Hugh Lloyd-Jones: „Sir Maurice Bowra 1898-1971“, PBA 58, 1972 (London 1974), 393-408, ferner Lynette Gail Mitchell: Bowra, Sir (Cecil) Maurice (1898-1971), Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004; online edition May 2005; zu den Beziehungen zwischen Bowra und Connolly s. Lloyd-Jones (wie oben), 397 („[…] men of letters like […] Cyril Connolly […] owed much to his friendship and his influence“); Fisher, 1996 (wie Fußn. 8), 60f. und Lewis, 1997 (wie Fußn. 4), 106-109.

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sam mit einer Tautologie: Strongly marked palinuroid tendencies („Stark ausgeprägte palinuroide Tendenzen“). Bei seiner Interpretation folgt Connolly getreulich der Abfolge der Vergilischen Erzählung in Buch 3, 5 und 6 und führt ausgiebig Zitate an, einige Verse auf Latein,56 zahlreiche längere Partien in der 1697 zum ersten Mal erschienenen Übersetzung von John Dryden (1631–1700).57 Auch wenn die kommentierenden Bemerkungen oft recht knapp ausfallen, vergisst Connolly nicht, auf die Musikalität der Vergilverse hinzuweisen,58 wie dies bester angelsächsischer Tradition entspricht. Nachdem Connolly als einziges bekanntes Detail der persönlichen Verhältnisse des Palinurus dessen Abstammung von dem Trojaner Iasius angeführt hat,59 stellt er fest: There is no evidence of any inherited psychopathic tendency („Es gibt keinen Beweis für irgendeine ererbte psychopathische Tendenz“, p. 126; S. 165). Die erste Erwähnung des Palinurus in der Aeneis – gemeint ist Aeneas’ Schilderung eines Seesturms 3,192–202 – zeige ihn in einem Zustand der Verwirrung und lege die Ansicht nahe, dass er unter einem vorübergehenden black-out gelitten habe. Eine solche Interpretation60 wird der Partie schwerlich gerecht – dem Vergilischen Aeneas kommt es vielmehr darauf an, das Exorbitante der Gefahr zu kennzeichnen, wenn er sagt, sogar Palinurus bekenne, Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden zu können (3,201f.).61 Auch dass es eine die tatsächliche Situation klar analysierende Äußerung des Palinurus ist, die Aeneas hier zitiert,62 zeigt, dass auf Seiten des Steuermanns keine geistige Verwirrung vorliegt. –––––––––––– 56 Aen. 3,268-271; 4,620; 5,815f.; 849b; 870f. 57 The Works of Virgil (1697); zu dieser translation with latitude s. William Frost: „Dryden’s Virgil“, Comparative Literature 36, 1984, 193-208, Colin Burrow: „Virgil in English translation“, in: The Cambridge Companion to Virgil, edited by Charles Martindale, Cambridge 1997, 21-37, hier: 24f.; 28-31 und Richard F. Thomas: Virgil and the Augustan reception, Cambridge 2001 (Paperbackausgabe Cambridge 2006), 122-153. Zitiert wird von Connolly die Übersetzung folgender Verse: Aen. 3,192-202; 268-271; 512-520; 562-567; 5,10-34; 833-871; 6,335-384. 58 Zweimal auf p. 127 (S. 166). 59 S. Phorbas’ Anrede des Palinurus: Iaside Palinure (5,844). 60 Ähnlich urteilen etwa Cioffi, 1992 (wie Fußn. 19), 180 („The first glimpse we have of Palinurus is a negative one: he cannot, despite his navigational skills, steer through the storm.“) und Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 18), 36. 61 S. dazu Lossau, 1980 (wie Fußn. 19), 115 und oben. 62 Ipse diem noctemque negat discernere caelo / nec meminisse uiae media Palinurus in unda. In der von Connolly zitierten Übersetzung Drydens („Ev’n Palinurus no distinction

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Feinsinnig beobachtet hat Connolly, dass mit den Worten Palinurus in unda (3,202b) zum ersten Mal das Thema der ganzen Geschichte anklingt. An die Partie Aen. 3,562–567, in der Aeneas vor Dido schildert, wie die Trojaner unter tatkräftiger Hilfe des Palinurus dem Meeresstrudel Charybdis auszuweichen vermochten, knüpft Connolly die Diagnose, jede der Prüfungen, die Palinurus in der Fremde überstanden habe, hätte bei einem weniger innerlich gefestigten Menschen an anxiety-neurosis or effort-syndrome heraufbeschwören können (p. 129; S. 168).63 Und er fügt die reizvolle Frage hinzu, wie Palinurus wohl auf Aeneas’ Schilderung jenes Erlebens reagiert haben möge. Ob sich Palinurus unter den Hörern an Didos Hof hat, ist aus der Aeneis nicht zu erfahren – Vergil hat sich darauf beschränkt, die Wirkung der Aeneas-Rede auf Dido zu beschreiben (Aen. 4,1–5). Als die Trojaner heimlich aus Karthago abfahren, werden sie beim Zurückschauen des Feuerscheins gewahr, der von Didos Scheiterhaufen herrührt. Wenn Palinurus nun angesichts des sogleich aufkommenden Sturms Aeneas dazu rät, statt unmittelbar auf Italien lieber auf Sizilien Kurs zu nehmen (Aen. 5,1–34), so lässt der Steuermann in Connollys Auslegung damit erkennen, dass er augenblicklich begreift, dass sich Aeneas der Hybris (hubris) und Gottlosigkeit (impiety) schuldig gemacht habe, in zugespitzter Formulierung: He was ‘not the Messiah’ (p. 130; S. 169). An dieser Interpretation ist zweierlei bemerkenswert: Zum einen zeichnet Connolly den Steuermann als einen sensiblen, hellsichtigen Deuter des Geschehens, der dessen Zeichenhaftigkeit erkennt; zu dieser Interpretation wurde Connolly sicher angeregt durch die Verse Aen. 5,4b–7, denen zufolge die Trojaner im Wissen darum, was eine rasende Frau vermöge, von einer dunklen Ahnung erfüllt wurden. Zum andern schreibt Connolly dem Vergilischen Aeneas, der im Epos eindringlich als pius dargestellt wird, eine Tat der impietas zu – die hier repräsentierte Auffassung begegnet bereits in der Spätantike, bei Lactanz,64 wird von einigen Philologen in den 1930er Jahren vertreten65 und sollte rund dreißig Jahre später eine beson–––––––––––– found / betwixt the Night and Day: such darkness reign’d around“) fehlt ein Äquivalent zu negat. 63 Nach Hirte (Übersetzung 2006, wie Fußn. 12, 199) ist effort-syndrome eine „alte Bezeichnung für ‘posttraumatische Belastungsstörung’“. 64 Lact. inst. 5,10,1-9; s. dazu Werner Suerbaum: Vergils Aeneis. Beiträge zu ihrer Rezeption in Geschichte und Gegenwart, Bamberg 1981, 105-111. 65 S. dazu Ernst-August Schmidt: „The meaning of Vergil’s Aeneid: American and German approaches“, in: CW 94, 2000/2001, 145-171, hier: 149f.

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dere Rolle spielen: bei den Anhängern der so genannten two voices theory,66 welche im Text des Epos eine offizielle Stimme des Erzählers, das Lob für Gründung, Erhaltung und Mehrung des Imperiums, unterscheiden von einer gleichsam privaten Stimme, der Markierung moralisch bedenklicher Züge im Handeln des Aeneas sowie der vielen durch Krieg und Eroberung verursachten Leiden.67 Dass Palinurus bei den Leichenspielen für Aeneas’ Vater Anchises im fünften Buch nicht an den Segelwettbewerben teilnimmt,68 veranlasst Connolly zu der Bemerkung, man könne sich gut vorstellen, wie Palinurus in Zurückgezogenheit über den vorangegangenen Sturm und das Verhalten seines Herrn nachdenke, während ringsum der Lärm der Spiele tobe und aufgebrachte Trojanerinnen einige der Schiffe in Brand steckten69 (p. 130; S. 169). Wie bei Vergils Darstellung der Reaktion auf Aeneas’ Erzählung ist es eine Leerstelle der epischen Erzählung, die Connolly hier mit seiner Einfühlung in das seelische Befinden eines der Akteure zu füllen sucht. –––––––––––– 66 S. besonders Adam Parry: „The two voices of Virgil’s Aeneid“, in: Arion 2, 1963, 66-80; wieder in: Henry Steele Commager (Hg.): Virgil. A collection of critical essays, Englewood Cliffs 1966, 107-123 [danach zitiert]; Michael C. J. Putnam: The poetry of the Aeneid. Four studies in imaginative unity and design, Cambridge, Mass. 1965, 64-104; Charles Segal: „Aeternum per saecula nomen. The golden bough and the tragedy of history“, in: Arion 4, 1965, 617-657; Arion 5, 1966, 34-72; Kenneth Quinn: Virgil’s Aeneid. A critical description, London 1968. 67 Ausführlichere Stellungnahmen zur two voices theory finden sich namentlich bei Antonie Wlosok: „Vergil in der neueren Forschung“, in: Gymnasium 80, 1973, 129-151 (wieder in: Antonie Wlosok: Res humanae – res divinae. Kleine Schriften, herausgegeben von Eberhard Heck und Ernst A. Schmidt, Heidelberg 1990, 279-300); Suerbaum, 1981 (wie Fußn. 64), 31-45; Stephen J. Harrison: „Some views of the Aeneid in the twentieth century“, in: Stephen J. Harrison (Hg.): Oxford Readings in Vergil’s Aeneid, Oxford 1990, 1-20, hier: 5-10; Schmidt, 2000/2001 (wie Fußn. 65); Ernst-August Schmidt: „Vergils Aeneis als augusteische Dichtung“, in: Jörg Rüpke (Hg.): Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik, Stuttgart 2001, 65-92, hier: 80-90; Gyburg Radke: „Symbolische Aeneis-Interpretationen. Differenzen und Gemeinsamkeiten in der modernen Vergilforschung“, in: A&A 49, 2003, 90112, hier 99-103. Von diesen Autoren haben sich vor allem Putnam, 1965 (wie Fußn. 66), 93-104 und Segal, 1965 (wie Fußn. 66), 645-654 näher mit Vergils Palinurus-Darstellung beschäftigt. 68 Die Regatta wird 5,114-285 beschrieben; dass Palinurus ihr fernbleibt, halten unter Hinweis auf Connolly auch Cioffi 1992 (wie Fußn. 19), 181 und Perkell, 2004 (wie Fußn. 19), 138f. für signifikant. 69 Aen. 5,604-699.

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Die Ankündigung Neptuns, die Aeneaden würden sicher in Italien landen, einer jedoch werde in den Fluten umkommen (Aen. 5, 814f), lässt sich in Connollys Augen nicht wissenschaftlich erklären: „Wäre der Erzähler Palinurus und nicht Vergil“, könne man geneigt sein, den Vorfall einer delusion of reference, einem Beziehungswahn, zuzuschreiben (p. 130; S. 169).70 Sodann wendet sich Connolly der Vergilischen Schilderung von Somnus’ Auftreten und Aeneas’ Reaktion (5,833–871) zu; seinen Kommentar eröffnet er mit der Bemerkung, der epische Bericht berge viele Probleme (The account is full of difficulties, p. 132; S. 171) – dies entspricht dem allgemeinen Tenor der sich über Jahrhunderte erstreckenden Diskussion. Eine offene Frage ist für Connolly, wie Aeneas, nachdem er das Fehlen des Palinurus bemerkt hatte, das Steuer übernehmen könne, wenn es nicht mehr vorhanden sei.71 In der Tat berichtet Vergil lediglich, Aeneas habe das Schiff selbst gelenkt (ipse ratem nocturnis rexit in undis), ohne über die technische Lösung Auskunft zu geben.72 Weit größeres Gewicht hat für Connolly jedoch die Frage, ob die Behauptung des epischen Erzählers zutrifft, Palinurus sei „unschuldig“ (insons) (5,841a). Palinurus müsse doch der langen fruchtlosen Irrfahrt müde ge–––––––––––– 70 Zu den beiden Versen schreibt Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 18), 38: „ […] it is worth remembering in this context that Connolly insisted on the relationship between Palinurus and Aeneas as doubles“ – eine solche Auffassung kann ich bei Connolly nicht finden. Anders als Connolly betrachten in jüngerer Zeit William S. M. Nicoll: „The sacrifice of Palinurus“, in: CQ 38, 1988, 459-472 und Philip Hardie: Virgil, Oxford 1998, 104-114 Palinurus und Aeneas im übertragenen Sinne als ‘Zwillinge’. 71 Nach 5,863 fügt Dryden in seiner von Connolly zitierten Übersetzung den Satz ein: What the Man forsook, the God supplies (Aen. 5,1041); diesen Vers bezeichnet Connolly zu Recht als Interpolation (p. 133, n. 1). Der von der Gottheit beschaffte Ersatz ist Connolly zufolge ein clauus – das Wort könne nicht nur Schlüssel und Steuer, sondern auch Penis bedeuten. Mit dieser Andeutung lässt Connolly den Leser allein. In Vergils Aeneis kommt clauus an drei Stellen vor, jedes Mal in der Bedeutung „Steuer“: 5,176f. ([…] ipse [Gyas] magister / hortaturque uiros clauumque ad litora torquet); 852f. ([…] [Palinurus] clauom adfixus et haerens / nusquam amittebat oculosque sub astra tenebat) und 10,218 (ipse sedens clauumque regit uelisque ministrat); in der Bedeutung „Penis“ begegnet das Wort wohl nur ein einziges Mal in der Schönen Literatur (s. Heinrich Spelthahn: „clavus“, in: ThLL 3, 1328-1331, hier: 1329,60-62): bei Ausonius (310–nach 393), der Cento nuptialis VIII (Imminutio) V. 124f., die Verse Aen. 5,852f. als Versatzstück verwendend, dem Wort den obszönen Sinn unterlegt. 72 S. oben.

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wesen sein,73 entsetzt über die Fühllosigkeit und Abgestumpftheit (callousness), die Aeneas Connolly zufolge mit dem Verlassen Didos gezeigt hat (p.132; S. 171), entsetzt auch über die Verbrennung mehrerer Schiffe – da werde Palinurus’ Verschwinden nicht zufällig gewesen sein, wie dies aber Aeneas vermute.74 Wenn Palinurus bei seinem Sturz ins Meer außer dem Steuerruder Teile des Hecks mit sich gerissen habe,75 so zeige dies, dass er sich nicht allein ein Floß verschaffen, sondern auch Aeneas schweren Schaden zufügen wollte, und das in der gefährlichen Nähe zu den Sirenen! Kurz, Palinurus’ Verhalten sei ein Beispiel von anti-social hysteroid resentment („von unsozialem, hysterieähnlichem Übelnehmen“, p. 132f.; S. 172). Wenn er, wie es diese Formulierung besagt, die Aeneaden mit Absicht im Stich gelassen hat, kann er in Connollys Augen keineswegs als ‘frei von Schuld’ (insons) gelten.76 Gegen Ende des Epilogs wird Connolly auf die Somnus-Szene noch einmal zurückkommen und dabei einräumen, dass sich deren Sinn nicht sicher erschließen lasse – das heißt aber, dass über Palinurus’ Intention letztlich keine eindeutige Aussage möglich sei (p. 137; S. 177). Aeneas’ an ein Epitaph gemahnender Ausruf, Palinurus habe allzu sehr dem ruhigen Meer vertraut und werde nackt an einem unbekannten Strande liegen (5,870f.),77 wird von Connolly als doppelte Ironie verstanden: Zum einen hatte sich Palinurus gebrüstet, er sei viel zu erfahren, um dem Meer zu vertrauen (5,849f.), zum andern hatte Dido in ihrer letzten Rede den Wunsch geäußert, Aeneas möge vor der Zeit den Tod finden und unbestattet an einem Strande liegen (4,620).78 An dieser Stelle seines Kommentars weist Connolly nachdrücklich auf die 1936 in Oxford erschienene Untersuchung Cumaean Gates von William Francis Jackson Knight (1895–1964) hin; dort wird die Vermutung geäußert, Palinurus’ –––––––––––– 73 Nach McKay (1984) 123 könnten die Worte somnia tristia portans insonti „imply despair at the interminable odyssey“. 74 Cioffi, 1992 (wie Fußn. 19), 181 urteilt in ihrer Interpretation zu Aen. 5,12-18 über Connollys Auffassung folgendermaßen: „ Palinurus’ readiness to give up may suggest that he has been demoralized by prior events like the sojourn in Carthage and the seeming fruitlessness of the journey thus far. More to the point, I think, is his lack of trust in the gods Neptune and Jupiter“. 75 Aen. 6,349-351; s. auch 5,858-860. 76 Anders urteilt etwa Pierre Grimal: Virgile ou la seconde naissance de Rome, Paris 1985, 209: „Ainsi, Palinure sera sacrifié pour le salut de la flotte, victime expiatoire. Palinure est innocent“ . 77 Zu Zweifeln an der Echtheit der beiden Verse s. oben. 78 S. auch James J. O’Hara: Death and the optimistic prophecy in Vergil’s Aeneid, Princeton 1990, 16-24, 109 und Dyson, 2001 (wie Fußn. 33), 71.

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Entfernung des Schiffshecks stelle ein Vergilisches Echo auf das Gilgamesch-Epos dar,79 in dem der Protagonist auf seiner Fahrt in die Unterwelt einen wichtigen Teil seines Schiffes verliert (p. 133; S. 173).80 Was die Begegnung zwischen Aeneas und Palinurus’ Seele in der Unterwelt betrifft, so vermutet Connolly, Aeneas’ Erwähnung einer Prophezeiung Apolls könne eine Falle (a trap) sein, finde sich im Epos doch kein weiterer Hinweis auf dieses Orakel (p. 134 n.1; S. 174 n.). Die Schilderung, die Palinurus von seinem Sturz ins Meer gibt (6,347–371), erinnert Connolly an die Art und Weise, wie psychisch Kranke ihre Unschuld zu beteuern pflegen (p. 134; S. 173). Palinurus ziele mit seiner Darstellung darauf ab, das Misstrauen des Aeneas zu zerstreuen (p. 134 n.1; S. 174 n.).81 Dass dem Steuermann nicht Aeneas, sondern die strenge Sibylle antwortet (6,372–381), hält Connolly ohne weitere Ausführung für bemerkenswert (noteworthy) (p. 136; S. 175). Zu Recht weist er darauf hin, dass Palinurus von einem Einschlafen nichts sagt, sondern behauptet, das Steuer sei ihm mit Gewalt entrissen worden (6,349, p. 136; S. 175). Schließlich hebt Connolly noch hervor, dass die Verse Aen. 6,362–271 starke Ähnlichkeit mit der in der Odyssee (11,51–83) geschilderten Begegnung zwischen Odysseus und der Seele des Elpenor haben; die intertextuellen Bezüge zwischen beiden Szenen sind in jüngerer Zeit näher behandelt worden.82 –––––––––––– 79 W. F. Jackson Knight: Cumaean gates. A reference of the sixth Aeneid to the initiation pattern, Oxford 1936; wieder abgedruckt in: W. F. Jackson Knight: Vergil. Epic and anthropology, edited by John D. Christie, London 1967; zitiert wird hier nach dieser Ausgabe: 159; 171. – Eine feine Würdigung von Knights Vergilinterpretation findet sich bei Timothy P. Wiseman: Talking to Virgil. A miscellany, Exeter 1992, 171-209; zu Cumaean Gates s. 179-183. 80 Gemeint sein muss die Schilderung auf Tafel 10, wie Gilgamesch „die Steinernen“ zerschmettert (in Stefan Mauls Übersetzung [Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt und kommentiert, München 42008] V. 78-108). Was man sich unter „den Steinernen“ vorzustellen hat, ist bis heute ungeklärt (Maul, 180 zu X, 88). Knight, 1967 (wie Fußn. 79), 171 schließt sich an Thompson (Thompson, R. Campbell: The epic of Gilgamish. A new translation from a collation of the cuneiform tablets in the British Museum rendered literally into English hexameters, London 1928) an, der 46 n. 3 schreibt, möglicherweise seien Paddel gemeint – eine Auffassung, die Maul ausschließen möchte. 81 Zwischen der Übersetzung von 6,348 und 349 fügt Dryden folgende zwei Verse ein: „But while the Stars, and course of Heav’n I keep / My weary’d Eyes were seiz’d with fatal sleep“; zu Recht weist Connolly p. 133 n. 1 (S. 174 n.) darauf hin, dass Palinurus von einem Einschlafen nicht spricht; s. auch unten. 82 S. etwa Jacques Heurgon: „Un exemple peu connu de la retractatio virgilienne“, in: REL 9, 1931, 258-268, hier: 262; Steiner, 1952 (wie Fußn. 35), 82f; Lossau, 1980 (wie Fußn. 19); Laudizi, 1988 (wie Fußn. 41), 65-67.

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Der Tod des Palinurus bildet für Connolly eine Parallele zu dem des Misenus, der in der Brandung vor Cumae ertrunken war; vor dem Abstieg in die Unterwelt hatte Aeneas den Leichnam seines Trompeters unbestattet am Strand gefunden (Aen. 6,162b–176a).83 Die Entsprechungen zwischen dem Schicksal von Misenus und Palinurus haben ebenfalls in neuerer Zeit größere Aufmerksamkeit gefunden, zumal beide, Palinurus wie Misenus, einem Kap an der Westküste Italiens ihren Namen geben. 84 Der Umstand, dass Aeneas gerade in dem Augenblick, da er sich ausschließlich seiner Rolle als Reichsgründer zu widmen beginnt, zwei seiner besten Fachleute, den Steuermann und den Trompeter, und kurz darauf auch noch seine Amme Caieta verliert, veranlasst Connolly zu einer kühnen Hypothese: Vielleicht habe es unter den Trojanern eine „alte Garde“ gegeben, die der Leitung durch Aeneas überdrüssig war und sich unbewusst dagegen sträubte, das Gelobte Land zu betreten oder um dieses Zieles willen weitere Strapazen auf sich zu nehmen (p. 136; S. 176). In diesem Zusammenhang zitiert Connolly W. F. Jackson Knights Urteil, Vergil habe den Preis (cost), den der Aufstieg des Reichs forderte – an Leid, an Gewissensqualen und sehr vielen anderen Dingen – sehr wohl gekannt und aufs klarste erkennbar werden lassen;85 es handelt sich um jene pessimistische Aeneis-Deutung, die von den Sechziger Jahren an namentlich in der angloamerikanischen Forschung entfaltet werden sollte.86 Des Weiteren gibt Connolly in einer Fußnote zu erwägen, ob sich Vergil mit dem Steuermann identifizierte87 und so seinen unbewussten Todeswunsch (unconscious death-wish) reflektierte; wenn dies der Fall gewesen sei, dann ergebe sich die Proportion Palinurus / Aeneas : Vergil / Augustus (p. 136 n.; S. 176 n.) – eine mit Typologie kombinierte Analogie. –––––––––––– 83 In diesem Kontext verweist Connolly auf eine von Vergil abweichende Überlieferung: Gemeint ist das Kapitel 1,53 der Romaike Archaiologia des Dionysios von Halikarnass, nicht, wie es in der englischen Ausgabe von 1945 und in der amerikanischen von 1981 sowie in der deutschen Übersetzung von 2006 heißt, eines Dionysus. 84 Heurgon, 1931 (wie Fußn. 82), 261f; Putnam, 1965 (wie Fußn. 66), 100; Raymond J. Clark: Catabasis. Vergil and the wisdom tradition, Amsterdam 1979, 152154; 157f.; Lossau, 1980 (wie Fußn. 19), 113; Alexander G. McKay: „Vergilian heroes and toponymy. Palinurus and Misenus“, in: Harold D. Evjen (Hg.): Mnemai. Classical Studies in memory of Karl K. Hulley, Chico 1984, 121-137; KövesZulauf, 1998-1999 (wie Fußn. 17), 317-323. 85 Knight, 1967 (wie Fußn. 79), 273. 86 S. dazu oben. 87 S. dazu Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 18), 34.

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Nicht nur mit Elpenor und Misenus lässt sich Palinurus Connolly zufolge in Beziehung setzen, sondern auch mit Phrontis, Menelaos’ Steuermann, der von Apollon während der Fahrt getötet wurde (Odyssee 3,278–285). Nach diesem Überblick über die Vergilische Erzählung versucht Connolly abschließend, Wesen und Handeln des Palinurus im Ganzen zu charakterisieren. Der Vergiltext erlaube freilich kein definitives Urteil:88 Ob der Steuermann die Aeneaden vorsätzlich im Stich lassen wollte, ob er das unschuldige Opfer göttlicher Rache war oder ein melancholischer, verbitterter Charakter, der fühlte, dass seine besondere nautische Begabung bald nicht mehr gebraucht werden würde, könne aus dem vorhandenen Beweismaterial nicht erschlossen werden (cannot be deduced from the evidence, p. 137; S. 177). Palinurus’ raue Seemannsart könnte über seine tatsächliche Gemütsverfassung hinwegtäuschen. Gleichwohl zeigt sich Connolly geneigt, Selbstmord und einen Unfall auszuschließen. Was als Erklärungsmöglichkeit bleibe, sei entweder ein Vorsatz, d. h. eine im Voraus geplante Flucht und Rache, oder etwas Übernatürliches, nämlich ein Sühneopfer für Juno, welches den Erfolg von Aeneas’ Unternehmen sichern sollte. Welche dieser beiden Erklärungen man vorziehe, hänge davon ab, wie man die Ansprüche der Vernunft im Vergleich zu denjenigen offenbarter Religion bemesse (p. 137; S. 177). Connollys Fazit lautet: Als Mythos, vor allen Dingen als ein Mythos, der wichtige psychologische Aufschlüsse gebe, stehe Palinurus offensichtlich for a certain will-to-failure or repugnance-tosuccess, a desire to give up at the last moment, an urge towards loneliness, isolation and obscurity, „für einen gewissen Hang zum Scheitern oder eine Abneigung gegen den Erfolg, für ein Verlangen, im letzten Augenblick aufzugeben, für ein dringendes Bedürfnis nach Einsamkeit, Isolation und Unbekanntheit“ (p. 137; S. 178). Trotz seiner großen Fähigkeiten und seiner geachteten Stellung in der Gesellschaft habe Palinurus seinen Posten im Augenblick des Sieges verlassen und sich für die fremde Küste entschieden. Wie viele andere, die den Kampf aufgeben, weil sie Erfolg für etwas geradezu Verhängnisvolles ansehen, bereue er seinen Verzicht sofort und wünsche, er wäre seiner Aufgabe treu geblieben. Obwohl er den Beifall der Menge und den Ruhm verachte, lerne er auf seiner langen Irrfahrt, sich für diese Geringschätzung zu hassen. Ganz am Schluss des Epilogs befasst sich Connolly mit der Etymologie des Wortes Palinurus (παλίνουρος), weil nun einmal Neurotiker ihrem Namen besonderes Gewicht beizumessen pflegten: Das griechische Wort –––––––––––– 88 S. oben.

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bedeute „einer, der wiederum Wasser lässt“ (πάλιν οὐρεῖ), und werde in diesem Sinne von Martial in Epigr. 3,7889 verwendet: Minxisti currente semel, Pauline, carina. Meiere uis iterum? Iam Palinurus eris! „Du hast schon einmal (über Bord) gepinkelt, Paulinus, als dein Schiff dahineilte. Willst du erneut pissen? Sogleich wirst du ein Palinurus sein“.90

Die Wörter οὐρεῖν, mingere, meiere besäßen auch eine sexuelle Komponente, und das eröffne die Möglichkeit zu einer Tiefenanalyse (deep analysis) nach dem Muster von Sigmund Freud. Doch dieser Aufgabe, so schließt Connolly seine Betrachtung, wolle und könne er jetzt nicht nachgehen. Was die Etymologie des Namens Palinurus betrifft, so gibt es in jüngerer Zeit mehrere Versuche der Erklärung;91 beispielsweise bringt man das Wort mit οὖρος (Wind) oder οὖρος (Wächter) in Zusammenhang. Die von Connolly vorgetragene Etymologie findet heute wohl keinen Fürsprecher. Versuchen wir eine Bilanzierung des „Epilogs“! Zwar hat Connolly die Diskrepanzen innerhalb der Vergilischen Palinurus-Erzählung nicht eigens thematisiert, aber er muss doch gespürt haben, dass diese Partie der Aeneis so manche Frage offen lässt. Mehrfach versucht Connolly, dort nicht Erzähltes gewissermaßen nachzutragen und auf solche Weise Leerstellen des epischen Textes zu füllen. Wichtigste Intention seiner Vergilexegese ist es, mit dem begrifflichen Rüstzeug psychologischer Analyse Palinurus’ Charakter zu bestimmen und die Beweggründe seines Handelns zu ermitteln.92 Dabei kommt es ihm zum einen darauf an, die innere Beziehung zwischen dem Steuermann und Aeneas zu erschließen: Er meint, bei Palinurus ein starkes Befremden über Rück–––––––––––– 89 S. dazu Alessandro Fusi: M. Valerii Martialis Epigrammaton liber tertius. Introduzione, edizione critica, traduzione e commento, Hildesheim 2006, 474-476. 90 Das heißt: über Bord gehen. 91 S. besonders Immisch, 1897-1902 (wie Fußn. 17); Pellegrino Claudio Sestieri: „Palinuro“, in: RAAN 24-25, 1949-1950, 51f.; Reinhold Merkelbach: „Palinurus“, in: ZPE 9, 1972, 83; Albrecht Dihle: „Zur nautischen Fachsprache der Griechen“, in: Glotta 51, 1973, 268-280; Feliciano Speranza: „Palinuro“, in: Ettore Paratore (Hg.): Itinerari virgiliani. Raccolta di saggi promossa dal Comitato nazionale per le celebrazioni del bimillenario virgiliano, Milano 1981, 133-136; Köves-Zulauf, 1998-1999 (wie Fußn. 17); Horsfall, 2006 (wie Fußn. 17), 174. 92 Zur Anwendung psychoanalytischer Verfahren auf literarische Texte der Antike s. die prinzipiellen Betrachtungen bei Thomas A. Schmitz: Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 214-224.

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sichtslosigkeit und Hybris auf Seiten des Aeneas zu erkennen. Zum andern schließt Connolly auf einen Widerstreit in Palinurus’ Psyche: Einerseits fühle Palinurus die Verpflichtung, die Aufgabe, die ihm von der Gemeinschaft zugewiesen wurde, zu erfüllen, indem er die Flotte sicher zum verheißenen Land führt; andererseits scheue er im Verlangen nach einem Leben in Ruhe und Einsamkeit vor jener letzten Anstrengung zurück, die ihm die Erfüllung seiner gesellschaftlichen Aufgabe ermöglichen würde. Was die psychologische Herangehensweise betrifft, so verweist Connolly in der Einführung selbst auf die von Carl Gustav Jung (1875–1961) geübte Mythendeutung:93 Der Epilog sei a pastiche of psycho-analytical jargon and Jungian exegesis (p. XVI; S. 14f). Ein wichtiges Vorbild bei der Heranziehung von Jungs „analytischer Psychologie“ war sicher W. F. Jackson Knight: In seiner Rezension von Knights Buch Roman Virgil, die er am 2. April 1944 in The Observer unter der Überschrift Lord of Language veröffentlicht hat,94 rühmt Connolly besonders die Nähe des Autors zur Jungschen Psychologie.95 Das Resultat von Connollys Interpretation der Vergilischen PalinurusDarstellung ist in der bündigen Formulierung Theodore Ziolkowskis „a thoroughly ironic modernization of the Aeneid“.96 Man sollte es bei einem solchen Urteil freilich nicht bewenden lassen, sondern hinzufügen: dass Connolly durch die psychologische Analyse der Befindlichkeit des Palinurus sowie der Beziehung zwischen Palinurus und Aeneas einen Beitrag zur Vergildeutung geliefert hat, der gewiss auch heute noch Beachtung verdient – nicht zuletzt dadurch, dass solchermaßen der Blick auf Leerstellen der epischen Erzählung gelenkt wird. Wichtig ist auch, dass Connolly die grundsätzliche Schwierigkeit der Vergilexegese hervorhebt.

–––––––––––– 93 Zu Jungs Mythendeutung s. Fritz Graf: Griechische Mythologie. Eine Einführung, München/Zürich 1985, 41-43 und Carl-Friedrich Geyer: Mythos. Formen – Beispiele – Deutungen, München 1996, 60-64; 95. 94 Ziolkowski, 1993 (wie Fußn. 18), 134. 95 Nachdem Connolly rühmend hervorgehoben hat, dass Knight die anthropologischen Methoden von James George Frazer (1854-1941) angewandt habe, fährt er fort: „And from Jung he has gained an even deeper understanding of myth, religion, and ritual. Jung’s Theory of Archetypes of the Collective Unconscious, of each race inheriting a sub-conscious mind stocked with primeval mythical figures, truly magical beings, like the symbols of the Tarot pack, is now beginning to bear fruit in the work of those who have absorbed it.“ 96 Ziolkowski, 1993 (wie Fußn. 18), 138.

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IV. The Unquiet Grave: Teil 1–3 im Überblick Damit ist es Zeit, sich dem Hauptteil von Connollys The Unquiet Grave, den drei Kapiteln, zuzuwenden.97 Wie Connolly in der Einführung schreibt,98 verweist der Titel des Werks zum einen auf das Kenotaph des Palinurus, dessen Totenseele einem von Servius mitgeteilten Orakel zufolge besänftigt werden muss.99 Zum andern ist The Unquiet Grave der Titel einer anonymen siebenstrophigen Ballade aus dem 15. Jahrhundert,100 in der ein Liebhaber das Grab seiner Geliebten aufsucht, ihren Schlaf durch das Begehren eines Kusses stört und nach dreihundertsechsundsechzig Tagen des Ausharrens von ihr fortgeschickt wird. Im dritten Teil zitiert Connolly die Strophen 3–7 (p. 89f.; S. 121f.), in der Einführung die erste und siebente (p. XIIIf.; S. 12). Was ihn an dieser Ballade fasziniert, ist wohl, dass die Geliebte ein ähnliches Verlangen nach Einsamkeit und Fürsichsein zeigt, wie er es an Palinurus beobachtet (p. 137; S. 178). Wie der Leser aus der Einführung erfährt, liegen Connollys Werk die Aufzeichnungen dreier Notizbücher zugrunde, die er zwischen Herbst 1942 und Herbst 1943 in seiner Wohnung am Bedford Square (im Londoner Stadtbezirk Bloomsbury)101 abgefasst hat.102 So ist denn The Unquiet Grave auf weite Strecken als Journal des Autors angelegt. Die Zeitangaben setzen nach einer längeren reflexiven Partie auf p. 24 (S. 44) mit dem 12. Dezember ein; wie sich aus Connollys späteren Hinweisen auf seinen vierzigsten Geburtstag ergibt,103 ist das Jahr 1942 gemeint. Die letzte Datumsangabe betrifft den 11. November [1943] (p. 113; S. 150).104 –––––––––––– 97 Dabei kann es nur um die Erwähnungen des Palinurus gehen, nicht darum, den geistigen Gehalt des Werks im Ganzen zu erschließen; einen wichtigen Beitrag zu dieser Aufgabe leistet Jonathan Michael Kertzer: „Cyrill Connolly’s The Unquiet Grave: The pilot and the noonday devil“, in: Mosaic 20/4, 1987, 23-36. 98 P. XIII-XIV; S. 12. 99 Servius zu Aen. 6,378: Mox uero Lucanis pestilentia laborantibus respondit oraculum Manes Palinuri esse placandos: ob quam rem non longe a Velia et lucum et cenotaphium ei dederunt. 100 Der Text ist wieder abgedruckt in: Laura Barber (Hg.): Penguin’s Poems for Life, London 2007, 341. 101 Heute ein Teil des London Borough of Camden. 102 The Unquiet Grave p. XI; S. 9. 103 P. 86; 87; 89; S. 117; 119; 121. 104 S. auch die Einführung p. XI; S. 9: Der Autor „hielt seine Aufzeichnungen zwischen Herbst 1942 und Herbst 1943 in drei kleinen Notizbüchern fest“.

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Das Buch bietet keinen zusammenhängenden, in sich geschlossenen Text, sondern enthält zum einen zahlreiche wörtliche Zitate aus Werken der Weltliteratur oder auch Inhaltsreferate;105 zum anderen finden sich Beschreibungen etwa von Landschaften, Blumen und Flüssen sowie Reflexionen des Autors zu den verschiedensten Gegenständen, zum Beispiel darüber, was ein literarisches Meisterwerk ausmache, oder über die Eigenschaften der Quitte; zuweilen gewinnen diese Reflexionen die Prägnanz eines Aphorismus.106 So verbindet sich in The Unquiet Grave ein vor allem durch die Datumsangaben kenntliches Element der Autobiographie mit der Anlage einer Anthologie und dem Charakter einer Sammlung pointierter Reflexionen. Das Ganze stellt freilich keineswegs eine planlose Anhäufung heterogener Bestandteile dar. Was die einzelnen Äußerungen miteinander verklammert, ist das immer wieder aufgenommene Nachdenken des Autors über seine Eindrücke, Empfindungen und Stimmungen, die Analyse seines seelischen Befindens, zu der er zahlreiche Reflexionen von Autoren der Weltliteratur heranzieht. Geprägt ist die psychische Situation wesentlich durch Angst; in deren Vermeidung liege das Geheimnis des Glücks.107 Zur Frage der Einheitlichkeit des Werks gibt Connolly im Übrigen selber einen wichtigen Hinweis in der Einführung (p. XII; S. 10): Bei der Überarbeitung der 1942/1943 geschriebenen Notizbücher sei in den Aufzeichnungen eine verborgene Struktur zutage getreten, die sich als „Initiation, Höllenfahrt, Purgatorium und Erlösung“ des sprechenden Ichs beschreiben lasse. Connolly setzt die Anlage seines Buchs also in Analogie zum Aufbau von Dantes Divina Commedia. Dass die Zusammenführung sehr unterschiedlicher Elemente letztlich auf ein Ganzes zielt, deutet auch der Untertitel des Werks an: A word cycle, ist ein Zyklus doch eine Gruppe von zwar selbständigen, autonomen Texten, die aber „in narrativer Sukzession oder thematischer Variation“ aufeinander bezogen sind.108

–––––––––––– 105 Eine herausragende Rolle spielen dabei französische Autoren wie Blaise Pascal (1623-1662) (Kap. 1), Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869), Nicolas Chamfort (1741-1794) (Kap. 2), Gustave Flaubert (1821-1880), Gérard de Nerval (1808-1855) und Charles Baudelaire (1821-1867) (Kap. 3). 106 Berühmt ist etwa der Satz: Imprisoned in every fat man a thin one is wildly signalling to be let out („Gefangen in jedem fetten Mann, begehrt ein dünner wild gestikulierend, herausgelassen zu werden“, p. 58; S. 85). 107 S. p. 29 (S. 50): The secret of happiness lies in the avoidance of Angst (anxiety, spleen, noia, fear, remorse, cafard). 108 Claus Michael Ort: „Zyklus“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/New York 2003, 899-901, hier: 899.

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Hinsichtlich der Kombination von Tagebuch und literarischer Reflexion lässt sich The Unquiet Grave vor allem mit zwei früheren Werken vergleichen: mit Zibaldone, den überaus umfangreichen Aufzeichnungen des von Connolly sehr geschätzten und in seinem Buch mehrfach rühmend erwähnten Giacomo Leopardi (1798–1837),109 und mit den postum veröffentlichten Cahiers des Charles-Augustin Sainte-Beuve;110 allerdings ist der relative Anteil der Zitate aus anderen Autoren bei beiden Vorgängern weit geringer als bei Connolly. Die Gliederung des Buchs in drei Kapitel verweist nach Connollys eigenem Bekunden auf den Palinurus-Mythos: Die Zahl entspricht derjenigen der Tage und Nächte, die der Steuermann nach seinem Sturz im Meer verbracht hat, bis er die italische Küste erreichte.111 Der erste Teil ist Ecce Gubernator überschrieben, ein Zitat aus Aen. 6,337 (ecce gubernator sese Palinurus agebat). Dieses Kapitel bietet a selfportrait of Palinurus, with his views on literature, love and religion, his bitter doubting attitude („ein Selbstporträt des Palinurus mit seinen Ansichten zu Literatur, Liebe und Religion, seiner bitteren Haltung des Zweifelns“, p. XIV; S. 12); der psychische Abwärtsdrang des von mannigfachen Ängsten gepeinigten Schreibenden mündet in den Gedanken an Selbstmord. Zum ersten Mal ruft sich der Autor in diesem Teil die Straßen von Paris, einer Stadt, in der er sich mehrfach aufgehalten hat, ins Gedächtnis zurück; sie werden dann in den beiden nächsten Abschnitten eine große Rolle spielen. An das Ende des ersten Kapitels knüpft der Anfang des zweiten an, das mit Te, Palinure, petens, einem Zitat aus Aen. 5,840, überschrieben ist. Der –––––––––––– 109 Die Aufzeichnungen erstrecken sich über die Jahre 1817 bis 1832 (Giacomo Leopardi: Tutte le opere a cura di Walter Binni con la collaborazione di Enrico Ghiberti, Florenz 1962). Den Hinweis auf Leopardi habe ich bei Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 18), 31f., gefunden. 110 Es handelt sich um Überlegungen, Urteile, Anekdoten und Maximen, die SainteBeuve zwischen 1834 und 1868 aufgezeichnet hat; sie sind bisher nur in Auszügen erschienen: 1876 (hg. v. J. Troubat), 1926 unter dem Titel Mes Poisons (hg. v. V. Giraud) und 1973 unter dem Titel Cahiers I: Le Cahier vert, 1834-1847 (hg. v. R. Molho), jeweils in Paris. Connolly bezieht sich auf Girauds Ausgabe von 1926 (p. 58f.; S. 86): Beim Lesen dieser Notizen habe er eine Mischung aus Erleichterung und Verzweiflung empfunden und entdeckt: This is me. 111 S. die Buchanzeige in Horizon 60, Dezember 1944; s. auch Hayward, 1945 (wie Fußn. 6), 500 – allerdings schreibt Hayward irrtümlich, Palinurus’ Leichnam sei im Meer umhergetrieben.

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Autor erinnert zu Beginn an vier Bekannte, die sich das Leben nahmen.112 Unter anderem äußert er in diesem Teil den Wunsch, die Straßen von Paris und die sonnigen Strände möchten Fürbitte für ihn einlegen (p. 62; S. 90). Der Titel des dritten Kapitels, „La clé des chants“ („Der Schlüssel zu den Gesängen“), soll die Erfüllung dieses Wunsches andeuten. Die Gespenster, die den Autor lange Zeit gequält hatten, werden schließlich besänftigt. Den Wandel seines Gemütszustands beschreibt er in Entsprechung zur Vergilischen Schilderung in Aen. 5 und 6, indem er den Ausklang des Kapitels folgendermaßen charakterisiert: Placated and placating, the soul of Palinurus drifts away; his body is washed up on a favourite shore („Versöhnt und versöhnend schwebt die Seele des Palinurus davon; sein Körper wird an einem Lieblingsstrand bespült“, p. XVI; S. 14); gemeint ist – so ergibt sich aus dem Schluss des Teils 3 – das Ufer des Siagne, eines Flusses in den französischen Seealpen.113 Wie sich in diesen Inhaltsskizzen zu den Kapiteln 1–3 andeutet, metaphorisiert Connolly das Geschehen, in dessen Zentrum die Vergilische Palinurusgestalt steht: Er überträgt die fiktive Ereignisfolge der epischen Erzählung auf die Entwicklung, welche die seelische Befindlichkeit seines Palinurus genannten second self innerhalb des behandelten Jahres nimmt: So ist Gegenstand von The Unquiet Grave in der Tat, wie es in der Buchanzeige vom Dezember 1944 formuliert war, „a year’s journey through the mind of a writer“.

V. Palinurus in The Unquiet Grave, Teil 1–3 Die Figur des Palinurus tritt nun in den drei Kapiteln von The Unquiet Grave auf verschiedene Weisen hervor: als Wir- oder Ich-Sagender, mit dem Gebrauch der Er-Form und in Apostrophen des Schreibenden, also in Selbstanreden. Ein paar Beispiele dieser unterschiedlichen Aussageformen seien jetzt betrachtet. –––––––––––– 112 Philip Heseltine [Peter Warlock] (gest. 17.12.1930), Harry Crosby (gest. 1929), René Crevel (gest. 1935), Mara Andrews (gest. 1942). 113 Wie der Autor Palinurus ausdrücklich anmerkt, weicht seine Darstellung hier von der Vergilischen Erzählung ab, in der ein Kap am Golf von Policastro nach dem Steuermann benannt wurde (p. 125; S. 164). Selbstironisch mit dem Leser spielend, fügt der Autor hinzu, die Divergenz sei Anlass, seine Wahrhaftigkeit (veracity) in Zweifel zu ziehen.

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Wie es dem Usus des Tagebuchs gemäß ist, äußert sich der Autor häufig in der Wir- oder Ich-Form. Mit einem Wir schließt sich der Schreibende in eine je und je definierte Gruppe ein. Beispielsweise bezeichnet er auf diese Weise die Leute, mit denen er gemeinsam in Frankreich reiste: Leaving Bellac […] we enter the Bocage Limousin („Bellac verlassend, erreichen wir […] den Bocage Limousin“, p. 98; S. 133). Zuweilen zielt der Autor mit einem Wir vor allem auf die Zeitgenossen: Without health and courage we cannot face the present or the germ of the future in the present and take refuge in evasion („Ohne Gesundheit und Mut können wir uns der Gegenwart oder dem Keim der Zukunft in der Gegenwart nicht stellen und nehmen Zuflucht im Ausweichen“, p. 99; S. 134). An anderen Stellen meint der Autor in anthropologischer Reflexion alle Menschen, etwa bei der Aussage: We are closer to the Vegetable Kingdom than we know („Wir sind dem Königreich der Pflanzen näher, als wir wissen“, p. 49; S. 74f), in der Beobachtung: We think we recognize someone in passing. A mistake, but a moment later we run into them („Wir meinen, jemanden im Vorbeigehen zu erkennen. Ein Irrtum. Aber im nächsten Augenblick laufen wir ihnen in die Arme“, p. 64; S. 92) oder beim Nachdenken darüber, auf welche Weise man das Empfinden von Glück befördern könne: By removing Angst […] we are […] prepared to receive such blessings as may come our way („Durch Beseitigung der Angst […] sind wir […] dazu gerüstet, solche Segnungen entgegenzunehmen, wie sie uns auf unserem Weg begegnen können“, p. 29; S. 50). Die Ich-Form erscheint des Öfteren bei Äußerungen, die einen ausgeprägten Bekenntnischarakter haben. So möchte der Autor einmal das Empfinden ausdrücken, bestimmten Pflanzen, Tieren, Menschen und Epochen besonders nahe zu sein: Als „meine alte Inkarnation“ (my old incarnation, p. 9) apostrophiert er Palinurus vulgaris, die Gewöhnliche oder Europäische Languste,114 und fährt nach der Nennung weiterer Inkarnationen fort: „Perioden, in denen ich gelebt habe: das augusteische Zeitalter in Rom, in Paris und London zwischen 1660 und 1740 sowie zwischen 1770 und 1850“ (p. 9; S. 27). Zu seinen Freunden im dritten Zeitalter rechnet er u. a. Edward Gibbon, Lord Byron, Charles Baudelaire, Gérard Nerval und Gustave Flaubert, zu den Freunden im zweiten neben anderen Jean de La Fontaine, François de La Rochefoucauld, Jonathan Swift, David Hume und Voltaire, zu denen in der augusteischen Epoche Horaz, Tibull, Vergil –––––––––––– 114 Das Tier wird auch Palinurus elephas genannt und ist wie alle Langusten in der Nacht aktiv; zur Interpretation von ‘Palinurus’’ Aussage s. Kertzer, 1987 (wie Fußn. 97), 26.

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– und den bereits der frühen Kaiserzeit angehörenden Petronius. Ein anderes Bekenntnis lautet etwa: For me success in life means survival („Für mich bedeutet Erfolg im Leben Überleben“, p. 10; S. 28). Einmal fügt der Autor dem Wort Ich den Namen Palinurus als Apposition hinzu: In Teil 2, worin seine Gedanken wieder und wieder um den Selbstmord kreisen, vergleicht er sich mit einer Pflanze des südamerikanischen Dschungels, deren lange trompetenförmige Blüte zu befruchten, einzig ein Schmetterling mit ebenso langem Rüssel imstande sei: I, Palinurus, am such an orchid, growing daily more untempting as I await the Visitor who never comes („Ich, Palinurus, bin eine solche Orchidee, die von Tag zu Tag weniger anziehend wird, während ich auf den Besucher warte, der niemals kommt“, p. 61f; S. 89). Es folgt ein Zitat aus Molières Menschenfeind: „On a pour ma personne une aversion grande / et quelqu’un de ces jours il faut que je me pende“. Wenn der Autor dann fortfährt, es gebe viele, die es nicht wagten, sich umzubringen, „aus Angst davor, was die Nachbarn sagen“, dämpft er den Ernst seines Gedankens mit Sarkasmus. An zwei Stellen setzt sich das schreibende Ich in einen unmittelbaren Konnex mit der mythischen Figur Palinurus. Die erste Passage lautet: As I waddle along in thick black overcoat and dark suit with a leather brief-case under my arm, I smile to think how this costume officially disguises the wild and storm-tossed figure of Palinurus; who knows that a poet is masquerading here as a whey-faced bureaucrat? And who should ever know? („Während ich im dicken schwarzen Mantel und dunklen Anzug einherwatschele, eine lederne Aktentasche unterm Arm, lächele ich bei dem Gedanken, wie diese Kostümierung auf amtliche Weise die wilde und sturmgebeutelte Gestalt des Palinurus verkleidet; wer weiß, dass sich hier ein Dichter als molkengesichtiger Bürokrat maskiert? Und wer sollte es je wissen?“, p. 29; S. 50). Der Autor identifiziert sich hier mit der mythischen Figur in der Weise, dass er seine tatsächliche Erscheinung, seinen Phänotyp, als Verkleidung, als Maske versteht. An der zweiten Passage berichtet der Autor vom Abgang seiner Quälgeister, von aufkeimender Hoffnung und beginnender Angstfreiheit: Dare I suppose that a cure has been accomplished, the bones of Palinurus buried and his ghost laid? („Darf ich die Vermutung wagen, dass eine Heilung erreicht worden ist, die Gebeine des Palinurus begraben und sein Geist zur Ruhe gelegt worden sind?“, p. 102f; S. 137). Von der Ich- zur Er-Form wechselnd, spielt der Autor hier auf jene Servius-Stelle an, die er als eines von drei Motti seinem Buch vorangestellt, dann noch einmal zum 24.12. [1942]

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zitiert hatte (p. 24; S. 44) und in der Einführung zur Erklärung des Buchtitels heranziehen wird (p. XIII; S. 12): Manes Palinuri esse placandos. Hatte er die Worte in der Notiz zu Heiligabend in die Schilderung einer depressiven Stimmung eingefügt und sich als always tired, always bored, always hurt, always hating („allezeit müde, allezeit gelangweilt, allezeit gekränkt, allezeit hassend“) charakterisiert, so dient ihm jetzt die Anspielung auf das von Servius angeführte Orakel dazu, eine unerwartete seelische Beruhigung zu registrieren. Dafür, dass der Autor von sich in der dritten Person spricht, gibt es außer der letztgenannten Stelle noch weitere Beispiele. Aus der Antike lässt sich Caesar anführen, der in seinen Commentarii de bello Gallico und De bello ciuili die eigenen Taten durchweg in der Er-Form schilderte, wohl um der Darstellung den Anschein von Objektivität zu verleihen und ihre Bedeutsamkeit zu steigern. Etwas Entsprechendes wird vermutlich auch die Intention des Connollyschen Palinurus sein. Am Ende des zweiten Kapitels berichtet der Autor von einem Gespräch, das er mit Freunden über die Schwächen und Laster der Anwesenden führte (p. 81; S. 112). Einer habe damals gesagt, das Laster des Palinurus sei inconstancy, Unbeständigkeit. Im Nachhinein versucht der Autor selbstironisch einen Einspruch: Sei sein Laster nicht vielmehr die Beständigkeit (constancy), nämlich die Treue zu der Erfahrung, dass er die ganze Welt im Stich zu lassen bereit sei um eines neuen Gesichts willen, das zur Ekstase verlocke? Oder sei das auch nur eine weitere herbstliche List der Selbstzerstörung? Ohne eine Entscheidung zu treffen, fügt er (in Drydens Übersetzung) die Worte hinzu, mit denen Vergils Palinurus das Drängen des Phorbas/Somnus abzuwehren sucht (Aen. 5,850f.). Mit dem Zitat zeigt der Autor an, wie sehr er sich mit der mythischen Gestalt identifiziert. Ein anderes Mal stellt der Schreibende in der Ich-Form folgende Frage: What fathers would I like to vindicate? („Welche Väter würde ich gerne für mich in Anspruch nehmen?“, p. 73; S. 102). Zur Er-Form übergehend, variiert er diese Frage sodann mit einer geistreichen Anspielung auf die Asphodelos-Wiese der Homerischen Unterwelt (Odyssee 11,539): Who, on reading Palinurus in the Asphodel Club will say, ‘I told you so’? („Wer wird, wenn er Palinurus im Asphodel-Club liest, äußern: ‘Ich hab’s Ihnen gesagt’?“). Die Antwort gibt der Autor gleich selbst: Aristipp, Horaz, Tibull, Montaigne, „Sankt“ Flaubert und Sainte-Beuve. Mit der Nennung des Namens Palinurus hebt der Schreibende die Bedeutung der eigenen Person, rückt sich selbst in größere Nähe zu den Granden der Literatur, als dies mit dem schlichten Akkusativobjekt me der Fall gewesen wäre.

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Etwas Vergleichbares geschieht, wenn der Autor einmal schreibt: Palinurus says: ‘It is better to be the lichen on a rock than the President’s carnation. Only by avoiding the beginning of things can we escape their ending’ („Palinurus sagt: ‘Es ist besser, die Flechte auf dem Felsen zu sein als die Nelke [am Revers] des Präsidenten. Nur dadurch, dass wir den Anfang der Dinge meiden, können wir deren Ende entgehen’“, p. 16; S. 34).115 Es folgt gleichsam eine Auslegung dieser Äußerung: „So endet jede Freundschaft im Streit, der ein Konflikt der Willen ist …“. Mit Palinurus says nimmt der Autor für sich in Anspruch, zu den klassischen Repräsentanten des Aphorismus zu gehören. Das gilt auch für eine spätere Stelle, an der sich die folgende Maxime findet: If all the world loved pleasure as much as Palinurus there would be no war („Wenn alle Welt das Vergnügen so sehr liebte wie Palinurus, gäbe es keinen Krieg“, p. 67; S. 96). Diese Äußerung ist zum einen bemerkenswert, weil sie zu den zwar seltenen, aber doch gewichtigen Stellen in The Unquiet Grave gehört, die auf das zentrale Ereignis der Entstehungszeit, den Zweiten Weltkrieg, hindeuten.116 Zum andern ist sie ein Beleg dafür, welch hohen Rang der Autor dem Ideal der Hedoné zuweist, das ihm von Epikur und Aristipp her vertraut ist – denn in diesem Sinn ist pleasure hier zu verstehen. Als letztes Beispiel für die Verwendung der Er-Form sei der Schluss des dritten Teils angeführt (p. 125; S. 163f.): Hier wird der Fluss Siagne gebeten, ihn, Palinurus, zu empfangen und zu seinem Grab am Meeresufer zu geleiten, nämlich bei La Napoule (Mandelieu-La Napoule nahe Cannes). Nachdem er in einer launigen Anmerkung auf diese Abweichung vom Vergilischen Bericht hingewiesen hat,117 fügt der Autor das Gebet an, Palinurus möge naked under his watery sign („nackt unter seinem Wasserzeichen“) zur Ruhe kommen, und schließt mit dem Zitat von Aeneas’ Epitaph auf Palinurus (Aen. 5,870f.).

–––––––––––– 115 Zur Interpretation s. Kertzer, 1987 (wie Fußn. 97), 34. 116 S. noch p. 33 (S. 55); 41 (S. 65); 98 n. 1 (S. 133 n.1) 121 (S. 159 [Anspielung auf Nietzsche und Hitler]). Später hebt er in der Einführung den Bezug des Werks auf den Krieg besonders hervor: ‘The Unquiet Grave’ is inevitably a war-book. Obwohl er versucht habe, sich dem Krieg zu entziehen und in den Höhen des europäischen Geistes zu weilen, habe er nicht lange über den Wolken schweben können (p. XI; S. 9). 117 S. dazu oben.

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Schließlich seien noch solche Stellen betrachtet, an denen der Schreibende sich selbst anredet. Aus der Antike lässt sich hier vor allem der Dichter Catull vergleichen, der sich etwa in c. 8 auffordert, nicht länger ein Narr zu sein, seine Liebe zu einer Frau verloren zu geben und bei diesem Vorsatz künftig zu verharren. In der Erörterung über das Wesen des Meisterwerks, mit welcher der erste Teil einsetzt, verknüpft der Autor die Er-Form einmal mit einer Selbstanrede. Er hat einen Kanon von zwölf Klassikern zusammengestellt.118 Gemeinsam sei ihnen Liebe zum Leben und zur Natur, ein Mangel an Fortschrittsgläubigkeit, ein mit Verachtung vermischtes Interesse an der Menschheit, kurz: alle seien sie das, was ein Kritiker einmal über den Schriftsteller Palinurus gesagt habe: earthbound, dem Irdischen verhaftet (p. 2f.; S. 18f.). Jene Meisterwerke spiegelten entweder wider, was der Autor Palinurus gerne wäre, oder ein Selbst, zu dem er sich nicht zu bekennen wage. Jetzt fordert er sich auf, er möge es zumindest versuchen, to work at the same level of intention („auf derselben Ebene der Absicht zu arbeiten“) wie jene Zwölf: Spiritualize the Earthbound, Palinurus, and don’t aim too high! („Vergeistige das Erdgebundene, Palinurus, und strebe nicht zu hoch hinaus!“). Die Selbstanrede erinnert an den Duktus von Catull c. 8 und markiert, dass den Schreibenden sein Thema in besonders emotionaler Weise berührt. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn der Autor unmittelbar anschließend das, was er jetzt vorlegt, eben den Wortzyklus The Unquiet Grave, mit den bewunderten Meisterwerken vergleicht: Auf dieser Folie erscheint ihm das Eigene als ein bloßes Experiment, als Versuch, durch Selbstanalyse zu ermitteln, was das Fließen der Quelle blockiert und den Namen Palinurus zu einem Archetypus des Versagens werden lässt (whereby the name of Palinurus is becoming an archetype of frustration). Der Terminus archetype verweist auf Carl Gustav Jungs analytische Psychologie. Besondere Emotionalität zeigt auch jene Partie, in der der Autor seine Sorge über die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaft ausdrückt: Es drohe sich ein kollektivistischer Staat auszubilden, in dem das Individuum –––––––––––– 118 Horaz, Oden und Episteln; Vergil, Eclogen und Georgica; François Villon, Le Testament (1461-1462); Montaigne (1533-1592), Essais; Jean de La Fontaine, Fables (1668-1692); François de La Rochefoucauld, Réflexions ou Sentences et maximes morales (1665); Jean de La Bruyère (1645-1696), Les caractères de Théophraste, traduits du Grec, avec les caractères ou les moeurs de ce siècle; Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal und Journaux intimes (entstanden 1855-1866, veröffentlicht 1887); Alexander Pope (1688-1744); Giacomo Leopardi (1798-1837); Arthur Rimbaud (1854-1891), Les Illuminations; Lord Byron, Don Juan (erschienen 1819-1824).

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seinen Wert verliere und sich am Ende nicht mehr von der Gemeinschaft unterscheide: How will you enjoy that, Palinurus? („Wie wird dir das gefallen, Palinurus?“, p. 27; S. 48). Als der Autor an späterer Stelle über die Berechtigung zum Selbstmord nachsinnt, stellt er die Frage: Was, wenn die Agonie, die der Selbstmörder durchlebe, bis er beschließe, sich das Leben zu nehmen, wenn die Überzeugung, dass alles verloren ist, ansteckend sei? And if you have contracted it, Palinurus, if it has sought you out? („Und wenn du es dir zugezogen hast, Palinurus, wenn es dich ausgesucht hat?“; p. 45; S. 69). Auf die bangen Fragen lässt der Autor das Zitat von Aen. 5,840–841a folgen, worin der epische Erzähler den Steuermann apostrophiert: Te, Palinure, petens, tibi somnia tristia portans / insonti. Die Selbstanrede des Autors und Palinurus’ Apostrophierung durch den Vergilischen Erzähler werden hier in enge Verbindung gebracht. Als sich der Autor seinem vierzigsten Geburtstag nähert, gelingt ihm, wie er schreibt, „ein flüchtiger Moment von Weisheit“ (a glimpse of wisdom), indem er folgendes Wort an sich selbst richtet: ‘Live in the present, Palinurus; you are too unbalanced to brood upon the past. One day you will remember nothing but its essence; now you must expel it from your mind’ („Lebe in der Gegenwart, Palinurus; du bist zu labil, um über der Vergangenheit zu brüten. Eines Tages wirst du dich nur noch an deren Essenz erinnern; jetzt musst du sie aus deinem Geist vertreiben“, p. 89; S. 121). Noch stärker als bei Spiritualize the Earthbound, Palinurus! (p. 2f.; S. 18f.) ähnelt die Selbstanrede des Schreibenden hier der Gefühlslage, die in Catulls c. 8 ausgedrückt wird. Nachdem der Autor eine Reihe von Grundtatsachen der Gegenwart wie den Niedergang Europas, mehrere Formen des Imperialismus sowie Massaker und Hungersnot angeführt hat, richtet er im Namen eines nicht näher definierten Wir an sich selbst die Frage, auf welcher Seite er denn stehe, ob er sich zur Korngöttin oder zum Traktor, zu Christus und Freud oder zu Marx und Stalin bekenne (p. 100; S. 134): Come clean, moody Palinurus, no synthesis this time and no Magic Circle either! We need men like you in the Group Age. Will you take your turn at the helm as you used to? Remember? Princeps gubernator densum Palinurus agebat Agmen? Or do you prefer to daydream in the lavatory ...? („Entscheide dich, launischer Palinurus; keine Synthese diesmal und auch kein Magischer Zirkel! Wir brauchen Männer wie dich im Zeitalter des Gruppenmenschen. Wirst du deinen Part am Steuer übernehmen, wie du es zu tun pflegtest?

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Du erinnerst dich? ‘Als erster führte Palinurus, der Steuermann, den dichten Zug [der Schiffe] an’. Oder ziehst du es vor, auf der Toilette zu tagträumen …?“).

Wieder einmal setzt sich der Schreibende hier mit der mythischen Figur aus der Aeneis völlig ineins. Bei dem Vergilzitat (Aen. 5,833–834a) hat er, den originalen Wortlaut ändernd, die beiden Worte ante omnis durch das eine gubernator ersetzt – und damit einen Verstoß gegen das metrische Schema des daktylischen Hexameters in Kauf genommen: Es kam ihm sicher darauf an, mit der Apposition gubernator jene Meisterschaft und Tatkraft herauszuheben, die Palinurus einst in Vergils Epos gezeigt hat. Nunmehr seinen Launen ergeben (moody), hat der Autor Palinurus den Eindruck, die frühere Entschlossenheit verloren zu haben, und so fordert er sich mit der Selbstanrede dazu auf, sich aufzuraffen und in existentiellen Fragen seiner Zeit Stellung zu beziehen. In ganz ähnlicher Weise verwendet der Autor die Selbstanrede, als er über sein wieder erwachtes Interesse an Philosophie, Psychologie und Religion nachdenkt: ‘Your time is short, watery Palinurus. What do you believe?’ („Deine Zeit ist kurz bemessen, wassertriefender Palinurus. Woran glaubst du?“, p. 113; S. 150). Und er gibt sich selbst die Antwort, es gelte, die zwei Gesichter der Wahrheit, das Sowohl-als-auch zu erkennen und das Leben als ein Ineinander von Komödie und Tragödie zu begreifen. Alles in allem insistiert der Schreibende in den Teilen 1–3 auf seiner völligen Identität mit der mythischen Figur. So wie der Steuermann ein Meister seines Fachs ist, der über reiche Erfahrung und ausgebreitete Kenntnisse verfügt, möchte der Autor Palinurus, wie er von Anfang an zu erkennen gibt, ein Meister der Literatur sein. Zu den literarischen Epochen, denen er sich besonders nahe fühlt, gehört das Zeitalter des Princeps Augustus, das ja auch dasjenige Vergils ist. Als Züge des eigenen Charakters führt der Autor Launenhaftigkeit (moody) und Labilität (unbalanced) an; den Freunden gelte er als unbeständig (inconstancy). Der Vergleich mit der südamerikanischen Orchidee, die nur geringe Chancen auf Bestäubung hat, zeigt, wie sehr er unter dem fortschreitenden Verlust von Attraktivität leidet. Was ihn freilich noch stärker beschäftigt, ist die Frage, was den Quell seines Schaffens am Fließen hindert, so dass der Name Palinurus geradezu zum Inbegriff von frustration werde. Das Empfinden des Versagens ist offenbar so stark, dass es immer wieder den Gedanken an Selbstmord nahe legt. Doch im Laufe des Jahres, über das er schreibt, beobachtet der Autor an sich eine allmähliche Beruhigung – in Analogie zum Schicksal des Vergilischen Palinurus, dessen Seele Besänftigung in Aussicht gestellt wird.

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VI. Schlussbemerkung An keiner Stelle von The Unquiet Grave, weder in den Teilen 1–3 noch im Epilog, auch nicht in der später hinzugefügten Einführung, gibt Connolly explizit Auskunft darüber, warum er als der Verfasser dieses Werks unter dem Namen Palinurus auftritt. Da er aber nicht nur in seinen Aufzeichnungen immer wieder über Palinurus spricht, sondern auch im Epilog eine Interpretation der Erzählung Vergils vorlegt, bietet sich für den Leser von The Unquiet Grave eine wohl höchst rare Möglichkeit: Durch Zusammenführung der jeweils einschlägigen Aussagen in den Teilen 1–3 und im Epilog kann er eruieren, welche Selbstauffassung des Autors dem Werk zugrunde liegt. Was ergibt sich nun aus der Betrachtung des Ganzen für Connollys Selbstdeutung? Gewiss spielerisch, aber doch mit Nachdruck setzt Connolly den Steuermann Palinurus und den Schriftsteller Palinurus in eins. Bei diesem Vorgehen spielt sicher eine Rolle, dass sich nach Connollys Auffassung der Dichter Vergil mit dem Steuermann identifiziert hat (p.136 n; S. 176 n.). So begreift sich Connolly als Meister auf dem Feld der Literatur, im Besitz reicher Kenntnisse und zu feinfühliger Interpretation begabt. Als solcher strebt er durchaus nach öffentlicher Anerkennung und gesellschaftlichem Erfolg. Zugleich fühlt er eine starke Verpflichtung, der literarischen Welt jenes bedeutende Werk zu geben, das sie von ihm und das er von sich selbst erwartet.119 Bei der Erstellung des eigenen Psychogramms, für die ihm die Lehre Carl Gustav Jungs eine Hilfe ist, stößt er freilich auf manches, das der allseits erwarteten Leistung und dem ersehnten Erfolg im Wege steht: Launenhaftigkeit, Unbeständigkeit, ganz besonders mannigfache Ängste und Selbstzweifel, aber auch das starke Bedürfnis nach Einsamkeit und Unbekanntheit – sie hindern ihn, jenen letzten Schritt zu tun, der zur Vollendung des ganz großen Werks führen würde. So weicht er wie der mythische Steuermann, dessen Karriere kurz vor dem Fahrtziel der Aeneaden ihr Ende findet, vor der schwierigen Aufgabe zurück. Und für solches Ausweichen hasst er sich, er hasst sich für a certain will-to-failure or repugnance-to-success, a desire to give up at the last moment, an urge towards loneliness, isolation and obscurity. Diese Charakteristika, die der Philologe Connolly an Vergils Palinurus zu erkennen meint, prägen, so sieht es der Schriftstel–––––––––––– 119 Dies war bereits ein wichtiges Thema seines Buchs The Enemies of Promise (1938).

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ler Connolly, ganz wesentlich die eigene Existenz.120 Der Vergilische Palinurus repräsentiert in Connollys Augen den Archetypus dessen, als was er sich selbst versteht.121 So trifft auf Cyril Vernon Connolly das Wort Friedrich Schlegels zu: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte, vorzüglich sich selbst“ (Athenäums-Fragment [151]).122

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–––––––––––– 120 S. auch Shelden, 1989 (wie Fußn. 9), 111 und Schiesaro, 2001 (wie Fußn. 18), 32. 121 Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, sei noch einmal betont: Es geht hier nicht um eine Charakterisierung Connollys, sondern um eine Erschließung seines Selbstverständnisses. 122 Das Zitat verdanke ich dem Germanisten Peter-André Alt (Freie Universität, Berlin), der es einem Reporter gegenüber anführte, als er von ihm anlässlich der Gründung der ‘Friedrich Schlegel Graduate School of Literary Studies’ nach seinem Lieblingswort aus Schlegel gefragt wurde: „Die Antike als Spiegel unterschiedlicher Selbstentwürfe, das gefällt mir am besten bei Schlegel“ (Der Tagesspiegel Nr. 19 961, Sonnabend 12. Juli 2008, B 2). – Für hilfreiche Kritik danke ich Marcus Deufert (Leipzig).

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Aeneas ohne Sendung? Cormac McCarthys The Road FRANK WITTCHOW (Berlin) 1. Antiker Mythos und amerikanischer Spätwestern In Sergio Leones Meisterwerk Spiel mir das Lied vom Tod (1968) muss der namenlose Held1 in einer Schlüsselszene, die sein Racheverhalten erklären soll, als kleiner Junge seinen älteren Bruder auf die Schultern nehmen, der mit einer Schlinge um den Hals an einem Torbogen gelyncht werden soll. Der sadistische Bandit Frank (Henry Fonda) schiebt dem Kind eine Mundharmonika zwischen die Zähne und fordert das Kind auf zu spielen: „Make your brother happy!“ Der Atem des erschöpften Kindes produziert „das Lied vom Tod“. Doch der ältere Bruder strampelt sich von den Schultern des jüngeren frei, um die unerträgliche Situation durch seinen Tod zu beenden. Diese Szene hat in der deutschen Synchronisation eine interessante Neudeutung erfahren: Der zitierte Satz, der das Verwandtschaftsverhältnis der beiden Gepeinigten offenlegt, ist nicht übersetzt worden. Dadurch wurde und wird, wegen des großen Altersunterschiedes, in Deutschland in der Regel angenommen, der Sohn stütze hier seinen Vater. Diese Umdeutung ist kulturell eigentlich die produktivere: Nur wenn der Vater alt und krank ist und der Sohn erwachsen, kann dieser ihn stützen. Ist das Kind noch klein und schwach, muss der erwachsene Vater es an die Hand nehmen.2 Diese Wahrheit haben die Römer in einer wirkmächtigen Ikone ausgedrückt: Bei der Flucht aus dem brennenden Troja nimmt Aeneas den greisen Vater Anchises auf die Schultern und den kleinen Ascanius an die Hand. Es ist Vergil, der aus dieser Ikone Weltliteratur gemacht hat. Ihm ist es zuallererst zu verdanken, wenn wir das Motiv des fliehenden Aeneas –––––––––––– 1 2

Charles Bronson spielt den namenlosen Fremden, von dem wir nur den Spitznamen „Harmonica“ erfahren. Auch bei Sergio Leone übernimmt der ältere Bruder die Vaterrolle, indem er den Bruder durch seinen Freitod von der Verantwortung erlöst.

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mit seinen direkten männlichen (!) Verwandten immer -wieder in der Kunst und Literatur aller Zeiten auffinden. Dabei mag es auf den ersten Blick überraschen, es ausgerechnet im amerikanischen Western zu vermuten. Der Western ist ein in Europa zwar beliebtes, aber gleichwohl auch in seinem kulturellen Wert oft belächeltes Genre. Für die amerikanische Kultur jedoch versieht er durchaus die Funktion eines Gründungsmythos und wird als solcher immer wieder reinszeniert und mit kultureller Bedeutung aufgeladen.3 Die inhaltliche Parallele zwischen den Pionieren des new frontier und dem Stammvater der Römer, der sich seine neue Welt erobern muss, sollte ebenfalls nicht übersehen werden. Die vertriebenen Trojaner sind wie die pilgrim fathers Landflüchtlinge mit religiösem Sendungsbewusstsein. Hinzu kommt, dass die römischen Mythen für das amerikanische Selbstverständnis in politicis keine geringe Rolle spielen.4 Der Aeneasstoff freilich, um den es hier besonders gehen soll, ist im zwanzigsten Jahrhundert nicht eben häufig literarisch oder filmisch umgesetzt worden.5 Ein Grund dafür mag in der teleologischen Konzeption des Helden bei Vergil liegen: Weltkriege und Faschismus haben zum Zusammenbruch eines als sinnhaft erlebten Kosmos beigetragen.

2. The Road Auch Aeneas’ pietas unterscheidet sich doch maßgeblich vom Individualismus des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Doch hat möglicherweise die Erfahrung der Globalisierung, in der der Mensch eben nicht mehr das Gefühl hat, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, das Schicksal als –––––––––––– 3 4

5

In diesem Zusammenhang einschlägig Thorsten Burkard: „Die Rezeption von antikem Drama und Epos bei A. Mann und S. Leone“, in: Martin Korenjak u.a. (Hgg.): Pontes II. Antike im Film, Innsbruck u.a. 2002, 117-127. Michael Lobe: „Äneas in Amerika (Teil I). Von der Aktualität des vergilischen Äneas-Mythos“, Forum Classicum 49,1, 2006; und ders.: „Äneas in Amerika (Teil II). Von der Aktualität des vergilischen Äneas-Mythos“, Forum Classicum 50,1, 2007. Das Amt des amerikanischen Präsidenten etwa orientiert sich an der gemäßigten Diktatur des Cincinnatus (Garry Wills: Cincinnatus. George Washington and the Enlightenment, Garden City, N.Y. 1984) und wer einen Blick auf das Regierungsviertel in Washington D.C. wirft, kann sich der antiken Bezüge kaum erwehren. Werner Suerbaum: Vergils Aeneis, Stuttgart 1999, 10f.; Ulrich Schmitzer: „Das Abendland braucht keinen Vater mehr. Vergils Aeneis auf dem Weg in die Vergessenheit“, in: Aleida Assmann u.a. (Hgg.): Vergessene Texte, Konstanz 2004, 259-286.

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Erklärungsmuster wieder neu in seine Rechte eingesetzt und auf Literatur und Film beflügelnd gewirkt.6 Allerdings wird dieses neue fatum eher als dunkle Bestimmung oder gar Bedrohung denn als ordnender Lebenssinn verstanden. Diese Vorstellung hat in radikaler Weise der amerikanische Schriftsteller Cormac McCarthy in seinem jüngsten, Pulitzer-Preisgekrönten Werk The Road imaginiert. In seinen Romanen beschwört er Naturerfahrungen (oft im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet), die in ihrer Härte den Menschen an den Rand seiner Existenzmöglichkeiten bringen oder ihn sogar vernichten. Der Mensch ist von Gott, der Natur und den Seinen verlassen. Dieses Verlassensein wird bei Cormac McCarthy immer wieder als Schicksal semantisiert: „Yet there are no crossroads. Our decisions do not have some alternative. We may contemplate a choice but we pursue one path only.“7 In seinem Roman The Road hat McCarthy die von ihm selbst geschaffene Gattung des literarischen Spätwesterns8 noch einmal überboten und radikalisiert. Ein Mann wandert mit seinem etwa zehnjährigen Sohn durch ein von einem Atomschlag verwüstetes Amerika. Die Zerstörung der Erde ist unumkehrbar: Der Boden ist verödet und alle Tiere sind tot. Die Menschen sind zum großen Teil gestorben, der Rest fällt übereinander her. McCarthy erklärt diese Situation nicht weiter. Klar ist nur, dass es sich um eine von Menschen gemachte Katastrophe handelt. Die Menschen existieren von Konserven und alten Früchten, die sie unter der Asche finden. Sie haben nur noch wenige funktionierende Maschinen oder Waffen, der Vater selbst hat noch einen Colt mit zwei Kugeln, die er für sich und seinen Sohn aufspart, denn marodierende Banden greifen sich wehrlose –––––––––––– 6 7 8

Frank Wittchow: Determinismus in David Lynchs Mullholland Drive (2003): http://www2.hu-berlin.de/klassphil/allgemein/Wittchow1.pdf. Cormac McCarthy: Cities of the Plain. Volume Three of the Border Trilogy, London 1999, 286. Diese Aussage ist voraussetzungsreicher, als sie zunächst erscheinen mag. Natürlich ist auch McCarthys Spätwestern keine creatio ex nihilo: Sein Werk ist immer wieder, und mit vollem Recht, mit dem von William Faulkner verglichen worden (der erste Roman McCarthys bekam z. B. den Faulkner-Preis, der Lektor, der McCarthy zunächst herausgab, war in der Tat der letzte Lektor William Faulkners, vgl. dazu den englischsprachigen Artikel zu Cormac McCarthy bei Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Cormac_McCarthy, zuletzt besucht am 1.11.2008). Die Parallelen zum Spätwestern im Kino sind ebenfalls nicht zu übersehen, freilich ist die Beeinflussung hier bereits wechselseitig. Ob der Western The three Burials of Melquiades Estrada (2005) ohne Cormac McCarthys Werk denkbar ist, möchte ich in Frage stellen. Der Hauptdarsteller dieses Films (Tommy Lee Jones) verkörpert auch den Protagonisten in No Country for Old Men (2007), der oscargekrönten Verfilmung des gleichnamigen Romans von Cormac McCarthy (2005).

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Überlebende, vergewaltigen sie, halten sie als Lustsklaven oder essen sie auf. Vater und Sohn schieben einen alten Einkaufswagen durch das verwüstete Land, in dem ihre Habseligkeiten aufbewahrt werden. Die Frage, die sich dem Leser die ganze Zeit aufdrängt, lautet: Wohin führt der Vater seinen Sohn? Die Reise der beiden soll an die Küste führen, wo sie offenbar auf weitere Menschen treffen wollen. Aber was der Sinn der ganzen Anstrengung sein soll, angesichts des Umstandes, dass die ganze Welt steril geworden ist, wird zunächst nicht klar. Jedenfalls versucht der Vater, seinen Sohn, der erst nach der Katastrophe geboren wurde, irgendwie am Leben zu erhalten. Die Mutter des Kindes hat zum Zeitpunkt der Haupthandlung bereits resigniert Selbstmord begangen und ist nur noch Erinnerung.9

3. Biblische Strafen Diese von Menschen verursachte Katastrophe hat biblische Ausmaße. Der erste Bezugsrahmen für Cormac McCarthys Prosa ist daher die Bibel. Die einzige namentlich genannte Person in The Road nennt sich Ely.10 Er ist ein alter Mann, dem die beiden Protagonisten auf ihrer Reise begegnen und auf Drängen des Kindes von ihrem Essen abgeben. Sowohl der –––––––––––– 9

Ich habe den Vorfall, der alles Leben ausgelöscht hat, als ‘Atomschlag’ interpretiert, aber auch das lässt McCarthy offen. In einer Szene erinnert sich der Vater an die nun schon etwa zehn Jahre zurückliegende Katastrophe. Er bemerkte damals mehrere dumpfe Schläge und ein Leuchten in der Nacht: Cormac McCarthy: The Road, New York 2007, 45: „The clocks stopped at 1:17. A long shear of light and then a series of low concussions.“ Dass es etwa zehn Jahre zurückliegt, errechne ich aus dem vermuteten Alter des Kindes und dem Umstand, dass er erst nach der Katastrophe geboren wurde („the world [d. h. die Welt vor der Katastrophe] that for him [den Jungen] was not even a memory“, S. 46). In einer Szene am Anfang des Buches erinnert sich der Vater, wie seine Frau ihn und das Kind eines Nachts verlassen hat, um Selbstmord zu begehen. Sie spricht von ihren Gefühlen bei der Geburt des Kindes: „My heart was ripped out of me the night he was born so dont ask for sorrow now.“ (S. 48f.). Dieses starke Trauergefühl bei der Geburt kann eigentlich nur dadurch motiviert sein, dass die Mutter ihr Kind bereits in die verwüstete Erde hinein hat gebären müssen. Dass das Kind direkt nach der Verwüstung geboren sein muss, ergibt sich wiederum aus der genannten Szene S. 45 „She was standing in the doorway in her nightwear, clutching the jamb, cradling her belly in one hand.“ Offenbar ist sie bereits hochschwanger, als die Eheleute nachts durch den Lärm des Atomschlags wach werden. 10 Er nennt sich so, aber er heißt nicht so: „Is your name really Ely? – No. – You dont want to say your name. – I dont want to say it.“ (S. 144).

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Klang des Namens als auch die Situation verweisen auf den Propheten Elijah, der im Alten Testament mehrfach auf wunderbare Weise Nahrung erhält und vor dem Ende der Zeiten die Menschen zur Umkehr ermahnen soll.11 Die Hinweise auf antike Texte im Allgemeinen und auf die Aeneis im Besonderen sind in dem Roman deutlich subtiler versteckt, auch wenn die Aeneis für die narrative Makrostrukrur des Romans möglicherweise ein viel wichtigeres Vorbild war als die Bibel. Die beiden Überlebenden bezeichnen sich selbst immer wieder als Träger des Feuers.12 Dies ist zugleich ein biblisches wie heidnisch-antikes Bild: Das Feuer war das entscheidende Geschenk des Prometheus für die menschliche Kulturwerdung, auf der gerade der Sohn in seiner Mitleidsfähigkeit beharrt.13 An einer anderen Stelle verweist McCarthy eindeutig auf die Metamorphosen des Ovid. Es ist genau der Moment, in dem der Vater dem Drängen seines Sohnes nachgibt, dem alten Ely etwas von ihrem Essen abzugeben: „He stood looking off down the road. Damn, he wispered. He looked down at the old man. Perhaps he’d turn into a god and they to trees. All right, he said.“14 Damit zitiert der Vater ironisch die Philemon und Baucis-Geschichte aus den Metamorphosen (8,620–724): Das arme und alte phrygische Ehepaar Philemon und Baucis nimmt, anders als ihre reicheren Nachbarn, die Götter Iuppiter und Merkur gastlich auf. Dafür werden die beiden zu Priestern gemacht und am Ende ihres Lebens in Bäume verwandelt, die so einträchtig wie in ihrem Menschenleben auf den Stufen des Tempels wachsen. Die anderen Phryger dagegen gehen in einem Sumpf unter, den die Götter ihnen als Strafe gesandt haben. Die Logik dieser –––––––––––– 11 „ The violence is so Biblical in scale (and in origin – McCarthy hints that the war was a sectarian one) that humans seem capable of nothing else.“ Julie Philipps: „Where they buried the survivors. The Road, by Cormac McCarthy“, reviewed by Julie Phillips in Trouw, Amsterdam, February 25, 2007 (http://www.juliephillips.com/mccarthy-review.htm, zuletzt besucht am 14.12.2008). Ebendort auch die (häufig diskutierte) Gleichsetzung von Ely mit Elijah. 12 S. 129. 13 Phillips, 2007 (wie Fußn. 11), bezeichnet den Sohn als einen jungen Prometheus. Die Anspielung findet sich aber so explizit nicht im Roman. Gedacht wird hier vermutlich auch an die verlorene Aischylos-Tragödie (Prometheus Pyrphoros). Man möchte auch an den Spruch „Nicht die Asche anbeten/bewahren, sondern das Feuer weiter tragen“ denken (gerade angesichts der Aschewüsten, durch die die beiden Protagonisten ziehen). Diese Formulierung wird verschiedenen Autoren zugeschrieben (Gustav Mahler, Ricarda Huch) und gerne im christlichen Sinne gedeutet. 14 McCarthy, The Road (wie Fußn. 9), 137.

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Metamorphosenerzählung ist die einer klassischen Folge von Strafe und Belohnung für ein bestimmtes menschliches Verhalten. Als solche ist sie Zeichen eines geordneten Kosmos. Cormac McCarthy zitiert diese Geschichte ironisch: In seiner apokalyptischen Welt ist die Strafe schon vor Jahren gekommen und datiert vor der gastfreundlichen Geste. Die Götter haben sich längst aus dieser Welt verabschiedet und es wachsen keine Bäume mehr. Auch Ely ist ein Prophet einer gottlosen Welt: „There is no God and we are his prophets.“15 Die antiken Prätexte werden von Cormac McCarthy gleichsam spiegelbildlich verwendet. Damit wird das Ende der mythischen Ordnung inszeniert. Die Aeneis ist aber in viel grundlegenderer, nämlich konzeptioneller Weise ein Schlüssel zu diesem Roman.16 Schon die Exposition des Romans ist parallel zur Aeneis gestaltet. Wir treffen in The Road den Vater mit seinem Sohn auf der Reise an die Küste an: Die Aeneis eröffnet mit der Landung des Aeneas in Karthago. Der alte Anchises ist hier bereits gestorben (zum Großvater in The Road s. u.).

4. Hektor und der Untergang Trojas Von der Katastrophe, die Aeneas zum Flüchtling gemacht hat, erfahren wir erst in der Rückschau aus seinem Munde, nämlich als er sie Dido erzählt. Auch der Vater erinnert sich erst in einer in den Lauf der Erzählung eingebaute Rückschau an den Atomschlag. Freilich hat er keinen Gesprächspartner, denn diese beiden Flüchtlinge werden von niemandem –––––––––––– 15 Dies äußert Ely in einem Gespräch, das er mit dem Vater über Gott führt (S. 143). 16 Wir finden bei Cormac McCarthy zwar keinen expliziten Aeneisbezug, aber doch Palimpseste, antike kulturelle Skripte, die die Formation eines Kunstwerkes bestimmen. In diesem Sinne hat Anja Wieber für den Bereich der filmischen Adaption zwischen echtem Antikefilm und solchen Filmen unterschieden, die prima vista einen modernen plot haben, aber antike Texte als Subtext verwenden Anja Wieber: „Drehbuch Antike“, AU 50.6, 2007, 4-14. In diesem Aufsatz, der ein ganzes Heft zu solchen Interpretationen moderner Filme einleitet, beschäftigt sich Wieber mit Subtext und „Palimpsest“ und führt auch den Western als Gattung an, der vom antiken Epos beeinflusst ist (S. 7). Dagegen war AU 48.1, 2005 ganz der „Antike im Film“, also dem explizit auf antiken Stoffen basierenden Film gewidmet (z.B. Troja); vgl. auch Anja Wieber: „Antike am laufenden Meter – Mehr als ein Jahrhundert Filmgeschichte. Antikfilme im neuen Jahrtausend – zur Aktualität des Alten“, in: Mischa Meier u.a. (Hgg.): Antike und Mittelalter im Film, Konstruktion – Dokumentation – Projektion, Köln u.a. 2007, 19-40, hier 29.

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aufgenommen. Wie Aeneas aber ist der Vater durch den Lärm und das Leuchten der Flammen aus dem Schlaf gerissen worden: The clocks stopped at 1:17. A long shear of light and then a series of low concussions. He got up and went to the window. What is it? she said. He didnt answer. Verg. Aen. 2, 302f.: Excutior somno et summi fastigia tecti ascensu supero atque arrectis auribus asto.

Vergil und McCarthy ähneln sich hier sogar in der Lakonik des Erlebnisberichts. Zwar öffnet sich der Bericht bei Vergil im Folgenden (Aen. 2,304–313) einer breiten Schilderung der Sinneseindrücke, aber über Aeneas’ Gefühle erfahren wir zunächst nichts, nur dass er wahrnimmt (arrectis auribus asto). In der Reaktion freilich unterscheiden sich Aeneas und der Vater signifikant: Aeneas stürzt sich schließlich wie von Sinnen in den verlorenen Krieg (Aen. 2,314: arma amens capio). Dagegen lässt bei Cormac McCarthy der Vater in stoischer Selbstkontrolle Wasser in eine Wanne laufen, weil er sofort begreift, dass es bald keines mehr geben wird. Die Variation bei McCarthy ist aber kein Zufall: Der Vater hat den Verlust der Heimat fast sofort in seiner letzten Konsequenz begriffen. Umso überraschender ist die Verbissenheit, mit der sich dieser Aeneas ohne Sendung in den folgenden Jahren daran macht, seinem Sohn eine neue Heimat zu suchen, obwohl an eine solche nicht sinnvoll geglaubt werden kann. Der vergilische Aeneas dagegen bleibt ein Zauderer trotz der Sendung, von der er sogar schon vor dem Erwachen durch das Traumbild des toten Hektor erfahren hat. Auch für den Traum von Hektor gibt es bei McCarthy eine Parallele, die durch einen erzählerischen Kunstgriff geschaffen wird. Aeneas träumt bekanntlich von Hektor, kurz bevor er in die Katastrophe hinein aufwacht. McCarthy schildert einen Traum mit antikisierendem Inhalt in der Jetztzeit der Erzählung, kurz bevor er die Genese der Vernichtung als Rückblick schildert. Narr ativ haben wir also auch bei McCarthy die Reihenfolge Traum – Realität der Katastrophe, chronologisch ist die Reihenfolge gerade anders herum. Der Inhalt des Traumes betont daher auch die Leere der antiken Mythen: They stood on the far shore of a river and called to him. Tattered gods slouching in their rags across the waste. Trecking the dried floor of a mineral sea where it lay cracked and broken like a fallen plate. Paths of feral fire in the coagulate sands. The figures faded in the distance. He woke and lay in the dark.17

Aeneas träumt vom zerlumpten Hektor, der Vater von einem Exodus zerlumpter Götter – das Ende der Welt, die diese Väter kannten. –––––––––––– 17 McCarthy, The Road (wie Fußn. 9), 44.

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6. Creusa Als der vergilische Aeneas in seiner inneren Haltung dahin gefunden hat, wo der apokalyptische von Anfang an war, zur Akzeptanz des Heimatverlustes, da besinnt er sich auf die Rettung seiner Familie: Vater, Sohn und Gattin. Diese Personen tauchen auch bei McCarthy auf, und zwar in der gleichen Logik wie bei Vergil, nur dass die Konstellation wiederum auf den Weltuntergang und seine allgemeine Sinnvernichtung hin umkonzipiert wurde. Wir müssen uns dazu kurz die Situation verdeutlichen: Die Flucht aus Troja geht schnell und muss schnell gehen. Die Flucht aus dem vernichteten Amerika ist im eigentlichen Sinne gar nicht möglich. Der Vater nimmt nicht hektisch seinen eigenen Vater auf die Schultern und das Kind an die Hand. Irgendwann wird deutlich, dass man in der Wohnung nicht bleiben kann, dass die Zukunft der Familie darin liegt, draußen herumzuirren, sich vor Plünderern und Vergewaltigern in Acht zu nehmen und Nahrung zu suchen. Dies erzählt Cormac McCarthy nicht an einer konkreten Stelle, sondern es geht aus den Einzelbildern der Erzählung allmählich hervor. Die Flucht aus der Katastrophe ist ja eigentlich bei McCarthy nie zu Ende und daher im Vergleich zur Aeneis narrativ gedehnt. Gerade deshalb aber ist es auffällig, wie McCarthy durch die narrative Organisation der Einzelbilder ein Äquivalent zur vergilischen Fluchtszene schafft. Die Mutter des Kindes war zum Zeitpunkt der Katastrophe schwanger. Das Kind wird in die Apokalypse hineingeboren.18 Diese Mutter taucht in der zweiten Rückerinnerung19 des Vaters wieder auf, und zwar genau in dem Moment, in dem sie die Qualen der Flucht nicht mehr aushält, Vater und Kind im Stich lässt und den Selbstmord wählt. Sie verschwindet, trotz der flehenden Bitten ihres Mannes, in die Nacht und wird nie wieder gesehen. Das entspricht der Entrückung der Creusa. Genau wie diese freiwillig in Troja bleibt, um eine Göttin zu werden, scheidet die Mutter freiwillig aus dem Leben. Vater und Sohn sind allein. Wieder ist die narrative Logik erhalten, die mythische travestiert worden: Es gibt keine Götter im apokalyptischen Amerika. Während Creusa frohlockt, weil die Götter sie durch ihre Vergöttlichung vor der Gewalt der Sieger bewahren (Aen. 2,785f.: non ego Myrmidonum sedes –––––––––––– 18 Wie Ascanius bei Vergil ist der Knabe damit ein Vertreter der neuen Generation: Bleibt Ascanius vom Krieg in Troja weitgehend verschont, so ist der Junge in The Road ohne jede Erfahrung einer heilen Welt. Vater und Sohn sind dadurch in beiden Fällen auf radikale Weise getrennt. 19 Die beiden Erinnerungen schaffen gemeinsam eine Kontinuität der Erinnerungserzählung, die dem zusammenhängenden Bericht des Aeneas bei Dido entspricht, auch wenn dieser eben nicht unterbrochen wird.

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Dolopumue superbas / aspiciam aut Grais seruitum matribus ibo), rettet sich die Mutter vor Vergewaltigung und Kannibalismus durch den Selbstmord.

7. Anchises Doch wurde eingangs von der patrilinearen drei -Generationen Konzeption gesprochen, die für das Epos des Vergil so tragend ist. Wo ist Anchises bei McCarthy? Der Großvater scheint zum Zeitpunkt der Katastrophe bereits gestorben zu sein. Immerhin ist auch Anchises schon tot, als die Aeneis einsetzt. Dennoch sind natürlich aus Troja drei männliche Generationen geflohen. Das Besondere des Bildes der drei männlichen Generationen liegt freilich darin, dass der senex dem iuvenis mit seinem Staats- und Weltwissen hilft, die Rolle als Verteidiger der Familie und des Gemeinwesens (nach römischem Verständnis ist das kein Dualismus) richtig zu spielen. Stirbt der senex, liegt dessen Kompetenz beim erwachsenen Sohn und wird wiederum an diesen weitergegeben. Nun ist aber bei Cormac McCarthy der Sinn des greisen Weltwissens durch den Untergang der bisherigen Welt verloren gegangen. Dieser Aspekt wird immer wieder thematisiert, wenn etwa der Vater nicht mehr weiß, mit welchen Geschichten er seinen Sohn eigentlich unterhalten soll, wenn sie sich doch alle auf eine untergegangene Welt beziehen. Die Leerstelle, die Anchises hier hinterlässt, verweist auf diesen Verlust. Und sie wird noch einmal in Parallelität zur Aeneis ausgeschrieben. Denn wie Aeneas steigt der Vater in die Unterwelt, um noch einmal zu seinem eigenen Vater zu finden. Auf der Reise an die Küste setzt der Vater einen Abstecher in sein eigenes Vaterhaus durch. Diese Szene liegt ganz am Beginn des Buches und hätte auch später in der Handlung ihren Platz gefunden. Doch eben durch die Platzierung am Beginn glänzt die erste Generation von Anfang an durch Abwesenheit. Der Vater sucht dort nach den Erinnerungen an seine Kindheit, aber es ist sein eigenes Kind, das hier nur noch Gefahr und keinen Sinn mehr vermutet: We should go, Papa. Can we go? Yes. We can go. I’m scared. I know. I’m sorry. I’m really scared. It’s all right. We shouldnt have come.20

–––––––––––– 20 McCarthy, The Road (wie Fußn. 9), 23.

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Das Haus ist leer und bietet keinen Schutz mehr. Insofern ist dieser Abstecher, den der Vater in seine eigene behütete Kindheit21 unternimmt, der Weg in eine untergegangene Welt, eine Unterwelt, in der eben kein Vater mehr wartet, um Anweisungen zu erteilen.

8. Heimkehr Die Aeneis ist bekanntlich auch eine Odyssee. Odysseus findet am Ende in sein Haus zurück. Aeneas findet eine neue Heimat. Nun ist aber auch der Schluss der Aeneis merkwürdig gebrochen. Kämpfe brechen zwischen den Trojanern und den Rutulern aus und die Zukunft wird einerseits durch Gefahren immer wieder in Frage gestellt, andererseits durch Prophezeiungen gesichert. In dieser Ambivalenz endet das zwölfte Buch der Aeneis. Aeneas besiegt seinen erbitterten Feind Turnus, setzt aber seine moralische Integrität durch seine Weigerung, den bereits besiegten bittflehenden Feind zu töten, aufs Spiel – ob er sie dabei verliert, möchte ich hier nicht erneut zur Diskussion stellen. Der Kampf um Heimat und die Sicherung der moralischen Kultur sind auch das zentrale Thema bei McCarthy. Immer wieder erinnert der Sohn den Vater daran, dass sie das Feuer tragen, d.h. dass sie moralisch handeln müssen, wenn sie wirklich als Menschen überleben wollen. Wie geht dieser Kampf aus? Im Finale der Aeneis gibt es einen Moment, in dem Vergil bestimmte Fassungen der Aeneassage zitiert, nach denen Aeneas gemeinsam mit Turnus fällt und erst sein Sohn den Krieg zu Ende bringen wird. Aeneas wird dort von einem Pfeilschuss getroffen (12,319-323) und spricht, obwohl er von seiner Mutter Venus geheilt wird, voll Todesahnung zu seinem Sohn (12,435f.).22 Die Offenheit des vergilischen Finales musste auch für Cormac McCarthy attraktiv sein. Es ist ja einerseits klar, dass in einer völlig verwüsteten Erde kein neues Latium, keine new world mehr zu vergeben ist. Andererseits fragt sich der Leser schon, wohin der Vater seinen Sohn eigentlich bringt und wie es mit dem Kind nach dem Ableben des (kranken) Vaters eigentlich weitergehen soll. Und tatsächlich stirbt der Vater am Schluss. Der Sohn aber findet Aufnahme bei einer Familie, die die gleiche Ethik hat wie der gerade verstorbene Vater. Einen Mann, der sich ihm freundlich nähert, fragt der Junge: –––––––––––– 21 „My cot was against this wall. In the nights in their thousands to dream the dreams of a child’s imaginings, worlds rich or fearful such as might offer themselves but never the one to be.“ (S. 23). 22 Frank Wittchow: „Vater und Onkel: Julius Caesar und das Finale der Aeneis“, Gymnasium 112, 2005, 45-69, 59 mit Anm. 55 und 63.

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Are you carrying the fire? […] Yeah. We are. Do you have any kids? We do. Do you have a little boy? We have a little boy and we have a little girl. […] And I can go with you? Yes. You can. Okay then. Okay.23

Die Rettung des Kindes findet nicht im Materiellen, sondern im Ideellen statt. Auch der neue Vater kann die Natur nicht wieder lebendig machen. Aber er trägt das Feuer. Die neue Heimat ist kein Ort, sondern ein Wert. Vergil hätte das gefallen.

–––––––––––– 23 McCarthy, The Road (wie Fußn. 9). 238f.

Werner Suerbaum Publikationen 1993-2009 Die älteren, zwischen 1961 und 1992/93 erschienenen Publikationen von Werner Suerbaum (W.S.) sind verzeichnet in dem Sammelband: In Klios und Kalliopes Diensten. Kleine Schriften von Werner Suerbaum, hrsg. von Christoph Leidl und Siegmar Döpp, Bamberg 1994, S. 458-464. Fettdruck weist auf selbständige Publikationen. 68. Aeneis picturis narrata - Aeneis versibus picta. Semiotische Überlegungen zu Vergil-Illustrationen oder Visuelles Erzählen. Buchillustrationen zu Vergils Aeneis. In: Studi Italiani di Filologia Classica (SIFC) 85, 1992, S. 271-334 (mit 54 Abb.; Vortrag auf dem FIEC-Kongress Pisa 1989). 69. Erinnerungen an Klassische Philologen. Festgabe für Ernst Vogt zu seinem 60. Geburtstag am 6.11. 1990, gesammelt und unter Mitarbeit von Uwe Dubielzig hrsg. von Werner Suerbaum, Bologna 1993 (Eikasmos 4). Darin als eigene Beiträge von W.S.: 69a. Vorwort des Herausgebers, S. 3-8. 69b. De vita et moribus philologorum classicorum. Empirische Beobachtungen zu Nutz und Frommen erster und bemooster Semester, S. 9-24. 69c. Franz Beckmann (1895-1966), S. 111-125. 70. Der Aeneas Vergils - Mann zwischen Vergangenheit und Zukunft (Vortrag auf dem Kongress des Deutschen Altphilologen-Verbandes Berlin, 6.-10. April 1992). In: Gymnasium 100, 1993, S. 419-447. 71. In Klios und Kalliopes Diensten. Kleine Schriften von Werner Suerbaum, hrsg. von Christoph Leidl und Siegmar Döpp, Bamberg 1993, 478 S. – Darin Neudruck von 17 Aufsätzen aus den Jahren 1967 bis 1990, dazu S. 458-464 der ältere Teil der Publikationsliste von W. S.; enthalten sind in dem Sammelband die Nrr. 11, 13, 16, 20, 21, 24, 31, 32, 36, 39, 41, 48a, 53, 55, 56, 57, 62. Direkt für die Rezeption Vergils darin einschlägig sind die Nr. 39 und Nr. 53:

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Ein neuer Aeneis-Zyklus: Darkness visible. In: Anregung (Zeitschrift für Gymnasialpädagogik) 29, 1983, 1-25 (hier 1993, S. 346-370), mit 14 Abb.; Vergil nineteen eighty-four. Anstöße der „Aeneis“-Interpretation. In: H.-J. Glücklich (Hrsg.): Lateinische Literatur, heute wirkend, Bd. 1, Göttingen 1987 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1529), 81-109 (hier 1993, S. 403-431), mit 1 Abb. 4 Beihefte zur Münchner Horaz-Ausstellung, hrsg. von Werner Suerbaum, München 1993, jeweils 64 S., jeweils illustriert. 72. Beiheft 1 zur Münchner Horaz-Ausstellung: Werner Suerbaum: Katalog zur Ausstellung: Horaz. Disiecti membra poetae, München 1993, 64 S., mit vielen Abb. 73. Beiheft 2 zur Münchner Horaz-Ausstellung: Materialien, Kommentare, Essays. Mit Beiträgen von Georg Müller, Renate Piecha und Werner Suerbaum, München 1993, 64 S., mit vielen Abb. Darin 15 meist kleinere Einzelbeiträge von W. Suerbaum, u.a.: Einführung in die Münchner Horaz-Ausstellung ‘Disiecti membra poetae’, S. 5-14; Der zerstückelte Dichter / Zum ersten Mal: Horaz in Prosa erfunden, S. 16-22; Fragmente und Konfrontationen / Horaz und Rose Ausländer, S. 30-36; Viermal der Name des Horaz, S. 49-53. 74. Beiheft 3 zur Münchner Horaz-Ausstellung: Werner Suerbaum: Bilder zu Horaz, München 1993, 64 S., mit vielen Abb. Darin 10 Einzelbeiträge von W. Suerbaum, u. a.: Der poeta laureatus Horaz 1498 alias Jakob Locher 1497. Von Dürer zum Pictogramm in der ältesten Horaz-Illustrierung, S. 6-34; (Zur Darstellung des) ‘Saeculum Augustum’, S. 40-45; ‘Und es kamen Tauben vom Himmel’. Landschaft mit dem Knaben Horaz, Philipp Hackert 1805, S. 46-48; Horaz im Graffitti-Zeitalter: Cy Twomblys Horaz-Hommage, S. 54-58. 75. Beiheft 4 zur Münchner Horaz-Ausstellung: Texte und Publikationen zur Horaz-Rezeption in der Neuzeit. Mit Beiträgen von Matthias Ferber, Maria Rutenfranz, Werner Suerbaum, München 1993, 64 S., mit vielen Abb. Darin 7 Einzelbeiträge von Werner Suerbaum, u.a.: Horaz und Anna Elissa Radke, S. 5-9; Horaz in der ‘Folgenden Geschichte’ (bei Cees Nooteboom), S. 10-12; Literaturhinweise, S. 35-41. 76. Sex and Crime im Alten Rom: Von der humanistischen Zensur zu Cato dem Censor. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft. (WJA) NF 19, 1993, S. 85-109.

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77. Herculanensische Lukrez-Papyri - Neue Belege für die Phase der Majuskel-Kursive eines bekannten Klassikertextes. Nachbetrachtungen zur Edition von K. Kleve, CronErc 19, 1989, 5-2. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik (ZPE) 104, 1994, S. 1-21. 78. Kann ein Bürgerkrieg unblutig beendet werden? Zu Tac. hist. 2,37/38 und Liv. 7,39-42. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASiU) 41, 1994, Heft 4, S. 8-18. 79. Ennius als Dramatiker, in: Orchestra. Drama. Mythos. Bühne, (Festschrift Hellmut Flashar), hrsg. von Anton Bierl u.a., Stuttgart - Leipzig 1994, S. 346-362. 80. Der Pyrrhos-Krieg in Ennius’ Annales VI im Lichte der ersten Ennius-Papyri aus Herculaneum. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik (ZPE) 106, 1995, S. 31-52. 81. Ein heidnischer Klassiker als ‘Dünger’ christlicher Bildung. Quellen und Bedeutung des Vergil-Bildes bei Ermenrich von Ellwangen (um 850), in: Panchaia. Festschrift für Klaus Thraede. Hrsg. von Manfred Wacht, Münster 1995 (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 22), S.238-250. 82. Cicero (und Epikur) über die Freundschaft und ihre Probleme, In: Il concetto di amicizia nella storia della cultura europea. Der Begriff Freundschaft in der Geschichte der Europäischen Kultur. Atti del XXII convegno internazionale di studi italo-tedeschi Merano 1994. Edizione curata dall’Accademia di Studi Italo-Tedeschi, Meran 1995, S. 136-171 (mit italien. Resümee S. 168-171). 83. Rhetorik gegen Pyrrhos. Zum Widerstand gegen den Feind aus dem Osten in der Rede des Appius Claudius Caecus 280/279 v. Chr. nach Ennius, Oratorum Romanorum fragmenta und G. B. Niebuhr. In: Rom und der Griechische Osten. Festschrift für Hatto H. Schmitt zum 65. Geburtstag, dargebracht von Schülern, Freunden und Münchener Kollegen, hrsg. von Ch. Schubert u.a., Stuttgart 1995, S. 251-265. 84. Der Leidensweg eines antiken Vermittlers. Zur Biographie des Philologen Orbilius (Suet. gramm. 9), des Prügelknaben des Horaz. In: Die Antike und ihre Vermittlung. Festschrift für Friedrich Maier. Hrsg. von Karl Bayer, Peter Petersen und Klaus Westphalen, München 1995, S. 21-34. (Parergon 1, ohne .Nr.) Elegie zu Friedrich Maiers 60. Geburtstag am 21.10.1995. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 42 , 1995, Heft 4, S. 812. 85. Lateinisches Staatsexamen in Schönheitspflege. Bayerische Student(inn)en interpretieren Ovid: Ars amatoria 3, 101-128. In: Anregung (Zeitschrift für Gymnasialpädagogik) 42, 1996, S. 75-90.

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86. Fehlende Redner in Ciceros ‘Brutus’? Nebst Hinweisen auf fehlende Entwicklung, fehlende Belege und fehlende Ernsthaftigkeit in einer Geschichte der römischen Beredsamkeit. In: Vir bonus dicendi peritus. Festschrift für Alfons Weische zum 65. Geburtstag am 17.1.1997, hrsg. von Beate Czapla u.a., Wiesbaden 1997, S. 407419. 87. Zivilisten zwischen den Fronten: die Mandubier vor Alesia (Caes. Gall. 7,78) und Muslime in Srebrenica. Ein Beispiel für (un)moralische Geschichtsschreibung. In: Anregung (Zeitschrift für Gymnasialpädagogik) 43, 1997, S. 17-24. 88. Am Scheideweg zur Zukunft. Alternative Geschehensverläufe bei römischen Historikern (Vortrag beim Kongress des Deutschen Altphilologen-Verbandes Jena 12.4.1996). In: Gymnasium 104, 1997, S. 36-54. 89. (Rezension zu:) Enciclopedia Virgiliana Vol. 3-5**, Rom 1987-1991. In: Gnomon 69, 1997, 498-508 (Manuskript vom Juli 1995). (Parergon 2, ohne Nr.) Der dramatische Mensch. Rede zur Emeritierungsfeier von Hellmut Flashar (21.7.1997). In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 44, 1997, Heft 3, S. 27-36. 90. In memoriam Uvo Hölscher 8. März 1914 -31. Dezember 1996. Gedenkfeier des Instituts für Klassische Philologie der Universität München am 9. Mai 1997, in Zusammenarbeit mit Werner Suerbaum hrsg. von Joachim Latacz, Basel 1997, 58 S. 90a: Darin von W. Suerbaum: Programm und Begrüßung, S. 12-18. (Parergon 3, ohne Nr.) Zu Joachim Grubers 60. Geburtstag, 17. Juni 1997. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 44, 1997, Heft 4, S. 35-41. 91. Vorliterarische römische Redner (bis zum Beginn des 2. Jh.s v. Chr.) in Ciceros ‘Brutus’ und in der historischen Überlieferung. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft (WJA) N.F. 21, 1996/97, S. 169-198. 92. Q. Ennius, Artikel in: Der Neue Pauly Bd. 3 (Cl - Epi), 1997, 1040-1046. 93. Denkmalschändung einer stolzen Römerin? Zu einer Neuinterpretation des Epitaphs auf Claudia. In: Anregung (Zeitschrift für Gymnasialpädagogik) 43, 1997, S. 366-380. 94. Bibliographie (Auswahlbibliographie zur Tusculum-Ausgabe). In: Vergil, Aeneis, lat.-dt. ... von Johannes Götte, Düsseldorf-Zürich, 9. Aufl., 1997, S. 581-583.

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95. Si fata paterentur. Gedanken an alternatives Handeln in Vergils Aeneis. In: Candide Iudex. Beiträge zur augusteischen Dichtung. Festschrift für Walter Wimmel zum 75. Geburtstag, hrsg. von Anna Elissa Radke, Stuttgart 1998, S. 353-374. 5 Beihefte zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell, hrsg. von Werner Suerbaum, München 1998, jeweils 64 S., jeweils illustriert. 96. Beiheft 1 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Werner Suerbaum: Katalog der Schautafeln 1 (Poster 001-114), München 1998, 64 S., mit vielen Abb. 97. Beiheft 2 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Werner Suerbaum: Katalog der Schautafeln 2 (Poster 115-230), München 1998, 64 S., mit vielen Abb. 98. Beiheft 3 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Werner Suerbaum: Bilder zu Vergil, München 1998, 64 S., mit vielen Abb. Inhalt: 1. Gemäldezyklen zur Aeneis in italienischen Palazzi; 2. Gemäldezyklen zur Aeneis in deutschen Schlössern; 3. Vergil-Zyklen einzelner Künstler; 4. Vorstellung ausgewählter moderner Zyklen von Buchillustrationen zu Vergil; 5. Synopsen zu Buchillustrationen zu Vergil und Literaturhinweise zur bildlichen Rezeption Vergils. 99. Beiheft 4 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Werner Suerbaum: Zur modernen Rezeption Vergils. Mit einem Beitrag von Maria Rutenfranz, München 1998, 64 S., mit vielen Abb. Darin 12 Einzelbeiträge von W. Suerbaum, u.a. zu Thornton Wilder, 1926; Rudolf Borchardt, 1929; Waldtraut Lewin, 1979; Botho Strauß, 1981; Jorgos Chimonas, 1984/dt. 1990; Louis Begley, 1991/dt. 1994; Joseph Brodsky, 1995; David Wishart, 1995. 100. Beiheft 5 zur Münchener Vergil-Ausstellung 1998 Vergil visuell: Werner Suerbaum: Materialien und Illustrationen. Beiträge von Renate Piecha, Marcus Schröter, Werner Suerbaum, München 1998, 64 S., mit vielen Abb. Darin 8 Einzelbeiträge von W. Suerbaum, u.a.: Was geschah sonst in Vergils Geburtsjahr? Die Olympiasieger 70 v.Chr., S. 7-9; Das Grabepigramm Vergils - Thema mit Variationen, S. 10-12; Augustus und die Sibylle, S. 26-33; Zu den Danaiden am Schwertgurt des Pallas, S. 37-43; Zu den Vergil-Briefmarken 1930 und 1981, S. 44-51. 101. Odyssee für Rom: Vergils ‘Aeneis’. In: Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften. Flensburger Universitätszeitschrift 6 (Weltliteratur), 1998, S. 9-26.

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102. Unsterblicher Klassiker Vergil: „Hör mir bloß mit dem Scheiß auf“. Zur Evaluation von Vergil-Kenntnissen. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 46, 1999, Heft 2, S. 6-20. 103. Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, Reclam: Stuttgart 1999, 427 S. (Universal-Bibliothek 17618: Literaturstudium) (mit 15 Abb.). 104. Schwierigkeiten bei der Lektüre des SC de Cn. Pisone patre durch die Zeitgenossen um 20 n.Chr., durch Tacitus und durch heutige Leser. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik (ZPE) 128, 1999, S. 213-234. 105. Livius Andronicus, L., Artikel in: Der Neue Pauly Bd. 7, 1999, 373-377. 106. Naevius comicus. Der Komödiendichter Naevius in der neueren Forschung, in: Dramatische Wäldchen. Festschrift für Eckard Lefèvre, hrsg. von Ekkehard Stärk / G. Vogt-Spira, Hildesheim u.a. 2000, S. 301-320. 107. Religiöse Identitäts- und Alteritätsangebote im Equos Troianus und im Lycurgus des Naevius, in: Identität und Alterität in der frührömischen Tragödie, hrsg. von Gesine Manuwald, Würzburg 2000, S. 185-198. 108. Vergils Aeneis. Die Erschließung eines geistigen Raums, in: Meisterwerke der antiken Literatur. Von Homer bis Boethius, hrsg. von Martin Hose, München 2000, S. 103-123. 109. Die Vertreibung vor-ciceronischer Redner aus der römischen Literaturgeschichte. In: Wiener Studien 114, 2001 (Festschrift A. Primmer), S. 169-182. 110. Porcius Licinus, Artikel in: Der Neue Pauly Bd. 10 (Pol - Sal), 2001, 162. 111. Servius [Nr. 2], römischer Grammatiker, Artikel in: Der Neue Pauly Bd. 11 (Sam Tal), Stuttgart - Weimar 2001, 470-472. 112. Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, 1. Band: Die archaische Literatur. Von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von 240 bis 78 v. Chr., hrsg. von Werner Suerbaum, unter Mitarbeit von Jürgen Blänsdorf u.a., München 2002, XLVIII, 611 S. (Handbuch der Altertumswissenschaft VIII 1). – Etwa zwei Drittel dieses Bandes sind von W.S. verfasst, darunter die Abschnitte zu Livius Andronicus (93-104), Naevius (104119), Ennius (119-143), zu Epos und Lehrdichtung (278-296), zur Satire (297-304) und zu Lucilius (304-318), zu Gelegenheitsdichtung und Kleinformen (319-339) und zur gesamten Prosaliteratur (343-560. 574-580), also u.a. zu allen Historikern und Rednern, wie Cato Censorius (380-418), ausgenommen die juristischen Schriften.

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113. Lob des Zweiten. Die Römer und ich, in: Weltbild und Weltdeutung, hrsg. von Peter Neukam und Bernhard O’Connor, Dialog Schule - Wissenschaft, Klassische Sprachen und Literaturen Bd. 36, München 2002, S. 184-220 mit 7 Abbildungen. (Eine Version mit kleinen Abweichungen ist zuvor seit dem 19.07.2001 als Privatdruck verteilt worden.) 114. Ansprachen zur Emeritierungsfeier von Professor Dr. Werner Suerbaum, hrsg. von Werner Suerbaum, München 2002, 60 S. mit 8 eingeklebten Farbfotos, Privatdruck. Die Broschüre ist vorhanden in der BSB, in der UB München und in der Bibliothek des Instituts für Klassische Philologie (der Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie) der Universität München. 115. P. Vergilius [Nr. 4] Maro, der römische Dichter, Artikel in: Der Neue Pauly Band 12.2 (Ven - Z), Stuttgart- Weimar 2003, S. 42-60. 116. (Rezension zu:) Virgil Aeneid 7. A commentary by Nicholas Horsfall, Leiden u.a. 2000 (XLIV, 567 S.). In: Gnomon 75, 2003, S. 213-218. 117. Ennius in der Forschung des 20. Jahrhunderts. Eine kommentierte Bibliographie für 1900-1999 mit systematischen Hinweisen nebst einer Kurzdarstellung des Q. Ennius (239 - 169 v.Chr.), Hildesheim - Zürich - New York 2003, 280 S. (Bibliographien zur Klassischen Philologie Band 1) 118. Cato Censorius in der Forschung des 20. Jahrhunderts. Eine kommentierte Bibliographie für 1900-1999 mit systematischen Hinweisen nebst einer Kurzdarstellung des Schriftstellers Cato Censorius (234-149 v.Chr.). Hildesheim Zürich - New York 2004, 312 S. (Bibliographien zur Klassischen Philologie Band 2). 119. Gedichte zu Tacitus. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 51, 2004, Heft 3, S. 13-22 und 27-31. 120. Tacitus schreibt eine unpolitische Geisterstory des Plinius in eine Aufsteigergeschichte um. Aufstieg und Fall des Curtius Rufus bei Plin. epist. 7,27,2f. und bei Tac. ann. 11,20f. In: Ad fontes! Festschrift für Gerhard Dobesch zum 65. Geburtstag am 15. September 2004. Unter der Ägide der Wiener Humanistischen Gesellschaft hrsg. von Herbert Heftner und Kurt Tomaschitz, Wien 2004, S. 493-304. 121. Petrarca - ein Ennius alter oder ein Vergilius alter? In: Petrarca und die römische Literatur, hrsg. von Ulrike Auhagen, Stefan Faller und Florian Hurka, Tübingen 2005 (NeoLatina 9), S. 17-33. 122. Seen im Schatten Roms. Commentarii Caesars I., Papst Pius’ II. und (III.) Plinius des Jüngeren (epist. 8,20) und anderer lateinischer Schriftsteller. In: Athlon. Festschrift für Hans-Joachim Glücklich (Herausgeber: Landesverband Rheinland-Pfalz

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im Deutschen Altphilologenverband), Speyer 2005, S. 79-103 (mit 1 Karte und 4 Fotos). 123. Von Arkadien nach Rom. Bukolisches in der Aeneis Vergils. In: Philologus 149, 2005, S. 278-296. 124. Vier (und mehr) Frauen-Bilder zu Vergils Aeneis. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 54, 2006, Heft 3/4, S. 5-32 (mit 15 Abb.). 125. Die fiktiven Grabepigramme der republikanischen Dichter, mit Ausblicken auf solche der Augusteischen Zeit. Literarhistorische Überlegungen. In: Die metrischen Inschriften der römischen Republik, (Sammelband) hrsg. von Peter Kruschwitz, Berlin-New York 2007, S. 63-96. 126. Handbuch der illustrierten Vergil-Ausgaben 1502-1840. Geschichte, Typologie, Zyklen und kommentierter Katalog der Holzschnitte und Kupferstiche zur Aeneis in Alten Drucken. Mit besonderer Berücksichtigung der Bestände der Bayerischen Staatsbibliothek München und ihrer Digitalisate von Bildern zu Werken des P. Vergilius Maro sowie mit Beilage von 2 DVDs, Hildesheim-Zürich-New York 2008, 684 S. (Bibliographien zur Klassischen Philologie Band 3). – Die beiden DVDs umfassen rund 8,5 Gigabyte und bieten unter ca. 6000 Digitalisaten etwa 4000 Vergil-Illustrationen; im Buch selbst sind 41 gedruckte Abb. enthalten. 127. Werner Suerbaum / Wolfgang-Valentin Ikas / Matthias Groß: Vergilius Pictus digitalis. Über ein Fachwissenschaft und Bibliothek verbindendes Projekt. In: Hausmitteilungen der Bayerischen Staatsbibliothek München (HM) 110, 2008, 2631 (mit 7 Abb.) (technischer Arbeitsbericht zu Nr. 126); erneut publiziert in: Bibliotheksdienst 43, 2009, (Heft 6), S. 579-587; 128. Die Schildbeschreibung Vergils in Worten und Bildern zur Aeneis (8.608-731), in: Vergil und das antike Epos. Festschrift Hans Jürgen Tschiedel. In Verbindung mit V. M. Strocka und R. von Haehling hrsg. von Stefan Freund und Meinolf Vielberg, Stuttgart 2008, 451-481 (mit 11 Abb.) (zuerst Vortrag an der Universität Straßburg 21.2.2007 - dazu ein französisches Resümee, nach deutscher Vorlage von W.S., in REL 85, 2008, 8-11 - und in der Petronian Society München 17.7.2008). 129. Das Sarntal bei Bozen. Beobachtungen eines Papstes (1464) und eines Professors (2007). In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 56, 2008, Heft 2, S. 4-21. 130. Titelbilder zu den Aeneis-Büchern vom Humanismus bis zum Neoklassizismus. Geschichte, Typen und Tendenzen der Aeneis-Illustration in gedruckten VergilAusgaben und –Übersetzungen von 1502 bis 1840. In: Philologia antiqua. An

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International Journal of Classics (Pisa - Roma) 1, 2008, S. 99-201 (mit 90 Abb.) (Manuskript vom August 2006). 131. Die Goldene Zeit bei Vergil: die Historisierung des Paradieses. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 83, 2008, 39-61 (Vortrag bei der Tagung der Deutschen DanteGesellschaft, Krefeld 6.10.07); selbstverfasstes Resümee dazu in: Mitteilungsblatt der Deutschen Dante-Gesellschaft e. V, Juni 2008, S. 10f. 132. Aeneas als nackter Heroe, Augustus als Gott. Zum neoklassizistischen AeneisZyklus des Anne-Louis Girodet-Trioson um 1820. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 56, 2008, Heft 4, S. 7-35 (mit 17 Abb.). 133. Die Sichtbarkeit des Autors in seinem Werk. Vergil in Buchillustrationen zur Aeneis. In: Gymnasium 116, 2009, 413-458 (mit 22 Abb). 134. The king’s two bodies. Is Aeneas an embodiment of Augustus in illustrations for the Aeneid? In: Vergilius 55, 2009, 31-54 (mit 33 Abb.). 135. Ein Mantua-Epigramm auf Vergil und auf Andreas Hofer. In: Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 57, 2009, Heft 3, S. 34-35. 136. Vergil als Jugend-Erzieher. Achates gibt Ascanius Anweisungen für anständiges Verhalten bei Hofe (Aen. I 643ff.). - Die Alten Sprachen im Unterricht (DASIU) 57, 2009, Heft 4, S. 2-8.

In Vorbereitung: 137. Kann primus (wie prior) auch der erste von nur zweien sein? Zur Zahl der Bücher von Schriften, von denen nur ein liber primus zitiert wird, und zur Zahl der Lager des Varus bei Tac. ann. 1,61,2. In: Gymnasium 117, 2010, 1-6. 138. (Rezension) Lee Fratantuono: A commentary on Virgil, Aeneid XI, Bruxelles 2009, 340 S. - Gnomon 139. M. Didius Falco ermittelt auf den Spuren von Tacitus Historiae. Lindsey Davis schreibt 1992 die Geschichte des Bataveraufstandes 69/70 n. Chr. weiter.

Namenregister Achates 64, 174, 176-178, 262, 307 Acerbas 299, 306f. Achill 62, 197, 285, 287f., 325 Adam 231, 261 Adamastor 122 Aegon 54, 218 Aeneas 2, 9-14, 16-25, 28f., 32, 34-43, 45-47, 50, 79, 83, 85-95, 101f., 104, 108-110, 115-118, 121, 124-126, 128, 130, 138-140, 142f., 174-185, 197f., 206, 252, 254-259, 261-267, 272, 274-276, 284-285, 288-290, 292-299, 303-309, 326, 334, 349-351, 355-361, 364, 367, 374, 376-380, 382-391, 393-395, 397, 408-424, 432, 443f., 448-452 Aeneas Silvius Piccolomini 76, 78, 351 Aeolus 14f., 22, 24f., 96, 124f., 128-133, 144 Aepolus 167 Africus 136 Aiax 131 Alastor 200, 202, 205 Albicerio 300f., 306f. Alexander der Große 128 Alexander, Lloyd 396 Alexis 168, 194 Alphesiboeus 160f., 163f., 167 Allecto 339 Amaryllis 214, 220, 233, 236, 238f. Amour 290-295, 298 Anchises 18, 258f., 262, 265, 276, 334, 409, 413, 443, 448, 451 Andromache 288 Anna (Schwester der Dido) 90, 174-177, 179, 182-184, 294, 305f., 378 Apoll 6, 57, 60f., 86, 98, 114f., 174, 290, 411f., 420, 422 Apollonios Rhodios 131, 176, 182, 252 Aquilo 93, 137

Aragorn 367, 374-384, 388, 391-393, 395, 397, 400f. Aratus 300f., 308 Archimedes 7 Aretia 254-259, 261-263, 267 Aretino 319 Argonauten 62, 131, 182f., 264, 266 Ariadne 182f. Ariost 125, 131f., 134, 252, 255, 363 Aristipp 405, 431f. Aristoteles 43 Artus 365, 373f. Ascanius (vgl. Julus) 88, 174, 177f., 182, 184, 262, 384, 389, 443, 450 Astraea 59, 396 Athene 131 Augustin 19-27, 30, 334 Augustus 5f., 34, 36, 39, 41f., 49f., 58, 68, 104, 116, 259f., 262, 272, 298, 393f., 397, 421 Auster 137 Bacchus 1, 87, 121f., 128-131, 142f. Baião, André 123, 137, 140 Balde, Jacob 187-209, 219, 225 Balthasar 222 Banaias 229 Barce 305 Barlaeus, Caspar 147 Barlaeus, Melchior 147f., 160f., 167f. Bartholomaeus Coloniensis 215f. Battus 149, 151, 154, 156f., 160f., 163168, 222 Baucis 447 Baudelaire, Charles 426, 429, 433 Bebel, Heinrich 78, 216 Beowulf 365f., 371-373, 375, 387 Berlioz, Hector 358 Bernhard von Clairvaux 334 Bersman, Gregor 223f., 229

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Namenregister

Berthold von Regensburg 331 Bettini, Mario 194 Bilbo 369f., 384, 400f. Bitias 197f. de Blancmesnil, Potier 276 Boccaccio 317, 319 Bocer, Johannes 160, 215f., 218 Bonaventura 334 von Bonstetten, Karl Victor 360-362 Boreas 98, 136f. Boucher, François 294 de Brébeuf, Georges 279 Britting, Georg 355 Brunetto Latini 319 Caesar 65, 67, 69, 76, 97, 237, 259, 278, 288f., 297, 431 Caieta 421 Calpurnius Siculus 54, 236, 245f. Calvus 4 Camerarius, Joachim 215f., 218, 225f., 229 Camilla 131, 207 Camillus 259 Capaneus 204 Carducci, Giosuè 319f., 323, 326, 328 Caro, Annibale 355 Carrara, Ubertino 251-267 Castellio, Sebastian 223 Cato d.Ä. 4, 83, 259 Cato Uticensis 83, 259, 279-281, 294, 297 Catull 4f., 81, 182f., 190, 196, 433f. de Caumartin, Lefèvre 271, 273 Celadon 227-229, 242-245, 247-250 Celaeno 408 Celsus 166 Cephalus 243, 245, 248 Cervantes 132 Chamfort, Nicolas 426 Charles IX / Carlin 62, 283 Charon 79, 406, 411 Charybdis 139, 140, 408 Chigi, Fabio 224 Christlicher Gott 14-16, 18-21, 24-26, 28, 41, 56, 58, 66, 110, 114, 139, 145, 218, 220f., 228, 224, 237f., 239f., 247f., 254, 262, 266, 272, 275, 277, 279f., 286, 294, 297, 316, 439, 448

Chromis 249 Cicero 11, 269, 289 Cisnerus, Nicolaus 216f. Claudian 82, 190, 196, 199-203, 205-208, 246 Claudius 4 Claudius Donat 32 Clemens VII 109 Clément, Jacques 276 Clio 60f. Coelho 134f. de Coligny, Gaspard 282-288, 297, 298 Columbus, Christoph 254-264, 266f. Columella 3, 7 Connolly, Cyril Vernon 404-407, 410, 414-428, 431, 436f. Constantia 255f. Corydon 162, 167f., 194, 215 McCarthy, Cormac 443, 445-453 Cossus 259 Cupido 158, 176 Cymothoe 15, 142f. Dach, Simon 211-215, 21, 220, 222-226, 228-231, 236 Dädalus 83, 115f. Damon 160-162, 223 Dante 66, 114, 284, 319f., 323, 326, 335, 353, 362, 406, 426 Daphnis 56, 160f., 194, 216, 218-221, 227-229, 234-237, 239-245, 247-250 Dardanus 48, 86, 284, 410 Daunus 197f. Dauphin 58 David 221, 227f., 237, 243, 246, 248 de Segrais, Jean Regnauld 292 Decembrio, Pier Paolo 13, 42f., 46-48 Deiopea 125, 130, 144 Denethor 367, 381-383, 400f. Desfontaines, Abbé 272, 279, 292 Deshoulières 294 Deucalion 138 Diana 59, 178, 290 Diane de Poitiers 59, 291 Dido 12f., 34, 43, 76, 85-95, 109, 117f., 126, 169f., 174-185, 206, 265f., 282, 285, 289f., 292-295, 298-309, 311-

Namenregister

313, 350f., 356, 358f., 367, 374, 376379, 390f., 397, 408, 416, 419, 448 Diophas 248 Discorde 281, 290 Dodus 300, 301, 308 Donat 7 Donato Acciaiuoli 11 Doris 151-153, 156-160, 164-166 Dorylas 243, 245, 248 Doze de Inglaterra 122, 132, 144 Drances 276 Dryden, John 292, 415, 418, 420, 431 Du Bellay 172f. Düntzer, Heinrich 300-302, 312 Eichhoff, Frédéric Gustave 269f. Elbereth 371 Elijah 447 Elisabeth I 272, 282, 286 Elissa 94, 299, 300, 305-307, 312, 313 Elpenor 420, 422 Elrond 380-382, 384f., 396, 400f. Empedokles 22 Endymion 59 Engel 15, 110-114, 119, 139, 220, 223, 227, 228, 245, 246, 255, 262, 308 Ennius 63, 64, 196, 270 Eobanus Hessus 215, 216, 218 Éowyn 376-379, 391, 397, 401 Epikur 34, 185, 280, 405, 432 Ercilla 125 Eukleides 332 Eumolpus 204 Eunaeus 204 Euphorbus 234, 237, 239 Euricius Cordus 215, 218 Euripides 128, 183 Europa 353 Eurus 7, 98f., 134, 136f. Euseb 52 Eutropius 205 Fama 174, 176, 242, 247, 295, 352 Faunus 54, 118 Ferdinand V. 260 Ficino, Marsilio 11 Flaubert, Gustave 426, 429, 431 Fortuna 389, 408, 414

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Franciscus Patricius / Francesco Patrizi 217, 221 François d’Anjou 61 François I 60f. François II 58 Freud, Sigmund 339, 352, 356, 362, 423, 434 Frodo 364, 367, 369f., 375, 380f., 383393, 397, 400f. Fulgentius 11f., 21, 27f., 44 Furien 86, 92, 94, 176, 339 Gabrielle 289, 291-296, 298 Galadriel 371, 374f., 395, 400 Galatea 143f., 177, 215 Gallus (Cornelius Gallus) 1, 34, 167 da Gama, Paulo 135 da Gama, Vasco 121f., 136, 138f., 141, 258, 260f. Gandalf 371, 380-382, 385, 387, 391f., 397, 400f. Geraldini, Antonio 219, 222, 229, 236 Giganten 122, 132, 138 Gmelin, Friedrich 360 Goethe, Johann Wolfgang von 299-303, 308-313, 337, 360, 361 Goliath 246 Gollum 401 Granicus 222 Grazie 125 Gregor VII 329, 334 Gustav II. Adolf 191 Gustav III 357f. Hardy, Alexandre 169-185 Hektor 16f., 139, 178, 197, 257, 287, 307, 448f. Hecuba 284f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 270, 337 Hekate 163, 233, 237, 239 Hector / Hektor 16, 17, 139, 178, 197, 257, 287, 307, 448, 449 Helena 291 Helenus 20, 198, 288 Henri de Guise Heinrich II 58-61, 291 Heinrich III 61, 275f., 282

468

Namenregister

Heinrich IV 61-63, 270-272, 274-277, 282f., 286, 290f., 293-298 Hera (vgl. Juno) 19, 20, 23, 26-28, 125 Herkules 79f., 83, 175 Herder, Johann Gottfried 301, 303, 337 Hermione 288 Herpylis 160, 222, 243, 245, 248 Hesiod 273 Hieronymus 23, 114, 327 Hieronymus Vida 109, 20 Hiob 23-26 Hippotes 133 Homer 2, 25, 37, 40, 110, 123-125, 127, 128, 135-137, 140, 145, 171, 252, 253, 256, 257, 269, 273, 278, 326, 338, 360, 371, 431 Honorius 205 Horaz 1, 5, 38, 50, 76, 140, 187, 190, 194, 196, 199, 204, 209, 237, 251, 273, 282, 298, 323, 326, 405, 429, 431 Huelle, Pawel 353 Hypnos (vgl. Somnus) 125 Iasius 410, 415 Ignatius von Loyola 328, 332-334, 342 Ikarus 82f., 115 Inês de Castro 122 Infant Don Juan 52, 433 Iolas 226 Iosias 229 Iris 359 Isabella 52 Iustitia 15, 395 Jairus 221, 238 Jarbas / Iarbas / Hiarbas / Jarbes 86, 174-176, 179, 293-295, 299, 300-303, 306-308, 358, 359, 376 Jason 163, 183, 364 Jean le Blanc 62f. Jeanne d’Albret 63, 283 Jeremias 332, 333 Jesaja 237 Jesus Christus 17, 20, 25, 41, 52, 56, 57, 59, 108, 109-114, 116-119, 194, 219, 220-226, 229, 230, 233, 237, 242, 247, 330, 434

Josef / Joseph 54, 109, 226, 237 Joseph von Arimathäa 113 Juan del Encina 52 Judas 194, 219, 223 Julus (vgl. Ascanius) 88, 91, 290, 311, 389 Juno (vgl. Hera) 12-15, 19-26, 28, 29, 34, 63, 86, 98, 114, 115, 125, 128-131, 143, 185, 285, 289, 306, 339, 356, 359, 422 Iuppiter Hammon 279, 293, 294 Jupiter 18, 21-23, 34, 63, 79, 81, 86, 98, 104, 121, 124, 129f., 138, 143, 174, 176f., 184, 246, 252, 257, 277, 279, 280, 284, 289, 293-295, 306, 359, 376, 387, 394, 419, 447 Justinus 299, 301, 303-305 Juvenal 76, 78, 103, 190, 196, 199f., 202, 205 Kallimachos 2, 3, 6 Kalliope 122 Kalypso 124 Karl August 309 Karl der Große 10, 11, 14, 16-19, 21, 2426, 28, 29 Karl V. 257, 258, 260 Kaspar 222 Katharina von Medici 58f., 61, 283, 286f. Kauffmann, Angelika 356 Kellgren, Johan Henrik 358 Kirke 220, 236, 233, 236, 239, 255 Kleanthes 279 Kleopatra 291 Konstantin 52, 266 Krasiński, Zygmunt 65, 66 Kraus, Joseph Martin 357-359 Kreusa (Gattin des Aeneas) 88, 180, 264f., 450 Kreusa (Tochter des Kreon) 163 Kyklop 246, 256 Labienus 279 de La Fayette 294 Laktanz 41f., 51, 334, 416 Laetitia 53 Landino, Cristoforo 11f., 27-29

Namenregister

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Laokoon 192, 337, 354 Latinus 34, 41, 47, 48, 118, 130, 197, 198, 254, 270, 339 Lavinia 292, 374, 376 Lazarus 108, 221, 238 Lemnius, Simon 215, 218 Leo X 109 Leone, Sergio 443 Leonteus 198 Leopardi, Giacomo 319, 343, 427, 433 Lessing, Gotthold Ephraim 331, 337 Lethe 93, 151, 157, 165 Lewin, Waldtraut 66-68 Lewis, C.S. 363, 366 Livius Andronicus 270 Lord Bolingbroke 275, 297 Lotichius Secundus, Petrus 216, 218, 229, 245 Ludwig IX 276, 277 Ludwig XII 58 Ludwig XIII 63, 272 Ludwig XIV 64 Ludwig XIV 63, 271, 272, 336 Ludwig XV 64, 278 Lucilius 6 Luise Henriette 229 Lukan 49, 82, 83, 94, 97, 98, 125, 138, 152, 188, 252, 259, 273, 278-281, 285, 294, 297, 405 Lukrez 1, 55, 64, 80, 121, 190, 196 Lusus 121 Lycabas 233, 239, 243, 245, 248 Lycidas 54, 194, 222, 229, 243, 246, 249 Lycon 194

Maximilian 74f., 92, 102-105, 190 Medea 161, 163f., 167, 182f., 220, 233, 236, 239 Meeresgottheit 96, 104, 122, 129-132, 144 Megasthenes 128 Melampus 150, 156 Meliboeus 162 Menalcas 54, 56, 150, 155, 163 Menelaos 288, 422 Merkur 82, 101, 117, 122, 174, 176, 179, 181, 265, 293, 295, 298, 447 Michel de Tours, Guillaume 52 Mickiewicz, Adam 66 Milcon 226 Minos 115, 183, 324f. Minotaurus 115 Misenus 118, 421, 422 Mnemosyne 273 Moeris 163 Molon 228, 245, 247, 250 Mopsus 54, 194, 220-222, 227, 233-236, 238-241 Mornay 275, 282, 286, 294f. Morphon 149, 151, 154, 156, 160-165, 167f. Müller, Heiner 66, 68-71 Muse 59, 63f., 74, 122, 151, 156, 160f., 207, 234, 273-275, 278, 280-282, 297, 357 Mycon 214, 220-223, 227, 233-236, 238241, 244, 246, 249 Myrmidon 243, 246, 249f. Myrtilus 229

Macrobius 124 de Malherbe, François 173 Mann, Thomas 315, 317 Mantuanus 162 Manzoni 319 Marc Aurel 294 Marcellus 259, 394, 398 Margarete von Navarra 57, 61, 277 Maria 54, 109, 194, 206, 218f., 223, 233, 238 Maria Magdalena 110-119, 228f., 245 Marot, Clément 57-61 Martial 5, 77, 190, 196, 405, 423

Naevius 124, 270 Napoleon 65, 69 Nemesian 238, 246 Neoptolemus vgl. Pyrrhus Neptun 14f., 22, 103, 117, 125, 127-130, 132, 135, 142-144, 263, 355, 409f., 418f. de Nerval, Gérard 426, 429 Nietzsche, Friedrich 337, 432 Nikander 3 Nikolaus 188 Nisa 149f., 154-156, 160-162, 218, 236, 238, 241, 243, 249

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Namenregister

Noah 139 Nonnos 3, 108 Notus/Notos 134, 136f. Nymphe 2, 122, 125, 130, 144, 233, 239, 252, 293, 296, 365 Nysa (vgl. Nisa) 160, 238, 236 Octavian (vgl. Augustus) 50 Odysseus 26, 35, 104, 124, 125, 136, 236, 325, 364, 394, 420, 452 Oetha 149, 154 Ogon 300-302, 308 Omphale 175 Opitz, Martin 211f., 218f. Oporinus 223 Orestes 288 Orithyia 143f. Orontes 13f., 16, 25, 134 Orpheus 60, 61, 79, 83, 228, 246, 356 Orphnaeus 200, 202, 205 Ovid 3, 75-77, 80, 85, 88f., 90f., 98, 100, 104, 110, 118, 125, 132, 134-136, 144, 161f., 165, 167, 190, 196, 199f., 202, 204f., 236, 251, 405, 447 Palaemon 243, 245, 248 Palinurus 117, 174, 177-179, 355f., 361, 403-425, 427-436 Pan 6, 60f. Pandarus 197f. Papst Innozenz III 322, 332, 334 Papst Pius II (vgl. Aeneas Silvius Piccolomini) 217, 351 Papst Sixtus V 275 Paris 128, 196 Parzen 57, 62f. Pascal, Blaise 426 Pasiphae 115, 117 Pasithea 125 Paulus 23, 139, 333 Pegasus 203, 207 Perrault, Charles 272 Persius 196, 199, 200, 202, 204, 205 Petrarca, Francesco 12, 41, 46, 125, 196, 206, 298, 319f., 323f. Petron 204, 405, 430 Phaedra 183 Philemon 447

Philipp II 148 Pholoë 234, 237, 239 Phorbas 410f., 413, 415, 431 Phrontis 422 Phyllis 215 Pilatus 107, 109 Pindar 204, 251 Platon 20, 82, 281, 294 Plautus 190, 196 Plinius d.Ä.5, 164, 166f. Plotius Tucca 357 Pluto 22, 82, 129, 205 Poesis 251, 252 Polites 285, 288, 297 Pollio 52, 57 Polyphem 1, 161 Polypoites 198 de Pompignan, Lefranc 358f. Pompeius 94, 259, 278, 285 Pompeius Trogus 299-301, 303, 305, 307f. Porée, Charles 271 Poseidon 26, 125, 128, 237 Priamus 6, 34, 269, 282, 284-288, 297 Prometheus 447 Properz 5, 76, 93f., 167, 196-198 Proserpina 82, 205, 246, 289 Ps.-Donat 21 Pseudo-Probus 6 Pterelaus 234, 237, 239 Pulci, Luigi 11 Purcell 350f., 358 Pygmalion 86, 299f. Pyrrha 138 Pyrrhus 285, 287f. Renata / Renée d’Este 57f. Romulus 259 de Ronsard, Pierre 61-63, 169, 173 Rottendorf, Bernhard 219 Rousseau, Jean-Baptiste 64, 317, 319 Rutenus 13f., 16f., 24f. Sainte-Beuve, Charles-Augustin 426f., 431 Sannazaro, Jacopo 51-57, 148 Sappho 153, 159, 167 Sarbiewski, Kasimierz 187, 194 Sarnis 227-229, 242-245, 247-250

Namenregister

Sarpedon 16f., 139 Saturnus 54, 59, 64, 78, 82 Scaliger, Julius Caesar 40, 108, 144 Schiller, Friedrich 302f., 308, 311, 337 Schlegel, August Wilhelm 337 Schlegel, Friedrich 437 Schlegel, Johann Elias 303, 307 Scultetus, Tobias / Tobias von Schwanensee und Bregoschitz 218 Skylla 139f. Serena 200f., 205, 207 Servius 3f., 6f., 16, 21f., 32, 42, 44, 124, 237, 405, 413, 425, 426, 430f. Shakespeare, William 337 Sibylle 29, 55, 59, 79, 115, 246, 256, 326, 411f., 420 Signorelli, Luca 351 Silius Italicus 125, 196 Silvestris, Bernardus 12 Simaitha 167 Simeon 223 Sirenen 410, 419 Sirillus 223 Siro 204 Sokrates 50, 237 Somnus 98, 355f., 409-411, 418f., 431 Statius 56, 125, 182, 188-190, 196-204, 207f., 252 Steropes 244, 246, 249 Stilicho 200, 205 Stobaeus, Johannes 226 Strabo 4 Sueton 5, 7, 207 Sychaeus 174, 176, 179, 183f., 305f., 358 Syrinx 60f. Tacitus 71, 76, 405 Tasso, Torquato 252f., 255, 274, 281 de Téligny, Comte 286, 297 Terenz 196 Tertullian 338 Teufel / Sathan 13-15, 18f., 21-29 Théoden 400f. Theodorus 205 Theokrit 161-164, 167, 236, 298 Theromantis 263 Theseus 79-81, 83, 176, 180, 183

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Thetys 122 Thomas von Aquin 334 Thyrsis 162 Tiberius 4 Tibull 70f., 196, 237, 405, 429, 431 Timaios 299, 307 Tityos 243, 246 Tityrus 54, 57, 193f., 222 Tolkien, Christopher 364, 366, 372 Tolkien, J.R.R. 363-374, 378-380, 383, 385-387, 391, 394, 396-398 Tom Bombadil 392f., 400 Tommaso Campanella 63f. Trimalchio 1 Triton 15, 132, 142f. Turnus 13, 27, 34, 36, 38, 42, 47f., 142, 197f., 207, 257, 276, 292, 383, 397, 452 Tydides 16f., 139 Ungaretti, Giuseppe 406 Valerius Flaccus 125, 252, 264, 266, 376 Varius Rufus 357 Varro 22 Vegio, Maffeo 13, 39, 43, 406 Venus 53f., 86, 116f., 121f., 124, 128, 138, 142-144, 185, 206, 254, 256258, 260, 266, 277, 284, 289-291, 296, 306f., 309, 355, 359, 409, 542 Verino, Ugolino 10-13, 15f., 18f., 21f., 24-29 Vérité 275-278, 280-282, 294, 297 Vida, Marco Girolamo 107-119 Villon, François 61, 433 Vogler, Christian 213 Voltaire 64, 269-298, 317, 319, 429 von Spee, Friedrich 194, 214, 220 von Stein, Charlotte 299-313 Voss, Johann Heinrich 69, 325f. Vulkan 116, 138, 251, 254-256, 296, 393 Watteau, Antoine 294, 296 Zephyros 7, 136f., 244 Zopyrion / Zopyros 234, 237, 239

Stellenregister Augustin De Civitate Dei civ. 10,21: 20 civ. 10,22: 20 Jacob Balde Lyrica lyr. I,8: 192 lyr. II,35: 193 lyr. II,63-65: 195 lyr. III,306: 188 lyr. III,314: 189 lyr. III,317: 189 lyr. VI,452f.: 197 lyr. VI,455: 199 lyr. VI,456: 199 lyr. VI,457-459: 200f. Melchior Barlaeus Pharmaceutria, ecl. V Volltext: 149-153 Gregor Bersman Poemata carm. sacr. 1,5,15f.: 224 Tommaso Campanella Ecloga ecl. 1,1-5: 64 Ubertino Carrara Columbus Col. 3,517-533: 258 Col. 3,568-570: 258 Col. 3,585-589: 261 Col. 3,613-618: 261 Col. 3,630-635: 256 Col. 3,642-655: 263f.

Conrad Celtis Amores am. 1,6,1-8: 79 am. 1,6,9-14: 79 am. 1,6,15-18: 80 am. 1,6,19-24: 81 am. 1,6,25-36: 81 am. 1,6,37-48: 83 am. 1,6,49-54: 83 am. 2,11,5-8: 84 am. 2,11,9-12: 84 am. 2,11,13-20: 87 am. 2,11,21-24: 87 am. 2,11,25-30: 88 am. 2,11,31-38: 89 am. 2,11,39-44: 89 am. 2,11,45f.: 90 am. 2,11,47-50: 90 am. 2,11,51-56: 91 am. 2,11,57-60: 91 am. 2,11,61-76: 92f. am. 2,11,77-79: 93 am. 2,11,80: 93 am. 2,11,81-88: 94 am. 4,14,25-40: 96f. am. 4,14,77-86: 98 am. 4,14,87-98: 98 am. 4,14,99-110: 99 am. 4,14,111-116: 100 am. 4,14,117-130: 100f. am. 4,14,157-168: 101f. am. 4,14,216-229: 103f. Simon Dach Weihnachtsekloge Volltext: 233-236 Osterekloge Volltext: 242-245

Francisco Filelfo De Morali Disciplina p.71f.: 42 Fulgentius De Aetatibus Mundi 148M: 11f. Antonio Geraldini Carmen Bucolicum carm. buc. 1,1-7: 222 Homer Odyssee Od. 5,295f.: 136 Od. 5,331f.: 136 Od. 5,306-307: 25 (Fn.) Juvenal Saturae Juv. 7,1-3: 103 Juv. 7,74-78: 103 (Fn.) Christoforo Landino Disputationes disputationes 4,209: 29 (Fn.) Lucan Pharsalia Phars. 1,1-7: 278f. (Fn.) Phars. 9,554f.: 279 Phars. 9,564-584: 279f. Macrobius Saturnalia sat. 5,4,4: 125 (Fn.) sat. 6,2,31: 124 (Fn.)

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Stellenregister

Martial Epigrammata epigr. 3,78: 423 epigr. 14,100: 5 Mela Mela 3,56: 102 (Fn.) Novum Testamentum Eph 2,1-2: 23 Vulg. Eph 2,1-2: 23 Mt 12,40: 113 Ovid Epistulae (heroides) epist. 7,17-18: 89 epist. 7,21-22: 89 epist. 7,77-84: 88 (Fn.) epist. 7,133-138: 91 Metamorphoses met. 11,503-506: 136 (Fn.) met. 11, 534-536: 100 Iacopo Sannazaro De Partu Virginis de partu Virg. 3,131134: 53 de partu Virg. 3,194196: 54 de partu Virg. 3,200232: 54f. de partu Virg. 3,233236: 56 Servius Commentarii in Vergilii opera Verg. georg. 2,95f.: 4 Verg. Aeneis Aen. 1,47: 21 Aen. 6,378: 425 (Fn.)

Aen. 7,311: 22 Sueton Divus Augustus Aug. 76f.: 5 Strabon Geographika Strab. 4,6,8: 5 Vergil Aeneis Aen. 1,52-54: 133 Aen. 1,67f.: 130 Aen. 1,82f.: 133 Aen. 1,84-86: 136 Aen. 1,87: 134 Aen. 1,88f.: 133 Aen. 1,90: 137 Aen. 1,94-96: 140 Aen. 1,96-101: 139 Aen. 1,92-102: 16 Aen. 1,106f.: 135 Aen. 1,108-117: 134f. Aen. 1,124-129: 143 Aen. 1,130: 143 Aen. 1,138f.: 129 Aen. 1,200f.: 140 Aen. 1,411-414: 307 Aen. 2,302f.: 449 Aen. 2,535-543: 287 Aen. 2,547-550: 287 Aen. 2,687-691: 18 (Fn.) Aen. 3,506f.: 140 Aen. 4,133-139: 289 Aen. 4,333-336: 94 Aen. 4,340-347: 266; 377 Aen. 4,381-384: 90 Aen. 4,384-387: 92

Aen. 4,447-449: 378 Aen. 4,589-591: 289 Aen. 4,698f.: 289 Aen. 5,5-7: 379 (Fn.) Aen. 5,685-692: 18 (Fn.) Aen. 5,814f.: 409 Aen. 5,840f.: 409 Aen. 5,870f.: 411 Aen. 6,823: 334 Aen. 6,863-866: 259; 393 Aen. 7,302f.: 140 Aen. 7,312: 339 Aen. 12,107-109: 257 Aen. 12,435f.: 384 Eclogae ecl. 8,52-54: 224 Georgica georg. 2,86: 3 georg. 2,89-96: 3; 4 georg. 2,97-100: 6 georg. 2,101f.: 7 georg. 2,103-108: 7 georg. 2,319-322: 2 georg. 2,368-370: 2 georg. 2,467-474: 395 Ugolino Verino Carlias Carl. 1,97-113: 17 Vetus Testamentum Vulg. Iob 1,18-19: 24 (Fn.) Marco Girolamo Vida Christias Chr. 6,351-368: 111f.