Versuch einer christlichen Dogmatik: Allen denkenden Christen dargeboten 9783111720753, 9783111131399

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Versuch einer christlichen Dogmatik: Allen denkenden Christen dargeboten
 9783111720753, 9783111131399

Table of contents :
Vorwort zur ersten Auslage
Vorwort zur zweiten Auflage
Uebersicht
Einleitung
Erster Theil. Das christliche Princip nach seinem Grund und Wesen
Zweiter Theil. Das geschichtliche Medium für die Verwirklichung des christlichen Princips oder die Kirche
Dritter Theil. Das christliche Princip nach feinem Zweck und Ziel

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Versuch einer

christlichen Dogmatik allen denkenden Christen dargeboten

von

H. Lang, Pfarrer ;u Meilen am Zurchersee.

Si.iliilior .miiriiin in Domino, tjuao lihvro spiritu nititur, ze Trerbein als ein die Kirche Christi zerstörendes erkennt,, wer die Ueberzeugung hat, daß diese jähe Rückkehr der Tliieo'loHie znm kirchlichen Bekenntniß bei der offenbaren Besch.rffemh.eit der do.gni.ati scheu und kritischen Fra­ gen ein ungerecht fertigster Raub, ein nugeschichtlicher Gewalt­ akt ist, der hat di'k ihciiize Eamsiscilspfficht -ii reden, damit die Lebenden ihr Rächst behalten n,»d nickt die Todten über uns herrschen. (Sin- ssKchcr GctvissienSdrang toar eS, welcher den Verfasser nöthi.gte, riese Bogen zu verefsentlickcii, die er sonst lieber in sei nenn Pnilt e behalten hatte, da er nicht San­ guiniker genug ist, n»ni bei der gegenwärtigen kirchlichen Strö­ mung Lorbeeren zu cirwarten. Der Kirche Cbristi wollte er redlich dienen mit tret Gabe, die ihm Gott verliehen: gern hatte er mehr gegeben,, aber 'Jiicmant sunt über seinen Schat­ ten springen. WaS satlsch iü in dem Büchlein und der reinen, gesunden christlichen Wahrheit zuwederlaiifend, das wird der Geist verbessern, der im alle Wahrheit leitet. Ilnn vertrauen wir und glauben, d.aß er die Kirche ans ihrer gegenwärtigen Rathlosigkeit zu eimer festeren und gediegeneren Gestaltung führen wird. G. den 15. Septr. 1857. Der Verfasser.

Vorwort zur zweiten Auflage. Äls Jahren

die

der

geehrte Herr Verleger

Anzeige

machte,

daß

mein

mir

vor anderthalb

1858

erschienener

„Versuch einer christlichen Dogmatik" einer zweiten Auflage bedürfe, war ich überrascht.

Ich hatte daS Büchlein selber

fast vergessen und glaubte es noch mehr von Anderen vergessen. Ich nahm es wieder vor und sah es auf eine zweite Auflage an.

Da fand ich auf der einen Seite, daß ich ihm diejenigen

Eigenschaften lassen müsse, von denen ich glaubte, daß sie ihm die Verbreitung verschafft haben, nämlich die Kürze und den Ausschluß aller todten Gelehrsamkeit und, darauf beruhend, die Verständlichkeit auch für die Kreise der Nichttheologen, auf der anderen Seite aber zeigte sich so Vieles, das der Begrün­ dung, der Erweiterung, der Berichtigung bedurfte, daß nun doch fast eine ganz neue Schrift daraus entstanden ist. Es fragte sich,

ob nicht auch der Titel der Schrift zu

ändern wäre und an die Stelle des Wortes „Dogmatik" die Bezeichnung „Glaubenslehre" zu setzen, wie Schweizer in seiner „christlichen Glaubenslehre

nach protestantischen Grundsätzen"

will, der die Dogmatik definirt als die Lehre von den Kirchen­ satzungen, was allerdings diese Schrift nicht sein will,

die

Glaubenslehre dagegen als die wissenschaftliche Darstellung des

religiösen ?ebcnS auf kein Standpunkt der Gegenwart, mat allerdings diese Schrift au ihrem Tb eile sein mrckte.

Allein

abgesehen von der Ineonveinenz, einer zweiten Auslage einen anderen Titel 311 geben, als der erste», leidet auch das Wort „Glaubenslehre" in unserer Zeit an nicht geringeren Schwierig keilen, als das Wort „Dogmatil". mm einmal,

was wir Tbeotogen

Unsere Zengenossen fassen auch dagegen sagen mögen,

Glauben immer im Sinne eines Gegensatzes gegen das Wissen, so das;

in

ihren Ohren die Glaubenslehre die Wissenschaft

dessen ist, was man nicht weis;, Namen

sind Tunst.

also eben keine Wissenschaft.

Bis ein neuer sich

Geltung

verschafft

hat, mag der alte, hergebrachte stehen bleiben. Ich hoffe, das; auch diese Schrift zu guter Dtnndc komme. Der Kamps der freien Theologie gegen die überlebten Kirchensatznngen

der Bergangcnheit, wie

charakterlose Abschwächung

in den

gegen deren Princip- und beliebten Bermittlnngsver

suchen der Gegenwart, nimmt immer größere Dimensionen an und steigt

mehr und

mehr von de» Höben der Wissenschaft

in die Niederungen des kirchlichen Gebens bcrab. geht dadurch

einer

Tie Kirche

ticsgreisenden Uinwandlnng entgegen,

nicht mehr auszuhalten ist.

Dieser mächtigen Bcwegllng

die ihre

Gründe, ihre Ziele, ihre positiven Ergebnisse ;n zeigen, so weit dies die einzelne Kraft vermag, wird nicht ohne Berdienst sein. Meilen am Zürchcrsee,

15.

Februar

D e r

1868.

Berfa s s e r.

uebersicb t. «eite

Einleitung................................................................................. 1. Aufgabeder )ogntatik....................................................... 2. Die Togmati und die heilige Schrift.............................. 3. Schriftund üaditien........................................................

1—21 1—9 9—15 16—21

E v st o v Theil. Das christliche Princip ach seiueiu Grund mit1 Wesen....................22—180 Erster Abschnitt: DaS christliche Puicip als unmittelbar religiöses.................... 1. DaS Ehrienthnm nach Leftts.................................... 2. Das Elni enlhnm nach Paulus.................................... 3. Die Entneklungsstnsen des EhristenthumS ....

22—50 22—30 30—34 34—50

Zweiter Abschnitt: DaS christliche pi.uii uaa> kiiu'a tl;:a\':iid':u Voraussetzungen 50 180 A. Der Gei.'sbegrist im Allgemeinen .... . . 50 — 107 B. Gell nnt der Mensch................................................. 108 — 180 a. Der n:iirli-.be Mensch . . ............................. 110—126 I). Der giebliche Mensch . .. ...................................... 126 — 149 41 l.s

Ta* eivivie Veben .................................. Z ac OVMtecieul) . . ........................

....

•>-,on welchem auS es seine Wirkungen auf diese a«-üben kann, und bckenne sich herzhaft zu dem Gott der religiösen Phantasie, der int Hinmel als an einem über allen Welträumen erhabenen Orte thront und von dort a»S auf die Welt einwirkt! Denn dieser Gott, der durch die zwischen der Natur- und Sittenordnung offen gelaffene Lücke h einzelnen Willensentschließungen eingreift, ist in der That nichts Anderes, als der voin Denken noch nicht ergriffene, daher gedankmlose Rest der antiken, ptolemäischen Anschauung vom Weltgebäudc, ein Rest, der in der Phantasie derjenigen zurückbleibt, die unfähig sind, die kopernikanische Weltanschauung durchzudenken und die früheren Begriffe über Gott nach derselben gründlich zu verbessern. Und wie mit Raumschranken, so erscheint diese Gottesanschauung auch mit Zeitschranken umgeben. Da und dort, jetzt und dann, wann und wo er eS nöthig findet, wo in dem durch ihn gesetzten Zusammenhang der Weltnrsachen und Wirkungen etwas Verkehrtes, Schiefes, die Gesammtordnnng Störendes sich hervorthut, greift er ein, bringt zurecht, heilt und corrigirt! Ist das nicht ganz und gar ein menschenähnliches Wesen, das zuschaut, abwartet, was geschieht, und nach dem beobachteten Erfolg seine Maßregeln nimmt? Ist das ein Gottesbegriff, wie ihn ein auch nur Halbweg- gebildetes Denken ertragen kann? 2. Und was für eine Welt wäre daS, die, um ihren Endzweck zu erreichen, jeden Augenblick der auSbeffernden Hand bedürfte? Wenn die Raturordnung beständig darauf auS ist, die sittliche Ord­ nung zu hemmen und zu gefährden, und wiederum die sittliche Ordnung jede Stunde Gefahr läuft, sich selbst zu vernichten durch da- schrankenlose Gebahren der Freiheit, die zu ihrem Wesen gehört, so daß Gott immer auf dem Sprung sein muß, beiden zu Hilfe zu eilen — ist denn da- überhaupt eine Ordnung? Ist das nicht ein

Zweiter Abschnitt.

64

A.

tägliche» Zeugniß für die Unfähigkeit Gotte», eine ordentliche Welt hervorzubringen? er sagt:

Da wird Schopenhauer ewig Recht behalten, wenn

„diese Welt ist die schlechteste unter den möglichen; sie ist

nämlich so eingerichtet, wie sie sein mußte, um mit genauer Noth bestehen zu können; wäre sie noch ein wenig schlechter, so könnte sie nicht mehr bestehen." 3. Diese Gottesanschauung erweist sich als eine trübe Mischung zweier, wesentlich verschiedener Gottesbegriffe, eine» auf dem Wege de» Denken» und eine» auf dem Wege der Vorstellung entstan­ denen.

Die denkende Betrachtung erkennt Gott nur al» den der

Welt auf allen Punkten stet» gegenwärtigen Geist und die Welt nur als die einheitliche Gesammtheit göttlicher Ordnungen und Ge­ setze, die, weil Gott in ihnen stündlich seine Gedanken und seinen Willen auswirkt, durch ihren eigenen, nothwendigen Verlauf, durch da» Zusammenwirken der au» ihnen fließende» Ursachen und Wir­ kungen von selbst Gotte» Endzwecke verwirklichen, ohne jemals eine» nachhelfenden und corrigirendcn Eingriffe» zu bedürfen.

Dagegen

die noch in der Vorstellung befangene Betrachtung schaut Gott wie einen Werkmeister an,

der seinem Werk selbständig gegenübersteht,

daher durch eine von außen auf dasselbe eingreifende Thätigkeit daran verbessert und nachhilft.

Mit diesen beiden grundverschiedenen An­

schauungen wechselt die hier in Frage stehende Ansicht nach Belieben ab.

Gott ist der in allen Gebilden der Welt allgegenwärtig schaf­

fende, in ihnen seine Gedanken und seinen Willen auswirkende Geist, aber er ist außerdem noch der Werkmeister, der, außer und über sein Werk gestellt, durch freie Willensentschlüsse und einzelne WillenSacte in dasselbe eingreift.

Dieser letztere» Vorstellung erscheint der Gott,

dessen Wille sich nur in dem gesetzmäßigen Gange der Ordnungen seiner Welt, welche ja eben der Ausdruck seines Wesen» sind, voll­ zieht, al» ein in die „Zwangsjacke der Nothwendigkeit eingeschnürter" Gott, alS wäre es nicht schon für da» endliche vernünftige Wesen der höchste Grad von Freiheit, sich nur durch die Nothwendigkeit seine» eigenen Wesen» zu bestimmen! Dieser unklare, vorstellungsmäßige Theismus begegnet un» in der populären Vorstellung de» täglichen Leben», wie in den meisten

Der GottcSbegriff.

65

Werken unserer kirchlichen Dogmatik. Einige Erscheinungen deLeben-, besonder- die auffallenden, führt man unmittelbar auf daThuu Gottes zurück, erblickt darin den Singer Gotte-, andere leitet man au» dem geordneten Naturverlanf ab; einzelne Handlungen der Menschen entspringen au- ihrer Freiheit, andere unmittelbar an­ der Wirksamkeit Gotte-; die sündigen Handlungen kommen auf Rechnung de- Menschen, die guten ausschließlich auf Rechnung GotteS; die einen bösen Handlungen läßt Gott zu, weil er die Frei­ heit der vernünftigen Wesen nun einmal gewollt hat, andere hindert er, man weiß nicht warum'? auf die freien Wesen wirkt er ad modum cauaae liberae und doch kann er in jedem Augenblick ihre Freiheit beschränken oder aufheben; er kann einen Menschen verstecken, daß er sündigen muß, in einem anderen die Sünde vor dem Au-bruch zurückhalten; bald wirkt er „in der Form naturgemäßen Verlaufe-, bald in der Form übernatürlicher Wunderwirkungen"; aber die Grenze, wo da- Eine beginnt und da» Andere aufhört, kann weder im Leben, noch in der Wissenschaft bestimmt werden, d. h. Gott ist die unbegreifliche, an kein Gesetz der Wirksamkeit gebundene Willkühr, hinter welche sich da- theologische Denken und Phantasiren auch immer rechtzeitig versteckt, wenn e- sich durch seine eigenen Be­ stimmungen in unauflösliche Widersprüche verrannt hat. 4. Diese GotteSansicht kann nie ein Gegenstand wissenschaft­ licher Erkenntniß werden. Woher wissen die Vertreter dieser An­ sicht, daß Gott sich noch ander- offenbart, als in dem gesetzmäßigen Zusammenwirken der Causalitäten, deren geordneter Zusammenhang eben da- Universum ausmacht? Daß er neben diesem noch einen Spielraum hat für ein Extrahandeln, da- nur ein Handeln der Willkühr sein könnte? Jesu- ist int Sturm de- galiläischen Seenicht untergegangen. Was folgt hieran»? Etwa, daß eine über­ natürliche Macht durch die zwischen Naturordnung und Sittenordnung offene Lücke hereinlangte, um da- Erlösung-werk Jesu, da- sonst dem blinden Wüthen des Element- unterlegen wäre, zu retten? So schließt nur der Schwärmer, der die Bedingungen der Wirklich­ keit überfliegt, während hingegen der besonnene Mensch da- Schweigen Lang. Dt'gmalik. 2. Aufl.

5

Zweiter Abschnitt.

66

A.

des Sturmes ans ebenso natürliche» Ursachen ableitet, wie die Ent­ stehung desselben. Aber die erhörten Gebete?

Niemand ist je im Stande gewesen,

zu beweisen, daß die Gcbetscrhörung, d. h. das Zusammenstimmen des objectiven Erfolges mit dem subjectiven Wunsch, nicht die Folge der

natürlichen,

im

Wcltzusammenhang

angelegten

Ursache»

sei.

Wenn Luther bei der schweren Erkrankung Mclanchthon'ö „dem Herr­ gott den Sack vor die Thüre warf »nd ihm die Ohren rieb mit allen Verheißungen seines Wortes" und Melanchthon genas, darf sagen:

wer

die Genesung war nicht die nothwendige Folge der in

diesem Falle zusammenwirkenden natürlichen Ursache», sondern das Werl eines Gottes, der kraft einer speciellen WillenSentschließung, vermöge der Macht, die er haben muß, mit den Gesetzen und Kräf­ ten seiner Welt zn schalten nach seinem Gntstnden, herbeigeführt hat,

einen, Erfolg

der anS den vorhandenen Kausalitäten nicht ge­

flossen wäre? Wer kennt den dem Auge immer geheimnißvollen Zu­ sammenhang der in einem menschlichen Körper znsammenwirkenden Ursachen so genau, zu können:

um ohne die gröbste Anmaßung jenialS sagen

diese oder jene Rettung anS einer Krankheit war nicht

die natürliche Folge der endlichen, dabei thätigen Causalitäten? DaS Nachdenken

über die ErfahrnngSthatsachen der Welt

nöthigt nnS

wohl zum Glauben an den in allem Endlichen wirksamen Gott, von dem Tod und Vebeti, Noth und Rettung kommt, aber keine einzige Erfahrungsthatsache

führt nnö zu dem außer- und überwcltlichcn

Gott, der, über den Complex der in der Welt angelegten Ursachen übergreifend, kund gäbe.

sein Dasein

noch in

besonderen WillcnSacten

Wenn dieser Gott existirte, so wäre er wenigstens kein

Gegenstand menschlicher Erkenntniß;

er bliebe stets der verborgene,

unbegreifliche, wunderliche Gott, der dem Menschen täglich tausend Fragen auf die Lippen legt, für die er die Antworten schuldig bleibt. WaS hat Gott für Absichten gehabt, indem er jetzt so und so ge­ handelt hat?

Warum hat er da Ueberfluß, dort Mangel und Noth

hingelegt? Warum wird Dieser von der Kugel des Feindes oder der Pest hingerafft. Jener unter gleichen Umstäuden bleibt unversehrt? Warum ist Dieser blind geboren? Hat er gesündigt oder seine Eltern?

Der Gottelbegriff.

Wa»

Hit Gott dabei beabsichtigt?

Warum hat der Thurm zu Silo«

jene Galiläer unter seinen Trümmern Anderer sündig gewesen?

67

begraben?

Sind sie vor

Warum ist dort ein Schiff im Sturm

nntergezangen, während im gleichen Sturm hundert andere gerettet worden sind?

Solche Fragen müssen zu tausenden entstehen und

sich an jede Begebenheit anknüpfen, wenn Gott das Wesen ist, das dckdch den Keim'schen offenen Centralpunkt zwischen Naturorduung und sittlicher Wcltordnung jeden Augenblick hereinlangen und die durch die Acte menschlicher Freiheit gefährdete Ordnung der Dinge durch besondere WillenSacte zurechtlegen kann, um seine heiligen Endzwecke zu erreichen. Und die Antworten auf diese Fragen können, da die Gläubigen dieser Gattung selten so bescheiden sind, ihren Finger auf die Lippen zu legen, nur daö Erzeugniß der bodenlosen Wiükühr sein.

Jeder glaubt die jedesmaligen Absichten Gottes zu

kennen, und deutet sie, der Eine dahin, der Andere in'S Gegentheil, und Beide mit gleichem Rechte, weil wir zwar die Gesetze der Welt in langsamer Annäherung, aber die geheimen Gedanken Gotte- nie­ mals ergründe» können; der religiöse Partheistandpunkt, das Priester­ interesse, der Volksaberglaube, der geistliche Hochmuth und alle ge­ meinen Gelüste des Herzens

finden

bei dieser GotteSanschauung

trefflich ihre Rechnung, während die wirkliche Frömmigkeit nur ver­ wirrt wird und gegen die Zweifel,

welche der Weltlauf täglich er­

weckt, sich nur mit Gewalt erwehren kann. Denn 5. nicht bloß zeigt unS die Erfahrung, die einzige Grund­ lage richtiger Erkenntniß, nirgends diesen außerweltlichen, durch ein­ zelne Acte in

die Welt eingreifenden

Gott, sondern

so stark als möglich dagegen zu zeugen.

sie scheint

Als man Jemand

in

einem Tempel die Botivtafeln der Geretteten zeigte und dann mit der Frage zur Last fiel, ob er jetzt die gnädige Gottheit aner­ kenne, so antwortete er sehr richtig mit der Gegenfrage: „aber wo stehen die verzeichnet, die trotz ihrer Gelübde im Schiffbruch umge­ kommen sind?"

Wo zeigt sich dieser außerweltliche Gott, der durch

specielle Eingriffe in den Lauf der Welt die Collisionen zwischen der Naturordnung und der sittlichen Ordnung heben und die FreiheitSacte der Menschenwelt in Einklang setzen soll mit dem Bestand seiner 5*

Zweiter Abschnitt.

68

A.

heiligen Zwecke, so lange da- Wort des Dichters über das Glück auch mir einige Wahrheit behält:

„dem Schlechten folgt es mit

LiebeSblick, nicht dem Guten gehöret die Erde?" fe lange »och das Schicksal der Menschen in

so schreiendem Mißverhältniß steht zu

ihrer sittlichen Würdigkeit?

so

lange noch die Naturordnung die

edelsten Werke, welche die sittliche Ordnung der freien Wesen ge­ schaffen,

täglich in blinder Wuth zerstört?

so lange der Tod den

Taugenichts zu grauen Haaren kommen laßt und den Genius vor der Blüthe seiner Werke wegrafft? so lange das Gebahren menschlicher Freiheit Golgatha'- schaffen darf?

Diese Disharmonien haben die

Frömmigkeit in ihrem sicheren Glauben noch nie irre gemacht und die Wiffenschaft hat die Aufgabe, ihnen in der einmüthigen und ver­ nünftigen Weltordnung ihre Stelle anzuweisen, aber sie findet die Lösung nicht in einem Deus ex machina, der vielmehr überall mir da erscheint, wo das Denken über die Welt aufhört.

§ 8. Da Gott der der Welt allgegenwärtige Geist ist, so fällt die Wirksamkeit GotteS dem Umfang »ach mit dem Weltzusammenhang zusammen und die religiöse Betrachtung der Dinge ist darum auf allen Punkten der Welt mit der natürlichen vereinbar und wird von dieser gefordert. Die Wirksamkeit GotteS und der Weltzusammenhang fallen deni Umfang nach zusammen,

d. h. einmal:

Alles, was vermöge des

Naturzusammenhangö bewirkt wird, wirkt Gott, sodann: Alles, was Gott bewirkt, wirkt er nur durch den Naturzusammenhang. läßt sich

die fromme Weltbetrachtung,

Welterscheinungen auS Gott,

d. h.

Darum

die Ableitung aller

mit der natürlichen Weltbetrachtung,

d. h. der Ableitung aller Neuerscheinungen a»S ihren natürlichen, int Weltzusammenhang angelegten Ursachen, stets und überall ver­ binden, ja die letztere ist nur dann vollständig,

wenn die erstere

hinzukommt, und niemals kann die gesunde Frömmigkeit das Be­ dürfniß haben, eine Wirksamkeit Gottes anzunehmen, welche außer-

69

Gott und der Naturzusammenhang.

halb des Weltzusammeii Hangs, d. h. der Gesammtheit der im Uni­ versum wirkenden Kräfte und Ursachen, läge. 1. Alle-, was vermöge des Naturzusammenhang» gewirkt wird, wirkt Gott. ES ist ein allgemeine- Eigenthum unserer gegenwärtigen Bildung, alle Welterscheinnngen, die unS begegnen, au» natürlichen Ursachen abzuleiten, d. h. au» Ursachen, welche im Complex der im Universum wirkenden Kräfte liegen. vom Dach,

Da- Fallen eine» Sperlings

das Leben und Sterben der Individuen,

das Blühen

und Verwelken der Nationen, die Veränderungen der Weltkörper, die Entstehung der Erde — alle diese Erscheinungen sucht die gegen­ wärtige Wissenschaft aus natürlichen Ursachen abzuleiten,

und wo

sie dieselben in einem einzelnen Fall nicht entdeckt, läugnet sie nicht das Vorhandensein derselben, sondern beklagt nur ihre eigene Schwäche und hofft den Aufschluß von ihrer künftigen Erstarkung. Uebel der Welt,

Auch die

einst von einem zweiten Weltschöpfer (Demiurg)

oder von einem gottartigen bösen Wesen (Teufel) oder von bösen Göttern abgeleitet, sind wir gewohnt, aus der natürlichen Ordnung der Dinge zu erklären.

Uebel sind Hemmungen,

Schranken, die

von einem Weltwesen empfunden werden; sie sind vom Begriff einer Welt nicht wegzudenken, sie sind da- Loo» der Endlichkeit;

sie ent­

springe« mit Nothwendigkeit auS der Wechselbeziehung de» Einzelnen zum Ganzen, wie zu allen anderen Einzelnen.

Welt ist Mannig­

faltigkeit und Verschiedenheit; wo Mannigfaltigkeit und Eigenartigkeit ist, da muß dem Einen versagt sein, wa» da» Andere hat; die» ist seine Schranke, die unter Umständen ihm al» ein Uebel erscheinen muß. Zumal vom menschlichen Leben läßt sich da» Uebel in keiner Weise wegdenken. heißt:

Wachsen, sich entwickeln, körperlich oder geistig,

leiden, denn e- fetzt ein Abwerfen von verbrauchten Stoffen

voraus,

welche

bisher einen Bestandtheil de»

Körper»

oder de»

Geiste- ausgemacht haben, und die- ist immer mit Schmerz ver­ bunden.

Die geistige Entwicklung setzt ein Bekämpfe» und Weg­

werfen von Leidenschaften oder Vorurthetlen voran», jeder Kampf aber ist ein Leiden.

Die Erfüllung der menschlichen Aufgabe ist

ohne Leiden, ohne Uebel nicht denkbar. sich dienstbar machen,

Soll der Mensch die Erde

so geschieht da- nicht ohne Schweiß auf der

Zweiter Abschnitt.

70

A.

Stirne, da- bringt Schwülen an die Hände, krümmt den Rücken und ermüdet den Körper.

Soll er den Brüdern dienen, so verlangt

da- eine Hingabe seiner selbst,

ein Opfer,

eine schmerzliche Ber-

laugnung der natürlichen Bequemlichkeit und angeborenen TrägheitIn allen diesen Fällen da- Uebel denken als ein Nichtseinsollendes beißt: die wirkliche Welt auf den Kopf stellen, statt sie zu erklären. Auch die Uebel der Welt entspringen auö der natürlichen Ordnung der Dinge, aus dem Weltzusammenhang. vom Bösen

sagen

müssen.

Dasselbe werden wir auch

Daß daS Glied

in der natürlichen

Ordnung der Dinge, welches Mensch heißt, durch einen Zwiespalt seine- Eigenwillen- mit dem allgemeinen Willen hindurchgehen muß, wenn c6 seine Bestimmung im Weltganzen erreichen will, daß dieser

Zwiespalt ihm, sobald eS eine gewisse Stufe seines Gebens erreicht bat, als Sünde,

als etwas NichtseinsollendeS,

zu UeberwindendeS

zum Bewußtsein kommt und so seine höhere Entwicklung bedingt, daß au- einem sündigen Herzen ebenso nothwendig sündige Thaten folgen, wie der schlechte Baum schlechte Früchte bringen muß, daß zwischen Sünde und Uebel ein ursächlicher Zusammenhang besieht — da- Alle- ist in der natürlichen Ordnung der Dinge begründet und darum an- natürlichen Ursachen abzuleiten. WaS

ist aber die einheitliche Gesammtheit aller natürlichen

Kräfte, Ordnungen, Gesetze, aus denen die Welterscheinringen fließen, ander-, als der Ausdruck des stets und überall thätigen göttlichen Gedankens und Willens (§ 7)? so daß wir mit Recht sagen können: Alle-, was dem Naturzusammenhang zufolge gewirkt wird, Gott.

wirkt

„Kein Sperling fällt vom Dache ohne den Willen unsere-

himmlischen Bakers."

Natürlich!

Denn alle denkbaren Ursachen,

durch welche dieses kleine Ereigniß herbeigeführt werden kann, sind in der göttlichen Ordnung de- Ganzen begründet, und Thätigkeit des göttlichen Willens.

sind Ausdruck

Darum kann sich die fromme

Betrachtung der Dinge überall und stets an die natürliche anknüpfen. „Alle- ist durch Gott und Alle- durch natürliche Ursachen, und zwar nicht im Sinne etwa eines Zusammenwirkens zweier Factoren, son­ dern im Sinn zweier für jeden einzelnen Punkt nothwendiger Ge­ sichtspunkte.

Alles ist natürlich,

wenn auf die nächste Ursache im

Gott und bet Naturzusammenhang.

71

Weltzusammenhang gesehen wird, und Alle- durch Gott, wenn nach dem absoluten Grund gefragt wird, der durch die Gesammtheit aller endlichen Ursachen gleichmäßig sich vermittelt.

Da- Letztere ist die

Beziehung aller Punkte eines Kreises auf das Centtum, auf das alle gleich bezogen sind und wodurch allein sie alle zusammen den Kreis bilden.

Das Erstere ist die Beziehung jede- Punkte- auf den

nächsten Punkt vor- und rückwärts, durch welche Beziehungen in ihrer Gesammtheit ebenfalls erst der ganze Kreis besteht."') AuS dem Uebcrsehen dieser Wahrheit stammt jene einer einsei­ tigen Frömmigkeit so gewöhnliche Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem, zwischen dem,

woran die fromme Betrachtung sich

anknüpfe» kann, und dem, waS sie ausschließt.

Ich lasse Dr. Pier­

son ') in seiner pikanten und mieteten Art darüber reden:

„DaS

Maß der Achtung, welche der Fromme den verschiedenen Dingen der Erde zu widmen pflegt, läßt sich genau bestimmen, wenn man untersucht, welche Dinge eS sind, die er mit dem Gedanken an Gott in Verbindung zu bringen sich getraut. In Betreff aller kirchlichen Dinge hat er diese» Muth sogleich, ohne im Geringsten zu zaudern. Er findet eS natürlich, Gott zu danken für einen guten Prediger; hingegen Gott zu danken für einen vortrefflichen Lehrer der Chemie, das fällt ihm nicht ein.

Ungern würde er einer Religion-Übung

beiwohnen, ohne vorher den Höchsten um seinen Segen gebeten zu haben; doch wird er sich keineswegs zu diesem Acte verpflichtet füh­ len, wenn er sich zum Besuch einer berühmten Gemäldegallerie an­ schickt.

Den Leib mit warmer Speise zu erhalten, ohne vorher eine

Weile die Hände gefaltet und die Augen geschloffen zu haben, da­ wäre freilich ein heidnisches und gottlose- Beginnen.

Ein Septuor

von Beethoven aber darf füglich angehört und ein Apollo von Bel­ vedere sehr wohl betrachtet werden, ohne daß man Gott zu danken hat für den seltenen, uns zu Theil gewordene» Genuß. und Getränke giebt Gott, natürlich nicht.

Speisen

einen Septuor aber und Apollo giebt er

Wa- wäre angemessener, al- Gott zu loben dafür,

*) Biedermann „Zeitstimmen" 1862 @. 151. ’) , .Richtung und Leben" S. 265.

72

Zweiter Abschnitt.

A.

daß er unS ;. B. „die Apostelgeschichte" geschenkt hat? Dagegen im Besitze der JliaS oder deS Shakespeare'schen Macbeth einen Beweis von Gotte- Liebe zu sehen, wie sonderbar wäre das nicht?" In der Geschichte deS jüdischen- Volkes den Singer Gottes, einen Spiegel göttlicher Führungen und Offenbarungen zu sehen, daS betrachtet man als etwas Selbstverständliches, aber in der Entwicklung des griechischen oder römischen Volkes in demselben Maße den Finger Gottes, das Walten göttlicher Kräfte, die Geschichte göttlicher Rathschlüsse und Führungen zu erblicken, dazu entschließt man sich schwer, als ob sich das göttliche Denken nicht ebensosehr in der Idee der Schönheit oder des persönlichen Rechtes manifestirte, als in der Entwicklung der religiösen Mahrheil. Die Entwicklung des jüdische» Volkes als deS Trägers der monotheistischen Gottesidee ist auS der natürlichen Anlage dieses Volkes genau ebenso zu erklären, wie die Geschichte dcö griechischen oder römischen Volkes auS der einem jeden angeborenen Begabung im Zusammenhang mit all' den natür­ lichen Ursachen (Klima, Boden re.), die auf die Bildung einer Rationalität einwirken. Man findet es natürlich, in der Erscheinung Jesu Christi die Wirksamkeit GotteS zu verehren, aber nicht so natürlich, die Er­ scheinung eines Göthe oder Shakespeare auf die gleiche Weise zu erklären. Jesus, meint man, ist nicht aus dem natürlichen Zu­ sammenhang der Weltursachen zu erklären, seine Person ist kein Product seiner Zeit, der im menschlichen Geschlecht wirkenden, also natürlichen Ursachen, sondern hier hat Gott außerordentlich über den Weltzusammenhang übergegriffen, Ursächlichkeiten, die in ihm nicht enthalten waren, in ihn hineingelegt und zur Wirksamkeit ge­ bracht und so durch ein besonderes, nicht ans natürlichen Ursachen abzuleitendes Handeln ein Neues gesetzt. Aber woher weiß man Das? Je mehr die Wissenschaft die Zustände jener Zeit nach allen Seiten erforscht, desto mehr begreift sic auch daS Christenthum als das natürliche Product der geistigen und materiellen Kräfte, welche damals zusammenwirkten. Die Appellation an eine unmittelbare Wirksamkeit GotteS mit Ueberspringung und Aufhebung der natür­ liche» Weltursachen erweist sich der fortschreitenden Wiffenschaft

73

Gott und der Naturzusammenhang.

gegenüber auf allen Gebieten als ein Ausspruch der Unwissenheit. Die Erscheinung Jesu ist genau ebenso natürlich und begreiflich, alS die Erscheinung Göthe'S oder Shakespeare'-, nämlich aus all' den natürlichen Ursachen,

welche bei der Entstehung dieser Geister zu­

sammengewirkt habe»— soweit überhaupt da- Leben und die individuelle Existenz erklärt und begriffen werden kann. DaS Leben bleibt ja immer ein Räthsel; daS Individuum, d. h. die Zufainmenfassung aller in einer Zeit wirkenden Factoren zu dieser ganz eigenartigen Existenz, ist immer ein Geheimniß, daS von der Wissenschaft nur als Thatsache hingenommen, betrachtet, nach seinen Eigenschaften und Factoren erforscht, werden kan».

aber nicht

weiter" analhsirt

Das ist ja das Wesen und die Schranke aller mensch­

liche» Erkenntniß, das; ihr Object stets Gegenstand für sie bleibt, der von ihr nicht aufgezehrt wird und niemals allen Schleier, alleGeheimniß verliert. Aber diese Eigenschaft der Nichtdurchdringlichkeit für die Erkenntniß, des noch zurückbleibenden Geheimnisses hat alleindividuelle Leben mit der Individualität Jesu gemein, haben darum keinerlei Ursache,

und wir

bei seiner Entstehung ein andere-

Verhalten Gottes zum Natnrznsammenhang anzunehmen, alS bei der Entstehung alles übrigen organischen und individuellen Leben-. diesem Sinne giebt es keinen „Einzigen" oder,

In

wa- dasselbe ist,

jeder Einzelne ist ein Einziger. Die religiöse Betrachtungsweise ist somit auf allen Punkten der Welt mit der natürlichen vereinbar. Aber noch mehr! sie wird von dieser gefordert.

Diese gelangt nur zur Einheit und wird Wissen­

schaft, wen» sie von jener begleitet ist, in welchem Sinne Schleier­ macher in seinen „Reden über die Religion" jede richtige Auffassung der Welt für religiös erklärt hat. dadurch zur Wissenschaft,

Die Naturforschung wird nur

daß sie nicht bloß da- Einzelne im Zu­

sammenhang mit dem ihm zunächst stehenden Einzelnen und so in'Endlose zusammenstellt,

sondern

alle Welterscheinungen als Theile

eine- „ÄoSmoS", eines com Geiste geordneten, einmüthigen Ganzen zur Einheit des WeltgedankenS zusammenzufassen sucht, wie eS Alex. Humboldt auf der Höhe der gegenwärtigen Erkenntniß in seinem berühmte» Werke

zu thun

versucht hat.

Der Geschichtschreiber,

74

Zweiter Abschnitt. A.

wenn er wissenschaftlich verfahren will, wird in dem Gange der Weltereignisse, die er allerdings je auf ihre nächsten natürlichen Ursachen ansieht, doch nicht umhin können, eine Idee zu suchen und in ihrem Lichte den masienhaften Stoff zu ordnen und zu gestalten, mag er nttn diese Idee in dem Worte Hegcl's: „die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit," oder in dem Worte Schiller'-: „die Weltgeschichte ist daS Weltgericht" oder wie sonst ausgedrückt finden; in jedem Fall schaut er in den Ereignissen daS Walten einer Ziele und Zwecke verfolgenden, ^aher denkend verfah­ renden, mit Bewußtsein handelnden geistigen Macht. Diese in Allein zu erkennen und zu verehren, ihrem Wirken mit Demuth zuzuschauen, wirb die Religion bc6 Geschichtsforschers feilt. Und so munden alle Wisienschaften zuletzt in die Religion aus. 2. Alles, was durch den Naturzusammenhang bewirkt wird, wirkt Gott, darum ist die religiöse Wellbetrachtung auf allen Punk­ ten mit der natürlichen vereinbar. Aber auch. Alles, was Gott bewirkt, wirkt er durch den Naturzusammenhang. Die Behauptung, Gott wirke Einiges außerhalb des NatnrznsammenhangS und neben demselben, kommt vom Standpunkte unseres GotteSbegriffö aus an Seltsamkeit der Aussage gleich, ein Mensch sei eine Meile weit ge­ laufen, nachdem er seine Beine an den Nagel gehängt habe, oder ein Mensch habe gedacht, nachdem ihm das Gehirn, das nothwendige Organ des Denkens, aus dem Kopse herausgenommen worden sei. Der Wunderbegriff, d. h. der Begriff eines Gottes, der außer dem Naturzusammenhang, d. h. außer dem, was aus der Verknüpfung der im Universum angelegten Ursachen mit Nothwendigkeit folgt, noch besondere Thätigkeiten vollziehe, ist ungereimt. Diese Unge­ reimtheit fällt nicht auf daS Haupt derjenigen, welche solche Dinge erzählt haben, die die jetzige Wellbetrachtung unter den Wunder­ begriff stellt (z. B. auf die biblischen Schriftsteller); sie fällt nicht den Zeiten zur Last, in welche» die Phantasie Gott Weltwirkungen zuschrieb, die der jetzigen Erkenntnißstufe als miraeulöS, darum als unmöglich erscheinen. Den Zeiten, aus welchen die Wundererzäh­ lungen stammen, waren die „Wunder" noch natürlich. Sie kann­ ten den Unterschied, auf welchem der jetzige Wunderbegriff beruht,

75

Gott und der Naturzusammenhang.

zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen (supranatnralen) Thätigkeit Gottes nicht,

weil sie weder den Begriff der Natur,

wie wir ihn jetzt kennen, als eines ununterbrochenen Zusammen­ hangs

stetiger Gesetzmäßigkeit, noch so manche einzelne Gesetze de-

GeschehenS kannten, die eine Entdeckung der neueren, auf die Er­ forschung der Natur gerichteten Wissenschaft sind.

Der Begriff einer

übernatürlichen (d. h. im Zusammenwirken der natürlichen Welt­ ursachen nicht enthaltenen) Wirksamkeit GotteS setzt den Begriff der Natur und einer Wsffenschaft der Natur voraus.

„Wo kein Begriff

oder keine Wissenschaft der Natur ist, kann auch nicht die Rede sein von Erscheinungen, die gemäß oder über der Natur erfolgen.

Nun ist

eS bekannt, daß die Bibel weder das Wort Natur in dem bestimmten Sinne, den dieses Wort jetzt hat als die organisch zusammen­ hängende Gesammtheit der sichtbaren und unsichtbaren Erscheinungen, noch die Sache,

die dadurch ausgedrückt wird,

kennt.

Der alte

Hebräer nimmt Erscheinungen um sich und in seinem eigenen Leben wahr, sieht aber in diesen Erscheinungen keine Wirkung von Natur­ kräften, sondern unmittelbare Wirkungen und Inspirationen GotteS. Ob Etwas natürlich, übernatürlich oder gegennatürlich ist, weiß er nicht, weil er keinen Maßstab hat, wornach er sein Urtheil darüber feststellen kann.

Glaubt er an Thatsachen, die eine spätere Zeit als

unmöglich, weil unverträglich mit der Ordnung der Natur, glaubte abweisen zu müssen,

so thut er dies,

weil er,

unbekannt mit der

Natnrordnung und ohne historische Kritik der Ueberlieferung

ver­

trauend, glauben kann, daß solche Thatsachen Statt finden konnten. Daß daö Eisen auf dem Waffer schwimmt, ist, da ihm da» Gesetz der Schwerkraft unbekannt ist, in seinen Augen ebenso möglich, wie daß e» untersinkt, das Erste ist ihm ebenso wenig unnatürlich oder übernatürlich, als daS Andere natürlich ist. die Sache historisch,

wie er meint,

ES ist ihm genug, daß

constatirt ist,

und ist die- der

Fall, dann sieht er sowohl in dem gewöhnlichen Lauf der Sonne, al»

im Stillstand derselben zu Iosua'S Zeit,

eine That GotteS.

Der einzige Unterschied, den er machen kann, ist der zwischen ge­ wöhnlichen

und außergewöhnlichen

Thaten GotteS.

Der rollende

Donner und der Blitz, Sturmwind und Regen, Geborenwerden und

76

Zweiter Abschnitt.

A.

Sterben, Gesundheit und Krankheit, Glück und Unglück, jede Er­ scheinung ist in seinen Angen eine unmittelbare Wirkung Gottes. DaS Leben der Mensche» und Thiere ist Gottes Odem, Knnsttalent, Heldenmuth, Weisheit, Frömmigkeit ist Geist des Herrn; jede mensch­ liche Ueberleguiig, das Her; des Königs ist in der Hand deS Herrn wie ein Strom, den er lenkt nach Wohlgefallen. Was der Prophet in seinem Innersten vernimmt, jeder erhabene Gedanke, jeder Drang nach etwas Großem oder Edelm ist Inspiration oder Offenbarung Gottes. Selbst die sündigen Gedanken und Thaten der Menschen haben ihren Grund in Gott, der da« Herz deS Pharao verstockt (Exod. 7, 3), einen Lügengcist in seine Propheten sendet, um Ahab zu Fall zu bringen (1. Kvn. 22, 21—29), David reizt, das Polk zu zählen (2. Sam. 24, 1) und die Augen der Menschen verblendet, so daß sie die Wahrheit nicht sehen (Jes. 6, 9. 10 u. s. w.). Bon irgend einem Gegensatz zwischen natürlich und übernatürlich weiß die Religion deS alten Hebräers Nichts. Der einzige Factor aller Dinge ist Gott; er spricht und es ist, er gebietet und es steht da." *) Aehnlich verhält eS sich mit dem Renen Testament. „Auch in den Aussprüchen deS Reuen Testament- hat der SnpranaturaliSmnS oder die Lehre, welcher zufolge das Göttliche dem Menschlichen als Uebernatur der Natur gegenübersteht und als solches in das Mensch­ liche auf übernatürliche Weise eingreift, keinen Grund. Der Mensch und Gott habe» dieselbe Natur. Der Mensch ist von Gottes Ge­ schlecht (Act. 17, 28) und bestimmt, der göttlichen Natur theilhaftig (9tiag (pvoewg xoivwvdg 2. Petr. 1, 4), vollkommen zu werden, wie Gott (Matth. 5, 48). Auch das Wunder in der sichtbaren Welt ist keine übernatürliche Thatsache, da auch jetzt noch von Natur keine Rede ist, sondern eine außergewöhnliche Wirkung der göttlichen Allmacht. Daß Christus von den Todten auferstand, ist in den Augen der Schriftsteller deS Neuen Testaments nichts UebernatürlicheS, da Niemand auf Grund der Logik, der Physiologie oder Chemie etwas Gegennatürliches darin sah. Im Gegentheil, was f) Schölten „ Snpranaturaliame in verband met bijbel, christendom en protestantiame” Leiden 1867. S. 9. 10.

Gott und btt Raturzusammmhang.

77

mit JesuS geschah, hing mit der herrschenden Eschatologie aufGenaueste zusammen (Matth. 22, 23) und besonders bei Paulu» mit der Lehre, daß, wie durch die Sünde der Tod in die Welt ge­ kommen sei, so auch die Vernichtung der Sünde nothwendig die deTodeS zur Folge gehabt habe. Die Vernichtung de- Tode- ist nach jüdischer Weltanschauung die Auferstehung von den Todten. Niemand hielt eine solche Auferstehung für etwa- UebernatürlicheS, da sie an­ der Weltanschauung jener Zeit in Verbindung niit ethischen Prin­ cipien von selbst, d. h. natürlich erfolgte. Und was mit Christus geschah, das sollte nach Pauluö allen Gläubigen zu Theil werden. So war da- vom Supranaturali-mu- als Ausnahme Betrachtete in der ethischen Weltanschauung de» Panlu» Regel; da- später als nichtnatürlich Taxirte für ihn Natur, das Besondere allgemein und da- Wunder verlor, sofern eS eine Aussonderung aus dem natür­ lichen Lauf der Dinge fein sollte, seine Bedeutung."') Die Wunderfacta entstammen den Zeiten, welchen der Natur­ begriff noch fehlte, die Wundertheorie bildete sich zugleich mit der Entstehung de- Naturbegriffs. Diese Geschichte de- Wunderbegriff- ist zugleich sein Gericht. Die Wundertheorie macht Erzeugniffe der Phantasie und Poesie in prosaischem Unverstand zu Weltgesetzen. Sie macht einer Zeit, welche von der strengen und stetigen Gesetzmäßigkeit alle- Geschehens überzeugt ist, die Zumuthnng, ihre auf dem Weg der Beobachtung und Erfahrung ge­ wonnene Welterkenntniß zu modeln nach den Vorstellungen einer Zeit, die jene Gesetzmäßigkeit noch nicht kannte; sie muthet dem Manne zu, die Schuhe des Kindes anzulegen. Durchdrungen, wie sie es wenigstens bei den meisten Vertheidigern des Wunder» in der Gegenwart ist, von der Wahrheit des heutigen NaturbegriffS und von der strengen Gesetzmäßigkeit de» Weltverlaufs, will sie doch zugleich die Ungesetzmäßigkeit desselben für gewisse Zeiten der Ver­ gangenheit festhalten und geräth so von einer Faselei in die andere, indem sie diese Nichtgesetzmäßigkeit doch wieder als eine Art Gesetz­ mäßigkeit begreifen will, sei eS als die Gesetzmäßigkeit einer höheren ') L. c. S. 17. 18.

78

Zweiter Abschnitt. A.

Ordnung, die in die Ordnungen der nnS bekannten Welt dann und wann geheimnißvoll eintritt, sei es als die wahre und eigentliche Gesetzmäßigkeit gegenüber der gegenwärtigen verkehrten, erst durch die Sünde so gewordenen. Z. B. daß der Brodlaib durch Brod­ essen sich verringert, ist allerdings ein Gesetz der Natur, aber der durch die Sünde verkehrten Natur; in der Speisung der Fünftau­ sende mit fünf Broden, wobei noch zwölf Körbe übrig bleiben, zeigt sich die wahre, vor dem Eintritt der Sünde vorhanden gewesene Leistungsfähigkeit unserer irdischen Natur. Daß der Mensch im Wasser untersinkt, entsteht aus dem Mangel an sittlichem Gleich­ gewicht seines Wesens; der Mensch, in welchem dieses Gleichgewicht wieder hergestellt war, d. h. Christus, konnte nicht bloß, sondern mußte naturgesetzlich auf dem Wasser aufrechtstehend wandeln. Man erweist diesen Faseleien, zu welchen jeder wundergläubige Theologe der neueren Zeit seinen eigenen Beitrag geliefert hat, zu viel Ehre, wenn man sie mit Gründen widerlegt. Diejenigen, welche die Welt der Hesiodischen oder Homerische» Gesänge 51111t Maßstab der Gottes­ und Welterkenntniß machen wollten, wiirde Jedermann unbedingt für Thoren erklären; wenn man den Theologen der Gegenwart gegen­ über, welche mit der ebenso phantasievollen Welt der Bibel auf diese Weise verfahren, anders urtheilt, so kann das nur die Folge reli­ giöser Vorurtheile sein, die das unbefangene Urtheil trüben. Der Eigensinn, mit welchem ein Theil der Theologen die Wunder wenig­ stens für vergangene Zeiten retten will, ist um so weniger zu ver­ antworten, alö die kritische Geschichtsforschung unserer Tage über die Entstehung und Beschaffenheit der alt- und neutestamentlichen Schriften, denen zu lieb man die Wunder nicht fallen lassen will, Aufschlüsse gegeben hat, welche jede Nöthigung ausschließen, die Wunderabschnitte auf Augen- und Ohrenzeugen zurückzuführen. Die Wissenschaft kennt keine Wunder und auch die Frömmigkeit hat kein Interesse, in irgend einer Welterscheinung ein Wunder zu sehen; ihr genügt es, zu wissen, daß Allee, was durch den Natur­ zusammenhang gewirkt wird, von Gott bewirkt ist. In den Zeiten, in welchen der Wunderglaube noch naiv war, und man eben darum den Kitzel noch nicht verspürte, einer gefürchteten Wissenschaft zum

Gott und der Naturzusammenhang.

79

Trotz auf die Wunder zu pochen, haben die wahrhaft frommen Menschen nur einen geringen Werth auf dieselben gelegt. Jesuhat die Wundersucht seiner Zeitgenossen zurechtgewiesen und da­ wahre Erkennungszeichen de- Gottesgesandten in der Predigt des­ selben (im Zeichen des JonaS) gefunden (Luc. 2, 29ff.); er hat den Satan abgewiesen, der ihn zu einem Wunderthäter machen wollte (Matth. 4, 6); er hat gewarnt vor einem auf Wunder ge­ gründeten Glauben, da auch falsche Propheten durch ihre Zeichen und Wunder die AuSerwählten verführen wollen (Matth. 24, 24). PanluS hat sich den Juden gegenüber, die Zeichen suchen, auf den Gekreuzigten berufen al» den einzigen Inhalt seiner Predigt. Daß der vierte Evangelist den Glauben um der Wunder willen al- eine niedere Stufe de- Glauben-, die der Geistesmensch hinter sich lassen müsse, sehr gering taxirt und die Wunder selbst mit Bewußtsein lediglich als Hüllen, als Einkleidung-form für seine Ideen theilbenutzt, theils frei erfunden hat, zeigt jeder Blick in seine Schriften. Bon Luther sind die nicht seltenen An-sprüche bekannt, in welchen sich sein gesunder Sinn auch in dieser Frage über seinen angeerbten Kirchenglanben erhoben hat. Die Thatsache, daß jährlich in der Natur Alles wachse und grüne und Pflanzen, Thiere und Menschen erhalten werden, erklärt er für ein größere- Wunder, al- die Brod­ vermehrung. Die sichtbaren Wunder, welche die Geschichte erzählt, hält er für Kinderspiel im Vergleich mit den hohen Wundern, die Christus täglich in der Christenheit wirke, daß nämlich da- Evan­ gelium bleibt und die Menschen bessert; da- heißt erst recht den Teufel au-treibcn, Schlange» verjagen und mit Zungen reden: „die sichtbaren Wunder, sagt er mit Berufung auf Paulus, sind Zeichen für den unverständigen und ungläubigen Haufen, dem man die Wunder vorhält, wie den Kindern Aepfel und Birnen; aber wir, die wir an's Evangelium glaube», was haben wir ferner- mit Wundern zu schaffen?"

80

Zweiter Abschnitt. A.

§ 9. AIS der der Welt auf allen Punkten gegenwärtige Geist ist Gott einerseits der schöpferische Grund der Welt, von dem und durch den alle Dinge sind, andererseits der Zweck der Welt, zu dem alle Dinge sind.

1. Alle Welterscheinungen, die je dagewesen sind und noch kommen werden, sind die That de» i» Zeit und Raum sich offen­ barenden göttlichen Gedankens und Willens, daher die Welt schlecht­ hin abhängig von Gott, Gott der schöpferische Grund der Welt. Die Weltentwicklung ist auf allen Punkten ein Ausdruck der in sichtbar«» Formen sich auswirkenden göttliche» Vernunft, ober, wik Rothe sich ausdrückt, „die unendliche, aber organisch einheitliche Viel­ heit concentrischer Kreise, die vermöge der eontinuirlichen, schöpfe­ rischen Wirksamkeit Gottes sich in einer stetigen, nie abbrechenden Reihe aus einander herausgebären und in denen einzeln betrachtet da- Wesen der göttlichen Natur wirklich absolut zu Stande kommt, nämlich nach Maßgabe der in jeder einzelnen Reihe durch ihren Begriff gegebenen eigenthümlichen Bedingungen,') eben deshalb aber an sich angesehen nur in relativer Weise, d. h. so, das; zu der gött­ lichen Natur an sich ihr zu Stande gekoinmcucS kosmisches Sein sich immer inadäquat verhält. Ohngeachtet jede folgende Sphäre ein seinem Begriff immer adäquateres Wcltsein Gottes realisirt, so ist doch diese Adäquation immer nur ein geringerer Grad der In­ adäquation und diese letztere verharrt in'S Unendliche fort als ein nie ganz zu tilgender Rest." Darum hat die Welt weder einen Anfang noch ein Ende. Die religiöse Phantasie hat ihrem Wesen gemäß die Abhängigkeit der Welt von Gott dadurch auszudrücken und anschaulich zu machen gesucht, daß sie die Welt in einem bestimmten Zeitpunkt durch Gott in'S Dasein rufen ließ. Aber der Gedanke einer zeitlichen Welt­ schöpfung ist unvollziehbar. Gott vor der Weltschöpfung wäre der l) Oder, wie Schleiermacher sich ausdrückt, je nach der Einpjänglichkeit des endlichen Seins, auf dessen Thätigkeiten die Allgegenwart Gottes bezogen wird (christl. Gl. S. 252).

Gott brr Grund und Zweck brr Wrlt.

81

Geist an und fUr sich, d. h. eine leere Abstraktion, die dem Nichts gleichkommt; Innere.

Geist

ist da- in einem Aeußeren

sich offenbarende

Geist und Stoff, Innere- und Aeußere», Gott und Welt

find correlate Begriffe, bereit jeder nur durch den anderen vorhan­ den ist,

abgesehen davon, daß durch eine zeitliche Welterschaffung

Gott au- einem vorher müßigen ein thätiger würde,

wodurch eine

Zeitbestimmung in Gotte- Wesen gesetzt und diese- somit verendlicht würde.

Da»

hat auch

die

religiöse

Vorstellung frühe gefühlt.

Darum umgab schon die hebräische Philosophie Gott vor der Weltschöpfttng mit der Weisheit 'als einer Tochter, die vor seinem Angesichte spielte (Hiob 28,25—27. Spr. 8,22—31. WeiSh. 9,4.9). Die Weisheit war die Weltidee in Gott, nach welcher er die sicht­ bare Welt schuf.

AuS ähnlichen Anschauungen floß die platonische

Ideenwelt (xoofiog votjtdg), aus welcher die sichtbare Welt (xooftog

OQtnog) dadurch hervorging, daß die Materie (Lly) durch die Idee so

weit

gestaltet wurde,

als sie für diese Gestaltung überhaupt

empfänglich war, weiterhin der 9ogoS der alexandrinifchen Philoso­ phie und zum Theil die christliche Dreieinigkeitslehre. sind die Bestrebungen neuerer Philosophen.

Verwandt

Weiße, auf den Fuß­

tapfen vieler Vorgänger, sucht in seiner „philosophischen Dogmatik" die zeitliche Weltschöpfung auS Gott mit einer vor der sichtbaren Welt vorhandenen Welt in Gott zu verbinden.

Ihm zufolge ist das

erste Moment im Begriffe Gottes die unendliche Dasein-möglichkeit, in der alle anderen Möglichkeiten eingeschloffen sind, nicht als eine Vielheit unterschiedener Dasein-bestimmungen, sondern als die schlecht­ hin mit sich identische Unendlichkeit des Möglichen, das erst bei sei­ ner Verwirklichung in die Unterschiede und Gegensätze, die darin enthalten sind, auS einander tritt.

Diese Urmöglichkeit ist noch nicht

Gott, sie ist der Grund in Gott, die seinem Selbstbewußtsein vor­ ausgesetzte Natur in Gott.

Aus diesem erst möglichen Gott entsteht

der wirkliche, der persönliche, selbstbewußte Urgeist dadurch, daß er sich durch einen zeitlichen Doppelact de- Denken» und Wollen« zum Herrn über den ihm vorausgesetzten Grund macht. Indem der jetzt selbstbewußt gewordene Gott seinen Grund, die unendliche Dasein»« Möglichkeit, zum Object seine» Denken» macht, entsteht eine BilderLang, Dogmatik.

2. Aufl.

ß

82

Zweiter Abschnitt.

A.

und Gestaltenwelt, die im göttlichen Gcdankenstrom unaufhörlich aufund abschwimmt, ein unablässig fließender Strom von Zeugungen, durch welche Gott schon

vor der Weltschöpfunz den

Raum und die unendliche Zeit erfüllt; ment de- göttlichen Bewußtseinaber

nicht wirklich real,

nicht

uiielidlichen

diese ganze im idealen Ele­

schwimmende

Rcalitätenfülle ist

individuell begrenzt, sondern nur

schwimmend, fließend, unaufhörlich auf- und »iedertauchend im un­ endlichen Raum,

weil

noch

keine materielle Welt vorhanden

ist.

Diese Gestalten und Bilder der göttlichen Imagination sind zwar die Dinge der wirklichen Welt,

die körperliche» sowohl,

als die

geistigen, nicht nur ihrer allgemeinen Möglichkeit nach, sondern als wirkliche Erscheinungen, aber noch nicht von der zeugenden Potenz de- göttlichen Gedanken- abgelöst, auö der sie erst dann heraus­ treten, wenn der göttliche Wille seine Kraft und Wesenheit in sic hineingelegt hat. Diesen Gottesbegriff mit ernstlichen Gründen

bekämpfen

wollen, wäre ebenso thöricht, als ei» Mährchen zu widerlegen.

zu Ein

au- dem dunkeln Grund seines Wesens sich allmählig durch einen zeitlichen Doppelact des Denkens und WollenS zum Selbstbewußtsein emporringender, gegen den Andrang der au- seiner Daseins­ möglichkeit herausquellenden Bilder und Gestalten sich mühsam er­ wehrend, bis er glücklich das Thor findet, durch das er sie in eine Welt außer ihm entlassen und die Sturmer sich gleichsam vom sieibe schaffen kann;

Gestalten in Zeit und Raum,

ohne eine materielle

Welt, die Dinge der wirklichen Welt, die körperlichen sowohl, als die geistigen, und doch nicht körperlich, nicht real, nicht individuell begrenzt — was würde Kant sagen zu so tollen Begriffen, die jeder Zucht de- Denken- spotten?

Aber die Entstehung dieser Begriffe

ist begreiflich; sie haben ihren Grund in der Vorstellung einer zeit­ lichen Weltschöpfung.

Ist die Welt zeitlich ans Gott hervorgegangen,

dann muß sie irgendwie vorher schon in ihm gewesen sein; den» wie der reine, zeitlose, immaterielle Geist eine materielle Welt in Zeit- und Raumform sollte erschaffen oder aus sich entlassen können, begreift aller­ dings Niemand. Aber das nöthigt nicht, neben dieser wirklichen Welt eine zweite, die ohnehin sich nur als eine blasse Copie von jener erweist, in Gott

Gott der Grund und Zweck der Welt.

83

zu setzen, sondern nur, die ganze Frage als eine vorwitzige, müßige zu streichen.

Sobald der Mensch über die Bedingungen der wirk­

liche» Welt hinaus, ans welcher er allein den Stoff seines Denkens entlehnen kann, zu speculiren beginnt, geräth er in das Wolkentreten. Das lebendige Ineinander von Geist und Stoff, d. h. die Welt, bildet die Voraussetzung unseres Denkens und unsercr Erfahrung; dieses Ineinander aus einander zu reißen und zu fragen:

wie ist

das Eine zeitlich aus dem Anderen entstanden? wie ist der Geist auS dem Stoff oder der Stoff aus dem Geiste hervorgegangen? wie ist die Welt geworden? das heißr die Welt zerschlagen, dem Denken seinen Boden wegnehinen und beim Nichts, d. h. beim Undenkbaren anlanden.

Fragen: wie ist die Welt entstanden? heißt von der Welt

abstrahiren und sie in Gedanken als eine nicht vorhandene setzen. Wie kann aber der Mensch von der Welt abstrahiren, die doch nicht nur die Bedingung seines Denkens, sondern auch seiner Existenz ist? Wie kann er sie als eine nichtseiende denken, begriffe

selbst Formen derselben sind?

da doch seine Denk-

Wie soll der Mensch mit

Weiße zur Kenntniß dessen gelangen, waS gewesen sei, ehe die Welt gewesen sei, da für ihn hinter dieser Welt als dem Gegen­ stand, wie der Bedingung alles Erkennen- nothwendig das Nichts liegen müßte? Mit Recht ist unsere Zeit der luftigen Specnlationen, der bodenlosen Abstractionen müde und verlangt eine Philosophie auf Grund der Erfahrung. Weiße'S (Baader'S, Schelling'S u. f. w.) Gottesbegriff ist eine nur noch phantastisch mythologischere Wieder­ holung deS platonischen DualiSmuS, deS xna/uog vorwog und ogarog als zweier neben und außer einander bestehender Sphären, während die Erfahrung und die auf Erfahrung gegründete Wissenschaft beide nur

in einander kennt.

„Das Universum ist eine Ordnung,

in

welcher weder von Geist noch von Stoff an und für sich und ge­ schieden von einander die Rede sein kann,

sondern beide sich auf­

lösen in den Begriff von Leben, wirksamer Kraft, schaffendem Geist, eine Ordnung, die unserer empirischen Wahrnehmung sich kund giebt in sichtbaren, ruhelos sich verändernden Formen, während die Ver­ nunft in de» wahrgcnominencn Erscheinungen Zusammenhang, Ein­ heit, unveränderliches Gesetz, Uebereinstimmung erkennt und so durch

Zweiter Abschnitt. A.

84

daS sichtbare Kleid der Natur hindurchdringen lehrt 31t dem unsicht­ baren Wesen, Leben, Kraft, Weisheit, mit Einem Wort zu Gott. Dieser Gott ist kein Wesen, daS, früher unthätig, in der Zeit ans dem Zustand der Unthatigkeit zum Schaffen einer Welt überging, sondern ein Gott, der ewig lebt und wirkt, dessen Denken hervorbringende-, das ewig Gedachte realisirendeS Denken ist."') Die Frage nach der zeitlichen Entstehung der Welt ist darum, als aus einer müßigen Phantasie entsprungen, abzuweisen, und die schlechthinnige Abhängigkeit der Welt darin zu suchen, daß Gott ver­ möge seines allezeit hervorbringenden Denkens und Wollen« der schöpferische Grund des gesammten in Raum und Zeit verlaufenden Weltprocesses ist. 2. Wie Gott der schöpferische Grund der Welt ist, durch den und von dem Alles ist, so ist er auch der Zweck der Welt, zu dem Alles ist. Die Welt kann keinen anderen denkbaren Zweck haben, als den ewigen Geist in seiner Herrlichkeit und Wesensfülle, nach der Einheit wie in der Mannigfaltigkeit seiner Ordnungen zu offen­ baren. Jedes Weltwesen ist wieder eine eigengcartete Darstellung deS göttlichen WeltgedankenS und verkündigt ihn, den Einen, in sei­ ner Sprache, und das ist der Zweck seines Daseins. Der Geist ist daS Ziel der Natur. Diese sucht gleichsam in unablässigem Schaf­ fen und Ringen von den untersten Organ isinen an in immer höhe­ ren Formen nach dem Geiste, bis sie ihn im Menschen findet nach seinem vollen Wesen alS Selbstbewußtsein und Freiheit. Der Zweck des Menschen, in welchem die (irdische) Natur zur Ruhe kommt und ihr Ziel erreicht, ist Gott. Der Mensch ist das geschöpfliche Abbild Gottes. Wie für Gottes Denken das ganze Universum in der Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungen, wie in der einheitlichen. Alles umfassenden Ordnung durchsichtig ist, so soll der Mensch in fort­ schreitender Wahrheitserkenntniß das Weltall, so weit eS ihm er­ reichbar ist, in sich aufnehmen als den Spiegel Gottes, und wie die ganze Welt dem ewigen Geiste dient als sein Darstellungsmittel und Werkzeug, so soll der Mensch die Natur an ihm und außer ihm zum Darstellungsmittel der Vernunft und zum Werkzeug des freien, 1

) Schölten, de vrije wil S. 332.

Gott der Zweck der Welt.

85

selbstbewußten Geistes machen in fortschreitender, sittlicher Arbeit. Gott ist somit daS Ziel des Menschen sowohl für daS Erkennen, als für das Handeln (Aet. 17, 26. 27). Ist Gott der Zweck der Welt, wenig ein Ende haben kann,

so

folgt, daß diese ebenso

als sie einen Anfang hat.

Weltentwicklung ist eine endlose, wie eine anfanglose. liche Vorstellung und der auch das

Die

Die mensch­

Unendliche nur unter end­

lichen Kategorien anschauende Verstand findet in der Behauptung eines endlosen Fortschritte- einen unerträglichen Widerspruch und macht sich über eine solche Ansicht gerne lustig.

Man behauptet,

wenn daS Endliche das Unendliche immer adäquater darstelle, so müsse nothwendig einmal ein Zustand eintreten, in welchem beide ohne Rest in einander aufgegangen seien, ein idealer Weltzustand, wo Gott in vollem Sinne Alle- in Allem sei.

DaS Gleiche wird

auch ausgesprochen über daS Verhältniß des menschlichen Erkennenzur absoluten Wahrheit.

Gelange der Mensch auf dem Wege ge­

schichtlicher Entwicklung, auf welchem er sich aus seiner Natürlichkeit zum göttlichen Geiste hinbegebe, zu einer immer reineren Erfaffung deS Absoluten, so müsse doch einmal ein absolutes System kommen, in welchem die wissende Vernunft des Menschen und die eben damit sich selbst wissende Vernunft der Welt zusammenfallen. schon Kant, daß Dasjenige,

So glaubte

waö viele Jahrhunderte nicht leisten

konnten, noch vor Ablauf des 18. Jahrhundert-

erreicht werde,

nämlich, daß die Vernnnft i» dem,

waö ihre Wißbegierde immer

beschäftigt habe, endlich

befriedigt werde, und Hegel

vollkommen

glaubte den Abschluß der Philosophie herbeigeführt zu haben, indem er sich überredete, daS Absolute in seinem System abschließend er­ reicht zu haben.

Aber jeder derartige ChiliaSmuS beruht auf einer

falschen Berendlichung deS

Unendlichen;

man

setzt den

Abstand

zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen selbst wieder al- einen endlichen, verleitet durch die Eigenthümlichkeit unseres DorstellungSvermögenS, welches die Idee eines grenzenlosen Raumes und einer endlosen Zeit nicht zu fassen vermag, sondern daS Unendliche immer wieder mit Raum- und Zeitschranken anzuschauen genöthigt ist. Er­ kennen wir die Natur unseres DorstellungSvermögenS,

so schwindet

Zweiter Abschnitt.

86

A.

der Widerspruch, der in der Behauptung eines endlosen Fortschrittes ’,it liegen schien.

Besteht zwischen Gott und Welt ein WcsenSunter-

schied, so kann die Welt nie Gott werden, es kann kein Weltzustand eintreten, in welchem jeder Rest zwischen Gott und Welt getilgt wäre.

Gehört eS znm Wesen GotteS, das schaffende, in sichtbaren

Formen sich auswirkende Denken zu sein, so kann er nie aufhören zu schaffe», neue Schöpfungen hervorzurufen; neue Lchöpfnngen be­ dingen aber Fortschritt, Bewegung, Kampf, gegensätzliche Kräfte, (int= Wicklung.

Die Annahme einer zeitlichen Vollendung aller Tinge,

eines Abschlusses, nach welchem es keine Entwicklung, kein Streben nach einem noch nicht erreichten Ziele mehr gäbe, hebt sowohl Gott als di« Welt auf,

Gott als das über den Weltproceß stete über­

greifende, neue Schöpfungen hervorrufende Denken, das mit keiner Entwicklungsstufe des Endlichen erschöpft ist, die Welt, zu deren Wesen cS gehört,

zwar das Unendliche in sich zu tragen als ihre

treibende Kraft und es zu offenbaren,

aber doch endlich zu sein.

Die Welt würde ein zwar Heller und durchsichtiger, aber eingefrorener Krystall. § 10.

Gott alS den schöpferischen Grund der Welt bezeichnen wir näher durch die Ewigkeit, Allmacht, Allwissenheit, Gott als den Zweck der Welt durch die Eigenschaft der absoluten Weisheit. 1. Die Allmacht und Allwissenheit Gottes druckt daS Zusammen­ fallen der göttlichen Wirksamkeit mit dem Weltzusammenhang dem Umfang nach auS und bezeichnet somit die alle Welterscheinungen von der kleinsten bis zur größten umfassende und

durchdringende

unsichtbare Kraft Gottes; die Ewigkeit Gottes drückt de» Unterschied der göttlichen Wirksamkeit von allem in Raum

und Zeit Gewirkten

(oder Wirkenden) der Art »ach aus und bezeichnet somit die gött­ liche Wirksamkeit als eine ihrem Wesen nach raum- und zeitlose. Mit dem Wort ewig drückt die Sprache nicht bloß die Entfer­ nung der Raun,- und Zeitschranken auS, so daß das Ewige Etwas wäre, waS nie angefangen hat und nie aufhört, sondern den Wesens-

87

Allmacht uiib Weisheit.

unterschied des so Bezeichneten von allem Zeitlichen und Stofflichen. Wahrheit, Vicbe, Recht, da- Gute u. s. w. nennen wir darum ewige Güter, weil sie ihrer Art nach verschieden sind von allen zeitlichen Gütern, wie Gold, Acker, Han- und Hof.

Die Wahrheit z. B., ob­

wohl in allein Raume wirkend und in allem Stofflichen thätig, ist doch nicht selbst etwas Räumliches und Stoffliches;

man kann sie

nicht in einen Raum einfangen oder in ein Gefäß einschließen, um sie chemisch in ihre Bestandtheile aufzulösen.

Sie ist, obwohl in

allem Endliche» wirksam, doch ihrer Art nach von allem Endlichen unterschieden, darum ewig.

Alles Endliche ist dem Wechsel der Zeit

unterworfen; Gold und Silber, Acker, Haus und Hof ist entstanden und vergeht.

Die Wahrheit — und, wie sie, jede- Gut, da- wir

ewig nennen — wechselt nicht, nur die menschliche Auffassung der­ selben ist dem Wechsel unterworfen.

Indem wir daher Gott die

Eigenschaft der Ewigkeit zuschreiben, bezeichnen wir ihn alS die in allem Raum und in aller Zeit wirksame, aber ihrem Wesen nach raum- und zeitlose, weil geistige, Ursächlichkeit. sen Unterschied veranschaulichen.

Ein Bild mag die­

Denke man sich den Naturzusam­

menhang als eine unendlich lange Kette, an der Glied im Glied, Ring int Ring hängt.

Wird man sagen können, Gott selbst sei

diese Kette, also etwas Stoffliche»? Nein! er ist der in der ganzen Kette wie in jedem Gliede derselben wirksame, sie belebende,

ihr

allgegenwärtige Geist. Allmacht und Allwissenheit sind Thätigkeiten auf Gott in nur schen

dadurch

gotte-würdig

Bestandtheilen

frei

Uebertragungen menschlicher

absoluter Steigerung, sie können aufgefaßt

erhalten

und

werden,

von wenn

aber

anthropomorphizu

jeder der­

selben die Eigenschaft der Ewigkeit alö Correctnr hinzugedacht wird. Den Eindruck der göttlichen Allmacht und Allwissenheit erhalten wir au» der Beobachtung, daß jedes in der Welt, da» Kleinste wie da» Größte, in die Ordnung de- Ganzen eingereiht ist und hier seine Stelle findet, so daß die schaffende Vernunft der Welt sich al» eine solche erweist,

die Nichts

übersieht,

nirgend», um im Bilde zu

sprechen, einen verlorenen oder vergessenen Wachtposten hat. Alle» mit ihrem Gesetz umspannt.

Diese» Gettagensein alle» Einzelnen

Zweit« Abschnitt.

88

A.

durch die Ordnung des Ganzen nennen wir die göttliche Allmacht, diese- Hindurchleuchten de- göttlichen Auges durch alle Reiche der Welt nennen wir die göttliche Allwissenheit. Anderen gegeben;

Eine- ist

mit dem

denn alle- Einzelne zu Einer vernünftigen Ord­

nung zusammenfassen

kann

nur der Alle-

durchschauende Geist.

Aber die göttliche Allmacht kann nicht in menschlicher Weise gedacht werden als die Macht, jetzt dieses, dann jenes zu thu», durch zeit­ liche Acte übergehend von einer Thätigkeit zur anderen, oder gar zu thun, wa» man „will" im Sinne menschlicher Willkühr, so daß Gott auch zur Abwechslung einmal da- Naturgesetz brechen und z. B. die Erde in ihrem Laufe um die Sonne einem Iosua zu lieb aufhalten

ober mit beit Nominallsten de- Mittelalter- die Wahrheit, daß dle Summe der Winkel eine- Dreiecks — 2 R. fei, auch aufheben oder das Sittengesetz den auö Aegypten ausziehenden Juden ;u lieb hem­ men könnte.

Ebenso wenig ist die göttliche Allwissenheit in mensch­

licher Weise zu fassen al- da« Wissen eines Wesens, das zuschaut, reflcctirt, Eindrücke aus dem Weltlauf in sich aufnimmt, Erkenntniß verarbeitet,

in seine

nach diesen Eindrücken hernach seine Hand­

lung-weise jetzt so, jetzt ander«, je nach dem Erforderniß der Um­ stände bestimmt — da- sind lauter vom endlichen Geiste abgeleitete Anschauungen, die, auf den unendlichen Geist angewandt, ungereimt sind.

Die Eigenschaften der Allmacht und Allwissenheit können nur

in Verbindung mit der Ewigkeit Gottes richtig verstanden werden, so daß wir mit Schleiermacher sagen müssen:') allem Mittel und Gelegenheit der Zeit;

„Gott ist außer

er beschließt Nicht-

und

thut Nicht- erst in diesem und jenem Augenblick und er wird also auch niemals Etwa- thun; aber alles Zeitliche geschieht nur so und in dem Zusammenhang, wie er es auf ewige Weife gewollt und ge­ ordnet hat.

So kommt Alle- von ihm her; so fließt Alle« au- der­

selben Quelle und Fülle seiner ewigen Allmacht und Liebe; so ist Alle- nur au- seinem Willen und durch seinen Willen begreiflich, und der ist die ewige Kraft, welche alle Dinge trägt und Alleleitet.

Aber es ist bei ihm,

wie kein Wechsel zwischen Licht und

*) Predigt am Himmelfahrt-fest über Hebr. 8, 1. 2.

Allmacht und Weisheit.

89

Finsterniß, so kein Wechsel von Thätigkeit und Ruhe, kein Wechsel der Zeiten und Verhältnisse; Alle- ist in ihm und Alles ist nur in ihm ewig." 2. Die göttliche Weisheit ist diejenige göttliche Wirksamkeit in der Welt, vermöge welcher Gott der Zweck der Welt ist. Darin, daß die Welt Gott, der ihr Zweck ist, auf allen Punkten offenbart und darstellt, erweist sich ihre zweckentsprechende, d. h. weise Ein­ richtung. Hierauf beruht auch die Zusammenstimmung der Theile und Ordnungen der Welt zu Einer in sich cinmüthigen Ordnung. Die zwei Formen dieser Ordnung, die wir unterscheiden, die Natur­ ordnung und die sittliche Ordnung, die Welt der naturgesetzlichen Nothwendigkeit und die Welt der sittlichen Freiheit, so sehr jede nach ihren eigenen Gesetzen sich bewegt, stimmen doch zusammen und können nie einander stören oder aufheben, weil beide im Geiste, der ihr schöpferischer Grund ist, zugleich ihren gemeinsamen, einheitlichen Zweck haben. Die Naturordnung ist auf die sittliche Ordnung, auf die Welt des selbstbewußten und freien Geistes angelegt, wie die Natur auf das vernünftige Wesen als ihre Blüthe und Vollendung angelegt erscheint. Dieses Angelegtsein der Naturordnung auf die sittliche Ordnung zeigt sich in dem Zweifachen: zuerst, daß die Welt dem Menschen eine Fülle von Reizmitteln darbietet, um alle die Zustände zu entwickeln, in welchen er die Aufgaben des selbstbewuß­ ten Geistes, die Forderungen der sittlichen Ordnung verwirklichen kann, so dann aber auch, daß sie in einer Fülle von Abstufungen sich von ihm behandeln läßt, um ihm theils als Organ, theils als Darstellungsmittel zu dienen.') Die Natur reizt die menschliche Intelligenz, in ihre Geheimnisse einzudringen und ihren Schleier zu lüften, und befriedigt diesen Reiz, indem sie sich der menschlichen Erkenntniß aufschließt; die Welt ist für den Geist durchsichtig, er­ kennbar, weil sie ein Werk des Geistes, dieser ihr schöpferischer Grund ist; so ist sie vernünftige Ordnung, harmonische Einheit, stetige Gesetzmäßigkeit, alS solche erkennbar, weil nur das Geordnete und Gesetzmäßige, nicht daS Chaotische, Zufällige, Regellose ein ') Vgl, Schleiermacher christl. Gl. I. Band § 73.

Gegenstand der Erkenntniß sein kann. Aber, wie für die Intelligenz, so enthält die Welt auch für de» sittlichen Willen des Menschen die nöthige Fülle von Reizmitteln.

Die (ü)iitcr der Natur

gewähren

dem Menschen keine Befriedigung, weil der Geist an ihnen als stoff­ lichen und zeitlichen kein Genüge findet; sie reizen und zwingen ihn, über sie hinauszugehen zu dem, was bleibt, weil cS seinem Wesen »ach ewig ist;

sie treiben ihn auS ihrem zerstreuenden Erwerb und

Genuß hinein in sich, dem,

was

sich

ihm

in die Tiefen seines Selbstbewußtseins, zu

hier als

unwandelbar und ewig ankündigt.

Ebenso fordern die Leiden und Uebel der Welt die schlummernde Kraft des Menschen heraus, reize», wecken, stählen den Geist und bringen ihn an ver Schranke, an der er sich übt, zum Bewutzl>etn dessen, was er ist und vermag, zur Erkenntniß, daß er mehr und etwa» wesentlich Anderes ist, als die Mutter, aus deren Schoß er entsprang.

Die Uebel,

welche dem menschlichen Leben au« seinem

Zusammenhang mit der Raturordnnng zufließen, sind die Hebel der Cultur. Und wie die Welt durch die Fülle von Reizmitteln, die sie ent­ hält, den intellectuellen und sittlichen Geist weckt,

so bietet sie sich

hinwiederum ihm bereitwillig dar als Organ und Darstellungsmittel, durch welches er die Fülle feines inneren Lebens jitnt Ausdruck, zur Gestaltung bringen kann.

Der Leib kann zum Tempel des Geistes

werden; einige geringfügige Buchstaben werden zum Mittel, um den unerschöpflichen

Reichthum

menschlichen Geistesleben» darzustellen;

ein Marmorblock, ein Stück Leinwand wird unter der Hand des Menschen zu einem Gebilde voll Schönheit und Geist;

der bebaute

Acker wird zum Zeugniß der Herrschermacht des Geistes; die Kräfte und Reichthümer der Welt werden ebenso viele Mittel im Dienste der geistigen und sittlichen Zwecke deö Menschenlebens. So zeigt sich die Naturordnung nach allen Seiten hin auf die sittliche Ordnung angelegt,

die Welt der Naturnothwendigkeit

vollem Einklang mit der Welt der Freiheit. nie in Widerspruch treten mit jener. die Behandlung,

Was auch der Mensch durch

welche sich die Natur von ihm gefallen läßt,

ihr ändert und gestaltet,

in

Aber auch diese kann an

es geschieht ja nur in den Schranken der

91

All»i.nbt und Weisheit.

Natnrordnung, an welche auch er gcbunden ist, im Einklang mit den Gesetzen der Welt, die er nicht verändern kann, vermöge der Wechselbeziehung,

in welcher die einzelnen Weltwesen zu einander

und zum Ganzen stehen.

Niemand wird sagen, dadurch, daß daS

Thier die Pflanze fresse, störe eS die Natnrordnung,

aber nicht

weniger ungereimt wäre es, zu behaupten, indem der Mensch z. B. Sümpfe austrockne, Wiste» bebaue, den Blitz künstlich einsänge, daß er unschädlich an seinem Hause abgleite, den Dampf zu Eisenbahnen oder Dampfschiffe» verwende, zerstöre er durch ein willtührlicheS Thun

die Natnrordnung.

Auch die Thatsache, daß der Mensch

sündig, d. h. willkührlich handeln kann, ändert an der festgefügten Ordnung der Welt Nichts.

So wenig eS einen Sinn hätte, zu

sagen, das Thier hebe die Naturordnung dadurch auf, daß eS ohne das Licht der Vernunft nur vom dunkeln Triebe und blinder Be­ gierde gejagt handle, so ungereimt wäre es, auS dem sündigen Han­ deln des Menschen die Furcht herleiten zu wollen, daß die Natur oder die Ordnung der Welt a»S ihren Fugen komme. der Mensch noch sündig handelt, sinnlichen Lebens.

Denn soweit

steht er noch auf der Stufe des

Daß der Mensch, so lange er noch sinnlich ist,

auch auS sinnlichen Beweggründen handelt, ist ebenso in der Ord­ nung der Welt begründet, als daß das Thier in seinem Handeln nicht durch das Licht der Vernunft, sondern durch die Begierde sich leiten läßt. Bei dieser festen Zusammenstimmung in den Ordnungen der Welt, die daraus sich ergiebt, daß Gott als Grund und Zweck der Welt dieser auf allen Punkten gegenwärtig ist, kan» keine Rede da­ von sein, daß Gott, gesetzt auch, er könnte e», jemals durch beson­ dere Acte in diese Ordnungen gleichsam durch eine offen gelassene Lücke hineinzulangen nöthig hätte, um ihre gestörte Harmonie wieder herzustellen.

Das erscheint auf dem Standpunkt einer ernsteren

Erkenntniß als eine kindische Vorstellung. Man fragt: ob die Erfahrungen und Bedürfnisse de- religiösen Gemüthes unter Voraussetzung dieses GotteSbegriffeS ihre Rechnung finden ? Die Bedürfnisse und Wünsche des schrankenlosen Gemüthe-, daS Fenerbach in seinem „Wesen des Christenthums" so meisterhaft

Zweiter Abschnitt.

92

A.

geschildert, aber fälschlich für die Quelle der Religion angesehen hat, werden allerdings hier nicht befriedigt, aber werden seine Wünsche besser erfüllt durch den schrankenlosen Gott,

den eS sucht?

Welt kann eS nicht anders machen, als sie ist;

Die

eS erfahrt täglich

den unerbittlichen Ernst der Naturnothwendigkeit in tausend Ent­ behrungen

und

Entsagungen, welche das Geschick ihm auferlegt.

Wem das nicht genug Trost ist, daß Alles, was geschieht, nicht ein Werk deS blinden Zufalls, des dunkeln Schicksals, der bewußtlosen Naturgewalt, sondern einer Alles berechnciiden Weisheit ist, dem ist nicht zu helfen; jeder andere Trost ist Selbsttäuschung. Aber „bei dieser Weltanschauung kann man nicht mehr beten." Nicht mehr? gewesen.

dann ist auch vorher schon das Gebet ein unfrommeS

ES giebt zwei Arten von Gebet:

das Gebet der Selbst­

sucht und das Gebet der Frömmigkeit, dasjenige, durch welches Gott das Werkzeug des Menschen, und dasjenige, wodurch der Meiisch das Werkzeug Gottes werden soll.

Betrachten wir den Unterschied

der beiden an zwei biblischen Beispielen!

„So Gott wird mit mir

sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reife, und Brod zu essen geben und Kleider anzuziehen und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der Herr mein Gott sein, und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Male, soll ein Gotteshaus werden" (1. Mos. 28, 20ff.) — so betete, treuherzig auösprecheiid, was bei Millionen die geheime Triebfeder alles Gebetes und aller Religion ist, jener berühmte Ahnherr des jüdischen Volkes unter den Schrecken der unwirthlichen Wüste.

„Vater, ist'S möglich,

so gehe dieser Kelch an mir vorüber, doch nicht, wie ich will, son­ dern wie Du willst", so betete ein anderes Glied jenes Volkes, der Ahnherr eines neuen GotteSvolkeS unter den Schrecken eines nahen Todes.

„Wenn ich nur Dich habe, so frage ich Nicht- nach Him­

mel und Erde" das ist zu allen Zeiten der Grundton des wahren Gebets gewesen.

In Allem,

was das Geschick unö zuwirft, ihn

sehen und haben nnd in seiner Weisheit ausruhen, durch diese Er­ hebung deS Geistes zu dem ewigen Grunde aller Dinge de» Willen reinigen und beten.

das

Herz befreien von Furcht und Begierde, das heißt

Beten und fromm sein, ist eigentlich EinS nnd dasselbe, wie

Die rtligiSftn Bedürfniff«.

93

Schleiermacher richtig bemerkt hat. Es ist eine der verderblichsten Religionsmeinungen, zu. glauben, daß Gott durch die Gebete der Menschen bewogen werden könne, in dem natürlichen Lauf der Dinge Etwas zu ändern. Diese Meinung ist eine Verspottung der göttlichen Weisheit — als müßte Gott erst vom Menschen erfahren, waS für ihn und die übrige Welt gut sei! — und müßte durch die tägliche Erfahrung der in diesem Sinne erfolglosen Gebete zu dem Rathe von Hiob'S Weib führen, Gott Valet z» sagen, wenn nicht die lebendige Frömmigkeit den Irrthum deS Verstandes immer wie­ der dadurch corrigirte, daß sie annimmt, der nicht erhörte Wunsch sei nicht in Uebereinstimmung gewesen mit Gottes Weisheit, womit stillschweigend zugestanden wird, es geschehe nur, waS au- GotteS weifer Ordnung folge, und daö Gebet des Menschen habe keinen Einfluß auf den Gang der Weltordnung. In dem falschen Gebet sucht der Mensch sich selbst, d. h. Abwendung einer Gefahr, Er­ lösung aus einer Krankheit oder von einer Strafe, Rettung eines theure» Pfandes u. f. w., in dem wahren Gebet sucht der Mensch nur Gott selbst und den Genuß, den die Gemeinschaft mit ihm gewährt. Zerstört diese Weltansicht eine religiöse Auffassung de- Lebenund seiner Begriffe? Wohl werden wir jetzt abstehen von dem eitlen und vorwitzigen Geschäfte. Gotte- Absichten im Einzelnen zu errathen und auszuspüren, was Gott in diesem oder in jenem Fall gewollt, waS er bei diesem und bei jenem Ereigniß bezweckt habe. Gott hat nicht diese und jene Absichten und Zwecke, sondern in Allem nur die Eine Absicht, die Ein- ist mit seinem Wesen: die Offenbarung seiner unsichtbaren Kraft und Herrlichkeit in der Welt und in Be­ ziehung ans den Menschen nur den Einen Zweck: daß er erkenne, was zu seinem Frieden dient, daß er, aufgerüttelt aus dem dumpfen Traume seines sinnlichen Naturlebens, frei werde im Geiste und Gottes Ebenbild auf Erden darstelle. Wohl werden wir jetzt nicht mehr mit jenen Juden sagen, daß „die Achtzehen, ans welche der Thurm in Silva fiel, seien schuldig gewesen vor allen Bewohnern Jerusalems" (Luc. 13, 4), wir wer­ den nicht mehr, wenn da- Erdbeben eine Stadt verschüttet oder die

94

Zweiter Abschnitt.

A.

Feuerflammen ein Dorf verzehren, von Strafgerichten sprechen, welche Gott ausdrücklich um der Sünden der Bewohner willen angeordnet habe.

Wir wissen jetzt, daß die Welt der Nothwendigkeit und die

Welt der sittlichen Freiheit, obwohl für einander berechnet, doch jede ihre eigene Ordnung hat und eigenen Gesetze» folgt.

Wir wisien

jetzt, daß die Erscheinungen der Natnr, Rege» und Schnee, Sonnen­ schein und Winterfrost, an» natürlichen Ursache» entspringen, die in der Luft liegen, nicht auS sittlichen Ursachen, die in der Freiheit, im Willen deS Menschen ihre» Grund haben.

Mit dieser Einsicht in

die Ordnung der Welt wird für immer eine Hauptqnelle des reli­ giösen Aberglaubens verstopft, den die Priester aller Zeiten für ihre Zwecke trefflich ausgebeutet haben, aber die Religion selbst erleidet

keinen Schaden und der wahre Glaube gewinnt nur.

In Allem,

was uns zufließt aus der Ordnung der Natur — nicht bloß in die­ sen und jenen Einzclnheiten, die wir aus dem Zusammenhang des Ganzen herausreiße» und willkührlich mit besonderer Aufmerksamkeit beehren — sehen wir jetzt den mahnenden und warnende» Finger Gottes, der nnS zu demiithiger Anerkennung unserer Unmacht, zur Selbstprüfung und Selbsterkenntniß führen will. begegnet, Buße.

Alles, wa» uns

ist jetzt ein Ruf Gottes an unS zum Insichgehen,

zur

Denn so ist die Welt geordnet, daß alles Zeitliche und End­

liche dein Geiste zum Besten, zum Mittel und

Werkzeug seines

jnneren, ewigen Lebens dienen kann und soll. Indem wir so immer mehr lernen,

alle Lebenserfahrungen und Lebensführungen auf daS

letzte Ziel unserer Bestimmung zurückzuführen, jeden Gewinn in der Welt alS Verlust anzusehen, wenn „die Seele dabei Schaden nimmt", jeden Verlust in der Welt aber alS Gewinn, wenn wir dadurch geistig reifer und gediegener werden, so wird unser l'eben mehr und mehr zu Einem Dankgebct zu dem,

der unS durch Alles,

waS er

uns sendet, znm Heil, zn unserem wahren Glück führe» will, daS niemals ans der Seite unseres Wesens gefunden werden kann, nach welcher wir endliche Raturwescn, Glieder an der Kette der Natur sind, sondern nur in dein unendlichen Theil unseres Wesens, welcher der Freiheit angehört.') ') Siehe meine „Stunden der Andacht" I

i' ant S. 331 ff.

Die religiösen Bedürfnisse.

95

§ li.

Da Gott als der schöpferische Grund und Zweck der Welt dieser selbst einwohnend und auf allen Punkten gegen­ wärtig ist, so ist mit der schlechthinnigen Abhängigkeit der Weltwesen von Gott ihre Freiheit, d. h. ihre Be­ wegung durch sich selbst vereinbar. Die Freiheit ist daS ausnahmslose Gesetz der Schöpfung. Frei sein heißt, seinem allgemeinsten Begriffe nach, ein Wesen für sich sein und diese Wesenheit von innen heraus bethätigen. Es giebt Nichts in der WcK, daS nur durch Anderes bestimmt würde. Nichts, was demjenigen, das als bestimmende Ursache auf seine Existenz ein­ wirkt, nicht irgend einen Grad von Selbstbestimmung, eigene Kräfte entgegenbrächte oder entgegensetzte, Nichts, das nur die selbstlose Wirkung einer ihm äußerlichen Causalität wäre. Alle« hat eigenes Leben, alle Dinge sind „Monaden". Wenn die Erde sich um ihre Axc und um die Sonne bewegt, so ist eS nicht der Mechanismus einer äußerlichen Naturnothwendigkeit, unter deren Zwang sie leidet, sondern eS sind die Gesetze ihre- Wesens, denen sie folgt, eS sind innere, sic beseelende Kräfte, durch welche sie handelt, eS ist ihr individuelles Leben, das sie selbstthätig entfaltet. Wenn der größere Körper schwerer in Bewegung gesetzt werden kann, alS der kleinere, so geschieht eS, weil er der Einwirkung eine größere Widerstands­ kraft entgegenseht; er entwickelt also eine der ihm einwohnenden Kraft gemäße Thätigkeit. Wenn die Pstanzc die auf sie einwirkenden Ur­ sachen, wie Luft, Licht, Feuchtigkeit, für ihren organischen BildnngSproccß verwendet, so ist dieses eine Bethätigung ihres Wesens, ihrer Individualität von innen heraus. Diese Freiheit, die allen Wesen zukommt, erreicht ihren höchste» Grad im Menschen durch daS Anflenchten des Selbstbewußtseins, tvird aber eben dadurch auch der Art nach eine andere. Die Selbstbestimmung der nicht selbstbewuß­ ten Weltwesen, obwohl sic stufenweise bis an die Schwelle des Men­ schen reicht und ungehemmter wird, ist doch im Grunde ein Bestinnnt werden durch das Gesetz des eigenen Wesens und durch die diesem angemessene Form der äußeren Einwirkungen, ein Bestimmt-

Zweiter Abschnitt.

96

A.

werden, gegen welches die Wesen sich nicht wehre» können;

selbst

daS Thier muß handeln, wie das Naturgesetz, der Jnstinct eS treibt. Der Mensch dagegen kann sich selbst, d. h. das Gesetz seines Wesens, wie seine einzelnen Thätigkeiten und Zustände zum Gegenstände seiner Betrachtung, seines Nachdenkens mache», er kann sich somit seinem eigenen Wesen gegenüber- und entgegenstellen,

wie der

Beschauer immer gegenüber und über dem Gegenstand seiner Be­ trachtung steht. Indem der Mensch seine einzelnen Thätigkeiten und Zustände zurückbeugt (rcflcctirt) in sein Selbstbewußtsein, spiegelt und mißt er jene an diesem, beurtheilt und richtet sie, und die Folge dieser Beleuchtung seiner Thätigkeiten und Zustände durch das Gesetz feine« Wesen« ist der Willensentschluß, entweder die bisherige Reihe von Thätigkeiten und Zuständen ungeändert fortzuführen oder den Faden abzubrechen und eine neue Reihe zu beginnen.

So kann der

Mensch wählen, die Freiheit wird zur Wahlfreiheit und enthält daS Moment der Willkühr in sich. Der Mensch allein kann Ideale in sich erzeugen, d. h. Gestalten dessen, was allgemein, an und für sich wahr und gut ist, daher immer sein soll und dein Strebe» als Ziel vorleuchtet, im Unterschied von der Wirklichkeit, wie sie erfah­ rungsgemäß ist.

Würde nun das Ideal, sobald es der Mensch als

das Gesetz seines Wesens in sich findet und erkennt, sich mit der zwingenden Gewalt eines Naturgesetzes durchsetzen und verwirklichen nach derselben Nothwendigkeit,

nach welcher der in die Höhe ge­

schleuderte Stein zur Erde fällt, so wäre die menschliche Freiheit höchsten- dem Grad der Lebendigkeit nach, aber nicht wesentlich ver­ schieden von der Freiheit der übrigen Weltwesen,

und es bestände

kein Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengcsetz. eS bekanntlich nicht.

Aber so ist

Das Ideal wirkt nicht zwingend, sich unwider­

stehlich durchsetzend, sondern nur anregend, sollicitirenv, verpflichtend; er spricht zum Menschen nicht:

Du mußt, sondern:

Du sollst.

Sollen ist sittliche Verpflichtung, welche daS Nichtwollen und Nichtwollen können voraussetzt, Müssen

ist naturgcsetzliche Nöthigung,

wogegen jedes Widerstreben vergeblich ist.

Im Menschen wird die

Dualität, die in allem Seienden ist, zum bewußten Gegensatz, dessen Ueberwindung als ein Soll, als eine sittliche Aufgabe erkannt wird.

Freiheit und Abhängigkeit.

97

Der Mensch kann von der schlechten empirischen Beschaffenheit seineWillen« appelliren an ideale Tiefen seine- Wesen-, in welchen sich ihm da- an sich Wahre und Gute kundgiebt; er kann an diesen seine Handlungen messen, au- ihnen sein Streben befruchten und Motive seine- Thun- schöpfen, aber er kann auch an ihnen vorübergehen und sein persönliche« Intereffe in die Motive legen, die au- dem sinnlich

selbstsüchtigen Grund seine- Wesen- ihm entgegenquellen,

und

beiden Fällen ist er da- über seine» Motiven stehende,

in

reflectirende, wägende, formell freie Ich, da- niemal- zum selbst­ losen Durchgangspunkte de-

stärkeren Motiv-

herabsinkt.

Man

kann diese Wahlfreiheit, wenn sie sich für da- Wesen de- Willenselbst au-giebt und

als

absolute,

rein undeterminirte Willkühr be­

schrieben wird, durch da- Schicksal jene- unglücklichen Esel-, der zwischen zwei Heubündeln verhungerte, lächerlich machen, aber al» Moment im Proceß der Willen-bewegung ist sie unbedingt festzuhal­ ten und ohne sie wird da- sittliche Handeln zum physikalischen Ge­ schehen. Der Determini-mu- hat, wie nicht leicht eine andere falsche Meinung, den Glanz der gewichtigsten Auctoritäten für sich, und der Zug der Gegenwart, der den Naturwissenschaften günstiger ist, al- dem Studium der Geisteswissenschaften, kommt einer Ansicht fördernd entgegen, welche auch die sittliche Welt unter da- Natur­ gesetz stellt.

Philosophen, Theologen, Naturforscher, wie verschieden

sonst ihre Principien sein mögen, scheinen darin übereinzustimmen, daß der Mensch auf keine wesentlich andere Art der Freiheit An­ spruch machen

könne, als

alle übrigen Glieder de- Universum-.

„Da- Sittengesetz ist nicht verschieden vom Naturgesetz; wa« wir menschliche Freiheit nenne», ist nur ein höherer Grad der Lebendig­ keit, die wir in verschiedene» Stufen bei allen Dingen der Welt wiederfinden," erklärt Schleiermacher.

„Alle Wesen der Welt bilden

ein Stufenreich von Monaden, von eigen gearteten, individuell be­ stimmten Wese», in denen allen sich da- Universum spiegelt, die sich von einander nur durch größere oder geringere Klarheit ihrer Vor­ stellungen unterscheiden," behauptet Leibnitz.

„Die Menschen halten

sich nur deswegen für frei, weil sie sich zwar ihrer Handlungen, Lang. Dentalis.

2. Aufl.

7

98

Zweiter Abschnitt. A.

aber nicht der sie bestimmenden Ursachen bewußt sind," sagt Spinoza. „Die Wahlfreiheit ist etwas ebenso Lächerliches, als das Thier des Buridan, das zwischen zwei Heubündel hineingestellt unschlüssig ist, welchen eS zuerst ergreifen soll, und so verhungert," spottet Schelling. „Der Mensch ist die Summe von Eltern und Amme, von Ort und Zeit, von Luft und Wetter, von Schall und Licht, von Kost und Kleidung; sein Wille ist die nothwendige Folge aller jener Ursachen, gebunden an ein Naturgesetz, wie der Planet an seine Bahn, wie die Pflanze an den Boden," belehrt uns Karl Vogt. „Wir sind ein Spiel von jedem Druck der Luft," führt Moleschott in seiner Abhandlung „Licht und Leben" hübsch und anziehend aus. „Das Selbst- und FUrstchfclu und diese Aeußerung deS eigenen Inhaltes, diese Bethätigung des eigenen Wesens von innen heraus — dieses (was wir mit allen Wesen der Schöpfung gemein haben) und nichts Anderes ist die Freiheit," zeigt R. Schellwien (Kritik des Materia­ lismus 1850). Und das scheint auch so einfach, so auf den ersten Anblick einleuchtend zu sein. Warum handle ich so, wie ich handle? Weil ich so handeln muß; meine Handlung ist das naturnothwendige Ergebniß deS physischen und geistigen GesammtzustandeS, in welchem ich mich in diesem Augenblick befinde kraft der tausenderlei Einflüfle meiner Geburt, meiner Anlagen, meiner Stellung und Bildung, meines körperlichen Organismus und der dadurch beding­ ten Gemüthsstimmung u. s. w. Meine Reflexion stellt mir unzählige Möglichkeiten vor, auch anders handeln zu können, aber dies ist nur Schein; die mannigfaltigen Wege und Möglichkeiten des Handelns, die mir meine Einbildungskraft aufthut, sind das Gaukelbild der Freiheit, von dem sich diejenigen täuschen lassen, welche die bestim­ menden Ursachen ihres Handelns übersehen. In Wahrheit ist es jedesmal nur der stärkere Beweggrund, welcher die einzelne Handlung mit Nothwendigkeit hervorbringt, und dieser stärkere Beweggrund ist nur das nothwendige Erzeugniß aller inneren und äußeren Bedindungen, durch welche ich gerade der bin, der ich bin. Und doch wird es sich finden, daß der Determinismus die wichtigsten Erfahrungsthatsachen nicht zu erklären im Stande ist, daß er da- Wesen des Willens selbst aufhebt, daß er endlich dem

Determinismus.

99

Begriff des Menschen, wie das Christenthum ihn voraussetzt, wider­ spricht. 1. Der Determinismus, ob er nun von materialistischen (wie bei Bogt, Büchner u. s. w.) oder von idealistisch-theologischen (wie bei Luther, Calvin, Schölten) Grundanschauungen ausgehe, lernt die wichtigsten

Erfahrungsthatsachen

nicht

erklären.

Er

erklärt

die

Sünde nicht. Wenn jede Handlung des Menschen das nothwendige Erzeugnis seiner gegebenen Zustände ist, so ist jede naturgesetzlich; was unter gegebenen Bedingungen nicht anders sein kann, nennen wir naturgesetzlich. Aber Nieinand rechnet sich etwas Naturgesetzliches als Sünde an.

Reue — wie sollte sie unter den Voraussetzungen

des Determinismus denkbar sein?

„Reue — sagt Schölten') — setzt

nicht voraus, daß man unter den gleichen Umständen auch anders hatte handeln können.

Man bereut auch einen ungünstig geschloffenen

Handel, obwohl man überzeugt ist, wenn die gleichen Ursachen noch wirkten, die beim ersten Abschluß vorhanden waren, würde man ihn wieder schließen.

Reue ist Trauer über seinen schwachen sittlichen

Zustand, aus welchem die That freilich folgen mußte.

Wohl unter­

scheidet sich Reue von Leidwesen; ich fühle Trauer, aber nicht Reue, wenn ich meinen Freund beleidigt habe,

ohne e- zu beabsichtigen,

oder wenn mein ohne jede Unvorsichtigkeit von meiner Seite loSgebrannteS Gewehr meinen Freund verwundet hat;

Reue dagegen

ist Leidwesen darüber, daß ich Etwas gethan habe und darum mei­ nem sittlichen Zustande ein Mangel anhängt.

In den genannten

Fällen fühle ich keine Reue, weil nicht mein Wille, meine Ueberlegung, meine Leidenschaft Ursache war, daß mein Freund sich be­ leidigt fand oder verwundet wurde, und darum derselbe wohl belei­ digt oder verwundet wurde, wundete."

aber ich ihn nicht beleidigte oder ver­

Aber eben dieser Unterschied findet,

genauer betrachtet,

nach den Voraussetzungen des Determinismus nicht Statt.

Wenn

ich Böses thue, handle — nach deterministischen Begriffen — denn wirklich ich? Der jeweilige sittliche Zustand, aus dem meine Hand­ lung mit Nothwendigkeit folgte, ist ja ein gegebener, ein Product

l) De vrije wil S. 198. 200.

100

Zweiter Abschnitt. A.

meiner Anlagen und angeborener Neigungen, meines Temperaments, meiner Erziehung, aller der inneren und äußeren Ursachen, durch welche ich determinirt bin. Daß die Wahrheit keinen stärkeren Ein­ fluß auf mich ausübte, daß die sittliche Idee sich meiner noch nicht stärker bemächtigt hat, waS kann ich dafür, da ja das Maß des Eindruckes der Vernunft und des Gewissens auf meine Sinnlichkeit durch meine Natur bestimmt ist? Was kann ich dafür, daß Gott mir nicht geschenkt hat, was er Christus schenkte? Reue ist Leid über eine That, die hätte anders sein können, wenn ich an die in mir regsame Vernunft und sittliche Idee kräftiger hätte appelliren wollen, und für dieses Nichtwollen erkläre ich mich darum verant­ wortlich, weil ich nicht bloß eine Summe bestimmender Factorc», meiner sinnlichen und vernünftigen Anlagen, sondern weil ich ein Ich bin, das reflectirend, wählend, verwerfend, also mit formaler Freiheit über diesen Factoren steht. 2. Der Determinismus hebt das Wesen des menschlichen Selbst­ bewußtseins und Willen- auf. Man fragt sich: wie kan» ein Wesen, da- nur determinirt ist — sei nun dieses Determinirende Gott oder die Materie — sich denkend diesen Determinationen gegenüberstellen, sie im Selbstbewußtsein zu seinem Gegenstände machen? wie kann ein Wesen, das selbst nur das Erzeugniß von tausend fortwährend auf- und abfluthenden Ursachen ist, diesen Strom, in welchem eS mitten inne steht, von dem es selbst nur eine Welle ist, aufhalten, sich über ihn stellen, sich von ihm losreißen, seine Wellen unter einander vergleichen und sagen: diese da ist vollkommener als jene? Müßte die Welle deS MeereS, die sich selbst und alle ihre Schwestern denkend betrachten könnte, nicht nothwendig andersartig und mehr sein, als die anderen, mehr als ein bloßes Erzeugniß des Oceans? Wie kann ein Wesen, daS in jedem Augenblick zu dem, was cs ist, gemacht wird durch innere und äußere Factoren, alle diese Ursachen, deren Wirkung eö ist, sich im Selbstbewußtsein gegenüberstellen, zu seinem Gegenstände machen und so eine Selbständigkeit ihnen gegenüber geltend machen, die beweist, daß eS nicht bloß ihre Wirkung ist? Man hat die Philosophie Spinoza's kritisch aufgelöst, indem man zeigte, daß der Anfangsbegriff dieses Systems im Widerspruch steht

Kritik btf Determinismus.

101

mit dem Endbegriff besserten. Das Princip de- System- ist Gott als causa sui oder die Eine Substanz als die Ursache aller Dinge, der Endbegriff ist die Liebe Gotte- oder die Erkenntniß der Substanz vermöge de- menschlichen Geiste-. Die Metaphysik beginnt mit der göttlichen Causalität, die Ethik schließt mit der menschlichen Freiheit. Da- Princip ist da- wirkende, und die Consequenz ist da- erkannte Wesen der Dinge. Die wirkende Substanz ist die absolute Naturmacht oder die Ursache aller Dinge, die er­ kannte Substanz ist ein Begriff de- menschlichen Geiste- oder daObject eine- einzelnen Dinge-. Da- ist ein Widerspruch. Ist Gott die schrankenlose, Alle- wirkende Naturmacht, so kann er nicht Gegenstand der Erkenntniß und der Liebe für ein Wesen werden, da- doch selbst nur eine selbstlose Wirkung desselben ist; da- würde diesem Wesen eine Selbständigkeit verleihen, welche die Voraussetzung aufhebt. Ist Gott der Zusammenhang aller Dinge, der Mensch aber ein bloße- Glied in der Kette diese- Zusammen­ hang-, nur ein Ding unter Dingen, so kann er nicht diesen Zu­ sammenhang selbst zum Object seiner Erkenntniß und seine- Selbst­ bewußtsein- machen. Ist die Substanz, wa- sie ihrem Princip nach sein soll, da- reine und schrankenlose Weltvermögen, so kann sie niemals Object der menschlichen Erkenntniß werden. Ist der menschliche Geist, was er dem Princip nach sein soll, ein endlicher und beschränkter Modus, so kann er niemals Subject einer abso­ luten Erkenntniß werden. So widerspricht Spinoza in seinem Re­ sultate dem ursprünglichen Wesen de- menschlichen Geiste-: denn ein Modus kann ebenso wenig Philosoph oder ein Spinoza werden, al- da- Dreieck ein Mathematiker.') Ganz dieselbe Kritik trifft den Determinismus überhaupt. Vom Standpunkt desselben au- hat Spinoza Recht, wenn er erklärt: „Die Vorstellungen, die man gewöhnlich mit den Worten gut oder bö- ver­ bindet, beruhen auf einem Irrthum. Da- Gute und Böse ist nicht etwaWirkliche- in den Dingen selbst, sondern diese Worte drücken nur rela­ tive Begriffe aus, die wir au- der Vergleichung der Dinge unter ein* ') Kuno Fischer, Borlesungen über Geschichte der neueren Philosophie S. 583ff.

ander bilden. Wir bilden unS nämlich aus der Anschauung von einzel­ nen Dingen einen gewissen Allgemeinbegriff, den wir alsdann so be­ handeln, als wäre er die Regel für das Sein und Thun aller Einzel­ wesen. Streitet nun ein Einzelwesen mit diesem Begriff, so glauben wir, daß eS seiner Natur nicht entspreche und unvollkommen sei. Das Böse ist also bloße Negation oder Privation, die nur in unserer Vorstellung als Etwas erscheint." Aber die Frage ist: wie kommen wir zu dieser Vorstellung? Wie kann das in einem steten Fluß be­ griffene Erzeugniß einzelner endlicher Ursachen sich einen Allgcmein­ begriff der Dinge bilden, Ideale schaffen ? Diese Thatsache, die Thatsache des menschlichen Denkens und WollcnS ist unerklärlich von den Voraussetzungen deö Determinismus aus. 3. Daß der Determinismus auch dem christlichen Begriff des Menschen widerspricht, ist im Bisherigen schon enthalten. Be­ griffe, welche Sünde, Buße, Wiedergeburt, Sclbstvcrantwortlichkeit aufheben, widersprechen dem christlichen Princip (f. § 2). Der Determinismus entspricht der antiken Anschauung, welche den speci­ fischen Unterschied des Menschen (des Geistes) von der Natur noch nicht kannte, auch den Menschen wesentlich nur als Naturwesen be­ trachtete, daher auch das sittliche Thun in der Form deS Natur­ gesetzlichen sich dachte. Die innere Unendlichkeit deS Menschen im Gegensatz gegen seine endliche empirische Erscheinung bildet den Aus­ gangspunkt des Christenthums und hierin liegt die Möglichkeit, daß das seinem Wesen nach unendliche Ich sich auch im bewußten Wider­ spruch mit seinem wahren Wesen durch seine endlichen sinnlichen Triebe mit formaler Freiheit bestimme. Aber die Frage ist nun: wie verhält sich diese Thatsache der menschlichen Freiheit zum Gottesbegriff'? Mil dem Begriff Gottes als deS schöpferischen Grundes aller Dinge, von dem Alles schlecht­ hin abhängig ist, scheint sich eine solche Selbständigkeit der Welt­ wesen nicht zu vertragen, vermöge welcher sic iin Stande wären, sich gegen daS (göttliche) Gesetz ihres Wesens mit Bewußtsein auf­ zulehnen. Ist Gott der Allwirkende, wie kann Etwas sein, daS ohne ihn und gegen ihn aus eigenen Kräften wirkt? Die Dogma­ tiker pflegen zur Lösung dieser Schwierigkeit zwei Wege einzuschlagen:

Die Losung.

103

die Einen erklären daS Verhältniß der menschlichen Freiheit zur all­ mächtigen und allwissenden Wirksamkeit Gotte- für ein Geheimniß, daS der Irdischen) menschlichen Vernunft verschlossen bleibe — die gewöhnliche Art der Theologen, unvereinbare Begriffe zugleich fest­ zuhalten und beim handgreiflichen Widerspruch sich zu beruhigen; die Anderen beschränken daö Wesen Gotte-, um den Weltwesen für ihre freie Bewegung Raum zu lassen, nennen die- aber, damit die Ab­ solutheit GotteS nicht leide, eine fteiwillige Selbstbeschränkung Gottes, eine Schranke, die er au- freiem Entschlüsse sich selbst aus­ lege. Als wäre ein sich selbst beschränkender Gott nicht doch ein beschränkter Gott, also kein Gott! Wa- ist da- für ein Gott, der nach Weiße und Rothe von der Zukunft nur da- allgemeine Gerippe, die Knotenpunkte der Entwicklung kennt, der in jedem Augenblick abwarten muß, was feine Geschöpfe da und dort thun, um dann darüber zu reflectiren, wie er danach sein Handeln einrichten und in seinem Weltplan bald da bald dort eine Modificatton anbringen könne? Heißt daS nicht Gott hineinziehen in die ganze Endlichkeit und Beschränktheit deS menschlichen Bewußtsein- und Handeln-, ihn au- einem Gott zu einem Glied in der Reihe der endlichen Dinge machen ? Diese Theorie — sagt richtig Schölten — geht vom Un­ möglichen aus. Sein Wissen beschränken. Etwa-, wa- man weiß, nicht wissen wollen, ist undenkbar. Seine Allmacht beschränken, d. h. nicht die Macht haben wollen, die man hat, ist ungereimt. Meint man damit, daß Gott seine Allmacht und Allwissenheit nur zurück­ halte, dann hat man nicht eine Beschränkung der Macht, sondern ein freiwilliges Nichtgebrauchen der Macht, die man hat, und man kommt zu der populär nicht unbrauchbaren, aber wissenschaftlich ganz ungenügenden Vorstellung der Zulassung. Zugegeben aber, daß eine solche Sclbftbeschränkung möglich wäre, so wird dadurch da« Problem nicht gelöst. Beschränkt Gott an- freiem Willen sein Wissen um der freien Ursachen willen, dann giebt man zu, daß Gott daFreie wisse» kann, diese- wird etwa- Wißbare- und eben damit Unfreies. Es bedarf ferner keiner weiteren Bemerkung, daß die Macht GotteS, sich selbst zu beschränken, die Macht wäre, seine Gottheit zu beschränken, d. h. kein Gott zu sein. Einige Bertteter

Zweiter Abschnitt.

104

A.

dieser Theorie gehen denn auch bis zu der Behauptung fort, Gott könne nicht nur seine Macht und sein Wissen, Allgegenwart und Unendlichkeit beschränken,

sondern auck seine

woraus sie dann die

Thatsache erklären, daß GotteS Sohn gleich Gott den Himmel ver­ lassen und sich die Schranken eine- hilflosen Kindes auferlegt hat, was sie die Menschwerdung GotteS nenne».') Jede Lösung unseres Problem- ist verfehlt,

bei welcher ent­

weder die menschliche Freiheit dem GotteSbegriff, wie im Determinis­ mus, oder die Absolutheit GotteS, die ja eben das Wesen GotteS ausmacht, der menschlichen Freiheit zum Opfer gebracht wird,

wie

es in der eben besprochenen Theorie geschieht. Bon zwei Wegen ans wird man nie z» einer Vereinigung der menschlichen Freiheit mit der GotteSidee gelangen: 1) wenn man Gott als ein Einzelwesen sich vorstellt neben und außer den Wesen der Welt, daher menschenartig, aber mit lauter absoluten Eigenschaften versehen.

2) Wenn man ihn als Substanz, d. h. als die Alles be­

wirkende Naturmacht betrachtet. über,

da» Alles weiß und Alles bewirkt — was sind die anderen

Einzelwesen? lens.

Einem absoluten Einzelwesen gegen­

Selbstlose Durchgangspunkte seines Wissens und Wol-

Ein Selbstbewußtsein z. B.,

das von einem Anderen ganz

gewußt, bis in seine letzten Tiefen durchdrungen wäre, würde kein Selbstbewußtsein jenes Andern.

für sich sein,

sondern eben das Selbstbewußtsein

Denn eben das macht die Persönlichkeit auS, daß

sich der Geist im Individuum zur ausschließlichen Punctualität des Bewußtseins zusammenschließt, daß mein Selbstbewußtsein nicht zu­ gleich auch unmittelbar daS einer anderen Person ist, sondern nur mittelbar aus seinen Aeußerungen von dieser nachgebildet werden kann.

Die Undurchdringlichkeit, daS Fürsichsein gehört zum Begriff

deS Einzelwesens und ist so gut eine Eigenschaft deS Ich, als der Materie. **)

Es ist noch keinem Menschen gelungen, die Freiheit mit

dem absoluten Wissen und Thun eines anßerweltlichen GotteS zu vereinigen, und alle Versuche, dieses zu thun, sind nicht Lösungen,

l) Schölten, de vrije wil S. 317. *) S. Zeller über die moralische Weltordnung, Theol. Jahrb. 1847 S. 200.

sondern Verhüllungen deS Grundwiderspruch- gewesen durch künst­ liche Redensarten, die sich der genaueren Betrachtung jedesmal in Dunst aufgelöst haben (so z. B. da- Calvinische: Cadit homo providentia Dei sic ordinante, sed suo vitio cadit oder da- Ouenstedtische: Deus concurrit cum causia liberis per modum causae iiberae oder Deus in malis actionibus concurrit ad materiale, non ad formale n. s. w.). Auf da- Geheimnißvolle dieser Ver­ bindung darf man sich nicht berufen; e- ist kein Geheimniß für unS, wie göttliche Allwissenheit und menschliche Freiheit mit einander ver­ bunden seien, sondern cS ist u»S sehr klar, daß sie nicht verbunden sein können; wir begreifen dieses Verhältniß sehr gut, aber eben als ein unmögliches. Nicht anders wird die Sache durch diejenige Ansicht, welche Gott als Substanz, d. h. als die allwirkende Naturmacht zu begrei­ fen sucht. Hier ist Gott nur ein Name für das nicht näher be­ stimmte Weltvermögen, daS Alles hervorbringt, das unbekannte „Ding an sich", das alle« Einzelne, wie den Zusammenhang deS Ganzen begründet. Gott ist der Begriff der Causalitat al- der Alle- umfassende Weltbegriff. Ist Gott die absolute Causalität, so ist die Welt die absolute Wirkung, womit jede Art von Freiheit und Selbstthätigkeit ausgeschlossen ist. Au- diesem Grunde mußten Spinoza und Schleiermacher Deterministen sein. Unser Problem scheint sich nur lösen zu lassen, wenn man Ernst macht mit dem Begriff Gotte- al- de- der Welt allgegenw ä r t i g e n G e i st e«. Ist Gott der Welt einwohnend als ihr schöpfe­ rischer Grund und Zweck, so hat die Welt an Gott ihr eigeneWesen und wird, indem sie durch Gott bewegt wird, durch sich selbst, durch ihr eigenes Wesen bewegt, nicht aber durch eine ihr fremde, außer ihr stehende Macht. Daß die Erde um die Sonne wandelt, geschieht durch das Gesetz der Attraction; diese- Gesetz ist, wie jedes andere, ein Ausdruck des göttlichen Denken-; die Bewegung der Erde um die Sonne ist also eine Wirkung Gotte-; aber jeneGesetz gehört zugleich zum Wesen der Erde, e- ist ihre Natur, daß sie sich um die Sonne bewegt, es ist gleichsam ihre eigene Hand, die sie der Sonne entgegenstreckt, eö ist ihre eigene, au- ihrem

Zweiter Abschnitt.

106

A.

Wesen quellende Kraft, mit der sie thätig ist.

Wenn der Mensch

durch die Wahrheit und das Gute sich bestimmen läßt,

so sagen

wir mit Recht: er wird durch Gott bestimmt; aber da die Wahrheit das logische, daS Gute das moralische Gesetz seines eigenen Wesens ist, da die Vernunft, das Organ der Wahrheit, das Gewissen, daS Organ deS Guten,

Organe des Menschen sind,

Wesen ausmachen, die zu seiner Natur gehören,

Kräfte,

die sein

so handelt er mit

eigenen Kräften und bestimmt sich aus und durch sich selbst.

Die

Dinge der Welt haben daS Absolute, das ihr schöpferischer Grund und Zweck ist, an sich selbst als daS Gesetz ihres eigenen Wesens; indem jenes in ihnen wirkt,

sind sie in ihm selbstthätig.

und lebt und webt tn uns,

Gott ist

und wir sind und leben und weben

in ihm. Daß in der Stufenreihe der Dinge ein Geschöpf auftritt, wie der Mensch, daS durch das Gesetz seines Wesens nicht mit Natur­ nothwendigkeit getrieben

wird,

sondern sich mit formaler Freiheit

gegen dasselbe auflehnen, also, während eS die Wahrheit weiß, lügen, während eS im Guten das Gesetz seines Wesens kennt, schlecht han­ deln kann, daS scheint nun aus dem Wesen Gottes als des absolu­ te» Geiste- und des Menschen als deS endlichen Geistes noth­ wendig hervorzugehen.

Ware Gott nur die absolute Causalität,

müßte auch daS göttliche Gesetz des Menschen,

so

wie es sich in der

Wahrheit und in der sittlichen Idee ankündigt, sich im Menschen mit der unwiderstehlichen Gewalt

der Naturnothwendigkeit

durchsetzen,

wie die Blumenknolle mit Nothwendigkeit die Blume hervorbringt, die nach dem Gesetz ihre- Wesens in ihrem Keime angelegt ist.

Nun

aber ist Gott Geist, wie der Mensch seinem Wesen nach Geist ist. Geist wirkt aber auf Geist nie zwingend, mit Naturgewalt durch­ setzend, sondern überall nur anregend, ziehend, verpflichtend, begei­ sternd; jede Einwirkung des Geistes auf Geist geschieht unter Appel­ lation an die Selbstthätigkeit. Wird aber hiermit die Allmacht und Allwissenheit Gottes nicht aufgegeben? Eigenschaften

Sie wird nur aufgegeben im Sinne menschenähnlicher eines Einzelwesens,

aber

nicht

ihrem

Wesen

nach.

Setzen wir Gott gleich Ordnung der Welt (diese Gleichstellung kann

nichts Verfängliches haben, wenn man sich nur erinnert, daß Ord­ nung ein Product deS Denken- ist, Denken eine Thätigkeit de» Geistes, Gott also der Geist, der alle Ordnungen der Welt durch seine Thätigkeit hervorbringt und setzt), dann bezeichnen wir durch die göttliche Allmacht die Alle- umfassende, tragende, einem jedm sich eindrückende Ordnung der Welt. Ist dann der Mensch, wenn er vermöge seiner Willkühr sich auflehnt gegen da» Gesetz feine» Wesen-, nicht getragen und umfaßt von dieser Ordnung der Welt, zu deren Formen ja da» Vorhandensein von Wesen gehört, die sie zum Gegenstand ihrer Erkenntniß und ihre» Willen» machen, da­ durch sich ihr gegenüberstellen können, ohne jemals im Stande zu sein, sie aufzuheben oder umzustoßen? Und wenn da» Gesetz seine» Wesen», in welchem sich der göttliche Wille kund giebt, vom Men­ schen übertreten, immer und überall sich rächt, wo ein solcher Mensch sich findet, sei'» am äußersten Meere oder in den Tiefen der Erde, und so die Ordnung der Welt al» eine unantastbare, von mensch­ licher Willkühr nicht berührte sich ohne Verzug kund giebt, ist diese» nicht zugleich der Beweis, wie der richtige Au-drück für die göttliche Allwissenheit? Da Gott der der Welt einwohnende Grund und der immanente Zweck ihre« Leben» ist, so werden die Dinge der Well, wenn sie durch Gott bestimmt werden, nur durch ihr eigene» Wesen bestimmt; sie sind also selbstthätig und frei; sie entwickeln sich auf dem göttlichen substantiellen Grund ihre» Wesen» .selbstthätig zu dem göttlichen Ziel ihre» Leben». Da da» Göttliche den Dingen wirklich einheimisch ist, so müssen diese selbst göttlicher Natur sein und nicht bloß durch ihre Hinfälligkeit, Unmacht und Selbstlosigkeit, sondern durch ihre selbsteigene Macht da» Göttliche offenbaren. Da» End­ liche hat da» Unendliche, wie e» von diesem gesetzt ist, auch an sich al» da» Gesetz und Ziel seine» Dasein», ist daher nicht bloß Creatur, sondern Offenbarung de» Unendlichen.

Zweiter ilMrf’ititt.

108

H.

B. Gott and der Measch.

§ 12. Das christliche Princip setzt dem Menschen die Aufgabe, daß er die innere Unendlichkeit, die sein wahres Wesen ausmacht, aus den Umhüllungen seines sinnlich-empiri­ schen Daseins an daS Licht der klaren Erkenntniß und der bewußten WillenSthat herausarbeite, oder anders ausgedrückt:

daß er aus der Natürlichkeit und Sinnlich­

keit seines empirischen Zustandes zur freien Geistigkeit und eben damit zur bewußten Einheit mit Gott gelange, der der Geist ist.

Diese Forderung setzt voraus einmal,

daß diese Einheit noch nicht vorhanden ist — sonst wäre sie Thatsache, nicht Forderung; sodann aber auch, daß sie zum Wesen des Menschen gehört und in seiner Natur ursprünglich angelegt ist — sonst könnte sie nicht ver­ langt und als zu erstrebende Aufgabe vorgestellt werden. Hieraus ergeben sich für das Verhältniß des Menschen zu Gott die drei Theile: 1.

Die ursprüngliche, noch unmittelbare und natürliche Ein­ heit

des Menschen

mit Gott oder der noch natürliche

Mensch. 2.

Der Zwiespalt des Menschen mit Gott — der Mensch unter dem Gesetz.

3.

Die bewußte und freie Einheit des Menschen mit Gott — der geistige (pneumatische) Mensch.

Man hat an dem Ausdruck „Einheit des Menschen mit Gott" Anstoß genommen.

Denn diese vollkommene Uebereinstimmung des

endlichen mit dem unendlichen Geiste, welche das Wort „Einheit" bezeichne, lebe nur auf dem Papier und in der Welt der Formeln; die Wirklichkeit schweige von ihr.

Bor die Bank der wissenschaft­

lichen Kritik gestellt, erscheine sie als eine schöne Redensart, als eine wohllautende Zhmbel.

Würde man Ernst damit machen, so würde

entweder daS Göttliche im Menschlichen oder daS Menschliche im

Göttlichen aufgehen und untergehen.

Nicht die Einheit, sondern die

Verwandtschaft sei die einzige Form, unter welcher daS Verhält­ niß zwischen Gott und Mensch sich in einen Begriff bringen lasse. Allein man verwechsle nicht Einheit mit Einerleiheit.

Bel

allem Gegensatz zwischen Mann und Weib verlangt doch die Ethik, daß sie in der Ehe EinS werden tm Geiste;

bei allem Unterschied

der Menschen unter einander fordert doch die Religion, daß sie Alle Eins werden in Gott.

Diese Einheit bezeichnet eine Uebereinstim­

mung des Geistes und der Gesinnung, welche die größte Mannig­ faltigkeit und Berschiedenheit neben sich duldet.

Sagt man, diese

Uebereinstimmung des Menschen mit Gott werde in der Wirklichkeit nie zur

vollkommenen

Einheit, so spricht man damit nur da- allge­

meine Verhältniß aus, in welchem die Idee zur Wirklichkeit über­ haupt steht (vgl. § 9 ©. 86).

Extensiv wird der menschliche Geist

auf keinem Punkte seiner Bahn jemals alle Wahrheiten erreicht haben, so daß er, frei von jedem Irrthum und jeder Schranke der Erkenntniß, das ganze Universum als den ungetrübten Spiegel der göttlichen Gedanken in sich trüge;

extensiv erreicht der Mensch nie

alle sittlichen Vollkommenheiten, so daß er, frei von allen Mängeln und Schranken des Willens, alle Leben-momente der sittlichen Be­ trachtung und Behandlung ohne Rest unterworfen hätte;

und den­

noch: wenn er bei allen Schranken und Irrthümern seines Wissendie Wahrheit hat, und wenn er bei allen einzelnen Unvollkommen­ heiten seines WollenS den heiligen Geist in sich fühlt, weiß er sich Eins mit Gott. UeberdieS ist der Begriff der Verwandtschaft in dieser Be­ ziehung der

ungeschickteste,

Gott zu bezeichnen.

um da- Verhältniß de- Menschen zu

Die unvollkommenen Gottesbegriffe de- Deis­

mus und SocinianiSmuS könnten nicht besser gezeichnet werden, als durch die Formel der Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch. Genügt diese Formel für die Erfahrungsthatsachen der Religion? Der Fromme sagt von Gott: „wenn ich mtt Dich habe!"

DaS ist

der Ausdruck seiner religiösen Erfahrung, daß er im Geistesverkehr mit Gott nicht bloß dieses oder jenes Stück von Gott, jene Gabe seiner Hand,

sondern ihn selbst erhält,

diese oder

der Wohnung

Zweiter Abschnitt.

110

B.

I.

macht in seiner Seele als der allgegenwärtige Geist.

Wenn der

Mensch durch das unbedingt Gute und Heilige in seinem Willen so getrieben wird,

daß er sagen kann:

Gott lebt in mir,"

„nicht ich lebe mehr,

sondern

so hat er in seiner religiösen Erfahrung weit

mehr, als der Begriff der bloßen Verwandtschaft in sich enthält. Die Thatsache der religiöse» Erfahrung erschöpft sich nur durch den Begriff der Einheit zwischen Gott und Mensch. Und waS soll vollends die Wissenschaft mit einem so rein äußerlichen Begriffe anfangen?

Die Verwandtschaft bezeichnet ein

Verhältniß mehrerer Individuen oder Größen, die zwar diese und jene Züge mit einander gemein haben, im Uebrigen aber gegen ein­ ander

abgeschlossen

sind

und für sich bestehen;

dann ist Gott eine

Größe und der Mensch eine Größe, Gott ein besonderes Ding und die Welt ein besonderes Ding, jedes hat vom Anderen Etwa-, aber Beide stehen neben und außer

einander.

Nennen

wir Gott den

schöpferischen Grund, wie den Zweck den Welt, welchen Sinn soll es haben, zn sagen, die Welt sei verwandt mit Gott?

Bezeichnen

wir Gott mit dem allgemeinsten Ausdruck als die Alles befassende Ordnung der Dinge,

waS soll dann heißen:

die Dinge der Welt

seien verwandt mit ihrer eigenen Ordnung?

I. Der natürliche Mensch. § 13. Der anfängliche, ursprüngliche Zustand eines jeden Men­ schen ist die unmittelbare Einheit deS Geistes und der Natur in ihm.

Der Geist hat sich noch nicht als selb­

ständige, bewußt-thätige Macht seiner natürlichen Unter­ lage, dem Leib und den sinnlichen Trieben, gegenüber­ gestellt, sondern er ist noch die unbewußt organisirende Idee des Leibes.

Der Geist

natürliche Geist, der Mensch

auf dieser

Stufe ist der

im ersten Stadium seiner

Entwicklung der natürliche Mensch. Schleiermacher in seiner christlichen Glaubenslehre und Rnckert in seiner „Theologie" bestimmen freilich die ursprüngliche Beschaffen-

Der natürliche Mensch.

111

heit des Menschen ander-, als eS im § geschehen ist. Schleier­ macher stellt die Entwicklung de- Menschen so dar, al- ob zuerst da- Natürliche, da- Fleisch, die Sinnlichkeit im Menschen wäre und für sich wirkte und hernach der Geist erst auch al» eine Größe hin­ zukäme, nachdem der erste Factor schon geraume Zeit für sich thätig gewesen. Aber wa- wäre denn da- Fleisch in seiner Fürfichthätigkeit? ein Erdenkloß, aber kein menschlicher Organismus. Man schreibt diese organisirende Thätigkeit gewöhnlich der Seele zu, aber wa- ist der menschliche Geist anders, als die zum Denken und zur Selbstbestimmung entwickelte Seele? Der Geist ist seinem vollen Begriff nach als Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung wesentlich Resultat, aber M Resultat ist nur die Vollendung des ursprünglich Angelegten; der Geist ist also von Anfang an als Anlage im Men­ schen und bewährt seine Kraft schon als unbewußt organisirende Thätigkeit des Leibes und entwickelt sich zum Selbstbewußtsein und zur freien Selbstbestimmung. In seinem ersten Stadium ist er der natürliche, der noch unbewußt und selbstlos an den Fluß des natür­ lichen, sinnlichen Lebens hingegebene Geist. Der Mensch ist nicht ein Compositum aus Leib und Seele, so daß beide zwei selbstthätig neben einander wirkende Kräfte wären, sondern Geist und Fleisch sind anfänglich unmittelbar Eins. Auch Rückert in seiner „Theologie" definirt den Geist als die Kraft, das Gute absolut und frei zu wollen. Aber wenn der Geist von Anfang an diese Kraft ist, so bleibt die ganze Entwicklung deMenschen ein Räthsel. Wo ist im ersten Leben-alter de- Menschen die Kraft, das Gute absolut und frei zu wollen? Wie soll dann die Sünde entstehe», die doch nach Rückert'S ausdrücklicher Erklärung eilt Werk des Willens, d. h. des selbstbewußten Geistes fein soll? Rückert findet hier nur Einen Ausweg, den er nach seiner nüchter­ nen, vor phantastischen Hypothesen sich scheuenden Denkweise nur mit innerem Widerstreben betritt: Da die Sünde, sagt er, in unS ist schon als das Werk einer Zeit, in welcher die Richtung auf daGotteSbewußtfein, d. h. der Geist als selbstthätige Kraft noch nicht in nnS erschien, so mnß die Sünde da- Werk einer präexistenten Willensentscheidung sein; der Mensch mutz in einem diesem zeitlichen

112

Zweiter Abschnitt.

B. I.

Leben vorangehenden Zustande mit Selbstbewußtsein gesündigt haben und diese Sünde hängt ihm mm in diesem Leben von Anfang an an. Der Mangel dieser Theorie liegt in einem abstracten Ausein­ anderhalten Dessen, was im Grunde Eins ist und sich verhält wie die Frucht zum Keime. Ist die Sünde ihrem vollen Begriff nach wesentlich ein Werk des sich mit Freiheit und Selbstbewußtsein ent­ scheidenden Willen-, machen wir aber zugleich die Erfahrung, daß sie schon in unS ist zu einer Zeit, in welcher von einer bewußten Richtung des Willen- auf das Gute noch keine Rede sein kau», so folgt daraus nicht eine präexistente WilleiiseiUscheitung, ans welcher diese unfreie Sünde herzuleiten wäre, sondern es ist nur so viel zu schließen, daß Die Sünde eben nicht von Anfang an ihrem vollen Begriff nach, in der ganzen Totalität ihre Momente in uns er­ scheint; sie ist Anfangs natürliche Unvollkommenheit und wird erst bei fortschreitender Entwicklung des Mensche» ein Werk des Willens. DaS Gleiche gilt vom Begriff des Geistes. Ist der Geist seinem vollen Begriffe nach die Kraft, da» Gute absolut und frei zu wollen, äußert sich aber im Anfang unseres Lebens noch nicht als diese Kraft, so ist daran- nur zu schließen, daß der Geist im individuellen Menschen in einer Form da ist, die seinem Wesen noch nicht ent­ spricht, in der Form der Natürlichkeit, als natürlicher Geist. Der Ausdruck „natürlicher Geist" scheint einen Widerspruch zu enthalten, weil ja Geist eben den Gegensatz gegen die Natur bildet und wesent­ lich die die Natur bestimmende, beherrschende Macht sein soll; aber eS ist kein logischer Widerspruch, de» wir nur zu entdecken brauchten, um die ganze Bestimmung alS unbrauchbar und ungereimt fallen zu lassen, sondern eS ist ein dem Mensche» als einem endlichen Wesen anhaftender Widerspruch, der überwunden werde» soll und darum die menschliche Entwicklung bedingt. Auch die Natur außer unS giebt u»S den Begriff deS noch ohne Freiheit und Selbstbewußtsein schaffenden Geiste- an die Hand. Die durch die ganze Natur hin­ durchgehende immanente Zweckmäßigkeit stellt uns die gleichen Er­ scheinungen vor Augen, welche wir, wo wir ihnen in der Menschen­ welt begegnen, als das Werk de- nach bewußten «besetzen thätigen Geiste- kennen.

Der natürliche Mensch.

113

Wurde Rückert durch die Verkennung deS Geiste- al- de- natür­ lichen auf die phantastische Ansicht von einer präexistenten Willen-that geführt, so geräth auch Schleiermacher durch dieselbe unrichtige Fassung de- Geiste- al- einer dem Fleische gegenüberstehenden, neben ihm hergehenden Kraft zu einer ebenso unrichtigen Ableitung der Sünde, indem er ihren Ursprung in der Sinnlichkeit findet. Der Geist erscheint von Anfang an al- rein und vollkommen, die Sinnlichkeit als Etwa-, wa- den Geist nur trüben und ver­ dunkeln kann. Für da-, wa- der § den natürlichen Menschen nennt, gebraucht der Apostel Paulus die Worte: av&Qwnos ipv%ixog und aaQxtxog (der seelische und der fleischliche Mensch); jedoch fassen diese Worte noch mehr in sich, al- der § zuläßt; e» ist darunter auch der Mensch unter dem Gesetze, in welchem da- nxevfta noch nicht regiert, be­ griffen. Wvxixog, weil auf dieser Stufe der Geist sich noch nicht zum vollen Selbstbewußtsein und zur freien Selbstbestimmung ent­ wickelt hat; oaQxixog, weil hier wesentlich die au- der Natur her­ kommenden Impulse zum Handeln antreiben, der Geist noch an die Natur hingegeben ist.

8 14. Weil der Mensch an sich, seiner Anlage nach, Geist ist, so hat er da- Göttliche an sich al- sein innerste- Wesen; er ist göttlichen Geschlecht- (Act. 17, 29), er ist nach Gotte- Bilde geschaffen (Genes. 1, 27). Gott ist der schöpferische Grund de- menschlichen Wesen-, der sich in der Vernunft aldem Organ der Wahrheit und im Gewissen al- dem Organ de- Guten ankündigt. Weil ferner der Mensch die Be­ stimmung hat, den Geist, der als Anlage in ihm ist, zu seinem vollen Begriff zu entwickeln, d. h. freier, selbst­ bewußter Geist zu werden, so ist Gott da- bleibende Ur­ bild de- Menschen, da- Ziel, nach welchem er streben muß. Kraft dieser an sich seienden Einheit de-Menschen mit Gott ist ihm da- göttliche Gesetz in'-Herz geschrieben Lang, Dogmatik. 2. Aufl.

g

114

Zweiter Abschnitt.

B.

I.

und Beginnt zugleich mit dem GotteSbewußtsein und dem Erwachen der eBenBildlicheu Intelligenz seine allmählige Entfaltung (Röm. 2, 14f.).

Man

kann daher mit demselben

Recht, mit welchem Tertullian redet von einer anima naturaliter chriatiana,

auch

sprechen von einer anima naturaliter divina.

Die Bedeutung der im § enthaltenen Bestimmungen über das Wesen'des natürlichen Menschen wird sich ergeben aus einer Be­ leuchtung der denselben entgegengesetzten Theorien.

Das hier fest­

gesetzte Verhältniß zwischen Gott und dem Menschen kann in doppel­ ter Weise gelängnet werden: solchen Schlechtigkeit des

entweder durch die Behauptung einer

natürlichen Menschen, daß darüber die

gvttliche Ebenbildlichkcit zu Grunde geht, oder durch die Behauptung einer solchen natürliche» Güte des Mensche», daß dadurch der Unter­ schied deS erst natürlichen Geistes von dem freien sittlichen Geist, überhaupt das eigentliche Wesen des Sittlichguten aufgehoben wird. Die erste dieser Behauptungen ist von zwei ganz verschiedenen Seiten ausgestellt und vertheidigt worden, von einer sensualistischen Philosophie und von der altkirchlichen Theologie.

Jene,

begründet

in England durch Locke und HobbeS, fortgeführt durch die französische Aufklärung, spricht dem Menschen die moralische und religiöse An­ lage ab.

Der Mensch ist absolut indifferent gegen daö Gute und

Böse; er ist nicht böse, aber auch nicht gut, weil er eigentlich die Anlage zu keinem von beiden hat.

Da ihm alle angeborenen Ideen

fehlen, so ist der sittlichen Entwicklung der Boden weggenommen. Der Mensch ist ein selbstsüchtiges Wese»; was ihm schadet, der Sittlichkeit.

ist ihm böse; Tugend,

davon reden will,

waS ihm nützt,

ist gut,

cS giebt also keine objective Norm

wenn man überhaupt inconsequent noch

ist bloße Modesache, wie dies mit Recht schon

ShafteSbury an Locke'S Theorie getadelt hat; sie hat keinen anderen Maßstab, als die wechselnde Gewohnheit, oder, wie HobbeS folge­ richtig ergänzt, Tugend und Laster sind Begriffe, welche nur durch die willkührliche Entscheidung deS Staates entstehen.

Auch die katholi­

schen Theologen sind in einer ähnlichen Anschauung befangen, wenn sie die sogenannte Justitia original» oder daö göttliche Ebenbild als ein donrnn superadditum schildern, das die menschliche Natur nicht

wesentlich mitconstruire, sondern nur äußerlich zu derselben hinzugekommen sei. Giebt eS nach der Anschauung jener Philosophen keine objective Norm der Sittlichkeit, so hat zwar die katholische Lehre eine solche an dem außer dem Menschen stehenden heiligen Gott und seinen Geboten, aber auf Seiten des Menschen entsteht nur sklavi­ scher Gehorsam, nie aber sittliche Freiheit, weil das Göttliche, das die Norm der Sittlichkeit abgeben soll, nicht zu seinem Wesen ge­ hört, ihm rein äußerlich (auperadditum) ist. Eine eigenthümliche Stellung nimmt in dieser Frage die alt­ protestantische Dogmatik ein. Sie betrachtet den Menschen von Natur als wesentlich göttlichen Geschlechts,') läßt ihn aber durch die erste Sünde so zerrüttet und verdorben werden, daß er von sich aus etwas wahrhaft Gutes weder wollen noch thun kann und erst durch übernatürliche Mittel die Elemente de- Willens umgestaltet und erneuert werden müssen. In Beziehung auf den jetzigen Men­ schen behauptet also diese Theorie, ganz wie jene Philosophen, eine solche natürliche Schlechtigkeit, daß die ursprüngliche göttliche Eben­ bildlichkeit darüber zu Grunde geht. Diese Lehre ist aber exegetisch und wissenschaftlich unhaltbar und widerspricht zudem aller Erfah­ rung. Bon einer Erbsünde und einer durch dieselbe bewirkten ab­ soluten sittlichen Unfähigkeit ist in der heiligen Schrift nirgend- die Rede. Christus stellt in allen Reden, welche die Synoptiker unvon ihm aufbewahrt haben, die Menschenseele durchgängig dar al» empfänglich und offen für da» Gute, vgl. z. B. da» Gleichniß vom Säemann; auch den Bruder de- verlorenen Sohnes zeichnet er in dem bekannten Gleichniß zwar als einen Menschen, dem die volle Sittlichkeit abgeht, aber doch als einen Sohn, mit dem der Bater zufrieden ist; er wirst nicht alle Menschen in unam massam perditionia zusammen, sondern macht einen relativen Unterschied zwi­ schen Gesunden und Kranken, Gerechten und Ungerechten. Alle Worte und Handlungen,') welche uns in Beziehung auf die Kinder ') Die Bezeichnung diese» Zustande» durch Justitia original,» im Sinne von wirklicher Sittlichkeit ist freilich unrichtig; denn eine angeborene, originale Heilig­ keit ist eine c.outrudictio in adjeeto. ») Mark. 10, 13-16. Matth. 18, 10. 21, lös.

116

Zweiter Abschnitt

R.

I.

von Christus berichtet werden, enthalten das entschiedenste Gegentheil einer Ansicht, die schon das unschuldige Leben zu einem Gegenstand de- göttlichen Zorns und zu einem Eigenthum des Teufels machen will. Auch Paulus, auf welchen diese Anschauung sich gewöhnlich stiltzt, weiß, genauer betrachtet. Nichts von einer Erbsünde im Sinne der altkirchlichen Dogmatik. Nach ihm ist der Mensch, auch der erste Adain von Natur %oixog, aaqxixog, darum sündig, hat aber unter der Sünde immer die Liebe zum Guten und die Freude an dem­ selben, die eS aber gleichwohl nie zum Vollbringen bringt; die Ursache deS Ersteren liegt im vovg, der eine Freude hat an GotteS Gesetz, die Ursache deS Zweiten in der aaq%, die als der Sünden Gesetz ln den Gliedern Ist; vollendet wird die menschliche Natur erst — freilich eine Antinomie im Lehrbegriff des Paulus — wenn das göttliche nvevfia in ihn kommt, das aber, sobald cS einmal in ihn eingegangen, identisch wird mit dem eigenen Geiste deS Menschen, also nichts transscendentes mehr bleibt. Ganz ähnlich dieser ist auch die Anschauung Zwingli'S.') Auch Johannes weiß Nicht- von einem Falle deS ersten Menschen und von einer Erbsünde. Er nimmt bei einem Theil der Menschen eine von Hause aus gegebene Gotteskind­ schaft und GotteSgezeugtheit an, welche er als die Bedingung für da- Erwachen deS Glaubens im Herzen derselben betrachtet (Joh. 1, 12. 13. 11, 52). Diesen stellt er dualistisch die Anderen als Dä­ monische, vom Teufel Gezeugte entgegen. Läßt sich so die Erbsündentheorie schon durch exegetische Gründe nicht genügend stützen, so ist die Lehre von der gänzlichen Schlechtig­ keit de- natürlichen Menschen auch wissenschaftlich unhaltbar,') weil sie den Willen überhaupt, also das Wesen des Menschen aufhebt; ein Wille, der das Gute nicht mehr wollen kann, ist eine contradiotio in adjecto. Schleiermacher sagt mit Recht, diese Ansicht laste den Menschen ohne die menschliche Natur geboren werden und hebe die Möglichkeit der Erlösung durch Christus auf, weil, um den ') Vgl. Sigwart: Ulrich Zwingli S. 94 ff. *) Ts wird hier aus eine kritische Beleuchtung der Lehre von der Erbsünde und ihren Folgen verzichtet, da die Schleiermacher'sche Kritik derselben — christl. @1. § 94 — als fait accompli betrachtet wird.

Der natürliche Mensch.

117

Menschen für deren Aufnahme empfänglich zu machen, vorher eine von ihr unabhängige Umschaffung de» Menschen bewirkt werden müßte.') Aber auch Schleiermacher selber ist nicht vom Tadel frei­ zusprechen, wenn er die vor jeder That in jedem Einzelnen begrün­ dete Sündhaftigkeit als eine vollkommene Unfähigkeit zum Guten be­ schreibt, dabei aber für die menschliche Natur wenigsten- noch die Empfänglichkeit für die Aufnahme der Erlösung retten will. Denn die- ist ein offenbarer Widerspruch. Ein Wille, der vollkommen unfähig ist zum Guten, kann dieses nicht als Antrieb des Handelnin sich aufnehmen, ist also nicht empfänglich für die Aufnahme des Sittlichguten, das ihm in der Erlösung durch Christus angeboten wird. Läßt man dem menschlichen Willen auch nur die Empfäng­ lichkeit für daS Gute, so hat man in der That deffen behauptete Unfähigkeit zum Guten wieder zurückgenommen; ein Wille, der für daS Gute empfänglich ist, hat daS Gute als Antrieb in sich und ist soweit bereits gut. Schleiermacher vindicirt auch in Wahrheit, wenn­ gleich nicht dem Worte nach, dem menschlichen Willen mehr, als die bloße, passive Empfänglichkeit für das Gute. Denn verfolgen wir den Gedankengang seiner Dogmatik, so finden wir, daß er unter Empfänglichkeit für die Erlösung nicht- Andere- versteht, als die Fähigkeit, die Kraft des menschlichen Willen-, die in der Kirche überlieferte Selbstdarstellung Christi in sich aufzunehmen oder mit anderen Worten: sich zur Idee seine- Wesen- zu erheben, wie sie in Christus realisirt worden ist. Die Uebereinstimmung Schleiermacher's mit diesem Artikel der altkirchlichen Lehre beruht mehr auf einem Schein; soweit seine Ansicht von der Art und Weise der durch Christus vollbrachten Erlösung sich von der altktrchlichen unterscheidet, soweit ist seine Behauptung einer vollkommenen Unfähigkeit des natür­ lichen Menschen zum Guten verschieden von der einer gänzlichen Verdorbenheit der menschlichen Natur in Folge der Erbsünde. Die Herabdrückung des menschlichen Willen» zur reinen Passivität erklärt sich allerdings aus Schleiermacher'S philosophischen Voraussetzungen, auS seinem spinoziftischen Gottesbegriff und seinem Determinismus; *) Christi. Gl. § 91.

Zweiter Abschnitt. B.

118

I.

aber dieser würde dem Willen folgerichtig die gleiche passive Stellung zum Bösen,

wie zum Guten anweisen und es wäre von ihm eine

Unfähigkeit zum Bösen ebensogut, als die Unfähigkeit zum Guten auSznfprechen.

Wenn gleichwohl Schleiermacher die letztere betont,

so ist dies nur ein Postulat seiner Christologie, wie er dies indirecr selbst zugesteht, wenn er sagt, daS volle Bewußtsein der Sünde werde erst durch das der Erlösung gewonnen. Hat sich im Bisherigen die behauptete gänzliche Schlechtigkeit des natürlichen Menschen als dem Begriff des Willens widersprechend erwiesen, so steht sie endlich auch im Widerspruch mit der täglichen Erfahrung.

Stellen wir ein Kind in die Mitte!

Weht uns da das

Gefühl an, als Hanen wir ein grundverdorbenes, zu allen wahrhaft guten Regungen unfähiges Wesen vor unS? Liebe zu dem Kinde,

Woher käme unsere

wenn eS nicht liebenswürdig wäre?

Nehmet

die Menschen um euch, die oft nur allzu „natürlich" sich geberden, von denen ihr selbst ihrem größeren Theile nach aussagt, daß sie nicht wiedergeboren seien!

Wenn der natürliche Mensch so schlecht

wäre, wie ihr ihn schildert, wenn er Gott und den Nebenmenschen nur hassen könnte, wenn er unfähig wäre, in diesem Zustande das Gute zu wollen, geschweige zu thun, wie lange wäret ihr eures Lebens sicher?

DaS Band der Liebe, der Treue, der Pietät, das sich auch

auf dem Boden des natürlichen Lebens, bei Menschen,

die ganz

außerhalb des christlichen ErlösungSgebieteS stehen, ungewollt und von selbst um Eltern und Kinder, um Gatten, Freunde, um Fürst und Volk schlingt,

widerlegt vollständig die Theorie von der gänz­

lichen Unfähigkeit des natürlichen Menschen zu irgend einem wahr­ haft Guten.

DaS Familienleben, die Freundschaft, daS bürgerliche

Leben mit seinen wenn auch noch so rohen Rechtsverhältnissen — daS sind sittliche Lebensformen, in welchen der dem Menschen von Natur einwohnende sittliche Gehalt sich einen Ausdruck giebt.

Es

ist die höchste Sittlichkeit, wenn der Wille sich mit freiem Selbst­ bewußtsein durch sein eigene- Wesen bestimmt, aber cs ist nicht die einzige Form der Sittlichkeit; es giebt auch eine naive Sittlichkeit, in welcher der Mensch wie durch einen reflexionslosen Naturtrieb, in Folge eines glücklichen Inftinctö das Rechte trifft, eine Form,

die z. B. auch auf höher entwickelten Stufen dem weiblichen Ge­ schlechte eigenthümlich ist. Nur dadurch ist e- möglich und richtig, von einer natürlichen HerzenSgüte zu reden, die nicht da» Werk des sich durch die Idee des Guten bestimmenden Willen- ist. Ueberhaupt ist oft die Natur das Beste am Menschen und setzt den Ver­ irrungen und Lustsprüngen deö Geiste- oft eine wohlthätige Schranke. Trefflich hat Schiller gesagt: was ist unsere gepriesene Selbständig­ keit, wenn die Natur fehlt? Läßt man den natürlichen Menschen durchaus schlecht und ver­ dorben sein, so übersieht man das der menschlichen Natur substanziell einwohnende, ihr stets mitgesetzte Göttliche, da» seine Entfaltung mit dem Anfang bei' umschliche» Entwicklung beginnt und sich in sittlichen Gefühlen, Strebungen, Lebensformen einen Ausdruck geben muß, ehe noch dem Menschen ein klare- Bewußtsein de- göttlichen Gesetze- und der sittlichen Idee aufgegangen ist. Um die Härte, welche in der Behauptung einer absoluten Ver­ dorbenheit des natürlichen Menschen liegt, etwa- zu mildern und den Erfahrungen des täglichen Leben- einigermaßen gerecht zu wer­ den, hat die ältere Kirchenlehre, der Schleiermacher auch hierin ge­ folgt ist, den Begriff der bürgerlichen Gerechtigkeit (justitia civilis) aufgestellt. Man hat dem menschlichen Willen neben der überlas in malis eine überlas in externis gelassen. Aber diese überlas in extemis, auf welcher die bürgerliche Gerechtigkeit beruht, ist nichtAndereS, als überlas in malis, weil der Voraussetzung nach der Wille unfähig ist ;u allem Sittlichguten, und e» ein indiffereyteGebiet, da- nicht unter die sittliche Werthschätzung fiele, nicht geben kann. Schleiermacher') führt als ein Beispiel der justitia civilis und als ein Schema für dieses ganze Gebiet die Vaterlandsliebe an, welche „als die Selbstliebe eines Volke- mit Leidenschafllichkeit und Ungerechtigkeit aller Art gegen diejenigen verbunden sein kann, welche außerhalb diese- Verein- stehe», wenn nicht der Eigennutz und die Ehrliebe des Gemeinwesens, welche wiederum Eigenliebe ist, da» Gegentheil fordern." Aber wir fragen: ist darum die Vaterland»*) Chris». Gl. § 91. 3.

liebe etwa» Sittlichschlechtes oder sittlich Indifferentes, weil sie noch nicht durch die sittliche Idee von aller Einseitigkeit gereinigt ist? Bei der Frage nach dem sittlichen Werth einer Handlung kommt e» einzig auf die Motive an, ob diese in der Selbstsucht oder in der Liebe zum Guten liegen. Wagt nun Jemand zu behaupten, daß der natürliche, d. h. außerhalb de» christlichen ErlösungSgebietes stehende Mensch sich nur an» Selbstsucht für sein Vaterland aufopfern könnte? Sonderbare Selbstsucht, die sich selbst hingiebt und da» Leben opfert! Mögen immerhin selbstische Motive, wie Ruhm­ sucht, Ehrliebe, mitlaufen, so sagt ja Schleiermacher, übereinstimmend mit der Kirchenlehre, auch von den Wiedergeborenen, daß auch bei lhrem beste» Werke dte Sünde immer noch in irgend einer Weise mitwirke. Die Vaterlandsliebe, wenn auch mit unreinen Elementen vermischt, ist eine sittliche Lebensform, ein Ausfluß der gottbegabten Menschennatur und ihre Erscheinung auf dem Boden de» natürlichen Menschen widerlegt die Voraussetzung der absoluten Unfähigkeit des natürlichen Menschen zum Guten. Zwingli ist hierin konsequenter und hat eingesehen, daß mit der Annahme einer absoluten sittlichen Unfähigkeit auch eine bloß bürgerliche Gerechtigkeit sich nicht verträgt; er läugnet sie geradezu. Mit dem Verlust de» göttlichen Geistes in der ersten Sünde sind die Grundlagen aller Sittlichkeit geschwunden, und wenn die Menschheit nicht in unmenschlichen Frevel und gräu­ liche Laster gefallen ist, so ist dies nicht der Güte der menschlichen Natur, sondern der göttlichen Vorsehung zuzuschreiben, die durch verschiedene Veranstaltungen die Bösen zwingt und „verhebt." Zwingli erklärt daher den Staat, die Verhältniffe deS Vertrag«, da« EigenthumSrecht, in welchen wir einen Ausdruck des der menschlichen Natur einwohnenden sittlichen Gehalte» sehen, für Folge der Sünde *) und kommt hierin von ähnlichen Voraussetzungen zu ähnlichen Consequenzen, wie Hobbe». In der That, wäre die Behauptung der gänzlichen Verdorbenheit de» Menschen richtig, so könnte er sein Vaterland und seine Mitmenschen nur hassen, die Mutter müßte ihr *) Sgl. Sigwart: Ulrich Zwingli.

Der natürliche Mensch.

121

Kind in der Wiege erwürgen und der Bräutigam die Braut in der Umarmung bestehlen. Aber diese Theorie der Justitia civilis widerspricht nicht nur den eigenen Voraussetzungen, sondern sie beruht überhaupt auf einer falschen dualistischen Anschauung von dem Verhältniß GotteS und der Welt. Man sagt, in weltlichen Dingen könne man seine Pflich­ ten erfüllen und rechtschaffen sein, ohne von der christlichen Erlösung berührt zu sein; man könne ein tüchtiger Regent, ein gehorsamer Staatsbürger, ein redlicher Verwalter öffentlicher Güter, ein ehr­ licher Kaufmann, ein fleißiger und sparsamer Familienvater u. s. w. sein, nur in geistlichen Dingen, nämlich wenn eS sich um die Liebe zu Gott und die freudige Erfüllung seiner Gebote handle, da ver­ möge der Mensch Nichts ohne den Beistand der umschaffenden Gnade. Aber diese ganze Anschauung unterscheidet dualistisch zwischen Staat und Kirche, zwischen bürgerlichem Leben und Reich Gottes. Der Staat und das bürgerliche Leben ist das gottentfremdete weltliche Dasein, wo man seine Pflichten erfüllen und gerecht sein kann ohne Gott — Justitia civilis, — die Kirche ist das Reich Gottes, daS einzige Gebiet der wahren Sittlichkeit. ES ist jene einseitige, dua­ listische Frömmigkeit, welche daS ganze sogenannte weltliche Leben als etwas der Religion und dem Seelenheil GleichgiltigeS, Fremdes ansieht. Behauptete die bisher betrachtete Theorie eine solche Schlechtig­ keit de- natürlichen Menschen, daß darüber die göttliche Ebenbildlichkeit deffelben zu Grunde ging, so ging Rousseau und ihm nach die soge­ nannte Schule der Humanisten und Philanthropisten von dem Grund­ satz der natürlichen Güte des Menschen aus, der aber ebenso ein­ seitig und schief ist, wie die entgegengesetzte Ansicht, indem er den Unterschied de» natürlichen Geistes von dem freien, sittlichen Geist und damit das eigentliche Wesen des Sittlichgnten übersieht. Nach dieser Theorie ist der Mensch von Natur gut, d. h. alle im mensch­ lichen Wesen angelegten Elemente, alle natürlichen Bestimmtheiten seines Willens, die selbstischen sowohl, als die auf's Allgemeine ge­ richteten Neigungen und Triebe sind an sich gut, und würde der Mensch diese natürlichen Bestimmtheiten seine- Willen- naturgemäß

ausbilden und entwickeln, so würde er die sittliche Vollkommenheit erreichen; die Sünde ist nur die Abirrung von der Natur. Diese Ansicht verkennt das Wesen des menschlichen WillenS; sie nennt natürliche Bestimmtheiten des Willens bereits gut, ehe nur der Wille, das selbstbewußte Ich sich in ein Verhältniß zu den­ selben gesetzt hat.

Jene natürlichen Bestimmtheiten des menschlichen

Willens sind nur der Inhalt, der Stoff des Willens, der an sich weder gut noch böse ist, bis der Witte ihn aus eigener Entscheidung zu seiner Bestimmtheit gemacht hat.

Im Gegensatz gegen die ihr

entgegengesetzte Theorie von der sittlichen Schlechtigkeit des natür­ lichen Menschen hat diese Ansicht ihr relatives Recht, indem sie das der menschlichen Natur unmittelbar mitgesetzte Göttliche anerkennt, aber ihr Fehler ist, daß sie gut und bös zu Prädicaten der Natur macht, während sie nur als Prädicate des wollenden, selbstbewußten, sich selbstbestimmenden Geistes ihren wahren Sinn haben.

Und das

ist nicht etwa bloß ein leerer Wortstreit, vielmehr bildet sich auf Grundlage dieser Ansicht von der natürlichen Güte des Menschen eine vom christlichen Princip gänzlich abweichende Auffassung der sittlichen Lebensaufgabe. Sind die natürlichen Triebe des Menschen an.sich alle gut, so kann die sittliche Aufgabe nur darin bestehen, dieselben zu entwickeln, zu ordnen, in das rechte Verhältniß zu ein­ ander zu setzen, jedem daS rechte Maß gegenüber dem anderen an­ zuweisen, also eine Harmonie unter denselben zu Wege zu bringen. Dadurch wird die Tugend sittliche Schönheit, das glückliche Gleich­ gewicht aller Kräfte und Neigungen, Lebensharmonie, Lebenskunst. Die sittliche Aufgabe ist hier ganz die antike, griechische, daS schöne Maß, die ooxpQoovvi7, das xaXov identisch mit dem aya&ov. Lebensanschauung,

Diese

die unter den 'Neueren von dem englischen Mo­

ralisten ShafteSburh am schönsten und beredtesten ausgeführt worden ist, ist nicht die christliche.

Das negative Moment, da« für daS

Verhältniß deS Geistes zur Natur so wesentlich und von dem christ­ lichen Princip so scharf betont wird, fehlt hier ganz: die Buße, die Selbstverläugnung, die Weltentsagung; darum kommt auch die posi­ tive Thätigkeit des Geistes nicht recht zur Geltung;

er ist nicht die

selbständige Macht, welche die Naturtriebe durchdringt und verklärt

und die Unendlichkeit seine- Wesen- in sie hineinlegt, indem er sie mit Freiheit zu seinen eigenen Bestimmtheiten macht; er ist nur der Schrankensetzende, der Maßanweisende: Bi- hieher und nicht weiter! Man hat mit Recht dieser Anschauung, wie sie von ShafteSburh in der Moral ausgebildet worden ist, vorgeworfen, sie fei nur die Sittlichkeit des Gentleman,

nicht des gemeinen Mannes.

Wer

nicht im Stande ist, die in ihm angelegten Triebe und Neigungen zum Schönen zu erziehen, wozu immerhin glückliche äußere Umstände, ästhetischer Sinn und ziemliche Geistesbildung erforderlich sind, der ist nicht fähig zur Sittlichkeit.

Christus spricht nicht davon, daß

wir die in uns vorgefundenen Triebe entwickeln, cultiviren, zum Schönen erziehen sollen, sondern er sagt: der verläugne sich selbst.

Wer mir nachfolgen will,

Die Tugend soll nicht bloß als Selbst-

genuß, sondern auch als herbe Pflicht empfunden werden. Wird es nicht immer die Folge der gezeichneten Ansicht von der natürlichen Güte deS Menschen sein, daß man eS nicht genau nimmt mit der Sünde, wenn man es nur versteht, sie in da- Ge­ wand der xaqiQ einzuhüllen, zumal mit der Gattung von Sünden, welche an sich schon für die Phantasie des Menschen besonders lockend und reizend sind? Eine, wenn auch noch so verfeinerte und gebildete Selbstsucht und Genußsucht wird immer au- jener Auffassung der menschlichen Natur fließen.

8 15. WaS in § 13 und 14 als der Zustand de- natürlichen Men­ schen geschildert worden ist, ist der wesentliche Charakter der Menschheit überhaupt auf der ersten Stufe ihrer Ent­ wicklung.

ES ist die Zeit der „otoi%eia tov xoOfiot>8 il, * *

da der Geist noch mehr oder weniger selbstlos hingegeben ist an da- Natürliche, wo daher auch die Religion der Glaube ist an Naturmächte, oder, wenn e- höher kommt, an eine zwar geistig vorgestellte,

aber mit allen Schran­

ken der Natürlichkeit behaftete Götterwelt; die „Zeiten der Unwissenheit", wo noch die rechte Erkenntniß de-

VJi

Zweiter 3lHrf'::itt.

fi.

I.

Gesetzes fehlt, das erst dann eine selbständige Bedeutung gewinnt, wenn der Geist sich in seiner Unendlichkeit im Gegensatz gegen die Natur ergriffen hat, wo daher von Sünde und Zurechnung nicht im eigentlichen Sinne ge­ redet werden kann (ävev vopov fj afiagria oox illoyeiTcu); die Zeiten entweder einer sittlichen Rohheit und Wildheit, wo die Menschen nur durch Naturimpulse sich bestimmen lassen — Barbaren, oder einer naiven Sittlichkeit, wo der Geist noch in der Form eines glück­ lichen InstinctS die Natur maßvoll ordnet — Hellenen, je nach der Beschaffenheit der Naturanlage, die jedes Volk als fein Erbtheil angetreten hat, und der in Folge davon gewordenen Bildung und Cultur. Wenn man den natürlichen Menschen nur als sündig und ver­ dorben darstellt, so ist eS consequent, auch die Tugenden der Heiden glänzende Laster zu nennen. Aber diese Ansicht verkennt die Wahr­ heit, daß der Geist dem Menschen als göttliche Anlage innewohnt und sich daher als Princip des Guten mit der Entwicklung des Menschen entfalten muß, und streitet gänzlich mit den unläugbaren Thatsachen der Geschichte. Jeder unbefangene Blick in daS Leben der alten Griechen, Römer, Germanen erweist jene Anschauung in ihrer ganzen Ungeschichtlichkeit und Unwahrheit. Man erkläre auS dem Standpunkt Augustin'S die sittliche Welt der homerischen Ge­ sänge! Die altkirchlichen Theologen haben verschiedene Anläufe ge­ nommen, daS Gute auch des natürlichen Lebens anzuerkennen, indem sie z. B. die Sittlichkeit der Heiden zu erklären suchten aus der Wirksamkeit des loyog antQftartxog oder, wie Zwingli, des zu allen Zeiten thätigen göttlichen Geistes, indem sie die besseren Re­ gungen des unwiedergeborenen Menschen überhaupt unter dem Gesichts­ punkt der gratia praeveniens betrachteten. Die Tendenz ist anzu­ erkennen, aber das äußere, mechanische Verhältniß zwischen Gott und Mensch, daS allen diesen Theorien zu Grunde liegt, muß auf­ gehoben werden. Sie fasten den göttlichen Geist, die Gnade als etwas von außen her, aus einer transscendenten Welt an den Menschen Heran- und Hineinkommendes, während doch der Geist

Der natürliche Mensch.

125

daS Wesen des Menschen selbst ausmacht und das Göttliche betn Menschen einwohnend ist. Wenn der § selbst die Zeiten der Griechen und Römer als Zeiten der Unwissenheit und der avofua bezeichnet, so scheint das im Widerspruch zu stehen theils mit den Aussagen der Geschichte, welche zeigen, daß int Bewußtsein des antiken Menschen der Unter­ schied deS Guten und Bösen und somit auch das Gesetz nicht fehlte, theils mit der Behauptung des Apostels Paulus, daß auch die Heiden ein Gesetz haben;

aber der Widerspruch ist nur derselbe, den auch

Paulus begeht, wenn er doch jene Zeiten wieder Zeiten der Uh« wissenheit nennt (Act. 17, 30) und von einer Sünde redet, die noch nicht eigentlich Sünde sei und auch nicht als solche zugerechnet wer­ den könne.

Der Widerspruch liegt in der Natur der Sache, darin,

daß im individuellen lieben die Momente des Begriffs nirgends so streng geschieden sind,

wie in der theoretischen Betrachtung.

Auch

die Heiden haben ein Gesetz, weil auch auf der Stufe des natür­ lichen Lebens der Geist, welcher das Gesetz giebt, sich entfaltet (§ 14); aber da der Geist erst als natürlicher vorhanden ist,

so hat das

Gesetz noch nicht seine volle Bedeutung, und die bewußte Richtung auf die Idee des Guten

und die Bestimmung des individuellen

Willens durch dieselbe fehlt.

§ 16. Die

unmittelbare

kann nicht bleiben,

Einheit des

Geistes und der Natur

weil sie einen Widerspruch

enthält.

Dre weitere Entwicklung wird dahin treibe», daß Geist und Natur sich scheiden. geschehen:

Dies kann in doppelter Weise

entweder stellt sich der Geist in einen Gegen­

satz zur Natur und unterdrückt sie — AScese, Natur herrscht im Gegensatz gegen Sinnlichkeit

und

ungezügelte

oder die

den Geist als rohe

Selbstsucht.

Beide

Cr-

scheiiinngen treten uns aus dem Leben der alten Völker entgegen, als daS Princip der antiken Sittlichkeit,

die

unmittelbare Einheit des Geistes und der Natur,

sich

ausgelebt hatte.

126

Zweiter Abschnitt.

B.

II.

Da- Bild, da- Paulus Rom. 1, 21—32 von der Sittlichkeit der Heiden entworfen hat, ist erst zutreffend für jene Zeit, da da­ antike Leben in voller Auflösung begriffen war und sich die Dialektik der antiken Sittlichkeit in der im § angegebenen Weise vollzogen hatte.

Wo der Geist erst als natürlicher ist, da ist das Herrschende

und Bestimmende eben die Natur, das Sinnliche, das Fleisch.

Da-

Streben, da» Fleisch zur Geltung zn bringen, das Trachten »ach dem, wa- diesem natürlichen Selbst nützt und wohlthut,

ist die

Selbstsucht, welche auch da- Geistige am Menschen immer mehr in ihre Dienste *) nimmt. Die Herrschaft der rohe» Natur, der wüsten Sinnlichkeit, der ungezügelten Selbstsucht wird für die Masse der Menschen die Conseqnen; des natürliche» Menschen sein.

Edlere

Gemüther dagegen werde» den Geist zur Herrschaft bringen wolle», aber zuerst im reinen Gegensatz gegen die Natur, in der Form der weltfeindlichen AScese.

Wie sich im Leben der antiken Völker auch

diese Richtung am Ende geltend machte, zeigt die Culturgeschichte, besonder- die Geschichte der alten Philosophie.

Mit dem Dualismus

zwischen Geist und Natur endete die alte Welt,

um daS ungelöste

Räthsel dem Christenthum aufzugeben.

II. Der Mensch unter dem Gesetz. § 17. Der Geist als natürlicher oder das Bestimmtwcrden deWillengegen

durch bloße Natnrantriebe ist ein Widerspruch

die Idee

de- Geiste-,

der nicht selbstlos

an die

Natur hingegeben sein, sondern dieselbe mit selbstbewuß­ ter Freiheit beherrschen soll.

Der erste Zustand des Men­

schen ist also unvollkommen.

Kommt diese Unangemessen­

heit dem Menschen zum Bewußtsein sollende,

so

weiß er sich

alS

als eine

nicht

sein

Sünder und erkennt den

Zustand der Unvollkommenheit als Sünde. *) Vortrefflich hat Fr. SR Udert da« Lebe» des Sünders von, Standpunkt der Selbstsucht au» nach allen seinen Beziehungen geschildert i» dein ersten Theile feiner „Theologie", worauf wir hiermit zur Ergänzung des hier nur Angedeuteten verweisen.

127

Der Mensch unter dem Gesetz.

1. DaS ursprüngliche Bestimmtwerden de- Willen- durch bloße Naturantriebe, durch da- Interesse de- noch natürlich sinnlichen, endlich fleischliche,« Ich (durch Lust und Nutzen) ist zwar nicht Sünde im strengen Sinn diese- Wortes, weil jene- ein naturnothwendiger Zustand, diese ein ethischer Begriff ist und al- solcher einen Act der Selbstbestimmung des Geistes, also das Vorhandensein deformal freie» Ich voraussetzt; aber das erwachende Selbstbewußt­ sein läßt durch das Licht des Geistes, welches es auf den anfäng­ lichen Zustand wirft, diesen als Sünde erscheinen, theils weil es in demselben dem Inhalt nach die gleiche Bestimmtheit des Willens erkennt, die sein Wollen auch später zum sündigen macht, weil es, so weit

eS auch zurückgehen

theils

mag in seiner Erinnerung, nie

einen Punkt findet, da ihm das Ich, der Wille nicht schon irgend­ wie als

selbstthätig begegnete.

Daß das Kind auf seiner

Entwicklungsstufe nur sinnliche Bedürfnisse kennt, daß,

ersten

wo diese

nicht befriedigt werden, die materiell sündigen Regungen des Zorne-, des Neides, des Eigensinne» sich geltend machen, ist ihm nicht Sünde und wird ihm auch nicht als Schuld angerechnet, aber der reifere, über sich selbst reflectirende Mensch faßt auch diesen Zustand in das Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit ein um so mehr, als daErwachen des Selbstbewußtseins, das Aufleuchten des geistigen Ich als einer dem Fluß des Naturlebens gegenüber selbständigen Kraft so stufenweise und unmerklich vor sich geht, daß eS keinen bewußten Moment ausfüllt und sich auf keinen Punkt fixiren läßt, weswegen die naturnothwendige, anfängliche Unangemessenheit de- Willen- im Bewußtsein zusammenfällt und verschwimmt mit den Momenten de» Leben-, in welchen der Wille bei bereit- eingetretenem Zwiespalt zwischen Geist und Natur, also bei formaler Freiheit doch noch in der Gebundenheit der Naturantriebe handelt. Daß der Naturmensch das GeschlechtSverhSltüiß noch rein sinn­ lich auffaßt und behandelt, ist ihm keine Sünde, aber sobald die Idee der Ehe als einer Liebe, in welcher das Sinnliche verklärt ist durch da- geistige Band der Treue und der gemüthlichen Gemein­ schaft, feinem Geiste ausleuchtet,

erkennt er den früheren Zustand

bloß sinnlicher Geschlechtslust al« eine seiner geistigen Bestimmung

Zweiter Abschnitt.

128

B.

II.

unangemessene Beschaffenheit seines Willens und sicht

darin

eine

sündige Bestimmtheit seines Wesens. 2. Dieses Moment der Sünde als einer noch mehr oder we­ niger natürlichen Unvollkoinmenheit des Willens im Zusammenhang mit der noch vorhandenen Unreife des geistigen Wesens überhaupt erlischt auch auf den späteren Stufen der Entwicklung nie vollständig. In so vielen Erscheinuuge» erweist sich die Sünde auch später noch als Pernunftschwäche, als Unreife des Geistes, als kindisches Thun, als Thorheit. Wenn SaulnS gegen die Ehristcn wüthete und schnaubte, so glaubte er Gott damit einen Dienst zu thun, weil sein Geist »och nicht reif war weder für die Erkenntniß der Wahrheit, die er Der folgte,

noch für die Einsicht überhaupt,

daß geistige Dinge geistig,

nicht sinnlich mit Feuer und Schwert zu richten sind,

aber gleich­

wohl sah er später mit Recht in diesem Thun eine sündige Be­ stimmtheit seines Willens.

Wenn die Kirche Jahrhunderte lang die

Ketzer mit Feuer und Schwert ausrottete, so geschah eS, weil ihr die richtige Einsicht in die Gesetze des menschlichen Gemeinschafts­ lebens mangelte,

und dieser intellcctnclle Mangel war auf natur-

uothwendige Weise mit einer verkehrten Richtung des Willens ver­ bunden, der sich durch die sinnlichen Motive deS Hasses, der Leidenschaft, der Herrschsucht bestimmen ließ.

Zurückschanend auf jene Zeit mit

dem Lichte gegenwärtiger Erkenntniß

nennen wir.

was jene für

Tugend hielten, einen Zustand tiefer Sündhaftigkeit. Hierin liegt das relative Recht der Ansichten, welche die Sünde nur als einen Mangel, eine Privation, als ein noch nicht Gcwordenfeiit des Guten auffassen.

Dies ist sie im Anfang allein und dies

bleibt auf allen Stufen ein Moment ihres Wesens.

Darum konnte

Jesus die Sünde seiner Mörder unter dem milden Gesichtspunkt der Unwissenheit auffassen („sie wissen nicht, was sie thun") und cS ist ein tief psychologischer Zug, wenn im Glcichniß vom verlorenen Sohne gerade der jüngere Bruder cS ist, der vom Baterhaufe in der Thorheit seines noch unreifen Lerstandes sich verirrt. 3. Wäre Unwissenheit und Bernnnftschwäche nicht ein wesent­ liches Moment im Begriff der Sünde, so würde der Glaube cm die Entwicklungsfähigkeit und den sittlichen Fortschritt unseres Geschlechtes

Der Mensch unter dem Gesetz.

schwer, vielleicht unmöglich werden.

129

Müßten wir annehmen, daß die

Menschen, die wir in dunkelm Erwerb und Genuß unter der Knecht­ schaft der Selbstsucht und des Eigennutzes durch'- Leben gehen und der Sünde in allen ihren Formen verfallen sehen, so leben bei klarer Einsicht in die Gesetze ihre- Wesens und in bewußtem Wider­ spruch mit ihrer Bestimmung, so wäre nicht abzusehen, durch welche Mittel diese- radicale Böse in der menschlichen Natur gebrochen werden und auf welchem Wege einem so gearteten Geschlechte bei­ zukommen sein sollte, um eö für das Gute zu gewinnen.

Die Kirche

hat dafür daö Blut eines Gottes für nöthig gehalten, nur wird kein Nüchterner, der die Geschichte dieser 18 Jahrhunderte oder auch nur die Gegenwart kennt, sich überreden lassen, daß dadurch die Sünde gebrochen sei.

Bildet dagegen im Leben der Einzelnen,

wie de-

GeschlechteS die natürliche Unvollkommenheit, die Geistesunreife, die Vernunftschwäche und Unwissenheit ein wesentliche- Moment im Begriff der Sünde, so steht zu erwarten, daß mit der fortschreiten­ den Geistesentwicklung überhaupt, mit der wachsenden Einsicht der Menschen in die Gesetze der Welt und ihre- eigenen Wesen-, mit dem zunehmenden Licht der Erkenntniß auch die Motive de- Willenweiter und edler werden.

Wann der Verstand frei wird, so wird

auch der Wille frei — diese Wahrheit wird sich als ein Gesetz unsere- Geschlecht- bei der Einheit de- menschlichen Geiste-lebenim Großen immer bewähren müssen, wie wenig auch im einzelnen Falle Wissen und Wollen gleichen Schritt halten, wie der folgende § zeigen wird.

8 18. Die ursprüngliche Unangemessenheit de- Willen- kommt dem Menschen zum Bewußtsein als eine nichtseinsollende durch da- Gesetz, welches nicht-Andere-ist, als der Macht­ spruch de- Geistes, der sich in seinem Gegensatz gegen die Natur erfaßt hat und daher die bloß natürliche Beschaffen­ heit

des Willens

als

eine nichtseinsvllende, im Wider­

spruch mit seinem geistigen Wesen stehende, d. h. sündliche Lang. Dogmatik.

2. Aufl.

9

130

Zweiter Abschnitt.

B.

II.

erklärt. Der Begriff der Sünde entsteht daher erst mit dem Gesetz. Die Lust (imdvfiia Röm. 7, 7ff.) und ihre Verwirklichung ist vor dem Gesetze da, aber sie wird erst sündig, wenn das Gesetz spricht: Du sollst Dich nicht lassen gelüsten. Das Gesetz verändert also zunächst nur die Form der Handlung, nicht die Materie. Daher Paulus mit Recht von dem Gesetze sagt, daß eS die Erkenntniß der Sünde bewirke (Röm. 3, 20), ja daß es die Macht der Sünde sei (1. Cor. 15, 56), weil eS die Sünde erst z» dem macht, was sie ihrem vollen Wesen nach ist: nämlich nicht eine bloß natürliche Unvollkommenheit, eine natürliche Schranke dcS Willen», da« noch nicht Gewordensein des Guten, sondern der bewußte Widerspruch des Willens gegen das erkannte Gute, gegen seine eigene Idee. Sobald dem Menscheu die in ihm schlummernde Gotteben­ bildlichkeit oder seine Bestimmung, Geist zu sein, zum Bewußtsein kommt und zunächst in der Form einzelner seiner endlichen Naturbestimmtheit gegenübertretender Gebote und Verbote als Forderung an ihn herantritt, erkennt er den vorangegangenen Zustand als cincu seiner Bestimmung widersprechenden, sündhaften, wie die erste» Eltern ihrer Nacktheit, die vorher nichts Anstößiges für sie gehabt hatte, sich schämten, als ihnen die Augen über sich selbst a»fgegangen waren. Aber mit dieser Veränderung tritt nun sogleich eine zweite, wichtigere in den Proceß des menschlichen Geisteslebens ein. Was der Mensch vorher bewußtlos und ohne Schuld gethan hatte, das kann er von jetzt an bewußt und mit Schuld thun: er kan» fortfahren, sich durch Motive seines fleischlich natürlichen Wesens bestimmen zu lassen im bewußten und gewollten Widerspruch mit dem Gesetz de» Geistes, das er kennt. Denn das Wissen hat nicht sofort und nothwendig das Wollen, zur Folge. Erkennen und Wollen, obwohl Momente des einheitlichen Geisteslebens, sind doch wesentlich verschiedene Momente desselben. Niemand kann sich wissentlich und vorsätzlich verblenden, Niemand hat die Macht, eine Wahrheit, die er einsieht, nicht einzusehen, aber wir haben die Macht, in eine Wahrheit, die wir klar erkennen, unser persönliches Interesse nicht zu legen, sie

Da< Gesetz.

131

au» Selbstsucht zu verläugnen oder ihr den Einfluß auf unseren Willen zu verwehren. Es kann Jemand eingesehen und erfahren haben, daß die Selbstsucht thierisch und häßlich ist, daß der Mensch als Glied der Gesellschaft nichts Anderes wünschen soll, al- dem Wohl der Gesammtheit zu leben, d. h. zu lieben, daß er im Widerstreit mit der Wahrheit lebt, wenn er nur für sich leben und genießen will auf Kosten der Gesellschaft, und dennoch kann im einzelnen Falle sein persönliches Interesse ihn zu einer selbstsüchtigen Handlung im bewußten Widerspruch mit dem erkannten Gesetz deGeisteö verleiten. Wenn Schölten sagt: „die Selbstsucht besteht nur so lange, als die Bernunft die Wahrheit de- Gegentheils noch nicht eingesehen hat,"') so fügt die tägliche Erfahrung hinzu: sie kann sich auch dann noch in einzelnen sündigen Acten erweisen, wenn die Ber­ nunft ihre Häßlichkeit eingesehen und die Wahrheit de- Gegentheil» längst gebilligt hat. § 19. Das Gesetz bringt die Sünde zur Erkenntniß, aber es hat nicht die Kraft, die Sünde zu brechen und den Menschen gerecht zu machen, weil da- Gesetz eben als solche- dem noch fleischlich bestimmten Willen erst als Forderung und Aufgabe gegenübertritt, daher wie eine fremde Macht erscheint, die den Kampf zwischen Geist und Fleisch er­ zeugt, ohne ihn zu schlichten.

Der vorige § hat gezeigt, daß mit dem Aufleuchten de- Gesetze» die Zünde ihre Gestalt verändern und zum bewußten Widerspruch de- Willens gegen fcitt erkannte- Wesen werden könne. Aber ob die Zünde dieses wird? Ob es nicht denkbar wäre, daß da» Gesetz, erkannt, sogleich auch gewollt würde, daß eS seinen Inhalt unmittel­ bar leicht und zwanglos in die Regungen de- Willen» ergösse und so eine sittliche Entwicklung des Menschen entstände, welcher der Durchgang durch die wirkliche Sünde erspart bliebe? Man hat im *) Het vrije vil S. 179.

Zweiter Abschnitt. B.

132

II.

christologischen Interesse, durch das überhaupt die Untersuchung über die Sünde am meisten verdunkelt worden ist,

eine solche sündlose

Entwicklung vielfach ausgemalt, aber man hat damit nur eine leere Abstraktion zu Wege gebracht, die mit aller Erfahrung streitet; Be­ griffe

halten

zu

solchen

Operationen

still,

aber

der

lebendige

Mensch nicht. Beobachten wir den Menschen!

DaS Gesetz erwacht in

und kündigt ihm seine GeisteSbestimmung an

zu einer Zeit,

ihm

da die

auS dem sinnlich-natürlichen Dasein entspringenden Motive noch den Inhalt dcS Willens ausmachen;

an den noch sinnlich bestimmten

Willen kommen die vom Geiste herstammcnden Motive erst äußer­ lich in Form von Geboten und Verboten Hera», Willen

noch

nicht

Lebenskraft sind.

positiv

ausfüllen

und noch

die darum den

nicht

seine innere

Daher hat jeder Mensch einen Hang zum Bosen.

Kommt nun das Gesetz und sagt:

Du sollst nicht begehren, so er­

wacht der vorher schlummernde Hang an dem Klang des NamenS, den

das Gesetz genannt hat;

erst am Verbot wird das Ich recht

bekannt mit der Sache und, einmal frei von der anfänglichen noch bewußtlosen Gebundenheit an das Natnrleben und erwacht aus sei­ nem Traum, aber noch nicht positiv erfüllt mit dem neue» Inhalt, den der Geist ihm zuführen wird,

hat es den Reiz,

seine Freiheit

zu üben, das Verbotene zu ergreifen und in Eigenwilligkeit das er­ kannte Gesetz zu übertreten. noch nicht Motiv, springen.

Der Geist ist erst Gebot, ein Sollen,

und die Schranke lockt von selbst zum Ueber-

DaS Gesetz spricht: „Du sollst," und zeigt damit an, daß

der Mensch,

an den eS sich wendet,

fleischlich gesinnt ist (Röm. 7, 15).

noch nicht will,

daß er noch

DaS Gesetz ist gleichsam auf

Tafeln geschrieben, daß der Mensch es lesen kann, aber eS ist nicht inwendig in ihm.

Auf dem Standpunkt des Gesetzes ist zwar der

Gegensatz des Geistes gegen die Natur aufgegangen, aber der Geist wird noch nicht erkannt als das eigene Wesen des Menschen, dern noch angeschaut als eine von außen her gebietende, Menschen unendlich verschiedene Macht. Gottes nach dem inwendigen Menschen,

son­

von dem

„Ich habe Lust am Gesetz aber ich sehe ein anderes

Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Gemüthes wider-

Der Gesetzesstandpunkt.

133

streitet und mich dem Gesetz der Sünde, da- in meinen Gliedern ist, gefangen nimmt" (Rörn. 7, 22. 23).

§ 20. Kann aber auch das Gesetz nicht wahrhaft gerecht machen, so erzeugt cS doch eine gewisse Gerechtigkeit, nämlich die Werkgerechtig­ keit, welche in doppelter Form erscheint: 1. Der Mensch wird aus Furcht vor dem ihm gegenüberstehen­ den Geist, den er als das höchste Wesen verehrt, die einzelnen im Gesetze ihm vorgezeichneten Werke zu thun suchen, so weit er kann, er wird nicht tobten, nicht ehebrechen rc. — sklavischer Gehorsam statt sittlicher Freiheit, Legalität statt ber Moralität. 2. Weil er aber doch nie alle Gebote erfüllt und darum im Bewußtsein der Sündhaftigkeit den Geist fürchtet, den er verletzt hat, so erfindet er besondere Werke und Uebungen, die diesen ver­ söhnen sollen, Werke, welche nicht aus dem Umkreis der sittlichen Berpflichtmigcn entspringen, sondern ausdrücklich den Zweck haben, die Unterwürfigkeit des Sünders unter das höchste Wesen auszu­ drücken und dessen Zorn zu tilgen — Opfer und Reinigungen, Kasteiun­ gen und kirchliche Uebungen. AuS der pünktlichen Beobachtung besonders der Werke der zwei­ te» Art bildet sich die Vorstellung von einem Verdienst, das sich der Mensch Gott gegenüber erwerbe — Werkstolz und Werkheiligkeit. Die Religion ist auf dieser Stufe eine Leistung des Menschen an Gott auS den Mitteln seiner eigenen endlichen Kraft, während sie ihrem Wesen nach die Erfahrung von der Wirksamkeit GotteS im Menschen ist. Gott und Mensch stehen sich hier als zwei Wesen gegenüber, die ein Vertragsverhältniß, einen Bund mit einander ein­ gegangen haben und mit einander abrechnen, Gott als der heilige Wille, der befiehlt, der Mensch als Creatur^ die gehorcht, Gott alder Herr, der Mensch als Knecht, Gott als der Unendliche', der Mensch als rein endliches Wesen. Die Religion wird Eigengerechtig­ keit, während sie ihrem Wesen nach die Gerechtigkeit ist, die Gott schasst und giebt; sie wird Werkgerechtigkeit, während sie Gerechtig-

134

Zweiter Abschnitt.

B.

II.

feit der Gesinnung fein soll. Ties ist der Nerv des Kampfes, den Jesu« gegen den Pharisäismus (das Gleichniß vom Pharisäer und Zöllner im Tempel, die klassische Darstellung zweier entgegengesetzter Religionen) und Paulus gegen das Judenthum überhaupt geführt hat.

8 21. Diese Gerechtigkeit ist aber nicht die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Denn 1. ihr Grund ist nur derselbe, auS dem auch die Sünde entspringt, nämlich die Selbstsucht des noch sinnlich bestimmten Men­ schen, der durch seine Gesetzesleistungen dem rächenden Geiste, den er fürchtet, zu entrinnen und seinen Strafen sich zu entziehen sucht (Matth. 3, 7). 2. Die Gesinnung ist bei allem scheine der Werke eben darum keine geheiligte. Der Mensch hütet sich zwar vor den einzelnen im Gesetz verbotenen Werken, aber die Gesinnung fehlt, welche daS Gesetz nicht bloß seinem Wortlaut »ach, sondern in sei­ nem Geiste erfüllt; er tobtet nicht, aber er zürnt und haßt; er haßt nicht, aber er liebt noch nicht (Matth. 5, 21—25i.. Gr thut viel Gutes, aber die Motive seines Handelns sind noch endliche: Ehr­ geiz, Rücksicht auf fein zeitliches ober nachzeitliches Wohlergehen n. s. w. Die Tugend wird geehrt, weil sie nützlich ist. § 22.

Die letzte Folge dieser Werkgerechtigkeit kann daher nur sein die Verzweiflung des Menschen an der eigenen Kraft und der eigenen Gerechtigkeit und die Sehnsucht nach einer Erlösung durch Gott, nach der Gerechtigkeit, die Gott giebt. Wie einseitig und schief auch die Lehre von der völligen Unfähigkeit deS Menschen zum Guten ist, so ist doch ihre Entstehung begreiflich auS der Dialektik des Gesetzesstandpunktes, und hier, als ein psychologisches Phänomen in der Entwicklungsgeschichte deS sittliche» Geistes, hat sie ihr relatives Recht. Der Mensch erfährt, daß er nichts wahrhaft Gutes wollen und schaffen kann, so lange sein geistiges, unendliches

Die Gesetze-gerechtigkeit.

135

Wesen seinem Bewußtsein noch als bloße- Gesetz, al» fremde Macht erscheint, sein Wille daher noch endliche, auS seiner Naturbestimmt­ heit fließende Motive zum Inhalte hat. Die dualistische Scheidung zwischen Gott und Mensch gehört dem Gesetzesstandpunkt an und ist auf diesem nothwendig. Der Geist, der doch das Wesen des Menschen ausmacht, erscheint hier dem Subject in prakttscher Beziehung als ein dem endlichen Willen fremdes, von außen an ihn herankommendes Gesetz, in theoretischer Beziehung als eine seiner Vernunft entgegengesetzte übernatürliche Offenbarung. Das Erstere bildet den Gegensatz von menschlicher Freiheit, die vernichtet wird, und göttlicher Gnade, die allein wirkt, das Zweite den Gegensatz zwischen der Vernunft, die Nichts erkennt, und dem Glauben, der allein die Wahrheit hat.

§ 23. Auf dem Standpunkt des Gesetzes offenbart sich Gott dem Menschen als den Heiligen und Gerechten. § 24. Die göttliche Heiligkeit erkennen wir darin, daß Gott die Sünde im — subjektiven — Bewußtsein deS Menschen stets alö ein Nichtseinsollendes, im objectiven Weltver­ lauf stets als ein Nichtwahrhaftseiendes, in sich nich­ tige- darstellt.

1. DaS Verhältniß des GotteSbegriffeS zur Thatsache de» Bösen in der Welt hat zu allen Zeiten dem Nachdenken besondere Schwie­ rigkeiten bereitet. Es will scheinen, schon da» Vorhandensein de» Bösen in einer Welt, deren schöpferischer Grund Gott ist, hebe die Heiligkeit eben dieses Grundes auf. Man fragt: warum hat Gott nicht eine Welt geschaffen, die durchaus gut ist? Wenn sittlich han­ delnde Wesen zu dieser Welt gehörten, warum hat er ihre Natur nicht so eingerichtet, daß sie von Anfang an und immer sittlich handelten? Daß sie vom Zustand der anfänglichen Unschuld ohne

136

Zweit« Abschnitt. B. II.

den furchtbaren Durchgang durch die Schuld da- Ideal sittlicher Vollkommenheit erreichten? Die Antwort auf alle diese und ähn­ liche Fragen kann nur sein: weil das lauter unmögliche Gedanken sind. Eine sittliche Welt ohne Sünde, d. h. ohne moralisches Uebel, ist ebenso undenkbar, als eine Naturwelt ohne physisches Uebel. Gut und böse sind correlate Begriffe, deren jeder nur am anderen verständlich wird. ES heißt von geistigen Dingen sehr äußerlich und mechanisch denken, wenn man Gutes und Böses wie zwei Dinge, betrachtet, von denen man von außen her, aus Bücher», vom Hören­ sagen oder auS der Beobachtung Anderer eine »runde erhalten könne, vielmehr sind beides innere Vorgänge, Bestimmtheiten des Willens, deren Verständniß nur der eigenen Erfahrung aufgeht, und Ein«» lernt man nur am Anderen. Nur die Erfahrung des Bösen in nnS — und wäre es auch nur als Gedanke, der zurückgedrängt wird, als Versuchung, die jedesmal überwunden wird — erhält die Erfahrung des Guten in uns lebendig.') Treffend führt Zeller in Uebereinstimmung mit Batke aus:') „Das Bewußtsein des Bösen hat immer daS des Guten, die Erkenntniß der bösen That daS Suchen und Wollen des Guten zur Voraussetzung. Ebenso aber auch umgekehrt: wir werden uns des Guten als sittlicher Anforderung, als Pflicht und Gesetz immer nur an seinem Gegentheil bewußt; ohne diesen Gegensatz gegen ein BöseS, das von ihm verneint wird, würde daS Gute nur als Seiendes, als gegebener Zustand, nicht als ein Seinsollendes, als Forderung, eben damit aber auch nicht als Werk der Freiheit, als sittliche Aufgabe gewußt werden. Beide Momente sind daher in der Wirklichkeit gar nicht zu trennen, son­ dern in einem und demselben Augenblick kommt dem Subject daS Gute als allgemeine Norm und die Unangemcsscnhcit des bestimmten Willen- an diese Norm, daS Böse, zum Bewußtsein. Dieses Be­ wußtsein ist aber nie ein bloß theoretisches, die Vorstellung deS Bösen setzt immer schon eine Erfahrung desselben, die Vorstellung de- Guten ein Interesse für daS Gute voraus. Denn da gut und *) Siehe meine „Stunden der Andacht" I. S. 209. ') The»l. Iahrb. 1847 S. 76.

Die Heiligkeit Gottes.

137

böse nicht bloß eine bestimmte Beschaffenheit der Handlung, son­ dern eine Bestimmtheit des Willens selbst aussagen, der Wille aber als solcher nie Gegenstand der äußeren Erfahrung werden kann, so können die Vorstellungen deS Guten und Bösen nur auS der eigenen Erfahrung geschöpft werden und mit dem letzten Rest dieser Erfah­ rung müßten auch diese Vorstellungen selbst verschwinden, da sie eben damit jeden Anknüpfungspunkt im Selbstbewußtsein verlören." Eine Sittenwelt ohne sittliche Unvollkommenheit denken heißt, die wirkliche Welt, die uns zum Nachdenken und Begreifen vorgelegt ist, überspringen und eine erträumte an ihre Stelle setzen. Die sittliche Entwicklung eines Wesen- ohne Entzweiung des individuellen Willens mit dem allgemeinen, des persönlichen Interesses mit dem, was an und für sich, daher allgemein wahr und vernünftig ist, ist eine leere Abstraction. Sich entwickeln heißt: Fremdartiges, den Organismus Störendes von sich ausscheiden. Sittlich sich ent­ wickeln heißt: die der Idee de-Guten fremdartigen, noch selbstischen Elemente deS Willens durch die Kraft des Geistes überwinden. Jeder sittliche Sieg setzt sittlich noch unangemessene, vor dem errungenen Sieg in der Seele vorhanden gewesene Bestimmtheiten de- Willenvoraus. Es hilft Nichts, zu sagen, der Mensch müsse allerdings durch die Versuchung hindurch, aber nicht durch die factische Ent­ zweiung. Die Versuchung setzt ja die Entzweiung (die sündhafte Bestimmtheit de- Willens) schon voraus; damit Etwas für mich Versuchung werde, muß es Anknüpfungspunkte in mir finden, diese können aber nur in Wünschen, Gedanken, Willensregungen liegen, die von einem der Versuchung verwandten und ihr entgegenkommen­ den Stoffe sind. Möchte e- einem Menschen gelingen, jede Ver­ suchung siegreich zu bestehen — da- Bestehen selbst ist ja ein Kampf, ein Kampf nicht etwa mit Geistern in der Lust, mit Mächten, von denen deS Menschen Brust nicht berührt wird, sondern ein Kampf deS Menschen mit sich selbst, womit aber ausgesprochen ist, daß der Wille Elemente in sich schloß, die zu bekämpfen waren, weil sie der sittlichen Idee nicht entsprachen. Erweist sich demnach die Sünde als eine in der Einrichtung der menschlichen Natur angelegte Erscheinung, so muß ihr Vor-

Zweiter Abschnitt.

138

B.

II.

handensein in der Welt von Gott gccrbuet fein, wie denn auch die Allgemeinheit ihrer Verbreitung an und für fick schon den Schluß nahe legt, daß sie nicht eine zufällige, sondern eine in der Ordnung der Welt angelegte, daher nothwendige Erscheinung ist. 2.

Ebenso aber liegt auf der Hand, daß das Böse in anderer

Weise von Gott geordnet sein muß,

als daö Gute,

dieses nämlich

als das Seinsollende und allein wahrhaft Seiende,

jenes als das

Nichtfeinfollende und auch niemals wahrhaft Seiende. Betrachten wir, was die erstere Seite betrifft,

die einfachsten

Thatsachen unseres sittlichen Bewußtseins, so finde» wir in uns ein Gesetz,

das gebietet und verbietet, und den Ort in uns gleichsam,

von rem au» es redet, nennen wir daS Gewissen.

Nun gebietet

allerdings jenes Gesetz sehr Verschiedenes und das Gewissen zeigt sich individuell mannigfaltig bestimmt,

je nach dem gestimmten Bil­

dungsstande der Völker und Individuen;

was früheren Zeitaltern

erlaubt galt oder anderen Völkern noch erlaubt gilt, betrachten wir alS Sünde, als Widerspruch gegen die richtig verstandenen Gesetze unseres Wesens; dem Juden verbietet das Gewissen, Schweinefleisch zu essen, dem Katholiken das

seinige am Freitag Fleisch zu essen,

während der Christ aus jenem, der Protestant aus diesem sich kein Gewissen macht u. s. w.

Gleichwohl giebt es eine Summe sittlicher

Vorschriften, über welche alle einigermaßen geistig entwickelte Men­ schen sich verständigen können und die, Bewußtsein

gekommen,

warten dürfen:

einmal dem Menschen zum

nicht ernstlich widersprochen zu werden er­

Du sollst nicht stehlen, nicht morden, nicht lügen;

die Vergebung ist edler, als die Rache, die Bruderliebe schöner, als die Selbstsucht, das Opfer herrlicher, als der Eigennutz u. f. w. Unwillkührlich

muß,

auch

wer diesen Grundsätzen nicht nachlebt,

denselben doch Recht geben, und auch der gebildete Materialist, der nur das mit Nothwendigkeit sich selbst durchsetzende Gesetz anerkennt, dagegen jedes Gesetz,

das als ein Sollen an die Willenskraft des

Menschen appellirt, als eine Träumerei verlacht, — er stimmt in der sittlichen Werthung der Grundsätze und Handlungen mit «ns über­ ein.

Und je mehr die Gcsammtbildung und GeisteSentwicklnng der

Völker und Individuen fortschreitet, desto mehr schwinden jene sin-

139

Die Heiligkeit Gotte-,

gulären Vorschriften über Fleischessen, Fasten, Händewaschen u. s. w. (Matth. 15, 1—20), ltnb was die Menschen früher als Ausspruch de» Gewissen- ansahen, wird als willkiihrliche Satzung erkannt, die nicht au- dem richtig erkannten Wesen dcö Menschen,

sondern auS der

beschränkten Vernunft einer Zeit entsprang, und immer umfassender wird der Kreis dessen,

worüber daS allgemeine Urtheil einig ist.

Wenn wir nun fragen: woher stammt dieses Gesetz deS Gewissen-, da» sich in Gebote» und Verboten von allgemeiner Verbindlichkeit ausspricht, so antwortet die Natur: von mir nicht. Denn die Natur kennt keinen Unterschied von heilig und unheilig, von gut und böse; die Sonne scheint dem Gerechten, wie dem Ungerechten; der Baum, das Thier ist weder heilig noch unheilig. selbst?

Stammt

es von un»

ES entsteht allerdings nicht ohne unser Denken und Wollen,

aber unser Denken und Wollen findet eS stets schon vor al» Etwa-, da- ursprünglich schon in unserem Wesen lag; eS steht unabhängig da von unseren« subjectiven Belieben; ob wir eS wollen oder nicht, eS spricht seinen Spruch doch, un- messen müsse««. eS abzuschaffen; Gewissen

ist

diese- Gesetz?

«Debet

es ist doch die Norm, an der wir

Dar««»« steht es auch nicht in unserer Macht,

Niemand hat Macht, dein Geiste zu wehren;

unantastbar und

unverlierbar.

da»

Woher stammt also

ES bleibt nur noch Eine Antwort übrig: stammt e»

an- der Natur, noch a««S dem subjectiven Geist, so kann e»

nur auS dem absoluten Geiste stammen, dem Grund sowohl der Natur als des subjectiven Geistes.

AuS den Thatsachen

Gewissens erfahren wir ihn als den Gesetzgeber,

unsere»

der in un» jede

Sünde al» eine nichtfeinsollende kttndgiebt, d. h. heilig ist. Zeigt so das subjective Bewußtsein die Sünde al- ein Nicht­ seinsollendes, das, wie eS auftritt, auch überwunden werden soll, so zeigt der objective Weltverlauf sie überall alS daS in sich Nichtige, daS auch wirklich MS überwunden wird.

DaS Böse ist die Auf­

lehnung des particulären Willens gegen den Gesamintwillen, Einzelinteresses gegen die Ordnung de» Ganzen,

gegen da»,

dewa»

für Alle recht und vernünftig ist;

es ist aber klar, daß da- Ganze

stärker sein muß, als ein Theil.

DaS Böse ist der Widerspruch

de» Willens

gegen

sein

eigenes Wesen,

das zugleich da» Wesen

Zweiter Abschnitt.

140

eine- jeden anderen Willens ist;

B.

II.

nun liegt es auf der Hand, daß

das Wesen eines Dinges, das zugleich das Wesen aller anderen ist, mächtiger sein muß, auftauchende Regung. zerstört,

als eine einzelne,

aus dem Grunde desselben

DaS Böse kann nichts Positives schaffen; eS

und zerstört voraus sich selbst.

während das Gute allein Segen bringt.

Es erzeugt nur Fluch, Es trägt das Gericht in

sich selbst. Dieses Beide, daß die Sünde, obwohl in der Ordnung der Welt begründet, dennoch im Bewußtsein des Sünders sich ankündigt als das Nichtseinsollende,

zu Ueberwindende, im, Weltverlauf sich

anSweist alS daS in sich Nichtige, Gerichtete, macht den vollständigen Begriff der göttliche» Heiligkeit ans. 3. ES ist einleuchtend:

soweit daS

Dasein der

Sünde von

Gott geordnet ist, ist die Sünde nothwendig, soweit sie dagegen int Bewußtsein sich ankündigt als eine nichtseinsollende, ist sie vermeid­ lich, und, wenn dennoch begangen, dem Menschen zuzurechnen als Schuld.

Das Gebiet der nothwendigen Sünde, die sich dem Men­

schen nicht zu fühlen giebt als Schuld, ist int § 17 bezeichnet; von diesem Gebiet gilt immer wieder das Panlinische: „die Sünde wird nicht zugerechnet" und: sehen."

„Gott hat die Zeit der Unwissenheit über­

DaS Calvin'sche: „cadit homo providentia Dei sic ordi-

nante, sed suo vitio cadit,” in dem Sinne und von den theologi­ schen Voraussetzungen aus, wie es sein Urheber meinte, ein hand­ greiflicher Widerspruch, ein vollkommenes hölzernes Schüreisen, ist im Sinne dieser Darstellung anwendbar.

Daß Sünde ist, daß der

Mensch bei seinen Versuchen, zn gehen, fällt, ist von dem Gesetz gegründet und unvermeidlich; aber in dem Bewußtsein, daS mit Gott aufgeht, von der Sünde als einer nichtseinsollenden liegt für das Ich auch die Kraft ihrer Aufhebung,

wenn nicht jenes Bewußtsein nur ein

neckendes Spiel der Gottheit mit dem Menschen sei» soll,

nnd so­

weit die Sünde erkannt wird als eine nichtseinsollende, ist auch die Möglichkeit gegeben, sie zu meiden. ES ist nicht das Zeichen eines tieferen sittlichen Bewußtseins, wofür eS sich so gerne auSgiebt, sondern meistens theologischer Be­ fangenheit,

wenn man die Unvermeidlichkeit der Sünde in jeder

Die Sünde ott Schuld.

141

Beziehimg leugnet und behauptet, wenn die Sünde der nothwendige Durchgangspunkt für die sittliche Bildung fei, so werde sie eben da­ durch identisch mit dem Guten und die sittliche Idee werde aufge­ hoben. Die Sünde ist in einer gewissen Beziehung von Gott ge­ ordnet, heißt nichts mehr und nichts weniger, al»: eS giebt auf Erden keine Heiligen — ein Satz, über welchen wenigstens alle Protestanten einig sind. Wer wäre nun so unbesonnen, zu rufen: wenn ich doch nicht heilig sein kan», so will ich auch nicht nach der Heiligung streben, so ist gut und böse einerlei? Schon Paulus hat die Unvermeidlichkeit der Sünde für unser Geschlecht gelehrt in der Erkenntniß, die er 1. Cor. 15, 46 ausspricht: „das Geistige ist nicht das Erste, sondern das Sinnliche, hernach das Geistige," aber e$ ist ihm darum nicht eingefallen, zu sagen: darum lastetuns dem Fleische leben, sondern er mahnt, durch den Geist die Begierden des Fleisches zu bezwingen. Auch Schleiermacher hat diese Erkennt­ niß getheilt, die sich eigentlich jedem unbefangenen Beobachter mensch­ licher Dinge aufdrängt; in der Erzählung der Genesis vom Sünden­ fall findet er den richtigen Gedanken ausgesprochen, daß das Gute sich nur mit dem Bösen entwickeln könne; denn eS sei darin angedentet, „daß die Sünde nicht entstehen lasten ebenso viel gewesen wäre, als die Erkenntniß des Guten und des Bösen verhindern, und umgekehrt, daß der Mensch ohne Sünde nur hätte bleiben können bei dem Mangel dieser Erkenntniß, welche doch für den Menschen, sofern auch nur die Möglichkeit zur Sünde ursprünglich in seiner Natur lag, ein wesentliches Gut sei."') Richtig sagt auch Rothe: „Deshalb, daß er überhaupt Sünde an sich hat, verurtheilt Keiner sich selbst. Wir Alle wissen, daß wir nicht sündloS fein können. Aber deshalb richten wir uns selbst, daß wir verhältnißmäßig so viele und so große Sünde haben, weit mehrere und größere, alwir zu haben brauchten." Vortrefflich sind Zeller'S Bemerkungen: „Nothwendig ist das Böse nur im Allgemeinen, d. h. eS liegt im Wese» deS menschlichen Willens die Nothwendigkeit, daß seine Thätigkeit ihrem Begriff nicht schlechthin angemessen, daß kein ') Christi. Gl. II. S. 60.

142

Zweiter Abschnitt.

Mensch ohne Sünde ist.

B.

II.

Daraus folgt aber durchans nicht,

daß

auch die einzelne böse That und Eharakterbeschaffenheit nothwendig ist, diese ist vielmehr als daS Werk der Freiheit immer auch etwas Vermeidliches und darum

die

Schuld

des

handelnden

Subjects.

Kann sich auch Keiner dein allgemeine» Schicksal der sittlichen Un­ vollkommenheit entziehen,

so ist doch die Art und der Grad dieser

Unvollkommenheit unendlich vieler Modifikationen fähig, zwischen dem Thun des ruchlosen Verbrechers oder des kalten unk abgefeimten BösewichtS und den Schwachheiten, Uebereilnugen und Unlauterkei­ ten,

deren sich auch die vollendetste menschliche Tugend anzuklagen

haben wird, liegen unzählige Stufen, die aber doch alle unter den gemeinsamen Begriff bco Böse» fallen.

der Einzelne befindet, dies hangt zwar,

Auf welcher Stufe sich nun was den objectiven Werth

seiner sittlichen Bildung betrifft, großentheilS von äußeren Einflüssen, Unterricht, Erziehung u. s. w. ab, was dagegen seinen persönlichen moralischen Werth, seine Schuld und sein Verdienst anbelangt, einzig und allein von seiner freien Selbstbestimmung und der Art, wie er kraft dieser die ihm gegebenen Hilfsmittel der Sittlichkeit benutzt hat, und auch der, welcher objectiv angesehen sich auf einer niedrigeren Stufe befindet, kan» nach seiner snbjective» Würdigkeit höher stehen, der Räuber, welcher die Gesetze des Staates mit Füßen tritt, kann, wen» man alle Einflüsse der Erziehung und Z'ebenöschicksale berück­ sichtigt, ei» edlerer Mensch sein, als der Richter, der ihn verurtheilt. Diese Unterschiede zu übersehe», die allgemeine Nothwendigkeit deS Bösen mit einer durchgängigen Nothwendigkeit der einzelnen Hand­ lung zu verwechseln, Schuld und Verdienst, wen» sie nicht absolut sind,

ganz zu läugnen,

die Freiheit, wenn sie in der 'Natur deS

Menschen und den Gesetze» ihrer Entwicklung ihre Schranke hat, wenn der Mensch nie schlechthin gut oder schlechthin böse sein kan», auch nicht in der Bestimmung der Stufenuntcrschiede zwischen diesen äußerste» Punkte» anerkennen zu wollen, mit Einem Wort, daS In­ einander von Freiheit

und Nothwendigkeit in Beziehung auf daS

Böse in Abrede zu ziehen,

wäre ganz dieselbe Einseitigkeit, welche

in der Betrachtung des Willens überhaupt nur die Wahl zwischen

Die Unvermeidlichkeit der Sünde.

143

absoluter BestimmungSlosigkeit und absoluter Bestimmtheit desselben, zwischen JndifferentiSmuS und Determinismus übrig lasten will."') Entzieht man stch dieser Einsicht in die Unvermeidlichkeit der Sünde, um für die Person Jesu die Möglichkeit einer sündlosen Entwicklung zu retten, so verblendet man sich gegen den Augenschein um einer theologischen Voraussetzung willen, die in der Sache keinen Halt hat. Denn einerseits fehlen uns über die sittliche Entwicklung Jesu bis zu seinem öffentlichen Auftreten alle bestimmteren Nach­ richten, so daß wir das Bild derselben der Phantasie überlasten müssen, andererseits würde sich die Sündlosigkeit als ein innerer Zustand jeder Beobachtung entziehen, sofern kein Mensch in daHer; des Anderen sehen kann. UeberdieS aber haben wir von Jesus den entscheidenden Auöspruch über sich selbst: „waS heißest Du mich gut? Niemand ist gut, als Gott allein." Eine einfache Erwägung der Aussprüche Jesu über daS sittliche Leben, über Gnade und Sündenvergebung (vgl. besonders sein Gebet: vergieb uns unsere Schulden!) sagt uns, daß er alle diese Aussprüche nicht hätte thun können, wenn er ihren Gegenstand nicht in der eigenen Erfahrung vorgesunden hätte. Man denke nur einen Augenblick über das kühne und geistreiche Wort nach: „wem viel vergeben ist, der liebt viel, wem wenig vergeben ist, der liebt wenig," eilt Wort, welches das Maß der religiösen Liebe abhängig macht von dem Maße der erfahrenen Sündenvergebung. So unrichtig eS nun wäre, die Wahrheit dieses evangelischen Wortes entkräften zu wollen durch seine vermeintliche Gefährlichkeit, als ob darin die Aufforde­ rung zur Sünde läge, damit die Gnade um so größer werde, da vielmehr die in Jedem vorhandene Sünde an sich schon groß genug ist, um die Erfahrung einer reichen Bergebung möglich zu machen, und es hierfür nicht auf die Summe der Sünden ankommt, sondern auf die Tiefe des Gefühls, mit der die vorhandene Sünde sowohl, als die vergebende Gnade empfunden wird, ebenso verkehrt wäre cS, in der Behauptung der Nothwendigkeit der Sünde eine Gefährdung der Sittlichkeit, eine Aufhebung der sittlichen Begriffe zu sehen. ') Theol. Aahrb. 1847 1.

erhebt sich auch

auf dem Boden des

theoretischen

Da Niemand die Wahrheit in ihrer Vollendung hat, da Vlufl.

H

162

Zweiter Abschnitt.

B.

III.

unser Wissen Stückwerk und unsere Wahrheit-erkenntniß immer mit Irrthum und Unwissenheit verbunden ist, so fragt sich, ob unsere Erkenntniß je Frieden gewähre, ob unser ('oo6 etwa- anderes sein künde, al- ruheloser Skepticismus? Beide Probleme lösen sich auf die gleiche Weise. Der endliche Geist kommt nicht znr Rnhe, bis er die Wahrheit hat, und was jener Jüngling in der Dichtung verlangt, ist die Forderung des menschlichen Geistes überhaupt: „waS hab' ich, wenn ich nicht Alle- habe? Giebt's etwa hier ein Weniger oder Mehr? Ist denn die Wahrheit wie der Sinne Glück, nur eine Summe, die man größer, kleiner besitzen kann und doch besitzt? Ist sie nicht eine einz'ge »»getheilte?" Die Wahrheit ist Lin untheilbareS, weil absolutes Gilt, dgS lllillt nitV entweder ganz haben oder gar nicht haben kann. Würde Jesus sich der Gefahr des Todes unterzogen habe», wenn er sich nicht belvnßt gewesen wäre, die Wahrheit zu haben? Wen» er gemeint hätte, die Anderen haben zwar auch einzelne Stücke der Wahrheit, er aber habe noch einige mehr? Würde überhaupt ein Mensch für seine Ueberzeugung einstehen ohne den Glauben, die Wahrheit zu habe» ? Ohne die Wahrheit kein Friede in unserer Erkenntniß. Hub der endliche Geist kann die Wahrheit haben, nicht bloß einzelne Theile derselbe», nicht bloß einzelne Wahrheiten. Wenn wir die Welt als Kosmos, d. h. al- ein geordnete- Ganze voll Gesetzmäßigkeit und Vernunft betrach­ ten und alle- Einzelne, das uns vorkommt, in diese Ordnung ein­ reihen, dann haben wir die Wahrheit alö ein Ganzes, UngetheilteS, wie viele von den in der Welt waltenden einzelnen Gesetzen wir noch nicht entdeckt haben, wie viele einzelne Theile dieses UniversumunS noch unbekannt sind; wenn wir Alles schauen in dem Einen, da- alle- Andere in sich schließt, sagen wir: in Gott, dann wissen wir unS bei allem Stückwerk unseres Wissens in der Wahrheit und haben darin Ruhe und Befriedigung. Auf dem sicher errungenen Grunde bauen wir ruhig fort, gewiß, allem Einzelnen, was der weiteren Forschung sich aufdrängt, seine Stelle ans diesem Grunde anweisen zu können, einmal im Besitz der Wahrheit von einer Klar­ heit zur anderen durchzudringen; und der Irrthum, der unserer Er­ kenntniß noch anhastet, das Stückwcrkartige unseres Willens dient

Sündenvergebung.

163

nicht dazu, uns den Genuß und da» Glück de» Besitze» zu zerstören, sondern nur, den Reiz de» Besitze» stet» frisch zu erhalten und die Ruhe nicht zur Trägheit und Sicherheit ausarten zu lasien. Kurzum: weil ein Absolute» unser Theil ist, so können endliche Mängel da» vorherrschende Gefühl de» Glücke» und der Befriedigung nicht aufheben. Ganz ebenso ist e» mit dem Guten. So lange wir nur einzelne Stücke besserten, einzelne gute Werke und Tugenden haben, sind wir nicht versöhnt, denn nicht» Endliche» und Vereinzelte» kann dem Geiste, der unendlicher Art ist, Frieden geben; erst wenn wir da» Gute, den heiligen Geist al» die Quelle unserer einzelnen Handlun­ gen in der erneuerten Gesinnung tragen, haben wir Friede und Ver­ söhnung in un».') Da» Ganze ist größer, al» sein Theil. Im Glauben haben wir da» Ganze, den Baum mit allen seinen künfti­ gen Früchten, in den Werken dagegen treten die Theile einzeln und nach einander, bruchstückartig heran», unterworfen den Bedingungen der Zeit und der Aeußerlichkeit, daher stet» unvollkommen, aber der Genuß de» Ganzen, da» wir im Glauben umfassen, erhebt da» Ge­ fühl über da» Stückwerk der Theile und gestattet da» Bewußtsein der Rechtferttgung und Sündenvergebung. Fühlt sich nicht da» In­ dividuum, wie ein Volk, glücklich, wenn e» die Freiheit hat, d. h. da» Recht und die Macht, sich durch sein eigene» Wesen zu bestimmen, und, wa» in ihm lebt, ungehemmt nach allen Seiten herauszuleben? und diese» Glück al» da» herrschende Grundgefühl wird dadurch nicht aufgehoben, daß noch manche einzelne Freiheiten erst zu erobern sind. Dem Glaubenden dienen auch seine noch unvollkommenen Werke. „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten auSschlagen" — auch ihre Anfechtungen und Versuchungen, ihre Schwächen und Ver­ schuldungen. Sie stürzen den Wahn de» Fertigsein» und den Tugend­ hochmuth, sie nöthigen zum Wachen, sie treiben dazu, au» der Quelle de» Leben» mit stet» erneuter Kraft wieder zu schöpfen und erhalten da» Gefühl der Dankbarkeit gegen die vergebende Liebe lebendig. *) Dgl. über diese ganze Frage meine „Stunden der Andacht" I. Band S. 77 90 („WaS ist Wahrheit?").

Zweiter Abschnitt.

164

B.

III.

Die gute Gesinnung ist eS jetzt, die das eigentliche Wesen de- Men­ schen, die ganze Richtung seiner Bestrebungen bestimmt,

und die

sündhaften Regungen sind nur noch ein verschwindendes Moment und tragen,

da sie im Glauben stets bereut werden,

immer auch

ihre Vergebung in sich und können daher das vorherrschende Gefühl der Versöhnung zwar trüben, aber nicht aufheben. 2. Bezeichnet Rechtfertigung und Sündenvergebung die Entfer­ nung der Folgen der Sünde für das Bewußtsein,

so bezeichnet die

Seligkeit die positive Befriedigung, welche an deren Stelle tritt. Seligkeit ist da» Gefühl vollkommener Befriedigung in der erreichten Lebensbestimmung.

Sie ist nicht der höchste Grad deö Glückes, son­

dern anderer Art, als diese«.

Glücklich kann man sich fühlen durch

daS Zusammentreffen günstiger Umstände endlicher Art, durch unendliche Güter, die im Gemüthe liegen.

selig nur

Die Seligkeit ist

daher nicht abhängig von dem, was man Glück nennt;

sie ist das

innere Genüge mitten in der Angst des Zeitlichen und in den Ent­ behrungen der Erde.

Sie spricht:

„wenn ich nur Dich habe, so

frage ich Nicht- nach Himmel und Erde, und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, Herzen- Theil."

so bist Du doch mein Trost und meines

Ja sie wird erst durch den Kampf mit der End­

lichkeit ihrer Schätze recht inne.

„Seid fröhlich und getrost,

sie Euch schmähen und verfolgen."

wenn Ihr in mancherlei Anfechtungen fallet." bin, bin ich stark."

wenn

„Achtet es für lauter Freude, „Wenn ich schwach

Christus am Kreuz — der ThpuS der Seligkeit

im Jammer des Endlichen!

Darum erscheinen hier die Uebel der

Welt in einem durchaus neuen Licht.

Sie sind nicht mehr Strafen

de- zornigen Gottes, sondern Züchtigungen einer liebenden Hand, die den Schacht der inneren Unendlichkeit mit hartem Hammer er­ öffnet, die an dem harten Felsen der widerstrebenden Welt die Woge de- Herzens aufschäumen läßt und reinigt.

Auf dieser Stufe sitt­

lichen Leben- verstummt von selbst jeder Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit.

Sie ist die einzig mögliche Theodicee.

3. Da- ist denn auch bei Paulus sowohl, als bei Luther der Nerv de- großen Grundsatzes gewesen: der Mensch wird gerechtge­ sprochen durch den Glauben allein, nicht durch die Werke.

E- wollte

Glaubt Mid Werke.

165

damit ausgesprochen werden, daß die Religion oder da» Heilschaffende nicht beruhe aus endlichen Leistungen des Menschen an da» ihm ferne gegenüberstehende Absolute, sondern auf einem Thun au» göttlicher Kraft oder einer Wirksamkeit Gottes im Menschen oder im Absolu­ ten selbst, gefühlt, ergriffen, genossen vom Subject und in diesem Alles hervorbringend. Nicht ein Endliches und Vereinzelte», sondern nur ein Absolute« und Ganze- sollte Heil bringen können. Der Mensch hat keinen Frieden, so lang er Gott noch außer sich hat; er weiß sich erst versöhnt, wenn Gotte» Kraft seine eigene geworden ist, wenn der heilige Geist sein Geist, wenn „die Liebe Gotte- au»gegoffen ist in das Herz." Alle jene Werke deS Iudenthum», gegen welche PauluS, wie des Katholicismus, gegen welche Luther seinen Grundsatz kehrte, die Beobachtung des mosaischen Ritual- und MoralgesetzeS bei den Juden, die Uebungen der Kirche und de» Kloster» bei den Katholiken waren Leistungen eine» endlichen Wesen» mit end­ lichen Kräften an das ihm gegenüberstehende unendliche Wesen, An­ strengungen, diesem auS dem Eigenen etwa» darzubringen, um e» für sich zu gewinnen, endliches Thun eines von Gott, der ihm ja noch gegenüberstand, nicht erfüllten Herzen». Daß solch endliche» Thun nicht befriedige, das hatten Paulus und Luther erfahren. Die unendliche Schuld kann nur durch eine unendliche Leistung ge­ tilgt werden — dieser richtige Gedanke führte zu der unendlichen Leistung eines Gottes in dem stellvertretenden Tode de» Gottmen­ schen und zu dem Begriff des Glauben» al» der Aneignung dieser absoluten Leistung von Seiten des Menschen. Die Mhthologie ist gefallen, aber der Grundsatz, der sie erzeugt hat, bleibt stehen: daß nicht die Werke, sondern der Glaube, nicht endliche» Thun, sondern nur das Absolute selbst, wirksam im subjektiven Geiste, von diesem im Glauben ergriffen, angeeignet, empfunden und genoffen, da» Heilbringende sei. Daß mit dem Gegensatz, der hier aufgestellt wird, zwischen endlichem Thun deS Menschen Gott gegenüber und zwischen Gotte« Thun im Glaubenden, das menschliche Thun im Proceß deS Heils nicht zu einem bloß passiven Durchgang-punkt für die gött­ liche Wirksamkeit herabgedrückt wird, ergiebt sich theil» schon au»

166

Zweiter Abschnitt.

B.

III.

unserer bisherigen Darstellung deS Gottesbegriffs, theils wird es im Folgenden noch besonders gezeigt werden. Daß zwischen Glaube und Werken nur in dem Sinne ein Gegensatz aufgestellt worden, daß gefragt wird: was bringt das Heil? ein Einzelnes, Zerstückeltes oder ein Ganzes, UngetheilteS? ein Endliches und Zeitliches oder ein Unendliches und Ewiges? daß aber der Gegensatz aufhört, so­ bald die Werke betrachtet werden als die Gesammtheit der Wirkun­ gen GotteS im Glaubenden, hat zum Theil schon Paulus eingesehen. Er stellt z. B. Röm. 2, 6f. einen Kanon für die göttliche Gerechtig­ keit auf, der ebenso für die vorchristliche, wie für die christliche Welt­ periode giftig ist, indem er ganz allgemein sagt: Gott wird vergelten einem Jeglichen nach seinen Werken. Damit ist gesagt, daß allein die Gesinnung und, sofern die Gesinnung sich nur in den Werken bethätigt, die Werke der Maßstab sind, nach welchem Gott richtet. Richtig hat Baur zu dieser Stelle bemerkt, daß dieser Grundsatz scheinbar im Widerspruch stehe mit dem Hauptsatz der paulinischen Rechtfertigungslehre, daß er aber eigentlich nur das Allgemeine sei, auf daS auch Paulus in letzter Beziehung immer wieder zurückkom­ men müsse, wenn eS ihm nicht, um den Gegensatz deS IudenthumS und Christenthums so scharf als möglich hervorzuheben, darum zu thun sei, die Werke des Gesetzes und den Glauben in einer Spitze aufzufassen, die nur der theoretischen Betrachtung angehöre. § 31. Die Heiligung ist die Bewährung der Wiedergeburt durch die stets wiederholten Acte der Buße und des Glaubens, wodurch die Welt einerseits immer mehr überwunden, andererseits immer mehr geheiligt wird. 1. Bezeichnet die Heiligung dasselbe, was die Wiedergeburt als Anfang ist, als einen fortlaufenden Proceß (§ 28), gleichsam die allmählig verlaufende Genesung nach der eingetretenen Krisis, so muß sich in derselben Dasjenige unaufhörlich wiederhole», was in der Wiedergeburt einmal geschehen ist. Da die Wirklichkeit nie vollkom­ men der Idee entspricht und der subjectiv-menschliche Geist nie ganz

Die Heiligung.

167

mit dem absoluten zusammenfällt, so folgt, daß die Buße auch im Werke der Heiligung ihre fortwährende Bedeutung behält. Doch nöthigt uns weder das Wesen des menschlichen Willen- noch die religiöse Erfahrung, bi- zu der Behauptung fortzuschreiten, die wir in der früheren Kirchenlehre, bei Lutheranern, Calvinisten, Zwinglianern einstimmig und ebenso auch bei Schleiermacher wiederfinden, daß kein Werk des Wiedergeborenen sittlich wahrhaft gut und frei sei von der Mitwirkung selbstischer, sündiger Motive. Ist in jedem guten Werke des Wiedergeborenen noch Sünde (Schleiermacher christl. Glaube § 132. 3), so giebt es kein menschliche- Handeln, da- au» reiner Frende am Guten fließt, bei welchem nicht fleischliche, niedere Triebfedern als mitbestimmend wirksam wären, ein sittlich gute» Handeln komnit in der Wirklichkeit gar nicht vor. Dann ist ewirklich wahr, was Martensen (Dogmatik § 143) al- eine diabo­ lische Behauptung heimgiebt, daß da- Gute und Heilige in der Welt keine andere Wirklichkeit haben könne, als die, welche zwischen einem in sich durchaus unbestimmten Minimum von Sünde und einem ebenso unbestimmten Maximum von Sünde liege, wie dann auch die Wahrheit keine andere Wirklichkeit haben könne, als die, welche zwischen einem Minimum von Thorheit und einem Maximum von Weisheit liege. Aber woher will man wissen, daß e» so ist? Au» der Erfahrung nicht. Die Erfahrung kann diesem oder jenem Ein­ zelnen zeigen, daß es bei ihm so steht. Aber wer steht einem Anderen in'S Herz? Mögen sich auch noch so gerne an Handlungen, die vorherrschend au» der Freude am Guten entsprungen sind, selbst­ süchtige Regungen, wie Eitelkeit, Ruhmsucht, Rücksicht auf indivi­ duelles Interesse, anhängen, so kann doch gewiß nicht behauptet wer­ den, daß dieses unbedingt immer so sei. ES ist eine falsche Ueber­ treibung des protestantischen Schuldbewußtsein-, wenn behauptet wird, daß Jeder täglich, stündlich, in jedem Augenblicke sündige. Die Erfahrung zeigt, daß der Mensch mit freudiger Aufopferung alle» Selbstischen sich für da- Gute hingeben kann. Wäre jene Be­ hauptung richtig, so müßte auch Denen Recht gegeben werden, welche geflissentlich darauf ausgehen, allen Thaten, die unter den Menschen al- hoch und edel gepriesen werden, gemeine Motive zu unterschieben,

168

Zweiter Abschnitt.

B.

III.

welche z. B. in der Reformation nur das Werk der Ruhmsucht, ver­ letzten Ehrgeize-, fleischlicher Lüste sehen wollen. Denn wenn es kein rein sittliche- Handeln giebt, so ist die Entscheidung durchaus un­ sicher: was bei einer Handlung daS Hauptmotiv gewesen, die selb­ stische oder die sittliche Triebfeder, die Entscheidung hierüber fällt dem subjektiven Meinen und Belieben anheim. Daß aber die Buße ein bleibendes Moment im Werke der Heiligung fei, muß besonders einer Ansicht gegenüber festgehalten werden, die man als sittlichen Naturalismus bezeichnen dürfte. Da wird gesagt: „die moralische Handlung müsse unmittelbar Ausdruck der Natur sein; Tugend sei nicht das Handeln nach einem Gebot, auch nicht daS Streben nach einem über dem Einzelnen hinausliegenden Vollkommenen, sondern ein kampfloses Herausleben des dem Menschen von Natur einwohnenden sittliche» Gehalte«. DaS Sitten­ gesetz soll gleich einem Naturgesetz im Menschen wirken mit gleicher Nothwendigkeit, als ob die sittliche That sich von selbst verstünde." Diese Ansicht fehlt nur darin, daß sie das als von Natur gegeben annimmt, was erst Resultat der sittlichen Entwicklung sein kann. Allerdings soll das sittliche Handel» dem Menschen znr Natur wer­ den, aber „zur anderen Natur", wie man sagt. Das Handeln des Wiedergeborenen soll nicht die Form haben, die ihm der kantische Imperativ anweist, wo der Geist als der mißtrauische, lauernde Wächter des Fleisches eingesetzt ist, als die absolut gebietende Stimme des GewisienS, die dem Menschen in jedem Augenblick, in allen Lagen und Verwicklungen deS Lebens die sittliche Aufgabe klar vorschreibt, mit nüchterner Ueberlegung handeln und sich durch die fortwähren­ den Hindernisse durchkämpfen heißt. Vielmehr soll „der heilige Geist auSgegossen sein über daS Herz", so daß cs uns ohne lange Ueber» legung, ohne fortwährenden stampf treibt, wie in Folge eines NaturdrangeS zu handeln oder, um ein treffendes Bild Schlciermacher'S zu gebrauchen, „zu handeln gleich einem geübten Tonkünstler, der nicht immer fürchten muß, auf seinem sicheren Instrumente Miß­ töne hervorzubringen." Dies ist allerdings die wahre Form des sittlichen Lebens, die den kantischen Imperativ, wie die ängstliche, pietistische Frömmigkeit als einseitige Erscheinungen aufhebt. Aber

Weltüberwindung und WcltverNSrung.

169

zu dieser Form gelangt man nur durch den Kampf, durch den kate­ gorischen Imperativ. Soll der Mensch mit seinem Herzen siegen, so muß er zuerst über sein Herz gesiegt haben; soll das Sittliche Natur werden können, so muß zuerst die Natur sittlich geworden sein. Weil aber Das im individuellen Leben nie vollkommen der Fall ist, so muß auch dem Wiedergeborenen da- Gute immer wieder als Gesetz gegenüberstehen, als ein Ideal, nach welchem er trotz allem schon gegenwärtigen Besitz stets wieder streben soll. So hebt die christliche Stufe deS sittlichen Lebens die beiden früheren in sich auf und versöhnt sie in einer höheren Einheit. DaS Gesetz alS das dem Menschen noch äußerliche Ideal deS Guten ist principiell aufgehoben durch „den heiligen Geist, der im Herzen auSgegossen ist", behält aber soweit immer seine Wahrheit, als es fortwährend die objective Norm des Handelns bildet, und behauptet, soweit die Wirklichkeit des Willens nicht zusammenfällt mit seiner Idee, auch sein Wesen als Aeußerlichkeit, aber nur, um durch die Kraft des Glaubens in dieser Aeußerlichkeit immer wieder aufgehoben und so erfüllt zu werden. Ebenso erhält nun auch die erste Stufe, auf welcher der Geist noch hingegeben war an die Natur, hier ihre höhere Erfüllung, indem jetzt Geist und Natur, Vernunft und Sinnen­ trieb sich verschwistern, und das sittliche Handeln als Ausdruck der ganzen gotterfüllten Menschennatur erscheint. 2. Vollzieht sich in der Buße die fortlaufende Bekämpfung der nie völlig erstorbenen sinnlich selbstsüchtigen Motive, so im Glauben die fortlaufende Erfüllung deS subjectiven Willens mit den Motiven, welche aus der unendlichen Wett des Geistes fließen. Jenem ent­ spricht alS Resultat die fortschreitende Ueberwindung der Welt (1. Ioh. 5, 4. Ev. Ioh. 16, 33), diesem die fortschreitende Verklä­ rung der Welt. Die Welt bezeichnet in diesem Zusammenhang das Endliche, soweit e» vom subjectiven Geiste noch nicht angeeignet ist, also ebenso sehr die Naturseite deS Menschen, die empirisch gegebenen Triebe und Neigungen, so lange der Geist sein unendliches Wesen noch nicht in sie gelegt hat, als das Reich deS Sichtbaren und Zeitlichen außer uns, das Gebiet der wechselnden Dinge und Erscheinungen, so lange

170

Zweiter Abschnitt. B. III.

der Mensch sie um ihrer selbst willen liebt und unmittelbar seine Befriedigung in ihnen sucht, anstatt sie ;u 'Mitteln für objective, sittliche Zwecke zu machen, so lange er also zum Golde sagt: Du bist mein Gott, und zum Silber: Du bist mein Trost, zur Erde: Du bist mein Himmel, und zur sinnlichen V'uft: Du bist meine Seligkeit. Daß das Sichtbare vom Menschen ;um Selbstzweck gemacht werden und so „das Geschöpf höher geehrt werden kan», als der Schöpfer", darin besteht das Wesen der Bersuchung. Der Versuchung sieg­ reich widerstehen, heißt: die Welt überwinden. DaS ist aber nur die eine, negative Seite der im Proceß der Heiligung sich vollziehenden sittlichen Thätigkeit, diejenige Seite, die allerding« im Urchristcnthum und in der Anschannng der katholischen Kirche als die eigentlich christliche mit Vorliebe gepflegt worden ist. Die andere, positive Seite, die im Momente des Glaubens liegt, ist die Verklärung der Welt zu einem Reich des Geistes. Die Möglich­ keit dieser sittlichen Thätigkeit liegt darin, daß die Welt wirklich ein Product des Geistes, der Ausdruck der absoluten Vernunft ist und daher vom subjectiven Geiste als solche erkannt und gewollt werden kann. In allem Endlichen das von der absoluten Vernunft gesetzte, ihm einwohnende Gesetz erkennen und es diesem Gesetz gemäß als etwas Heiliges behandeln, das heißt: die Welt verklären. So wird dem Leiden, diesem markirtesten Punkte der Endlichkeit, die endliche Form abgestreift, wenn eS gemacht wird zu einem Mittel für die Verherrlichung Gottes (Ev. Ioh. 17, 1), zu einem Beweis der Ueber» macht des Geistes über das Fleisch („wenn ich schwach bin, bin ich stark" Paulus), zu einem Zeichen der sieghaften Kraft des Glaubens über die Schranken der Endlichkeit und die Schrecken des Todes („Tod! wo ist Dein Stachel? Hölle, wo ist Tein Sieg?" Paulus). So hören die irdischen Arbeiten und weltlichen Geschäfte, die so oft verkehrterweise in der Theorie, wie in der Praxis in einen feind­ lichen Gegensatz zur Religion gestellt werden, auf, rein irdisch und weltlich zu sein, werden vielmehr selbst ein Stück Religion, wenn man sie erkennt als den gottgeordncten Beruf, in welchem der Cha­ rakter seine Treue bewähren und der Geist seine Kräfte entfalten soll, als den Acker, in welchem der köstliche Schatz des Gottesreiches

Weltübmvindung und Weltverklärung.

171

verborgen liegt. So werden alle wesentlichen Sphären de- Leben-, die Ehe, der Staat, die Kunst, die Wissenschaft, die Industrie, die Geselligkeit zu Gliedern eine- ethischen Organi-mu-, in welchem der Geist die verschiedenen Seiten seine- Wesens bethätigt. 3. In dem Begriff „heilig", in der Aufgabe, die Welt zu hei­ ligen, d. h. als heilig zu behandeln, liegt die Synthese von Religion und Sittlichkeit. Alle- im Leben, den Menschen, das Eigenthum, die Arbeit, die Liebe und Freundschaft, das Leben selbst u. f. w. als heilig behandeln gemäß der göttlichen Ordnung, die in Jedem sich ausdrückt, gemäß dem Gesetz, das ihm innewohnt, das heißt zu­ gleich religiös und sittlich sein. Alles wahrhaft Sittliche ist religiös und alles wahrhaft Religiöse ist ethisch. Alle sogenannte Moral ohne Religion, d. h. ohne Beziehung auf ein Unendliche- wird Weltklugheit und Eudämonismus. Alle sogenannte Religion ohne ethischen Inhalt wird Afterdienst und Aberglaube. Diese ethische Forderung ist der bleibende Sinn der evangelischen Worte: „Alle-, was Du auf Erden bindest, soll im Himmel gebunden sein, und wa- Du auf Erden lösest, soll im Himmel los sein," d. h. all' Dein Erdenthun soll Ausdruck eine- Unendlichen sein, eingetaucht in die Glut Deines Gemüthes und Deiner Liebe, und so ewigen, himmlischen Gehalt in sich tragen. § 32. Dem GeisteSmenschen offenbart sich Gott alS den Dater, der ihn zur Kindschaft beruft, al- die Liebe, die sich selbst und damit volles Genüge giebt, als den heiligen Geist, der durch seine Kraft im Menschen wirkt, waS das Gesetz fordert. 1. Indem der Mensch den absoluten Geist, der seinem endlich sinnlichen Willen als Gesetz gegenüberstand, nun als lebendige Trieb­ kraft seines Wesen- in sich hat, hat sich sein Verhältniß zu ihm ver­ ändert: die Furchterscheinung ist verschwunden, die drohende Miene de- Gesetzgebers und Richters hat sich in das freundliche Angesicht des BaterS verwandelt. Jetzt erkennt der Mensch: der Geist, den ich einst als eine drohende Furchterscheinung mir gegenüber sah, ist

172

Zweiter Abschnitt,

B.

III.

von Anfang an mir nahe gewesen; schon in der Ebenbildlichkeit, die er in mich pflanzte (§ 13), schon in dem Gesetz, daS mich schreckte, durch welches er aber nur jene ursprüngliche Ebenbildlichkeit mir zum Bewußtsein bringen wollte, hat er sich alS das freundliche Wesen, alS der Vater gegen mich erwiese», der mich zu seiner Kind­ schaft berufen hat. „Denn Ihr habt nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, wiederum zur Furcht, sondern Ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater." (Röm. 8, 15.) Jetzt erkennt der Mensch, daß er göttlichen Wesens, göttlichen Geschlechtes ist (Apostelgesch. 17, 28); folglich muß Gott sich selbst, fein eigene« Wesen ihm. dem Mensche», geschenkt haben. Da« ist die Liebe, die sich selbst den Anderen darbietet. In diesem Besitz Gottes hat der Mensch Alles, daher volles Genüge. Früher, da er Gott noch außer sich hatte, marktete er mit Gott und verlangte für seine Gerechtigkeit Lohn; jetzt ist ihm Gott selbst Lohnes genug; in der Liebe und GottcSkindschaft ist er selig in allen Mängeln und Entbehrungen der endlichen Welt. Er hat ein Unendliches, was könnte das Endliche ihm anhaben'? Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? So ist der Mensch nun auch versöhnt in sich selbst trotz der Mangelhaftigkeit seiner Werke. Gott ist eS nun, der zu ihm spricht: „gehe hin in Frieden, Dein Glaube hat Dir geholfen! und wenn Deine Sünde blutroth wäre, so will ich sie weiß machen, wie Schnee! DaS Alte ist vergangen, es ist Alles neu geworden, denn ich bin die Liebe." Nicht der Mensch kann sich freisprechen auS eigener Macht, Niemand kann sich die Sündenvergebung selbst neh­ men, Gott ist eS allein, der gerecht spricht, Gott im Glauben ergrif­ fen und gefühlt. Indem diese Seligkeit dem eben »och sinnlich be­ stimmten und immer noch mit Sünde behafteten Menschen zu Theil wird, fühlt er die göttliche Liebe als erbarmende Gnade, die ihm ohne sein Verdienst zu Theil geworden ist. Aber nicht bloß das Verzeihen nach der Umkehr ist Gottes Werk, die Umkehr selbst, das Bußethun und Glauben erkennt der Mensch jetzt als Wirkung Gottes in ihm. Gott ist es, der Beides

Die Gnade.

173

schafft, daS Wollen und das Vollbringen (Philipp. 2, 13); er ist der heilige Geist, der durch seine Kraft in unS wirkt, wa- daS Gesetz fordert. Der Mensch fühlt und erkennt: daffelbe, was einst als Imperativ mir gegenüberstand, ist nun die wirkende Macht in mir und setzt durch seine Uebcrmacht daS in mir durch, was ich früher nicht vermochte, als cS noch außer mir stand. AuS dieser religiösen Erfahrung heraus hat Augustin zu Gott gebetet: Da, quod jubes! 2. Durch diese Offenbarung Gottes hat nun der Glaube, der früher erst im Allgemeinen als die Richtung auf die unsichtbare Welt deS Geistes bezeichnet werden konnte, seinen concreten Inhalt erhalten. Der Glaube ist nun die unbedingte Hingabe de» Herzenan Gott als den Baker, der uns zur Kindschaft beruft, als die Liebe, die sich selber dem Sünder schenkt, als den heiligen Geist, der alleGute in uns wirkt. § 33. DaS Werk der Wiedergeburt und Heiligung ist ebenso sehr ein Werk der göttlichen Gnade, als der menschlichen Freiheit. Gnade und Freiheit sind keine Gegensätze, son­ dern nur die unterschiedenen, aber nothwendig zusammen­ gehörenden Seiten Eines und desselben Processes. 1. Diese beiden Seiten sind in jedem religiösen Acte unab­ trennbar verbunden, das hat schon die ganze bisherige Darstellung gezeigt, indem sie daS Werk der Wiedergeburt und Heiligung zuerst nach seiner menschlich-psychologischen (§ 27—31), hernach nach seiner objectiv göttlichen Seite (§ 32) beschrieben hat. Beides beruht gleich­ mäßig auf unserer religiösen Erfahrung und ist auch in den Aus­ sprüchen religiöser Erfahrung aller Frommen zu allen Zeiten als in irgend einer Weise verbunden dargestellt. DaS Indenthum, obwohl eS wesentlich auf der Entgegensetzung GotteS und des auS eigenen Mitteln handelnden Menschen beruht, hat doch dem auch im sitt­ lichen Leben Alles wirkenden göttlichen Geiste in seiner Literatur einen tansendsältigen Ausdruck verschafft. DaS Christenthum wird zwar von Paulus ausschließlich als Erlösungsreligion gefaßt mit dem Grundsatz: „vertraue auf die erlösende Gnade, so wirst Du, obwohl

174

Zweiter Mschnitt.

B.

III.

dem Gesetz nicht genügend, gerechtfertigt,"') aber hierin liegt neben der erlösenden Gnade zugleich die Anerkennung der menschlichen Freiheit; denn nur das Göttliche, dein Du vertraust, das also auf Deiner eigenen sittlichen That beruht, wirkt erlösend. Man findet daher in allen Schriften des Paulus neben der Lehre von der Alles wirkenden göttlichen Gnade doch die Freiheit der mensch­ lichen Entscheidung überall vorausgesetzt. In der ganzen Geschichte der Religion, wo der eine Factor ausschließlich betont werden wollte, hat sich jedesmal der andere geregt und zur Wehre gesetzt. Wo der AugustiniSmuS daS Feld einnehnien wollte, hat jedesmal der PelagianiSmnS seine Stimme erhoben, und umgekehrt; und jede dieser Richtungen fUt sich war jedesmal einseitig und ungenügend, well die ganze, das Denken, wie die religiöse Erfahrung befriedigende Wahrheit nur in ihrer Verbindung liegt. Auch in der ReformationSzeit war dieses Bedürfniß, Beides zu vereinige», der Nerv des Kampfes: die Behauptung der allein und ausschließlich wirkenden Gnade wollte den absoluten Charakter des religiösen Lebens wah­ ren gegenüber dem nur endlichen Gehalt der Kirchenwerke, dagegen sprach sich in dem Kampf gegen den Calvinismus die Ahnung aus, daß Alles, was der Mensch in seinem Verhältniß zu Gott sei, doch auf seiner eigenen freien Selbstbestimmung beruhen müsse. Nur die Verbindung beider. Seiten erzeugt die Reinheit und Gesundheit des sittlichen Lebens. Das Bewußtsein der Gnaden­ wirksamkeit erzeugt die Demuth, die jeden Stolz auf eigene Gerech­ tigkeit und Verdienst ausschließt, daS Bewußtsein der Freiheit den Muth, welcher jede sklavisch kriechende Unterwürfigkeit des Menschen in seinem Verhältniß zu Gott aufhebt und das Gefühl des eigenen sittlichen Werthes begründet. 2. Die Verbindung dieser beiden Seiten kann wissenschaftlich nur gelingen, wenn Gott als der allgegenwärtige Geist und eben darum der Mensch, wie die Welt überhaupt, als Organ der gött­ lichen Offenbarung betrachtet wird. Bon der doppelten kirchlichen Voraussetzung aus, nämlich Gottes als eines außer- und überwelt*) Alex. Schweizer: Die christl. Glaubenslehre S. 105.

175

GottkÄthat und Menschrathat.

lichen Wesen-, das dem Weltwesen, gleichfalls in der Form des nur absolut gedachten Einzelwesen-, gegenübersteht, auf der einen, und der vollständigen sittlichen Unfähigkeit deS Menschen auf der anderen Seite mußte da- Problem mißlingen.

Dieser doppelten Voraus­

setzung thut nttr die strenge Prädestinationslehre Calvin'S ein Genüge. Die Voraussetzungen im Ganzen beibehalten, aber die Schroffheit der Folgerungen abweisen, wie eS in der reformirten Kirche durch den sogenannten InfralapsarianiSmuS, in der lutherischen durch die Unterscheidung des göttlichen Vorherwissens und Vorherbestimmen-, de- allgemeinen und besondere» göttlichen RathschluffeS, durch den Melanchthonischen Synergismus versucht worden ist, ist kein Dienst, den man der Wahrheit erweist. Consequente Irrthümer sind immer mehr werth, als inkonsequente Wahrheiten, weil diese sich ewig.fort­ erben, während jene zur ganzen Wahrheit treiben. Da- Calvinische Dogma ist eine so harte Barbarei, und der Gott, den es voraus­ setzt,

indem er bei gleicher sittlicher Beschaffenheit die Einen selig

macht, die Anderen verdammt, hat so handgreiflich den Charakter einer sittlichen Macht verloren und ist znr blinden, gegen ethische Bestimmtheiten gleichglltigen Naturmacht herabgesunken,

daß

der

Fehler des Systems nicht durch Abschwächungen gut gemacht werde» kann, sondern zum Aufsuchen einer neuen Grundlage zwingt, näm­ lich zu einem Gottesbegriff, dem die Vorstellung eine- außer- und überweltlichen Einzelwesens, dem die Welt nur als selbstlose Creatur gegenübersteht, vollständig abgestreift ist. Schleiermacher hatte diese Vorstellung-form abgestreift, aber seiner Christologie zu lieb für die menschliche Natur in ihrem Ver­ hältniß zuin Heile nur die rein passive Empfänglichkeit übrig gelassen. Aber das ist eine ganz abstrakte Betrachtung.

Was soll da- heißen:

der menschlichen Natur ist in Beziehung auf die Erlangung deS Heils jede Mitthätizkcit abzusprechen, und es kommt ihr nur da- leidende Verhalten der Empfänglichkeit zu? an

und

für

WaS ist denn da- Menschliche

sich ohne daö Göttliche?

Eine nichtige Abstraktion.

Gehört denn die Vernunft und die Freiheit, worin sich Gott für die Erkenntniß, wie für den Willen deS Menschen offenbart und bethätigt, nicht zum Wesen deS Menschen?

Kann denn die sittliche

Zweiter Abschnitt,

176

B.

III.

Idee, durch welche der Mensch in seinem Gewissen sich bestimmt alS durch sein eigene-, wahre- Wesen, Natur de- Menschen?

getrennt werden von der

Sind Vernunft und Gewissen bloß passive

Durchgang-punkte für die Thätigkeit de- Absoluten in im-, sind sie nicht Functionen menschlicher Selbstthätigkeit? Wie der abstractc Dualismus zwischen Gott und Welt, von dem au- da- kirchliche Denken operirt hat, nicht vorhanden ist, so existirt auch die schroffe Scheidung der Erwählten und der Verwor­ fenen in der Wirklichkeit nicht.

Kein Mensch ist nur Sünder und

steht daher ausschließlich unter dem Fluch.

Die Begriffe gut und

böse, so scharf sie ihrem Wesen nach getrennt sind, finden sich nicht in dieser Ausschließlichkeit an die Individuen vertheilt, daher ebenso wenig

die Begriffe erwählt und verworfen.

Soweit ein Mensch

noch an Gott Theil hat, soweit hat er noch ein Gut und ist darum nicht verworfen.

Betrachtet man die Menschen außerhalb de- christ­

lichen Erlösung-gebiete-, auf dem die kirchliche Dogmatik allein Er­ löste gelten lassen will, betrachtet man die alten Heiden, die Griechen und Römer, so besaßen sie in ihrer natürlichen Sittlichkeit, in den sittlichen Leben-äußerungen, in welchen der Volk-geist sich einen instinctiven Ausdruck gab,

im häuslichen Leben, im Staat,

in der

Religion, in ihrer Kunst und Wissenschaft ein reales Heil, das mit einem hohen Grade von innerer Befriedigung, mit einer Art von Beseligung verbunden sein mußte. Ebenso bei dem Volk de- Gesetzes. Das Volk der Juden war nicht ausschließlich das Volk des unglück­ lichen Bewußtseins, wofür man es, wenn man seine düstere Geschichte mit dem heiteren Glanze hellenischen LebcnS vergleicht, halten möchte; seine Schriftwerke zeigen unS vielfach einen Zustand großen Behagens in einem durch Gottesfurcht bestimniten Erdenleben.

Das Bewußt­

sein der Unseligkeit unter dem Joch des Gesetzes milderten sie durch ihre Opfer und Gottesdienste und i» der Aussicht auf eine vollkom­ mene Verwirklichung dcS GotteSrcichcS in der Zukunft genossen sie diese- in ihrem Bewußtsein schon als ein gegenwärtiges. Keineswegs zeigte also Gott an denen, die außerhalb des christlichen ErlösungSgebieteS standen, nur seine Gerechtigkeit, sondern ebenso sehr seine Güte und Liebe, da er auch ihnen eine Beseligung zu Theil werden

Dir Prädestination.

177

ließ je nach dem Maße, als sie mit dem ihnen anvertrauten Pfunde wucherten. Wer nicht die höchste Sittlichkeit und darum auch nicht das Vollgefühl der Seligkeit erreicht, ist darum nicht verworfen. Selbst der Pharisäer „hat seinen Lohn dahin"; einerseits in dem Gesehen- und Gepriesenwerden, das er sucht, andererseits in dem Stolze auf seine Leistung und Kraftanstrengung hat er genau den Lohn, den er verdient, und den er braucht, um mit seinem Leben zufrieden zu sein. Zu dem zweiten Sohne im Gleichnis, dem gesetz­ lich rechtschaffenen, bürgerlich soliden Manne, dem freilich alle Weihe höheren, geistigen Lebens fehlt, läßt Jesus den Vater kein Wort der Verwerfung sprechen. Natürlich! er hatte ja in seiner Art sein Gutes und trug daher auch einen diesem entsprechenden Lohn in sich. Tragen denn alle Diejenigen, welche nicht gerade nach dem Höchsten im Leben streben, daö Kainszeichen göttlicher Verwerfung an der Stirne? Wir sehen Menschen, die fast ausschließlich das zeitlich Nützliche pflegen, die Reichthum sammeln durch kluge und gewandte Betreibung ihrer Geschäfte und es sich so möglich machen, ein ge­ bildetes, anmuthigeS, durch Kunst, Wiffenfchaft, Geselligkeit geschmück­ tes Leben zu führen; das Trachten nach dem Reich Gotte» und seiner Gerechtigkeit ist nicht ihr Erste», obwohl sie nicht schlecht sind, der Durst nach Heiligung und Wahrheit kein brennender in ihnen — und doch sehen wir sie mit vielem Behagen, mit großer Zufriedenheit durch'S Leben gehen, ohne alle Spuren der göttlichen strafenden Hand im Gesichte, die man bei Verworfenen erwarten sollte, ja sie scheinen in der engen Schranke des Zeitlichen, in welcher sie sich bewegen, oft glücklicher, als Diejenigen, welchen Gott die schmerzlich süße Flamme der Sehnsucht nach dem Unendlichen in die Seele gelegt hat.') Woher Da»? Weil Gott reicher und mannigfaltiger ist an Segen, als die Theologen, welche die Hölle erfunden haben, weil schon die Arbeit, wenn sie sich auch nur um einen irdischen Stoff bewegt, eine Aeußerung geistiger, sittlicher Kräfte und daher mit Beseligung verbunden ist. ') Vgl. meine Stunden der Andacht II. Band S. 178f. V

a n $, TiMuunf.

2.

Attfl.

J2

178

Zweiter Abschnitt. B. III.

So billig ist die göttliche Gerechtigkeit. Nicht was Umstände dem Einen gönnen, dem Anderen versagen, soiider» nur, was Jeder haben kann, nämlich die Treue, mit der Jeder leistet, was er nach Anlage und Umständen vermag, bildet den Maßstab für den Werth und das Maß der Seligkeit für einen Jeden. „Wem viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert." Dem unwissenden Heiden gab Gott doch denjenigen Antheil an der Wahrheit, den er brauchte, um mit seinem Loose zufrieden und über sein Leben ausgesöhnt zu sein, wenn er nur die Mittel, die ihm offen standen, hinter die Wahrheit zu kommen, redlich benutzte. Wem aber Gott mehr gewährt — wie ja ohne Zweifel da- Gefühl der Beseligung höher sein kann bei einem Christen, als es dem Heiden möglich ist — dem hat Gott auch größere sittliche Gefahren, schmerzlichere Kämpfe, tiefcrgehende Leiden zur Begleitung gegeben. „Wo viel Weisheit ist, da ist viel Gram, und «er an Einsicht wächst, wächst auch an Schmerz," sagt treffend der „Prediger." Daß die Menschenwelt unendlich viele Stnfenunterschiede einer höheren oder geringeren Kräftigkeit de- sittlichen Lebens und eben damit auch de- Seligkeit-gefühl- aufweist, da- ist ohne Zweifel gött­ liche Ordnung, und darauf führt auch Schleiermacher im Einklang mit seiner philosophischen Weltanschauung die Prädestination-lehre am Ende hinan-, wenn er sagt: „Wie wir in der Welt überhaupt die mannigfachste Abstufung de» Leben- antreffen von den niedrigsten Formen an bi- zu den höchsten und nicht zweifeln dürfen, daß eben diese Mannigfaltigkeit al- die reichste Raum- und Zeiterfüllung der Gegenstand de- göttlichen Wohlgefallen- sei, so werden wir billig auch auf dem durch die Erlösung entstandenen geistigen Leben-gebiet Alle- erwarten, wa- zwischen dem Kleinsten und Größten liegt und diese ganze zu lebendiger Gemeinschaft verbundene Fülle al- den Gegenstand de- göttlichen Wohlgefallen- ansehen und darin be­ ruhen." ') Nur darf man dabei nicht mit Schleiermacher da- Moment der ') Lhristl. Gl. II. 301.

Die Prädestination.

179

menschlichen Willensfreiheit außer Acht kaffen. Wie der Mensch die ihm verliehenen Anlagen, die ihm an der Stelle, auf welche er sich in der Welt gesetzt findet, dargebotenen Mittel und Umstände benutzt, davon hängt sein sittlicher Werth und zugleich der Grad seiner Selig­ keit oder Unseligkeit ab.

Verworfen ist an sich Niemand, da Jeder

vermöge der dem Menschen immanenten Gottebenbildlichkeit an der Gnade Theil hat; verworfen von Gott ist nur, wer sich selbst ver­ wirft und sich de- ewigen Lebens nicht werth achtet, indem er in bewußtem Widerspruch gegen sein wahres Wesen in der Sünde ver­ harrt.

Der richtet sich selbst und stößt sich aus dem Gottesreich

des Lichtes und der Freiheit in die Botmäßigkeit der Sinnlichkeit und Finsterniß hinaus. Da die Stufenunterschiede deS sittlichen Lebens unendlich sind, so ist eS ein unwahrer Gegensatz, alle Menschen in die zwei Klassen der Erwählten und Verworfenen zu theilen, und die Frage, die der kirchlichen Dogmatik so viel zu schaffen gemacht hat:

warum hat

Gott die Einen erwählt, d. h. zum Thun deS Guten and zum Genuß der Seligkeit bestimmt, die Anderen aber verworfen, d. h. zum Sün­ digen und zur Unseligkeit bestimmt? ist als falsch gestellt einfach zurückzuweisen. 3. Was die protestantische Kirchenlehre mit der Prädestination wollte,

das ist durch unsere Darstellung erreicht.

Gegenüber den

Leistungen, durch welche der Mensch aus endlicher Kraft da- Heil dem ihm ferne gegenüberstehenden Gott abringen sollte, gegenüber dem endlichen Thun der Kirche und der Priester suchte man daHeil bei der ersten Quelle, bei Gott selbst, und glaubte deffelben nicht versichert zu sein, wenn es nicht von Gott selbst in der Seele gewirkt nnd ausgesprochen wäre; eS war den Reformatoren um den absoluten Charatter der Wahrheit (im Dogma von der ausschließ­ lichen Gültigkeit de- göttlichen Wortes gegenüber menschlichen Satzun­ gen) und de- Heils (im Dogma von der absoluten, alle- Verdienst der Werke ausschließenden

Gnadenwirksamkeit)

zu thun.

Diesem

religiösen Interesse der Kirchenlehre wird Genüge gethan, wenn nachgewiesen wird,

daß Gott als der schöpferische Grund der Welt

12*

180

Zweiter Abschnitt.

B.

III.

auch die schöpferische Kraft de» sittlichen Men» in UN» ist, indem er 1) in unsere Natur die Anlage zur gottebenbildlichen Intelligenz und Freiheft gelegt hat (§ 13—17), 2) durch da» Gesetz al» der Heilige und Gerechte un» da- Bewußtsein unserer geistigen Bestim­ mung erschließt und un» zum Ringen »ach derselben spornt, 3) in­ dem er zugleich giebt, wa» da» Gesetz fordert, sofern wir ihn al» die sich selbst mittheilende Liebe im Herzen erfahren.

Zweiter Theil. DaS geschichtliche Medium für die Verwirklichung deS christlichen Princips oder die Kirche.

I. Der Begriff der Atrche. 8 34. Die christliche Kirche ist derjenige Organismus, durch welchen die Gesammtheit der Christen da» christliche Princip als da» Evangelium von Jesus Christus zunächst jedem ihrer Glieder, weiterhin allen Menschen, einzu­ pflanzen sucht, daher da» geschichtliche Mittel für die Verwirklichung de» christlichen Princips in der Welt. 1. Unter Kirche versteht man die zum Zweck der Pflege und Förderung des religiösen Leben» organisirte Gesellschaft von Men­ schen, welche auf dem gleichen religiösen LebenSgrunde stehen. Kirch. liche Thätigkeiten nennt man im Unterschied von dem politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, sittlichen Thun alle diejenigen, welche ausdrücklich die Bestimmung haben, die Religion zu pflegen, in dem Einzelnen, wie in der Gesammtheit die GotteSidee lebendig zu wachen oder zu erhalten, das individuelle Selbstbewußtsein mit der Gegen­ wart Gottes zu erfüllen. 2. Hierin liegt schon ausgesprochen, daß die Kirche bloß Mittel für die Religion, in keiner Weise aber religiöser Selbstzweck ist Man legt der Kirche Ehren bei, von welchen sie erdrückt wird, wenn man sie die sichtbare Darstellung de- Gotte-reicheS oder de»

182

Zweiter Theil.

religiösen Lebens nennt.

I.

Diese irrige Ansicht entspringt aus dersel­

ben, übrigen« so natürlichen Quelle, wie die ebenso falsche Unter­ scheidung zwischen Heiligem und Profanem.

Indem

die religiöse

Gemeinschaft, getrieben von dem Bedürfniß, ihr religiöses Leben in geordneter Weise zu pflegen,

gewisse Thätigkeiten,

Personen und

Gegenstände der Gottheit weiht, erhalten sie den Schein besonderer Heiligkeit; aus

sie treten aus dem Kreise der übrigen Thätigkeiten her­

und daS religiöse Gebiet grenzt sich gegen das nichtreligiöse

äußerlich ab.

Die Kirche als der Inbegriff dieses ausdrücklich auf

Gott gerichteten Thun» erscheint als die Darstellung des religiösen Lebens, die kirchlichen Thätigkeiten werden religiöse Acte und der Eifer

für dieselben

erscheint als

der Maßstab der vorhandenen

Frömmigkeit.

Der Protestantismus, ganz im Einklang mit dem Christenthum Jesu und deS Paulus, hat dieses Vorurtheil zerstört.

In ungezähl­

ten Worten führt Luther den Gedanken aus, daß der Ort für die Darstellung der Religion nicht die Kirche,

sondern die Welt sei.

„Geistlich kann Nichts heißen, als das inwendige Leben deS Glau­ ben» im Herzen, da der Geist regiert.

Will daher ein Stand geist­

lich heißen, so muß etwa» Anderes und mehr dazu gehören, al» solch äußerlich Werk und Wesen, nämlich der Glaub' im Herzen, welcher ist Geist und macht Alles geistlich, was am Menschen ist, beide aus­ wendig und inwendig."

„Ein Knecht, wenn er Gott fürchtet, führt

ein gottselig Leben, hält sich mäßig und züchtig, dient seinem Näch­ sten, giebt den Pferden Futter, der thut bessere Werke, denn kein Karthäuser."

„Eine Magd thut gute Werke, wenn sie im Glauben

ihren Beruf ausrichtet und thut, was die Frau heißt, wenn sie das HauS kehret, in der Küche spület und kochet, daö sind viel bester« und köstlichere Werke vor Gott,

denn eines KarthäuserS, der ein

hären Hemd anhat, seine Frühstunden hält, deS Nacht» aufstehet und fünf Stunden singt,

kein Fleisch isset.

Deßgleichen wenn ein

Bürger, Bauer seinem Nächsten behilflich ist, ihm dienet, womit er kann, ihn warnet, wenn er sieht, daß er Schaden leiden möchte, oder wenn weltliche Obrigkeit die Bösen strafet und die Frommen schützet, wenn die Unterthanen ihrer Obrigkeit gehorsam sind, das sind eitel

Der Begriff der Kirche.

183

gute, köstliche Werke vor Gott, ob sie schon nicht gleißen." „Tine Ehefrau ist eine lebendige Heilige, wenn sie an Christus glaubet, seiner Erscheinung wartet und darnach hingehet und auS demselbigen thut, waS einer Ehefrau zuständig ist." Demnach ist der Gottesdienst, der den Werth und Zweck in sich selber hat, allein die Erfüllung der Leben-pflichten au- einem from­ men Herzen, und die Kirche mit allen ihren ausdrücklich auf Gott gerichteten Handlungen kann nur den Zweck haben, jenem allein wahren und vernünftigen Gottesdienste zu dienen, und sie hat einen Werth nur soweit sie dieses thut. Darnach ist auch die Stelle zu beurtheilen, welche Schleier­ macher der Kirche angewiesen hat. Er definirt in seiner Glaubens­ lehre die Kirche als die Gesammtheit der Wirkungen de- heiligen Geistes, und zwar diese in ihrem Zusammenhang bilden die unsicht­ bare, in ihrer Verflechtung mit den Einflüssen der Welt und ge­ trübt durch diese die sichtbare Kirche. Aber wie soll die Kirche zu so großer Ehre kommen? Die Gesammtheit der Wirkungen de- h. Geistes ist nie und nimmer die Kirche, das ist ja die Gesammtheit der sittlichen Leben-äußerungen eine- Volke-, da- ist die Familie, der Staat, der Erwerb, die Kunst und Wissenschaft, in rechtem Geiste betrieben, nach dem Gesetz, das jedem dieser Gebiete inne­ wohnt, behandelt. Wäre die Gesammtheit der Wirkungen de- h. Geiste- die Kirche, wa- bliebe dann Heilige- für den Staat, für die Kunst, für die Wissenschaft u. s. w. übrig? Aecht katholisch wären dann diese Gebiete die profane Welt, die gehorchen muß, während die Kirche zu befehlen hat, da- Gebiet de- Weltlichen und Unheiligen, das feine Weihe von dieser holen muß.') Auch die Au-drücke „sichtbare und unsichtbare Kirche" sind vollständig zu ent­ fernen, weil sie nur Verwirrung anrichten können, wie sie au» ver­ worrenen Ansichten über da- Wesen der Kirche entsprungen sind. ') In btt ersten Auflage dieser Schrift ist der Titel diese- zweiten Theile«: „Die Gemeinschaft der Pneumatischen oder die christliche Kirche" (@. 123) einer ähnlichen Unklarheit über da- Wesen der Kirche entsprungen. Die Gemeinschaft der Pneumatischen, d. h. der vom Geiste getriebenen Menschen ist Gott Lob! größer und umfaffender, al» die Kirche.

Zwritcr Theil. I.

184

Sichtbar und Unsichtbar soll den Unterschied zwischen der zeitlichen Erscheinung der Kirche und ihrer ewigen Idee bezeichnen. dieser Unterschied

hängt

Geisteslebens

ohne

an,

auch daß

den

Allein

übrigen Gebieten menschlichen

darum irgend Jemand

sichtbare und unsichtbare trennen möchte.

dieselben in

Wer möchte die Gesammt­

heit der Wirkungen des Rechtes in ihrem Zusammenhang den un­ sichtbaren Staat, dagegen die Gesammtheit dieser Wirkungen in ihrer Verflechtung mit den Einflüssen der Welt (mit der JrrthumSfähigkeit der Richter ic.) den sichtbaren Staat nennen? Die Auffasiung der Kirche als eines bloßen Mittels für die Religion schließt die andere nicht auS, wonach die kirchlichen Thätig­ keiten zugleich unter dem Gesichtspunkt darstellender Handlungen ähnlich, wie die Kunst, betrachtet werden, so wenig die Einsicht, daß Essen und Trinken nur Mittel deS Lebens ist, ausschließt, daß wir die Mahlzeit zu

einem Gegenstand wirklichen Genusses,

Feierstunde deS Geistes und Gemüthes machen,

zu einer

oder so wenig die

Bestimmung deS Wohnhauses für rein praktisch-nützliche Zwecke ver­ hindert, daß dasselbe zugleich ein architectonischeS Kunstwerk sei, daS den ästhetischen Sinn befriedigt.

Der Zweck, den die Kirche ver­

folgt, den vernünftigen Gottesdienst, d. h. die praktische Religiösität des Lebens in allen ihren Gliedern zu wecken und zu stärken, könnte gar nicht erreicht werden, wenn nicht das religiöse Leben, das die Gemeinschaft in sich trägt, lungen,

dargestellt würde in Wort und Hand­

und der Fromme als Glied der kirchlichen Genossenschaft

und al- Theilnehmer an ihren Thätigkeiten will DaS, was in ihm lebt, in schöner, Auge und Ohr ansprechender Darstellung genießen. Der Cultll« soll nicht Pflicht, sondern Genuß sein.

Aber gleichwohl

ist da- eigentliche Kunstwerk der Religion nicht der phantasievolle und reiche Cultus in der Kirche, sondern nur der religiöse Charakter im Leben. 3.

Die christliche Kirche erhält ihren unterscheidenden Cha­

rakter dadurch, daß sie das christliche LebenSprincip oder die religiöse Idee, wie sie im Evangelium Jesu Christi einen Ausdruck gefunden hat, in ihren Gliedern zu pflanzen sucht.

Evangelium bedeutet wört­

lich und ursprünglich die frohe Botschaft deS GotteSreicheS,

deren

Die Mittel der Kirche.

185

Verkündiger an die Menschen Jesus Christus gewesen ist. Den Inhalt desselben haben die §§ 1—6 bezeichnet: eS ist die Religion des Geiste- und der GotteSkindfchaft, wie sie im Wort und im Charakter Jesu von Nazareth offenbar geworden ist. Später, besonders seit dem Beginn der protestantischen Ortho­ doxie, wurde das „Evangelium" seiner ursprünglichen Bedeutung entfremdet und gleichbedeutend mit den anderen Au-drückey „Wort Gottes" und „heilige Schrift" gesetzt, deren sämmtliche Lehrbestim­ mungen dann als die wahre Lehre Christi, als die doctrina evangelii betrachtet wurden. So wurde der Buchstabe der Schrift und ihr vielfach sehr vergänglicher und temporeller Lehrstoff mit dem Heilsinhalt des Evangelium- verwechselt, der in der Schrift nur niedergelegt ist.

II. Die Mittel der Kirche. § 35. DaS Evangelium pflanzt die Kirche wesentlich auf dreifachem Wege ein und fort: 1. Durch das Wort Jesu und seiner Boten, wie e- in den Büchern de- neuen Testamente- niedergelegt ist, in welchem daEvangelium seinen ersten klassischen Ausdruck gefunden hat. 2. Durch die Darstellung der Person und des Lebens Jesu, worin da- christliche Princip persönliche Gestalt gewonnen hat. 3. Durch gewisse symbolische Handlungen, in welchen sich da­ christliche Princip eine besonder- anschauliche Ausprägung gegeben hat. e.

Boa dem Wort der Schrift.

§ 36. Die Worte Jesu und seiner Boten, wie sie in den Schrif­ ten deö Neuen Testament- ausgezeichnet sind, haben für die Kirche die Bedeutung, daß sie, wie ungleichmäßig auch ihr Werth im Einzelnen ist, doch da- religiöse Princip deChristenthum- mit einer Kraft der Unmittelbarkeit und

186

Zweiter Theil.

II.

Ursprünglichkeit wiedergeben, wie dieselbe nur bei neuen religiösen Anfängen und in bahnbrechenden Zeitaltern möglich ist, wodurch sie für jedes spätere Geschlecht ein Quell religiöser Verjüngung und Erneuerung werden. 1. Die Schriften des Neuen Testaments und in denselben wie­ der die einzelnen Worte und Aussprüche sind allerdings von sehr ungleichem Werth und ihre ganze Beschaffenheit legt ihrer Brauch­ barkeit für den Zweck der Kirche, für die religiöse Erbauung deS gegenwärtigen Geschlechtes viele und schwere Hindernisse in den Weg. Schon ihr morgen ländischer Ursprung bereitet dem Ver­ ständniß und der Aneignung Schwierigkeiten. Unsere abendländi­ schen Völker, so schöpferisch sie sich in allen anderen Gebieten er­ wiesen haben, sind in der Religion bisher unproductiv gewesen; sie haben die Religion eine- semitischen, durch die ganze Kluft deS RacenunterfchiedS von uns getrennten Volkes angenommen; und selbst im Zeitpunkt ihrer größten religiösen Selbstthätigkeit, in der Reformation, suchten sie ihren Stolz darin, einfach Knechte deSt. Paul zu sein. Daraus erwächst unseren Völkern die mühevolle und nicht immer erquickliche Arbeit einer steten Uebersetzung des Semitischen in'S Iaphetitische, wobei cs an Künstelei und Unnatur nicht fehlen kann. Dies wird aber so lange der einzig mögliche Weg sein; als es unseren Völkern nicht gelingt, ihr eigenthümliche» religiöses Leben in einer großen religiösen Geschichte und in solchen Schriftwerken herauszugestalten, welche unter dem Impuls einer großen Zeit wie von selbst geworden sind und den Hauch eines be­ wegten Gemeingeistes spüren lassen — denn anders entsteht keine religiöse Volk-literatur. Ob die» je gelingen wird? Wer will'» entscheiden? Außer dieser Eigenschaft, welche uns die Aneignung der Bibel überhaupt erschwert, sind auch ihre einzelnen Theile unter sich von sehr ungleichem Werthe und viele stören die Erbauung mehr, al» sie sie fördern. Daß die Aussprüche Jesu, wie sie unS von den Syn­ optikern aufbewahrt sind, Worte des ewigen Lebens sind von einer Schönheit und Wahrheit und VolkSthümlichkeit, die über jede» Lob erhaben ist, so unerschöpflich, wie die fünf Brode, von denen sich

Die heilige Schrift.

187

Fünftausend nährten, allein genügend, um dem Neuen Testamente eine unvergängliche Stelle im Geistesleben der Menschheit zu ver­ schaffen, daS wird wohl Niemand läugnen, der sie kennt. Aber gleichwohl ist auch zwischen ihnen in Beziehung auf ihren Werth ein großer Unterschied. Wer wollte die Bergpredigt einer Rede gleich­ setzen, wie sie Matthäus Cap. 24 mittheilt (über die Zerstörung Jerusalems und den daran sich knüpfenden Weltuntergang), die frei« sich so, wie sie ist, nicht von JesuS herrühren kann? Wer kaun sich alle jene Aussprüche Jesu aneignen, welche seine schnelle sinnliche Wiederkunft vom Himmel her aussagen oder voraussetzen? Wer will Gleichnisse, wie daS vom ungerechten Richter (Luc. 18, 1—8) oder vom bittenden Freund (Luc. 11, 5—8), in welchen die Wahrheit, daß jede GeisteSgabe nur auf dem Wege anhaltender GeisteSanstrengung errungen werden könne, durch so unglücklich gewählte, schiefe Bilder anschaulich gemacht werden will, oder daS Gleichniß vom ungerechten Haushalter (Luc. 16, 1—13), das Kreuz aller Ausleger und nur durch die ärgsten Künsteleien für die Erbauung verwendbar, auf Eine Linie stellen mit dem Gleichniß vom verlorenen Sohne (Luc. 15, 11—32)? Wie häufig ist auch bei den Worten Jesu un­ sere abendländische Weltauffaffung genöthigt, die Uebersetzung au« dem Semitischen in die Sprache Japhet'S zu übernehmen? Wie oft finden sich ethische Grundsätze in einer Einseitigkeit und Uebertrei­ bung ausgesprochen, die unserem Geschmack widerstrebt! „Verkaufe Alle-, waS Du hast, und gieb'S den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben." „Leichter wird ein Kameel durch ein Nadelöhr eingehen, als ein Reicher in's Himmelreich." Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen, sondern wenn Dir Jemand einen Streich geben wird auf Deinen rechten Backen, so bitte ihm auch den linken dar." Am einflußreichsten für die religiöse Bildung unserer Völker ist neben Jesus unstreitig Paulus gewesen. Welch' edle religiöse Mhssik! welche Kraft religiöser Unabhängigkeit und Selbständigkeit! welch' hohe und tiefsinnige Behandlung ethischer Probleme! wie viel klafsische Worte für deren Lösung! Und doch sind seine Schriften im Ganzen dem Volke unverständlich! Wer, der nicht an scharfes

188

Zweiter Theil. II.

Denken gewöhnt und mit gelehrten Kenntnissen ausgerüstet ist, kann den Römerbrief lesen? Wie viele rabbinische Grübeleien und sonder­ bare jüdische Meinungen l) mischen sich in die herrlichsten Abschnitte von unvergänglichem Werthe fast auf jedem Schritt! Wie unvoll­ kommen sind seine Ansichten über das ehliche Leben! Ansichten, die, festgehalten und ernst genommen, nothwendig zum Kloster führen müßten. Wie sehr steht der überall hervortretende und die ganze Denkweise beherrschende Glaube an das schnelle Weitende und die Wiederkunft Christi einer ethischen Durcharbeitung der verschiedenen Gebiete des zeitlichen Lebens fast auf jedem Schritt entgegen! Das vierte Evangelium, obwohl (oder weil) ein Werk aus der Mitte bc« zweiten Jahrhunderts und eine freie, von der Geschichte fast unabhängige Studie über das Leben Jesu, wird immer als dasjenige Werk bezeichnet werden müssen, welches die höchste Stufe christlicher Entwicklung innerhalb de» neutestamentlichen Rahmens einnimmt. Schade, daß der reine Genuß dieser erhabenen Gedanken und tiefen Gefühle auf allen Punkten gestört wird durch die Unmög­ lichkeit der Situation! Ein Gott, der auf der Erde wandelt und redet, was er im Himmel gehört hat (natürlich von keinem Erden söhn verstanden), der Weltschöpfer, der mit Menschen zu Tische sitzt und Brod und Fisch ißt — das erzeugt lauter unmögliche Situationen. Herrliches, aber in einer undenkbaren Situation — das ist der Cha­ rakter dieses Buches. Daß die Offenbarung Johannis den christlichen Geist noch am unreinsten athmet, daß das Buch durch den Hintergrund seiner Welt­ anschauung, durch seine morgenländische Symbolik, durch seine wenig geschmackvolle und unästhetische Bilderwelt unS bei allen herrlichen religiösen Motiven, die eS enthält, dennoch fremd ist und bleibt, hat die Kirche eigentlich immer anerkannt und Luther ungefcheut in den schärfsten Ausdrücken ausgesprochen. ES ist hier nicht der Ort, den Werth jeder einzelnen Schrift des Neuen Testaments für die Zwecke einer religiösen Genosienschast •) Vgl. }• B. 1. Lor. 11, 1—16. 30-32. 6, 3. 15. 29. 10, 20. G l. 3,19. 4, 21—31 u. s. w.

Die heilige Schrift.

189

zu bestimmen; das Gesagte genügt für den Nachweis, daß diese Schriften und Schrifttheile einen sehr ungleichen Werth besitzen, es genügt vielleicht auch, um die Erscheinung zu erklären, daß die Bibel mehr und mehr aufhört, Volksbuch zu sein. Wer will diese Thatsache bestreiten? Die Zahlen der Bibelgesellschaften mögen zei­ gen, daß sehr viele Bibeln gedruckt und gekauft werden, sie beweisen nicht, daß die Bibel vom Volk noch fleißig gelesen wird. An Krankenuiid Sterbebetten ist sie durchschnittlich von den Gebetbüchern ver­ drängt, und die Gesunden, sofern sie sich privatim erbauen, greifen lieber zu neueren Erbauungsbüchern, als zur Bibel selbst. Der Grund — man mag über die Thatsache urtheilen, wie man will — liegt auf der Hand: da» Schöne und allgemein Ansprechende der Bibel steht in einer vergangenen, uns fremden Welt. Das, was jeden, auch den einfachen und ungelehrten Mann erbaut, muß erst herausgesucht werden aus Demjenigen, was seinem Verständniß und Interefle ferner liegt. 2. Gleichwohl hat das Neue Testament für die Religion eine ähnliche Bedeutung, wie die Antike für die Kunst oder Shakespeare für die Poesie. Seine Größe und Macht liegt in der religiösen Heldenzeit, deren Spiegel und Ausdruck es ist. Es ist der Reflex einer Persönlichkeit, der an religiöser Größe und weltumwandelnder Kraft keine andere gleichkommt, und der Geist eines Geschlechtes, das von dieser Persönlichkeit wie im Sturmwind fortgerissen worden ist, hat sich in diesem Buche seine Sprache gegeben. Man kann seine Vorstellungen kritisiren, seine Erzählungen, soweit sie als Ge­ schichte gelten wollen, belächeln, seine theologischen Anschauungen durch richtigere ersehen, aber vor seinem Geiste kann man sich nur beugen, wie man die Rüstung eines Helden bekritteln und die Waf­ fen, mit denen er seine großen Thaten verrichtete, verbeflern kann, aber die Hauptsache bleibt, daß er ein Held war, zu dem man auf­ schauen muß. Die Religion der GotteSkindschaft, der Freiheit und Liebe ist hier in Wort und Lebensbild mit einer Gewalt und Fülle, mit einer Frische und Ursprünglichkeit niedergelegt, wie eS nur jener bahnbrechenden, neue religiöse Anfänge setzenden Zeit möglich war. Ein Geschlecht, das dieses Buch in Händen behält, kann nie dem

190

Zweiter Theil.

II.

Materialismus verfallen. Sein Werth, der nie angefochten werden tonn, liegt in der Kraft religiöser Erneuerung und sittlicher Ver­ jüngung, die es auf jedes Herz und auf jede Zeit ausübt. Dogma­ tisch verstanden, hat eS Fluch gestiftet und wird Fluch stiften; reli­ giös und gemüthlich aufgefaßt, wird eS von unendlichem Segen fein. 3. Wenn hier nur vom Neuen Testamente die Rede ist, so soll nicht gesagt sein, daß daS Alte Testament für den Zweck der christ­ lichen Kirche unbrauchbar fei. „Alles ist euer, ihr aber seid Christi." DaS Alte und Neue Testament stellt die wahre Religion, die Reli­ gion de- Monotheismus, die Religion der Menschheit von ihren An­ fängen an bis zu ihrer Reinheit und Höhe im Geiste Jesu dar. Abgesehen von dem unerschöpflichen Reichthum an wahrhaft erbau­ lichem Inhalt in Lehre und Geschichte bildet daS Alte Testament die unmittelbare Voraussetzung des Christenthums, daS erst in seiner positiven und negativen Stellung zum alten Bunde vollständig be­ griffen wird. Der gemeinsame Charakter, welchen die Schriften deAlten und Neuen Testemant- an sich tragen, die Beziehung alles Menschlichen auf Gott und die Heiligung desselben durch Gott, also die Idee de- Reiches Gottes, dargestellt in Geschichte und Lehre, macht die Bibel zu dem religiösen Weltbuch, dessen Schätze die Kirche erst dann heben wird, wenn sie, frei von dogmatischer Beschränktheit und todter Buchstabenverehrung, zu derselben diejenige Stellung ein­ nimmt, welche da» fortgeschrittene Verständniß des alt- und neu« testamentlichen Kanons erfordert. § 37. Die regelmäßige und geordnete Verkündung des Wortes in der Gemeinde fordert ein berufsmäßiges Lehra-mt, dieses muß aber so beschaffen sein, daß es mit der wesent­ lichen Gleichheit aller Christen, dem allgemeinen Priester­ thum, nicht im Widerspruch steht. 1. Die erste der beiden Bestimmungen, welche der § aufstellt, ist von selbst einleuchtend. Der Widerspruch gegen das Predigtamt als gegen eine dem Grundsatz des allgemeinen Priesterthums wider-

Da» Wort (Settel.

191

strebende Einrichtung, wie er z. B. von den Wiedertäufern der Re­ formation-zeit erhoben worden ist und von einigen Seelen jetzt noch festgehalten wird, beruht auf einer die Bedingungen der Wirklichkeit übersehenden Schwärmerei. Da- Predigtamt al- ein an bestimmte Personen gebundene-, berufsmäßige- aufheben, hieße einerseits dem nächsten Besten die Kraft zutrauen, in zusammenhängender Mitthei­ lung über die Fragen der Religion zu den Mitmenschen etwa- Rech­ te- zu sprechen, wozu doch bei der Schwierigkeit und Zartheit dieser Fragen auch dann eine umfassende Geistesbildung erfordert würde, wenn die religiöse Rede nicht anknüpfen müßte an ein Buch au« der Vergangenheit, da- ohne gelehrte Studien niemals richtig verstanden werden kann, freilich auch mit diesen, wo der gesunde Sinn fehlt, zur Quelle der Unvernunft wird, da- hieße andererseits: die Er­ bauung der Gemeinde dem Zufall überlassen. In Zeiten großer religiöser Lebendigkeit und individueller Selbstthätigkeit würde ent­ stehen, wa- 1. Cor. 14, bei schwächerer religiöser Erregtheit der Geister aber würde die Klage sich erheben: e- ist keine Offenbarung und kein Wort Gottes mehr im Lande. 2. DaS Predigtamt muß aber so beschaffen sein, daß der Grund­ satz de« allgemeinen PriesterthumS der Christen nicht darunter leidet, da« heißt: e- darf nicht hierarchisch sein. Diese Gefahr wird aber vermieden durch die Einsicht in den Unterschied zwischen Religion und Kirche, der in § 34 auseinandergesetzt worden ist. Ist Religion die heilige Behandlung aller Gebiete de- Leben-, die Erfüllung aller Leben-pflichten aus einem frommen Herzen, die Kirche aber nur Mittel für die Religion, so sind wahrhaft priesterliche Handlungen in erster Linie nicht die Thätigkeiten de- Prediger- in der Kirche, sondern nur daö werkthätige Handeln und Wandeln eine- Jeden vor Gottes Augen, und Priester sind nicht die Diener der Kirche in ihren Amtshandlungen an und für sich — obwohl auch diese ^wahrhaft priesterlicher Art sein können und sollen — sondern Prie­ ster sind Alle, „welche den Willen deS himmlischen Vaters erfüllen". Auf diesem dem Prediger mit den übrigen Christen gemeinsamen Grunde religiöser Gleichheit ist jener nur ein Diener aller Uebrigen jfür die Erreichung der gemeinsamen religiösen Zwecke, wie die bürger-

Zweiter Theil.

192

II.

liche Gesellschaft zur Erreichung ihrer bürgerlichen Zwecke in ihren Beamten Diener des öffentlichen Wesens bestellt, durch welche Ein­ richtung die wesentliche Gleichheit Aller nicht aufgehoben wird.

Der

Grundsatz des allgemeinen Priesterthums gestattet keinen Stand der Kleriker und der Kaien, der Geistlichen und der Weltlichen, sondern nur verschiedene Gaben, Aemter und Berufsarten, die sämmtlich der Erbauung der Gemeinde dienen sollen.

Mit Recht hat der Prote­

stantismus den Ausdruck „Priester" für die Diener des Wortes ent­ fernt,

aber unglücklicherweise die Bezeichnung „Geistliche",

welche

ebenso falsch und katholisirend ist, bisher beibehalten.

b. Di«

Person

und das Leb«« Jesu. § 38.

Die Bedeutung Jesu für die Kirche beruht darauf, in ihm das christliche Princip persönliche,

daß

daher stets

religiöse Persönlichkeiten nach sich bildende Gestalt ge­ wonnen hat.

Denn „die Kraft der Religion liegt im Spe­

cifischen, wie die Kraft der Dichtung im Individuellen." ') 1. Lessing'S Satz: „zufällige Geschichtswahrheiten" — und zu­ fällig in dem relativen Sinn, in welchem überhaupt bei der noth­ wendigen Verkettung aller Dinge von Zufälligem die Rede fein kann, find alle bloße GefchichtSwahrheiten — „können nie den Beweis ab­ geben für nothwendige Bernunftwahrheiten" bleibt unbedingt wahr, wie sehr er auch von Theologen im Interesse ihrer sogenannten positiven Religion auS Mißverstand gequält worden ist.

Der pytha-

goräische Lehrsatz bleibt wahr, ob Pythagoras gelebt habe oder nicht, ob er ihn erfunden habe oder ein Anderer;

die Entdeckung dieser

mathematischen Wahrheit durch das geschichtliche Individuum, Py­ thagoras geheißen,

ist für diese Wahrheit vollständig zufällig;

auch

wer den Namen des Entdeckers nicht kennt, kann sie begreifen und sich aneignen; sie hat ihre Kraft in sich selbst,

in ihrer inneren

•) Ich verdanke diese Worte Fr. Albert Lange in seiner Schrift über den Materialismus.

Die Person Jesu.

193

Bernunftnothwendigkeit, während die mit ihr verknüpfte Geschicht»thatsache, wie jede, dem Zweifel, der Kritik unterworfen ist und darum als eine im höchsten Falle nur sehr wahrscheinliche keinen Beweis abgeben kann für die ihre Gewißheit in sich selbst tragende Bernnnftwahrheit. Nicht anders, als mit den mathematischen und allen anderen, verhält eS sich auch mit den religiösen Wahrheiten. Da» Christenthum oder da- Evangelium — definire man e-, wie MLn wolle, als „die reine Erlösung», und Gnadenreligion mit betn Grundsatz: vertraue auf die erlösende Gnade, so wirst Du, obwohl dem Gesetz nicht genügend, gerechtfertigt" (Alex. Schweizer), oder al» die Religion des Geiste» und der Gotte-kindschaft mit all' den ethi­ schen und religiösrn Wahrheiten, die daran» fließen (§ 2 und 3) — ist in sich selbst wahr und hat seinen Beweis ganz unabhängig von der Geschichtswahrheit, wer e» gewesen sei, der diese Religion zuerst an'S Licht gebracht, was für Schicksale er gehabt habe, ob er al» ein einfacher Mensch oder als ein vom Himmel herabgestiegener Aeo« aufgetreten sei; obwohl, wie alle Wahrheiten und Ideen, durch geschichtliche Medien sich offenbarend, sucht e», al» begründet in dem ewigen Wesen de» endlichen und des unendlichen Geistes und inso­ fern Vernunftwahrheit, seinen Beweis nicht in den zufälligen Ge­ schichtswahrheiten, mittelst deren e» in die Welt eingetreten ist; e» bleibt, was es ist, die Geschichtsforschung mag mit diesen Geschicht»thatsachen zurecht kommen, wie sie will und kann. Man kann da­ her nicht sagen, da» Christenthum sei gebunden an die Person Jesu, weil das hieße: eine Bernnnftwahrheit ist gebunden an eine zufällige Geschichtswahrheit.') Unrichtig ist daher auch die Definition, welche Schleiermacher (Christl. Gl. § 18) vom Christenthum giebt, indem er e» al» die Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth bezeichnet. Denn erlösend ist auch nach Schleiermacher die Person Jesu nur, sofern sie ihre Heiligkeit und Seligkeit dem Gläubigen mittheilt, wa» durch eine freie Reproduction seines in der Kirche fortlebenden Bilde» von unserer Seite geschehen soll, daS heißt aber: erlösend ist der religiöse ') 5. Zeitstimmcm 5. Band 3. 417—421. Lung. Dt'FMLltk. r. Aufl.

Zweiter Theil.

191

II.

Gehalt, der in dieser geschichtlichen Persönlichkeit zn Tage getreten ist und auch von unS angeeignet wird, also ein Absolutes, da- über diese geschichtliche Person insofern übergreift, als auch sie, wie alle anderen Menschen, au- ihm ihr eigene- Heil zu schöpfen hatte. Wie wichtig diese Unterscheidung ist, sieht man sogleich ein, wenn man fragt: sind also Alle, die von der geschichtlichen Person Jesu keine Notiz hatten oder, wenn sic eine solche hatten, an- diesem oder jenem Grunde ihr Heil nicht von ihm herleiten wollten, von der Erlösung Au-gestoßene, de-

Heil- Nichttheilhaftige, Verworfene?

Wenn mit der Schleiermacher'schen Definition Ernst gemacht wird, so muß von ihr au- diese Frage ebenso bejaht werde», wie sie von der tlrchllche» Orthodoxie bejaht worden ist, welche keinen Anstand nahm, einen SokrateS und Plato wie eine» Schiller und Göthe von der Theilnahme am Heil auszuschließen. Ebenso wenig kann man sagen: da- Heil, die Seligkeit hänge ab von dem Glauben an Jesu-, weil ein Ewige- nicht von einem Zeitlichen, ein Nothwendige- nicht von einem Zufälligen abhängen kann. Wer will etwa- Triftige- einwenden gegen die Worte in der Schlußbetrachtung de- „Leben- Jesu" von Strauß:

„Nein, die

Seligkeit de- Menschen oder verständiger gesprochen, die Möglichkeit, daß er seine Bestimmung erfülle, die ihm eingepflanzten Kräfte ent­ wickle und damit auch de- entsprechenden Maßes von Wohlsein theil­ haftig werde, sie kann — darin behält der alte RaimaruS ewig Recht — unmöglich an der Anerkennung von Thatsachen hängen, über welche unter Tausenden kaum Einer eine gründliche Untersuchung anzustellen und schließlich auch dieser zu keinem sicheren Ergebniß zu kommen im Stande ist.

Sondern,

so gewiß die menschliche Bestimmung eine

allgemeine und jedem erreichbare ist, müssen auch die Bedingungen, sie zu erreichen, d. h. außer und vor dem Willen, der sich nach dem Ziel in Bewegung setzt, die Erkenntniß diese- Ziele- selbst jedem Menschen gegeben sein;

diese darf nicht eine zufällige, von außen

kommende Geschicht-kenutniß, sondern muß eine nothwendige Bernunsterkenntniß sein, die Jeder in sich selber finden kann."')

•j S. 624.

Die Religion zu befreien von der Historie, ihr ewige» Wesen loszulösen von dem nur einmal Geschehenen, Da», wa» jetzt und immer im Wesen de« menschlichen Geiste« liegt und den einzige« Grund de« Heil« und der Seligkeit ausmacht, unabhängig zu machen von allen nur geschichtlichen Fragen, die immer so oder ander» ent­ schieden werden können, die nie absolute, sondern nur geschichtliche Wahrheit, d. h. im besten Fall die höchste Wahrscheinlichkeit an­ sprechen dürfen — da« ist eine Aufgabe, deren gründliche und folge­ richtige Lösung ebenso im Interesse der Religion, al» der Wissenschaft liegt. Die Wissenschaft wird historische Fragen und Thatsachen, die auf Ueberlieferung beruhen, so lange nicht unbefangen erforschen können, al« an dem Ausfall der Forschung Leben oder Tod, Reli­ giosität oder Irreligiosität, mit einem Worte: die höchsten Interessen de« sittlichen und gemüthlichen Leben« hängen, daher die traurige Erscheinung, daß dem klarsten Augenschein nirgend» so frech und so lange Hohn gesprochen wird, wie in der Theologie, und daß Dinge, die, lägen sie auf einem anderen Boden und hingen sie nicht zufällig mit der Religion zusammen, kaum genannt und angedeutet, sofort allgemein zugestanden würden, hier selbst von einsichtigen Menschen hartnäckig übersehen oder weggesprochen werden. Die Resigion aber, verwoben und verwechselt mit Geschichtswahrheiten, die ihre Gewiß­ heit nie in sich selbst tragen, verliert entweder ihre Sicherheit oder artet zu einem blinden Pochen au«, und wird, hineingezogen in den Lärm de« Streite«, ein Tummelplatz gehässiger Leidenschaften, wäh­ rend sie den Streitenden eine Oase de« Frieden» und ein unange­ tastete« Heiligthum sein sollte. 2. Die Bedeutung de« Geschichtlichen in der Religion liegt nicht bei der Frage: woher nehmen religiöse Wahrheiten ihre« Beweis für den Beistand? sondern bei der Frage: woher nehmen sie ihre Kraft für da« Herz und den Willen? auf welchem Wege geht eine Idee, die in die Geschichte eingetreten ist, ein in Fleisch und Blut der nachfolgenden Geschlechter? wie entstehen mit Einem Worte religiöse Persönlichkeiten? Hier findet der Grundsatz seine Geltung: die Kraft der Religion liegt im Specifischen, wie die Kraft der Dichtung im Individuellen. Nicht der Logo«, der im Anfang 13*

196

Zweiter Theil.

II.

bei Gott war (die abstrakte Vernunftwahrheit), sondern der Logo-, der Fleisch wird, erzeugt Leben und Wärme. Die Wahrheit ist zu streng und zu hoch fitr da» schwache Menschenher,, aber ergriffen, empfunden, erlebt, in einem athmenden religiösen Charakterbilde vor da» Auge gestellt, sendet sie ihren warmen Obern in die Brust Atter, an welche der Ruf «rgeht: komm und siehe! Dem religiösen Cha­ rakter ist da» Vorrecht der Gottheit übertragen worden: er schasst stet» Menschen nach seinem Bilde. Wie da» Kind nicht erzogen und sittlich gebildet wird durch abstrakte Morallehren, durch Vorträge über da» Gebiet seiner Pflich­ ten. durch ein beständig eingeprägte»: Du sollst, sondern durch den sittlichen Familiengeist, den e» unbewußt einathmet, durch da» täg­ liche Anschauen solcher Persönlichkeiten, in welchen da» a» sich Ver­ nünftige zur konkreten LebenSsitte geworden ist, so wird auch der religiöse Mensch nicht gebildet werden durch abstrakte Vernunftwahrheiten noch durch ebenso abstrakte Glaubenssätze, sondern durch da» Anschauen lebendiger Persönlichkeiten, in welchen da» Ver­ hältniß de» Menschen zu Gott Fleisch und Blut geworden ist, durch die Offenbarung Gotte» in der Geschichte, an deren Reichthum und Fülle da» Gemüth sich erweitert, erwärmt und erhebt. Die» ist da» Wahre an der Behauptung, daß die Religion nie in der Forin der sogenannten Vernunfrreligion, sondern stet» in der Form der konkreten, sogenannten positiven Religion wirklich und wirk­ sam sei. Für diese Bedeutung de» Geschichtlichen in der Religion kommt e» nicht auf die bnchstäbliche Wahrheit aller einzelnen Züge der Ueberlieferung an. Wa» schadet'», wenn da» Leben einer solchen Persönlichkeit, von der die Anderen den Impuls ihre» religiösen Leben» ableiten, mit Anekdoten und Mythen ausgeschmückt ist? Wenn nur die Anekdoten treffend sind! Wenn nur die Mythen den Grundcharakter dieser Persönlichkeit zur Darstellung bringen! Die Erzählungen über die Geburt Jesu im ersten und dritten Evan­ gelium z. B. find Mythen, für Ableitung von Vernunftwahrheiten, für die Bildung unsere» Gotte»- und Weltbegriffs sind sie vollständig unbrauchbar, aber hervorgegangen au» dem religiösen Trieb einer

von Jesus befruchteten und fortgerissenen Generation find fie ge­ eignet, das Gemüth zu bilden und religiöse- beben ;« wecken.

Für

die Erbauung, für die Erweckung religiöser Gemüth-znstSnde ist die Poesie, d. h. die nur ideale Wahrheit, oft so viel werth, als die streng geschichtliche Wahrheit. Schleiermacher hat da- Verdienst, in seinen „Reden über die Re­ ligion" die Bedeutung der Persönlichkeit für die Religion hervor­ gehoben zu haben, durch die Au-führungen seiner „christlichen Glau­ benslehre" wieder geschmälert. Denn da- sündlose Wesen, da- den Gläubigen seine religiöse Vollkommenheit und Seligkeit mittheilen soll, ist nicht ein Individuum au- Fleisch und Blut, nicht der Iesuvon Nazareth

mit all'

den

specifischen

und individuellen Zügen eine­

geschichtlichen Charakterbildes, sondern nur da- personificirte Wesen der Religion überhaupt, die Idee der menschlichen Sündlosigkeit oder der unbedingten Herrschaft de- Gotte-bewußtsein-,') wie der folgende § zeigen wird. 3.

Dem Bisherigen zufolge ist Jesu-

nicht da- christliche

Princip selbst, nicht die christliche Religion, sondern nur ein Mittel, ein geschichtliches Vehikel für die Verwirklichung der christlichen Re­ ligion in der Menschheit. Daher mußte zuerst da» christliche Princip, d. h. die Religion, die zwar in der Person Jesu geschichtlich zum ersten Male zum Vorschein gekommen ist,

aber, unabhängig von

jeder Geschichtsthatsache, ans dem religiösen Wesen der Menschennatur überhaupt beruht, dargestellt werden, was in unserem ersten Theile geschehen ist, die Christologie aber gehört in da- Capitel der Kirche als des Inbegriffs der geschichtlichen Medien zur Einpflanzung deS christlichen Princips in die Menschheit. § 39. Da- Leben und die Person Jesu kann nur auf historischem Wege erforscht, nicht durch theologische Speculation er» sannt oder au- einer Idee abgeleitet werden. Jesu- istkein Gegenstand der Speculation, sondern nur derNacheifernng.

*) Siehe meine „religiösen Lharaktere" S. 384.

Die ganze bisherige Kirche und Dogmatik hat ihren Christus conftruirt und dadurch denselben Fehler begangen, den man mit Recht an der Philosophie Hegel'S gerügt hat, daß sie die Geschichte, die Wirklichkeit, das Individuum aus der logischen Idee heranconstruire und dadurch das individuelle Leben in seiner Wahrheit zerstöre. Man hat mit Hilfe philosophischer Speculation aus der Idee des Christenthum- heraus einen Christus deducirt, aber dadurch jedesmal das lebendige Individuum zerstört und das Menschliche in DoketiSmuS verwandelt. Schon die neutestamentlichen Schriftsteller zeigen die ersten Anfänge dieser theologischen Speculation über Jesu-; daraus entstanden die verschiedenen Theorien über seine Person schon in ben Grenzen be» Neuen Testaments, deren wesentliche Verschieden­ heit und Unvereinbarkeit nur die theologische Befangenheit läugnen kann. Schon die ersten Anhänger Jesu, obwohl ausgehend von sei­ ner irdischen Menschlichkeit, haben seine Person dadurch der geschicht­ lichen Wirklichkeit entrückt und zu einem bloßen Phantasiebilde ge­ macht, daß sie ihn in einen sinnlich gedachten Himmel versetzten und von da als den König und Richter der Welt in sichtbarer Gestalt erwarteten. Paulus ist weiter gegangen; er hat dem glorreichen Ende den Ansang Jesu gleichzumachen gesucht und schaute so in Jesu- den Urmenschen vom Himmel, der, als die Zeit erfüllt war, auf die Erde niederstieg und, obwohl reich, arm wurde um unsertwillen. Der vierte Evangelist endlich strich auch noch diesen Rest de- Menschlichen, den Paulus noch hatte stehen lassen, unb machte da- Subject, das in dem Jesus von Nazareth thätig war, zum ewigen Logos, der im Anfang bei Gott und Gott selbst war, und im Lauf der Zeit Fleisch ward und unter unS wohnte. Die Kirchenlehre endlich hat mit Hilfe derselben hellenisch-alexandrinischen Philosophie, deren sich schon Paulus und der vierte Evangelist be­ dient hatten, die im Neuen Testament gegebenen Bestimmungen zu dem künstlichen System ihrer Trinität ausgebildet und in ihre» Lehren von dem Verhältniß der beiden Naturen in Christus, von der communio naturarom, der communicatio idiomatum, von den Ständen Christi u. s. w. eine so widerspruchsvolle und in sich selbst unmögliche Christologie entwickelt, daß die theologische Wissenschaft

Tic Prisen Jesu.

199

in ihrem weiteren Fortschritt sich längst derselben entschlagen hat. Schleiermacher, nachdem er diese kirchliche Christologie ohne Gnade über Bord geworfen, machte einen neuen Versuch, da» Wesen Christi au» dem christlichen Bewußtsein zu construiren, war aber nicht glück­ licher, als die alte Kirche; er brachte nur ein leblose- Abstractum, kein Wesen mit Fleisch und Blut zu Wege, ein Individuum, dem alle Bedingungen individueller Existenz unter den Füßen weggezogen werden, einen Mensche», dem das non posse peccare zukommt, den wir eben deswegen nicht als ein Wesen unserer Gattung anerkennen können, ja dessen Leben nicht einmal einer sittlichen Werthschätzung unterliegt, ein Individuum, das die Vorstellungen seiner Zeit ge­ theilt hat, ohne sie sich innerlich anzueignen — gewiß ein sehr wenig urbildlicher Zug, — das sich allmählig entwickelt hat, ohne daß die folgende Stufe der Entwicklung die frühere als eine unvollkommene zu bekämpfen gehabt hätte, da- immer soll sittlich gehandelt Haben, obwohl da« Bewußtsein der sittlichen Idee ihm erst nach und nach aufgegangen ist, ein Individuum, das in seinem sonstigen Wissen die allgemeine menschliche Beschränktheit theilend im religiösen Ge­ biet schlechthin untrüglich gewesen ist. Kann man die Widersprüche noch mehr häufen? Kann man noch offenbarer jede»mal mit der einen Hand nehmen, was man mit der anderen gegeben hat? Wohl; Martensen kann es; er sagt:') Christ»» habe die ihm von Natur angehörige Vollkommenheit durch seine fortschreitende FreiheitS» entwicklung bewahrt und vervollkommnet. Eigenthümlich seltsam wird diese- Construiren einer geschichtlichen Persönlichkeit, wenn eS sich sogar bi» auf die GefundheitSverhältniffe und die Leibesbeschaffenheit ausdehnen will, wenn wir erfahren, „daß Christus müsse eine Gesundheit gehabt haben, welche gleich weit entfernt war von einseitiger Stärke und Meisterschaft einzelner, leiblicher Functionen als von krankhafter, allgemeiner Schwächlichkeit;" ja die Dogmatik weiß unS nicht bloß von einer normalen Gesundheit, sondern auch von einer vorbildlichen Schön­ heit Christi zu erzählen, die freilich in ihm nicht al» Etwas hervor’) Dogmatik deutsche Ausgabe § 141.

200

Zweit« Theil.

II.

getreten sein dürfe, da- in sich eine selbständige Bedeutung hatte.') Da wird au- der Idee heraus deducirt, wie das Verhältniß der vier Temperaineute in Christus müsse gewesen sein, warum Christus keinen ehelichen Bund eingegangen, „vielleicht mußte er schon des­ halb im ersten Anfang des männlichen Alter- sterben, damit kein bestimmter und entschiedener Wille, diesen allgemein menschlichen Berns nicht zu theilen, in ihm dürfe vorausgesetzt werden." **) Man rede doch hier nicht von einem lebendigen, historischen Christus; ein Phantasiebild habt ihr, abstrahirt aus der sittlichen Idee, den ab stracten Begriff der Sündlosigkeit — dieses eigentliche Schibolet der neueren Christologie — angewandt auf ein Individuum, von dem ihr selbst gesteht, daß ihr aus den Berichten über dasselbe die abso­ lute Verwirklichung der Idee in ihm nicht beweisen könnt. Von wesentlich Kantischen Voraussetzungen aus hat seiner Zeit Rückert in seiner „Theologie" eine Christologie zu construiren ver­ sucht. Rückert hält die evangelischen Berichte über Christus für so überaus mangelhaft, daß es schwierig, ja unmöglich sei, durch die vorhandenen Urkunden zu einer Anschauung der Person Christi zu gelangen. Mag aber auch — so ungefähr raisonnirt Rückert — die Kritik an den evangelischen Berichten antasten, waS sie will. Der Tod Christi am Kreuze bleibt gewiß als ein freiwilliger Tod, hervorgegangen aus der Absicht, die Sünde in der Welt aufzuheben. Hier zeigt sich also Christus als derjenige, welcher das Selbst der Verwirklichung der sittlichen Idee opferte, dem also da- Gute an und für sich Zweck und Ziel war. In dieser That war also sein Wollen ganz einig mit dem Wollen Gottes. Ob auch in den übri­ gen sämmtlichen Augenblicken seines Lebens? Die Sündlosigkeit Christi kann nicht bewiesen werden. Hier findet da» Wissen seine Grenze und da ist der Punst, wo der Glaube eintreten muß alS das geistige Ergreifen des Idealen in seiner sittlichen Nothwendigkeit. Der Mensch alS sittlich Wollender kann des Gedanken- de- filitb« losen Menschen nicht entbehren, eS ist daö Ideale, da- er festhalten muß, wenn er nicht geistig untergehen soll. So lange nun diese‘) Martensen Dogmatik § 141. *) Schleiermacher chnstl. Gl. § 118fin.

Ideale ein schlechthin Ideale« bleibt, d. h. so lange im Kreise M Menschenleben« er sich von Nicht« 6(6 Sünde umgeben sieht und auch im eigenen Innern allenthalben Böse« findet, kommt er Aber ein Suchen de- Idealen nicht hinan«, dessen Erfolglosigkeit Ursache tiefer Betrübniß werden kann.

Da tritt ihm der Tod Christi und

da- in ihm sich aussprechende sittliche Wollen entgegen; in der Einen That sieht er da« Ideale al« ein wirlliche«.

Er weiß nicht, ob

der Augenblick der einzige gewesen, aber e« ist ihm sittliche« Be­ dürfniß, e« ans allen Punkten gleich zu denken und er denkt e« so. Der sittlich wollende Mensch glaubt an Christus, den sündlofen und heiligen, und läßt sich dadurch nicht irre machen, daß er seine Heilig­ keit nicht

beweisen kann.

Diese Christologie ist noch viel unhaltbarer, al- die Schleiermacher'-.

Dieser sucht die Unsündlichkeit Christi doch wenigsten«

au- den thatsächlichen Wirkungen Christi auf die Entsündigung und Heiligung de« christlichen Subject« abzuleiten;

dieser Rückschluß ist,

wie die« Strauß ganz richtig nachgewiesen hat, für die Begründung der absoluten Unsündlichkeit Christi ungenügend, aber er ruht wenig­ sten« auf einer Thatsache, auf der von Christu« thatsächlich ausgehen­ den Heiligung und Entsündigung de« Gläubigen, aber Rückerl deducirt die sittliche Beschaffenheit einer geschichtlichen Persönlichkeit au« einer allgemeinen sittlichen Idee, von der man gar nicht absieht, wa« sie eigentlich gerade mit dieser geschichtlichen Persönlichkeit zu schaffen haben soll.

Gesetzt einmal, der sittlich wollende Mensch ver­

lange die Verwirklichung der sittlichen Idee in einem Individuum, so ist nicht einzusehen, warum diese« Individuum gerade der histo­ rische Christu- sein soll, wenn die Berichte über ihn so unsicher sind, daß von seinem Leben Nicht« feststehen soll,

al« sein Tod.

Auch

andere Menschen vor und nach Christu» sind im Kampfe für da« Gute bereitwillig in den Tod gegangen, über Einen derselben haben wir sogar da« bestimmteste Zeugniß seine« Schüler-, daß er in sei­ nem Leben nie „Etwa« Sündige« gethan oder gesprochen habe;" warum sollte der sittlich wollende Mensch nicht bei Einem von die­ sen den Schluß von ihrem Tode auf ihr ganze- Leben machen? Ja woher nimmt da- sittlich sttebende Subject die Berechtigung zu dem

jn'cita' Theil.

202

II.

Glauben, daß die Idee dcS Sittlichen bereits in einem Individuum verwirklicht ist?

Wenn die Menschen vor Christus ohne diese Ver­

wirklichung des Ideals leben mußten, warum sollten nicht auch wir noch in diesem Warte;ustand sein, bis der rechte Messias kommt? Ein Glaube,

der sein Ideal verwirklicht annimmt in einem Indi­

viduum, von dem ihm nur Eine That seines Lebens feststeht, ist viel zu schwach, um Berge zu versetzen, er hält sich an einem Strohhalm und sinkt unter.

Also angenommen, unsere Vernunft verlange eine

absolute Verwirklichung der Idee in einem Individuum,

so ist eS

grundlose Willkühr deS Glaubens, diese Verwirklichung in Christus zu sehen. wiesen.

Aber Riickert hat nicht einmal seine Voraussetzung be­ Ja, wenn eS wahr wäre, was Rückert sagt, daß der sitt­

lich Wollende im Kreise des Menschenlebens sich von Nichts als von Sünde umgeben sehe und er selber in seinem Innern — „nur" hätte er hinzufügen müssen — Böse- finde, dann möchte man mit Grund sagen können, die sittliche Idee sei ein bloßes Ideal und verlange ihre Verwirklichung in einem heiligen Individuum, aber Rückert verwechselt hier die begriffliche Schilderung des sündigen Menschenleben«, wo das Selbst die einzige Triebfeder des Handelns bildet, mit dem wirklich sittlichen Zustand der Menschen, der nie dem Begriffe entspricht, wie dies Rückert selbst gegenüber dem kirchlichen Dogma von der allgemeinen Verdorbenheit der Menschen nachgewie­ sen hat; er übersieht die fortwährende Energie der sittlichen Idee, wie sie sich in den sittlichen Lebensformen der Menschheit, im Staat, in der Ehe, in der Liebe und Freundschaft rc. äußert; woher sollte überhaupt ein sittlich wollender Mensch kommen, der mit solcher Ungeduld die Verwirklichung seines Ideals sucht,

wenn nicht die

Idee des Guten als Antrieb in seinen Willen vorher schon aufge­ nommen wäre?

Und was gewinnt denn das sittlich strebende Subject

durch seinen Glauben an die Verwirklichung seines Ideals in einem Individuum?

Es kommt dadurch für sich selbst um keinen Schritt

weiter über das bloße Suchen und Sehnen des Idealen hinaus, als es schon durch die Idee gekommen, war die es in sich trug. DaS heilige Individuum kann ja dem Subject seine Heiligkeit nicht eingießen und Rückert selbst sagt:

Wir lieben in ChristnS nicht die

Die Person Aesu.

203

Person, nicht das Individuum, sondern nur die sittliche Idee. So kann man freilich die Berichte über das Leben Jesu der Kritik überlassen und darin keinen Schaden für die theologische Wissenschaft finde». Natürlich! der theologische Denker hat ja Alle» vorher schon, waS ihm Christ»» leisten soll; er braucht'» nicht mt» dem geschicht­ lichen Leben Christi herzunehmen; der historische Christus wird hier gleichgiltig; den „reinen Begriff" Christi construirt der Theolog. Rückert sagt von Rothe: derselbe habe Alles, was er — Rückert — von Christus, dem geschichtlichen, glauben wolle und könne, zuvor an einem gedachten al» nothwendig nachgewiesen; da» habe freilich einen schönen Schein, aber biete des Willkührlichen zu viel dar. Aber wa» thllt im Grunde Rückert ander«? Cr deducirt au» der sittlichen Idee die Nothwendigkeit eine- sündlosen Individuum» — die» ist der gedachte Christus — und läßt dann den gedachten Christus mit dem historischen willkührlich zusammenfallen, von dem Nicht» feststehen soll, als sein freiwilliger Tod. Welche Gewaltsamkeiten und Willkührlichkeiten gegen den Stoff der Geschichte au» dieser dogmatischen Christologie entspringen müs­ sen, legt Rückert in seiner Schrift über den Rationalismus nach seiner ehrlichen Art am offensten dar. So verwirft er die Taufe Jesu durch Johanne», weil diese wesentlich Bußtaufe war, also dem heiligen Selbstbewußtsein Jesu widersprach, au» gleichem Grunde da» Wort: „Was nennest Du mich gut? Niemand ist gut, al» Gott." Die Erzählung vom 12jährigen Jesu» im Tempel ist darum unhistorisch, weil in derselben da» heilige Wollen Jesu getrübt er­ scheint. „Man frage kühnlich alle Elternherzen, ob sie ein Kind, da» also handelte, für fromm und heilig halten könnten!" So lange man Christus au» einer theologischen oder philoso­ phischen Idee heraus construiren will, wird man einerseits immer einen unrühmlichen Kampf mit der Philosophie zu bestehen haben und daS erste vernünftige Wort auf ihre Angriffe stet» schuldig blei­ ben,') auf der anderen Seite wird man der Religion Da» nicht leisten, was sie von einer Persönlichkeit erwartet. Man hat ein ') Strauß: Die christliche Glaubenslehre Band II. S. 240.

204

Zweiter Theil. II

Abstractmn von Heiligkeit und Sündlosigkeit, aber kein Wesen von Fleisch und Blut, kein Individuum, das die Idee durch die Farben der Zeit und der Qertlichkeit durchschimmern läßt, nicht den histori­ schen Christus, wie er leibte und lebte in der ganzen Fülle der sitt­ lichen Leben-erweisungen, in der er nnS in den Evangelien vor Augen geführt wird.

§ 40. Aus einer unbefangenen Prüfung der Quellen für das Leben Jesu ergiebt sich bei aller Unsicherheit über da- Einzelne doch ein religiöser Charakter, in welchem daS ewig wahre Verhältniß de« Menschen zu Gott auf eine bahnbrechende, eine neue Welt öffnende Weise verkörpert erscheint, weswegen er dasteht nicht nur als „der Propheten Einer", sondern als die Erfüllung des Gesetze« und der Prophetie (Messias), und alle folgende Geschichte nicht ein Setzen neuer Anfänge, sondern die Entfalttmg de- in ihm erschienenen reli­ giösen Lebens sein wird. Indem Strauß in seinem neuen „Leben Jesu" S. 625 Jesuunter den Fortbildnern des Menschheitsideals in erster Linie stellt, doch so, daß er in Israel und Hella«, am Ganges und Oxu- Vor­ gänger und Nachfolger zur Seite habe, die an der Ausbildung und Vervollständigung jene- Ideals in ihrer Weise mitarbeiteten, scheint er der Person Jesu in ihrer geschichtlichen Bedeutung nicht vollkom­ men gerecht geworden zu sein. Gegen diese Anschauung behält der Einwurf, den Schleiermacher in seinen „Reden über die Religion" (S. 305 Au-gabe von Jahr 1821) gemacht hat, immer einige Wahr­ heit: „Wie ein jüdischer Rabbi mit menschenfreundlichen Gesinnungen, etwa- sokratischer Moral, einigen Wundern oder wa« wenigstenAndere dafür nahmen, und dem Talent, artige Gnomen und Para­ beln vorzutragen, eine solche Wirkung, wie eine neue Religion und Kirche habe hervorbringen können, die« zu begreifen, überläßt man un- selbst." In der That: wie soll e- erklärt werden, daß eine monotheistische Gesellschaft einen Solchen, der nur ein Prophet oder Weiser war, wie Andere, von diesen nur durch ein Mehr oder

Die Person Jesu.

206

Stetiger von Weisheit unterschieden, zum Gott erhoben und al» Gott verehrt hat? Ja, wie soll von solchen Voraussetzungen auS auch nur die Ansicht erklärt werden, welche die ersten Jünger Jesu unmittel­ bar nach seinem Tode sich bildeten, daß er der Messias (Christus) sei, de» Gott nicht in der Unterwelt bei den Todten gelassen, son­ der« zu sich in den Himmel erhoben habe, von wo er wiederkommen werde, die alte Welt zu zerschlagen und eine neue zu gründen? Zwischen dem religiösen Weisen, den Sttauß statuirt, auf der einen, und dem Wolkenkönig der ersten Christen und dem Gott der Kirche auf der anderen Seite besteht eine Kluft, für welche dagefchichtliche Verständniß nach einem verbindenden Mittelgliede sucht. Mit gewohntem Scharfblick hat Baur die Messiasidee al» diefe» verbindende Mittelglied erkannt. Nachdem er den sittlichen und religiösen Gehalt de» Christenthum» geschildert, fährt er (Christen­ thum und christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte S. 35) fort: „Und doch was wäre da- Christenthum, und was wäre aus ihm geworden, wenn es Nicht» weiter wäre, als eine Religion»- und Sittenlehre in dem bisher entwickelten Sinne? Mag e» auch al» solche der Inbegriff der reinsten und unmittelbarsten Wahrheiten sein, e» fehlte noch die Form zu einer concreten Gestaltung ir­ religiösen Lebens, der feste Mittelpunkt, von welchem au» der Kreis seiner Bekenner zu einer die Herrschaft über die Welt gewinnenden Gemeinschaft sich zusammenschließen konnte. Betrachtet man den Entwicklungsgang de» Christenthum», so ist c» doch nur die Person seine- Stifter», an welcher seine ganze geschichtliche Bedeutung hängt. Wie bald wäre Alle-, wa» da» Christenthum Wahre» und Bedeu­ tungsvolle» lehrte, auch nur in die Reihe der längst verklungenen Au-sprüche der edlen Menschenfreunde und der denkenden Weisen de- Alterthum» zurückgestellt worden, wenn seine Lehren nicht im Munde de- Stifter- zu Worten de» ewigen Leben» geworden wären? Aber auch in Betreff der Person Jesu selbst fragt sich, wa- wir al- die eigentliche Grundlage ihrer wettgeschichtlichen Bedeutung an­ zusehen haben. So große- Gewicht wir auch auf den ganzen Ein­ druck der Persönlichkeit Jesu legen müssen, so konnte doch auch sie nur von einem schon gegebenen bestimmten Punkte au- auf da-

206

Zweiter Theil.

II.

Bewußtsein der Zeit so wirken, daß a»S ihrer individuellen Erschei­ nung eine weltgeschichtliche Entwicklung von solchem Umfang und Inhalt hervorging. Hier ist daher der Ort, wo Christenthum und Iudenthum so eng in einander eingreife», daß da- erstere nur in seinem Zusammenhang mit dem letzteren begriffen werden kann. Hätte mit Einem Worte nicht die nationalste Idee dcS Iudenthum», die Messiasidee, mit der Person Jesu sich so identificirt, daß man in ihm die Erfüllung der alten Verheißung, den zum Heile deS Volkes erschienenen Messias anschaute, wie hätte der Glaube an ihn zu einer weltgeschichtlichen Macht von solcher Bedeutung werden können? Durch die Messiasidee erhielt erst der geistige Inhalt des Christenthums die concrete Form, in welcher er in die Bahn seiner geschichtlichen Entwicklung eintreten, das Bewußtsein Jesu durch die Vermittlung deS nationalen Bewußtseins zum allgemeinen Welt­ bewußtfein sich erweitern konnte." Mag nun der Sinn, in welchem Jesus nach den Einen sich ans freien Stücken den Messias nannte, nach Anderen sich diesen Titel wenigstens gefallen ließ, gewesen sein, welcher er wollte, mochte Jesus rein geistige, sittliche Ideen oder zugleich sinnliche Anschauungen mit diesem Worte verbinden, gleich­ viel: das Bewußtsein war jedenfalls darin ausgesprochen, nicht bloß der Propheten Einer, nicht bloß ein zweiter Moses oder Elias, son­ dern daS Ende des Gesetzes und der Abschluß der Prophetie zu sein; die Messiasidee stand bei Jesu und seinen Schülern im engsten Zu­ sammenhang mit dem Glauben an den vollendeten Anbruch des Gottesreiches auf Erden in Folge seiner Erscheinung. Es mag sein, und läßt sich vielleicht sehr wahrscheinlich machen, daß Jesus von dem Kommen dieses GotteSreichcs ebenso sinnliche Anschauungen hatte, wie seine erste Gemeinde, daß er seinen Eintritt alS einen wunderbaren und plötzlichen erwartete und sich selbst als den MessiasKönig auf seinem Throne dachte (vgl. z. L. Matth. 19, 28), eine Er­ wartung, die er laut den Evangelien selbst durch die Gewißheit seine» TodeS nicht in seinem Geiste hätte umstoßen lassen (Pitc. 22, 18): durch diese Täuschung über die Form deS Gottesreiches wird die Größe deS Bewußtseins Jesu, der Herold und Träger desselben zu sein, da- vollendete Eintreten desselben au seine Erscheinung gebunden zu

Die Person Jesu.

207

wissen, nicht geschmälert. DaS Nene Testament, wie Überhaupt die Geschichte der christlichen Kirche bleibt ein Räthsel ohne die An­ nahme, daß Jesu« ein Selbstbewußtsein, ein Bewußtsein über die Bedeutung seiner Person für das Gotte-reich beseffen habe, wie vor und nach ihin Keiner. Wäre nun diese- Bewußtsein einfache Selbst­ täuschung gewesen, so würden wir den Schwärmer belächeln oder bemitleiden. Aber so ist e- nicht. Das Messiasbewußtsein Jesu beruhte auf dem Grunde eines ächt und lauter religiösen Besitze-, wie kein Anderer ihn hatte, wie auch Strauß annimmt, daß Jesuvon seinem religiöse» Selbstbewußtsein au- zu der Ansicht gekommen sei, mit den messianischen Weissagungen könne Niemand ander» ge­ meint sein, als er, so daß da- Bewußtsein, der Messias zu sein, seinem allgemeinen religiösen Bewußtsein gegenüber nicht da- Erste, sondern das Zweite, nicht da- Ursprüngliche, sondern ein Abgeleite­ te- gewesen sei („Men Jesu“ 1864 S. 198). Man muß fragen, welche Höhe des Gotte-bewußtseinS, welche Genialität de- religiösen Geiste-, welcher Reichthum de- inneren Lebens dazu nöthig war, daß ein armer Handwerker in dem abgelegenen, verachteten Galiläa vor dem Wagnlß nicht zurückscheute, sich den Messias zu nennen und mit seiner Erscheinung erfüllt zu missen, waS die Menschheit in Be­ ziehung auf ihre höchsten Angelegenheiten bisher ersehnt und gesucht hatte! Und die Frage findet eine Antwort in den Evangelien. Auch die strengste Kritik dieser Schriften wird die Thatsache stehen lasten, daß da» christliche Princip, d. h. die Religion des Geiste-, der GotteSkindschaft und der Liebe in der Person Jesu in einer bahnbrechen­ den, eine neue Welt eröffnenden Weise sich verkörpert habe. Nach zwei Seiten hin, wird man sagen können, hat Strauß in der Vergleichung Jesu mit anderen Fortbildnern de» MenschheitSidcals zu wenig gethan. Er hat einmal übersehen, daß Jesu- sein MenschhcitSideal in einer bahnbrechenden, den Umbau der ganzen Gesellschaft nach sich ziehenden Weise in die Welt eingeführt hat, wodurch er in ausgezeichnetem Maße in den Vordergrund der Ge­ schichte tritt und die Früheren (MoseS, Sokratc», Plato) als Bor­ bereiter und Vorläufer erscheinen. Dazu gehörte freilich vor Allem Glück, nämlich da« Entgegenkommen einer reif gewordenen Zeit,

ohne welches Niemand bei aller Größe ein Reformator wird (Wiklef trug alle Gedanken der nachmaligen Reformation in sich, aber er ist Vorläufer geblieben, weil die Zeit noch nicht reif war), aber doch auf der anderen Seite ebenso viel Verdienst, nämlich die Fähigkeit, die Strahlen der Entwicklung in einem Brennpunkte zu sammeln, von dem au- sie einen neuen Tag schaffen können. Für'- Zweite hat Strauß außer Acht gelassen, daß Jesu- nicht bloß, wie alle Anderen, einzelne Züge zu dem Menschheit-ideal her­ beigebracht oder verbessert, sondern da- Princip als die Quelle aller künftigen Gestaltungen desselben festgestellt hat. DaS MenschheitSideal, daS Jesu- in Leben und Lehre aufstellte, ist ohne allen Zweifel höchst einseitig und bedarf in seinen einzelnen Zügen der Ergänzung und Verlchtlgung in hohem Maße. AlleS, waS sich auf da- innere Leben der Menschenseele in ihrem Verhältniß zu Gott bezieht, ist voll entwickelt, dagegen der Weltbegriff ist wenig ausgebildet. Strauß hat vollständig Recht, wenn er sagt: „schon das Leben de» Menschen in der Familie tritt bei dem selbst familienlosen Lehrer in den Hinter­ grund; dem Staate gegenüber erscheint sein Verhältniß als ein ledig­ lich passive»; dem Erwerb ist er nicht bloß für sich, seine- Berufe­ wegen, abgewendet, sondern auch sichtbar abgeneigt, die Arbeit ist ihm etwa- Fremdartige», und Alle- vollends, was Kunst und schönen Lebensgenuß betrifft, bleibt vollend- außerhalb seiner Gesichtskreise-." Diese großartige Einseitigkeit war bei Jesu» die Bedingung für die Stärke und Intensität seine» religiösen Leben». Sein Ideal be­ darf der Ergänzung, aber kein Mensch der Gegenwart, welcher da­ religiöse Ideal Jesu nach den genannten Seiten ergänzt, wird im Stande sein, mit dem ausgebildeten Weltsinn, der hierzu erforderlich ist, dieselbe Stärke und Glut de- GotteSsinncS, „de- in Gott ver­ borgenen Leben-" zu verbinden, wie sie Jesu- hatte. E» gehört einfach zum Wesen einer geschichtlichen Erscheinung, daß sie Schranken hat und deswegen der Ergänzung durch Andere bedürftig ist. Diesem Loose war auch Jesus nicht entnommen, aber sein Verdienst ist, daß er das Herz der Menschheit geheilt hat, daß er da» religiöse Grundverhältniß, au- dem alle anderen Seiten demenschlichen Leben- ihre Norm ziehen, richtig bestimmt, daß er

209

Da« Leben Jesu.

gleichsam den Mittelpunkt gestellt hat, von welchem die Amen nach allen Seiten de» Kreise» sich leicht und unfehlbar ziehen lassen. Die christliche Gotte-idee, d. h. Gott als der Geist und der Vater, die christliche Menschenidee, d. h. der Mensch, der den Schwerpunkt seine» Wesen» im Geist, nicht im Fletsch, im Ewigen,

nicht im

Zeittichen, im Unsichtbaren, nicht im Sinnlichen gefunden hat — darin liegt eine ganze unabsehbare Zukunft und die bisherige Ent­ wicklung unserer Völker wenigsten» ist eine wesentlich christliche.

In

der Reinheit und Tiefe seine» religiösen Princip» liegt die ungeheure Entwicklungsfähigkeit de» Christenthum».

„Au» all' den Einseitigkei-

ten, die seinem Ursprung anhängen und sich in großen geschichtlichen Zügen und Einrichtungen in der christlichen Kirche wiederspiegeln, hat e» sich in Folge seine» gesunden Kerne» herausgearbeitet.

Da»

Ehrtstenthum litt keinen Schaden, al» Paulu» seine naüonale Schranke sprengte.

C» litt keinen Schaden, al» die Reformatoren die Kirche

in die Arme de» Staate» und de» Weltleben» zurückführten.



leidet keinen Schaden von denen, die statt der Gesinnung mehr die Handlungsweise betonen und statt Glauben bloß Moral anerkennen wollen.

E» wird auch keinen Schaden nehmen,

wenn aller Welt

einst klar wird, daß sein Stifter ein Mensch war, wie andere Men­ schen, und sein Werk ein menschliche». Nein und enge in seinem An­ fang, einseitig in der Anlage, unrichtig selbst in gar manchem Punkte. Wenn alle diese Kritiker gespeist sind,

so bleiben immer noch die

12 Körbe für die alten Freunde Jesu zurück." *)

§ 41. Au» dem Leben Jesu hebt die Kirche in besonder- aus­ zeichnender Weise

hervor

und

macht zu Gegenständen

eigener Feste gewisse Thatsachen, in welchen sich die christ­ liche Idee prägnant ausgedrückt hat, die aber für den Glauben die Bedeutung haben, daß sie zu gegenwärtigen Thatsachen und zu inneren Vorgängen gemacht werden. Diese sind die Geburt,

der Tod,

die Auferstehung,

*) Worte eine« schweizerischen Staatsmanne«. Lang, Dogmatik. 2. Aufl.

die

210

Zweiter Theil.

II.

Himmelfahrt Jesu und die Ausgießung feines Geistes über feine Jünger. ES muß auch hier wieder hervorgehoben werden, daß das Heil in keiner Weife in diesen Thatsachen oder im Glauben an sie beruht, wie denn alles Geschichtliche kein Absolute-, sondern nur ein Rela­ tive- ist. Die Kirche, indem sie das Heil an den Glauben an diese Thatsachen gehängt hat, hat den großen Grundsatz Luther'S völlig vergessen: Fides nunquam praeteritorum est, sed semper futnrorom, errantque sophistae Paulinam fidei definitionem praeteritis tribuentes; neque enim factis rebus creditur, sed promissionibus Dei res facturi. Alle diese Thatsachen haben die Be­ deutung von Illustrationen deS christlichen Princips, von farbigen Bildern zu dem Text de- EvangelininS, und bleibenden Werth hat nur Dasjenige an ihnen, was sich stets wiederholen und von Jedem wieder erleben läßt. 8 42. In der Feier der Geburt Jesu preist die christliche Ge­ meinde die ewige Liebe, welche unS in der Erscheinung Jesu unseren Beruf, Gottes Kinder zu sein, zum Be­ wußtsein gebracht hat, und erinnert sich der Segnungen deS neuen Lebens, das ihr Stifter in der Menschheit be­ gründet hat. Die Erzählungen der Evangelien über die Geburt Jesu beruhen nicht auf geschichtlicher Kunde, son­ dern sind poetische Gebilde der religiösen Phantasie, er­ zeugt durch den Eindruck, den die Erscheinung Jesu in der Gemeinde seiner Verehrer zurückgelassen hat, und durch den Glauben, daß er der verheißene Messias sei, nicht ohne historische Wahrheit, sofern sie die Situation der Zeit in plastischen Bildern zeichne», aber noch reicher an idealer Wahrheit.

1. Daß der zweite und vierte Evangelist keine Geburt-- und Jugendgeschichte Jesu haben, ist bekannt. Für Marcus ist der An­ fang deS Evangeliums Jesu auf Erden daS Auftreten deS Täufers

Da- 8(6(ti Jesu.

211

in der Iordanwüstk (Marc. 1, 1—4: der Anfang de- Cv. Jef« Christi war Johanne», taufend in der Wüste und predigend, wie geschrieben steht in den Propheten u. s. w.). Zu der Zeit, da diese» Buch geschrieben wurde, bestand, wie e» scheint, in den Kreisen der Christen Uber die näheren Umstände der Geburt Jesu weder eine geschichtliche Kunde, noch eine Sage. Auch der weitere Verlauf der Erzählung läßt vermuthen, daß der Verfasser die Geburt-geschichte bei Matth, und Luc. nicht kannte; denn kein anderer stellt die Kluft zwischen Jesu» und seiner Mutter so schroff dar, wie Marcu». Rach Marc. 3, 21 hält ihn die Mutter für verrückt und will ihn in Ge­ wahrsam bringen. Der vierte Evangelist kannte die Erzählungen bei Matth, und Luca- ohne Zweifel, aber er fand sie für seinen Christ«» unbrauchbar. An die Stelle der Davidischen Abkunft Jesu und sei­ ner Geburt au» Maria durch den heiligen Geist tritt hier die meta­ physische Geburt de» Logo» au» Gott von Ewigkeit her und seine Flpschwerdung in der Zeit. Die Person Jesu wird nicht erst im Jahre Ein» unter der Regierung de» Kaiser» Augustu», wie bei den Synoptikern, sondern kommt al» fertig, al» der allmächtige, allwis­ sende Logo» vom Himmel herab und schlägt seine Hütte unter un» auf. Wie sich der vierte Evangelist den Vorgang der Fleischwerdung gedacht hat, darüber giebt er keine Auskunft. Daß die beiden Geburt-geschichten bei Matth, und Luca» von entgegengesetzten Gesichtspunkten au» gearbeitet sind and einander aufheben, hat man schon längst gesehen und jeder Versuch einer apologetischen Harmonistik wird zur Rabulisterei. Der Ursprung beider Erzählungen liegt einerseits in der geschichtlichen Kunde» daß Jesu» ein Nazarener war, andererseits in der dogmatischen Ueber­ zeugung, daß der Messias au» Bethlehem stammen müsse, welche Meinung sich auf Grund der von den Christen messianisch gedeute­ ten Prophetenstelle Mich. 5, 2—4 gebildet hatte. Ihre Abweichungen entspringen au» der verschiedenen Ansicht, die sie haben über den ursprünglichen Wohnort der Eltern Jesu. Matthäus nimmt an, die Eltern Jesu haben von Anfang an in Bethlehem gewohnt, wo ihnen Jesu» geboren wird. Die Frage war nun: aber wa» hat sie denn veranlaßt, von da nach Nazareth überzusiedeln? Die Antwort lag 14*

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Zweiter Theil. II.

im Alten Testament. Wie der erste Retter de» Volke», Mose», den Nachstellungen de» grausamen Pharao, der die Ausrottung aller neu­ geborenen Judenkinder angeordnet hatte, entzogen worden ist, so muß der zweite Retter de» Volke», Jesu», den Nachstellungen de» zweiten Pharao, de- grausamen Herode», entzogen und geflüchtet werde». Aber woher bekam Herode» die Kunde von dem neugeborenen Messias? Angelockt durch „den Stern an» Juda" (4. Mos. 24, 17) kommen Magier au» dem Morgenland, dem Heimathland der Sternkunde, dem neugeborenen Messiaskönig Glück wünschend und Geschenke an Gold und Weihrauch bringend nach Jesaia» GO, 6; durch diese ist Herode» auf da» Kind aufmerksam geworden. Die Eltern müssen nun mit dem Kinde flüchten nach Aegypten. Hier bleiben sie bi» zum Tode de» Herode» und würden jetzt wieder nach ihrem ursprüng­ lichen Wohnort Bethlehem zurückgekehrt sein, wenn nicht die Vorsicht (Matth. 2, 22) ihnen gerathen hätte, sich in Nazareth niederzulaffen. Umgekehrt verfährt Luka». Ihm zufolge wohnen Jesu Eltern zuerst in Nazareth. Die Frage war nun: wa» hat sie veranlaßt, nach Bethlehem zu gehen, wo doch Jesu» geboren sein sollte? Zur Erklärung diese» Ortwechsel» zieht der Verfasser eine geschichtliche Thatsache herbei, die freilich 10 Jahre später fällt:') die auf Befehl de» Kaiser» Augustu» von dem Präses der Provinz Syrien, Quirinus, ausgeführte Schätzung, durch welche — an sich schon unglaublich genug — Maria sowohl al» Joseph sollen nach Bethlehem geführt worden sein. Hier gebiert Maria ihren ersten Sohn, Jesu», bringt ihn nach 41 Tagen, wie da» Gesetz vorschrieb, in den Tempel zu Jerusalem, wo er von Simeon und Hanna begrüßt wird. Nachdem diese- geschehen, kehrten die Eltern mit ihrem Kinde wieder in ihre Heimath, Nazareth, zurück (inh^ttpav). In diesen beiden Erzählungen ist offenbar alle» Wesentliche mit Au-nahme der Geburt in Bethlehem verschieden. An der Stelle de» Wütherich Herode» bei Matthäus steht bei Vufa» die Schätzung de» Quirinu»; an der Stelle der Weisen au» dem Morgenland die Vertreter ') Ueber ähnliche historische Verstöße de- Luka- s. Strauß „Leben Jesu" (1864) 6.336.

Das Mtn Jesu.

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der jüdischen Frömmigkeit, Simeon and Hanna.

Dort Bethlehem

die eigentliche Heimath, Nazareth ein Ort, wo man sich niederläßt, durch die Umstände gezwungen; hier Nazareth die Heimath, zu der man von selbst zurückkehrt, weil da« Geschäft, da- Einen nach Beth­ lehem gerufen, abgemacht war.

Dort bald nach der Geburt de»

Kinde- Schrecken und Angst und Flucht,

hier Jubel und Freude

und endlich friedliche, von Niemand gefährdete Heimkehr.

Resultat:

über Abstammung und Geburt Jesu steht geschichtlich nicht mehr fest, als daß er der Sohn de- Zimmermann- Joseph und der Maria au- Nazareth war. 2. Wie sehr aber auch diese Erzählungen auf freiet Compofitlon beruhen,

so

tragen sie

doch

insofern

geschichtliche Wahrheit in sich,

al- sie die Situation, den Ton und die Farbe der Zeit richtig zeichnen. Die Gestalten dieser Dichtung sind nicht bloße Nebelbilder der Phan­ tasie, sie ruhen auf festem geschichtlichen Grunde.

Die ahnung-volle

Schnsucht der Menschheit nach Erlösung au- unerträglich gewordenen Zuständen, wie sie in jener Zeit die Judenwelt (Simeon und Hanna) und die Heidenwelt (die Weisen au» dem Morgenland) durchzog, so­ wie die Erfüllung dieser Sehnsucht durch die Geburt de» Weltheilan­ de» in der Person des Zimmermann-sohne- von Nazareth — da­ ist die geschichtliche Grundlage dieser Wundererzählungen.

Da» alt­

gewordene Judenthum huldigt dem, in dem e» seine Erfüllung und Bollendung gefunden hat, und der Vertreter desselben kann nun im Frieden dahinscheiden (der gleiche Gedanke, der in der Berklärung»scene auf dem Berge dadurch ausgedrückt wird,

daß Mose» uud

Elia», Gesetz und Prophetie, sich vor Jesu» beugen), und die Hei­ denwelt (durch Paulus) legt ihre Schätze zu den Füßen deffen nie­ der, durch den ihr religiöses Sehnen seine Befriedigung gefunden hat. E» ist die weltgeschichtliche Bedeutung der Persönlichkeit Jesu, welche schon an seiner Wiege gefeiert wird. 3. Zugleich sind aber diese plastischen Gestalten der Dichtung Typen deffen, wa» immer geschieht.

Ju der Sehnsucht jener Zeit

au» dem Drucke und der Schranke de- Irdischen spiegelt sich die Sehnsucht der Menschheit zu jeder Zeit und jede» menschlichen Her­ zen», und die Erfüllung, welche diese Sehnsucht damal» durch die

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Zweiter Theil.

II.

Erscheinung Jesu gefunden hat, ist zugleich die wahre und maß­ gebende für alle Zeiten. Diese geöffneten Himmelspforten, die ein­ tretenden Engel, die überirdischen Stimmen — was sind sie anders, als sinnreiche bildliche Darstellungen für die Religion der GotteSkindfchast und Versöhnung, deren Begründer IesuS ist? *) § 43. Im Leiden und Sterben Jesu feiert die Kirche die per­ sönliche Selbsthingabe an die Zwecke des GotteöreicheS als das Heil der Welt und als das oberste Gesetz der menschlichen Gesellschaft. 1. Der Tod Jesu, eine nothwendige Folge des Conflicts seine« religiösen Selbstbewußtseins mit demjenigen seines Volkes, wurde von seinen Anhängern nach Andeutungen, die er von dem Augen­ blicke an, da er denselben als unausweichliche Thatsache vor sich sah, ohne Zweifel ihnen selbst darüber gemacht hatte (Matth. 26, 27. 28), unter Anwendung der prophetischen Abschnitte deS Alten Testaments über den leidenden Gottesknecht als ein Sühnopfer für die Sünde der Welt, als ein Leiden für Andere und um der Sünde willen, daher als ein Mittel zur Erlangung der Sündenvergebung aufgefaßt (1. Cor. 15, 3. Apoc. 5, 6. 9. 10. 1, 5. 7, 14. 15 u. f. w.). In dieser Auffassung schwand ihnen das Aergerniß (Marc. 8, 32. Luc. 24, 21. 19, 11. Act. 1, 6) des Kreuzes, sie anerkannten den Tod Jesu als ein Moment in der Verwirklichung des Messiasreiches, obwohl sie an seine Messianität mehr trotz, als wegen seines Todes glaub­ ten und von der Menschenthat mit Vorliebe zu der GotteSthat seiner Auferweckung und himmlischen Verherrlichung eilten. Erst PauluS rückte den Tod Jesu in den Mittelpunkt seiner christlichen Welt­ anschauung und wies ihm im Gange der göttlichen Heilsökonomie eine principielle Stelle an. Der für ein jüdisches Denken offenbare Widersinn eines todten Messias, die handgreifliche „Thorheit des Kreuzes" reizte das speculattve Denken deS Paulus, nur um so ') Bgl. meine „Stunden der Andacht" I. Band S. 352ff.

eifriger die Tiefen göttlicher Weisheit zu ergründen, welche in dieser Thatsache verborgen fein mußten. Ein todter Messias! Aber der Tod ist ja der Sünde Sold, der Messias aber, der Mensch vom Himmel, der Gottessohn kann nur als der Heilige gedacht werden, „der von keiner Sünde wußte." Ist er also gestorben, so kann er nur die Sünden der Anderen und ihre Folgen zum Besten der Anderen auf sich genommen haben; so sind diese frei von der Sünde und ihrem Fluch; er ist gestorben, damit sie leben. Und dies kann nicht bloß ein zufälliges, durch menschliche Bosheit yerbeigeführteEreigniß gewesen sein im Sinne jene- alttestamentlichen: „ihr ge­ dachtet eS böse mit mir zu machen, Gott aber hat eS gut gemacht," sondern eS muß auf klilkM ewigen, auf das Heil der Welt abjweckenden Rathschluß Gottes beruhen. Von Ewigkeit her hatte Gott be­ schlossen, die Menschen von dem Fluch des Gesetzes und der Sünde aus diesem allein möglichen Wege zu befreien, daß er seinen Sohn al» ein Opfer hingab, in welchem er die Anderen zu Gnaden auf­ nehmen könnte. Diese Theorie, deren scholastische Formulirung und letzte Consequenz die kirchliche Opfer- und SatiSfactionStheorie ist, wird von so vielen Unmöglichkeiten und Widersprüchen gedrückt, daß der christ­ liche Geist in seiner fortschreitenden Entwicklung sich derselben theilS schon entschlagen hat, theils sich immer allgemeiner und vollständiger entschlagen wird. Ihr Hintergrund ist heidnische und jüdische My­ thologie. Ein Wesen vom Himmel, da- auf die Erde niedersteigt, einen Menschenleib annimmt und leidet und stirbt, die Uebertragung der Sünde, also einer ethischen Bestimmtheit sammt ihren Folgen, von dem Einen auf den Anderen, eine Gerechttgkeit, welche die Strafe, die der Schuldige verdient, auf einen Unschuldigen wälzt, der Tod als die Folge der Sünde, während er eine nothwendige Folge der Endlichkeit ist, — das Alles sind durchaus mythologische Anschauungen. Die Religion wird auS einem Verhalten des end­ lichen Geistes zum unendlichen zur Göttergeschichte, die, wenn auch auf dem Boden der Erde, doch außer- und überhalb der Menschheit sich vollzieht. UeberdieS harmoniren diese Begriffe nicht unter einander. Macht

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Zweiter Theil.

II.

man Ernst mit dem Begriff der Stellvertretung, welcher der paulinischen Beweisführung zu Grunde liegt, so verliert 1) der Glaube, nach Paulü- die subjective Bedingung, unter der allein da- objectiv von Christus Geleistete den Anderen angerechnet wird, seine Stelle. Denn hat Jemand das, waS ich schuldig war, be­ zahlt, so kann Niemand mehr die Schuld von mir fordern, ich mag mich subjektiv zu dieser Leistung verhalten, wie ich will; die Forde­ rung deS Glaubens würde nicht auf der inneren Nothwendigkeit der Sache, sondern auf einer Laune deS Stellvertreters beruhen. Die Objektivität der Leistung Christi wird illusorisch, wenn erst der sub­ jective Glaube sie in Kraft setzen soll. Macht man Ernst mit dem Begriff der Stellvertetung, so dürfen 2) Diejenigen, für welche

Christ»- gestorben ist, nicht sterben. Wenn sie dennoch sterben, d. h. den Sold der Sünde bezahlen müssen, so kann ihn Christus nicht bezahlt haben oder Gott müßte ihn doppelt einfordern. Paulus zog in seinem Geiste diese Consequenz. Daß Gläubige sterben, war ihm darum ein Räthsel, und er kann den Grund nur in einem Mangel an Energie de- christlichen Leben» finden (1. Cor. 11, 30). Er selber hofft daher nicht erst sterben zu müssen, sondern „überkleidet" zu werden. Wie vom Tod, so müßten die Gläubigen, für welche Gott „den, der von keiner Sünde wußte, zur Sünde gemacht hat," auch von der Sünde frei sein. Aber diese Consequenzen, die da» Denken zog, scheiterten zu offenbar an der Erfahrung. Darum muß Paulus Da», wa» der Tod Jesu an sich nicht leisten konnte, von der Wiederkunft Jesu erwarten, wo dann Sünde und Tod realiter überwunden sein werden (1. Cor. 15, 23—27). Der Tod Jesu ist also am Ende de» System» nicht, wa» er am Anfang hätte sein sollen: er ist kein stellvertretendes Opfer für die Sünde. 2. Streicht man diese jüdisch mythologischen Zugaben, so bleibt für die christliche Gemeinde als Grundgedanke und Mittelpunkt der TodeSfeier Jesu die persönliche Selbsthingabe an die Zwecke deGotteSreicheS als da- Heil für die Einzelnen, wie für die Gesell­ schaft. Im Tode Jesu gipfelt sich und drängt sich in Eine gewaltige Thatsache zusammen, waS sein Leben charakterisirt: die rückhaltlose

Hingebung des eigenen Selbst an die Zwecke des Gotte-reiche-, an da» Wohl der Welt. Diese Hingebung setzt voran» die Alle» über­ windende Gotte»- und Bruderliebe, und kraft dieser den Bergicht auf die Welt, so daß ihre Genüsse und Schmerzen dienstbar gemacht werden den ethischen Zwecken de» Gottesreiche», denen da» Indivi­ duum mit seinem ganzen Vermögen allein dient