Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit: Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes 9783495860618, 9783495485958

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Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit: Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes
 9783495860618, 9783495485958

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitende Gedanken
1.1 Zielsetzung
1.2 Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht
2. Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl
2.1 Zur ideengeschichtlichen Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl
2.2 Die Emotion-Kognition-Debatte in den Sozialwissenschaften
2.3 Der Bedeutungspluralismus des Empathiebegriffs als Begünstigung der Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl
2.4 Fazit: Begriffliche und thematische Abgrenzung
3. Körper, Raum und Politik: Die Konstitution des politischen Raumes auf der Grundlage des menschlichen Leibes
3.1 Architektonischer Grundriss: Der Körper als Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Raum
3.2 Lebenswelt und Herstellungswelt: Die offene Struktur des Leibes
3.3 Innenraum: Der Chiasmus zwischen Selbst und Anderem
3.4 Mit- und Handlungswelt: Der politische Raum zwischen Ausdruck und Geste, Identität und Pluralität
4. Der interne Zusammenhang zwischen Körper, Mitgefühl und Vernunft
4.1 Aus entwicklungspsychologischer Perspektive
4.1.1 Der vorsubjektive Raum: Sympathie und Gefühlsansteckung
4.1.2 Der intersubjektive Raum: Mitgefühl und Perspektivenwechsel
4.1.3 Der private Raum: Strategisches Denken und perlokative Handlung
4.2 Aus phänomenologischer Perspektive
4.2.1 Desiderat einer leibfundierten Vernunft
4.2.2 Leibfundierte Vernunft als Ermöglichung von Intersubjektivität
4.2.3 Mitfühlende Vernunft als Ermöglichung von Sinngenese
4.2.4 Intersubjektivität und Interkorporeität: Das Problem des Fremdpsychischen
4.2.5 Wider die Privatheit des Gefühls: Das Ineinandergreifen von Leib-, Sinn- und Gefühlsraum
4.2.6 Fazit: Der Leib als Fundament einer öffentlich-intersubjektiven Sinngenese
5. Konsequenzen einer leibfundierten Vernunft für den öffentlichen Raum: Exemplarische Phänomenanalyse
5.1 Selbstaktualisierung, Freiheit und intersubjektive Sinnkonstitution
5.2 Ökonomisierung des Öffentlichen als Folge der strategischen Rationalität
5.3 Körper, Schuld und Strafe
5.4 Die entkörperlichte Sprache der Medien
5.5 Gefühl, Ethik und Sensitivität
6. Versuch einer Phänomenologie der Menschenrechte: Transkulturelle Solidarität zwischen leibfundierter Vernunft und intersubjektivem Mitgefühl
6.1 Menschenrechte als globales Problem? Aktuelle Hürden eines »gutgemeinten« Projekts
6.1.1 Die drei Generationen der Menschenrechte zwischen Recht und Anspruch
6.1.2 Kultivierung globaler Solidarität versus Einsetzung eines universalen Rechtskatalogs
6.1.3 Menschenrechte: Universale Ethik oder kulturimperialistische Entfremdung?
6.2 Versuch einer phänomenologischen Rekonstruktion der Idee der Menschenrechte: Zwischen Verletzlichkeit und Einzigartigkeit
6.2.1 Menschenrechte als Fundament der Selbstverwirklichung
6.2.2 Grausamkeit und Gefühlskälte: Möglichkeiten der Entmenschlichung
6.2.3 Die Kultivierung der Menschenrechte auf der Grundlage von Vernunft und Mitgefühl
6.2.4 Menschenrechte als Menschenpflichten: Die Pflicht zur Sorge um den Anderen
6.2.5 Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Recht und Geltung
6.2.6 Menschenrechte zwischen Mitgefühl und Vernunft: Problematisierung des mediatisierten öffentlichen Raumes
7. Abschließende Gedanken
8. Literaturverzeichnis

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A

Barbara Weber

Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860618

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B

Barbara Weber Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

In dem Maße, in dem wir nicht mehr bezeugen, sondern nur beobachten, keine sozialen Erfahrungen machen, sondern als Voyeur den Anderen objektivieren, verschwindet der Mensch in seinem lebendigen Dasein aus dem öffentlichen Raum. Der politische Teilnehmer wird zum bloßen Betrachter, der sich in die Anonymität der Privatsphäre zurückgezogen hat. Das Sichtbarwerden des konkreten Menschen in seiner Körperlichkeit und Verletzlichkeit ist jedoch das Fundament für ethisches Bewusstsein und politische Verantwortung. Dieses Buch ist ein emphatisches Plädoyer für die Bedeutung des Körpers und der Gefühle: Der öffentliche Raum ist auf das Sehen und das Gesehenwerden angewiesen, weil sich erst hieraus ein gemeinsamer Sinn sowie eine Sensitivität für das Dasein des Anderen entwickeln können. Ein Rückzug in die Monade des Selbst führt hingegen zur Destruktion des Politischen: Denn das auf den privaten Raum reduzierte Individuum ist seiner sozialen Funktionen beraubt. In diesem Sinne ist diese Studie eine »phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes« auf der Grundlage des Körpers. Damit ist sie mehr als nur die Antwort auf ein Forschungsdesiderat: Sie ist vielmehr die Offenlegung eines geistesgeschichtlichen blinden Flecks und führt in der Konsequenz zu einer Bedeutungsumkehrung wesentlicher politischer Begriffe wie »Freiheit«, »Macht« oder »politischer Raum«.

Die Autorin Barbara Weber, geb. 1976 in München, ist Professorin für Human Development, Learning and Culture an der University of British Columbia in Kanada. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Phänomenologie und Hermeneutik, der zeitgenössischen politischen Philosophie sowie des Philosophierens mit Kindern.

https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

Barbara Weber

Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48595-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86061-8

https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

Für Tamara Ralis und Fritz Hörauf in Dankbarkeit für alles

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https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

Inhalt

1. Einleitende Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl . . . . . . . 2.1 Zur ideengeschichtlichen Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Emotion-Kognition-Debatte in den Sozialwissenschaften 2.3 Der Bedeutungspluralismus des Empathiebegriffs als Begünstigung der Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl 2.4 Fazit: Begriffliche und thematische Abgrenzung . . . . . .

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3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Körper, Raum und Politik: Die Konstitution des politischen Raumes auf der Grundlage des menschlichen Leibes . . . Architektonischer Grundriss: Der Körper als Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Raum . . . . . . . Lebenswelt und Herstellungswelt: Die offene Struktur des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innenraum: Der Chiasmus zwischen Selbst und Anderem Mit- und Handlungswelt: Der politische Raum zwischen Ausdruck und Geste, Identität und Pluralität . . . . . .

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4.

Der interne Zusammenhang zwischen Körper, Mitgefühl und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Aus entwicklungspsychologischer Perspektive . . . . . . . 4.1.1 Der vorsubjektive Raum: Sympathie und Gefühlsansteckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Der intersubjektive Raum: Mitgefühl und Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . .

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https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

Inhalt

4.1.3 Der private Raum: Strategisches Denken und perlokative Handlung . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Aus phänomenologischer Perspektive . . . . . . . . . 4.2.1 Desiderat einer leibfundierten Vernunft . . . . 4.2.2 Leibfundierte Vernunft als Ermöglichung von Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Mitfühlende Vernunft als Ermöglichung von Sinngenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Intersubjektivität und Interkorporeität: Das Problem des Fremdpsychischen . . . . . . . 4.2.5 Wider die Privatheit des Gefühls: Das Ineinandergreifen von Leib-, Sinn- und Gefühlsraum . . . 4.2.6 Fazit: Der Leib als Fundament einer öffentlichintersubjektiven Sinngenese . . . . . . . . . . 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Konsequenzen einer leibfundierten Vernunft für den öffentlichen Raum: Exemplarische Phänomenanalyse . . Selbstaktualisierung, Freiheit und intersubjektive Sinnkonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomisierung des Öffentlichen als Folge der strategischen Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . Körper, Schuld und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . Die entkörperlichte Sprache der Medien . . . . . . . . Gefühl, Ethik und Sensitivität . . . . . . . . . . . . .

. . 105 . . 107 . . 107 . . 114 . . 119 . . 128 . . 132 . . 139 . . 142 . . 142 . . . .

. . . .

Versuch einer Phänomenologie der Menschenrechte: Transkulturelle Solidarität zwischen leibfundierter Vernunft und intersubjektivem Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Menschenrechte als globales Problem? Aktuelle Hürden eines »gutgemeinten« Projekts . . . . . 6.1.1 Die drei Generationen der Menschenrechte zwischen Recht und Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Kultivierung globaler Solidarität versus Einsetzung eines universalen Rechtskatalogs . . . . . . . . . . 6.1.3 Menschenrechte: Universale Ethik oder kulturimperialistische Entfremdung? . . . . . . . . . . .

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6.

8 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

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Inhalt

6.2 Versuch einer phänomenologischen Rekonstruktion der Idee der Menschenrechte: Zwischen Verletzlichkeit und Einzigartigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Menschenrechte als Fundament der Selbstverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Grausamkeit und Gefühlskälte: Möglichkeiten der Entmenschlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Die Kultivierung der Menschenrechte auf der Grundlage von Vernunft und Mitgefühl . . . . . . 6.2.4 Menschenrechte als Menschenpflichten: Die Pflicht zur Sorge um den Anderen . . . . . . . 6.2.5 Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Recht und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Menschenrechte zwischen Mitgefühl und Vernunft: Problematisierung des mediatisierten öffentlichen Raumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180 180 186 187 195 202

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. . . . . . . . . . . . . . . . . 213

7.

Abschließende Gedanken

8.

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

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1. Einleitende Gedanken

1.1 Zielsetzung Globale politische Bemühungen wie beispielsweise die rechtliche Einsetzung universaler Menschenrechte stellen uns heute vor dringende Fragen: Ist es möglich, einen kulturübergreifenden und weltweiten politischen Raum zu konstituieren? Auf welche Weise vermögen wir die Bürger aller Staaten für die ethischen Konfliktsituationen und Ungerechtigkeiten in den verschiedenen Kulturen zu sensibilisieren? Können dem interkulturellen Dialog universale Kommunikationsregeln zugrunde gelegt werden? Diesen und ähnlichen Problemen geht jedoch eine andere Frage voraus, nämlich: Was konstituiert die Sphäre des Politischen? Und was hält die Gesellschaft im Innersten zusammen? Eine Art ›kommunikative Vernunft‹ im Sinne Jürgen Habermas’ oder eher ein ›umgreifendes Mitgefühl‹, wie es beispielsweise Richard Rorty proklamiert? Konsensuale Übereinstimmung oder ethische Sensibilität? Die hier entwickelte Rekonstruktion des politischen Raumes nimmt an dieser Stelle einen klaren Perspektivenwechsel vor: Weder Vernunft noch Mitgefühl legen das Fundament für eine Sphäre des Politischen, sondern der menschliche Körper. Dabei wird die »Sphäre des Politischen« als der sinnlich vermittelte und intersubjektiv wahrnehmbare Handlungsraum verstanden, welcher durch gemeinsame Sinnkonstitution und Aktionen immer neu entsteht. Sie bildet den unhintergehbaren Urgrund, vor welchem sich die Idee einer gemeinsamen Welt überhaupt erst abzeichnet. Sie ist ferner bevölkert von fühlenden, leiblich engagierten Personen, welche durch Kommunikation und Deliberation sowohl an solchen Aktionen teilhaben als auch von deren Auswirkungen betroffen sind. 1 Abwechselnd werde ich auch 1

Natürlich konstituiert sich die Sphäre des Politischen nicht durch die Idee des Körper-

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Einleitende Gedanken

vom a. »politischen Raum«, b. »öffentlichen Raum« oder c. »öffentlichen Handlungsraum« sprechen und deute damit inhaltliche Schwerpunktsetzungen innerhalb der jeweils behandelten Fragestellungen an: a. die rationale und deliberative Sinnkonstitution, b. die gemeinsame Interpretation der sichtbaren Welt und c. die gemeinsamen politischen Aktionen bzw. Gestaltungen des Raumes. Die Lebenswelt gilt als Hintergrund vor welchem die Inhalte der Sphäre des Politischen immer neu interpretiert werden. Lebenswelt und Sphäre des Politischen können deshalb auch als Hinter- und Vordergrund desselben Phänomens gesehen werden. Mit einer solchen Vorgehensweise antwortet diese Arbeit auf ein Forschungsdesiderat, auf welches u. a. der amerikanische Pragmatist Richard Shusterman kürzlich aufmerksam machte. In einer Abhandlung zum Thema der Ästhetik des Pragmatismus, gibt er zu bedenken, dass die westliche Philosophietradition keine Allokation für das NichtSprachliche, keine Philosophie des Leibes 2 bereitstelle. 3 Ähnlich argumentiert der Phänomenologe Gabriel Marcel: Er gibt zu bedenken, dass aufgrund der Abstraktion der Sozialwissenschaften vom Leib und insbesondere dem Zwischenbereich, welcher durch den Leib konstituiert wird, »die Interpretationen der politischen Geschehnisse, der Konflikte zwischen Nationen, den Konfessionen und Kulturen ganz und gar vordergründig und unzulänglich« 4 bleiben. Trotz dieses Defizits in der bisherigen Forschung wird in Kapitel 2 lichen allein, sondern wird darüber hinaus maßgeblich durch geteilte zeitliche Erfahrungen und gemeinsame Zukunftswünsche beeinflusst. Nichtsdestotrotz können wir in den letzten Jahren eine »Entkörperlichung« des Politischen beobachten. Grund für diese starken Veränderungen ist u. a. die Medialisierung des politischen Raumes. Aus Gründen der Komplexität kann jedoch weder auf die Idee der Zeitlichkeit noch auf die Entkörperlichung des Politischen eingegangen werden. Diese Aspekte werden nur am Rande behandelt. 2 Ich werde in dieser Abhandlung abwechselnd das Wort Leib und Körper verwenden, je nachdem ob sich die Argumentation mehr auf den lebendigen und engagierten Leib bezieht oder eher auf den funktionsgebundenen Körper. Aber obwohl die deutsche Sprache, anders als beispielsweise das Englische oder Französische, diese Möglichkeit der Betonung bietet, birgt dies auch die Gefahr, in einen Dualismus zu verfallen. Ich interpretiere deshalb den Unterschied zwischen Leib und Körper nur als Nuancierung, nicht als Definition der Begriffe. 3 R. Shusterman, Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt am Main 1994, 128. 4 G. Marcel, Leibliche Begegnung. Notizen aus einem gemeinsamen Gedankengang, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit, Paderborn 1985, 38.

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Zielsetzung

ein ausführlicher Literaturbericht versucht, um den bisherigen Stand der Forschung darzustellen. Kapitel 3 erarbeitet auf dieser Grundlage eine Skizze der Sphäre des Politischen in Abhängigkeit vom Leib, d. h. mit Hilfe einer phänomenologischen Herangehensweise wird die Bedeutung des Leibs für die Konstitution der Sphäre des Politischen hinterfragt. Ideengeschichtlich basiert diese Analyse auf den epistemologischen sowie den anthropologischen Grundbedingungen des ZurWelt-Seins wie sie von Leibphänomenologen wie Helmuth Plessner, Maurice Merleau-Ponty oder auch Bernhard Waldenfels erarbeitet wurden. 5 Der Leib wird als Folie oder auch Bedingtheit politischen Geschehens begriffen, vor welchem Verstehen von Fremdheit, Mitgefühl und Solidarität – insbesondere im öffentlichen Raum – erst entstehen können. Als sehend und sichtbar, fühlend und fühlbar ist der Leib Umschlagstelle zwischen privater Subjektivität und öffentlicher Intersubjektivität. Durch diesen Perspektivenwechsel wird deutlich, inwiefern Vernunft und Mitgefühl in der Konstitution einer Sphäre des Politischen zusammenwirken. Die Hauptthese für Kapitel 4 und 5 ist, dass Mitgefühl und Vernunft nur gemeinsam diejenigen Erwartungen erfüllen 6, welche Philosophen wie Habermas bzw. Rorty jeweils an sie stellen. 7 Denn erst durch die Verankerung kommunikativer Vernunft im Mitgefühl bleibt Erstere sensibel gegenüber ethischen Konfliktsituationen und entgeht dadurch der Gefahr, zu einer bloß strategischsubjektiven Rationalität reduziert zu werden. Umgekehrt soll das Mitgefühl insbesondere als Sensibilisierung für die Sprache des Anderen dienen. Eine solche Sensibilität ist jedoch nur unter zwei Voraussetzungen möglich: insofern a. der Mitfühlende über eine entsprechende Insbesondere bei Maurice Merleau-Ponty erfährt das Gefühl eine Verkörperung und Intersubjektivität. Hermann Schmitz geht bez. der Intersubjektivität von Gefühlen noch weiter und beschreibt diese als im Raum ausgedehnte Atmosphären. Sensitivität fungiert sozusagen als »siebter Sinn«, als Orientierungshilfe im intersubjektiven Geschehen. Auf ein ähnliches Ergebnis kommt auch der Neuropsychologe António Damásio. In einer Untersuchung zeigt er, dass Menschen mit neuronal bedingter emotionaler Dysfunktion selbst an einfachsten kognitiven Orientierungsaufgaben scheitern (vgl. u. a. A. Damásio, Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1995). 6 D. i. Anerkennung der Andersheit des Anderen (Habermas) und Sensibilisierung für Grausamkeit (Rorty). 7 Habermas scheint gegen eine solche Annahme nichts einzuwenden zu haben, sondern einen solchen Gedankengang sogar zu unterstützen (vgl. J. Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main 1990, 150 ff.). 5

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Einleitende Gedanken

leib-sinnliche Resonanzfähigkeit für die Ausdrücke des Anderen verfügt (sprachliche und leibliche) sowie b. der Andere Gelegenheit hat – innerhalb eines Dialogs – zu seiner eigenen Sprache zu finden. Insbesondere für Letzteres stellt beispielsweise die gesellschaftlich institutionalisierte »ideale Diskurssituation« bei Habermas einen geeigneten Ort dar; das ist, einen Ort, an welchem gegen die Reduktion bzw. ein »Missverstehen« durch den Anderen gegebenenfalls Einspruch erhoben werden kann. In einem weiteren Schritt (Kapitel 6) werde ich diese Thesen exemplarisch auf die Frage der Kultivierung von Menschenrechten anwenden. Hierbei wird versucht, eine phänomenologische Leseweise der Menschenrechte zu entwickeln. Dazu zählen a. der Zusammenhang zwischen Selbstverwirklichung und Menschenrechten, um die Notwendigkeit solcher Rechte phänomenologisch zu begründen, b. eine Analyse der Möglichkeiten der Entmenschlichung sowie c. die Notwendigkeit, Menschenrechte auch als Menschenpflichten zu verstehen. Die organische Unvertretbarkeit des Menschen sowie seine Einzigartigkeit als politisches Wesen werden als Fundament herangezogen und im menschlichen Leib verankert. Auf der Basis dieser Überlegungen wird schließlich gezeigt, welche Art des Mitgefühls bzw. der Vernunft für die Konstitution einer Sphäre des Politischen (und mit Fokus auf einer Kultivierung von Menschenrechten) zuträglich bzw. schädlich ist. Als Referenzpole werde ich immer wieder auf Habermas, als Vertreter der kommunikativen Vernunft, und Rorty, als Vertreter eines emotiven Ansatzes, zurückgreifen. Hierbei lautet die These: Kommunikative Vernunft ist ein Modus des Zum-Anderen-Seins, welcher zwischen privatem und öffentlichem Raum in Kombination von Mitgefühl und Perspektivenwechsel vermittelt. Eine von Mitgefühl entbundene, d. i. subjektzentrierte Rationalität hat den politischen Raum jedoch bereits verlassen. Sie hat sich in die Sphäre des Privaten, d. i. strategisch-ökonomisches Denken, zurückgezogen. Die Grundintention dieser Abhandlung ist deshalb, weder dem eingangs erwähnten vernunfttheoretischen Ansatz Habermas’ noch dem emotiven Plädoyer Rortys zu widersprechen, sondern vielmehr beide Theorien zugleich (gerade in ihrer Komplementarität) zu unterstützen.

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Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht

1.2 Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht a.

Phänomenologische Arbeitsweise, Begriffsbestimmung und Literaturbericht

Phänomenologie als Methode in den Sozialwissenschaften Ganz allgemein gleicht die phänomenologische Methode dem Versuch, einen Erkenntnisgewinn durch die unmittelbare Beschreibung von Erscheinungs- und Wirkungsformen für den Menschen zu erzielen. Edmund Husserl geht davon aus, dass unser Bewusstsein immer auf einen Gegenstand gerichtet ist, d. h. die Intentionalität unseres Bewusstseins immer schon Bewusstsein von etwas ist. Die Gegenstände werden erst durch das Licht jener Intentionalität beleuchtet. Daran schließt der Begriff der Abschattung an, nämlich dass der Mensch immer nur eine Perspektive zu gegebener Zeit einnimmt. Deshalb haben alle Gegenstände für den Menschen immer eine Rückseite, d. h. eine für ihn im Moment unsichtbare Seite. Als eine erste Funktion der Phänomenologie in den Sozialwissenschaften charakterisieren Max Herzog und Carl F. Graumann 8 ihre heuristische Einstellung. Das bedeutet die Offenheit gegenüber neuen Phänomenen, Fragestellungen und Lösungen. Im Rückgriff auf die bekannte Forderung Husserls »Zurück zu den Sachen selbst« versucht sich die Phänomenologie für die lebensweltliche Erfahrung – so wie sie uns vor aller wissenschaftlichen Bearbeitung zukommt – zu öffnen. »Vor allem dort, wo die Subsumierbarkeit unter eine bereits ausgearbeitete Theorie und die Machbarkeit im Sinne der als verlässlich etablierten Methode forschungsleitende Regularien sind, ist die phänomenologische Reflexion im Sinne der angesprochenen heuristischen Funktion ein Mittel, um die vorzeitige ›Schließung‹ des Problemfeldes zu verhindern.« 9 Als zweite – und zur ersten komplementäre – Funktion nennen Herzog/Graumann die Deskription. Natürlich ist der Begriff der Deskription insb. seit Wilhelm Dilthey »tückisch« und wird in den Sozialwissenschaften sehr kontrovers diskutiert. Deshalb ist es wichtig, Mit dieser Dreiteilung beziehe ich mich auf M. Herzog und C. F. Graumann (Hg.), Sinn und Erfahrung. Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften, Heidelberg 1991. 9 M. Herzog/C. F. Graumann, Sinn und Erfahrung, a. a. O., XIV. 8

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Einleitende Gedanken

dass es sich bei der Phänomenologie um eine »intentionale« Beschreibung handelt. Das heißt, dass menschliches Fühlen und Verhalten immer schon im Kontext ihrer Sinnhaftigkeit und Situiertheit verstanden werden, d. i., wie das Subjekt sich in seiner intentionalen Umwelt erfährt. Eine solche Beschreibung folgt den jeweiligen Erfahrungen und nicht den theoretischen Vorannahmen oder Alltagskonzepten. Die Problematik besteht darin, dass bereits unsere Alltagssprache die Intentionalität unserer Erfahrungen überlagert. Die Phänomenologie verhält sich daher behutsam – sowohl gegenüber der Sache als auch gegenüber der Alltagssprache, welche die Erfahrung zu beschreiben sucht.10 Schließlich sei die dritte, kritische Funktion angesprochen, welche sich aus den beiden ersten ableitet. Denn die offene Haltung und das Sich-leiten-Lassen von der Sache selbst impliziert eine kritische Haltung in Bezug auf alle bereits gängigen Vorannahmen, Konventionen und Theorien. Inzwischen wissen wir, dass Wissenschaft nie »voraussetzungsfrei« betrieben wird, auch die Phänomenologie nicht. Sie trägt aber dazu bei, dass wir uns eben jener Voraussetzungen und Forschungspräferenzen eingehender bewusst werden können, um unseren Ausgangspunkt im Netz der Theorien besser ausfindig machen und klar beschreiben zu können. 11 Der Nutzen der phänomenologischen Arbeitsweise für die Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Vernunft und Mitgefühl In einem anderen Buch habe ich die Frage erörtert, 12 ob für die Kultivierung der Menschenrechte (im Sinne einer transkulturalen Solidarität) eine rationalistische oder pathozentristische Position als die geeignetere erscheint bzw. wie diese Dichotomie aufzulösen ist. Als Prototypen dieser Frage wurden die Konzeptionen von Habermas und Rorty gegenübergestellt. Rorty sieht Mitgefühl als Voraussetzung für das Gewahrwerden von Grausamkeit, d. i. das Erkennen einer ethischen Problemsituation. Mitgefühl wird verstanden als die Sensibilisierung für die Andersheit der Sprache des Anderen. Habermas geht es hingegen um die Einbeziehung des Anderen/Fremden auf diskursivintersubjektiver Ebene. Durch die begriffliche Verortung von kom10 11 12

Vgl. ebd., XV. Vgl. ebd., XV. Vgl. B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, Freiburg 2013.

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Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht

munikativer Vernunft und Mitgefühl sowie der Explikation ihrer jeweiligen Funktion innerhalb der beiden Theoriekomplexe wurde deutlich, warum sowohl für Habermas als auch für Rorty kommunikative Vernunft und Mitgefühl als unvereinbar und widersprüchlich gelten. In diesem Buch wird beschrieben, wie eine solche Harmonisierung erreicht werden soll und warum hierbei die phänomenologische Arbeitsweise wesentlich ist: 1. Die Phänomenologie versucht auf heuristische Weise die Schließung des Problemfeldes »Mitgefühl-Vernunft« 13 als »unvereinbar« zu verhindern. Das heißt, die »vermutete« Dichotomie zwischen Vernunft und Mitgefühl wird zunächst eingeklammert. Auf diese Weise wird versucht, die spezifischen Verbindungslinien zwischen Vernunft und Mitgefühl auf einer »vorbegrifflichen« Stufe aufzuzeigen. Als Hintergrundfolie wird hierfür der Leib selbst gewählt. Aus diesem Grund muss zunächst gezeigt werden, warum und in welcher Weise der Leib die Sphäre des Politischen konstituiert. Ausgehend von diesem Perspektivenwechsel – von Vernunft und Mitgefühl zum Leib – erfolgt eine rückwirkende Wiederannäherung an beide Begriffe – nun jedoch vor dem Hintergrund lebensweltlicher und leiblich konstituierter Grunderfahrungen. Mit einer solchen Vorgehensweise weicht diese Arbeit der hochkomplexen Leib-Seele-Problematik 14, wie sie derzeit beispielsweise die Philosophie und Neurowissenschaften beschäftigt, bewusst aus. Vielmehr handelt es sich einzig um einen phänomenologisch-vorempiriFür die Darstellung und Anwendung der phänomenologischen Funktionen beziehe ich mich auf die soeben dargestellten Kriterien bei Herzog/Graumann. 14 Natürlich beschäftigt sich Rorty sehr wohl mit der Frage des Zusammenhangs zwischen Körper/Physis und Gefühlen. Insbesondere in Der Spiegel der Natur sowie in der deutschen Aufsatzsammlung Objektivität oder Solidarität proklamiert er die Nichtexistenz mentaler Phänomene. Das heißt, für Rorty ist Mitgefühl nichts anderes als das Produkt physiologischer Prozesse (d. h. Emotionen lassen sich auf neuronale Prozesse oder in Relationen zu diesen beschreiben). Diese sehr berechtigte und hochkomplexe Frage nach dem Zusammenwirken bzw. der Entstehung von Gefühlen ist jedoch für die folgenden phänomenologischen Überlegungen nicht von Bedeutung. Die Phänomenologie versteht den Körper nicht als Objekt, sondern beschreibt ihn als gelebten und bewegten Leib in seiner unmittelbaren und sozialen Wirklichkeit. Wenn also im Folgenden das Mitgefühl in Abhängigkeit von der Körperlichkeit des Menschen beschrieben wird, dann liefert eine solche Beschreibung keine Antwort auf die bei Rorty gestellte Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz mentaler Zustände im Kontext neuronaler Prozesse. 13

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Einleitende Gedanken

schen Beitrag, welcher als Ausgangspunkt die beiden spezifischen Konzepte zweier zeitgenössischer Philosophen – kommunikative Vernunft (Habermas) und Mitgefühl (Rorty) – wählt. 15 Thematisch-kontextuell bleiben die Überlegungen in der Fragestellung nach einer Kultivierung der Menschenrechte im Spannungsverhältnis von Mitgefühl und kommunikativer Vernunft verortet. 2. Mit Hilfe der bereits erwähnten »intentionalen Beschreibung« sollen Erscheinungsformen des Mitgefühls und der kommunikativen Vernunft im Kontext ihrer lebensweltlichen Verwiesenheit expliziert und analysiert werden, d. i. ihre Funktion und Beschaffenheit im Kontext einer körperlich-sichtbaren und öffentlichen Welt. Um dies zu bewerkstelligen, wird die Genese von Intersubjektivität und Subjektivität, Mitgefühl und kommunikativer Vernunft anhand von Theorien der phänomenologischen Kindheitsforschung nachvollzogen. Diese Analyse wird die vielfachen Verbindungslinien zwischen Mitgefühl und kommunikativer Vernunft aufzeigen und darlegen, inwiefern beide Faktoren für die Konstitution einer Sphäre des Politischen gleichermaßen bedeutsam sind. 3. Die Anwendung der dritten Funktion der Phänomenologie, nämlich der kritischen Haltung, ergibt sich aus einer solchen Beschreibung: nämlich a. die Einklammerung einer Reduktion von Mitgefühl bzw. kommunikativer Vernunft auf Sprache, b. die kritische Beurteilung einer Reduktion von Mitgefühl auf ein einziges Ausdrucksphänomen (z. B. Perspektivenwechsel oder Gefühlsansteckung) sowie c. Phänomenanalysen von Anomalien wie z. B. strategischer Rationalität einerseits oder Grausamkeit andererseits. In der Phänomenologie wird vielfach zwischen dem lebendigen Leib und dem verobjektivierten Körper unterschieden. Plessner verschärft diese Dichotomie, indem er einerseits vom »Körperhaben« und andererseits vom »Leibsein« spricht. Es stellt sich jedoch heraus, dass eine solche begriffliche Unterscheidung eine Besonderheit der deutschen Sprache ist. Im Französischen greift der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty deshalb auf die Unterscheidung zwischen corps propre Das soll natürlich nicht ausschließen, dass sich aus den Erkenntnissen dieser Arbeit Forschungsfragen ergeben, die durch empirische Untersuchungen zur Emotion-Kognition-Debatte einen Beitrag leisten. Das Gleiche gilt für die philosophisch wie neuropsychologisch hochkomplizierte Frage nach den Zusammenhängen zwischen Gefühlen und physisch-neuronalen Prozessen.

15

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Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht

und corps objectiv zurück. Eine solche Unterscheidung kann jedoch nicht vereinfachend durch Leib und Körper übersetzt werden, weil andere Konnotationen in solchen Begriffskombinationen mitschwingen. Aus diesem Grund soll eine schwarz-weiße Unterscheidung zwischen Leib und Körper weitestgehend vermieden werden. Die Begriffe »Leib« und »Körper« werden deshalb in der vorliegenden Arbeit synonym und allenfalls als schwache Konnotatoren für graduelle Bedeutungsunterschiede verwendet. Dem Begriff des ›Leibes‹ wird in der Verwendungshäufigkeit tendenziell der Vorzug gegeben. b.

Begriffsbestimmung und Literaturbericht: Mitgefühl und Empathie

Der folgende Forschungsüberblick liefert eine kurze Darstellung des in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Forschungsinteresses an den Begriffen »Empathie« und »Mitgefühl«. Dabei lassen sich Forschungsarbeiten aus Philosophie, Soziologie, Psychologie und Pädagogik unterscheiden. Es ist klar, dass sich ein solcher Überblick nur auf markante Positionen beschränkt. Ziel ist es, das Forschungsdesiderat einer eigenständigen Explikation des Zusammenhangs zwischen Mitgefühl und Leib entlang phänomenologischer Kriterien zu verdeutlichen. Eine solche Neubeschreibung soll die tatsächliche Tragfähigkeit des Mitgefühls für die hier vorliegende Fragestellung prüfen. Fernerhin soll eine Abgrenzung von den komplexen Fragestellungen und Problemen erreicht werden, welche sich aus einer fachspezifischen Verwendung von Begriffen bzw. Methoden ergeben. Sie tangieren diese Arbeit, aufgrund der »vor-begrifflich« phänomenologischen Herangehensweise, nur lateral. Philosophie Die Idee des Mitgefühls (wenn auch in immer wieder unterschiedlichen Ausformungen, Kontexten und Definitionen) ist der Philosophie seit der Antike bekannt. 16 Ein erster Definitionsversuch findet sich bei Aristoteles, für welchen die Teilidentifikation mit dem Anderen zu

Bereits in den antiken Mythen und Theatern ist die Idee des Mitgefühls sehr präsent. Ein Beispiel hierfür ist die Szene aus der Ilias als Achill den Leichnam des Hektor an seinen Vater Priamos aushändigt.

16

19 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

Einleitende Gedanken

einer der Grundbedingungen des Mitgefühls zählt. 17 In diesem Zusammenhang taucht sowohl der Begriff der Mimesis (Nachahmung) als auch die Idee der Katharsis (Reinigung) auf. Beide spielen im griechischen Theater eine zentrale Rolle und können als frühe öffentliche Perspektivenübernahmen gedeutet werden. 18 Im Christentum geht die Misericordia (Barmherzigkeit) dem Mitgefühl voraus und ist wichtiges Element der tätigen Nächstenliebe. Die Gefühlsethik stand um 1800 in ihrer Blüte. Als einer ihrer Vertreter gilt Gottfried E. Lessing, welcher das Mitleid als die höchste aller menschlichen Eigenschaften bezeichnet. In diesem Zusammenhang gewinnt das Trauerspiel gesellschaftlich wie politisch an Bedeutung, denn es soll im Zuschauer Mitleid wecken, um ihn dadurch »besser«, d. i. tugendhafter, zu machen. 19 Auch David Hume nimmt um diese Zeit, als einer der führenden Vertreter der Mitgefühlsethik, diesen Gedanken auf. Dabei rückt der »Mitleid sei definiert als eine Art Schmerz über ein anscheinend leidbringendes Übel, das jemanden trifft, der es nicht verdient, ein Übel, das erwartungsgemäß auch uns selbst oder einen der Unsrigen treffen könnte […] Denn es ist klar, dass derjenige, der Mitleid empfinden soll, gerade in einer solchen Verfassung sein muss, dass er glaube, er selbst oder einer der Seinen würde ein Übel erleiden […]. Ferner haben wir Mitleid mit denen, die uns bezüglich Alter, Charakter, Gewohnheiten, sozialer Stellung und Herkunft ähnlich sind […].« (Aristoteles, Rhetorik 1385b.) 18 Überhaupt spielte in der Antike die Einfühlung in ästhetische Ausdrucksformen (wie z. B. Gedicht, Architektur, Theater) eine zentrale Rolle. Ein Blick in die Geschichte des Mitgefühls zeigt, dass seit jeher die Verbindungslinie zwischen Ästhetik und Mitgefühl eine zentrale Rolle spielt. Ich kann jedoch an dieser Stelle auf jene Zusammenhänge nur am Rande eingehen. Eine groß angelegte Untersuchung findet sich u. a. bei J. Volkert, System der Ästhetik, Bd. 3, München 1905/14. Ebenso war die Einfühlung in die Ausdrucksformen der Götter von entscheidender Bedeutung für die »richtige« Interpretation göttlicher Botschaften. Hierin zeigt sich eine enge Verbindung zwischen Mitgefühl und Hermeneutik (d. i. der »richtigen« Auslegung der Botschaften z. B. für das Orakel bei Delphi). 19 »Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichtens auf die sichere Erregung und Dauer des eigenen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Fähigkeit der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. […] Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder – es thut jenes, um dieses thun zu können.« (Vgl. G. E. Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel, hg. v. J. Schulte-Sasse, München 1972, Brief an Friedrich Nicolai, Nov. 1956.) 17

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Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht

Begriff der sympathy (später der benevolens) ins Zentrum seiner Moralphilosophie. 20 Fernerhin finden sich pathozentrische Ansätze in den Schriften von Jeremy Bentham und Arthur Schopenhauer. Im Zuge einer detaillierten Abgrenzung von Immanuel Kant arbeitet Schopenhauer das Mitleid als einzig legitimes Motiv für eine ethische Handlung heraus. Er unterscheidet dabei zwischen zwei Graden des Mitleids: 1. »das mich abhält, dem anderen ein Leiden zu verursachen, […] 2. wo das Mitleid, positiv wirkend, mich zu tätiger Hülfe antreibt.« 21 Das Mitgefühl ist für Schopenhauer der »Beweis«, dass die Individuen einem allgemeinen unterschiedslosen Einheitsgrund entstammen. Max Scheler unterscheidet erstmals klar zwischen zwei Qualitäten des Mitgefühls, nämlich dem echten Mitgefühl und der Gefühlsansteckung. Sein Buch liefert eine detaillierte phänomenologische Beschreibung des Zusammenhangs von Vernunft und Gefühl, wobei das Mitgefühl einen Schwerpunkt seiner Arbeit darstellt. 22 Natürlich findet sich das Mitgefühl auch in hermeneutischen Ansätzen, wie z. B. bei Wilhelm Dilthey, der sagt: »Wir verstehen und bestimmen einen Menschen nur, indem wir mit ihm fühlen und seine Regungen in uns nacherleben.« 23 Selbstverständlich wurde Mitgefühl nicht immer positiv beurteilt. In der Antike äußern sich z. B. die Stoiker sehr ablehnend gegenüber dem Mitgefühl und bezeichnen es stellenweise sogar als »seelisches Laster«. Friedrich Nietzsche bezeichnet es hingegen als »Bedürfnis der Unglücklichen«. Es ist Ausdruck des Ressentiments der Sklavenmoral, welche nichts anderes möchte, als die Guten, Glücklichen und Starken in ihrem lebensbejahenden Gefühl zu begrenzen. 24 Dennoch wird durch die Idee des Dionysischen Prinzips bei Nietzsche eine rein negative Konzeption des Mitgefühls eingegrenzt. Im Gegensatz zum Apollinischen Prinzip, das der Vereinzelung und der Vernunft gleicht, David Hume veröffentlicht seine Gedanken zur Moral in Grundzügen in seinem »Treatise of Human Nature« (1739/1740) sowie dem »An Enquiry Concerning the Principles of Morals« (1751). Weitere zentrale Werke zur Ethik sind: »An Enquiry Concerning Human Understanding« (1748) und »Dialogues Concerning Natural Religion« (1779). 21 A. Schopenhauer, Arthur Schopenhauers sämtliche Werke (in sechs Bänden), hg. v. E. Grisebach, Leipzig 1873–74, 593 ff. 22 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 1923. 23 W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. V, Leipzig/Berlin 1924, 74. 24 F. Nietzsche, Genealogie der Moral, sowie Menschliches und Allzumenschliches I, II, Nr. 50, in: Sämtliche Werke, München 1980. 20

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Einleitende Gedanken

spricht sich das Dionysische Prinzip für die Aufweichung der Grenzen zwischen dem Eignen und dem Anderen aus und ermöglicht auf solche Weise, den Anderen auf tieferer Ebene zu verstehen. 25 In der Philosophie des letzten Jahrhunderts werden Gefühle mit vermehrter Aufmerksamkeit bedacht. Phänomenologische Ansätze finden sich u. a. bei Husserl, Heidegger und Sartre sowie bei dem zeitgenössischen Philosophen Quentin Smith. 26 Auch Robert Solomon zählt zu den wichtigen Kontinentalphilosophen, welche sich mit der Bedeutung des Gefühls grundlegend auseinandergesetzt haben. 27 Die sogenannte »neue Phänomenologie« wurde von Hermann Schmitz begründet, der sich eingehend und auch interdisziplinär mit den Gefühlen beschäftigt. 28 In der analytischen Philosophie gilt der Denker Ronald DeSousa 29 als wichtiger Vertreter der Gefühlstheorien. Ein Überblick über verschiedene Gefühlsansätze findet sich bei Carola Meier-Seethaler. 30 Einen literaturwissenschaftlich motivierten Ansatz zur Mitleidsethik liefert Käte Hamburger, welche das Mitgefühl als ein ethisch neutrales Gefühl deutet. 31 Annette Baier rekurriert auf den pathozentrischen Ansatz bei David Hume. Durch ihre feministische Leseweise gelingt es ihr, die geläufige, d. i. einseitig emotivistische, Deutung Humes zu überwinden. 32 Eine zentrale Bedeutung kommt dem Mitgefühl natürlich auch in den buddhistischen Lehren zu, insbeson-

»In other words, this antagonism fulfills the requirements of empathy, which consists in the combination of ›Dionysian intuition for the other or the strange‹ with ›Apollonian rationality‹. Only through this Apollonian rationality is the self-able to distance itself from the intuitive Dionysian experience, ›viewing‹ and visualizing this ›difference‹ by formulating general concepts.« (Vgl. E. Marsal und T. Dobashi, From Dionysian Dance in Friedrich Nietzsche To the Subjective Aesthetic Formation of Japanese Empathy »Fûryû«, Vortrag gehalten auf der IAPL Konferenz in London am 4. 6. 2009.) 26 Quentin Smith, The Felt Meanings of the World. A Metaphysics of Feeling, Purdue 1986. 27 Robert Solomon, The Passions, Garden City, NY, 1976. 28 Vgl. von Hermann Schmitz, Der Gefühlsraum. System der Philosophie, Dritter Band, Zweiter Teil, Bonn 1981, oder auch der Sammelband H. Fink-Eitel, G. Lohmann (Hg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt am Main 1993. 29 R. DeSousa, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt am Main 1997. 30 C. Meyer-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1977. 31 Vgl. K. Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart 1985. 32 Vgl. u. a. A. Baier, A Progress of Sentiments: Reflections on Hume’s Treatise, Cambridge 1991. 25

22 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht

dere dem Mahayana-Buddhismus. 33 Aktuelle emotivistische Ansätze finden sich auch im Umkreis der analytischen Philosophie, wie z. B. bei Alfred Ayer und Charles Stevenson. 34 Sie berufen sich methodisch auf Ludwig Wittgenstein sowie inhaltlich auf David Hume. Sozialwissenschaften, Psychologie und Pädagogik Der Begriff des Einfühlungsvermögens findet sich bereits bei Sigmund Freud. Aber es ist vorwiegend sein Schüler Theodor Lipps, welcher Funktion und Bedeutung der Einfühlung expliziert. 35 Durch die Übersetzung des deutschen Begriffs »Mitgefühl« durch das englische Wort »empathy«, welches später als ›Empathie‹ wieder ins Deutsche zurückübersetzt wurde, gingen ästhetische Gehalte des Begriffs (d. i. seine ästhetische Bedeutung im Kontext Mensch, Kunst und Natur) weitgehend verloren. 36 »Empathie« wird im Deutschen nun hauptsächlich für die Beschreibung zwischenmenschlicher Situationen aus der Perspektive der Sozialwissenschaften, der Psychologie oder der Pädagogik verwendet. 37 Besonders in den 30er-Jahren nimmt das Interesse der

Vgl. hier insbesondere das Konzept des Karuna. Vgl. u. a. A. Ayer, Language, Truth and Logic, New York/Dover 1946/1952. Vgl. u. a. C. L. Stevenson, Ethics and Language, New Haven 1944. 35 T. Lipps, Ästhetik: Psychologie des Schönen und der Kunst: Grundlegung der Ästhetik, Erster Teil. Hamburg 1903, 198. Lipps unterscheidet drei Stufen des Mitgefühls: Die erste Ebene beinhaltet generelles Mitgefühl, wenn die Form eines Objekts eine Aktivität hervorruft. Auf der zweiten Ebene vollzieht sich natürliches Mitgefühl. Auf dieser Ebene ruft ein Objekt eine Aktivität hervor, die versucht, es in einen realen Kontext bzw. einen kausalen Zusammenhang einzuordnen. Objekte werden »vermenschlicht«. Auf der dritten, der höchsten Ebene reagieren wir auf einen echten menschlichen Ausdruck wie Gesten, Gesichtsausdrücke und Stimmlagen. 36 Interessanterweise hat das griechische Wort emp€qeia (empatheia) in seiner Originalsprache eine ganz andere Bedeutung und wird eher mit stark negativen Gefühlen wie Gehässigkeit oder Voreingenommenheit assoziiert. Im Griechischen findet sich demgegenüber das Wort sump€qeia, (»Sympathie«), d. i. die Fähigkeit eines Menschen, einen anderen Menschen von außen möglichst ganzheitlich zu erfassen und dessen Gefühle zu verstehen. 37 Ich spreche deshalb bei der Darstellung der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Theoreme auch von Empathie und nicht von Mitgefühl. Das Konzept der Einfühlung wurde von Edward Titchener als Übersetzungswort »empathy« in den englischsprachigen Forschungsraum eingeführt (E. Titchener, Experimental psychology of the thought processes, New York 1909), Stefan Liekam nimmt hingegen an, dass Einfühlung und Empathie als synonym bezeichnet werden können (S. Liekam, Empathie als Fundament pädagogischer Professionalität, Dissertation an der LMU München, Fak. für 33 34

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Einleitende Gedanken

Persönlichkeitspsychologie an Konzepten der Empathie zu. 38 Im klinisch-psychologischen Bereich wurde allen voran von Carl Rogers auf die Funktion und Bedeutung von Empathie aufmerksam gemacht. In den 70er- und 80er-Jahren begann man ihren Einfluss auf die Minderung von Gewaltbereitschaft 39 sowie die Förderung von prosozialem Verhalten 40 zu untersuchen. Ferner wurde eruiert, inwiefern sie die Fähigkeit und Bereitschaft, andere Meinungen zu verstehen und anzuerkennen, 41 beeinflusst. Das Interesse an diesen Themen hat bis heute angehalten. In aktuellen Fragestellungen werden derzeit sogar vermehrt soziokulturelle Faktoren mit einbezogen. 42 Einen aktuellen Überblick über das Begriffsspektrum der Empathie bietet u. a. James T. Hardee. 43 In den letzten Jahren finden sich darüber hinaus vermehrt Verhaltensstudien zur Empathie, obgleich keine von diesen Arbeiten einen politischen Anwendungsbezug sucht. 44 Etwas mehr Problembewusstsein für die politische Relevanz des Gefühlslebens zeigt der Artikel von Robert Jensen, welcher die politische Bedeutung von Schmerz und Genuss untersucht.45 Ferner wird seit der »Entdeckung« der Spiegelneuronen Empathie wieder vermehrt als Fundament von Kommunikation und sozialem Verhalten diskutiert. 46

Psychologie und Pädagogik, 2004; URL: http://edoc.ub.uni-muenchen.de/2514/1/ Liekam_Stefan.pdf (Stand 06/2013)). 38 G. W. Allport, Personality. A psychological Interpretation, New York 1937. 39 Vgl. u. a. S. -R. Song, Empathie und Gewalt. Studie zur Bedeutung von Empathiefähigkeit für Gewaltprävention, Berlin 2001. 40 E. O. Wilson, Sociobiology. The new synthesis, Cambridge 1975; N. Eisenberg (Hg.), The Development of Prosocial Behavior, New York 1982; E. Baston, Prosocial motivations. Is it ever truly altruistic?, in: L. Berkowitz (Hg.), Advances in Experimental social Psychology. Vol. 20, San Diego 1987, 65–122. 41 M. Emme, Der Versuch, den Feind zu verstehen. Ein pädagogischer Beitrag zur moralisch-politischen Dimension von Empathie und Dialog, Frankfurt am Main 1996. 42 Vgl. hierzu zunächst G. Trommsdorff, Kulturvergleich von Emotionen beim prosozialen Handeln, in: H. Mandl, M. Dreher u. H. J. Kornadt (Hg.), Entwicklung und Denken im kulturellen Kontext, Göttingen 1993, 3–25, sowie M. Kobayashi, Selbstkonzept und Empathie im Kulturvergleich. Ein Vergleich deutscher und japanischer Kinder, Konstanz 1995. 43 J. T. Hardee, An Overview of Empathy, The Permanente Journal, 7, 4, (2003), 1–10. 44 H. Gintis, S. Bowles, R. Boyd und E. Fehr, Explaining altruistic behavior in humans, Evolution and Human Behavior, 24, (2004), 153–172. 45 R. Jensen, The Politics of Pain and Pleasure, in: Counterpunch (3/20/02). 46 Eine emotional-soziale Perspektive liefert folgender Artikel: J. Decety, Mirrored Emotion, Interview, The University of Chicago Magazine, 94, 4, (2006), 1–9.

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Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht

Darüber hinaus gibt es interessante neurologische Arbeiten zum Empathiephänomen u. a. von António Damásio. 47 Insgesamt wird der Bedeutung der Empathie für das moralische Handeln im öffentlichen Raum eher wenig Beachtung geschenkt. 48 In der Psychologie findet sich eine Vielzahl von Arbeiten zur Bedeutung der Empathie für das therapeutische Gespräch. Dabei wird sie als wesentliches Element einer gelungenen Kommunikation interpretiert. 49 Reinhard und Anne-Marie Tausch betonen beispielsweise, dass Achtung, Einfühlung, Mitgefühl und Geordnetheit zu einer Minderung von Ängsten und damit zur inneren Klärung und zu einer neuen Perspektivenfindung führen.50 Mit dem zunehmenden Interesse der Sozialwissenschaften (insbesondere in den 60er-Jahren) gehen weitere Begriffsunterscheidungen einher. Ziel der nun entstehenden Ausdifferenzierung des Begriffsfelds ist es, den Prozess und die Komplexität der Einfühlung immer genauer beschreiben und empirisch untersuchen zu können. Der Nachteil dieser Flut neuer Einzelbegriffe besteht darin, dass wir weiter denn je von einer einheitlichen Definition oder einem übereinstimmenden Verständnis von Mitgefühl entfernt sind. Burghard Gassner 51 sieht einen der Gründe für diese begriffliche Aufspaltung darin, dass Empathietheorien gleichermaßen pädagogische Anleitungen als auch empirische Forschungsarbeiten umfassen. Ferner geht die Fähigkeit zur Empathie auf komplexe Entwicklungs- und Erziehungsfaktoren 52 zurück und kann deshalb nicht auf die ein oder andere S. Preston, A. Bechara, H. Damásio, T. J. Grabowski, R. B. Stansfield, S. Mehta und A. R. Damásio, The Neural Substrates of Cognitive Empathy. Social Neuroscience 2, 3– 4, (2007), 254–275. 48 Eine aktuelle Ausnahme findet sich bei Arno Gruen (Der Verlust des Mitgefühls. Die Politik der Gleichgültigkeit, München 1997); als Pendant dienen die moralphilosophischen Ansätze von David Hume, Annette Baier und Richard Rorty. 49 Vgl. C. R. Rogers, Client-centred Therapy, Boston 1951, R. Tausch, A. Tausch, Gesprächspsychotherapie, Göttingen 1979. 50 R. Tausch, Achtung und Einfühlung, in: Pädagogik, 11, (1999), 38–41. 51 Für die folgenden begrifflichen Unterscheidungen war die detaillierte und präzise Darstellung bei Burghard Gassner von entscheidender Hilfe (B. Gassner, Empathie in der Pädagogik. Theorien, Implikationen, Bedeutung, Umsetzung. Dissertation an der Universität Heidelberg 2006 (Deutsche National Bibliothek. URN (NBN): urn:nbn:de: bsz:16-opus-72249), 13–25). 52 Eine entwicklungspsychologische Untersuchung der Frage, ob Mitgefühl und Empathie angeboren oder anerzogen sind, findet sich bei Cordelia Volland (Mutter-Kind-Beziehungsqualität als Entwicklungsbedingung von Empathie und prosozialem Verhalten in der Kindheit, Regensburg 1995). 47

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Einleitende Gedanken

Bedeutung festgelegt werden. 53 Dennoch sollen im Folgenden einige wichtige Unterscheidungen aufgezeigt werden: Eine erste phänomenologisch-psychologische Beschreibung des Begriffsfeldes »Mitgefühl« findet sich bei Philipp Lersch, welcher es zu den Gefühlsregungen des »Füreinanderseins« zählt. Er unterscheidet insbesondere zwischen Mitgefühl, Nacherleben und Gefühlsansteckung. Ähnlichkeiten sieht er wiederum zwischen dem Mitgefühl, der Grausamkeit, der Schadenfreude, dem Neid sowie der Herzlichkeit. 54 Sehr kontrovers diskutiert wird der Zusammenhang zwischen der Gefühlsansteckung (wie sie bereits bei Säuglingen beobachtet werden kann) 55 und der Empathie (im Sinne einer reflektierten Sozialhandlung). Befürworter dieses Zusammenhangs sehen in der Gefühlsansteckung eine Vorform der Empathie. Beobachtbar ist diese »angeborene Empathie« in dem natürlichen Verständnis zwischen Mutter und Neugeborenem. Nach Ansicht mancher Erzieher und Psychologen geht diese Fähigkeit u. a. durch kulturelle Einflüsse in den ersten beiden Lebensjahren verloren und wird dann durch eine lediglich kognitive Form der Empathie ersetzt. 56 Gegner einer solchen Deutung lehnen eine Nähe zwischen Gefühlsansteckung und Empathie strikt ab, weil Letztere immer eine sozial-reflektierte und bewusste Handlung beinhalte. 57 »So gehen einige Empathietheorien davon aus, dass Empathie zweckmäßige existenzielle Handlungsweisen bewirkt, indem sie beispielsweise prosoziale Handlungen aufgrund eines sozioemotionalen Rollenverständnisses oder des Entstehens einer Ich-Identität in einem akzeptierten sozialen Kontext erzeugt. Andere Theorien nehmen an, dass Empathie mehr den erzieherischen Handlungsprozess einer erziehenden Person in günstiger Weise bestimmt. Nach diesen Theorien soll die empathische Handlungsweise bewirken, dass die zu erziehende Person hierbei eine mitmenschliche Form der Orientierung für ihren Selbstfindungsprozess und ihr Handeln erhält und damit auch wichtige existenzielle Faktoren einbezieht.« (B. Gassner, Empathie in der Pädagogik. Theorien, Implikationen, Bedeutung, Umsetzung, a. a. O., 15 f.) 54 Philipp Lersch bezieht sich mit diesen Unterscheidungen klar auf Max Scheler (vgl. Ph. Lersch, Aufbau der Person, München 1962, 257–262). Ich werde hierauf weiter unten im Zusammenhang der Begriffsbestimmung genauer eingehen. 55 Vgl. u. a. D. Stern, The First Relationship. Infant and Mother, Cambridge 1977. 56 Vgl. A. Gruen, Falsche Götter. Über Liebe, Hass und die Schwierigkeit des Friedens, Düsseldorf/Wien/New York 1991. Er deutet den Verlust an Mitgefühl als Ursache für die fehlende individuelle Kommunikationsbereitschaft, die Erfolglosigkeit und die steigende Gewaltbereitschaft in heutigen Industriegesellschaften (ebd., 14 ff.). 57 Vgl. hierzu die entwicklungspsychologischen Ansätze zur Empathie; vgl. auch Gassner, ebd., 16 f. 53

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Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht

Eine weitere Begriffsverwandtschaft findet sich zwischen Sympathie und Empathie. Erstere tritt insbesondere dann auf, wenn der Einfühlende eine große Ähnlichkeit zur Situation oder Persönlichkeit des Erleidenden empfindet. Robert L. Katz warnt jedoch vor einer Gleichsetzung dieser beiden Begriffe, denn in der Sympathie zeigt sich, dass der Mitfühlende durch die Erinnerung an ähnliche Erlebnisse den Unterschied zum Erleben des Anderen aus den Augen verliert. 58 In der Pädagogik und Psychologie wird Mitgefühl häufig als eine spezifische Form der Empathie gesehen. 59 Als negativ wird jedoch bemerkt, dass Mitgefühl in der Geistes- und Philosophiegeschichte nicht immer eindeutig positiv bewertet wurde. 60 Außerdem würde sich Mitgefühl auf eine große Bandbreite von Gefühlen beziehen, z. B. auch auf die Freude, Wut oder Verbitterung. 61 Von manchen Empirikern wird sogar behauptet, im Mitgefühl habe die Person eigentlich nur ihre eigenen Gefühle im Blick, welche sie mit denen der leidenden Person vergleiche. 62 Weiterhin wird eine Parallelität zwischen Empathie und Distress gezogen. Bei diesem Gefühlsphänomen liegt die Aufmerksamkeit des Beobachters bei sich selbst: Der Anblick des Leids löst Unruhe und Anspannung aus. Nancy Eisenberg und Richard Fabes vermuten, dass

D. i. Ignoranz des Fremdpsychischen. Vgl. R. L. Katz, Empathy: Its Nature and Uses, London 1963. Buchheimer unterscheidet die beiden Begriffe folgendermaßen: Sympathie setzt Ähnlichkeit und Verstehen bereits voraus, wohingegen Empathie Verstehen von Andersartigkeit ermöglichen kann (A. Buchheimer, The Development of Ideas about Empathy, in: Journal of Counselling Psychology, 10, (1963), 61–70). Wolfgang Mertens sieht bei der Sympathie die Gefahr einer Gefühlsverschmelzung, während die Empathie einen gewissen reflektierenden Abstand ermöglicht (W. Mertens, Einführung in die psychoanalytische Therapie, Bd. 2, Stuttgart 1993). 59 Vgl. N. Eisenberg u. R. A. Fabes, Prosocial behavior and empathy: a multimethod developmental perspective, in: M. S. Clark (Hg.), Prosocial Behavior, Newbury Park 1991, 34–61; W. Friedlmeier, Entwicklung von Empathie, Selbstkonzept und prosozialem Handeln in der Kindheit, Konstanz 1993, 34–35; D. Ulich u. C. Volland, Erfassung und Korrelate von Mitgefühl bei Erwachsenen, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 30, 2, (1998), 89–97, auch zit. in: Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 18. 60 Vgl. in diesem Kapitel weiter oben u. a. zu den Stoikern und zu Nietzsche. 61 Vgl. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 18. 62 Vgl. D. Ulich u. P. Mayring, Psychologie der Emotionen, Stuttgart/Bern/Köln 1992, 142. 58

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Einleitende Gedanken

Distress eine »empathische Überreaktion« darstellt. 63 Wolfgang Friedlmeier unterscheidet hingegen zwischen Distress als selbstbezogener emotionaler Reaktion aufgrund einer überreaktiven Empathie einerseits und Distress als Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit andererseits. 64 Auch Empathie und Projektion werden von manchen Forschern als wesensverwandt beurteilt. Projektion bedeutet in diesem Fall, dass durch den Anblick einer leidenden Person beim Betrachter spezifische Gefühle ausgelöst werden und auf den anderen projiziert werden. 65 Das Problem besteht darin, dass die projizierende Person nur ihre eigenen Gefühle projiziert und dadurch nichts mit einem emotionalen Verstehen der Emotionen der anderen Person zu tun hat. Eine Verbindung zwischen Empathie und Identifikation wird von Freud angedeutet. Dagegen wurde eingewandt, dass hinter der Identifikation der Wunsch steht, sich mit der anderen Person zu vereinen, wohingegen bei der Empathie eine gewisse Distanz immer bestehen bleibt. 66 Eine weitere Begriffsverwandtschaft besteht zwischen Perspektivenwechsel und Empathie. 67 Solche Theorien sehen die Empathie als kognitive Fähigkeit der Rollen- und Perspektivenübernahme. Das heißt, eine Person versetzt sich gedanklich in die Situation einer anderen, um auf diese Weise den emotionalen Zustand nachvollziehen zu können. 68 Entwicklungspsychologische Experimente legen nahe, dass N. Eisenberg u. R. A. Fabes, Prosocial behavior and empathy: a multimethod developmental perspective, a. a. O., 1991, 34–61. 64 W. Friedlmeier, Entwicklung von Empathie, Selbstkonzept und prosozialem Handeln in der Kindheit, Konstanz 1993. 65 Vgl. U. Bronfenbrenner, J. Harding u. M. Gallwey, The Measurement of Skill in: Social Perception, in: McClelland, Baldwin, Bronfenbrenner u. Strodtbeck (Hg.), Talent and Society, Princeton 1958; L. J. Cronbach, Process Affecting Scores or »Understanding of Others« and »Assumed Similarity«, in: Psychological Bull, 52, 1955, 177–193. Eine Gegenposition nimmt ein R. F. Dymond, Personality and Empathy, in: Journal of Counselling Psychology, 14, (1950), 343–350. 66 Dymond, ebd., 343 f. 67 Burghard Gassner zeigt weitere Begriffsverwandtschaften auf, so z. B. zwischen Empathie und Schadenfreude, Empathie und Intuition sowie Empathie und Partialsentiment (bei letzterem Begriff handelt es sich um eine Neuschöpfung von Gassner selbst). Er bezeichnet damit eine zweckmäßige Einengung des Empathiebegriffs (vgl. B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 22–24). 68 Vgl. u. a. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt am Main 1973 (org. 1934); J. Piaget u. B. Inhelder, Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde, Stuttgart 1971 (org. 1947); J. Piaget, Psychologie 63

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Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht

Kinder vor dem 7. Lebensjahr ihren eigenen Wahrnehmungshorizont nicht übersteigen können und deshalb eine Perspektivenübernahme nicht möglich ist. Diese Fähigkeit bildet sich erst zwischen dem 7. und 12. Lebensjahr heraus. 69 Natürlich kann eine solche kognitive, d. i. affektiv abgelöste Perspektivenübernahme sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen auch strategisch genutzt werden. 70 Unmittelbar an solche begrifflichen Unterscheidungen knüpft die Frage an, inwiefern Perspektivenwechsel und Empathie als kognitive bzw. emotionale Leistungen begriffen werden. 71 Interessant an dieser Diskussion ist, dass am Beispiel der Empathieentwicklung häufig ein Exempel statuiert wird, dass Kleinkinder einfache Kognitionsleistungen vollbringen oder auch nicht vollbringen können bzw. inwiefern kognitive und emotionale Entwicklung voneinander abhängen. Auf diese Problematik stürzte sich insbesondere die Kognition-Emotion-Debatte 72, welche in den 90er-Jahren durch den Psychologen Daniel Goleman neu entfacht wur-

der Intelligenz, Zürich 1966; D. Geulen (Hg.), Perspektivenübernahme und soziales Handeln, Frankfurt am Main 1982. 69 Andere Arbeiten zeigen jedoch, dass bereits 2-jährige Kinder zu einer solchen Abstraktionsleistung imstande sind (vgl. u. a. Gareth Matthews, Philosophy of Childhood, Cambridge1994). 70 J. Dunns, The Beginning of Moral Understanding: Development in the Second Year, in: J. Kagan u. S. Lambs (Hg.), The Emergence of Morality in Young Children, Chicago 1987, 91–112; L. Krappmann u. H. Oswald, Über die Schwierigkeit zu helfen. Ein Bericht aus der Kinderwelt, in: Pädagogik, 40, 6, (1988), 53–57; J. A. Strayer, A Naturalistic Study of Empathic Behaviors and Their Relation to Affective States and PerspektiveTaking Skills in Preschool Children, in: Child Development, 51, (1980), 821; M. R. Yarrow u. C. Z. Waxler, Dimensions and Correlates of Prosocial Behavior in Young Children, in: Child Development, 47, (1976), 118–125. 71 Gisela Steins und Robert Wicklund (Zum Konzept der Perspektivenübernahme. Ein kritischer Überblick, in: Psychologische Rundschau, 44, 4, (1993), 226–239) unterscheiden a. Perspektivenwechsel als visuell-räumlichen Vorstellungsprozess (u. a. auch bei Piaget), b. konzeptionelle Perspektivenübernahme, d. h., die Situation einer Person wird vor ihrem gesamten Lebensumstand erfasst, und c. Perspektivenübernahme als affektiver Prozess (z. B. bei H. Borke, Interpersonal Perception of young Children. Egocentrism or Empathy?, in: Development Psychology, 5, (1971), 263–269); auch zit. in: B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 20 f. Gassner selbst schlägt vor, Perspektivenübernahme von der Empathieforschung abzugrenzen (vgl. ebd.). 72 Eine frühe entwicklungspsychologisch orientierte Studie, welche den Zusammenhang von Kognition und Emotion zu Erfassen sucht, ist: R. Kaufmann-Hayoz, Kognition und Emotion in der frühkindlichen Entwicklung, Berlin 1991.

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Einleitende Gedanken

de. In seinem 1995 erschienen Buch Emotional Intelligence 73 klagt er einen Verlust an emotionaler Intelligenz an und macht diesen für das Ansteigen sozialer Probleme verantwortlich. In der Nachfolge von Golemans Veröffentlichung versucht Stanley Greenspan 74, die Dichotomie von Kognition und Emotion (analytischer und emotionaler Intelligenz) endgültig aufzulösen. 75 Seither gibt es unterschiedlichste Ansätze zu dieser Thematik, welche insbesondere zwischen alternativen Theorien der Psychologie, Neurologie und Pädagogik ausgetragen werden. 76 In der Empathieforschung wird diese Dichotomie am deutlichsten, wenn es darum geht, ob Empathie eine kognitive oder affektive Fähigkeit ist. Auch Doris Bischof-Köhler 77 diagnostiziert die Problematik, dass Empathie entweder rein affektiv oder rein kognitiv begriffen wird. Dabei trifft sie die grundlegende Unterscheidung zwischen ausdrucksvermittelnder, affektiver Empathie (hergeleitet über die Gefühlsansteckung) und situationsvermittelnder, kognitiver Empathie (hergeleitet über die Perspektiveninduktion). 78 Aktuelle Darstellungen sehen die Empathie vorwiegend als kognitive Reaktion, welche sich u. a. durch eine eindeutige Perspektivenübernahme auszeichnet. In solcher Weise sind auch die Untersuchungen von Helene Borke 79 zu interpretieren, welche Empathie als die Fähigkeit bezeichnet, die Perspektiven und Gedanken eines anderen zu erD. Goleman, Emotional Intelligence, Why it can matter more than IQ, New York 1995. 74 S. I. Greenspan u. B. L. Benderly, The Growth of the Mind and the Endangered Origins of Intelligence, Massachusetts, Reading, 1997. 75 Auf diese Fragestellung werde ich im Kapitel zur Dichotomie zwischen Kognition und Emotion näher eingehen. An dieser Stelle soll nur gezeigt werden, inwiefern die unterschiedliche Deutung und Erklärung von Empathie in diese Debatte hineinreicht. 76 Vgl. den umfassenden Überblick auch im Zusammenhang mit dem Leib-Seele-Problem in: H. Goller, Emotionspsychologie und Leib-Seele-Problem, Stuttgart 1992, sowie die allgemeine Verortung der Kognition-Emotion Debatte in der Emotionspsychologie in S. Vogel, Emotionspsychologie. Grundriss einer exakten Wissenschaft der Gefühle, Opladen 1996. Darüber hinaus findet sich eine aktuelle Zusammenstellung zu dieser Thematik in: T. Dalgleish u. M. J. Power (Hg.), Handbook of Cognition and Emotion. A Bit of History, Chichester, UK, 1999. 77 Zu dieser Einteilung und kritischen Beurteilung vgl. D. Bischof-Köhler, Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge sozialer Kognition, Bern 1989. 78 D. Bischof-Köhler, ebd., 161. 79 H. Borke, Interpersonal Perception of young Children. Egocentrism or Empathy?, a. a. O., 263–269. 73

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Phänomenologische Arbeitsweise, Argumentationsverlauf und Literaturbericht

kennen und zu verstehen. Norma Feshbach 80 zeigt in seinem DreiKomponentenmodell, dass die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme der Empathie vorausgeht. 81 Daraus wird geschlossen, dass empathisches Verhalten erst im späteren Verlauf der Kindheitsentwicklung, d. h. frühestens ab dem 6. oder 7. Lebensjahr, auftreten kann. Eine solche Deutung wurde jedoch von anderen Untersuchungen widerlegt, welche die Ergebnisse unterschiedlich interpretieren. 82 Die affektive Deutung der Empathie ist dagegen älter. Sie findet sich u. a. bei Freud, der sich an das darwinistische Affektverständnis anschließt. 83 Lipps folgt dieser affektiven Interpretation des Mitgefühls und sieht sie als stellvertretende Affektreaktion auf die Notlage eines anderen. 84 Auch heute sind verstärkte Tendenzen zu beobachten, Mitgefühl wieder in die Nähe der Gefühlsansteckung zu rücken, um sich so von rein kognitivistischen Empathietheorien abzugrenzen. 85 Beispielsweise sieht Friedlmeier Empathie als eine affektive Reaktion, weil sie ein stellvertretendes Miterleben bedeutet. 86 Insgesamt stellt sich, mit N. D. Feshbach, Parental empathy and child adjustment/maladjustment, in: N. Eisenberg u. J. Strayer (Hg.), Empathy and its development, Cambridge 1987, 146–162. 81 Auch in der folgenden Veröffentlichung wird von ähnlichen Voraussetzungen ausgegangen: F. L. Gove u. D. P. Keating, Empathic role-taking precursors, Developmental Psychology, 15, (1979), 594–600. 82 Vgl. u. a. C. Zahn-Waxler u. M. Radke-Yarrow, The origins of empathic concern, Motivation and Emotion, 14, 2, (1990), 107–130; C. Zahn-Waxler, M. Radke-Yarrow, W. Wagner, Development of concern for others, Developmental Psychology, 28, 1, (1992), 126–136. 83 S. Freud, Drei Abhandlungen der Sexualtheorie, Frankfurt am Main 1971. 84 T. Lipps, Das Wissen von fremden Ichen, in: T. Lipps (Hg.), Psychologische Untersuchungen, Leipzig 1907, 694–722. Vgl. auch die kritischen Stellungnahmen dazu von Max Scheler (Wesen und Formen der Sympathie, Bern 1973 (1912) und Edith Stein (Neues zum Problem der Einfühlung, Freiburger Dissertation, 1917). 85 Eine solche Annäherung von Empathie an die Gefühlsansteckung wird u. a. in folgendem Artikel proklamiert: M. L. Hoffman, Development of prosocial motivation: Empathy and guilt, in: N. Eisenberg, (Hg.), The development of prosocial behavior, New York 1982, 281–338. 86 W. Friedlmeier, Entwicklung von Empathie, Selbstkonzept und prosozialem Verhalten in der Kindheit, Konstanz 1993, 33. Als stellvertretendes Miterleben wird die Empathie auch von folgenden Forschern beschrieben: M. L. Hoffman, Moral internalization, parental power, and the nature of parent-child interaction, in: Development Psychology, 11, (1975), 228–239; N. D. Feshbach, Studies of empathic bahavior in children, in: B. A. Maher (Hg.), Progress in experimental personality research, New York 1978, 1–47; C. D. Baston and J. S. Coke, Empathy. A source of altruistic motivation for helping?, in: J. P. Rushton u. R. M. Sorrentino (Hg.), Altruism and helping behavior. 80

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Blick auf die unterschiedlichen Interpretationen von frühkindlichem Verhalten, die Frage, warum es interindividuelle Unterschiede im Grad der Empathieentwicklung gibt – und dies sogar bevor die sonst vorausgesetzten kognitiven Grundbedingungen erfüllt sind. 87 Es wird vermutet, dass diese Abweichungen der emotionalen Reaktionen auf Unterschiede in der emotionalen Organisation des Individuums zurückzuführen sind. Es scheint daher, dass die affektiven Theorien frühe Erscheinungsformen von Empathie besser erklären und vorhersagen als einseitig kognitive Theorien. 88 Natürlich gibt es auch Positionen, welche zwischen den beiden Standpunkten zu vermitteln suchen. So beschreibt Bischof-Köhler in ihrem experimentellen Ansatz die Entwicklung von Empathie als Wirkungsgefüge, d. i. als Verschränkungs- bzw. Ablösungsprozesse von Gefühlsansteckung und Perspektiveninduktion. 89 c.

Begriffsbestimmung und Literaturbericht: Vernunft, Rationalität und Kognition

Aufgrund des interdisziplinären Anspruchs bemüht sich diese Arbeit um eine Standortbestimmung im Kontext verschiedener Disziplinen. Im Allgemeinen lassen sich – obgleich eine disziplinübergreifende Begriffsvielfalt (oftmals auch Vermischung) zu verzeichnen ist – bestimmte Schwerpunkte und Häufigkeiten von Begriffsverwendungen wie folgt beobachten: Die Philosophie spricht vornehmlich von Vernunft, Verstand oder auch vom Denken, in neuerer Zeit jedoch immer weniger von Rationalität. Die Sozialwissenschaften bedienen sich vorwiegend des Begriffs der Rationalität, die Psychologie und Pädagogik sprechen hingegen von Kognition. Natürlich gibt es zwischen den Begriffen (bzw. dem je Gemeinten) Überschneidungen. Darin zeigt sich jedoch auch ein Bemühen um Abgrenzung. Ich werde mich im Folgenden um eine Übersicht über die jeweiligen Begrifflichkeiten und damit

Social, personality and developmental perspectives, Hillsdale 1981; M. Kobayashi, Selbstkonzept und Empathie im Kulturvergleich, Konstanz 1995. 87 E. Fremmer-Bombik u. K. E. Grossmann, Frühe Formen empathischen Verhaltens, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 23, 4, (1991), 299–317. 88 Vgl. dazu C. Volland, Mutter-Kind-Beziehungsqualität, a. a. O., 5. 89 D. Bischof-Köhler, Spiegelbild und Empathtie, a. a. O., 161 ff.

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einhergehenden Grundfragen bemühen, um schließlich daraus die Argumentation und Begrifflichkeit abzuleiten. Vernunft Mit Vernunft als philosophischem Fachbegriff wird die Fähigkeit des menschlichen Geistes bezeichnet, von einzelnen Beobachtungen und Erfahrungen auf universelle Zusammenhänge in der Welt zu schließen, deren Bedeutung zu erkennen und danach zu handeln – hierzu gehört auch die Einschätzung der eigenen Lebenssituation. Die Vernunft gilt als das oberste Erkenntnisvermögen, das den Verstand kontrolliert und diesem Grenzen setzt bzw. dessen Beschränkungen erkennt. 90 Neben dieser menschlich-subjektiven Vernunft 91 propagieren einige Philosophen die Existenz einer objektiven Vernunft 92, d. h. ein die Welt durchwaltendes und ordnendes Prinzip. Zu diesen Philosophen gehören u. a. Heraklit, Plotin und Georg W. F. Hegel. Der Begriff »Verstand« wird heute in Abgrenzung zur Vernunft dann verwendet, wenn ein Phänomen gesondert bzw. abgetrennt von einem größeren Zusammenhang betrachtet wird. Bei Platon findet sich die Unterscheidung zwischen noesis und dianoia. Noesis wird dabei als das »intuitive Schauen der Ideen« bezeichnet, d. h. das Vermögen, das Seiende in seinem Wesen zu erkennen. Dianoia gilt hingegen als die begriffliche, methodisch-diskursive Weise der Erkenntnis. 93 Die lateinische Terminologie übersetzte noesis mit intellectus und dianoia mit ratio. Bei Meister Eckhart und Martin Luther wurde wiederum intellectus mit Verstand und ratio mit Vernunft gleichgesetzt, wobei der Verstand (intellectus/noesis) als die Wesenserkenntnis der diskursiv und argumentativ operierenden Vernunft (ratio/dianoia) übergeordnet war. 94 Die Aufklärung basiert grundsätzlich auf dem Gedanken, die Vernunft sei imstande, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die VernunfM. Bremer u. a., Art. »Vernunft, Verstand«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, 748–863. 91 D. i. theoretische oder epistemologische Vernunft. 92 D. i. metaphysische oder kosmologische Vernunft im Sinne einer Weltvernunft, einem Weltgeist, dem logos oder Gott. 93 Vgl. die Ideenlehre des mittleren Platon, insb. in der Politeia. 94 M. Bremer u. a., Art. »Vernunft, Verstand«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, 748–863. 90

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treligion soll die dogmatische Unterdrückung und den Autoritätsglauben der christlichen Religion überwinden und Freiheit und Wohlstand für alle bringen. Dem gegenüber steht der Empirismus (z. B. Hume), der eine Erkenntnismöglichkeit a priori, d. h. ohne Erfahrungen, bestreitet. 95 Kant führte Ende des 18. Jahrhunderts schließlich die Ansätze des Rationalismus und des Empirismus in seiner kritischen Philosophie zusammen. Mit ihm wird die Vernunft über den Verstand gesetzt. Den Verstand versteht Kant als das an Sinneseindrücke gebundene, aposteriorisch arbeitende Erkenntnisvermögen. Die Vernunft teilt er in die reine theoretische und praktische Vernunft. Hegel teilt zwar Kants Einsicht, dass die Vernunft die Substanz der Freiheit darstellt, wirft ihm jedoch vor, dabei »subjektiv« zu verfahren, d. h., er gesteht nur dem Subjekt zu, die wahre Erscheinung von den Dingen trennen und erkennen zu können. Aber er kann nicht diese selbst erkennen, d. h., wie sie an sich sind. Um darüber hinauszukommen, braucht es, laut Hegel, eine absolute Vernunft. 96 Die Schrecken des 20. Jahrhunderts (Holocaust, Imperialismus) führten die Mitglieder der Frankfurter Schule zu einer modernen Vernunftkritik. Im Zentrum standen dabei der Wissenschaftsbetrieb und seine Faktengläubigkeit, der durch den Positivismus dominiert wurde. Als aktuelle Weiterentwicklung dieser Vernunftkritik ist Habermas’ »Rettungsversuch der Moderne« zu deuten, indem er der »instrumentellen Vernunft« (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer) die »kommunikative Vernunft« gegenüberstellt. Selbstverständlich ist die Kritik am Vernunftglauben, begonnen bei Nietzsche, durch die Postmoderne und den Poststrukturalismus immer lauter geworden. Sie werfen den herkömmlichen »wissenschaftlichen« Unterscheidungen zwischen »vernünftig« und »unvernünftig« vor, dadurch bestimmte Machtpraktiken und Herrschaftsstrukturen zu verdecken. Auf diese Weise werden »vernünftig« mit »logozentrisch«, europäisch und maskulin gleichgesetzt. Andere Sichtweisen würden hierdurch marginalisiert und gesellschaftliche Minderheiten, oder auch ganze Kulturen und Geschlechtergruppen, unterdrückt. 97 J. L. Bermudez u. A. Millar (Hg.), Reason and Nature: Essays in the Theory of Rationality, Oxford 2002. 96 M. Bremer u. a., Art. »Vernunft, Verstand«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, 748–863. 97 M. Bremer u. a., Art. »Vernunft, Verstand«, in: Historisches Wörterbuch der Philoso95

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Rationalität Im Gegensatz zum Begriff der Vernunft entstammt der Begriff der Rationalität der lat. Wortfamilie reor, ratus sum, d. i. rechnen, berechnen. Aus diesem Grund wohnt dem Wort der Rationalität immer der Beigeschmack des Rechnen- und Kalkulieren-Könnens bei. Diese Assoziation verstärkt sich in der Philosophie der Neuzeit insbesondere durch Hobbes, welcher die Vernunft (reason) tatsächlich mit »Rechnenkönnen« beschreibt. 98 Dieses operationale Vernunftverständnis beeinflusst schließlich die gesamte empiristische Tradition. 99 Nichtsdestotrotz gibt es der Übersetzung folgend eine gemeinsame Wurzel von Rationalität und Vernunft. Denn Meister Eckhart übersetzte das lat. Wort ratio zumeist mit dem Begriff Vernunft. Im deutschen Sprachraum hat sich aus diesem Grund, insofern von den höchsten menschlichen Denk- und Erkenntnisvermögen gesprochen wird, das Wort »Vernunft« gegenüber der Rationalität durchgesetzt. 100 Dennoch breitete sich der Begriff des animal rationale bis ins philosophische Gedankengut des 19. Jahrhunderts aus. Entscheidend für die Beständigkeit des Begriffs der Rationalität war u. a. Cicero, welcher diese lateinische Übersetzung für die aristotelische anthropologische Bezeichnung des zoon logon echon einführte. Das frühe Christentum plädierte für eine weitere Präzisierung, nämlich zwischen rationalitas und rationabilitas. Kant greift diese Unterscheidung auf und propagiert, dass der Mensch zwar als ein vernunftfähiges Tier geboren wird (animal rationabile), aus sich selbst aber erst durch den Gebrauch der Vernunft ein vernünftiges Tier machen muss (animal rationale). 101 Mit dem Satz »Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will« 102 bekennt Max Weber die themenspezifisch begrenzte Wirksamkeit der Rationalität. Weber unterscheidet grundlegend zwiphie, Bd. 11, Basel 2001, 748–863; P. K. Moser (Hg.), Rationality in Action. Cambridge, UK, 1990; S. Stich, The Fragmentation of Reason, Cambridge, MA, 1990. 98 T. Hobbes, Leviathan, I, 5, in: E. Curley (Hg.), Leviathan, with selected variants from the Latin edition of 1668, Indianapolis 1994. 99 R. Specht, Die Vernunft des Rationalismus, in: H. Schnädelbach (Hg.), Rationalität, Frankfurt am Main 1984, 70–93. 100 Vgl. hierzu P. Prechtl u. F.-P. Burkhard, Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen, Stuttgart 1999, Rationalität, 491 f. 101 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a. a. O., A 315. 102 M. Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, 151;

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schen »Richtigkeitsrationalität«, »Zweckrationalität« und »Wertrationalität«. Natürlich reißt er hierdurch eine riesige Kluft zwischen die Bereiche Wissen und Glauben, Wissenschaft und Werterkenntnis, intellektuelle und praktisch-politische Orientierung. Weber ist sich der damit einhergehenden »Privatisierung der Werte« wohl bewusst. »[D]ie verschiedenen Wertvorstellungen der Welt [stehen] in unlöslichem Kampf miteinander […] dient [man] diesem Gott […] kränkt man einen anderen«. 103 Daraus folgt für ihn ein unaufhebbares Dilemma zwischen der Wertrationalität des sensitiven Menschen und den zweckrationalen Zwängen des Politikers. 104 Diese Verflachung des Denkens wird durch Scheler äußerst kritisch beurteilt. Die Reduktion auf einen »Geist des Kapitalismus und der Nützlichkeit verdrängt nicht nur die sozialen und geistigen, sondern auch die Lebenswerte« 105. Deshalb schlägt er vor, sich vom Neidund Konkurrenzprinzip abzuwenden und sich stattdessen auf die Solidarität zu besinnen. Ein solches Denken wertet diejenigen Güter auf, »die vital am wertvollsten sind, in wie großer Menge sie auch vorhanden sein mögen, wie z. B. Luft, Wasser, in gewissem Sinne Erde«. 106 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der »klassische Begriff« der Rationalität einer vielschichtigen Kritik ausgesetzt, weil er beispielsweise die Bindung an die verletzbare Leiblichkeit ausblende und zu einer technisierten »Totalverapparatung« des Daseins führe, Individualität zugunsten universaler Kategorien vernachlässige oder im Sinne einer rein technischen Optimierungslogik die Verfolgung beliebiger Zwecke, auch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, sanktioniere und optimiere. 107 Viele Philosophen interpretieren deshalb Ratiovgl. auch W. Schuchter, Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt am Main 1980. 103 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze, a. a. O., 608. 104 Die aktuelle Frage an Weber bleibt selbstverständlich, inwiefern eine »Wertefreiheit in der Wissenschaft« angesichts wissenschaftsethischer Fragen überhaupt noch zu vertreten ist. Immerhin lässt er hinter dem Appell, »sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn des eigenen Tuns« (M. Weber, Wissenschaft als Beruf, a. a. O., 608), eine letzte unhintergehbare Verantwortung vermuten. 105 »Nicht was man hat, sondern was man relativ zu anderen nicht hat […] wird als Wert für die Aufmerksamkeit hell gemacht« (M. Scheler, Der Formalismus der Ethik und die materiale Werteethik, Gesammelte Werke, Bern/München 1954 ff., Bd. 2 (1954), 282). 106 Ebd., 283. 107 Vgl. hier insbesondere die Rationalitätskritik der Frankfurter Schule (insb. von

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nalität als soziale Praktiken, welche den Ausschlusses von »irrational« Gewertetem ermögliche. Nichtsdestotrotz hat sich der Begriff der Rationalität insbesondere in den Sozialwissenschaften und manchen Bereichen der Philosophie durchgesetzt. 108 Zahlreiche analytische Philosophen haben in jüngerer Zeit systematische Ausarbeitungen eines Rationalitätsbegriffs versucht. Hierzu gehören neben vielen anderen, Karl-Otto Apel, David Gauthier, Herbert Schnädelbach, Wolfgang Kuhlmann, John Searle, Robert Nozick, Robert Audi, Robert Brandom und Julian Nida-Rümelin. Hier stellt sich jedoch ein ganz anderes Problem, das mit den Worten Joseph Agassis folgendermaßen zu beschreiben ist: »In unserer pluralistischen Gesellschaft stellt sich das Problem der Rationalität in ganz neuem Licht. Sobald das Problem der Möglichkeit von alternativen Theorien der Rationalität erwogen wird, explodiert dieses Gebiet […] geradezu von neuen Ideen und Problemen.« 109 Hans Lenk und Helmut Spinner resümieren 1989 sogar, die Rationalität sei zum »Modeausdruck« geworden, 110 und Schnädelbach meint, er habe längst den Begriff der Vernunft verdrängt. Das Hauptproblem stellen dabei die einseitigen Begrenzungen des Begriffs dar. Einige Autoren beschränken Rationalität auf formale Folgerungsverfahren oder einen effizienten Mitteleinsatz, während andere sie als substantielle Rationalität im Sinne einer Wertorientierung definieren. »Rationalität an sich und generell scheint kein einheitliches Konzept zu sein, wenn man über eine Kernintuition hinausgeht, die ungefähr dadurch umschrieben werden kann, dass der Ausdruck ›rational‹ sich irgendwie auf systematisierte Problemlösungsstrategien bezieht.« 111 Bei dem Versuch, eine Art »Liste« aktueller RationalitätsAdorno, Horkheimer), aber auch die Forderung der Postmoderne für eine Sensibilisierung für heteronome Strukturen und die Gefahr der Unterdrückung von Pluralität. 108 Die Inhalte der folgenden Darstellung verdanke ich in weiten Teilen: H. Lenk u. H. Spinner, Das Rationalitätsproblem. Rationalitätstypen, Rationalitätskonzepte und Rationalitätstheorien im Überblick. Zur Rationalitätskritik und Neufassung der »Vernunft heute«, in: H. Stachowiak (Hg.), Pragmatik. Handbuch Pragmatischen Denkens, Hamburg 1989. 109 J. Agassi, Das Problem der Rationalität, Conceptus 20, 1984, 101–105, hier 105; auch zit. in: H. Lenk u. H. Spinner, Das Rationalitätsproblem. Rationalitätstypen, Rationalitätskonzepte und Rationalitätstheorien im Überblick, a. a. O. 110 H. Lenk u. H. Spinner, Das Rationalitätsproblem. Rationalitätstypen, Rationalitätskonzepte und Rationalitätstheorien im Überblick, a. a. O., 1. 111 Ebd., 1.

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typen aufzustellen, kommen Lenk und Spinner auf nicht weniger als 22 verschiedene Begriffsbestimmungen. Sie schließen daraus u. a., dass eine Ein-Komponenten-Rationalität nicht mehr ausreichen kann, um deren Grundintention präzise zu erfassen. 112 Selbst dualistisch konstruierte Konzepte werden der Komplexität des Sachverhaltes nicht gerecht. Vielmehr müssen Rationalitätskonzepte als mehrdimensional beschrieben werden. Dabei werden Mischungen, Graduierungen, Kombinationsstrategien und Kompromisse zugunsten einer pragmatischen Annäherung an die Komplexität der Problematik in Kauf genommen. Eine rein philosophische Diskussion über eine reflexive Rationalität reicht längst nicht mehr aus, sondern muss in ein komplexes Gefüge aus Systemen, Wertgefügen und sozialen Zusammenhängen eingebettet bleiben. Als neuere Zugänge zur Rationalitätsproblematik werden fünf Hauptstränge unterschieden: a. der ökonomische Ansatz, b. der semantische Ansatz, c. der methodologische Ansatz, d. der pragmatische Ansatz und e. der kognitive Ansatz 113. Letzterer geht auf Spinner und Lenk selbst zurück, welche von der Notwendigkeit ausgehen, auch kognitionspsychologische Überlegungen einzubeziehen. Die dahinterstehende Annahme lautet, dass die Argumente der Vernunft nicht Rationalität konstituieren, sondern diese vielmehr die Wahl der gebrauchten Begründungsprädikate indiziert. 114 Aus den umlaufenden Rationalitätskonzeptionen werden schließlich vier Vernunftparadigmen destilliert: a. die instrumentelle Vernunft im Hinblick auf Erfolg, b. die reflexive Vernunft im Hinblick auf Rechtfertigung, Konsens, Kritik oder Selbstbezüglichkeit, c. die substantielle Vernunft im Hinblick auf Werte und schließlich d. die kognitive Vernunft im Hinblick auf das Wissen. 115 Habermas hält insbesondere der letzten Verknüpfung zwischen kognitiver Vernunft und Wissen entgegen, dass sich freilich RationaliEbd., 10 f. »Der kognitive Ansatz der neuentwickelten Rationalitätstheorie der Doppelvernunft führt zum pluralen Orientierungskonzept der ›operativen Vernunft‹, um unabhängig von der empirischen Erfolgs- und normativen Geltungsfrage rationalen Verhaltens […] die idealtypischen Orientierungsrichtungen […] zu erfassen.« (Ebd., 14.) 114 Damit wird auf die Diskrepanz zwischen effektiver Rationalität und argumentativer Rationalisierung bezug genommmen wie sie in der Psychologie von Leon Festinger ausgewiesen wurde. 115 Ebd., 17 f. 112 113

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tät nicht im Haben von Wissen erschöpfe, sondern es vielmehr darauf ankäme, wie sprach- und handlungsfähige Subjekte Wissen erwerben und verwenden. 116 Er versucht auf dieser Grundlage eine pragmatische Erklärung der epistemischen Auffassung von Rationalität entgegenzustellen und entwirft seine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Zweckrationalität und Verständigungsrationalität. 117 Trotz all dieser Bemühungen bleibt dem Rationalitätspluralismus eine »Krise der Vernunftkrisen-Theoreme 118 nicht erspart. Diese Krise hat sich schon jetzt auf alle Bereiche der Sozialwissenschaften ausgeweitet. Deshalb konstatiert Inglehart, dass nicht der Wertewandel an sich, sondern der ihm zugrundliegende Rationalitätswandel die wichtigste »stille Revolution« der Gegenwart sei. 119 Abschließend möchte ich kurz auf die Bedeutung der Rationalität in der politischen Bildung eingehen. Insbesondere Bernhard Sutor und Manfred Hättich haben an dem Begriff der »politischen Rationalität« im Sinne einer vernunftgeleiteten politischen Praxis gearbeitet. 120 Als Fazit wird propagiert, dass in der politischen Bildung keine Form der Verstandeskenntnis vernachlässigt werden dürfe. Umgekehrt lasse sich politische Rationalität nicht auf die Summe eines solchen instrumentalisierten Verständnisses beschränken, weil dies einer »positivistischen Halbierung« von Rationalität gleiche. Politische Rationalität gehe vielmehr »über kausale Erklärungsversuche, über Zweck-MittelRelationen und Prognosen hinaus, [um] die verstehende Interpretation und die argumentative Auseinandersetzung mit Normen, Werten, Überzeugungen und Sinnorientierungen [zu versuchen]. Erklären, 116 Vgl. J. Habermas, Zwecktätigkeit und Verständigung. Ein pragmatischer Begriff der Rationalität, in: H. Stachowiak, Pragmatik, a. a. O., 32 ff. Habermas setzt sich in dieser Darstellung eingehend mit dem Konzept von Karl Bühler auseinander. 117 An anderer Stelle habe ich Habermas’ Rationalitätskonzeption eingehend dargestellt. Aus diesem Grund verzichte ich an dieser Stelle auf eine Wiederholung. Vgl. hierzu B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, Freiburg 2013. 118 U. Eco, Über die Krise der Krise der Vernunft, in: Merkur 39, (1985), 530–535. 119 R. Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics. Princeton 1977. 120 D. Grosser, M. Hättich, H. Oberreuter, B. Sutor (Hg.), Politische Bildung. Grundlagen und Zielprojektionen für den Unterricht an Schulen, Stuttgart 1976, 30 ff.; B. Sutor, Philosophisch-anthropologische Grundlagen der Politischen Bildung, in: P. GutjahrLöser u. H.-H. Knütter (Hg.), Der Streit um die Politische Bildung. Was man von Staat und Gesellschaft wissen und verstehen soll, München 1975, 43–72; C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, Opladen 1994, 161 ff.

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Verstehen, Argumentieren bedürften einer gewissen Distanz zum Gegenstand und verantwortliche Urteilsbildung setze Freiheit im kommunikativen Denkprozess voraus.« 121 Kognition Ende der 70er-Jahre stand die Kognitionswissenschaft 122 vor dem Problem einer umfassenden Neubestimmung. Im Jahre 1979 stellte Jimmy Carter als Leiter der National Science Foundation schließlich die Frage, was denn genau die Kognitionswissenschaft ausmache. Daraufhin trat eine Kommission zusammen, welche aus den führenden Wissenschaftlern der Kognitionswissenschaften zusammengesetzt war, um ihren Abschlussbericht im Jahre 1983 vorzulegen. 123 Der Bericht ist in drei Teile unterteilt. In Teil 1 werden Beispiele kognitionswissenschaftlicher Forschungsbeiträge aufgeführt, welche sich inhaltlich in formalistische, empiristische und theoretische Beiträge unterteilen lassen. Teil 2 des Berichts beschäftigt sich mit der Frage, was die verschiedensten Beiträge miteinander verbindet, und kommt zu dem Ergebnis, dass sich alle Ansätze darum bemühen, Intelligenz bzw. intelligentes Verhalten zu verstehen. In diesem Sinne ist sie eine »allgemeine Theorie der Intelligenz«. Diese Beschreibung bleibt bis in die 90er-Jahre hinein gültig. 1994 bezeichnet Luger in seinem Lehrbuch Cognitive Science als »The Science of Intelligent Systems«. 124 Träger von Intelligenz können dabei sowohl Menschen als auch Maschinen sein. In Teil 3 des Berichts wird schließlich der Zweck bzw. das Ziel der Kognitionswissenschaft untersucht. Dabei geht es insbesondere um die Auslotung der Grenzen menschlicher kognitiver Leistungen bzw. wie und ob diese natürlichen Grenzen überschritten werden können. 1979 definieren Forman und Sigel »Cognition« als »an unobservable system of mental rules inferred from behavior suggesting that information has been organized in some manner that may or may not

C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, a. a. O., 162. Mit der folgenden Darstellung beziehe ich mich u. a. auf die Abschiedsvorlesung »Psychologie und Kognitionswissenschaft. Die kognitive Welle« von W. H. Tack, abgedruckt in: Psychologie der Kognition. Reden und Vorträge anlässlich der Emeritierung von W. H. Tack, Saarbrücken 2005, 155–170. 123 Research Briefings, Washington, DC, 1983. 124 G. F. Luger, Cognitive science: The science of intelligent systems, San Diego, CA, 1994. 121 122

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be consciously known.« 125 Dabei kann mit »rules« auch »structures« gemeint sein. Solche Prozesse können, aber müssen nicht selbst-referenziell ablaufen. 126 Heinz Mandl und Gunter Huber bezeichnen alle Prozesse der Informationsverarbeitung als kognitiv. 127 Hierzu gehören das Lernen, Speichern, Erinnern, Abstrahieren und Problemlösen. Damit geht der Begriff der Kognition weit über den Begriff des Wissens hinaus, weil kognitive Prozesse (manchmal stärker und manchmal schwächer) an eigentlich allen psychischen Tätigkeiten beteiligt sind. 128 Als Teilprozesse ausgewiesen werden Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern, Denken und Sprechen. 129 Da die Prozesse im Organismus ablaufen, können sie nicht auf eine externe Stimuluskonstellation reduziert werden. 130 Weil die Kognitionswissenschaft verschiedene Wissenschaftsgebiete vereinigt, wird sie oftmals auch als »Interdisziplin« bezeichnet. Insbesondere gehören hierzu die Psychologie, die Anthropologie, die Künstliche Intelligenz, die Erziehungswissenschaft, die Sprachwissenschaft, die Neurowissenschaft und die Philosophie. 131 Inhaltlich teilt sich die Kognitionswissenschaft in symbolorientierte und konnektionistische Ansätze. Verbindender konzeptioneller Kern bleibt jedoch für Werner Tack »die Vorstellung von informationsverarbeitenden Systemen, die zur Erreichung eines Zirkels auf Repräsentationen für Informationen operieren.« 132 Die Kognitive Psychologie hat sich Ende der 1950er-Jahre als eine Teildisziplin der Allgemeinen Psychologie entwickelt. Sie wurde dabei wesentlich durch die Informationstheorie beeinflusst. Häufig werden Kognitive Psychologie und Kognitionswissenschaft verwechselt: Die 125

G. E. Forman u. I. E. Sigel, Cognitive development: A life-span view, Monterey 1979,

4. 126 R. Kaufmann-Hayoz, Kognition und Emotion in der frühkindlichen Entwicklung, a. a. O., 6. 127 Auf diesen Schluss kommen mehrere einschlägige Fachbücher. Exemplarisch seien hier genannt: H. Mandl u. G. L. Huber (Hg.), Emotion und Kognition, München 1983, 3 ff.; sowie etwas später R. Kaufmann-Hayoz, Kognition und Emotion in der frühkindlichen Entwicklung, Berlin 1991, 6 ff. 128 H. Mandl u. G. L. Huber (Hg.), Emotion und Kognition, München 1983, 3 ff. 129 U. Neisser, Cognitive Psychology, New York 1967. 130 M. Moroz, The concept of cognition in contemporary psychology, in: R. J. Royce u. W. W. Rozeboom (Hg.), The psychology of knowing, New York 1972, 179–214. 131 Vgl. Tack, Psychologie und Kognitionswissenschaft, a. a. O., 158. 132 Vgl. ebd., 159.

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Einleitende Gedanken

Kognitionspsychologie untersucht die Kognitionen des Menschen. Dabei beschäftigt sich die Forschung vor allem mit jenen Zuständen und Prozessen, die zwischen der Reizaufnahme und dem daran anschließenden Erleben und Verhalten liegen. Hierzu zählen z. B. die Funktionsweisen neuronaler Repräsentation oder das angenommene Prinzip einer Interdependenz zwischen Intuition und Reflexion. Sie ist zwar eine an der Kognitionswissenschaft beteiligte Disziplinen, jedoch mittlerweile auch eine komplett eigenständige Forschungsrichtung der Psychologie. Für die Psychologie lässt sich spätestens seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts eine »kognitive Wende« beobachten. Die beiden Zugänge zu den »Inhalten« der Psychologie über Introspektion bzw. über die Beobachtung von Verhalten (Behaviorismus) führt zu dem Selbstverständnis der Psychologie als Sozial- bzw. als Verhaltenswissenschaft. Zwar sprach die Psychologie von Zielen, Absichten, Wissensinhalten etc., konnte aber keine direkten Aussagen dazu machen, sondern gebrauchte diese Ausdrücke als Hilfsmittel. Für »derartige gedankliche Konstruktionen über mentale Gegebenheiten, denen keine eigenständige Existenz zugesprochen wurde, bürgerte sich die Bezeichnung ›intervenierende Variablen‹ ein«. 133 Diese Sichtweise wurde durch die Kognitionswissenschaften massiv gestört, denn von nun an erhält Mentales einen »ontologischen Status«, ein »hypothetisches Konstrukt, dem eine Existenz zugesprochen wird, die die Ableitung neuer Hypothesen über andere Zugänge in anderen Kontexten ermöglicht«. 134 Tack gibt zu bedenken, dass sich diese Wende lediglich als »Welle« entpuppen werde. Denn schon jetzt hat sich ein sog. »new-wave-Reduktionismus« eingestellt. Insbesondere geht es dabei darum, dass neurophysiologische Befunde nicht ausschließlich als neuer zusätzlicher Zugang zu mentalen Gegebenheiten angesehen werden, sondern vielmehr als das Eigentliche, das in Zukunft zu erforschen sei. 135

133 134 135

Ebd., 161. Ebd., 161. Vgl. ebd., 169.

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2. Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl

2.1 Zur ideengeschichtlichen Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl »Gegen das Gemüt anzukämpfen ist schwer. Denn was es auch will, erkauft es um die Seele.« (Heraklit)

Wolfhart Henckmann fragt in seiner Abhandlung über Vernunft und Gefühl, welchen Vernunftbegriff wir unserem Selbstverständnis zugrunde legen, insofern wir unsere Sonderstellung in der Natur zu behaupten suchen. Oder anders gefragt: Was genau zeichnet das animal rationale aus? Ist es ein neopositivistisch reduzierter oder von Husserl wiederbelebter metaphysischer Vernunftbegriff? Oder handelt es sich gar um das Vernehmen der »Offenbarung Gottes«, wie es einst Friedrich H. Jacobi und Gottfried Herder gegen Kant gefordert hatten? Henckmann gibt zu bedenken, ob es nicht auch möglich sei, von einer »emotionalen Vernunft« oder einem »vernünftigen Gefühl« zu sprechen, wenn es darum ginge, auf »vernünftige Weise« zu sich selbst zu kommen. 1 Traditionell wird das Verhältnis von Denken und Fühlen, Verstand und Gefühl jedoch eher kritisch gesehen. 2 In der Antike wird der Mensch zunächst als anthropos zoon logon echon bezeichnet, d. h., der Mensch ist ein Tier, das den logos besitzt. Später wird dieser Ausdruck im Lateinischen durch den Begriff des animal rationale übersetzt. Beide Ausdrücke implizieren, dass der Mensch zunächst ein Tier sei, welches sich lediglich dadurch unterscheidet, dass es über Vernunft W. Henckmann, Über Vernunft und Gefühl, in: Bermes, Henckmann u. Leonardy (Hg.), Vernunft und Gefühl, a. a. O., 12. 2 »Ich würde sagen: als Vorsichtsmaßregel für die Wahrheitssuche gilt, sich eher von den Affekten zu befreien als von den Vorurteilen.« (G. Vico, Liber metaphysicus, Risposte, München 1979 (1710/11/12), 111.) 1

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bzw. Sprache verfügt. Hieraus entwickelt sich ein wesentliches Merkmal des Denkens: d. i. die Sprachbegabung als unabdingbare Voraussetzung für die Fähigkeit des Denkens. Diese Bestimmung des Menschen als sinnenverhaftetes und zugleich sprachbegabtes Wesen kann nun zu zwei Interpretationen der Vernunft führen: a. die Vernunft ist diejenige Instanz, welche die »Sinnennatur des Menschen in der für ihn vorteilhaftesten Weise lenkt«, und b. »die Vernunft [ist] die den Sinnen entgegengesetzte Instanz«. 3 Exemplarisch für eine solche zwiefältige Wesensbestimmung des Menschen stehen Platon und Aristoteles. In ihrer Behandlung von Vernunft und Affekt zeigt sich ihr anthropologisch-ontologisches sowie moralphilosophisches und praktisch-ethisches Interesse an dieser Fragestellung. Platon wird hierbei vermehrt als Verfechter einer vernunftgeleiteten Anthropologie angeführt. Sein psychologischer Trichotomismus legt den Grundstein für die traditionelle Affektinterpretation, indem er die Affekte vom logistikon ausschließt und vielmehr den niederen Seelenteilen zuordnet. 4 Die Affekte gelten als die die ruhige Kontemplation störenden und verwirrenden Elemente, die so die menschliche Vollkommenheit verhindern. Aristoteles übernimmt weder Platons Dreiteilung der Seele noch die komplette Unterdrückung der Affekte, sondern propagiert eine »goldene Mitte« oder auch mesotes. Der Mensch soll versuchen, einerseits einen Exzess der Gefühle zu vermeiden, andererseits sollen die Gefühle nicht ganz unterdrückt werden. Nichtsdestotrotz zeichnet sich der Mensch auch für Aristoteles vornehmlich durch seine Sprach- und Vernunftbegabung aus (zoon logon echon), weshalb das vernunftgeleitete, philosophische Leben (bios theoretikos) den Menschen erst zu seiner eigentlichen Erfüllung und einem glücklichen Leben (eudaimonia) führt. Die stoische Philosophie sah in der pathe ebenfalls eine das Maß überschreitende und der Vernunft entgegengesetzte Triebkraft. Zenon geht davon aus, dass die Affekte dem alogischen Seelenvermögen ent-

Vgl. R. Simon-Schaefer, Die Anthropologie der Sinne – Zur Dialektik von Emotionalität und Rationalität, in: J.-H. Mauthe (Hg.), Affekt und Kognition, Sternenfels 2001. 4 Kaufmann sieht Platons Einteilung sogar als Ausgangspunkt für die gesamte nachantike und scholastische Auffassung der Affekte bis hin zu Kants terminologischer Unterscheidung zwischen Affekten und Leidenschaften sowie Lust und Unlust (vgl. P. Kaufmann, Gemüt und Gefühl als Komplement der Vernunft, Frankfurt am Main 1992, 41). 3

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springen. 5 Chrysipp hingegen sieht in ihnen kein alogisches Vermögen, sondern qualitative Veränderungen des hegemonikon. Affekte sind daher nicht alogisch, sondern vielmehr ein schlechter, zügelloser oder fehlgeleiteter logos, welcher die Folge eines verfehlten Urteils ist. 6 »Die Stoa scheint also keine Strebungen und Gefühle im Menschen zu kennen, die ohne den Logos tätig sind bzw. eintreten. So gesehen beruht jede affektive Gemütsbewegung auf einem Fehlurteil.« 7 Thomas von Aquin kommt die Leistung zu, Gefühle dem sinnlichen Teil des Strebevermögens zuzuweisen. Dieses ist in einen konkupisziblen und iraziblen Teil gegliedert. 8 Auffallend ist die Abkehr von einem einseitigen Ausschluss der Gefühle von moralischen Handlungen. Vielmehr gilt die Sinnlichkeit als mächtiges Fördermittel zur Kultivierung des sittlich Guten. 9 Thomas von Aquin fordert deshalb dazu auf, das Begehren zu mäßigen, damit sich Vernunft und Begehren gegenseitig gleichmäßig durchdringen. Nur so können die passionis zu »Waffen der Tugenden« werden. 10 Im Übergang von der antiken und scholastischen zur modernen Philosophie macht Richard Rorty auf einen wichtigen Bedeutungswechsel in der Begrifflichkeit aufmerksam. Er betont, dass die Griechen die Sinne und damit die gesamte Wahrnehmung dem Körper zurechnen. Das heißt, es war ihnen nicht möglich, zwischen »bewussten Zuständen« und »Zuständen des Bewusstseins« zu unterscheiden. René Descartes hingegen gebraucht den Begriff des »Denkens« auf eine Weise, die sowohl kognitive Prozesse wie Zweifeln, Verstehen, Behaupten als auch Wahrnehmen und Fühlen umfasst. Fernerhin gelten die pasZenon, Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) I, 205, zit. nach P. Kaufmann, Gemüt und Gefühl, a. a. O., 34. 6 Chrysipp, SVF III, 456, zit. nach P. Kaufmann, Gemüt und Gefühl, a. a. O., 35. 7 M. Forschner, Die pervertierte Vernunft. Zur stoischen Theorie der Affekte, in: Philosophisches Jahrbuch 87, 1980, 260. 8 Vgl. P. Kaufmann, Gemüt und Gefühl, a. a. O., 41. 9 »[…] die sinnliche Seele [hat] Beziehungen zur Vernunft [und] die passiones als Appetitiv-Kräfte der sinnlichen Seele erhalten Anteil an der Moralität und sind, wenn vernunftwidrig, schlecht, wenn vernunftgemäß, gut und können sogar vermöge ihrer Subjunktion unter die Leitung der Vernunft zur sittlichen Verbesserung und Vollendung des Menschen beitragen.« (M. Meier, Die Lehre des Thomas von Aquino de passionibus animae in quellenanalytischer Darstellung (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters), hg. v. Clemes Baeumker, 11,2, Münster 1912, 44.) 10 Thomas von Aquin, Summa theologica (STh), I-II, q. 24, art. 2, zit. nach P. Kaufmann, Gemüt und Gefühl, a. a. O., 49. 5

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Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl

sions nicht mehr als Impulse eines postulierten Strebevermögens, sondern sind »Gedanken« (pensées/cogitationes). Sie unterscheiden sich von anderen Wahrnehmungen nur dadurch, dass sie verworren und dunkel sind. 11 Für John Locke ist es schließlich nur mehr ein kleiner Schritt, daraus abzuleiten, dass idea jeder »Gegenstand des Verstandes ist, wenn ein Mensch denkt«. Dies führte zu der Vorstellung, dass der innere Raum des Menschen von dem äußeren Raum getrennt ist. Das heißt, Schmerzen und andere Gefühle gehören zum inneren, subjektiven Raum. 12 Dies korrespondiert mit Descartes’ Vorstellung, der Mensch sei ein vornehmlich geistiges, d. i. vom Körper unabhängiges Wesen. 13 Diese »Entsinnlichung der Körperwelt« führte vor allem in der Wissenschaft zu einer Mathematisierung der Wahrnehmung, d. h., die Farben wurden zu Wellenlängen, die Töne zu Schallwellen, die Wärme/Kälte zu Atombewegungen usw. Wahrnehmung wurde zum quantifizierbaren Informationszufluss und die Vernunft zu einer Verstandestätigkeit, welche von der körperlichen Dimensioniertheit zu abstrahieren vermochte. Nur wenig später weist Blaise Pascal auf ein wichtiges Problem in Descartes’ Denken hin: Eine so verstandene wissenschaftliche Arbeitsweise vermag keine Antworten auf konkrete Lebensfragen zu geben. Pascal arbeitet aus diesem Grund an einer Methode, welche der Ordnung der Vernunft (ordre de la raison) die Ordnung des Herzens (ordre du coeur) zur Seite stellt. Das heißt, der esprit de géometrie wird durch den esprit de finesse ergänzt, um auf Fragen der lebendigen Wirklichkeit Antwort zu geben. 14 Die Erkenntnis »des Herzens« ist für ihn ein dialogischer Prozess des Fragens und Antwortens, innerhalb dessen die Vgl. R. Descartes, Die Leidenschaften der Seele, übers. v. K. Hammacher, Philosophische Bibliothek, Bd. 345, Hamburg 1984, Art. 47. 12 Vgl. zu dieser Abhandlung R. Rorty, Spiegel der Natur, Frankfurt am Main 1981, 61– 76. »Gerade der Status der ›verworrenen Ideen der Sinne und der Einbildungskraft‹ ist es nämlich, was den Unterschied zwischen dem Mentalen-qua-Vernunft und dem Mentalen-qua-Bewusstsein ausmacht« (ebd. 67). 13 »Hier kommt das Neue der Descartesschen Auffassung gegenüber den ›Alten‹ zum Tragen, dass erstens der Sitz der passions die Seele als einfache und unteilbare ist und dass zweitens der Körper, und nicht die Seele, die unmittelbare Ursache der Leidenschaften ist. So erscheinen die passions erstmals als rein psychische, aber physiologisch verursachte Phänomene« (P. Kaufmann, Gemüt und Gefühl, a. a. O., 57). Sicherlich war diese Vorstellung zuvor insb. durch die Vorstellungen des Christentums (insb. Paulus) angeregt worden. 14 I. E. Kummer, Blaise Pascal. Studien zu den Pensées, Berlin 1978, 110. 11

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Einfühlung und Empfangsbereitschaft eine zentrale Rolle spielt. 15 Die cartesische Beurteilung der passions als »verworrene Gedanken« bzw. die »Kognitivierung der Gefühle« wird von Thomas Hobbes teilweise übernommen, 16 obgleich er ihnen eine gewisse kognitive Kraft zubilligt und dadurch an die Willenskraft annähert. 17 Um sich von dem pessimistischen Menschenbild Hobbes’ (homo homini lupus est) abzugrenzen, stellt Shaftesbury das sittliche Gefühl in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Dabei unterscheidet er vier Arten von Gefühlsregungen bzw. Neigungen: natural, self, unnatural und reflective affections. Ausgehend von der Annahme, dass das Herz nicht neutral bleibe, versteht er ästhetische und ethische Gefühlsurteile als Ausdruck des reflektierenden und wertenden Geistes. 18 Mit der Substanzenlehre Descartes’ ging jedoch das Problem einher, wie der Übergang von der res extensa zur res cogitans zu lösen sei. 19 In der Kritik der reinen Vernunft versucht Kant deshalb das Verhältnis zwischen denkendem Bewusstsein, vorstellendem Bewusstsein und Welt neu zu beschreiben. In der Ethik setzte man sich spätestens seit Adam Smith und David Hume eingehender mit dem Zusammenhang zwischen ethischen Gefühlen und ethischem Handeln auseinander. Dieser Ansatz wurde von Kant zu widerlegen versucht.20 Aufgrund der großen Bedeutung Vgl. zu dieser Thematik auch C. Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1997. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. zur Rolle der Gefühle bei Hobbes: H. M. Gardiner, R. C. Metcalf u. J. G. BeebeCenter, Feeling and Emotion. A History of theories, Westport 1970, 184: »They sustain thought, essentially constitute will, determine the intellectual no less than the moral character, and are the sole springs of action. Without passion the train of our thoughts would be unregulated; direction is given by a desired end. The power of passion to regulate the flow of our thoughts is found in the strength and permanence of the impressions made upon us by such things as we desire or fear. From desire arises the thought of the means to its fulfillment, and from that the thought of the means to the means, and so on.« 18 A. E. of Shaftesbury, An Inquiry Concerning Virtue and Merit, Standard Edition, Bd. II, 2, 66 ff.; vgl. auch A. E. of Shaftesbury, Der gesellige Enthusiast, Philosophische Essays, hg. v. K.-H. Schwabe, München/Leipzig 1990; auch zit. in C. Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft, a. a. O., 43 ff. 19 Bekanntlich versuchte Descartes dieses Problem durch den Rückgriff auf die Zirbeldrüse zu lösen. 20 Eine aktuelle Auseinandersetzung mit der Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl versucht Alexander Tiefenbacher. Exemplarisch vergleicht er hierfür die beiden 15

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dieser Auseinandersetzung wird diese Auseinandersetzung im Folgenden etwas genauer charakterisiert: Kant und Hume teilen die Überzeugung, dass Gefühle einen Einfluss auf unsere Handlungen haben. Für Hume sind die Gefühle der eigentliche Auslöser für eine moralisch wertvolle Handlung. Der Vernunft kommt hingegen eine nur untergeordnete Funktion zu. Für Kant hingegen verhält es sich genau umgekehrt. Für ihn steht die Erkenntnis der Prinzipien a priori im Vordergrund; sie sollten die eigentliche Motivation jeder Handlung darstellen. Den Gefühlen kommt eine nur unterstützende Bedeutung zu. Zumal es sich bei den Gefühlen, welche Kant in den Vordergrund stellt, ohnehin um solche praktischer Natur handelt, d. h. welche auf die Vernunft zurückgeführt werden können (z. B. Respekt vor dem Gesetz, Respekt vor der Vernunft, Pflichtgefühl). Pathologische Gefühle sind hingegen von nur bedingt moralischem Wert, weil auf sie kein Verlass ist. Sie können zudem niemals »gewollt«, sondern nur vorgefunden werden. Deshalb widersprechen sie von Grund auf der Natur des »guten Willens« wie er von Kant definiert wird. Kant und Hume sind darüber hinaus diametral entgegengesetzter Meinung, wenn es um die Frage geht, welche Art der Handlung von moralischem Wert ist. Für Kant sind Handlungen genau dann von moralischem Wert, wenn wir unserer inneren Pflicht treu bleiben, obgleich wir ›aus Neigung‹ anders handeln würden.21 Und obgleich Kant gelegentlich einen leichten Zweifel ausdrückt, ob je jemand allein aus Pflichtgefühl moralisch gehandelt habe, 22 muss eine solche empirische Aussage von seiner grundsätzlich normativ ausgerichteten ArgumenMoralphilosophien von I. Kant und D. Hume. Er versucht hiermit u. a. auch einen Beitrag zur Internalismus/Externalismus-Debatte zu leisten (vgl. A. Tiefenbacher, Vernunft und Gefühl. Der Versuch eines versöhnenden Blickes auf die Moralphilosophien von David Hume und Immanuel Kant, Würzburg 2009). 21 Z. B. wenn wir unser Prinzip auch dann befolgen, obgleich uns jemand unsympathisch ist. 22 »Wenn wir unsern bisherigen Begriff der Pflicht aus dem gemeinen Gebrauche unserer praktischen Vernunft gezogen haben, so ist daraus keinesweges zu schließen, als hätten wir ihn als einen Erfahrungsbegriff behandelt. Vielmehr, wenn wir auf die Erfahrung vom Tun und Lassen der Menschen achthaben, treffen wir häufige und, wie wir selbst einräumen, gerechte Klagen an, dass man von der Gesinnung, aus reiner Pflicht zu handeln, so gar keine sicheren Beispiele anführen könne, dass, wenngleich manches dem, was Pflicht gebietet, gemäß geschehen mag, dennoch es immer noch zweifelhaft sei, ob eigentlich aus Pflicht geschehe und also einen moralischen Wert habe.« (I. Kant,

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tation unterschieden werden. 23 Denn seine Definition moralischer Werthaftigkeit erhält ihren Sinn nur vor dem Hintergrund des unbedingt guten und freien Willens. Die Willkür des Gefühls spielt aus diesem Grund eine nur geringe bzw. bedingte Rolle. 24 Hume stellt hingegen das Gefühl als zentrales Kriterium ethischer Handlungen in den Vordergrund: »[N]o action can be virtuous, or morally good, unless there be in human nature some motive to produce it, distinct from a sense of its morality.« 25 Was eine Handlung tugendhaft macht, ist der Ausdruck eines tugendhaften Motivs, welches die tugendhafte Qualität des Charakters widerspiegelt. 26 Um aber einen Zirkelschluss zu vermeiden, unterscheidet Hume klar das Motiv des moralischen Gutseins von der Tat selbst. 27 Letzten Endes bleibt Hume seinem empirischen Ansatz treu, wohingegen Kant auf eine klar normative Theorie abzielt. 28 Der ästhetisch motivierte Ansatz Friedrich Schillers wendet sich sowohl gegen die Vorherrschaft der Vernunft als auch gegen eine InGrundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants gesammelte Werke (Akademieausgabe), Berlin 1902 ff., AA 4:406–407.) 23 »Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-affizierten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Kausalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Prinzipien gemäß zu bestimmen. Es ist aber gänzlich unmöglich einzusehen, d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe […].« (I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a. a. O., ebd.) 24 Denis betont zu dieser Spannung in Kants Werk: »We should not confuse Kant’s concepts of the good will and moral worth in Groundwork I with his conceptions of virtue and the virtues that emerge in his more mature, normative works« (The Stanford Encyclopedia of Philosophy (March 26, 2008 Edition), hg. v. Lara Denis, URL: http:// plato.stanford.edu/entries/kant-hume-morality/, Stand: Juni 2013). 25 D. Hume, Treatise of Human Nature, a. a. O., 479. 26 Ebd., 477. 27 Vgl. ebd., 478. Wir sollen uns jedoch nur in solchen Situationen auf allgemeine moralische Richtlinien für richtiges oder tugendhaftes Handeln verlassen, in welchen wir innerlich neutral sind. Dann vermag eine solche Gesinnung sogar den Wunsch in uns erwecken, unseren Charakter zu ändern. 28 Selbstverständlich sind auch eher harmonisierende Ansätze in der Kant-Hume Forschung zu finden (vgl. z. B. A. Tiefenbacher, Vernunft und Gefühl, a. a. O.). Eine ähnliche Auseinandersetzung wie zwischen Hume und Kant wird heute im Konflikt zwischen emotivistischen und kognitivistischen Moralphilosophien ausgetragen und findet sich vor allem innerhalb der analytischen Philosophie.

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strumentalisierung des Gefühls. Für ihn liegt der vernünftige Boden des Gefühls in der Schönheit. 29 Die Schönheit wird, ausgehend von Platon, als diejenige Idee gesehen, welche uns in den Ideenraum emporhebt. 30 Das ästhetische Gefühl wird so in ein politisches und kulturkritisches Licht gerückt. Die Aufgabe der Politik ist es, die Sinnlichkeit in ihrem Recht zu belassen und außerdem die Person gegen die Macht der Empfindungen sicherzustellen: Ersteres durch die Kultivierung des Gefühls, Letzteres durch die Ausbildung der Vernunft. Weder ist die Vernunft dem Gefühl noch das Gefühl der Vernunft untergeordnet, sondern jedes bewohnt seinen eigenen Wirkraum. 31 Deshalb gilt auch für die Erziehung zur Philanthropie, dass beide Kräfte zusammenwirken müssen: »Eben so schwer dürfte es zu bestimmen seyn, ob unsere praktische Philanthropie mehr durch die Heftigkeit unserer Begierden, oder durch die Rigidität unserer Grundsätze, mehr durch den Egoism unserer Sinne, oder durch den Egoism unserer Vernunft gestört und erkältet wird. Um uns zu theilnehmenden, hülfreichen, thätigen Menschen zu machen, müssen sich Gefühl und Charakter miteinander vereinigen, so wie um uns Erfahrung zu verschaffen, Offenheit des Sinnes mit Energie des Verstandes zusammentreffen muss. Wie können wir bey noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andre seyn, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unserigen zu machen?« 32 Bereits bei Schiller findet sich ein sehr früher Versuch der Harmonisierung von Vernunft und Mitgefühl vermittels der Idee der Schönheit und ohne den einen oder anderen Bereich in seiner Wichtigkeit zu schmälern. Auch Herder versuchte sich im Zuge der Romantik von einer rationalistischen Verengung zu lösen. Als eine Möglichkeit propagiert er die Einbeziehung der eigenen Biographie in den Erkenntnisvorgang. Dieses Vorgehen ergab sich aus seiner Einsicht, dass Selbsterkenntnis und Wirklichkeitserkenntnis wesentlich einander bedingen. 33 Der hermeneutische Ansatz Diltheys interpretiert Verstehen F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Frankfurt am Main 2009 (1795). 30 Vgl. die Metapher des erotischen Aufstiegs der Seele in Platons Symposion. 31 Vgl. ebd., 13. Brief. 32 Ebd., 13. Brief, 2. Fußnote. 33 J. G. Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in: J. G. Herder, Werke in zwei Bänden, hg. v. K. G. Gerold, München 1955, Bd. 2, 357 ff.; vgl. auch 29

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Zur ideengeschichtlichen Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl

nicht als passiven Akt, sondern als einen aktiven Akt des Verstehenwollens im Sinne eines »Sich-Hineinversetzens« in den Anderen. Selbstverstehen und Fremdverstehen gehen für ihn ineinander über. »Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du.« 34 Dennoch bleibt für ihn in jedem Verstehen ein Rest des Irrationalen, weil sich die Komplexität der Lebenszusammenhänge nicht rein rational aufschlüsseln lassen. 35 Auf der Grundlage von Schopenhauers anthropologischer Vorstellung des Menschen als ein vom Willen bestimmtes Wesen tauchte ein völlig neuer Gedanke in der Philosophie auf und führte zu einer Reihe von eingehenden Auseinandersetzungen mit der Bedeutung des Gefühls für den Menschen. Zu nennen sind hier u. a. Søren Kierkegaards biographisch fundierte Philosophie der religiösen Angst, Nietzsches Idealisierung des Lebens als Willen zur Macht sowie Heideggers Analytik des Daseins. Heidegger begreift die Erschließung des In-derWelt-Seins durch die Angst, Scheler hingegen durch die Liebe. Ihnen allen ist gemein, dass den Gefühlen bei der Erschließung des In-derWelt-Seins des Menschen eine zentrale Rolle zukommt. Keine Übereinstimmung ist darin zu verzeichnen, ob diese Rolle nur einem oder mehreren Gefühlen zukommt sowie welche Art der Rationalität, Vernunft oder Verstehen sich im Fühlen manifestiert. Auf die Dichotomie zwischen Verstand und Gefühl weist ferner Scheler explizit hin. Für ihn ist der Mensch zunächst ein wollendes und liebendes Wesen, bevor er ein kognitives Wesen wird. 36 Ein nur wahrnehmender und denkender Mensch bliebe für Scheler »werteblind«, denn diese leuchten erst durch die intentionalen Gefühle wie Liebe oder Hass auf. 37 Carola Meier-Seethaler schließt aus ihrem umfassenden ideengeschichtlichen Überblick über das Verhältnis zwischen Vernunft und Gefühl, dass Emotionalität immer wieder mit Irrationalität bzw. UnR. Benz, Die deutsche Romantik, Leipzig 1937; vgl. auch bei C. Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft, a. a. O., 69 ff. 34 W. Dilthey, Entwürfe zur Kititk der historischen Vernunft, Bd. VII, in: Gesammelte Schriften, Leipzig/Berlin 1924, 191; vgl. auch O. F. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie, Leipzig/Berlin 1936. 35 Ebd., 218. 36 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlass Band II. Zur Ethik und Erkenntnislehre, hg. v. M. Scheler, GW, 10, 1957, 256. 37 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Werteethik, Gesammelte Werke, Bern/München 1954 ff., Bd. 2 (1954), 88 f.; vgl. auch C. Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft, a. a. O., 94 ff.

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vernunft gleichgesetzt wurde. Als umfassendes Kriterium für Vernunft arbeitet sie die »Bewusstheit« heraus und betont, dass hierzu auch Gefühle, Wertungen und Beweggründe zählen. »Aus der Perspektive der emotionalen Vernunft besteht Sachlichkeit nicht in einer kühlen, von den eigenen und den Gefühlen anderer abgespaltenen Denkart, sondern lässt sich eher mit dem Begriff der Besonnenheit umschreiben.« 38 Auch die Besonnenheit nimmt zwar reflektierend Abstand von den Gefühlen, aber Ich und Mitwelt bleiben durch die Harmonisierung und bewusste Reflexion von Beweggründen im lebendigen Miteinander und menschlichen Lebenskontext verwurzelt. In aktuellen Beiträgen zur Kognition-Emotion bzw. Verstand-Gefühl Debatte lässt sich eine zunehmende interdisziplinäre Verschränkung von philosophischen, sozialwissenschaftlichen und psychologischen Ansätzen feststellen. Lenk und Spinner sprechen im Kontext ihres Entwurfes zu einer kognitiven Rationalität auch von einem »Mitwirkungsgrad« der Vernunft bei emotionalen Prozessen, welcher sich zwischen null und hundert bewegen kann. »Die pauschale Abqualifizierung des ›irrationalen Fühlens‹ gegenüber dem ›rationalen Denken‹ lässt sich so durch empirische Rationalitätsforschung auf den wahren Kern einer mehr oder weniger großen Rationalitätsdifferenz zurückführen, die aber mit der ›Natur‹ menschlichen Denkens und Fühlens nichts zu tun hat, sondern mit den damit verbundenen (Des-)Orientierungsneigungen und -leistungen.« 39 Rationalität wird hier als eine Frage der Orientierung behandelt, welche aber die Frage nach dem Handlungserfolg nicht beantwortet. Blickt man genau auf die Mannigfaltigkeit der Gefühle und Sinnestätigkeiten, dann scheint die einfache Unterscheidung zwischen Vernunft und Gefühl allzu nivellierend und reduktionistisch. Fraglich bleibt deshalb, wie wir überhaupt Vorkommnisse des Bewusstseinserlebens unter den Begriff der Vernunft bzw. des Gefühls subsumieren können bzw. ob sich menschliches Erleben in nur zwei Bereiche einteilen lässt. 40

C. Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft, a. a. O., 395. H. Lenk u. H. F. Spinner, Rationalitätstypen, Rationalitätskonzepte und Rationalitätstheorien, a. a. O., 20. 40 Vgl. hierzu W. Henckmann, Über Vernunft und Gefühl, in: Ch. Bermes, W. Henckmann u. H. Leonardy (Hg.), Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, Würzburg 2003, 11 ff. 38 39

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Die Emotion-Kognition-Debatte in den Sozialwissenschaften

2.2 Die Emotion-Kognition-Debatte in den Sozialwissenschaften Bis vor nicht allzu langer Zeit galt es als selbstverständlich, Vernunft als eine allgemeingültige Prüfinstanz zu bezeichnen, die allen einleuchtend und evident erscheint. Ausgehend von einem Menschenbild, das die aktive und rationale Beherrschung der Umwelt betonte, wurde Kognition als Basis eines objektiven bzw. intersubjektiven Raumes interpretiert. Emotionen waren hingegen subjektive, zu erleidende und damit unkontrollierbare Zustände des inneren Selbst. Sie waren niemals Kriterium für Wahrheit bzw. Intersubjektivität. Deshalb konstituierten sie allenfalls den privaten Raum in seiner primären Unkommunizierbarkeit und Inkommensurabilität. Eine solche Dichotomie führte zu dem Resultat, dass menschliches Erleben und Verstehen ausschließlich unter dem Kriterium der Kognitionen beschrieben wurde. 41 1977 beschreiben Peter Lindsay und Donald Norman beispielsweise die Psychologie als Wissenschaft der menschlichen Informationsverarbeitung. 42 Diese beinhaltet nicht nur kognitive Daten, wie Objekte, sondern gleichsam emotionale Daten wie Zustände und Ereignisse. Daraus folgt, dass a. die Informationsverarbeitung erheblich komplexer ist als angenommen und b. beide Komponenten subjektive und objektive Qualität besitzen. Werner Traxel wirft deshalb der klinischen Psychologie vor, sie würde »Gemütsbewegungen« eher als »Beiwerk« oder »Verzierungen« des Seelenlebens bewerteten, um dadurch die Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes zu reduzieren. 43 Ernsthafte Untersuchungen der genauen Wechselwirkung zwischen Emotionen und Kognitionen sind deshalb relativ neu. Die Entdeckung der Bedeutung der Emotionen beginnt bereits in den 40er-, 50er- und 60er-Jahren. Während dieser Zeit wurde vor allem von Psychologen wie Erik Erikson, Anna Freud, René Spitz und Sibylle Karl Scherer führt diese Abwertung und damit Dichotomie von Emotion und Kognition – ob berechtigt oder unberechtigt sei dahingestellt – bis auf Platos Unterscheidung zwischen Denken, Wollen und Fühlen zurück (K. R. Scherer, Wider die Vernachlässigung der Emotion in der Psychologie, in: W. Michaelis (Hg.), Bericht über den 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Zürich, 1980, Bd. 1, Göttingen 1981, 192–196). 42 P. H. Lindsay u. D. A. Norman, Human Information Processing, New York 1977. 43 W. Traxel, Zur Geschichte der Emotionskonzepte, in: H. A. Euler u. H. Mandl (Hg.), Emotionspsychologie, München 1983. 41

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Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl

Escalona auf die zentrale Bedeutung einer gesunden emotionalen Entwicklung für das spätere Funktionieren der Persönlichkeit hingewiesen. Ein früher Hinweis, dass Emotionen und Kognitionen untrennbare Aspekte aller Aktionen sind, findet sich bereits in einer frühen Vorlesung von Jean Piaget. Er betont den funktionalen Zusammenhang der beiden Komponenten, d. h., Emotionen dienen als Motivatoren. Für ihn ist das Funktionieren kognitiver Prozesse an Emotionen rückgebunden, auch wenn diese keinen Einfluss auf die Strukturen bzw. den inhaltlichen Ablauf kognitiver Prozesse haben. 44 Trotz dieser Einsicht richtete sich das Hauptinteresse seiner Forschung auf die Bildung von kognitiven Strukturen. 45 Parallel beschäftigte sich auch der sowjetische Psychologe Lev Vygotsky mit der Bedeutung sozialer Interaktionen, Kultur und Konflikt für spezifische Lebensstrategien. Eine der wichtigsten Einsichten Vygotsky ist, dass höhere psychologische Funktionen wie Denken, Fühlen, Wahrnehmen o. Ä. nicht eine kontinuierliche Fortentwicklung von niederen biologischen Funktionen sind, sondern »a qualitatively new mental formation that develops according to completely special laws and is subject to completely different patterns […].« 46 Diese Entwicklung findet nicht unabhängig von der sozialen Außenwelt statt, sondern wird in hohem Maße von ihr beeinflusst bzw. ist von dieser abhängig. 47 In den 60er-, 70er- und 80er-Jahren wurde die optimale emotionale Entwicklung im Säuglingsalter untersucht – teilweise mit Analysen komplexer emotionaler Interaktionen. An diesen Untersuchungen waren u. a. Psychologen wie William Stern, Sally Provence, Selma Fraiberg, Louis Sander, T. Berry Brazelton, Mary Ainsworth, Stella Chess, Leon Yarrow, L. Alan Sroufe, Robert Emde u. v. m. beteiligt. 48 Aufgrund eines Mangels an theoretischer und empirischer Verknüpfung J. Piaget, Intelligence and affectivity: their relationship during child development, their relationship during child development, in: T. A. Brown u. C. E. Kaegi (Hg.), Annual Review Monograph, Palo Alto 1981, 5 ff. 45 J. Piaget, The Origins of Intelligence in Children, New York 1952; siehe auch zur weiterführenden Diskussion: S. I. Greenspan, Intelligence and Adaption: An Integration of Psychoanalytic and Piagetian Development Psychology, New York 1979. 46 L. Vygotsky, The Collected Works, Vol. 5, Child Psychology, hg. v. R. W. Rieber, New York 1998, 34. 47 L. Vygotsky, Mind in Society: The Development of Higher Psychological Processes, Cambridge 1978. 48 Vgl. hierzu den umfangreichen Bericht von A. Greenspan, Die bedrohte Intelligenz, a. a. O., 402 ff. 44

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Die Emotion-Kognition-Debatte in den Sozialwissenschaften

sowie dem Mangel an adäquater Forschung in Psychopathologie, klinische Intervention im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit, erzielten die Ergebnisse kaum Einfluss auf die Bereiche der Prävention, klinischen Praxis und Bildungspolitik. 49 Während der 60er-Jahre beschäftigte die Forschung die Frage, ob Emotionen als Epiphänomen physiologischer Aktiviertheit gesehen werden können und damit die Grundlage kognitiver Prozesse bilden. Durch die Untersuchungen von Stanley Schachter und Jerome Singer wandelte sich die Theorie radikal und Emotionen wurden seither als postkognitives Phänomen gedeutet. 50 1980 erschüttert Robert Zajonc die wissenschaftliche Mitwelt mit der Aussage: »Feeling and Thinking: preferences need no inferences«. 51 Zajonc wehrte sich mit dieser Aussage gegen die gängige Auffassung, kognitive Bewertungsprozesse gingen den Emotionen voraus. Ganz im Gegenteil dazu laufen für Zajonc affektive und kognitive Prozesse weitgehend unabhängig ab, wobei der Affekt mehr Macht hat und der Kognition vorausgeht. Insbesondere kritisiert er, dass komplexe Phänomene wie Emotionen und kognitive Prozesse auf komplizierten Beziehungsverhältnissen beruhen, welche durch klassische Konzepte, wie das Modell der abhängigen/unabhängigen Variablen, nicht abgebildet werden können. Er löst mit diesem Satz eine Debatte aus, welche schließlich als Kognition-Emotion-Debatte so weite Kreise zieht, dass sie Charles Kiesler für die zentrale Frage der Psychologie der 80er-Jahre hält. 52 Sie wird zu guten Teilen von Zajoncs Kontrahenten mitbestimmt: Arnold Lazarus besteht darauf, dass Emotionen immer von kognitiven Prozessen begleitet werden bzw. diese auslösen. 53 Vgl. ebd., 402. S. Schachter u. J. E. Singer, Cognitive, social, and physiological determinants of emotional state, in: Physiological Review, 69, (1962), 379–399. 51 R. Zajonc, Feeling and thinking: Preferences need no inferences, in: American Psychologist, 35, (1980), 151–175. 52 »The detailed understanding of the relationship of affect and cognition is perhaps the core theoretical problem of psychology of the 80s. It is an important problem and one that has plagued psychologists and philosophers for centuries.« (C. A. Kiesler, Comments, in: M. S. Clark u. F. S. Fiske (Hg.), Affect and cognition, Hillsdale 1982, 118.) 53 1982 findet sich eine erste Zusammenfassung zur Emotion-Kognition-Debatte von Margaret Clark und Susan Fiske (vgl. M. S. Clark, S. T. Fiske (Hg.), Affect und cognition. The 17th Annual Carnegie Symposium on Cognition. Hillsdale, N.Y. 1982). Ferner werden Forderungen nach einem integralen Modell laut, welches die interaktiven Zusammenhänge zwischen Kognition und Emotion beschreibt. Eine solcher Versuch findet sich 49 50

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Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl

Die von Zajoncs provokanten Thesen ausgelöste Diskussion wird in den darauffolgenden Jahren auf zwei Ebenen ausgetragen: einer begrifflichen und einer methodologischen. 1983 präsentiert Fred Fiedler in einer methodologischen Kritik, dass die typischen Experimente über Präferenzurteile, auf welche Zanjonc in der Debatte immer wieder zurückgriff, als Argument gegen kognitivistische Emotionstheorien untauglich sind, weil sie begrifflich die Grenze zwischen Kognition und Emotion verwischen. 54 Im Zuge dessen werden Zajonc und Richard Lazarus dazu aufgefordert, eine genaue Begriffsbestimmung preiszugeben. Es wird klar, dass Zajonc seinen Kognitionsbegriff sehr viel enger fasst, Lazarus hingegen Kognition klar von Rationalität abgrenzt, tendenziell jedoch weiter fasst. Und so bekennt Dietrich Dörner 1989 resigniert zur Emotion-Kognition-Debatte: »Er ist gewissermaßen ein wandelnder Leichnam; in aller Munde, aber tot, bedeutungslos und inhaltsleer wegen progressiven Missbrauchs mit allzu verschiedenartigen Bedeutungen versehen.« 55 In dem Moment, da sich die Psychologie dazu entschließt, den Begriff der Kognition sehr weit zu fassen und als eine Art der Informationsverarbeitung zu gebrauchen, werden Emotionen automatisch zu einem »postkognitiven« Phänomen. 56 Umgekehrt gilt für einen eng gefassten Kognitionsbegriff, dass er Emotionen immer schon ausschließt. 57 Auch Mandl und Huber beklagen 1983, dass das zentrale Problem der Kognition-Emotion- Forschung die genaue Begrifflichkeit darstelle. Anders als Dörner halten sie jedoch den Kognitionsbegriff für weitgehend stabil, wohingegen der Emotionsbegriff abwechselnd als Gefühl, Affekt oder Emotion beschrieben wird. 58 1987 macht sich eine gewisse Frustration bemerkbar: Howard Leventhal und Klaus Scherer fassen die Debatte mit den Worten zusammen: »Viel Licht auf die Frage, in welchem Verhältnis Kognition in dem Sammelband von Mandl und Huber: H. Mandl u. G. L. Huber (Hg.), Emotion und Kognition, München 1983. 54 Vgl. die Darstellung dieser Entwicklung in: S. Vogel, Emotionspsychologie. Grundriss einer exakten Wissenschaft der Gefühle, Opladen 1996, 60 ff. 55 D. Dörner, Emotion, Kognition und Begriffsverwirrung: zwei Anmerkungen zur Köhler-Vorlesung von Norbert Bischof, in: Psychologische Rundschau, 40, (4), 206– 209 (207). 56 Vgl. S. Vogel, Emotionspsychologie, a. a. O., 63. 57 Z. B. Dietrich Dörner, welcher Kognition einzig auf höhere geistige Funktionen beschränkt (D. Dörner, Emotion, Kognition und Begriffsverwirrung, a. a. O.). 58 H. Mandl u. G. L. Huber (Hg.), Emotion und Kognition, München 1983.

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Die Emotion-Kognition-Debatte in den Sozialwissenschaften

und Emotion zueinander stehen, wirft die Kognition-Emotion-Debatte nicht.«, und kritisieren hier insbesondere die »sterile semantische Kontroverse«. 59 Martin Carrier und Jürgen Mittelstraß reagieren mit dem konstruktiven Hinweis, dass der Begriffsstreit zunächst empirisch zu klären sei. 60 Scherer entgegnet dem jedoch, dass die empirische Psychologie dies nicht bewältigen könne, weil kein ausreichender Kenntnisstand zur Verfügung stünde. 61 In den 90er-Jahren wurde die originäre Rekonstruktion der Begriffe Kognition und Emotion maßgeblich durch zwei bereits erwähnte Bücher angeregt: Die Emotionale Intelligenz von Daniel Goleman sowie Die bedrohte Intelligenz von Stanley Greenspan. Ersterer versucht darzustellen, auf welch vielfache Weise die Kultivierung der Emotionen den angeborenen IQ überhaupt erst ermöglicht. 62 Und obgleich Greenspan ein ähnliches Anliegen verfolgt, kritisiert er an Goleman, dieser würde trotz aller Bemühungen an der Dichotomie zwischen Kognition und Emotion festhalten, um sich schließlich für die Seite der Emotionen stark zu machen. 63 Greenspan schlägt alternativ vor, den Begriff der Kognition zu rekonstruieren. In diesem Sinne sieht Greenspan die Emotionen als »Architekten des Geistes«, welche kognitive Prozesse strukturieren und mobilisieren. 64 Das heißt, emotionale Erfahrungen sind für die intellektuellen und sozialen Fähigkeiten entscheidend, grundlegend und vorausgesetzt. António Damásio unterstützt diese Thesen, indem er durch seine neurophysiologischen Untersuchungen zeigt, wie Personen, welche inH. Leventhal u. K. R. Scherer, The relationship of emotion to cognition: A functional approach to a semantic controversy, in: Cognition and Emotion, 1, (1987), 3–28; sowie K. R. Scherer, Theorien und aktuelle Probleme der Emotionspsychologie, in: K. R. Scherer (Hg.), Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C., Serie IV, Band 3: Psychologie der Emotion, Göttingen 1990, 2–40. 60 M. Carrier u. J. Mittelstraß, Geist, Gehirn, Verhalten, Berlin 1989. 61 K. R. Scherer, Theorien und aktuelle Probleme der Emotionspsychologie, a. a. O. 62 D. Goleman, Emotionale Intelligenz, München 1995, 19 ff. 63 S. Greenspan, Die bedrohte Intelligenz, a. a. O., 19. Ich möchte an dieser Stelle dahingestellt lassen, ob der Unterschied zwischen den Ansätzen von Goleman und Greenspan tatsächlich so dramatisch einzuschätzen ist. 64 Greenspan, ebd., 13. »Nach unseren Beobachtungen zur Entwicklung des Kindes besteht die vielleicht entscheidende Rolle der Emotionen jedoch darin, viele der wichtigen Funktionen des Geistes hervorzurufen, zu organisieren und aufeinander abzustimmen« (ebd. 21). 59

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Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl

folge von Hirnschädigungen die Fähigkeit verloren hatten, Gefühle zu empfinden, selbst an einfachen kognitiven Handlungen und Entscheidungen scheitern. 65 Auch wenn Sprache, Gedächtnis und formale Intelligenz intakt bleiben, führt der Verlust der Gefühle zu der Unfähigkeit des Setzens von Prioritäten, Fällen von Entscheidungen und schränkt so das kommunikative und moralisch adäquate Handeln stark ein. Die Theorie einer Affektlogik von Luc Ciompi baut auf einer Grundidee von Piaget auf: Sämtliche mentale Strukturen gehen aus der Aktion, d. h. aus rein senso-motorischen Abläufen, hervor. Ciompis zentrale These besagt, dass »emotionale und kognitive Komponenten – Fühlen und Denken, Affekte und Logik – in sämtlichen psychischen Leistungen untrennbar miteinander verbunden sind und gesetzmäßig zusammenwirken.« 66 Emotionale Komponenten sind jedoch im Sinne der Affektlogik nicht nur funktionell in das Netzwerk eingebaut, sondern spielen auch bei der Organisation und Strukturierung dieses Netzwerks von Anfang an eine zentrale Rolle. Das heißt, weil Lernen aus senso-motorischen Abläufen besteht, solche Aktionen jedoch emotional motiviert sind, ist die Kultivierung und Stimulation der Emotionen ein zentraler Faktor allen Lernens. 67 Kognition und Emotion stehen so in unmittelbarem Zusammenhang. Abschließend möchte ich auf die Adaption der Kognition-Emotion Debatte in der Pädagogik, insbesondere der Schulpädagogik, hinweisen. Maria-Anna Bäuml-Roßnagl setzt sich seit Jahrzehnten für eine vermehrte Aufmerksamkeit und anwendungsbezogene Integration von Emotion und Kognition in der Schulpraxis sowie für die Verbesserung didaktischer Konzepte ein. 68 Auch Martin Hänze versucht die Zusammenhänge zwischen Kognition und Emotion für die Schulpraxis aufzuarbeiten. Vgl. u. a. A. Damásio, Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1995. 66 L. Ciompi, Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihrer Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung, München 1998, 46. 67 Vgl. ebd., 50. 68 Vgl. die ausführliche Forschung und Praxis auf diesem Gebiet in theoretischen und praktischen Abhandlungen. Exemplarisch seien hier folgende beiden Werke genannt: M.-A. Bäuml-Roßnagl, Bildungsparameter aus soziologischer Perspektive, Nprderstedt 2005 und dies., Leben mit Sinnen und Sinn in der heutigen Lebenswelt. Wege in eine zeitgerechte pädagogische Soziologie, Regensburg 1990. 65

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Der Bedeutungspluralismus des Empathiebegriffs

Resümierend bleibt positiv anzumerken, dass sich insbesondere in den letzten Jahren solche Untersuchungen mehren, welche einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Kognition und Emotion nahelegen. Ein jeder solcher Vermittlungsversuch sieht sich jedoch mit einer begrifflichen Schwierigkeit konfrontiert: Vorab-Eingrenzungen übergehen implizite Interdependenzen, eine zu große Offenheit führt wiederum zu Ungenauigkeiten in den Aussagen.

2.3 Der Bedeutungspluralismus des Empathiebegriffs als Begünstigung der Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl Dieser knappe Einblick in die Emotions- und Rationalitätsliteratur zeigt, dass die Forschung fern von einer eindeutigen Begriffsbestimmung ist, wenngleich sich insbesondere für die Empathie der grundsätzliche Trend zu immer detaillierteren und präziseren Begriffsbezeichnungen beobachten lässt. 69 Selbstverständlich ist für die empirische Forschung eine vorläufige Ein- und Abgrenzung unerlässlich, um Forschungsfrage und -gegenstand klar bestimmen zu können. Dabei wird der kognitiven Interpretation von Empathie (im Sinne des Perspektivenwechsels) oft der Vorzug vor einer affektiven Interpretation (im Sinne einer Gefühlsansteckung) gegeben. Diese Notwendigkeit der Ab- und Eingrenzung des Phänomens begünstigt natürlich die Gefahr, die Interdependenzen und Entwicklungsschritte zwischen verwandten Phänomenen zu übergehen und dadurch zu einer Verschärfung der Kognition-Emotion-Debatte beizutragen. Der Blick in die etymologische Geschichte des Begriffs der Empathie lässt erkennen, dass der Begriff erst spät in die sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft Eingang fand, dann jedoch den ästhetischphilosophisch inspirierten Begriff des Mitgefühls schnell verdrängte. Dies führte dazu, dass in den Sozialwissenschaften eher der Begriff Empathie verwendet wird, wohingegen der Begriff des Mitgefühls in der Philosophie gebräuchlicher ist. Im Gegensatz zu dem Bedeutungspluralismus des Empathiebegriffs erscheint das Wort »Mitgefühl« weniger abgegriffen und soll deshalb auch im Folgenden verwendet werVgl. z. B. D. Bischof-Köhler, Spiegelbild und Empathie, a. a. O., welche versucht, den Empathiebegriff in seiner Beziehung zu Gefühlsansteckung und Perspektivenwechsel, d. i. ausdruck- bzw. situationsvermittelter Empathie, zu untersuchen.

69

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Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl

den. Dennoch birgt auch der philosophisch geprägte Begriff des Mitgefühls verschiedene Schwierigkeiten: 1. Hilge Landweer unterscheidet grundsätzlich drei Charakteristika von Gefühlen: a. einen (nicht notwendig bewussten) intentionalen Gehalt (d. i. Gegenstandsbezug), b. einen propositionalen Gehalt (Sachverhaltsbezug) und schließlich c. ein unmittelbar leibliches Spüren eines Gefühls. 70 Obgleich wir im Alltag annehmen, dass es gewisse Überschneidung im Erleben spezifischer Gefühle für alle Menschen gibt, bleiben wir einen konkreten Beweis dafür schuldig, dass ein jeder Mensch ein Gefühl auf die gleiche Weise empfindet. 2. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Natur der Gefühle. Nämlich, dass eine jede Gefühlsbezeichnung letztlich eine Reduktion eines breiten Spektrums an Gefühlsnuancen darstellt. Z. B. suggerieren Gefühlsbezeichnungen wie Wut, Zorn oder Trauer, dass ein so bezeichnetes Gefühl aus der Komplexität des Gefühlsstroms extrahiert werden kann. In der Tat ist ein jeder Gefühlszustand jedoch genuin »eigenartig«, d. h. eine einzigartige »Mischung« aus verschiedenen Gefühlszuständen. Zum Zorn mischt sich Enttäuschung und Trauer, zur Freude der Stolz usw. Es gibt keine »idealtypischen« Gefühle. 71 Sowohl diese Einzigartigkeit von Gefühlen als auch ihre intentionalen Gehalte machen nun eine Bestimmung des Mitgefühls besonders problematisch. Denn obgleich »Mitgefühl« umgangssprachlich oft auf die Bedeutung des »Mitleids« reduziert wird, handelt es sich grundsätzlich um das Verstehen bzw. Miterleben von jedweder Art von Gefühlen. Es geht um das gefühls- und verstandesmäßige Nachvollziehen eines fremden Zustandes, in welchem uns der Andere als ein Anderer bewusst gegeben ist. An dieser Stelle kann eine erste Unterscheidung bei Scheler aufgegriffen werden. Für ihn bedeutet die Gefühlsansteckung lediglich ein

Vgl. hierzu H. Landweer, Scham und Macht, Tübingen 1999, zit. in: M. Schloßberger, Das Mitgefühl als Gefühl, in: Ch. Bermes, W. Henckmann u. H. Leonardy (Hg.), Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, Würzburg 2003, 40. 71 Diesen und den folgenden Gedankengang zur Problematik des Mitgefühls verdanke ich dem aufschlussreichen Aufsatz von Matthias Schloßberger über das Mitgefühl bei Scheler (Das Mitgefühl als Gefühl, in: Ch. Bermes, W. Henckmann u. H. Leonardy (Hg.), Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, Würzburg 2003, 39 ff.) 70

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Der Bedeutungspluralismus des Empathiebegriffs

»Hinüberwandern« des Gefühls des einen in einen anderen. 72 Sie beschränkt sich dabei jedoch auf das eigene leibliche Spüren, ohne den Anderen in seiner Einzigartigkeit sowie den intentionalen Gehalt seines Gefühls bewusst wahrzunehmen. 73 Lersch entwickelt die Überlegungen Schelers weiter. Als Gegensatz zur Gefühlsansteckung setzt er das Nacherleben. Es bezeichnet einen Perspektivenwechsel, in welchem der Nacherlebende die Situation des Anderen zwar »versteht«, jedoch emotional davon unberührt bleibt. 74 Auch Scheler kennt ein solches rein verstandesmäßiges Verstehen, das sich etwa in der Aussage spiegelt: »Ich kann dir das sehr gut nachfühlen, aber ich habe kein Mitgefühl.« 75 Das Nacherleben ist demnach ein verstandesmäßiger Perspektivenwechsel, der sich der Andersheit des Anderen wohl bewusst ist, sich jedoch emotional auf Distanz hält. Diese Überlegungen suggerieren, dass sich das Mitgefühl in einer Art »Vermittlungsposition« befindet, zwischen einer rein leiblich-emotionalen Gefühlsansteckung (Sympathie) einerseits und einem rein verstandesmäßigen Perspektivenwechsel (Nacherleben) andererseits. Dadurch erscheint es eingebunden in ein komplexes Netzwerk an Gefühlen des »Füreinanderseins« (Lersch) bzw. des menschlichen Miteinanders (Scheler). 3. Die »Schwellenposition« des Mitgefühls zwischen Sympathie (Gefühlsansteckung) und Nacherleben (Perspektivenwechsel) sowie die Zuschreibung, Mitgefühl sei ein genuin moralisches Gefühl, deuten gleichzeitig auf eine weitere Schwierigkeit: Die Problematik des Fremdpsychischen. Viele Theorien des Mitgefühls gehen von der Vorstellung eines abgeschlossenen Subjektbegriffs aus und sehen sich damit vor die Schwierigkeit gestellt, zu erklären, wie überhaupt ein Verstehen von Fremdpsychischem möglich sein soll. Mitgefühl beansprucht nämlich beides: Der Andere ist mir einerseits als Anderer gegenübergestellt und andererseits vermag ich ihn in seinem einzigartigen Gefühlszustand zu erfassen. Insbesondere mit Blick auf die bereits erwähnte Komplexität und Einzigartigkeit von Gefühlen sowie M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bern 1973, 12 ff. Ebd. 74 Ph. Lersch, Aufbau der Person, München 1962, 256 f.; auch Lersch bezieht sich hiermit in weiten Teilen auf Scheler (vgl. Wesen und Formen der Sympathie, a. a. O., 5 ff.). 75 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, a. a. O., 5; bei diesem »Nachfühlen« handelt es sich nicht um ein bloßes Wissen, weil es tatsächlich das Gefühl des Anderen intendiert. Es ist aber auch kein direktes Erleben des Gefühls des Anderen in dem Sinne, dass es in uns »hinüberwandert« (ebd.). 72 73

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Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl

deren qualitative Differenzierung bleibt die Frage offen, ob und wie wir überhaupt mit anderen fühlen können. Erst eine Beschreibung des Chiasmus zwischen Fremdpsychischem und eigenem Erleben vermag über die Möglichkeiten des Fremdverstehens/-fühlens aufzuklären. Auf der Grundlage dieser Klärung kann Mitgefühl als moralisches Gefühl wieder belebt werden, d. i. z. B. als Sensibilität für das Vorliegen einer ethischen Problemsituation. 4. An diese Problematik schließt eine weitere Frage unmittelbar an: Worüber nämlich empfindet der Mitfühlende Leid bzw. Freude? Scheler behauptet: »Mitleiden und Mitfreuen sind – wo sie echt sind – niemals eigene intendierte Gefühlszustände.« 76 Matthias Schloßberger arbeitet hier durch seine Bezugnahme auf Schelers Unterscheidung zwischen Gefühlszuständen und Fühlfunktionen heraus, dass es sich bei Scheler um Letzteres handelt: Der Mitfühlende versetzt sich zwar in den anderen gefühlsmäßig hinein, aber das Mitgefühl löst nicht »dasselbe« Gefühl bei ihm aus. Das heißt, der Mitfühlende hat angesichts der Bauchschmerzen des Anderen nicht plötzlich selbst Bauchschmerzen, sondern nimmt eine mitfühlende Gesamthaltung angesichts des Unwohlseins des anderen ein. 77 In diesem Sinne gibt es für Scheler keine »sinnliche Sympathie«, sondern allenfalls eine Gefühlsansteckung durch bestimmte körperliche Äußerungen. Edith Stein kritisiert hingegen gerade eine solche Annahme: Sie sagt, dass sich der Mitfühlende eben nicht über die Freude des anderen freut, sondern über das, worüber er sich freut, d. h., Mitgefühl ist tatsächlich eine Anteilnahme an dem Gefühlszustand des Anderen. 78 Schmitz unterstreicht eine solche Annahme, indem auch er Mitgefühl als »Ausläufer von Wellen fremden Leides oder der Freude« versteht. 79 Scheler entgegnet solchen Erklärungsversuchen, es könne zwar wohl sein, dass der Mitfühlende tatsächlich etwas in sich fühlt, also Freude, Leid oder Schmerz, es sich dabei aber um eine Vermischung von Gefühlsansteckung und Mitgefühl handele. Das Mitgefühl für sich genommen ist

Ebd., 45 f. Vgl. Schloßbergers Auseinandersetzung mit Scheler und Groethuysen in seinem Artikel: Das Mitgefühl als Gefühl, a. a. O., 47 f. 78 Vgl. E. Stein, Zum Problem der Einfühlung, Freiburg 1917, 23, zit. nach M. Schloßberger, Das Mitgefühl als Gefühl, a. a. O., 47. 79 H. Schmitz, Der Gefühlsraum, System der Philosophie, Dritter Band, Zweiter Teil, Bonn 1982, 154. 76 77

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Fazit: Begriffliche und thematische Abgrenzung

weder erlebtes Gefühl noch sinnlicher Zustand, sondern eine reine Gefühlsfunktion. Auch der vorliegende Forschungsansatz kann sich der Problematik solcher begrifflicher und inhaltlicher Schwierigkeiten nicht entziehen. Im Sinne der phänomenologischen Herangehensweise wird deshalb eine vorläufige Öffnung gegenüber angrenzenden Begriffen versucht (z. B. der Gefühlsansteckung, der Perspektivenübernahme und Sympathie). Ziel ist es, im Durchgang das Schimmern der Begriffe, die Zusammenhänge zwischen wesensverwandten Phänomenen aufzuzeigen und als Stufungen und Qualitäten eines Erlebniskontinuums zu begreifen. Eine solche begriffliche Offenheit soll es außerdem gestatten, an einer affektiv-kognitiven Vorentscheidung vorbei, zu den Verbindungslinien zwischen Mitgefühl und kommunikativer Vernunft vorzustoßen. Fernerhin sollen Wesensverwandtschaften zwischen zunächst fremd erscheinenden Gefühlen aufgedeckt (z. B. zwischen Mitgefühl, Neid und Grausamkeit) bzw. Unterschiede zwischen scheinbar ähnlichen Begriffen (z. B. Grausamkeit und Gefühlskälte, Neid und Egoismus usw.) aufgezeigt werden. 80 Durch beispielhafte Situationsanalysen werden den Begriffsfeldern und Erscheinungsformen des Mitgefühls und der kommunikativen Vernunft ihre jeweiligen Genesen, Bedingungen und Anomalien zugeordnet.

2.4 Fazit: Begriffliche und thematische Abgrenzung Als Fazit dieser umfassenden Darstellung von Verstand und Gefühl, Kognition und Emotion in Philosophie, Kognitionswissenschaften und Sozialwissenschaften bleibt Folgendes festzuhalten: Die Komplexität der Emotion-Kognition/Verstand-Gefühl-Debatte macht es schwer, einen umfassenden Beitrag zu liefern. Ein immer wieder angesprochenes Kernproblem besteht insbesondere darin, dass Kognition, Denken, Vernunft, Rationalität (u. a. auch aufgrund ihrer langen Begriffsgeschichte) je unterschiedlich ausgewiesen und definiert werden. Im Zuge der postmodernen Vernunftkritik bleibt das Verhältnis zwischen Wissen, Rationalität und Wahrheit stark umstritten. Der Begriff des Gefühls bzw. der Emotion verzeichnet eine kürze80

Vgl. hierzu Ph. Lersch, Aufbau der Person, a. a. O., 253 ff.

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Konfliktlinien zwischen Vernunft und Mitgefühl

re Begriffsgeschichte. Insbesondere mit Blick auf den Begriff des Mitgefühls macht sich in den letzten Jahren ein Begriffspluralismus bemerkbar, welcher versucht, der Komplexität des Phänomens gerecht zu werden. Von einer Begriffsklarheit bleibt dieser jedoch weit entfernt und droht dadurch, die Dichotomie zwischen Vernunft und Mitgefühl zu verstärken. Die vorliegende Arbeit begegnet diesem Problem, indem sie sich bezüglich des verwendeten Vernunftbegriffs eng an das von Jürgen Habermas entwickelte Konzept einer »kommunikativen Vernunft« anschließt. Dabei erweist sich als Problem, dass Habermas selbst abwechselnd von kommunikativer Vernunft und kommunikativer Rationalität spricht. Den Begriff der »Vernunft« verwendet Habermas insbesondere für philosophisch orientierte Gedankengänge, »Rationalität« hingegen in soziologisch-politischen Kontexten. 81 Für die weitere Argumentation wird dem Begriff der »Vernunft« vor dem der »Rationalität« der Vorzug gegeben. Hinter dieser Entscheidung steht die begriffsgeschichtliche Genese. 82 Der Begriff der »Rationalität« wird hingegen als Abgrenzung verwendet, d. h. für solche Fälle, in welchen es um zweckrationalistische oder strategische Denkvorgänge geht; d. h. Denkvorgänge, welche sich nicht mehr im intersubjektiven Raum befinden. Aus der Begriffsgenese ergibt sich ferner, dass dem Begriff des »Mitgefühls« vor dem der »Empathie« der Vorzug gegeben wird. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: Erstens umspannt der Begriff des »Mitgefühls« eine ästhetische Komponente und zweitens erscheint er in philosophischen Abhandlungen gebräuchlicher. »Empathie« wird als Begriff nur dann verwendet, wenn sich die Argumentation explizit auf einen Autor bezieht, welcher dem Begriff der »Empathie« in seiner eigenen Abhandlung den Vorrang gibt. Für den Begriff des »Mitgefühls« wird ferner eine vorläufige »Begriffsöffnung« vorgeschlagen, um auf diese Weise die internen Zusammenhänge zwischen Vernunft und Mitgefühl genauer auszuleuchten.

Habermas selbst gibt zu, dass diese Verwendung nicht immer konsequent von ihm ausgeführt wird, jedoch als grundsätzliches Unterscheidungskriterium seiner Begriffsverwendung zugrunde liegt (vgl. p.c.: Brief vom 21. Februar 2008). 82 Vgl. hierzu die Begriffsgenese von Rationalität und Vernunft weiter oben. 81

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3. Körper, Raum und Politik: Die Konstitution des politischen Raumes auf der Grundlage des menschlichen Leibes

Ziel dieses Kapitels ist es, eine Phänomenologie des politischen Raumes zu entwerfen. Eingangs wurde dies als »Sphäre des Politischen« bezeichnet und beschrieb damit jenen sinnlich vermittelten und intersubjektiv wahrnehmbaren Handlungsraum, welcher durch gemeinsame Sinnkonstitutionen und Aktionen immer neu entsteht. Diese Sphäre ist bevölkert von fühlenden, leiblich engagierten Personen, welche durch Kommunikation und Deliberation sowohl an den Aktionen teilhaben als auch von deren Auswirkungen betroffen sind. Als konkreter Ort des Politischen gelten sowohl virtuelle als auch architektonische Plätze der Begegnung: »›Public space‹ is the space where individuals see and are seen by others as they engage in public affairs. It is, thus, the space of the town hall meeting, the legislative assembly or any of the other venues where public business is done.« 1 Als sehend und sichtbar, fühlend und fühlbar bildet der Körper aus diesem Grund den unhintergehbaren Urgrund eines solchen Ideen- und Handlungsraumes. Er ist Umschlagstelle zwischen Eigenem und Fremden und ist zugleich durch seine eigene Stofflichkeit und Sichtbarkeit in den Stoff der Welt »eingenäht«. Ziel ist es, darzustellen, auf welche Weise die Verkörperung des Menschen die Sphäre des Politischen konstituiert. 2 Als Grundarchitek-

J. Mensch, Embodiments: From the Body to the Body Politic, Evanston 2009, 175. Wie bereits im Literaturbericht hervorgehoben, ist James Mensch einer der wenigen Philosophen, welcher eine Phänomenologie des politischen Raumes unter den Bedingungen des menschlichen Leibes versucht hat. Aus diesem Grund werde ich in diesem Kapitel vermehrt auf seine Analysen Bezug nehmen. 2 Sicherlich kann im Rahmen dieser Arbeit diese Frage nicht umfassend bearbeitet werden. Vielmehr wird sich der Fokus auf solche Aspekte begrenzen, welche für die zugrunde gelegte Frage – nämlich dem Verhältnis und der Rolle von Rationalität und Mitgefühl im öffentlichen Raum – zentral sind. 1

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Körper, Raum und Politik

tonik für dieses Kapitel dient Arendts Zuordnung der Tätigkeiten Arbeiten, Herstellen und Handeln zu den beiden Sphären des Öffentlichen und des Privaten. 3 Zwar kann Arendts phänomenologische Beschreibung des Öffentlichen als erste dieser Art gesehen werden, jedoch bleibt ihre Analyse ohne jede Anbindung an die Idee des Körpers. Mit dem Ziel, die arendtsche Architektonik des Raumes mit der Idee des Leibes zu vereinen, greife ich auf die leibanthropologischen Analysen der drei Sphären des Daseins – Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt – bei Helmut Plessner zurück. 4 Die Wahrnehmungsphänomenologie bei Maurice Merleau-Ponty wird Plessners drei Daseinsweisen des Menschen um den Aspekt der »Intersubjektivität als Interkorporeität« ergänzen, um die intersubjektive Sinn- und Identitätsgenese im öffentlichen Raum adäquat nachzeichnen zu können. James Menschs phänomenologische Untersuchungen zum politischen Raum dienen dazu, Merleau-Pontys Leibphänomenologie auf Phänomene des politischen Raumes zu übertragen. Schließlich wird Gabriel Marcel an verschiedenen Stellen zur Unterstützung der Verbindungslinien zwischen Leib und Politik herangezogen. Seine Thesen sind weniger programmatisch als vielmehr assoziativ und damit den Gedankenverlauf unterstützend. Die zentrale These lautet: Der Leib fungiert als Resonanzboden zwischenmenschlichen Verstehens und konstituiert so eine öffentliche Handlungs- und Bedeutungswelt. Die Art und Weise, wie sich der Mensch in der Welt durch den Körper einnistet bestimmt schließlich, wie ihm die Dinge sowie die Mitwelt gegeben sind bzw. auf welche Weise er in die Sinnkonstitution und Ordnung der Welt politisch handelnd eingreifen kann. Auf dieser Grundlage entpuppen sich kommunikative Vernunft, im Sinne einer gemeinsamen und perspektivischen Sinnkonstitution, sowie Mitgefühl, im Sinne des Bewohnens eines geteilten emotionalen Raumes, nicht mehr als Dichotomien, sondern als gegenseitig bedingende Faktoren menschlichen Daseins.

3 4

H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1972. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 1975, 293.

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Architektonischer Grundriss

3.1 Architektonischer Grundriss: Der Körper als Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Raum Aufgrund der menschlichen Verkörperung geht ein irreversibler Riss durch die Grundbedingung seines Daseins. In seiner zeitlich-räumlichen Verhältnismäßigkeit bildet sein Leib das Grundgerüst der Grammatik der Sprache und des Raumes: Ich und Nicht-Ich, Hier und Dort. Das »Ich bin« eines Menschen sagt in eins, dass dies »Ich«, identisch nur mit sich selbst, einen Ort im Raum einnimmt, den eben nur er selbst in diesem Augenblick einnehmen kann. Einen Körper haben bedeutet, dass wir immer eine bestimmte Perspektive auf die Welt haben, von welcher aus sich uns der Raum erschließt. Und obgleich wir uns von Position zu Position bewegen, haben wir nie mehr als diese biokulare Perspektive inne. 5 Umgekehrt kann deshalb gesagt werden, dass die absolute Positionierung eines einzelnen Objektes der Tod des Selbstbewusstseins ist. 6 Martin Heidegger sagt: »Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen«. 7 Der Phänomenologe James Mensch denkt diesen Satz weiter und gibt zu bedenken: Ebenso wenig wie man für den Anderen sterben kann, kann man für den Anderen schlafen, essen oder atmen. 8 Diese Unteilbarkeit und Unvertretbarkeit des Körpers in seiner organischen Funktion bestimmt deshalb den engsten Kreis des Privaten. Dieser Aspekt kann am besten durch die Unkommunizierbarkeit von Schmerzen oder Krankheit verdeutlicht werden: Körperliche DysfunkDas ist der Grund, warum der Andere für uns so wichtig ist: »[…] in vollkommener Gegenseitigkeit sind wir füreinander Mitwirkende, unsere Perspektiven gleiten ineinander über, wir koexistieren durch ein und die selbe Welt hindurch« (Merleau-Ponty, PW, 407 f.). 6 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (PW), Berlin 1966, 71. Wenn wir uns der Beschränktheit unserer eigenen Perspektive auf die Welt bewusst werden, dann wird uns die Wichtigkeit des Anderen klar, weil er genau den blinden Fleck meiner eigenen Perspektive ergänzt und wir nur zusammen eine intersubjektiv zugängliche und erfassbare Welt generieren. Hierzu gehört insbesondere, dass ich mir erst durch den Blick des Anderen meiner eigenen Körperlichkeit als sichtbare Erscheinung bewusst werde. Mein Körper wird mir durch den Anderen als dieses Objekt gegeben. Erst dadurch erhalte ich selbst eine generalisierte Perspektive auf die Welt, in welcher mein eigener Körper ein Objekt unter vielen anderen ist. 7 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967, 240. 8 Vgl. J. Mensch, Empathy and Rationality, in: B. Weber, E. Marsal u. T. Dobashi (Hg.), The Politics of Empathy. New Interdisciplinary Perspectives on an Ancient Phenomenon, Münster 2011. 5

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tionen oder Krankheiten minimieren die Aufmerksamkeit für Andere. Gleichzeitig wird der eigene Körper zum Ballast, in manchen Fällen gar zum Fremdkörper. 9 »Empfänglichkeit als die Bestimmung des Ich wird im Unwohlsein so gemindert zugunsten einer dumpf vor sich hinleidenden Passivität, die so weit gehen kann, dass Unwohlsein eigentlich gar nicht mehr leidet, dass das Ich gleichsam verschluckt wird vom Gefühl des Unwohlseins.« 10 Eine solche Verkettung zwischen der körperlichen Funktion des Menschen und dem privaten Leben ist nicht neu. 11 Auch Aristoteles assoziiert mit dem privaten Leben den Bereich biologischer Notwendigkeit. Ihm sind die Gesetze der Ökonomie, d. h. des Produzierens und Konsumierens, zugeordnet, 12 denn jeder Konsum nagt an einem Teil der Welt, um diesen dem unteilbaren Bereich der Privatheit, d. i. des eigenen Körpers, und in seiner unvertretbaren organischen Funktion, zuzuführen. In diesem Sinne zehrt die Privatheit am Öffentlichen bzw. bedroht diese. Der Bereich des Privaten ist lebensnotwendig, er wird aber von Aristoteles niemals mit dem eigentlichen, »guten Leben« (eu zen) verwechselt. Der oikos gilt deshalb nur als eine Art Vorhof zum eigentlichen, öffentlich-politischen Leben in der polis, in welchem sich der Einzelne in seiner Einzigartigkeit zu entfalten vermag. 13 Das heißt, in der organischen Funktion und Bedürftigkeit sind wir zwar unvertretbar, aber schließlich alle ähnlich. Erst als in der Welt verwirklichendes Wesen kommt uns jene anthropologische Potentialität zu, welche uns einzigartig macht. 14 »Im Gegensatz hierzu [zum Privaten] war der Raum der Polis das Reich der Freiheit, und sofern es überhaupt einen Zahnschmerzen sind z. B. häufig von der Phantasie begleitet, man könne sich den schmerzenden Zahn herausreißen. F. J. J. Buytendijk, Über den Schmerz, Bern 1948, 138. 10 G. Marcel, Leibliche Begegnung, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit, Paderborn 1985, 31. 11 Mit den folgenden Überlegungen beziehe ich mich auf Hannah Arendts Interpretation der aristotelischen Unterscheidung zwischen oikos und polis (H. Arendt, Vita activa, a. a. O., 33–98). 12 Vgl. Aristoteles, Politik, Werke in deutscher Übersetzung, 19 Bände, hg. v. H. Flashar, Berlin 1965 ff. 13 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Werke in deutscher Übersetzung, 19 Bände, hg. v. H. Flashar, Berlin 1965 ff. 14 Vgl. die aristotelische Unterscheidung zwischen verschiedenen Machtverhältnisse in oikos und polis in seiner Politik. 9

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Architektonischer Grundriss

Bezug zwischen diesen beiden Bereichen gab, so galt für ihn natürlicherweise, dass die Beherrschung der Lebensnotwendigkeiten innerhalb eines Haushaltes die Bedingungen für die Freiheit in der Polis bereitstellte. […] dass der Sitz der Freiheit ausschließlich im politischen Bereich lokalisiert ist, dass Notwendigkeit ein präpolitisches Phänomen ist.« 15 Diese frühe Assoziation zwischen Körper, Lebensnotwendigkeit und oikos ist wohl der Grund, warum auch später der Körper keinerlei Eingang in die Konstitution des politischen Raumes fand. Die Ausblendung des Körpers aus dem öffentlichen Raum lässt die Frage offen, auf welche Weise überhaupt eine gemeinsame Welt entsteht, in welcher wir uns handelnd aktualisieren und politische Ordnungen schaffen. Oder anders gefragt: Was kann politische Handlung ohne Körper überhaupt bedeuten? Hier kommt dem Körper eine dritte Eigenschaft zu: Er ist sowohl sehend als auch sichtbar. Erst diese Doppelfunktion ermöglicht, dass der Mensch in seinem Ausdruck und Handeln wahrgenommen wird und zugleich Andere in ihrem Ausdruck und Handeln wahrnimmt. Gabriel Marcel sagt in seiner Abhandlung zur »Leiblichen Begegnung«: »Ein solches Erkennen ist dem Leibe verbunden, ja es ist nahezu ununterscheidbar vom Gewahrwerden des Leibes, der in einem letzten Sinn nicht nur Möglichkeit oder gar Instrument unserer Begegnung mit anderen Menschen, sondern als Gestalt dieser Erschlossenheit und dieser Beziehung zu den anderen ist.« 16 Obgleich der Körper in seiner organischen Funktionsweise unvertretbar, unkommunizierbar und damit privat bleibt, bildet er durch seine Sichtbarkeit und Materialität die primordinale Begegnungsfläche zwischen mir und Anderen. Oder anders gesagt: Eben jene Stofflichkeit, die uns unwiderruflich voneinander trennt, bedingt zugleich, dass wir in einer gemeinsamen Welt leben. Als Medium oder auch existentielle Bruchstelle zwischen Selbst und Anderen, Eigenem und Fremdem, Ich und Welt zieht sich der Körper in den Zwischenbereich von Objekt und Subjekt zurück. 17 Zwischen diesen Körpern, den Blicken, den Gesten formiert sich eine öffentliche, intersubjektive Welt, in welcher sich der Mensch als H. Arendt, Vita activa, a. a. O., 41. G. Marcel, Leibliche Begegnung, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit, a. a. O., 45. 17 Deshalb vermag Merleau-Ponty zu sagen: »In eins damit, dass der Leib sich aus der objektiven Welt zurückzieht und also zwischen reinem Subjekt und Objekt eine dritte Seinsweise bildet, büßt das Subjekt selbst seine Reinheit und Transparenz ein« (PW 401). 15 16

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Körper, Raum und Politik

Leib handelnd aktualisiert. Das heißt, die Doppelrolle des Körpers, als Subjekt und Objekt, als seiend und habend 18, trennend und zugleich verbindend mit allem, konstituiert sowohl den privaten Rückzug als auch den öffentlichen Raum. Ich werde dies im Folgenden genauer ausführen.

3.2 Lebenswelt und Herstellungswelt: Die offene Struktur des Leibes Das Heraustreten aus der Unmittelbarkeit der Umwelt und das Erscheinen der »Gegen-Stände« Der Mensch beginnt sein Leben in der noch körperlosen Anonymität von Selbst und Welt: Ein Kind ist sich weder seiner selbst noch seines eigenen Körpers bewusst, sondern erlebt sich in einer Einheit mit der sozialen und dinglichen Umwelt. Sein Körper als Eigenleib schält sich erst durch das eigenartige Phänomen der Doppelempfindung heraus: Wenn wir ein Stück Seide in der Hand wenden, so fühlen wir die Seide und zugleich die eigene Hand, welche die Seide spürt. Berühren wir nun die eigene Hand, dann fühlen wir die Hand »von außen« als Objekt und zugleich »von innen«, wie diese Hand von der anderen befühlt wird. »Jede Hand wird sich dadurch selbst als ein sinnliches Objekt bewusst. Eine jede Hand berührt sich als Objekt, und ist durch die Berührung zugleich Subjekt des Berührens. Die Möglichkeit des Fleisches, Subjekt und Objekt zugleich zu sein, ist die spezifische Eigenschaft des Selbstbewusstseins.« 19 Die Doppelempfindung führt dazu, dass sich der Mensch als Subjekt und Objekt zugleich gegeben ist. 20 Diese Polarität zwischen fungierendem Leib und raum-zeitlich erfassbarem Körperding beschreibt Plessner als die exzentrische Position des Menschen. 21 Ein Vergleich mit dem Pflanzen- und Tierreich ver»Der Leib ist die Wurzel des Habens und die Bedingung jedes dinghaften Besitzes.« (Marcel, Leibliche Begegnung, a. a. O., 18.) 19 J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 24 ff. 20 Vgl. hierzu die ausführlichen Beschreibungen von Merleau-Ponty in PW; natürlich erlebt ein Kind diese Doppelempfindung weitaus dramatischer, wie z. B. wenn es den eigenen Zeh mit etwas Essbarem verwechselt oder sein Haar mit einem Spielzeug. 21 Ich beschränke mich bei der folgenden Darstellung auf Plessners Leibanthropologie, um die Komplexität der Thematik vorerst zu reduzieren. Zunächst wird der menschliche Raum nur zwischen den beiden Polen von Leib und Körper aufgespannt. Im Fortgang 18

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Lebenswelt und Herstellungswelt: Die offene Struktur des Leibes

mag diese Sonderstellung zu verdeutlichen: Plessner beschreibt Pflanzen als offene Daseinsform, weil sie keine organische Mitte besitzen. Zum Beispiel kann ein Baum auf einen anderen »aufgepfropft« werden oder aus einem Teil einer Pflanze kann eine genetisch identische neue Pflanze entstehen. 22 Pflanzen sind deshalb keine »Individuen«, weil ihr Sein teilbar und unabgegrenzt ist. Die Flora entbehrt die architektonische Unterteilung in privaten und öffentlichen Raum, weil ihre organische Präsenz grundsätzlich »vertretbar« ist. Das Tier besitzt hingegen eine geschlossene Daseinsform. 23 Das heißt, sein Sein ist organologisch um ein Zentrum herum organisiert und nach außen hin als Einheit abgeschlossen. Anders als die Pflanze ist es in seinem organischen Funktionieren unvertretbar und kann durch niemanden ersetzt werden. Im Gegensatz zum Menschen ist es sich aber seiner eigenen Mitte nicht bewusst. »Die Schranke der tierischen Organisation liegt darin, dass dem Individuum sein selber Sein verborgen ist, weil es nicht in Beziehung zur positionalen Mitte steht, während Medium und eigener Körperleib ihm gegeben, auf die positionale Mitte, das absolute Hier-Jetzt bezogen sind. […] Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte.« 24 Aufgrund dieser Nichtrelativierbarkeit seines eigenen Standpunkts versinken sämtliche Objekte für das Tier in der Unbedingtheit des Augenblicks. 25 Oder anders gesagt: Es sieht immer nur einen spezifischen Baum, Tisch, Stein etc., niemals aber die Abstraktion desselben. Aus diesem Grund existiert für das Tier kein intersubjektiv geteilter, der Argumentation muss ich diese zweidimensionale Argumentationsstruktur durch weitere Theorien, u. a. Merleau-Ponty, aufbrechen, um zu zeigen, inwiefern bei der Konstitution der Sphäre des Politischen, Mitgefühl und Vernunft auf der Basis des Leibkörpers zusammenwirken, und einen intersubjektiven Handlungs- und Sinnraum entstehen zu lassen. 22 »Offen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.« (Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 219.) 23 »Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenkreises macht.« (Ebd., 226.) 24 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 289. 25 Es sei an dieser Stelle betont, dass Plessners Ausdruck »das Tier« natürlich sehr allgemein gefasst ist. M. E. können wir natürlich nicht wissen, inwiefern Delphine, Wale oder ähnlich hochentwickelte Säugetiere sich der exzentrischen Stellung des Menschen annähern oder evtl. diese sogar übersteigen.

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Körper, Raum und Politik

politischer Raum. Vielmehr bleibt es der eigenen Mitte und damit der Unmittelbarkeit des eigenen Hier-und-Jetzt-Seins verhaftet. Der ihm gegebene Raum bleibt der private und wird nie geometrischer oder intersubjektiver Raum, weil es sich nicht in die Perspektive des Anderen hineinversetzen kann. Der Blick des Anderen verstummt angesichts der Absolutheit seiner je gegebenen Perspektive. Wodurch aber unterscheidet sich der Mensch, laut Plessner, von der geschlossenen Daseinsform des Tieres? Was genau kennzeichnet seine exzentrische Position? Die Transzendenz der eigenen Mitte kommt dem Menschen nicht lediglich durch eine Verdoppelung des eigenen Selbst zu. Eine solche Verdoppelung, sozusagen »hinter« dem eigentlichen Selbst, würde einzig in einem regress ad infinitum enden. Und eine solche Gefahr besteht immer dann, wenn Reflexionstheoreme das Subjekt als fertige und in sich abgeschlossene Größe denken. Plessner begreift den Menschen jedoch in statu nascendi, d. i. in einer sich stets aktualisierenden und offenen Daseinsweise. Der Mensch erkennt seine eigene Mitte und entwirft sein Leben zwischen erkennendem Sein und eigenem Vollzug (Selbstsetzung). »Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der ›hinter sich‹ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen dem Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandstellung zu rückende Subjektpol.« 26 Der Mensch lebt seine Mitte, ist sich aber zugleich dieser Mitte in Relation zu den Gegenständen und der Mitwelt bewusst. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Erst durch die Bewusstwerdung der eigenen Mitte entsteht für den Menschen eine handhabbare Welt der Gegenstände sowie eine soziale Mitwelt. Ich werde dies im Folgenden eingehender erklären: Dem Tier kommt im Unterschied zum Menschen die Position der Frontalität zu: Es ist einerseits von der Umwelt geschieden, bleibt aber andererseits absolut auf diese bezogen. 27 Sein Leben bleibt an die eigene Mitte gebunden und kann deshalb als zentrisch betrachtet werden. Die Objekte der Umwelt vermag das Tier nur unvollkommen aus

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H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 291. Vgl. ebd., 291.

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Lebenswelt und Herstellungswelt: Die offene Struktur des Leibes

ihrem Kontext herauslösen, weshalb sie ihm noch keine »Gegen«-stände geworden sind. 28 Der Mensch steht im Gegensatz zum Tier exzentrisch aus dem Hier und Jetzt heraus: »Positional liegt ein Dreifaches vor: Das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außerhalb des Körpers als Blickpunkt, von dem aus es beides ist.« 29 Entwicklungspsychologisch lässt sich das exzentrische Haustreten des Bewusstseins an die Sprachentwicklung anbinden. Zu Beginn des analytischen Diskursmodus steht die Unterscheidung von Ja und Nein. ›Ja‹ symbolisiert die Verbundenheit mit der Welt, während das ›Nein‹ die Möglichkeit der Trennung darstellt. Aus diesem Grund spricht der Entwicklungspsychologe Jürgen Seewald von dem »Nein« der Bezugsperson als dem ersten »Ur-Teil« in der Entwicklung des Kindes. 30 Es handelt sich hierbei um einen Konflikt zwischen Leib- und Beziehungsthema: Das Kind möchte mit seinem Leib die Welt »erobern«, aber die Bezugsperson setzt diesem Eroberungswillen Grenzen und Verbote. In diesem Moment ist die Bezugsperson eben nicht mehr ›Teil‹ seiner selbst, sondern widersetzt sich den eigenen Lustvorstellungen. Das heißt, das Kind erfährt sich zum ersten Mal als von seiner dinglichen und sozialen Umwelt unabhängiges Wesen. 31 Erst hierdurch erhält es die Möglichkeit, Ein Beispiel für die kontextfremde Verwendung von Objekten wäre die Herstellung von Werkzeugen bzw. die Verwendung solcher Werkzeuge zur Herstellung anderer Werkzeuge (2. Ordnung der Werkzeugherstellung). Erst hier wird das Ding zum handhabbaren Gegenstand. Ein solcher Gegenstandsgebrauch lässt sich selbstverständlich in Ansätzen bei hochentwickelten Primatenformen beobachten. Plessner geht mit seiner Unterscheidung zwischen Tieren und Menschen sehr strikt vor. Um eine solche distinkte Abgrenzung etwas abzuschwächen, schlage ich vor, den Übergang vom Tier zum Menschen als Entwicklungslinie mit Brüchen zu sehen. Eine allzu anthropozentrische Deutung der Entwicklungsgeschichte erscheint aufgrund neuer Beobachtungen im Bereich der Ethnologie unangebracht und m. E. überheblich. Man kann Plessner jedoch auch so auslegen, dass für ihn das Menschsein nicht auf die menschliche Physiognomie beschränkt ist und damit evt. auch im sog. »Tierreich« vorkommen mag. Darauf deutet eine Äußerung auf Seite 307 in den Stufen hin. 29 Vgl. ebd., 293. 30 J. Seewald, Leib und Symbol. Ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung, München 1992, 402. 31 Die Überwindung dieser ersten Trennung (»Ur-Teil«) wird auf zwei Weisen versucht: durch a. die Sprache als Bindeglied zwischen mir und dem Anderen sowie b. durch die Aufnahme des Anderen in mir selbst. Ad a.: Durch die Sprache löst sich das Selbst vom Anderen, ohne den Zugang zur ursprünglichen Einheit aufzugeben. Die spielerische Aneignung der Symbolsprache vermag alte Erfahrungen mit neuen leibhaftigen Erfah28

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die Dinge zu formen, d. h. die Welt, wie sie ihm erscheint, zu gestalten – im Sinne des homo fabers. Für die exzentrische Daseinsform kommt es so zu folgendem Paradox: Einerseits bleibt der Mensch als Leib auf seine raum-zeitliche Gegebenheit beschränkt, d. h., er kann immer nur einen Ort einnehmen, den er mit niemandem zu teilen vermag. Seinen Leib kann er weder verlassen noch übersteigen. Andererseits erkennt der Mensch rückschauend diesen Leib als sich selbst und verlässt dadurch gedanklich die Unmittelbarkeit seines leiblichen Hier und Jetzt. Nur durch dieses stete »Über-sich-hinaus-Sein« vermag der Mensch das Anheben eines Affekts zu erkennen und zu kontrollieren. 32 Entwicklungspsychologisch ist die »Nein-Geste« der Bezugsperson deshalb Voraussetzung dafür, dass das Kind sich selbst als getrennt von der Umwelt erkennt. Erst auf dieser Grundlage ist es ihm möglich, sein eigenes Verhalten schrittweise zu kontrollieren: d. h. von der Unmittelbarkeit rungen zu verbinden. Zunächst wohnt dem Lautzeichen das Bezeichnete noch ein. Es ist das Spiel mit Einheit und Trennung, Übernahme und Aneignung durch Veränderung. »Das Kind, das sich einsam und verlassen fühlt (weil es sich nun von der Mutter abgetrennt weiß), findet im Sprechen einen Ausgleich. […] Wer spricht, trennt sich und hat doch das Gefühl der Verbundenheit mit dem Anderen« (Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 456 f.). Ad b.: Das Verbot wird Teil des Leibselbst und setzt sich selbst Grenzen. Das Kind lernt sich seine eigene Lust zu versagen. Um dies zu verstehen, muss betont werden, dass das Kind bisher an die Mutter gebunden ist, das heißt sich in einer Einheit mit ihr befindet. Durch die Nein-Geste der Mutter entsteht im Kind ein »Gefühl der Leere« (ebd. 392), weil etwas sich gegen die eigenen Allmachtsphantasien wehrt. In der Trotzphase eignet sich das Kind diesen Modus aktiv an. Nun ist es das Kind, das gegen den Willen der Mutter aufbegehrt. Es lehnt sich aber dadurch zugleich gegen sich selbst und seinen eigenen Leib auf. Beide sind nämlich noch eng mit der Mutter verbunden. Das macht verstehbar, warum das Nachgeben der Mutter das Kind oft noch zorniger macht. In anderen Situationen ist umgekehrt zu beobachten, dass das Kind nun die Verbote der Eltern bereits internalisiert hat. Nun geht es langsam auf die verbotenen Objekte zu und sagt zugleich zu sich selbst »nicht anfassen«. Es entsteht ein Sprechen des Anderen. »Der Diskurs wird nun von einem Anderen […] übernommen« (Gori 1982, 117, zit. nach Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 392). »In der Konsequenz führt dies wie wir sahen zu einer Hereinnahme der versagenden Mutter und damit des ›Anderen‹ in das eigene Selbst bzw. das eigenleibliche Spüren« (Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 395). D. h. die vormals äußere Spiegelung des eigenen Verhaltens durch den Anderen wird nun internalisiert. 32 Sartre verstärkt diese Einsicht und konstatiert, wir seien dadurch zugleich »zur Freiheit verdammt«, d. h. wir haben in jedem Augenblick die Möglichkeit, uns als solches zu setzen und dadurch einen neuen Entwurf unseres Selbst zu wagen (vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1998).

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Lebenswelt und Herstellungswelt: Die offene Struktur des Leibes

seines gesetzten So-Seins Abstand zu nehmen, um sich in die Zukunft zu entwerfen. Weil sich der Mensch aber umgekehrt nur rückschauend erfasst, hat er sich selbst immer schon transzendiert. Das heißt, die reflektierte Selbstsetzung ist eine Setzung im Nachhinein und erfasst sich nie in seinem eigentlichen Sein. Der Mensch tritt deshalb aus seinem So-Sein heraus und in die Zukunft hinein. Für Plessner ist diese spezifische Form der Selbstsetzung 33 fundamental an die Verkörperung des Menschen rückgebunden: Der Mensch ist sich als Körper in seiner relativen Bezogenheit zur Welt und als Objekt gegeben, d. h., er vermag sich im Raum-Zeit-Kontinuum und Relation zu anderen Gegenständen zu verorten. Gleichzeitig ist er als gelebter Leib, in seiner grundsätzlichen Offenheit, immer schon über diese Setzung hinaus und ist auf die Dingwelt und die soziale Mitwelt unmittelbar bezogen. 34 Das erkennende Ich ist »hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann« 35. Das heißt, das Menschsein hat nur peripher mit seinem Phänotyp zu tun. Es bedeutet ferner, dass der Mensch als exzentrisches Wesen zugleich immer auch Tier bleiben muss, weil die zentralistische Organisationsform Basis seiner Exzentrizität ist. Nur das zeitlich-örtlich »beschränkte«, d. i. verkörperte Sein kann sich auf »etwas« reflexiv beziehen. Wenn es kein Definitivum gibt, keinen Haltepunkt, kann sich der hinter sich liegende Fluchtpunkt nicht auf dieses Quale stützen. Exzentrisch bedeutet hier mehr als »außer sich liegend«. Der Mensch flieht sich selbst im Augenblick seines Gewahrwerdens: Wir sind immer schon mehr als wir rückwirkend entdecken. »Ihm ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären … Sie [diese Einheit] ist der Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung, die für den Lebendigen selber dem absoluten Die Idee einer solchen Selbstsetzung als Übernahme des kontingenten Ursprungs des Selbst findet sich bereits bei Kierkegaard, welcher sich hiermit implizit auf den Begriff der Selbstsetzung bei Fichte bezieht. 34 Die Vermutung liegt nahe, diese Offenheit des Menschen als Voraussetzung für seine Anpassungsfähigkeit zu sehen. Eine ähnliche Interpretation, obgleich auf biologischer Ebene, findet sich in der Theorie des »Menschen als Mängelwesen« bei Arnold Gehlen. 35 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 292. 33

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Körper, Raum und Politik

Doppelcharakter und Doppelaspekt von Körperleib und Seele gleichkommt, in der er ihn erlebt.« 36 Er ist weder ganz bei sich noch ganz bei der Welt und eben durch diese eigene Gebrochenheit bricht das Sein zum Anderen sowie die Möglichkeit für eine gemeinsame, intersubjektive Welt auf, in welcher die Perspektiven ineinander- und hindurchgleiten. Im Chiasmus dieser Blickwinkel entsteht die Offenheit und Wirksphäre des Politischen. Seine exzentrische Stellung reist den Menschen aus der Unmittelbarkeit seines Umfeldes heraus. Nur so gelingt es ihm, seine eigene Perspektive zu relativieren und zugleich die Perspektive eines Anderen einzunehmen. Aus der Konvergenz der Perspektiven und kontextfernen Aneignung der Welt entsteht eine gemeinsame, intersubjektive Welt. In der dialogischen Aktualisierung des absoluten leiblichen Nullpunkts und zugleich der geometrischen Verortung in einer Welt als Körperding durchdringen sich Eigenes und Fremdes und legen den Grundstein für die Findung einer intersubjektiven Ordnung in einer handzuhabenden Welt. Erst auf dieser Grundlage wird die Welt zur Bleibe, zum Ort intersubjektiver Sinngebung und Handlungsfreiheit (im Sinne einer Wirkfreiheit des homo faber). Die politische Sphäre kann deshalb als jener Ort bezeichnet werden, in welchem Besonderheit und Allgemeinheit ineinandergreifen und auf diese Weise den Grundstock für eine gemeinsame Lebenswelt legen. Verortet ist diese Sphäre im Bereich der Intersubjektivität als Interkorporeität. 37 Perspektivität und Intersubjektivität: Konstitution einer gemeinsamen Welt Arnold Gehlen bezeichnet den Menschen aufgrund seiner körperlichen und geistigen Unangepasstheit als »Mängelwesen«. 38 Bei Plessner bleibt der Mensch in gewissem Sinne ein »Mängelwesen« der Selbsterkenntnis, weil er sich selbst immer schon entgleitet. Ähnlich wie bei Gehlens Unangepasstheit ergibt sich aber aus jenem Mangel ein Vorteil: Seine Exzentrizität ist Voraussetzung für Intersubjektivität, d. i. die Entstehung einer gemeinsamen Sinn- und Dingwelt. Ebd. Dieser von Merleau-Ponty geprägte Begriff der »Zwischenleiblichkeit« oder »Intercorporéité« bedeutet, dass sich Sinn im intersubjektiven Raum der Zwischenleiblichkeit generiert. Ich werde darauf im folgenden Kapitel weiter eingehen. 38 Vgl. A. Gehlen, Der Mensch – Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940. 36 37

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Lebenswelt und Herstellungswelt: Die offene Struktur des Leibes

Der Begriff der Lebenswelt bildet die Leinwand, vor welcher politisches Handeln seinen intersubjektiven Sinn erhält. Jedoch obliegt es nicht nur der Interpretation des Einzelnen, welcher Sinn einem Gegenstand zukommt, sondern die Dinge haben in sich einen Appellcharakter, d. h., sie appellieren an eine gewisse Handhabung, die sich aus den körperlichen Möglichkeiten des Menschen ableitet. Insbesondere Kulturgegenstände, welche von Menschen für Menschen hergestellt wurden, zeigen ihren Sinn an und suggerieren so in sich die Anwesenheit einer Gesellschaft. »Im Kulturgegenstand erfahre ich die nächste Gegenwart von Anderen unter dem Schleier der Anonymität.« 39 Das bedeutet, dass die Lebenswelt, welche einer Gesellschaft zugrunde gelegt ist, bereits in der »äußeren Welt« durch Handlungs- und Verhaltensmodi angelegt ist. Ich möchte dies im Folgenden auf der Grundlage von Hannah Arendts Unterscheidung zwischen den verschiedenen Modi des Agierens darlegen. Arendt bezeichnet das Arbeiten, im Sinne eines beständigen und die körperlichen Funktionen aufrechterhaltenden Produzierens und Konsumierens, als unterste Tätigkeitsform. Die Arbeit schafft nichts von Dauer, sondern erschöpft sich in der Zirkularität von Essen, Reproduzieren, Sterben. Sie ähnelt der geschlossenen Form des Tieres bei Plessner. Der Leib mischt sich mit dem Material seiner Arbeit und vermag sich deshalb nicht von der unmittelbaren Körperlichkeit, d. i. Privatheit, zu lösen. 40 In diesem Sinne trägt die Arbeit nichts zur Sphäre der Öffentlichkeit bei, sondern bleibt an die Bedingtheit des organischen Funktionierens gebunden. 41 Erst der Mensch als homo faber vermag sich aus diesem zirkulären Weltbezug des Organischen zu lösen: Er ist sich sowohl als Leib wie auch als objektiver Körper gegeben. Aus diesem Grund erscheinen ihm die Dinge der Umwelt als »Gegen«-stände, d. h. als Objekte, die ihm aus dem Sein entgegenstehen. Er hat die Möglichkeit, manipulierend M. Merleau-Ponty, PW, 399. Vgl. H. Arendt, Vita activa, a. a. O., 61. 41 Freilich wird der Unterschied zwischen Tier und Mensch durch die Arbeit bereits bei Friedrich Engels erwähnt: »[…] der Mensch macht sie [die Natur] durch seine Änderung seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie. Und das ist der letzte, wesentliche Unterschied des Menschen von den übrigen Tieren, und es ist wieder die Arbeit, die diesen Unterschied bewirkt.« (F. Engels, Dialektik der Natur, in: MEW, Bde. 20, Berlin 1972, 452). Freilich unterscheidet Engels nicht zwischen Arbeiten und Herstellen in der Weise wie H. Arendt. Umgekehrt erwähnt Engels den Körper eingehender als Arendt. 39 40

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Körper, Raum und Politik

auf die Außenwelt zu seinen Gunsten und Wünschen einzuwirken und schafft so Kulturdinge von Dauer. Damit bricht er aus der frontalen Stellung des Tieres aus. Natürlich liegt in dem Formungswillen des homo faber einerseits etwas Gewalthaftes und Prometheisches. Andererseits ist die Fähigkeit der Erschaffung einer Kulturwelt die Voraussetzung dafür, dass wir immer schon in eine existente Welt hineingeboren werden. Die Stabilisierung der Dingwelt führt zugleich zu ihrer Objektivität, weil sie sich so dem reißenden Strom der Veränderung entzieht. »Die Umwelt des Menschen ist die Dingwelt, die Homo faber ihm errichtet, und ihre Aufgabe, sterblichen Wesen eine Heimat zu bereiten, kann sie nur in dem Maße erfüllen, als ihre Beständigkeit der ewig-wechselnden Bewegtheit menschlicher Existenz standhält und sie jeweils überdauert, d. h. insofern sie nicht nur die reine Funktionalität der für den Konsum produzierten Güter, sondern auch die bloße Nützlichkeit von Gebrauchsgegenständen transzendiert.« 42 Zentral ist an dieser Stelle, dass die Herstellung einer Kulturwelt die Voraussetzung für sämtliches politisches Handeln darstellt. Denn erst die Herstellungswelt konstituiert eine gemeinsame Welt von Dauer, d. i. eine Welt, die sich von der Unmittelbarkeit des organischen und je spezifischen Daseins gelöst hat. Im Gegensatz zum Tier, dessen Eingebundenheit in die Umwelt ihm die Möglichkeit zur Transzendenz der eigenen organischen Belange versagt, vermag der Mensch durch seine exzentrische Position sich von der Privatheit dieser Umwelt zu lösen, um eine allgemeine Welt zu schaffen – eine Welt, in welcher die Körper je austauschbare Fixpunkte eines Koordinatensystems bilden und auf diese Weise von jedem gleichermaßen erfasst werden können. Warum das so ist und warum hierfür die Körperlichkeit des Menschen ausschlaggebend ist, soll im Folgenden genauer dargestellt. Im vorhergehende Kapitel konnte gezeigt werden, dass die von Dingen erfüllte Umwelt des Tieres durch die exzentrische Position des Menschen in eine von Gegenständen angefüllte Außenwelt verwandelt wird. 43 In dem Moment, da sich der Mensch als objektiver Körper und relativ zum Raum-Zeitgefüge gegeben ist, erhält auch die Welt eine von ihm unabhängige Eigenständigkeit. Diese Erkenntnis wird dadurch belegt, dass aus entwicklungspsychologischer Perspektive die Fähigkeit zur Objektpermanenz bei Kindern zeitlich mit dem Erkennen des eige42 43

H. Arendt, Vita activa, a. a. O., 211. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 293.

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Lebenswelt und Herstellungswelt: Die offene Struktur des Leibes

nen Körpers im Spiegel zusammenfällt. 44 »Der Exzentrizität der Struktur des Lebewesens entspricht die Exzentrizität der Lage oder der unaufhebbare Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und Leib, als Ding unter Dingen an beliebigen Stellen des einen Raum-Zeitkontinuums und als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen.« 45 Beides ist absolut notwendig: sowohl der Leib als Mitte mit den absoluten Raumrichtungen als auch der Mensch als Körper, welcher in die Leere eines Raumzeitganzen eingegliedert ist und sich hier in Relation zu anderen Gegenständen und Personen zu verorten weiß. Der Mensch ist sich aus diesem Grund zuständlich und gegenständlich zugleich gegeben. 46 Nun wäre aber dieser Doppelaspekt eben nur eine Verdoppelung, würde nicht die exzentrische Position auf das In-der-Welt-Sein zurückwirken: Der Mensch hat seine absolute Mitte verlassen, flieht sich selbst, und ist sich damit in seinem Leibsein anders gegeben. Das heißt, der Mensch ist eben nicht einmal »fungierender Leib«, dann wieder »rein objektivierte Körperlichkeit«, vielmehr ist er durch die Bewusstwerdung seiner selbst Körperding und Leib zugleich. Außerhalb seiner Mitte lebend, sich selbst bewusst als Körper unter Körpern, ist er sich als Selbst entzogen und vermag deshalb nie mehr in die vorreflexive Seinsweise einer absoluten Mitte zurückzukehren. Der Mensch ist fortan in seinem Selbstsein unabgeschlossen und zur Umwelt geöffnet. Dies charakterisiert im eigentlichen Sinne die exzentrische Position des Menschen. Durch diese offene Struktur des Leibkörpers erscheint dem Menschen die Welt als eine Ansammlung handhabbarer Gegenstände. Zugleich präsentiert sich die Welt in ihren unzähligen »Rückseiten« und Das Kind weiß nun, dass ein jedes Ding (und hierzu gehört auch der eigene Körper) zu gegebener Zeit einen Ort einnimmt. Dieser Ort kann verändert werden, weil sich der Mensch durch den Raum bewegt. Damit einher geht die Erkenntnis von sich selbst als ein von anderen getrenntes, aber sichtbares Körperding (vgl. J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O.). 45 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 294. Vgl. auch H. Plessner, Philosophische Anthropologie, hg. v. G. Dux, Frankfurt am Main 1970, 43: »Er hat sie [die physiche Existenz], und er ist sie. Er steht ihr gegenüber wie einem Etwas, das er beherrscht oder von sich abtut, das er als Mittel, als Instrument gebraucht, er steht in ihr, und er fällt […] mit ihr zusammen. Darum ist das körperleibliche Dasein für den Menschen in sich nicht eindeutig, sondern doppeldeutig, ein Verhältnis zwischen sich und sich […]. Wer in diesem Verhältnis steht, kann dabei offenbleiben.« 46 Vgl. H. Plessner, Philosophische Anthropologie, a. a. O., 46 u. 49. 44

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Körper, Raum und Politik

Lücken (Appräsentationen). Diese Lücken bleiben dem Selbst in der Einsamkeit verborgen. Erst der Blick des Anderen, z. B. wenn ein Besucher das Büro betritt, entfaltet die Rückseiten der eigenen Perspektive. In der Begegnung mit anderen antizipieren wir deren Perspektive immer schon mit. Hieraus konstituiert sich eine Mitwelt. In einer Mitwelt zu leben bedeutet, dass die Gegenstände in ihrer Mehrperspektivität, d. h. Abstraktion, wahrgenommen werden. Diese universale Perspektive ist nur möglich, weil der Mensch der Welt entäußert gegenübersteht, d. h. sich aus der Unmittelbarkeit des RaumZeitganzen zu lösen vermag. 47 Durch das Einbeziehen und Offenhalten für den Blick des Anderen wird die Welt zur allgemeinen, d. h. intersubjektiven Welt, in welcher mir der Andere immer schon »entgegenkommt«. 48 »Wie sich mir Welt und eigener Körper nur offenbaren und von mir beherrschen lassen, sofern sie in Beziehung zu mir als Ichzentrum treten, behalten sie auf der anderen Seite ihr Übergewicht über die Gebundenheit in dieser Perspektive als eine gegen mich gleichgültige, in relative Gegenseitigkeiten mich einbeziehende Ordnung.« 49 Hierbei möchte ich auf eine wichtige Überlegung hinweisen: Unsere Wahrnehmung vermag nicht die »wahren Gegenstände« zu konstituieren und selbst der »abstrahierte Blickwinkel« basiert auf einem »Sein-unter-den-Dingen« und »Sein-mit-Anderen«. Aus diesem Grund setzt der Blick des Anderen meine eigene Wahrnehmung nicht als »privat« oder »subjektiv« herab. Verschiedene Perspektiven existieren nicht »getrennt« voneinander, sondern schieben sich ineinander bzw. versammeln sich um die Dinge. »In Wahrheit ist der AnObgleich ich mich der Unmittelbarkeit eines Baumes zuwenden kann, ist er mir zunächst immer schon in seiner Abstraktion, d. h. als Begriff des Baumes, gegeben. Die Abstraktion darf jedoch nicht mit der tatsächlichen Anwesenheit verwechselt werden. Ein Gegenbeispiel ist die Wahrnehmung von Autisten. Weil vielen Autisten nicht der Baum in seiner Abstraktion gegeben ist, sondern immer nur in seiner Besonderheit, muss der Autist sich den Baum von allen Seiten vergegenwärtigen, um sich beim Rückweg an diesem Baum als Wegmarke orientieren zu können; vgl. beispielsweise die Erfahrungsberichte in: B. Sellin, Ich Deserteur einer artigen Autistenrasse. Neue Botschaften an das Volk der Oberwelt, Köln 1995. 48 Plessner zeigt in seinem Buch nicht, warum oder wie dem Menschen seine exzentrische Position zukommt. Ich werde dies in den nächsten Kapiteln in Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Kindheitsforschung genauer darlegen, um u. a. zu zeigen, inwiefern hier die Perspektivenübernahme und das körperliche Mitgefühl eine zentrale Rolle spielen. 49 H. Plessner, Philosophische Anthropologie, a. a. O., 45. 47

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Lebenswelt und Herstellungswelt: Die offene Struktur des Leibes

dere nie in einem perspektivischen Ausblick auf die Welt eingeschlossen, weil diese meine Perspektive selbst keine bestimmten Grenzen hat, vielmehr spontan in die des Anderen hinübergleitet und beide gemeinsam in einer einzigen Welt versammelt sind, an der wir alle als anonyme Subjekte des Wahrnehmens teilhaben.« 50 Besonders deutlich zeigt sich diese intersubjektive Konstitution einer Mitwelt in der Art und Weise, wie ein Kind sich in der Welt »einwohnt«. Für das Kind erscheinen die Dinge um es herum wie »Aerolithen« von einem anderen Planeten. Weil es aber eine unmittelbare Entsprechung fühlt zwischen seinem eigenen Leib und unserem, zwischen seinen Bewegungen und unseren, wird ihm ein ähnlicher Sinn im Umgang mit den Gegenständen offenbar. Die Idee der Entsprechung bildet den Urgrund eines solchen Lernens durch Nachahmung; z. B. gibt es keine andere Weise zu lernen, einen Schuh zu binden, als sich körperlich in den Anderen hineinzuversetzen und diese unmittelbare Entsprechung der Bewegungen innerlich nachzuerleben. »Es ergreift Besitz von ihnen, lernt, sich ihrer zu bedienen, wie andere es tun, weil es in seinem Körperschema unmittelbar der Entsprechung zwischen dem, was es tun sieht, und dem was es selbst tut, versichert ist und so der Gebrauchsgegenstand einem bestimmten manipulandum, wie der Andere zu einem Zentrum menschlichen Handelns sich präzisiert.« 51 Auf ähnliche Weise erlernt das Kind die Sprache erst im Kontext gemeinsamen Handelns. Die Bedeutung einer Gabel, eines Handtuchs, eines Hammers o. Ä. werden, noch bevor sie sprachlich angeeignet werden, zunächst im Kontext ihrer Verwendung erfahren. »In der Erfahrung des Dialogs konstituieren sich zwischen mir und dem Anderen ein gemeinsamer Boden, mein Denken und seines bilden ein einziges Geflecht, meine Worte wie die meines Gesprächspartners sind hervorgerufen je durch den Stand der Diskussion und zeichnen sich in ein gemeinsames Tun ein, dessen Schöpfer keiner von uns beiden ist. Das ergibt ein Sein zu zweien, und der Andere ist hier nicht mehr für mich ein bloßes Verhalten in meinem transzendentalen Felde, noch übrigens in dem seinen, sondern in vollkommener Gegenseitigkeit sind wir für einander Mitwirkende, unser beider Perspektiven gleiten ineinander über, wir koexistieren durch ein und dieselbe Welt hindurch.«52 50 51 52

M. Merleau-Ponty, PW, 404. Ebd., 466. Ebd., 406.

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Körper, Raum und Politik

Dieser Umstand wirkt schließlich auf den politischen Begriff des »Sprechhandelns« zurück.53 Sämtliche Worte erlangen ihren originären Sinn erst im Kontext sozialer Handlungen. Diese Handlungen sind der Nährboden für die Konstituierung einer gemeinsamen Sinn- und Lebenswelt. Im intergenerationalen Dialog wird diese Sozial- und Kulturwelt immer neu entdeckt bzw. interpretiert. Freilich nicht als Welt der Objekte, wohl aber in ihrer »Dimension der Existenz«: Ich kann mich von ihr abwenden, sie verfluchen oder in der Bedeutung herabsetzen; aber ich vermag mich niemals ganz von ihr zu lösen. »Wie unser Bezug zur Welt überhaupt ist unser Bezug zum Sozialen tiefer als jene ausdrückliche Wahrnehmung und jedes Urteil.« 54 In diesem Sinne bleibt auch für den Erwachsenen die intersubjektive Welt der Gegenseitigkeit Grundvoraussetzung für all seine Akte in ihr. »Läge nicht all meinem Urteilen je schon die primordinale Gewissheit zugrunde, ans Sein selbst zu rühren, fände nicht vor aller willentlichen Stellungnahme ich mich je schon situiert in einer intersubjektiven Welt,« 55 könnten wir uns nicht von ihr »abstützen« oder abwenden.

3.3 Innenraum: Der Chiasmus zwischen Selbst und Anderem Interessanterweise haben Kinder zunächst kein Bewusstsein davon, dass sie auf einen Blickpunkt in dieser Welt beschränkt sind. Sie erleben die Welt auf eine Weise, die sie für alle zugänglich halten. Ein Beispiel hierfür ist das Verdecken der eigenen Augen mit der Hand: Das Kind glaubt, in dem Moment, da es selbst nichts sieht, sei es auch für andere unsichtbar. Und weil das Kind noch nichts von der Existenz einer privaten Subjektivität ahnt, vermag es auch noch nicht zu lügen. Die Entstehung einer subjektiven Innensphäre ist gekoppelt an die Bewusstwerdung des eigenen Körpers als sichtbares Objekt in der Außenwelt. Es ist jener »Aufbruch« des Menschen in Körperding und Leib selbst, welcher die Innenwelt des Menschen als Möglichkeit hervorbringt. Der Mensch geht jedoch nie im Punkt seines Erlebens auf – weder in der Veräußerung noch in der Verinnerlichung, sondern steht sozusagen »hinter sich selbst«, bleibt exzentrisch. Diese Erkenntnis, 53 54 55

Ein Begriff, der vor allem von Habermas wiederholt benutzt wird. Ebd., 414. Ebd., 407.

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Innenraum: Der Chiasmus zwischen Selbst und Anderem

dass meine Gedanken und Wünsche dem Anderen verborgen bleiben, bedingt den Innenraum. Der Innenraum ist aber nicht primordinal, sondern ein Resultat der Veräußerung in der sozialen Welt. Dies soll im Folgenden genauer dargestellt werden: Als exzentrisches Wesen erfasst sich der Mensch immer erst im Nachhinein. »Für den Menschen […] gilt das Gesetz der Exzentrizität, wonach sein im Hier-Jetzt Sein, d. h. sein Aufgehen im Erleben nicht mehr, in den Punkt seiner Existenz fällt. Sogar im Vollzug des Gedankens, des Gefühls, des Willens steht der Mensch außerhalb seiner selbst.« 56 Die exzentrische Position des Menschen bedingt, dass er sich selbst in seinem Fühlen und Wollen nicht unmittelbar gegeben ist. Beispielsweise kann es passieren, dass wir im ersten Augenblick nicht gewiss sind, ob wir es noch selbst sind, die lachen, weinen oder Entschlüsse fassen, oder ob es der Andere in uns ist, z. B. im Falle einer Gefühlsansteckung. Erst durch das Heraustreten aus uns selbst vermögen wir zu überlegen, wer es ist, der hier agiert, ob wir dieser jemand noch sein möchten oder ob wir eine andere Richtung einschlagen sollen. 57 »Wirkliche Innenwelt: das ist die Zerfallenheit mit sich selbst, aus der es keinen Ausweg, für die es keinen Ausgleich gibt. Das ist der radikale Doppelaspekt zwischen der (bewusst gegebenen oder unbewusst wirksamen) Seele und dem Vollzug im Erlebnis, zwischen Notwendigkeit, Zwang, Gesetz geschehender Existenz und Freiheit, Spontaneität, Impuls vollziehender Existenz.« 58 Inwiefern spielt nun hier der Andere eine Rolle? Eingangs habe ich darauf hingewiesen, dass sich der Mensch durch seine Körperlichkeit von anderen unterscheidet und vermittels seines Körpers zugleich in einer gemeinsamen Welt mit Anderen lebt. Dieser Chiasmus von Innen und Außen wird im Ausdrucksverhalten des Menschen besonders deutlich. In den Gebärden und der Haltung werden Gefühle und Zustände für den Anderen sichtbar. 59 Der Gehalt bzw. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 298. Robert Kane argumentiert in seinen Theorien zur Freiheit des Menschen, dass es genau jene Momente sind, in welchen sich die Freiheit als Möglichkeit für uns eröffnet. Mit diesem Gedanken bezieht er sich auf Aristoteles, welcher argumentiert, dass wir erst durch unser Tun zu dem werden, der wir sein wollen. (R. Kane, Free Will. Blackwell Series on Philosophical Problems. Edited with an introduction. Oxford 2002.) 58 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 299. 59 Auch Tiere verfügen über gewisse Ausdrucksbewegungen, aber sie können weder lachen noch weinen; sie haben auch keine Wortsprache oder Gesten. 56 57

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Körper, Raum und Politik

die Zuständlichkeit des eigenen Ausdrucks erfahren wir über den Anderen. Entwicklungspsychologische Untersuchungen des Gesten- und Minenspiels zwischen Mutter und Kind haben gezeigt, dass Säuglinge in den ersten Monaten nur über die Spiegelung ihrer Ausdrucksgehalte erfahren, was sie eigentlich spüren, denn sie unterscheiden noch nicht zwischen Innen und Außen. Weder ist ihnen der Leib als der ihrige gegeben, noch haben sie ein Bewusstsein von sich als sichtbarem Körper. In diesem Maße ist jeder der kindlichen Ausdrücke (noch) unmittelbar. »Jedes Erlebnis, jede kleinste Regung spiegelt sich unmittelbar in seinem Äußeren, seiner Mimik und Gestik wieder.« 60 Der Säugling, dem der eigene Leib und sein »inneres« Empfinden noch gar nicht gegeben sind und dessen Erleben nur zwischen den beiden Polen von Unwohlsein und Abwesenheit von Unwohlsein pendelt, wird nun die Spiegelung seines Ausdrucksverhaltens durch die Bezugsperson zur essentiellen Grundvoraussetzung, um sein eigenes Erleben zu begreifen. 61 »Demnach erfüllt sich der Ausdruck des Säuglings erst im Eindruck, den er als leibliches Ergriffensein beim Anderen hinterlässt. Aus den unmittelbar auf seinen Ausdruck folgenden beruhigenden Gesten, dem Lächeln der Mutter, ihrer Freude, aus den Berührungen ihrer Hände versteht sich der Säugling selbst. Seine Empfindungen werden durch ihre Resonanz moduliert.« 62 Der Säugling weint nicht, weil er traurig ist, sondern er ist traurig, weil er weint. Und erst in der verstehenden Anteilnahme der Bezugsperson wird ihm sein eigener Zustand gegeben. 63 In diesem wechselseitigen Austausch zwischen Ausdrucksgehalten einerseits und der Resonanzfähigkeit andererseits entsteht ein Empfinden oder auch eine Stimmung, die schließlich selbst für jemanH. Remplein, Die seelische Entwicklung des Menschen im Kindes- und Jugendalter, München/Basel 1969, 184; zit. nach B. Haneberg, Leib und Identität. Die Bedeutung der Leiblichkeit für die Bildung der sozialen Identität, Würzburg 1995, 31. 61 Die hohe Bedeutung dieser frühen Kommunikationsform zwischen Mutter und Kind erhielt durch die Entdeckung der sog. »Spiegelneuronen« erneute Aufmerksamkeit. Ich werde hierauf später genauer eingehen. 62 B. Haneberg, Leib und Identität, a. a. O., 32. 63 Stern hat in seinen komplexen Untersuchungen gezeigt, welche identitätsstiftende und fundamentale Bedeutung diese kurzen Einstimmungen und Spiegelungen zwischen Mutter und Kind im frühkindlichen Alter spielen bzw. wie ernsthafte Fehlentwicklungen entstehen, wenn der Bezugsperson die Fähigkeit zu einem solchen Mitschwingen mit dem Kind abgeht (vgl. u. v. a. D. Stern, Mutter und Kind. Die erste Beziehung. Stuttgart 2006, 5. Auflage, bes. 134 ff.). 60

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Mit- und Handlungswelt

den fühlbar wird, der unversehens das Zimmer betritt. Aus diesem Grund vermutet Plessner, dass Empfindungen nicht im Subjekt angesiedelt sind, sondern vielmehr zwischen Individuen erst entstehen. »Dann ist das Ich nicht der Endpol einer aus Reiz und Erregung gekoppelten Kette, […] sondern die räumlich nicht lokalisierbare, darum mit dem Charakter des reinen ›Hier‹ ausgezeichnete Sphäre der gegenseitigen Gegebenheit des Körperleibes und der anderen Objekte (die Anderen) außerhalb meines Leibes.« 64 Gegen die Vorstellung eines monadisch angelegten Subjekts kann deshalb gesagt werden, dass die Empfindung erst im Ausdruck und durch den verstehenden Nachvollzug die Form des bewussten Erlebens erlangt. 65 Der Andere ist immer schon in mir und ich im Anderen und ich benötige seinen Blick, um mir meines eigenen Empfindens bewusst zu werden. Oder wie MerleauPonty sagt: »Die Anderen brauche ich nicht erst anderswo zu suchen: ich finde sie innerhalb meiner Erfahrung, sie bewohnen die Nischen, die das enthalten, was mir verbogen, ihnen aber sichtbar ist.« 66

3.4 Mit- und Handlungswelt: Der politische Raum zwischen Ausdruck und Geste, Identität und Pluralität Im Ausdruck des Menschen kreuzen sich Künstlichkeit und Natürlichkeit. Denn obgleich der Ausdruck des Säuglings zunächst noch unmittelbar und unbewusst geschieht, lernt das Kind nach und nach, dass es für den anderen sichtbar ist. Der Blick übernimmt hier eine zentrale und zugleich paradoxe Funktion: Die Natürlichkeit des Ausdrucks wirkt im verstehenden Blick des Anderen identitätsbildend. Das Kind wird sich seines Körpers und seiner Gefühle bewusst. Im Bewusstsein seines Körpers ist es nun in der Lage, sich zu verstellen oder zu lügen. H. Plessner, Die Deutung des mimischen Ausdrucks, in: Gesammelte Schriften. Bd. VII. Frankfurt am Main 1982, 113, auch zit. in: Haneberg, Leib und Identität, a. a. O., 33. Eine solche Theorie wurde von verschiedenen Seiten bestätigt, u. a. von der Feedback Theorie des Gefühls (M. Dornes, Der kompetente Säugling, Frankfurt am Main 1993, 122 f.) oder auch H. P. Dreitzel, Der Körper in der Gestalttherapie, in: D. Kamper u. Ch. Wulff (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main 1982, 63. Vgl. auch die phänomenologischen Analysen von Hermann Schmitz, auf welche ich im Kontext des Mitgefühls noch weiter eingehen werde. 65 Vgl. zu dieser Thematik B. Haneberg, Leib und Identität. Die Bedeutung der Leiblichkeit für die Bildung der sozialen Identität, Würzburg 1995, 30–35. 66 M. Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt am Main 1974, 166. 64

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Körper, Raum und Politik

Der objektivierende Blick hingegen vermag den Ausdruck des Anderen zu verfälschen bzw. ihn auf ein Objekt zu reduzieren. Ich möchte kurz auf diese beiden Modalitäten des Blicks (den verstehenden und den objektivierenden) eingehen, um auf dieser Grundlage die Notwendigkeit des politischen Raums für die Identitätsbildung zu explizieren. Der objektivierende Blick zeigt sich in der Beobachtung, die den Anderen in seinem Ausdruck »fest sieht«. Im Gefühl des »Beobachtetwerdens« verlieren wir die Natürlichkeit unseres Ausdrucks, weil wir uns selbst entfremdet und als Objekt für den Anderen erfahren. Als dieses Objekt fühlen wir uns missverstanden, weil ein solcher Blick jede Kommunikation untersagt. Jenseits der Kommunikation bleibt der Andere für uns ein Rätsel. Die kleinste Geste jedoch, ein offener Blick, das erste Wort »verrät« den Anderen. Er äußert sich und diese Äußerung offenbart ihn mir in seinem augenblicklichen Sein. In diesem Moment transzendiert er mich nicht mehr, sondern es öffnet sich ein gemeinsamer Raum der Begegnung und gegenseitigen Selbstwerdung. »Die transzendentale Subjektivität ist enthüllte, sich selbst und den Anderen, und insofern und in diesem Sinne ist sie Intersubjektivität.« 67 In dem Moment, in welchem mich der Andere als Person anspricht, weicht die Verobjektivierung dem Vis-a-vis der Unmittelbarkeit. Die Leibesfläche und Stimme fungieren als Resonanzboden und zugleich »Veröffentlichung« meines Inneren, d. h., mein Leib ist sowohl Sensor für die Stimmungen des Anderen als auch die Offenbarung meines eigenen Wesens. Interessanterweise sind dabei diejenigen Teile unseres Körpers dominant, welche uns selbst entzogen sind: Das Gesicht, die Körperfläche, die Stimme. »Wie die Haltung des ganzen Körpers an sich schon die seelische Verfassung widerspiegelt, so wird das Gesicht – und in abermals verdichtender Weise der Blick – zum Spiegel, ja ›Fenster‹ der Seele. Als Feld des Sehens und der stimmlichen Äußerung ist dem Menschen sein Gesicht zugleich unsichtbar und offen. Aus ihm schaut und tönt er heraus, in ihm fängt er die Blicke der anderen, die Bilder der Welt auf. Verdecktheit und Offenheit machen das Gesicht zur Front, zur Grenz- und Vermittlungsfläche des Eigenen gegen das andere, das Innen gegen das Äußere.« 68 Das Gesicht gehört damit wesentlich zum »Draußen«. Es ist dem Blick des Anderen ausgeliefert, noch bevor er 67 68

M. Merleau-Ponty, PW, 413. H. Plessner, Philosophische Anthropologie, a. a. O., 53.

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Mit- und Handlungswelt

sich zu schützen vermag. Umgekehrt scheint es, als könne sich der Mensch nur insofern für den Blick des Anderen öffnen, als er sich selbst als dieser Leib entzogen bleibt. Umgekehrt entsteht meine eigene Innerlichkeit erst durch das Erblicktwerden durch den Anderen. Die Mitwelt entsteht nun durch die »verschobene Frontalität« des Menschen. Er ist entäußert von der Welt durch das Mittel des Leibes. 69 Anders als das Tier ist er in diese Welt nicht frontal gestellt, sondern lateral geöffnet. Dadurch erscheint sie ihm in ihrer Allgemeinheit. Diese Mitwelt zeichnet sich dadurch aus, dass mein eigener Standpunkt nur Bedeutung gewinnt in Relation zu den anderen existierenden Blickwinkeln. »Durch die exzentrische Positionsform seiner selbst ist dem Menschen die Realität der Mitwelt gewährleistet. Sie ist also nicht, was ihm erst auf Grund bestimmter Wahrnehmungen zum Bewusstsein kommen müsste. […] Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfasste Form der eigenen Position. Man muss infolgedessen sagen, dass durch die exzentrische Positionsform die Mitwelt gebildet und zugleich ihre Realität gewährleistet wird. […] Die Existenz der Mitwelt ist die Bedingung der Möglichkeit, dass ein Lebewesen sich in seiner Stellung erfassen kann, nämlich als ein Glied dieser Mitwelt.« 70 In diesem Sinne existiert das Selbst als individuelles und als allgemeines Selbst zugleich. Und weil der Andere in einer solchen Welthabe immer schon mitgedacht wird, vermögen wir die Welt in der Allgemeinheit zu sehen. Freilich ist diese Allgemeinheit eine menschenspezifische, d. h., sie wird nur mit ähnlich wahrnehmenden und leiblich situierten Wesen geteilt. Die mangelnde Selbsttransparenz ermöglicht deshalb, dass wir für die Perspektive des Anderen offen bleiben, und sie ist wesentlich an die exzentrische Position gebunden; d. h. dass wir uns selbst sowohl als Nullpunkt als auch als relativer Punkt im Raum-Zeitgeschehen gegeben sind. Die Welt tritt uns in ihren handzuhabenden Gegen-Ständen gegenüber. Diese Gegenstände bilden aber nur deshalb eine gemeinsame Welt, weil wir uns qua unserer ähnlichen Struktur des Körpers auf ähnliche Weise in dieser Welt zu engagieren vermögen: Die Dinge entfalten für uns Menschen einen ähnlichen Sinn. Diese ähnliche Struktur des Körpers ist Voraussetzung, dass ich stets den Standpunkt des anderen mit apperzipieren kann. Ein Beispiel hierfür sind Mann69 70

Vgl. M. Merleau-Ponty, PW, 167 f. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 302.

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Körper, Raum und Politik

schaftsspiele: Jeder Spieler kann zu jedem Zeitpunkt »vorhersehen« oder »verstehen«, wie ein anderer Mitspieler reagiert. 71 »Als Glied der Mitwelt steht jeder Mensch da, wo der andere steht.« 72 Trotz dieser scheinbaren »Universalisierung« der Standpunkte, bleibt der Perspektivenwechsel immer an die konkrete, d. h. intersubjektive Perspektive gebunden. 73 Deshalb bezeichnet Plessner die Mitwelt auch als »Geist« oder »Wir«. »Bewusstsein ist der durch die Exzentrizität der personalen Existenz bedingte Aspekt, in dem die Welt sich darbietet. Geist dagegen ist die mit der eigentümlichen Positionsform geschaffene und bestehende Sphäre und macht daher keine Realität aus, die jedoch realisiert in der Mitwelt, wenn auch nur eine Person existiert. […] Geist ist nicht als Subjektivität oder Bewusstsein oder Intellekt, sondern als Wir-sphäre die Voraussetzung der Konstitution einer Wirklichkeit. Zentral ist hier der erweiterte Perspektivenwechsel. Durch die Dreierbeziehung löst sich das Kind immer mehr von der Unmittelbarkeit des Ich und Du und bemerkt seine Relativität in Bezug auf andere. Im vorherigen Bereich wurde sich das Kind seiner selbst in der Beziehung mit anderen, jedoch nicht seiner eigenen Relativität bewusst: Es sah sich selbst etwas tun und war sich des Tuns bewusst, aber es hatte keine Idee davon, wie sein Tun für andere ist. Bewusstsein über Verhältnismäßigkeit wird erst möglich, indem ich das Verhalten von jemandem zu mir und zu jemand anderem vergleichen kann, d. h. eine Beziehung zu zwei Personen gleichzeitig habe. »Sich im intentionalen Schnittpunkt der anderen erfahren, relativiert den eigenen Standort, weil er von den Intentionen der anderen gespiegelt wird« (Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 434). Für George Herbert Mead ist dies der Übergang vom »I« zum »Me«. Erst zu diesem Zeitpunkt lassen sich die Absichten von mehreren gleichzeitig erfassen. Ein Beispiel hierfür sind Mannschaftsspiele, innerhalb welchen der »verallgemeinerte Andere« repräsentiert wird. Der Mannschaftsport verlangt, sich stets und schnell in die Situation eines Anderen hineinzuversetzen sowie die Gesamtbewegung der eigenen sowie der anderen Mitspieler zu antizipieren (vgl. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1975, 196, zit. nach Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 435). 72 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 304. 73 Als eine Art der »Pervertierung« kann die vollständige Verobjektivierung der Welt durch die sog. »harten Wissenschaften« gesehen werden; d. i., es wird versucht, die Perspektivität des menschlichen Seins ganz abzulegen und sozusagen vom »Nirgends« her die Welt zu betrachten. Eine solche Art der Betrachtung ist natürlich in der exzentrischen Position des Menschen angelegt, weil er sich als Körperding grundsätzlich (wenngleich nicht vollkommen) gegeben ist. Ihre radikale Fortführung führt jedoch zu einer kompletten Entwurzelung des Menschen. Habermas’ Versuch einer intersubjektiven Vernunft, welche im Sprechhandeln verortet ist, konzentriert sich darauf, dass Menschen bestimmte Standorte einnehmen, von denen aus sie etwas interpretieren. Die Vernunft erhält so wieder einen Ort in der menschlichen Welt. Ich werde deshalb im weiteren Verlauf zeigen, dass die kommunikative Vernunft implizit als »Wiederverleiblichung« der Vernunft gesehen werden kann. 71

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Mit- und Handlungswelt

[…] Sie ist die Sphäre des Einander und der völligen Enthülltheit, in der alle menschlichen Dinge sich begegnen.« 74 Nichtsdestotrotz bleibt der Mensch der Sphäre des Tieres durch seine Integration in eine Umwelt bzw. ein Milieu verhaftet. Ein Beispiel hierfür ist die unreflektierte und unproblematische Handhabung der Dinge im Sinne eines Mitverhältnisses. In einem solchen Weltbezug bleiben die Dinge zwar ihrer Möglichkeit nach Gegenstände, doch hat ein solcher Umgang mit einer »Mitwelt« nichts zu tun. Allenfalls charakterisiert er die kulturell behaftete Gebrauchswelt. »Die Sphäre, in der wahrhaft Du und Ich zur Einheit des Lebens verknüpft sind und einer dem andern ins aufgedeckte Antlitz blickt, ist […] die Mitwelt, in der nicht nur Mitverhältnisse herrschen, sondern das Mitverhältnis zur Konstitutionsform einer wirklichen Welt des ausdrücklichen Ich und Du verschmelzenden Wir geworden ist.« 75 Eine so konstituierte Mitwelt ist keine konstante, sondern verlangt nach der steten Offenheit für den Blick des Anderen und damit der Bereitschaft einer Problematisierung des eigenen Standpunktes. Im Folgenden wird gezeigt, wie sich diese Mitwelt im Chiasmus von konkretem Nachvollzug und universalisierendem Perspektivenwechsel konstituiert.

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H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 303 f. Ebd., 308.

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4. Der interne Zusammenhang zwischen Körper, Mitgefühl und Vernunft

Folgendes Kapitel zeigt, welche Interdependenzen sich aus einer phänomenologischen Rekonstruktion des politischen Raumes für die Abhängigkeit von Mitgefühl und Vernunft ergeben. Bei der architektonischen Grundstruktur eines vorsubjektiven, politischen und privaten Raumes handelt es sich um phänomenologische Beschreibungen der sinnlich-sozialen Beziehungen zwischen Selbst, Welt und Anderen. Die zentrale These lautet, dass nicht das »Ich« und damit der subjektivprivate Raum, sondern das Mitsein, d. h. der vorsubjektive bzw. intersubjektive Raum, ursprünglich sind. Mit dieser These folge ich einem Hinweis Gabriel Marcels, der sagt: »Selbstverständlich ist das Ich nicht ursprünglich – hierzu ließe sich wohl aus der Kinderpsychologie viel lernen. Aber das Heranwachsen, das Reiferwerden führt dann in diese Welt der Beziehungen zwischen den Einzelnen.« 1 Dieser Hinweis wird zugleich als methodischer Wegweiser dienen. Das heißt, es wird zunächst die Entfaltung des politischen und privaten Raumes anhand entwicklungspsychologischer Untersuchungen 2 beschrieben werden. Folgende drei Entwicklungsstufen werden dabei durchlaufen: das präreflexiv-unmittelbare Zur-Welt-Sein, das politisch-intersubjektive Zur-Welt-Sein und das privat-subjektive Zur-Welt-Sein. Das heißt, die sich immer weiter ausdifferenzierende Körperwahrnehmung resultiert in einer veränderten Fremd- und Raumwahrnehmung. Gefühlsansteckung, Mitgefühl, Perspektivenwechsel und schließlich das strategische Denken werden als Stationen dieses kontinuierlichen Entwicklungsprozesses gedeutet. Diese Stationen gelten jedoch nicht als G. Marcel, Leibliche Begegnungen, a. a. O., 26. Ich beschränke mich bei dieser Beschreibung vornehmlich auf solche Untersuchungen, welche die phänomenologische Methode zum Ausgangspunkt wählen, um auf diese Weise eine konkrete Weiterentwicklung und Anknüpfung an die Theoreme der Phänomenologie zu ermöglichen.

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Aus entwicklungspsychologischer Perspektive

»zu-überwindende« Entwicklungsstufen des Zur-Welt-Seins, sondern als Seinsweisen, die als Potentiale Zeit unseres Lebens kultiviert werden können und müssen. Konzeptionell nimmt die Einteilung in diese drei Räume Helmut Plessners Unterscheidung von Innenwelt, Außenwelt und Mitwelt 3 wieder auf, d. h., dass erst in der Innewerdung der exzentrischen Position die Möglichkeit für eine gemeinsame Seinsphäre entsteht, weil sie die Art und Weise verändert, wie uns die Welt und die Anderen gegeben sind. Diese Einteilung wird durch Hannah Arendts Phänomenologie des Öffentlichen 4 auf den politischen Raum übertragen. Der Leib wird in diesem Zusammenhang nicht primär als Eigenleib gedacht, sondern vielmehr als Medium zwischenmenschlicher Begegnung. Er konstituiert eine Sphäre des Zwischen, d. i. fungiert in dieser Weise als »Begegnungsleib«. 5 Für letztere These wird wiederholt sowohl auf Maurice Merleau-Pontys Leibphänomenologie als auch auf James Menschs Phänomenologie des politischen Raumes zurückgegriffen werden. Diese entwicklungspsychologische Darstellung dient als wesentliche Grundlage, um in einem weiteren Schritt und mit Hilfe phänomenologischer Theoreme die Interdependenzen zwischen Mitgefühl und Vernunft offenzulegen.

4.1 Aus entwicklungspsychologischer Perspektive »Es gibt kein menschliches Leben, auch nicht das Leben des Einsiedlers in der Wüste, das nicht, sofern es überhaupt etwas tut, in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer Menschen zeugt.« (Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 33)

Käte Meyer-Drawe stellt in ihrem 1980 erschienenen Buch zur Intersubjektivität die These auf: »Es gibt zwar ein präpersonales Sein, aber kein präsoziales Sein.« 6 Eine solche Annahme mag zunächst verwunH. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O. 5 G. Marcel, Leibliche Begegnung, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit, Paderborn 1985, 24 f.; für die Beschreibung des Leibes als öffentlich fungierender Begegnungsleib werde ich später insb. auf Merleau-Ponty zurückgreifen. 6 K. Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Intersubjektivität, München 1984, 30. 3 4

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dern, da Kleinkinder seit Jean Piaget als eher egozentrisch beschrieben werden. Piaget betont: »Das Ich steht zunächst im Mittelpunkt der Realität, und zwar eben weil es sich seiner nicht bewusst ist, während die Außenwelt sich in dem Maß objektiviert, als das Ich sich als subjektive und innerliche Aktivität konstituiert.« 7 Der russische Kinderpsychologe Lev Vygotsky argumentiert hingegen, dass sich das Kind nicht von der egozentrischen zur sozialen Perspektive hin öffnet, sondern von Anfang an auf seine jeweilige Betreuungsperson bezogen ist. Erst im Laufe der Entwicklung grenzt sich das Individuum mit seiner eigenen Perspektive ab. 8 Insbesondere die phänomenologische Kindheitsforschung hat in den letzten beiden Jahrzehnten gezeigt, wie Sozialisierung und Individualisierung als Ausprägungen ein- und desselben Entwicklungsgeschehens zu deuten sind. Sowohl das Ich als auch das Wir wurzeln demnach in einer Seinsweise der vorsubjektiv-sympathetischen Kollektivität, aus welcher sie sich durch Umstrukturierung der Erfahrungsgehalte herausdifferenzieren. Im Folgenden möchte ich die den vorhergegangenen Kapiteln bereits implizite Vermutung aussprechen, dass, obzwar Privatheit wie Öffentlichkeit im leiblichen Zur-Welt-Sein wurzeln, der Rückzug in die idiosynkratische Privatheit eine sekundäre Modalität des Menschseins ist. Oder anders gesagt: Die im Körper wurzelnde Intersubjektivität (intercorporealite) geht der Entwicklung von Individualität bzw. Subjektivität genetisch voraus, weil wir uns naturgemäß immer schon in einem intersubjektiven Sein-zum-Anderen befinden. Am Anfang dieser Entwicklung steht die unmittelbar-vorreflexive Fähigkeit zur »Sympathie« (Gefühlsansteckung) in einem vorsubjektiv-kollektiven Sein-zur-Welt. Ihr folgt mit zunehmender Differenzierung die Fähigkeit zum Mitgefühl, welche die bewusstgewordene Trennung von Selbst und Anderem voraussetzt und den intersubjektiven Raum bestimmt. Den Abschluss bildet der Perspektivenwechsel im Sinne eines abstrahierten Verstehens des Anderen. Ich werde zeigen, auf welche Weise diese Entwicklung mit der Differenzierung der Körperwahrnehmung verbunden ist.

7 8

J. Piaget, Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, Stuttgart 1975, 197. L. Vygotsky, Denken und Sprechen, Frankfurt am Main 1979, 44.

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4.1.1 Der vorsubjektive Raum: Sympathie und Gefühlsansteckung Der Psychologe Jürgen Seewald geht davon aus, dass das Kind zunächst noch über keine Repräsentationen verfügt, sondern dass es in einer gänzlich präsentativen Welt lebt, wodurch ihm die Umwelt unmittelbar und ungefiltert, ohne Strukturen, erscheint. 9 Mutter und Kind bilden während dieser Zeit eine Symbiose 10, welche Donald Winnicott als »primäre Mütterlichkeit« bezeichnet. 11 Diese erhöhte Sensibilität der Mutter entwickelt sich allmählich und wird von ihm auch als »normale Krankheit« 12 beschrieben, weil sie unter ›normalen‹ Umständen als eine »schizoide Phase« bezeichnet würde. 13 Für das Neugeborene ist diese erhöhte Sensibilität der Mutter lebensnotwendig, weil sie die Voraussetzung für das unmittelbare Verstehen zwischen Mutter und Kind darstellt. 14 Zentraler Kommunikationsmodus zwischen Bezugsperson 15 und Kind stellt dabei die Spiegelung dar. Neugeborene können zunächst nicht unterscheiden, welche Eindrücke, Gefühle und Wahrnehmungen zu ihnen und welche zur Umwelt gehören. Der Grund hierfür ist, dass

In diesem Sinne hat das Kind kein Gedächtnis von spezifischen Erlebnissen, sondern allenfalls vage bis diffuse Ahnungen von einem Gesamtzustand (vgl. M. Merleau-Ponty, PW, 398, sowie J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 270). 10 Diese Phase beginnt bereits einige Wochen vor der eigentlichen Geburt des Kindes. 11 Bei Spitz wird diese Phase als »Ammenschlaf« bezeichnet (vgl. R. A. Spitz, Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen, Stuttgart 1960, 43, zit. nach: T. Fuchs, Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000, 248). 12 D. W. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1983, 159; auch zit. in: Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 268. 13 Ebd., 159 u. 163. 14 Mit ca. 1 ½ bis 2 Jahren gewinnt das Versteckspiel an Bedeutung. Das Kind experimentiert hier mit der Erfahrung des Alleinseins. Das Wiederentdecktwerden von der Mutter gleicht einer »Reanimation«, einer Wiederaufnahme ins Leben. Wenn die Bezugsperson es jedoch lange Zeit nicht findet, kann es zu Angstzuständen kommen, weil das Kind existentiell fürchtet »verloren« zu gehen (vgl. Seewald, ebd.). Winnicott behauptet sogar, dass sich der Säugling erst in den Augen der Mutter, d. h. erst im Erblicktwerden angesprochen und damit als »existent«, d. h. als in der Welt seiend, empfindet. »Wenn ich sehe und gesehen werde, so bin ich. Jetzt kann ich mir erlauben, um mich herumzublicken und zu sehen.« (D. W. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse, a. a. O., 131.) 15 Ich verwende die Bezeichnung »Bezugsperson«, insofern es sich um eine männliche oder weibliche Person handeln kann. Der Begriff »Mutter« wird nur dann verwendet, wenn es sich allein um die leibliche Mutter handeln kann. 9

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sie noch kein Bewusstsein von sich als Leib haben. Das heißt, indem die Bezugsperson auf das Ausdrucksgebahren des Säuglings reagiert, wird es sich seines Empfindens erst bewusst. Meltzoff und Moore 16 haben dabei nachgewiesen, dass Neugeborene unmittelbar nach der Geburt schon über mimetische leibliche Fähigkeiten verfügen sowie ein Gefühl für die Kongruenz bzw. Inkongruenz ihrer Nachahmung haben. Es handelt sich um eine Art der Gefühlsansteckung, die umgekehrt auch durch die Mutter ausgelöst werden kann. Das Kind nimmt die Mutter jedoch noch nicht als Bild oder Gegenüber wahr, sondern rein mimetisch, d. h., es bildet sich die Bewegungsgestalt leiblich ein. 17 Diese Art der unmittelbaren Verbindung zwischen Körpern zeigt sich auch in dem Beispiel der Imitation von Bewegungen. Obgleich das Kind weder sich selbst je im Spiegel gesehen hat, noch der Körper der Bezugsperson dem seinen ähnelt, öffnet es unwillkürlich den Mund beim Füttern, sobald die Bezugsperson den eigenen Mund öffnet. MerleauPonty beschreibt dies mit den Worten: »Es (das Kleinkind) nimmt in seinem Körper seine Intentionen wahr, meinen Leib mit dem seinen, und so meine Intentionen in seinem Körper.« 18 Diese unwillkürliche Imitation und Kommunikation ist auch deshalb interessant, weil die einzelnen Interaktionsschritte zwischen Mutter und Kind die Reiz-Reaktionszeiten unterlaufen. Deshalb kann die Metapher des »Spiegels« durchaus missverständlich sein, weil es sich keineswegs um einen passiven Vorgang handelt. Geeigneter wäre u. U. der von Günther Bittner geprägte Ausdruck des »Mitschwingens«19 oder der Begriff der »Einleibung« 20 bei Schmitz. Diese Form des Mitschwingens beschränkt sich nicht nur auf das Gesicht, sondern umfasst den gesamten Leib sowie die Stimme. Aus diesem Grund spricht Jürgen

A. Meltzoff und M. K. Moore, Imitation in newborn infants: exploring the range of gestures imitated and the underlying mechanisms, in: Developmental Psychol., 25, 1989, 954–962; und diess.: Infants’ understanding of people and things: From body imitation to folk psychology, in: Bermudez, J. L., Marcel, A., Eilan, N. (Hg.), The Body and the Self, Cambridge, London 1998, 43–69. 17 Für Außenstehende scheinen Mutter und Kind ein und denselben Gefühlsraum zu teilen (vgl. hierzu Th. Fuchs, Leib, Raum und Gefühl, a. a. O.). 18 M. Merleau-Ponty, PW, 404 f. 19 G. Bittner, Narzißmus und »falsches Selbst« des Kindes, in: Zeitschrift für Pädagogik, 26, 1980, 99–106, zit. nach: Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 296. 20 H. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2006. 16

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Seewald auch von der »Kompräsenz mit dem Anderen« bzw. der präreflexiven Einheit mit dem Leib des Anderen. »Die frühe Beziehung ist ein kreatives, gegenseitiges Sich-Hervorbringen. Darin offenbart sich die sinnkreative Kraft des Leibes, nicht nur vorzufinden, sondern den Anderen auch neu zu schaffen.« 21 Diesem unmittelbar-leiblichen Nachvollzug der Bewegungen und Stimmungen des Anderen wird durch die Entdeckung der sogenannten »Spiegelneuronen« 22 seit kurzem große Aufmerksamkeit zuteil. Bei den Spiegelneuronen handelt es sich um Nervenzellen im Gehirn, welche bei der bloßen Beobachtung der Bewegung oder Äußerung eines Menschen die gleichen neuronalen Vorgänge im eigenen Gehirn auslösen. Das bedeutet, dass es für das Gehirn in diesem Augenblick keinen Unterschied macht, ob ich selbst diese Bewegung vornehme oder sie nur beobachte. 23 Es wird vermutet, dass Spiegelneuronen dazu beitragen könnten, von Anfang an eine sinnvolle Kommunikation zu ermöglichen. Es bleibt jedoch hervorzuheben, dass sich der Säugling zu dieser Zeit noch nicht als eigenständiges Wesen vorfindet und aus diesem Grund vom Verstehens- und Spiegelungsvermögen der Bezugsperson abhängig ist.

J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 300. G. Rizzolatti, C. Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt am Main 2008. 23 Sie wurden vom Italiener Giacomo Rizzolatti und seinen Mitarbeitern bei Affen 1995 im Tierversuch entdeckt. In diesen Untersuchungen fiel auf, dass Neuronen im Feld F5c des Großhirns dann reagierten, wenn zielmotorische Hand-Objekt-Interaktionen durchgeführt oder bei anderen – zumindest anatomisch ähnlichen – lebenden Individuen beobachtet wurden. Sie werden insbesondere mit der Sprachentwicklung in Zusammenhang gebracht und derzeit wird ein ganzes System von Spiegelneuronen angenommen. M. N. Eagle und J. C. Wakefield haben darauf hingewiesen, dass diese Entdeckung der Spiegelneuronen von den Vertretern der Gestalttheorie, insbesondere Wolfgang Köhler, schon in den 1920er-Jahren mit ihrer Isomorphie-Annahme vorweggenommen worden ist (vgl. M. N. Eagle u. J. C. Wakefield, Gestalt Psychology and the Mirror Neuron Discovery, in: Gestalt Theory, 29, 1, 2007, 59–64). Derzeit laufen die Spekulationen über die Funktion und Rolle der Spiegelneuronen auf Hochtouren und sie werden für eine Menge von Phänomenen verantwortlich gemacht. Sicherlich ist noch nicht abzusehen, ob sich all die Hoffnungen und Vermutungen auch bestätigen. 21 22

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4.1.2 Der intersubjektive Raum: Mitgefühl und Perspektivenwechsel »Eine Geschichte des Menschen gibt es darum, weil der Mensch ein Wesen ist, das sich nach außen kehrt, das die Anderen und die Natur braucht, um sich zu verwirklichen, das sich vereinzelt, indem es gewisse Güter in Besitz nimmt, und das eben dadurch mit den anderen Menschen in Konflikt gerät.« M. Merleau-Ponty 24

Bereits mit einem Jahr hat sich die symbiotische Verschmelzung mit der Bezugsperson weitgehend aufgelöst. Das Kind vermag das Verhalten des Anderen immer besser vorwegzunehmen. Diese grundlegende Fähigkeit gegenseitiger Zurechnungsfähigkeit fundiert jedes sozial bedeutungsvolle Handeln, weil ein Individuum nur einen »bewussten Bezug zu sich selbst haben kann, indem es zu anderen in Beziehung tritt und die Reaktion dieser anderen auf sein eigenes Verhalten mitvollzieht« 25. Zu Beginn wurde das Selbstbewusstsein des Kindes durch die unmittelbare Spiegelung bedingt. Ab dem 2. Lebensjahr konstituiert sich das Selbstbewusstsein jedoch dadurch, was Andere »in ihm sehen«. Es lernt, dass es als Körper zwar sichtbar ist, aber es sich im Ausdruck seiner Gesten und Mimik nicht selbst gegeben ist. Im Prozess des Umsorgtseins fühlt sich das Kind mehr und mehr »erkannt als Objekt«, d. h., es wird sich seines eigenen Leibes bewusst und vermag ihn so zunehmend zu kontrollieren. Es wird zum Akteur in einer von ihm getrennten Wirklichkeit (Grenzerfahrung der Welt) und wird sich handelnd seiner selbst bewusst. Dieser Entdeckung des Ichs geht jedoch ein komplizierter Prozess der Dissoziation voraus, für welchen die »Nein-Geste« der Bezugsperson eine zentrale Rolle spielt. Durch die »Nein-Geste« tritt dem Kind die Bezugsperson nicht mehr als »sympathisch« gegenüber, sondern in seiner Negation und Andersheit. Es entsteht ein Widerspruch zwischen Innen und Außen, zwischen seinem eigenen Willen und dem des Anderen, welcher zu einer Art »Verdoppelung des Selbst« führt: »Erst indem es sich entgegnet, begegnet es sich selbst.« 26 Nichtsdestotrotz vermag sich das Kind in seiner unmittelbaren M. Merleau-Ponty, Humanismus und Terror, Frankfurt am Main 1966, 146. K. Neumann, Der Beginn der Kommunikation zwischen Mutter und Kind, Bad Heilbrunn 1983, 116. 26 Th. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 280. 24 25

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Bezogenheit auf je eine Person noch nicht gänzlich zu »relativieren«. Dieser Entwicklungsschritt geht mit dem Erscheinen des Dritten einher. Das heißt, wo zunächst ein Dritter nur peripher wahrgenommen wurde, wird er nun in die Beziehung integriert. Erst jetzt ist es dem Kind möglich, eine intensive Beziehung zu zwei Personen zugleich aufrechtzuerhalten. Diese »Entdeckung des Dritten« führt zu der Erfahrung, dass es zwar als »lebendiges Wesen« (Leib) einzigartig und unvertretbar ist, dass es aber zugleich einen Körper hat wie alle anderen. In der unmittelbaren Interaktion entpuppt sich das Du in seiner Besonderheit, d.h,. im Angesprochensein durch die Mutter erscheint das Du nicht substituierbar. Durch die Erscheinung des Dritten wird das Du jedoch zum »jemand«. Auch der Blick ändert sich, vom verstehenden zum potentiell objektiven Blick. Der eigene Leib ist nicht einzigartig, sondern wird zum vergleichbaren Objekt mit anderen Körpern, d. i. zum Arbeits-, Sport- und Gesellschaftskörper. 27 »Im Körperhaben sind wir so wie alle anderen, im Leibsein sind wir so wie kein anderer.« 28 Unter dem Blick des Dritten lernt sich das Kind ferner so zu sehen, wie es von Anderen gesehen wird, d. h.,s es erfährt sich im Schnittpunkt der Betrachtungen mehrerer Personen. Mit ca. 3–4 Jahren wird sich das Kind seiner Sichtbarkeit bewusst und nimmt im Raum eine objektivierbare Position ein. 29 Im Sinne Plessners »hat« das Kind nun einen Körper und ist sich zugleich seines Leibes bewusst. Dieser Körper wird nun zunehmend (weil er zugleich sichtbar und sehend ist) als Regelkörper erfahren und das Verhalten wird den Regeln des Zusammenlebens eingegliedert. Dies verlangt vom Kind, dass es sich immer mehr vom eigenen Leib und seinen Bedürfnissen abgrenzt. Oder in anderen Worten: Der Körper wird zu einem Objekt, zu einem Ding, wie es alle haben und für das dieselben Regeln gelten. Bittner spricht hier von einer »Urverdrängung« (G. Bittner, Tarnungen des Ich, Stuttgart 1977, 31) oder auch als Einbuße leiblicher Transparenz (ebd., 36). Erst in dieser Phase vermag das Kind Äußerungen zu machen, welche den Körper aus der Perspektive des Anderen beurteilen, z. B. dass es zu klein oder zu schwach ist, um etwas zu erreichen oder es zu tragen. Da das Kind bisher seinen Leib in der Unmittelbarkeit gelebt hat, so tritt nun in der Kombination der Entwicklung des Sprachfähigkeit sowie der Selbstabstraktion die Möglichkeit ein, dass es mit dem Körper Erfahrung macht. 28 J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 463. 29 Dies hat George Herbert Mead als den Übergang vom I zum Me beschrieben (vgl. hierzu auch Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 459). 27

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Erst jetzt schämt sich das Kind, weil es »weiß«, wie es für andere aussieht. 30 »Scham ist […] Scham über sich selbst, sie ist die Anerkennung des Tatbestandes, dass ich wirklich jenes Objekt bin, das der Andere ansieht und aburteilt.« 31 Aus diesem Grund ist die Scham ein Indikator dafür, dass sich das Kind als Objekt für andere gegeben ist. Es ist zugleich der Blick, welcher mich als den Ort meiner Taten erscheinen lässt und mich auf diese reduziert. 32 Dieser Blick des Anderen begleitet den Menschen von nun an sein ganzes Leben. 33 Gleichzeitig hebt sich das Kind von der Erkenntnis seines Objektseins ab, d. h. steht als freier Wille aus diesem Moment in die Zukunft hinaus. »Ich sagen heißt daher […] die eigene Zentralität im Durchgang durch die Perspektive der Anderen zu relativieren und zu affirmieren, sich als Zentrum nur einer und doch meiner Welt zu begreifen, welche nicht in der des Anderen aufgeht.« 34 Dies zeigt sich auch im Verhalten vor dem Spiegel: Bisher sah das Kind einfach nur sich und seine Mutter im Spiegel. Von nun an – und das erklärt die Irritation, welche Kinder zu diesem Zeitpunkt vor dem Spiegel zeigen – sieht es sich selbst »im Blick des Anderen«, d. h., so wie die Mutter es sieht. »Dieser abgespaltene Teil, der zum Eigenen, aber auch zum Anderen in Opposition treten kann, erlaubt die Verwendung des Personalpronomens ›Ich‹.« 35 Das Innewerden meiner Selbst als Leib und Körper verändert zugleich meinen Bezug zu den Dingen. Das Kind vermag nun den Blick des Anderen zu apperzipieren. Dadurch treten die Gegenstände aus ihrer Unmittelbarkeit heraus und ihr Sinn wird in seiner Allgemeinheit erfasst. Bereits jetzt greift das Kind jedoch in den Prozess der Sinngebung ein. Im Dialog zwischen Generationen werden Bedeutungen und Gebräuche weitergegeben. Oder wie Henri Bergson sich ausdrückt: »Wir lachen jedesmal, wenn eine Person uns wie eine Sache erscheint.« (H. Bergson, Das Lachen, Jena 1921, 38.) 31 J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Reinbek bei Hamburg 1985, 350. 32 Vgl. Sartres berühmtes Beispiel des eifersüchtigen Mannes am Schlüsselloch. Wer diesen Mann bei der Tat ertappt, wird ihn auf dieses eine Ereignis reduzieren. Seine Erscheinung wird nun für immer mit dieser einen Tat in Verbindung stehen. Er kann vor dieser Tatsache nicht flüchten. 33 Vgl. hier die Geschichte des Marionettentheaters von Heinrich von Kleist: Ein anmutig-graziler junger Mann wird durch den Blick des Anderen sich seiner selbst bewusst und findet nie mehr zurück zu seiner natürlichen Grazie (H. Kleist, Über das Marionettentheater – Aufsätze und Anekdoten, Frankfurt am Main 2007). 34 Th. Fuchs, Leib, Raum und Symbol, a. a. O., 297. 35 J. Seewald, Leib und Symbol, 396. 30

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Das Kind eignet sich diese in einem kreativen Prozess an und hat dadurch an der Gestaltungen von Sinn und Ordnung teil. Diese intersubjektive Sinnkonstitution dient als Handlungsbasis in einer gemeinsamen Welt. Selbstverständlich wird diese Art des Selbstbewusstseins mit einer Dissoziation bezahlt: »[D]as Subjekt muss notwendigerweise einen Teil von sich in [ein] Objekt umwandeln, um seiner selbst bewusst werden zu können.« 36 Erst durch die Hereinnahme des Anderen als einen Teil des Selbst, kann das Selbst aus der Perspektive des Anderen gesehen und so als Eigenes erkannt werden. Aus diesen Analysen folgt, dass das Selbst keine bereits bestehende Monade ist, welche sich langsam herausschält. Vielmehr ist das »mich« (wie es z. B. in den Wendungen wie »ich schäme mich« oder »ich freue mich« auftaucht) ein vom Anderen intendiertes Ich. 37 Oder wie Thomas Fuchs sagt: »Die Repräsentanz des Anderen ist eine bleibende Struktur von Subjektivität.« 38 Diese Veränderungen wirken selbstverständlich auch auf die Empfindungsfähigkeit des Kindes. An die Stelle der unmittelbaren Mimesis tritt nun zunehmend die bewusste Imitation des Anderen. Das heißt, Tätigkeiten, Gebärden, Ausdrücke u. v. m. werden bewusst nachgeahmt und dadurch in den eigenen Leibraum integriert. Der Andere erscheint als selbständiges Bewusstsein, wodurch das Kind die Fähigkeit entwickelt, mit der Fremdheit des Anderen mitzufühlen. Diese Fähigkeit hat jedoch nichts mit einem Analogieschluss zu tun. »Die Deduktion des anderen Bewusstseins ist nur möglich auf Grund des Vergleichs und der Identifikation der Gefühlsausdrücke des Anderen mit den meinen und auf Grund der Erkenntnis bestimmter Beziehungen zwischen meiner Mimik und meinen psychischen Tatsachen. […] Zwischen meinem Bewusstsein und meinem Leib, so wie ich ihn erlebe, zwischen diesem meinem phänomenalen Leib und dem des Anderen, so wie ich F. Fornari, Psychoanalyse des ersten Lebensjahres, Frankfurt am Main 1970, 176, zit. auch in: J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 396. 37 Dies wird u. a. erkennbar in der Einbuße des coenästhetischen Wahrnehmungsvermögen: Die Dinge werden zu Gegenständen, die ähnlich sind für alle. Sie verlieren ihren unmittelbaren Anmutungsgehalt. Sie werden im gemeinsamen Umgang bedeutungsvoll und erhalten hieraus ihre Wertigkeit (z. B. Mamas Brille, Papas Messer, das Geschirr von Oma, das nur sonntags verwendet wird). »Durch Verbote und Weisungen kann sich dem Kind die implizite soziale Semantik der Objektwelt vermitteln.« (J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 380.) 38 Th. Fuchs, Leib, Raum, Symbol, a. a. O., 293. 36

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ihn von außen sehe, herrscht ein inneres Verhältnis, welches den Anderen als die Vollendung des Systems erscheinen lässt. Möglich ist die Evidenz des Anderen dadurch, dass ich mir selbst nicht transparent bin und auch meine Subjektivität stets ihren Leib nach sich zieht.« 39 Mit zunehmender Individualisierung des Kindes vermag es den Anderen schließlich als fremdpsychische Entität wahrzunehmen. Dadurch reagiert es nicht mehr nur sympathisierend, sondern »mitfühlend«. Diese Art des Mitgefühls wird zu einem ethischen Impuls, weil nun das Ziel seiner helfenden Intentionen der Andere in seiner Andersheit ist; z. B. kann es von seiner unmittelbaren Betroffenheit abstrahieren, um dem Anderen zu Hilfe zu eilen. 40 Erst später, mit dem Abschluss der eigenen Innensphäre, ist es ihm schließlich möglich, einen abstrakten Perspektivenwechsel zu vollziehen, welcher von den fremden bzw. eigenen Gefühlen vollkommen abstrahiert, um eine universale Perspektive einzunehmen. Im Gegensatz dazu bleibt das Mitgefühl situationsbezogen und konkret. Das Kind ist emotional involviert. 41 Durch diesen Austausch und Mitvollzug der Perspektiven entsteht eine Sphäre des Allgemeinen, d. h. ein intersubjektiver Bedeutungs- und Handlungsraum, der auf der Fähigkeit der Nachahmung und des mitfühlenden Verstehens basiert. Ich werde im Folgenden genauer auf die Bedeutung von Leib, Raumwahrnehmung und Stimme für die Konstitution eines intersubjektiven Raumes eingehen. Entstehung einer intersubjektiven Raumwahrnehmung und das Bewohnen einer gemeinsamen Welt Im Prozess von Welt- und Eigenwahrnehmung verdichtet sich die Sinnhaftigkeit des Gegebenen in Abhängigkeit zum »Ich kann« des Leibes; d. h., die Dinge erscheinen als zu schwer erreichbar, essbar, zu klein etc. Rückwirkend entwickelt das Kind in Abhängigkeit von seiner leiblichen Wirkqualität eine Vorstellung von sich selbst. Identität und Sinn konstituieren sich wechselseitig über das Mittel des Leibes. Das

M. Merleau-Ponty, PW, 403 ff. Dies wird auch in der Art der Hilfe sichtbar: Es bringt nun z. B. nicht mehr den eigenen Teddybären, um seinen Freund zu trösten, sondern seine Kuscheldecke (oder Ähnliches). 41 »Nur für Erwachsene bilden die Wahrnehmung des Anderen und die intersubjektive Welt überhaupt ein Problem.« M. Merleau-Ponty, PW, 407 f. 39 40

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Kind bewohnt zunehmend die Welt, indem es die Möglichkeiten seines Leibes kennenlernt. Diese Veränderungen führen zu einer Transformation der Raumund Objektqualitäten: Das frühe Kind erlebt sich als absoluter Mittelpunkt sämtlicher Aktionen. 42 Um die eigene Mitte spannt sich der Handlungs- und Richtungsraum wie eine zweidimensionale Scheibe. Mit zunehmender Mobilität dominiert die Mutter bzw. spezifische Gegenstände die »Mitte« des Raumes, um welche das Kind mit seinen ersten Aktionen kreist. Hier entsteht der erste wahre »Zwischenraum«, d. h. eine Architektonik, die aus zwei miteinander interagierenden Menschen besteht. Solange sich das Kind noch nicht als sichtbarer Körper gegeben ist, weiß es jedoch noch nichts von der Relativität des Raumes und den Dingen als Gegen-Stände. Eine interessante Zwischenform stellen hier die von Donald Winnicott beschriebenen »Übergangsobjekte« dar: 43 Sie bilden ein Bindeglied zwischen der sogenannten objektiven Welt der Gegenstände und der eigenen phantasmatischen Welt des Einsseins. 44 Für das Kind bedeutet das, die magische Allmacht schrittweise aus der sichtbaren »objektiven« Welt zurückzunehmen, um in den Gegenständen deren Eigenwirklichkeit wahrzunehmen. Die Übergangsobjekte bilden aus diesem Grund die Basis für die Unterscheidung von privatem und intersubjektiv-objektivem Raum. 45 Die Bedrohlichkeit der Eigenwirklichkeit des Objekts überwindet das Kind, indem es zu spielen beginnt und sich durch die zunehmende Vermögendheit des eigenen Leibes in der Welt »einwohnt«. 46 Im Spiel erschafft es sich eine »eigene Welt« in der äußeren Welt und versucht auf diese Weise die beiden Bereiche wieder zu versöhnen. »Nur so vermag es sich der intersubjektiv geteilten Welt, die wir ›real‹ nennen, zu nähern, indem es sie phantasmatisch (re-)produziert und synthetisiert mit dem Bodensatz

Vgl. hierzu auch Th. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 311. Vgl. D. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse, a. a. O., 105 ff. 44 Bei den Übergangsobjekten handelt es sich oftmals um weiche Gegenstände wie Teddybären, Decken, Schnuller oder Ähnliches. 45 Vgl. J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 338 f. 46 »Übergangsobjekt und potentieller Raum erhalten ihre Schlüsselstellung, weil sie den Beginn des Bedeutens markieren und den Ursprung des Spielens, der Phantasie und der gesamten kulturellen Produktionen darstellen.« (J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 342.) 42 43

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guter Erfahrungen, die ein Teil von ihm geworden sind.« 47 Aus diesem Grund umfangen sich im Übergangsobjekt die innere und die äußere Welt. Am Ende dieser Entwicklung steht eine veränderte Raumwahrnehmung: Die Objekte umgeben das Kind nicht mehr in ihrer Endgültigkeit, sondern haben eine Rückseite. Als Inseln schälen sie sich aus dem Raum heraus und vermögen von nun an durch das Kind handgehabt zu werden. Durch diese Apperzipation der Rückseite ist mir der Andere nun in jedem Augenblick »mitgegeben«; sein Blick bewohnt von nun an die Rückseite der Gegenstände, ist ihr Stoff und bedingt so die Fülle meines Blickes. Dadurch wird der Raum perspektivischer und konvergiert zum allgemeinen Erlebnis- und Handlungsraum. 48 Das heißt, der interpersonale Raum wird zwischen mindestens zwei sprechenden und agierenden Personen aufgespannt, welche sich je ihrer Perspektiven bewusst sind und zugleich diese miteinander tauschen. 49 Seine Struktur überdauert das unmittelbare Erleben. 50 In dem Maße, da sich das Erleben vom Leib als Nullpunkt eines Koordinatensystems löst, erscheint der Raum nun als messbar und invariant. 51 Das Kind erfährt die Dinge in ihrer Eigenständigkeit und die Objektbeziehung weicht dem Objektgebrauch. 52 Im Ausgreifen auf die Dinge antwortet der Leib auf deren Appellcharakter (deren Sinnhaftigkeit in Bezug auf den Leib: z. B. ein Stock will gehalten werden, eine Kugel gerollt etc.) und es entwickelt sich eine sinnhafte Bewohnung J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 344. Bei der Aufgabe, ein Hindernis zu umlaufen, scheitern Einjährige noch völlig, während Zweijährige in der Regel keine Probleme haben. D. h., mit 2 Jahren haben Kinder eine Vorstellung vom eigenen Leib und können zumindest unmittelbare Gegenstände als solche erkennen und umgehen (J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 360). 49 Vgl. auch M. Tomasello, M. Carpenter, J. Behne, T. Call, and H. Moll, Understanding and sharing intentions: The origins of cultural cognition, in: Behavioral and Brain Sciences, 28, 2005, 675–735. 50 Robert Spaemann verknüpft diesen Aspekt mit dem Personsein: »Personsein ist das Einnehmen eines Platzes, den es gar nicht gibt ohne einen Raum, in dem andere Personen ihre Plätze haben.« (R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«, Stuttgart 1996, 193, zit. nach Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 299.) In diesem Sinne sieht Fuchs Personsein an die leibliche Perspektivität gebunden (ebd., 300). 51 Ebenso verhält es sich natürlich mit der Zeit, die nun nicht mehr einzig selbstbezogen, sondern gleichermaßen vom anderen her entdeckt und wahrgenommen wird. Das Kind bewohnt nun mit Anderen eine intersubjektiv geteilte Raumzeit. 52 Vgl. D. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse, a. a. O., 100 ff. 47 48

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der kulturellen Welt. Das heißt, diese »Einwohnung« des Leibes im intersubjektiven Raum vollzieht sich im Chiasma von Nachahmung und intuitivem Appell der Dinge. Die Rolle von Stimme und Sprache für die Konstitution einer intersubjektiven Welt Im Säuglingsalter gehört die Stimme noch zum ungetrennten Raum und wird in der Ungeschiedenheit von Mutter und Welt erfahren. Laute gleichen einer »Verlängerung des Leibes« bzw. ausgreifenden Geste, welche eine verbindende Kraft hat. Die Stimme »moduliert« und interpretiert das Geschehen und vermag auf diese Weise Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln. Schweigen kann hingegen bedrohlich wirken, insofern es den Zerfall dieser Einheit bedeutet. In diesem Sinne eröffnet die Stimme einen gemeinsamen Raum, trotz der physischen Getrenntheit: Die Stimme reicht weiter als der Leib, sie kann sich mit anderen verbinden oder auch den Ausgriff anderer abblocken. Hierin gleicht sie dem Sehen, das ebenso wie das Hören über den physischen Körper hinausragt und eine Verbindung mit der Welt bzw. dem Fremdpsychischen ermöglicht. Eine Verbindung wird möglich, wo der Körper versagt – ein Körper kann sich nie mit dem eines Anderen »vermischen«. Die Stimme hingegen kann kundtun, wie der Mensch fühlt. In diesem Sinne kehrt sie – durch Worte, Modulation, Tonlage etc. – Inneres nach Außen. »Nimmt man die ›Leere des Leibes‹ als Metapher für die Erfahrung des Mangels und der Einsamkeit, so beginnt das Kind in dem Moment zu sprechen und in eine explizite Kommunikation zu treten, wo die unmittelbare Kommunikation zerfällt und die Einsamkeit droht.« 53 Das heißt, in dem Maße wie sich das Kind von der Mutter trennt, entwickelt es Sprache und gezielte Sehfähigkeit. Vermittels dieser Fernsinne vermag es sich der Präsenz der Mutter rückzuversichern. Die Art der Sprache ist in den ersten Jahren noch stark leib- und affektgebunden und beugt sich erst allmählich dem »objektiven Kode« 54: »Die ersten Worte werden so Kompromissbildungen zwischen Privatsprache und objektivem Kode, wodurch sich das Kind letzterem gleichzeitig beugt und ihm widersteht. Der Übergangscharakter geht J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 393. Vgl. R. Gori, Zwischen Schrei und Sprache: Der Sprechakt, in: Anzieu u. a. 1982, 106 ff., zit. nach J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 387.

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jedoch nie verloren, soll Sprechen nicht bedeutungsleer und formalistisch werden.« 55 Während dieser Phase löst sich das Bezeichnete vom Zeichen selbst, wodurch ein analytisch-diskursiver Symbolmodus möglich wird. Eine so vollzogene Konzeptbildung bzw. Abstraktion vom konkreten Erleben erleichtert es, nicht alles ungefiltert aufnehmen zu müssen. In diesem Sinne strukturiert Sprache die unmittelbare Erfahrung und bietet einen gewissen Schutz vor dem Übermanntwerden von Erlebnissen. Die Kehrseite dieses Prozesses ist jedoch, dass die Zuordnung zu den Dingen willkürlicher wird, je mehr sich Zeichen und Bezeichnetes voneinander trennen. Es entsteht eine unauflösbare Spannung zwischen dem Sprechen einer intersubjektiven Sprache und der leibimmanenten Besonderheit von Gesagtem und Erlebtem. 56 Resümee Es wurde die Abhängigkeit von intersubjektivem Raum und leiblicher Eigenwahrnehmung deutlich gemacht. Am Anfang dieses Prozesses steht das Gewahrwerden von Eigenem und Fremdem durch das eigenleibliche Spüren. Die Erkenntnis des Fremdpsychischen wird mit der Nein-Geste assoziiert, durch welche die Bezugsperson dem Willen des Kindes Grenzen setzt. Durch das »Erscheinen des Dritten« vermag sich das Kind mit den Augen anderer zu betrachten, d. h., es erkennt sich reflexiv und als sichtbar für Andere. Es hat nun die Fähigkeit, symbolisch zu handeln und eine objektive Sprache zu erlernen. Beides führt zu einem elaborierten affektiven Selbstbewusstsein (z. B. Scham und soziale Verwirrung).57 Identität und Sozialität, Innen und Außen wurzeln in einer vorausgehenden anonymen Kollektivität. Durch die Verleiblichung (zunehmende Bewohnung des Leibes) differenzieren sich Identität und Sozialität gleichursprünglich. Aus diesem Grund erscheint Piagets Idee der »egozentrischen Position des Kindes« missverständlich, weil ein Kind erst über die Beziehung zum Anderen ein Bewusstsein von sich

J. Seewald, Leib und Symbol, a. a. O., 389. Sprachsymbole haben eine Tendenz des »Entweder-Oder«, um präzise und intersubjektiv verstehbar zu sein. Das Mitgemeinte und Ambiguose der unmittelbaren Erfahrung geht darin oft verloren, weil jene eher dem Prinzip des »Sowohl als auch« gehorcht. Kindersprache im Sinne eines Onomatopäa wird zugunsten der grammatikalischen Eindeutigkeit und Richtigkeit der intersubjektiven Sprache zurückgedrängt. 57 B. Haneberg, Leib und Identität, a. a. O., 67. 55 56

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als »Kernselbst« entwickelt. Recht behält Piaget hingegen in seiner Behauptung, dass indem wir uns als Objekt gegeben sind, uns auch die Dinge der Welt als Gegenstände gegenübertreten. Hiermit werden auch Plessners Ausführungen der exzentrischen Position des Menschen bestätigt, d. h., dass uns durch das »Körperhaben« die Dinge der Welt in ihrer Relativität und Allgemeinheit gegenübertreten. Während dieses Prozesses erweist sich der Leib als Umschlagstelle zwischen Eigenem und Fremdem. Insbesondere die bloße Anwesenheit von Gebrauchsgegenständen zeigt mir an, dass hier noch jemand wohnt, welcher diese Dinge auf eine mir ähnlich Weise verwendet. In diesem Sinne werden wir in eine sinnbesetzte Kulturwelt hineingeboren. Im Umgang mit den Weltdingen antizipiert das Kind lateral den allgemeinen Gebrauch der Dinge (Habitualisierung), obwohl es zugleich auch einen je spezifischen Sinn (qua Leibvermögen) aktualisiert. Allgemeines und Individuelles überlagern sich als Schichten im Leib. Merleau-Ponty beschreibt diese Schichten als habitueller und aktueller Leib, d. i. der Körper als Möglichkeit (allgemein) und der Leib in der konkreten Aktualisierung seiner Fähigkeiten (spezifisch-individuell). Diese Überkreuzung von Allgemeinem und Spezifischem legt das Sediment für intersubjektives Verstehen und bedingt die Möglichkeit, dass ein allgemeiner Sinn- und Handlungsraum entsteht.

4.1.3 Der private Raum: Strategisches Denken und perlokative Handlung In einem letzten Schritt lernt das Kind von der Unmittelbarkeit seiner eigenen Gefühle und Perspektiven zu abstrahieren und macht auf diese Weise »Platz«, um die Gefühle und Perspektiven des Anderen kognitiv nachzuvollziehen, d. i. in ihrer Allgemeinheit zu erfassen. Anders als das affektgebundene »Mitgefühl« vermag die »Perspektivenübernahme« die Dinge so zu sehen, wie sie dem Anderen erscheinen, ohne dabei gefühlhaft an dessen Erleben teilzuhaben. Der Andere vermag ferner in seiner Gesamtsituation erfasst zu werden. Diese Fähigkeit ist Voraussetzung, um einen abstrakt-sprachlichen Diskurs »über die Dinge« zu führen. Es entsteht eine geistige Mitwelt, die von der Unmittelbarkeit des Handelns abhebt. Nichtsdestotrotz bleibt die Sprache, insofern sie für die Beteiligten bedeutungsvoll sein soll, immer im konkret-leiblichen Erfahren verwurzelt. In jedem Wort überkreuzen 105 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

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sich leibgebundenes Erleben und allgemeine Bedeutung. 58 Denn nur weil Menschen einen grundsätzlich ähnlichen Leib haben, vermögen wir fremde Erfahrungen qua Sprache nachzuvollziehen. Verstehen geschieht deshalb, insofern es geschieht, an dieser Überkreuzung von unmittelbar-individueller Leibgebundenheit und Allgemeinheit. Die Fähigkeit zur reflektierten Abstraktion vom unmittelbaren Erleben schafft einen privaten Rückzugsraum, in welchem Handlungsfolgen, Gefühle und Impulse »erprobt« bzw. »beurteilt« werden können, bevor sie ins »Licht der Öffentlichkeit« treten. Dieser Ort bleibt jedoch an den Anderen rückgebunden, weil sich das Subjekt nie ganz gegeben ist, sondern immer nur als vermitteltes Selbstsein über den Anderen. 59 Das heißt, obgleich wir im Laufe der Entwicklung den primordinalen Zustand der Intersubjektivität verlassen, bleibt unsere Identität an den Blick des Anderen gebunden. Umgekehrt bleibt der Andere nur insofern opak, als er sich einer Kommunikation verweigert. Sobald sich jedoch Gesten, Mimik, Sprache und Handeln kreuzen, entsteht ein intersubjektiver Raum des Bedeutens und öffentlichen Sinns. Damit ist neben der Anwesenheit von Kulturgegenständen (Herstellungswelt) die Kommunikation (Sprechhandeln) Fundament für die Entstehung eines solchen intersubjektiven Sinn- und Handlungsraumes. Hier ist der Einzelne nicht mehr auf den eigenen Standpunkt reduziert, sondern Perspektiven und Sinnbezüge überkreuzen sich. Im positiven Sinne bedeutet dies, dass wir nicht alleine sind. Selbstverständlich vermag sich der Mensch in jedem Moment in den privaten Innenraum zurückzuziehen oder sich zu verstellen. Er vermag ferner strategisch zu handeln, indem er einerseits von seinen unmittelbaren Impulsen abstrahiert und andererseits die Reaktionen des Anderen durch einen Perspektivenwechsel berechnet. Rückzug, Täuschung und strategisches Handeln sind jedoch Modalitäten des Zur-Welt-Seins, welche sich der Intersubjektivität verweigern. Sie haben deshalb den intersubjektiv-politischen Raum des Öffentlichen bereits verlassen, um sich in die Sphäre der Privatheit zurückzuziehen.

Vgl. die ausführlichen phänomenologischen Studien zur Fremdheit bei B. Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main 1991. 59 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Identitätsentwicklung und politischem Raum weiter oben sowie ausführlicher im nächsten Kapitel. 58

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4.2 Aus phänomenologischer Perspektive »Anwesenheit ist nicht für sich selbst da. Ich bin, indem ich immer schon dem Anderen verbunden und der Gemeinschaft anderer Menschen einbezogen bin; Gesellung, Gemeinsamkeit, Beisammensein wird dann nicht mehr als Funktion zwischen Individuen verstanden, die negative Konflikte aufweist und positiv geregelt werden müsste – sondern als Grund der Existenz selber.« Gabriel Marcel 60

Die entwicklungspsychologischen Beschreibungen haben gezeigt, dass Identität nur im Mit-Sein mit Anderen entfaltet werden kann und die Fähigkeit zur Abstraktion wesentlich im leibgebundenen Erleben verankert ist. Der Leib wird so zum Angelpunkt von Perspektivität, Mitgefühl, Intersubjektivität und der Konstitution einer gemeinsamen Welt. Anhand phänomenologischer Theoreme soll nun gezeigt werden, welche Änderungen sich für die Funktion des politischen Raumes ergeben, wenn dieser nicht mehr als Vermeidung negativer Konflikte, sondern positiv als identitätsstiftendes Moment gesehen wird. Hierdurch wird die Notwendigkeit einer Verschränkung zwischen Leib, Mitgefühl und Vernunft deutlich.

4.2.1 Desiderat einer leibfundierten Vernunft Wenn Habermas in Nachmetaphysisches Denken nach der »Situierung der Vernunft« fragt, dann stellt er sich mit dieser Frage einer Problematik, die mit Hegel seinen Ausgang nimmt: Nämlich der Suche nach einer »verkörperten Vernunft«. »Die Junghegelianer waren stark genug, um dem Desiderat einer naturgeschichtlich produzierten, leiblich inkarnierten, gesellschaftlich situierten und geschichtlich kontextuierten Vernunft im Namen von Objektivität, Endlichkeit und Faktizität Überzeugungskraft zu verleihen.« (ND 47) Ein solches Bemühen scheitert jedoch in Habermas’ Augen daran, dass das Subjekt als ein monadisch die Wirklichkeit erfassendes Individuum Zentrum oder auch Ort der Vernunft bleibt. Traditionell zeichnet sich Vernunft insbesondere dadurch aus, dass sie vom individuellen Lebensprozess abgekoppelt bleibt, d. h., rationale Entscheidungen sollen nicht von indivi60

G. Marcel, Leibliche Begegnung, a. a. O., 25.

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duellen Umständen oder Gemütsbewegungen beeinflusst werden. Umgekehrt kann Vernunft nicht durch »Intelligenz« ersetzt oder als Vorgang instrumentalisiert werden: Selbst wenn beispielsweise ein Computer oder eine ähnliche Maschine noch so intelligent wäre, würden wir nicht wollen, dass diese Maschine über unsere Ehe entscheidet, uns in einer kniffligen oder traumatischen Situation wie ein Therapeut berät, oder eine Philosophie annehmen, die uns etwas über das Sein der Welt oder uns selbst verrät. Ebenso wenig können wir wollen, dass eine solche Maschine über Leben und Tod entscheidet, unsere Gesetze entwirft oder andere wesentliche Aspekte des öffentlichen Raumes beeinflusst. 61 Der Grund hierfür ist, dass eine solche Maschine nicht den gesamten Kontext einer Situation adäquat zu erfassen vermag. Ulrich Pothast betont in diesem Zusammenhang einen wesentlichen Aspekt der Vernünftigkeit, insbesondere wenn sie menschliche Dinge anbelangt: die Fähigkeit des »Mitlebens in jenem Kontext« bzw. »das SichEinlebenkönnen in seelisch-körperliche Situationen«. 62 Das heißt, die Situation muss von innen heraus erfasst und verstanden werden. Dabei ist das Erfassen der Andersheit des Anderen ebenso wichtig wie das der Ähnlichkeiten. Für einen Computer erscheint diese emotionale Komplexität einer Situation nicht begreifbar bzw. beurteilbar. Letzten Endes tangiert das Problem einer im menschlichen Lebensraum situierten Vernunft, welche zugleich vom individuellen Befinden abstrahiert, auch den politischen Handlungsraum, insofern das Konglomerat pluraler individueller Weltvorstellungen eine intersubjektive Welt entwerfen bzw. kollaborativ zu ihrer Veränderung beitragen soll. In der deutschen Sprache wird oftmals der Begriff der »Vernunft« von »Rationalität« unterschieden, weil letzterer begriffsgeschichtlich eher mit der Fähigkeit assoziiert wird, logische Operationen durchzuführen, zu rechnen etc. 63 – Fähigkeiten, welche auch, wenn nicht gar besser, von leblosen Maschinen und Computern durchgeführt werHierbei beziehe ich mich auf den höchst aufschlussreichen Aufsatz von Ulrich Pothast (Lebendige Vernünftigkeit als philosophischer Gegenstand, in: M. Großheim u. H.-J. Waschkies (Hg.), Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993), welcher das Desiderat einer »lebendigen Vernunft« sehr deutlich herausstellt. Er versucht, »lebendige Vernünftigkeit als philosophisches Desiderat zu votieren« (ebd., 3). 62 Vgl. Pothast, Lebendige Vernünftigkeit als philosophischer Gegenstand, a. a. O., 6. 63 Vgl. hierzu die ausführliche Begriffsgenese über Vernunft und Rationalität weiter oben. 61

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den können. Exemplarisch gilt hier Humes Verständnis von »reason«, d. i. eine Fähigkeit, welche Informationen einholt, berechnet, kategorisiert etc., jedoch – ganz im Gegensatz zum Gefühl – keine Entscheidungen zu treffen vermag. 64 Oftmals wird so die prädikative Aussage zur einzigen Wissensmodalität erhoben. Bei Weber übernimmt die Zweckrationalität die Funktion des Hume’schen »reasoning«, d. i. die Wahl des richtigen Mittels. Sie muss jedoch durch die Wertrationalität ergänzt werden, weil nur sie die Ziele des Handelns zu bestimmen vermag. 65 Die Frage, welche hinter diesen und anderen Versuchen steht, ist: Wie können oder sollen Menschen auf vernünftige Weise, das ist auf intersubjektiv nachvollziehbare und dadurch begründbare Weise, zu ihren letzten Zielen gelangen? Oder anders gefragt: Welche Art von Vernunft vermag einen intersubjektiven Handlungsraum zu begründen? Ich werde in Auseinandersetzung mit Habermas’ Konzeption einer kommunikativen Vernunft auf einige Lücken dieser Theorie aufmerksam machen. Auf dieser Grundlage werden schließlich die Faktoren einer Erweiterung seiner Konzeption im Hinblick auf den Körper und das Mitgefühl entfaltet werden. Freilich versucht Habermas zu belegen, dass dieser »Misere« einzig durch eine intersubjektiv konzipierte Vernunft beizukommen ist, welche dem Prozess einer gegenseitigen Konstitution und Hervorbringung von Person, Kultur und Gesellschaft zugrunde liegt. Alle drei Entitäten werden dabei als unabgeschlossen sowie einander durchdringend gedacht. Vernunft ist nicht das »Haben«, sondern das »KnowHow« der Anwendung von Wissen von sprach- und handlungsfähigen Subjekten (vgl. ND 67). Ein solcher Vernunftbegriff geht auf Husserls Begriff der Lebenswelt zurück, in welcher das kommunikative Handeln eingebettet ist: Denn die Teilnehmer einer Gemeinschaft können in der Regel davon ausgehen, dass ihre koordinierten Perspektiven mehr oder weniger übereinstimmen bzw. divergierende Perspektiven durch das kooperative Sprechhandeln zu einer gemeinsamen Sinndeutung zusammenführen bzw. einer Situation verschiedene Anwendungsbezüge verleihen (vgl. ND 89). Zu dieser lebensweltlichen Verankerung zählt D. Hume, A Treatise of Human Nature, a. a. O. Diese letzten Stellungnahmen der Zielsetzungen lassen sich laut Weber nicht mehr wissenschaftlich einheitlich bestimmen und bleiben deshalb von den Wissenschaften selbst ausgeschlossen. (vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1972; M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1968.)

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Habermas auch ein »intuitives Wissen« wie die Nutzung von Hebelwirkung, Schwerkraft etc. Trotz einer solchen Aneignung und Integration des Lebensweltbegriffs in seine Konzeption einer kommunikativen Vernunft spielt Habermas die Bedeutung des Leibes herunter bzw. versucht ihn mit Hilfe der Sprache zu ersetzen. Diese Reduktion zeigt sich u. a. in seiner Unterscheidung zwischen »bloßem Handeln« und »Sprechhandeln« (reines Sprechen oder von Sprechen begleitetes Handeln). Ersteres wird dem zweckorientiertem bzw. strategischem und Letzteres dem kommunikativen Handeln zugeordnet. Das heißt, Ersteres bleibt der Sphäre privater Aktionen, Letzteres der Konstitution einer gemeinsamen Welt zugeordnet (ND 64 f.), womit für Habermas die materialsichtbare Welt gegenüber der Sprachwelt in ihrer Bedeutung abgewertet wird. Eine solche Zuordnung ist innerhalb des Systems zweck- und kommunikationsorientierten Handelns durchaus verstehbar, weil die »stumme Aktion« sich dem allgemeinen Verständnis zu entziehen vermag. Aber nicht jede »stumme Handlung« verliert sich in der Idiosynkrasie einer privaten Handlung: Arendt sieht die Herstellungswelt und Kulturwelt als notwendige Voraussetzung für die Konstitution eines politischen Raumes. Die hergestellten Gegenstände gehören der Öffentlichkeit bzw. Konstituieren seine physische Präsenz, vor welcher politisches Handeln überhaupt erst stattfinden kann. Ferner klassifiziert eine solche Zuteilung die vielfältigen Äußerungen der Kunst als politisch bedeutungslos. Habermas behauptet nun, dass das Zentrum der Konstitution einer gemeinsamen Welt eben nicht der »jeweilige Leib«, sondern die jeweilige Sprachsituation ist (ND 92 f.). »Ich in meinem Leib und als mein Leib, finde mich immer schon vor in einer intersubjektiv geteilten Welt, wobei sich die kollektivbewohnten Lebenswelten wie Text und Kontext ineinanderschieben, überlappen und vernetzen.« (ND 93) Es ist nicht ganz klar, warum Habermas dennoch auf dem Unterschied zwischen Intersubjektivität und Verleiblichung beharrt. Vermutlich sieht er in der Verleiblichung des Menschen zugleich sein Monadendasein verwirklicht, aus welchem er nur durch die Sprache auszubrechen vermag. Dies führt dazu, dass Habermas sowohl Husserl 66 als auch »Da die Subjektphilosophie für den Eigensinn der sprachlichen Intersubjektivität blind ist, kann Husserl jedoch nicht erkennen, dass schon der Boden der kommunikativen Alltagspraxis selber auf idealisierenden Voraussetzungen ruht.« (ND 88.)

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Merleau-Ponty 67 als ›Subjektphilosophen‹ bezeichnet. Eine solche Bezeichnung verwundert, weil der Begriff der Intersubjektivität von Husserl entwickelt und bei Merleau-Ponty das Zentrum seines Denkens darstellt. Habermas läuft aus diesem Grund Gefahr, eine von der unmittelbaren Realität abgehobene Welt jenseits der leiblichen Sinnverwiesenheit zu entwerfen. Das bedeutet, es verlaufen die Verbindungslinien zwischen den durch ihre Körper getrennten Personen einzig über die Sprache. Sprache wird so zum öffentlichkeitskonstituierenden Moment. Weil aber der Körper vom Prozess der intersubjektiven Sinnstiftung ausgeschlossen bleibt, ist unklar, auf welches Fundament ein solches intersubjektives Verstehen baut. 68 Besonders problematisch wird dies, wenn es um das Verstehen fremder Gefühle geht. Hier propagiert Habermas selbst, dass eine auf die kommunikative Vernunft bauende Ethik die Sensibilität für eine moralische Konfliktsituation immer schon voraussetzt. Ein weiteres Problem besteht in der Gefahr der Rationalisierung im Sinne tiefenpsychologischer Verdrängung. Das heißt, nicht nur muss der Andere mit mir in einen offenen Dialog treten wollen, sondern er muss sich darüber hinaus auch aller impliziten Strebungen bewusst sein und diese wahrhaftig bekunden. Die Frage ist deshalb, ob das Bemühen einer konzeptionellen Abtrennung der kommunikativen Vernunft vom Mitgefühl und dem Körper notwendig ist oder ob ihr eine entsprechende Erweiterung nicht sogar zu mehr Praktikabilität verhelfen könnte. Bevor ich jedoch für eine leibfundierte Vernunft argumentiere, werden noch andere Vernunftaspekte untersucht und deren Relevanz in Erwägung gezogen: Ein erster Aspekt umfasst die formalen Vernunftleistungen. Ein Beispiel hierfür ist der Satz vom ausschließenden Widerspruch, wie er von Aristoteles in der Metaphysik dargelegt wurde. Der Phänomenologe Ulrich Pothast weist darauf hin, inwiefern eine solche Vernunftinterpretation einen »vernünftigen Dialog« behindert. »Der Inbegriff einer Vernunft, die vom Stellungnehmen lebender Personen gerade unabhängig ist, weil ihre Regeln dieses Stellung nehmen a priori norVgl. hierzu J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985 über die Phänomenologie (bes. Merleau-Ponty und Husserl) sowie die Intersubjektivitätsphilosophie. 68 Dahinter steckt u. a. die Frage, wie es möglich ist, dass wir Worte ähnlich gebrauchen oder wir einen ähnlichen Sinn mit dem Bezeichneten assoziieren. 67

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mieren, ist eine Vernunft, die auch für leblose Intelligenzen gilt, die es ja längst gibt«. 69 Die Gefahr hinter dieser Art von Normierungen liegt insbesondere darin, dass ein solches Insistieren auf Rationalität von Aussagen auf humaner Ebene zu durchwegs »unvernünftigen« Resultaten führen bzw. umgekehrt rationale Ziele zu irrationalen Handlungen führen können. 70 Das heißt, sowohl die zweckorientierte Rationalität als auch die Rationalität als Inbegriff der apriorischen Bedingungen der Rede helfen wenig, wenn es um eine Vernünftigkeit geht, welche über menschliche Belange entscheidet. Sie kann weder auf Zweckbestimmung noch auf Formalstruktur reduziert werden. Pothast entwickelt einen weiteren Anhaltspunkt, nämlich die orientierenden Leistungen einer sachhaltigen, d. i. sachbezogenen und materialen Vernünftigkeit zwischen lebenden Personen. 71 Diesen Aspekt möchte ich ausführen, weil er das Fundament meiner folgenden Überlegungen einer leibfundierten Vernunft bildet. Eine Stellungnahme in einem vernünftigen Dialog zwischen Menschen über menschliche Belange soll keine »wohlgeformte Sprechblase« 72 sein, sondern eine Aussage, hinter welcher der Mensch mit seiner gesamten endlichen und verletzlichen Existenz steht. Jede Aussage »riskiert« etwas, weil der Sprechende für das Gesagte zur Verantwortung gezogen werden kann. Natürlich kommt es in Dialogen immer wieder zu eher oberflächlichen Zustimmungen. Eine echte Stellungnahme hingegen ist das Resultat langen Abwägens und Überlegens. Dabei aktualisiert sich eine Stellungnahme oder Aussage erst im Kundtun. Dies hat zwei Gründe: a. Erst wenn wir eine Aussage öffentlich machen, müssen wir uns mit unserer Existenz hierfür verantworten. Das heißt, wir binden uns öffentlich und innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens an unsere Aussage. An diese Aussage sind wir mit unserem Leib gebunden, welcher uns in der gesellschaftlichen Ordnung verankert. b. Oftmals wird uns erst im Darlegen unserer Meinung bewusst, ob wir uns wirklich mit dieser Aussage identifizieren oder nicht, d. i. ob wir tatsächlich mit all unserer Existenz hinter U. Pothast, Lebendige Vernünftigkeit, a. a. O., 15. Ich gehe jedoch davon aus, dass Habermas’ Begriff einer kommunikativen Vernunft für solche Regulationen (auch wenn es um eine formale Logik geht) offen ist. 71 Vgl. U. Pothast, Lebendige Vernünftigkeit, a. a. O., 16. 72 Vgl. ebd. 69 70

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dem Gesagten stehen (können). Das lebendige Spüren und Identifizieren mit der Aussage ist hierfür die einzige Möglichkeit. 73 Dieses Spüren einer Aussage oder einer Entscheidung verlangen und erwarten wir auch bei dem Richter, der über unsere Kinderbetreuung entscheidet, oder beim Therapeuten, der uns zur Seite steht; d. h. wir werden spürend gestützt. Seine Aussage oder sein Urteil sind sinnhaltig, weil sie je unsere Situation spürend erfasst haben und sich selbst auf diese Weise ein eigenes Urteil bilden, hinter dem sie mit ihrer ganzen Person stehen. »Damit setze ich auch voraus, dass wir uns nicht nur sprachlich unterreden können, sondern dass wir als spürende Wesen und kraft wesentlicher Beteiligung spürende Leistungen gemeinsam in einer Welt leben und mit anderen Personen.« 74 Die Frage, welche auch Pothast stellt, ist, wie wir beim Überlegen und in der Unterredung mit Anderen zugleich in Kontakt mit unserem eigenen organischen Spüren bleiben und dieses weder unkritisch übernehmen noch übergehen. Wir müssen unsere Empfindungen gleichsam als Fundament für eine vernünftige, d. i. intersubjektiv nachvollziehbare, verantwortbare Entscheidung nehmen. Ein solches empfindendes Bedenken ersetzt natürlich nicht die intersubjektive Einigung. Allerdings darf es zu keinem Kompromiss kommen, der mein eigenes Spüren kompromittiert. Pothasts Anliegen ist der Versuch, die Wahrhaftigkeit über das leibliche Spüren in den Dialogkontext einzubringen. Der Vergleich mit einem Gerät oder einer Maschine ist gelungen, weil sich eine Maschine nicht vermittels ihrer Leiblichkeit und ihrem Empfinden für seine Aussage verantwortet. Der Mensch ist hingegen mit seinem Leib an eine gesellschaftliche Ordnung gebunden. Seine Verletzlichkeit macht ihn angreifbar und er kann zur Rechenschaft gezogen oder bestraft werden. Andererseits bildet die Verletzlichkeit seines Leibes die Grundlage des mitfühlenden und verantwortenden Verstehens – denn auch für den Anderen geht es »um alles«. Im Folgenden werde ich zunächst auf Habermas’ Trennung von Intersubjektivität und Verkörperung eingehen und gegen Habermas »Wie ich spreche, kann beeinflussen, wie ich spüre, und umgekehrt.« Und auf derselben Seite weiter unten in einer Fußnote sagt Pothast: »Sprechen ohne spürende Stützung ist leer; Spüren ohne Artikulation ist blind« (U. Pothast, Lebendige Vernünftigkeit, ebd., 18). 74 Ebd., 17. 73

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zeigen, dass Intersubjektivität den Leib voraussetzt. In einem zweiten Anlauf werden sodann die Verbindungslinien zwischen Vernunft und Gefühl freigelegt, wie dies von Pothast vorgeschlagen wurde. Auf das Problem des Fremdpsychischen werde ich schrittweise eingehen, um schließlich im dritten Abschnitt darzulegen, auf welche Weise der politisch-öffentliche Raum vermittels Leib und Mitgefühl entsteht, ohne dabei Andersheit zu unterdrücken.

4.2.2 Leibfundierte Vernunft 75 als Ermöglichung von Intersubjektivität »Es ist mehr Vernunft in deinem Leib, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Wahrheit nötig hat.« (F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra) 76

Sowohl Edmund Husserl als auch Alfred Schütz sehen die Inkarnation des Menschen als Voraussetzung dafür, dass wir dem Anderen begegnen können. Eine solche These primordinaler Intersubjektivität folgt einer zunächst »unproblematischen« Beschreibung von Leib und Anderem. Sobald nämlich der Andere im Sinne einer fremden Entität die Bildfläche betritt, entfaltet sich die gesamte Komplexität des Fremdpsychischen: Der Andere ist mir zwar ähnlich, weil wir durch den Leib eine Dimension des Allgemeinen teilen, aber in dem Moment, da mir der Andere gegenübertritt, wird klar, dass sich mir sein »Inneres« absolut entzieht. Das Problem des Fremdpsychischen nötigt Husserl über den Umweg der Appräsentation (hier: der Einfühlung), die Möglichkeit des Fremdverstehen zu begründen. Schütz beschreibt Kommunikation Begriffe wie »leibliche Vernunft«, »verkörperte Rationalität« oder ähnliche Variationen finden sich in verschiedenen aktuellen Abhandlungen. Pothast wurde bereits ausführlicher genannt. Zu erwähnen sind weiterhin S. Grätzel, welcher das Zeit-, Raumund Kausalbewusstsein als Dimensionen einer solchen Vernunft bestimmt (S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, Wiesbaden 1989). C. Meier-Seethaler spricht hingegen von einer »emotionalen Vernunft« (C. Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1983). Ferner ist der Sammelband von A. Métraux u. B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986 zu nennen. 76 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Werke in drei Bänden, Bd. 1, München 1982, 300. 75

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hingegen als einen wechselseitigen Interpretationsprozess. Heidegger wägt die menschliche Existenz in einer Sphäre des Mitseins, welche jedoch dem »Bei-sich-selbst-Sein« untergeordnet bleibt. 77 MerleauPonty geht es hingegen um eine Überwindung einer exklusiven »Bewusstseinsphilosophie«, weil er glaubt, dass das Bewusstsein immer schon von der Welt »überholtes« Bewusstsein ist. 78 Weil aber die Intersubjektivität von Raum- und Sinnstrukturen zwischen Menschen nur unter der Einbeziehung der Leiblichkeit des Menschen ganz verstehbar ist, richtet er sein Interesse auf die präobjektiv-leibliche Sinngenesis in Gesellschaften. Ausgangspunkt für Merleau-Pontys Studien bilden Husserls späte Analysen, in welchen dieser das Subjekt zuallererst als inkarniertes Subjekt beschreibt. In Folge dessen versucht MerleauPonty Sinngebung als »inkarnierten Sinn« zu beschreiben. An die Stelle des exklusiven Bewusstseins tritt im Laufe der Entwicklung seines Denkens immer mehr die lebendige Intersubjektivität, welche schließlich in den Begriff der »Interkorporeität« 79 mündet. Das leibliche ZurWelt-Sein 80 bildet nun das Fundament all unseres Handelns und Erkennens. Der Leib ist nicht mehr dasjenige Hindernis, welches uns den Zugang zu Anderen verwehrt, sondern vielmehr zuallererst ermöglicht. Damit bildet der Leib die Voraussetzung dafür, dass wir mit Anderen ein und dieselbe Welt bewohnen. 81 Grundlage für diesen Gedankengang ist die Aussage MerleauPontys, das Bewusstsein sei ursprünglich kein »Ich denke«, sondern ein »Ich kann«: Das Bewusstsein ist je schon getragen von einem »intentionalen Bogen, der um uns her unsere Vergangenheit, unsere ZuVgl. hierzu auch Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität, a. a. O., 134. In seinem unvollendeten Spätwerk Le Visible et l’Invisible radikalisiert MerleauPonty diese Idee, indem er den Begriff des Leibes durch die Idee des »Fleisches« der Welt ersetzt. 79 »Zwischenleiblichkeit besagt, daß ich die Anderen in mir und mich in ihnen entdecke, noch bevor ich andere einlasse oder fernhalte.« (B. Waldenfels, Sinnesschwellen, Frankfurt am Main 1999, 52.) 80 Merleau-Ponty bezieht sich mit dem Begriff des être-au-monde auf Heidegger, nimmt jedoch bei der Übersetzung eine wichtige Modifikation vor: Es wird vom »Inder-Welt-Sein« Heideggers zum »Zur-Welt-Sein« (vgl. eine Anmerkung des Übersetzers der PW, R. Boehm, in: M. Merleau-Ponty, PW, 7). 81 Dass der Mensch primordinal beim Anderen ist, d. h. mit Anderen einen intersubjektiven Raum bewohnt, in welchen er leiblich engagiert ist und daraus Sinn und Identität generiert, habe ich ausführlich anhand entwicklungspsychologischer Theoreme im vorhergehenden Kapitel gezeigt. 77 78

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kunft, unsere menschliche Umwelt, unsere physische Situation, unsere weltanschauliche Situation, unsere moralische Situation entwirft« (PW 164), und dass wir uns immer schon in Beziehung zu diesen datum konstituieren. Bewusstsein ist immer »Bewusstsein von etwas«, d. h., insofern es etwas denkt, stützt es sich dabei auf eine schon bestehende Gedankenwelt und zieht im Vollzug in eins eine Entpersönlichung des Bewusstseins nach sich. Auf ebensolche Weise konstituiert sich die Sinnhaftigkeit unseres Leibes erst in Bezug auf eine Welt bzw. die Dinge in dieser Welt: »[…] von den Dingen her erscheinen uns unsere Hände, unsere Augen und all unsere Sinnesorgane als Werkzeuge […]. Der Leib für sich genommen, der Leib im Ruhezustand, bleibt eine dunkle Masse.« 82 Ein Ding erscheint als solches, weil es uns als Spezifikum dieses unseren Leibes »etwas zu sagen hat«, d. i. Sinn macht. Das Bewusstsein konstituiert sich als Verkörperung einer Naturwelt, wie es zugleich seine Gewohnheiten in eine Kulturwelt hineinentwirft. Als Körper unter Körpern birgt jeder Vollzug und jedes Erlebnis eine Tendenz der Verallgemeinerung. Bereits erwähnt wurde in diesem Zusammenhang Merleau-Pontys Unterscheidung zwischen »habituellem« und »aktuellem« Leib: Der erste Begriff umfasst den Leib in seinem allgemeinen »man«, der zweite den je aktualisierten, individuellen Leib, wie er sich innerhalb eines solchen Gefüges entfaltet. 83 Weil aber der Mensch den Sinn der Dinge über die Allgemeinheit des Leibes entfaltet – die Architektur nimmt Anleihen an den Größenverhältnissen des menschlichen Körpers, die Werkzeuge sind so geformt, dass sie sich an die Hände eines Menschen anschmiegen, Kleidung entspricht den leiblichen Formen – rekurriert das Selbstverständnis des Menschen auf die Relation zu seiner Umwelt. Umgekehrt bleiben Dinge, welche in keinem Verhältnis zum menschlichen Körper stehen, ohne Sinn; sie wirken absurd 84: ein Haus ohne Tür, eine Gitarre ohne Saiten oder ein Hammer ohne Haltestift. Leib, Bewusstsein und Welt sind deshalb nicht reduzierbar auf die Unterscheidung zwischen Objekt und Subjekt, sondern werden umfasst durch jenes »Dritte«, welches Merleau-Ponty auch als »leibliche Existenz« bezeichnet. »Bewusstsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes«. 85 Das be82 83 84 85

M. Merleau-Ponty, PW, 372. Vgl. PW, 165 ff. Ebd., 167 f. Ebd., PW, 167 f. Später umschreibt er dieses Verhältnis durch den Begriff des Flei-

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Aus phänomenologischer Perspektive

deutet, das Bewusstsein ist deshalb kein bloßes »Ich denke«, weil es sich erst in Abhängigkeit von der Welt als ein »Ich kann« konstituiert. Sehen und Bewegung überkreuzen sich in der allgemeinen Welt, weil uns der Sinn der Dinge – als habitueller Leib – in seiner Allgemeinheit entgegenkommt. Dies kann auch als der »Apellcharakter der Dinge« bezeichnet werden. Natürlich kann eine solche radikale Intersubjektivitätsphilosophie auf den Bewusstseinsbegriff nicht ganz verzichten, weil sonst nicht mehr klar wäre, wer es eigentlich ist, der hier agiert oder spricht. 86 Dennoch macht es deutlich, dass der Leib als verbindendes Quale einer intersubjektiv zugänglichen Lebenswelt dem Denken je schon vorausgeht. Er bildet das Fundament all unserer reflexiven Akte 87, auch wenn das Bewusstsein Bezugspunkt der entfalteten Perspektiven bleibt. Eine solche Beschreibung verläuft keineswegs konträr zu Habermas’ These einer kommunikativen Vernunft, sondern untermauert diese sogar, weil Intersubjektivität und Lebenswelt in der Idee des Leibes verankert werden. Habermas betont, die vertikale Blickrichtung (pragmatischer Handlungsmodus) auf die objektive Welt bleibe mit der horizontalen Beziehung (Kommunikationsmodus) zu den Angehörigen einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt verschränkt.88 Er erklärt jedoch nicht, wie diese beiden Ebenen miteinander sinnstiftend interagieren. Durch Merleau-Pontys These wird vorgeschlagen, dass sich der rationale Diskurs von dem präreflexiven Verschränktsein mit der Lebenswelt abhebt, aber zugleich hierin seine ureigenste Stütze findet. Das heißt, er konstituiert sich je schon in Abhängigkeit zu diesem datum. Alle Angehörigen der Kommunikationsgemeinschaft gehören einer Lebenswelt an, weil sie alle über einen ähnlichen Körper verfügen, welcher ein ähnliches Engagiertsein in der Welt und mit den Dingen voraussetzt. Nur dadurch bleiben verschiedene Handlungen und Aussagen verständlich. Dieser intersubjektive Austausch von Sinn konstituiert rückwirkend unsere Identität, d. h. wie wir als aktueller (Einzigartigkeit) und habitueller (Allgemeinheit) Leib in Beziehung sches, welcher alle drei Elemente in sich birgt (vgl. M. Merleau-Ponty, Sichtbares und Unsichtbares, München 1986.). 86 Merleau-Ponty gesteht dies auch ein (vgl. Sens et Non-Sens, Paris 1966, 138 sowie PW, 413). 87 Vgl. ebd., PW, 282 f. 88 Vgl. hier meine eingehende Darstellung von Habermas’ Theorie in: B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O.

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Der interne Zusammenhang zwischen Körper, Mitgefühl und Vernunft

zu dieser Welt und zu Anderen stehen, d. i. uns als »Ich kann« engagieren. Im Folgenden wird das Verhältnis von »Ich kann«, Identität und politischem Raum genauer dargestellt: Ein öffentlicher Raum konstituiert sich im Chiasma sozialer Gewohnheiten und individueller Handlungen, deren Sinn jedoch grundsätzlich verstehbar ist, weil wir als Körper dem Raum und der Zeit auf ähnliche Weise einwohnen. Dieses Chiasma von Sehen und Bewegen im öffentlichen Raum ergibt eine »intersensorische Einheit der Welt […] Bewegung ist nicht das Denken einer Bewegung, und der Körperraum ist kein gedachter oder vorgestellter Raum.« 89 Die kommunikative Vernunft übernimmt hier, wie Habermas betont, die Funktion einer Reparaturleistung, wenn die Lebenswelt »aufbricht«. Das heißt, wenn sich Menschen oder Bevölkerungsgruppen »anders« in der Welt engagieren und hierdurch andere Bedeutungen generieren. Denn der habituelle Körper (d. h. die Zuschreibung, was der Körper allgemein können soll) wird stark durch die jeweilige Kultur bzw. Umwelt beeinflusst und bedingt zugleich unsere eigene Identität als aktualisierter Körper in Relation zu dieser Umwelt und Kultur. Eine Infragestellung unserer Gewohnheiten ist deshalb in eins eine Infragestellung unserer Identität, d. i. unseres Selbstverständnisses als Mitglied einer Kultur. Auf individueller wie kollektiver Ebene kann aus diesem Grund eine physische Störung, z. B. in Form einer körperlichen Behinderung, eine psychische Störung nach sich ziehen. Umgekehrt führt die gewaltsame Veränderung der natürlichen Umwelt eines Individuums oder einer Gruppe zu einer Rekonstruktion der Identität. Ein Beispiel für eine solche gewaltsame Zerstörung des identitätsstiftenden »Ich kann« ist die Kolonialisierung der Gebiete der Ureinwohner Amerikas. Die Erlaubnis für Agrarwirtschaft veränderte das Land so drastisch, dass traditionelle Versammlungen oder Jagden nicht mehr möglich waren. Diese Veränderung führte zu einer inneren »Entwurzelung«. Denn es war nicht nur ein Verlust sozialer Tätigkeiten, sondern ein Verlust der Identität, d. i. einer speziellen Art und Weise, wie sich diese Gruppe in ihrer Umwelt engagierte und in ihrer kulturellen Identität verwirklichte. 90 Für die Herausbildung des »Ich kann« und damit der Identität spielt nun der politisch-soziale Raum eine wesentliche Rolle, weil uns M. Merleau-Ponty, PW, 166. Dieses Beispiel stammt ursprünglich von James Mensch (vgl. Embodiments: From the Body to Body Politics, a. a. O., 147 ff.).

89 90

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Aus phänomenologischer Perspektive

die leiblichen Möglichkeiten originär durch Andere zukommen. Ein Beispiel ist hier das Lernen durch Nachahmung bei Kindern: Vom Benutzen einer Gabel über das Binden eines Schuhs bis zu so komplexen Dingen wie die des Kunsthandwerks – erst in der unmittelbaren Nachahmung durch gemeinsame Projekte mit Geschwistern, Eltern und Freunden lernen Kinder Raum und Zeit zu bewohnen. Nicht alles, was wir erlernen, werden wir auch später gebrauchen, aber alles, was wir erlernt haben, erlernen wir innerhalb eines sozial-leiblichen Miteinanders. Auf der Grundlage dieses Gedankens dreht der Phänomenologe James Mensch das Verhältnis von Freiheit und öffentlichem Raum um: Der öffentliche Raum wird nicht mehr als die gegenseitige Einschränkung von Freiheit zum Schutz aller gedacht, sondern als Ort der gegenseitigen Erweiterung von Freiheit im Sinne einer Erweiterung meiner Möglichkeiten, mich in der Welt zu engagieren (»Ich kann«). Damit geht einher, dass der Andere mich nicht mehr in meiner Freiheit beschneidet, sondern er ist derjenige, dem ich diese Freiheit zuallererst verdanke. In der öffentlichen Ausübung meiner so erworbenen Fähigkeiten aktualisiere ich mein »Ich kann« und damit in eins meine Identität. Diese These schließt damit an Arendt (bzw. Aristoteles) an, welche den öffentlichen Raum als Ort sieht, an welchem der Mensch handelnd zu sich kommt und sich verwirklicht. 91

4.2.3 Mitfühlende Vernunft als Ermöglichung von Sinngenese »Da der Mensch alles, was er begreift, nur durch die Sinne begreift, so ist die erste Vernunft eine sinnenhafte Vernunft; sie bildet die Grundlage der intellektuellen Vernunft.« (J.-J. Rousseau, Emil oder Über die Erziehung) 92

Erster Ausgangspunkt der anthropologischen Annahme einer primordinalen Vernunft des Menschen war die griechische Idee des zoon logon echon (später animal rationale). 93 Beide Ausdrücke weisen auf die Sprach- und Vernunftbegabung des Menschen hin. In eins lassen Vgl. H. Arendt, Vita activa, a. a. O. J.-J. Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, 9. Aufl., UTB für Wissenschaft, München/Wien/Zürich 1989, 111. 93 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, a. a. O. 91 92

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Der interne Zusammenhang zwischen Körper, Mitgefühl und Vernunft

sie eine klare Verankerung des Menschen im Tierreich erkennen (vgl. animal bzw. zoon). Mit den Tieren haben Menschen gemeinsam, dass sie durch ihre Physis in einer Welt verwurzelt sind und vermittels ihrer Sinnestätigkeit einen Zugang zu dieser Welt haben. 94 Descartes radikalisiert den Begriff der Vernunft, indem er Erkennen von Wahrheit auf die Abstraktion von der Besonderheit des menschlichen Körpers, inklusive seines Sinnesapparates, zurückführt.95 Dem Problem, wie wir trotz der »Täuschung der Sinne« überhaupt zum Wahren vordringen, entgeht Descartes, indem er Wahres als das Erkennen von mathematischen Verhältnissen, Messungen und Quantitäten definiert. 96 Der Vorteil eines solchen naturwissenschaftlichen Verständnisses liegt auf der Hand: Es dringt (zumindest vermeintlich) zur Perspektive eines entkörperlichten Beobachters vor – ein Beobachter, jenseits der raum-zeitlichen Verwiesenheit und kulturellen Spezifika. 97 Es ist daher nicht mehr wichtig, wer die Beobachtungen macht, weil sie grundsätzlich von jedem gemacht werden können. Durch Verfahrensweisen wie Abstrahieren, Zählen und Messen, wird versucht, die Ausnahmen zu eliminieren, um auf das Allgemeine und Dahinterliegende zu stoßen. Selbstverständlich ist eine solche Vorgehensweise der phänomenologischen Analyse der Wahrnehmung diametral entgegengesetzt: Merleau-Ponty sieht z. B. das Phänomen der Farbe weder »in« dem Gegenstand liegend noch als Phänomen, das nur in meinem Kopf ist. Vielmehr benötigt das »Erscheinen« der Farbe beides, die Sinne (d. i. der Wahrnehmende) und das Ding. Eine solche Beschreibung von Realität zeigt, dass das Auseinandernehmen dieser beiden Faktoren zur Eliminierung des Phänomens (hier der Farbe) selbst führt. Deshalb vermag ein »außenstehender Beobachter« das Phänomen der Farbe nicht zu erkennen, weil sich Farbe einzig in dieser Beziehung realisiert. 98 Die cartesianische Sichtweise abstrahiert jedoch von solchen Spezifika der Sinne und es entgeht ihr damit ein wesentlicher Teil Diese Verbindungslinie wurde weiter oben im Kontext von Plessners Theorie des Leibes dargelegt. 95 J. Mensch, Ethics and Selfhood. Alterity and the Phenomenology of Obligation, Albany, NY, 2003. 96 R. Descartes, Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1960. 97 Vgl. R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1960, 20 ff. 98 Vgl. M. Merleau-Ponty, Auge und Geist. Philosophische Essays, Hamburg 1984. 94

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menschlicher »Realität«, weil eine solche Vernunft nicht mehr an die Leibes- und Sinneswelt rückgebunden bleibt. Descartes’ Wahrheitsbegriff ist deshalb eine radikale Abstraktion von dem verkörperten Selbst als Subjekt der Wahrnehmung. »Only the ›I‹ of the ›I think‹ – the ›I‹ that grasps the primary, numerable qualities of bodies – is taken into account. This is the ›I‹, Descartes assures us, that can be considered apart from the body.« 99 Die Problematik einer solchen Abstraktion der Vernunft vom Körper habe ich im vorhergehenden Abschnitt dargelegt. Im Folgenden gehe ich einen Schritt weiter und expliziere, inwiefern das Mitgefühl das Fundament der kommunikativen Vernunft darstellt: Nietzsche erhöht den Leib – im Gegensatz zu Descartes – zur »großen Vernunft« und setzt ihn damit der »kleinen Vernunft« entgegen. Für Nietzsche bildet der Leib die eigentliche Basis für gegenseitiges Verstehen. Der Grund hierfür ist die enorme Empfänglichkeit des Körpers sowie der Reichtum an Ausdrucksgesten durch Laute und Gebärden. 100 Dabei spielt das »Sich-Hineinleben in andere Seelen« eine zentrale Rolle. Dieser Vorgang hat für Nietzsche jedoch nichts mit Moral zu tun, sondern ist eine physiologische Reizbarkeit der Suggestion. »Man teilt sich nie Gedanken mit, man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgewiesen werden […].« 101 Nietzsche interpretiert, in Auseinandersetzung mit Untersuchungen der französischen Physiologie, die Leibsprache als ursprünglichen Ausdruck und ursprüngliche Kommunikation des Lebendigen, d. h., die Physiologie wird zum adäquaten Ausdrucksmittel der Philosophie des Leibes. Dadurch vermag sich die große Vernunft selbst zu erfassen. 102 Sie allein gewährt eine unhinterfragbare Gewissheit. Alle anderen Formen des Wissens sind demgegenüber nur Abschattungen dieses unmittelbaren Zugangs zur Welt und zu Anderen. Mitgefühl und leiblicher Ausdruck bilden ein Chiasma, welches die Basis für eine höhere Abstraktionsstufe der Vernunft bildet. Ich werde im J. Mensch, Selfhood and Ethics, a. a. O., 38. »Er ist der Höhepunkt der Mitteilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen – er ist die Quelle der Sprache.« (F. Nietzsche, Fr. 14/119, 296, zit. nach S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, Wiesbaden 1989, 125.) 101 F. Nietzsche, Fr. 14/119, 297, zit. nach S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, a. a. O., 126. 102 Vgl. hier die interessante und originelle Nietzsche-Interpretation von Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, a. a. O. 99

100

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Folgenden diese Verbindungslinien zwischen Mitgefühl und Vernunft mit Hilfe der Leibphänomenologie genauer explizieren: Wie bereits angedeutet, ist die Möglichkeit des Mitgefühls in zweifacher Weise an den Körper rückgebunden. Der Leib ist nicht nur Voraussetzung für die Konstitution des Privaten, sondern auch Fundament für die Entstehung einer gemeinsamen Welt. Die Verkörperung des Menschen führt so zu einem Chiasma zwischen Ähnlichkeit und Andersheit, Analogie und Differenz: a. Die (in seinen Grundzügen) ähnliche leibliche Verankerung in der Welt offenbart uns einen ähnlichen Sinn in den Dingen. 103 Ferner vermögen wir das Ausdrucksgebaren des Anderen durch leibliche Resonanz zu verstehen. 104 b. Allerdings können wir den Anderen in seinem organischen Funktionieren nicht ersetzen – sein Leib bleibt fundamental von unserem getrennt. Ferner bedingen die Differenzen der Verkörperung z. B. durch Alter, Geschlecht, kulturelle Hintergrund, Gesundheit etc. eine Einzigartigkeit der Verwirklichung in der Welt. Für Merleau-Ponty ist Bewusstsein das Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes (PW 167 f.), d. h., die je unterschiedliche Art und Weise, wie wir uns selbst im Austausch mit der Umwelt verstehen, bestimmt, wer wir sind. Dies führt zu unterschiedlichen Interpretationen von Selbst und Welt (siehe b.). Weil jedoch zugleich a. gegeben ist, vermögen wir trotz aller Unterschiede uns je in die Lage des Anderen hineinzuversetzen. Ein gutes Beispiel hierfür sind Romane. Durch eine Art der Einfühlung erhalten wir Zugang zu fremden Lebenswelten und deren impliziten Sinnstrukturen. Das Erfahren einer fremden Sinnstruktur durchbricht bzw. stört das eigene Selbstverständnis, weil die eigene Seinsweise (und damit die eigene leibgebundene Identität) zeitweise von einer fremden Seinsweise überlagert wird. Oder wie Gabriel Marcel formuliert: »[A]ls die Gestalt meiner lebendigen Anwesenheit in Zeit ist mein Leib immer schon einbezogen: die leidvoll, aber auch verheißungsvoll offene Beziehung zu allen.« 105 Eine solche zeitweise Überlagerung und Offenheit für die Per103 Vgl. den Zusammenhang zwischen der Idee des »Ich kann« sowie der Unterscheidung zwischen aktuellem und habituellem Leib bei Merleau-Ponty (PW 160 ff.). 104 Vgl. die frühkindliche Kommunikation sowie die neurologische Funktion der Spiegelneuronen. 105 G. Marcel, Leibliche Begegnungen, a. a. O., 45.

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spektive (das In-der-Welt-Sein) des Anderen ist nur deshalb möglich, weil das Selbst weder abgeschlossen noch sich selbst transparent ist. Plessner verdeutlichte dies durch die Scheidung des Menschseins in Leib und Körper, d. h., dass sich der Mensch in seiner Relativität als Körper gegeben, als Leib (absoluter Nullpunkt) jedoch immer schon entzogen ist. Selbsterkenntnis ist deshalb nur rückwirkend möglich, d. i. als reflektierendes, nicht jedoch als handelndes Subjekt. Im Ausdruck und Austausch mit Anderen trägt es zeitgleich zur fortwährenden Rekonstruktion der gemeinsamen Sinn- und Lebenswelt bei. Die Verkörperung macht den Menschen in seinem ganzheitlichen Ausdruck für uns sicht-, hör- und greifbar; der Andere wird dadurch zum Ausdruck, welcher sich durch meinen unmittelbaren Nachvollzug seines Ausdrucksgebarens und seiner Sprache in meinen Leib einlagert und dort für einen Moment sogar mein eigenes Selbstbewusstsein überlagert. Damit stellt uns der Andere durch sein Handeln und Sprechen (d. i. sein gesamtes Ausdrucksgebaren) in Frage. Das Mitgefühl ist gerade deshalb von Bedeutung, weil es nicht nur auf die sprachliche Verständigung begrenzt ist, sondern das ganzheitliche Verstehen des Ausdrucksgebarens des Anderen umfasst. Marcel sieht deshalb in dieser unmittelbaren Fähigkeit zum Mitgefühl auch die Voraussetzung für das Funktionieren jeglicher Art von Kommunikation: »Wie differenziert sie [die Beziehungen] sich auch entfalten, alle Modi der Kommunikation setzen etwas voraus, das der Telepathie ähnlich ist. Der Telepathie als wirklicher Sympathie.« 106 Eine solche »Verdoppelung« des Selbst liegt dem Mitgefühl zugrunde und ist Voraussetzung für ein Verstehen des Anderen in seiner Andersheit. »This is what allows one person to encounter another by attuning himself in empathy to the other’s situation. The encounter is, in other words, also a kind of self-transformation.« 107 In diesem Sinne ist es auch richtig zu sagen, dass die Anderen meinen Leib »bewohnen«, noch bevor ich mich von diesen Eindrücken abgrenzen kann. Das Selbst ist in seiner Selbstaktualisierung nie ganz vom Anderen abgegrenzt, sondern sein Ausdruck greift auf meinen Leib über und umgekehrt. Mein Dasein ist in meinem Leib situiert und zugleich ist dies der Ort, an dem sich die Erscheinungen der Welt (in ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit als Farbe, Ton, Mimik, Geste etc.) an mir aktuali106 107

G. Marcel, Leibliche Begegnungen, a. a. O., 22. J. Mensch, Ethics and Selfhood, a. a. O., 44.

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Der interne Zusammenhang zwischen Körper, Mitgefühl und Vernunft

sieren. Das Selbst ist deshalb niemals abgeschlossen, sondern ereignet sich im Austausch mit seiner sozialen und materiellen Umwelt. In diesem Sinne ist es, und mit Blick auf Merleau-Ponty, richtiger von »Interkorporeität«, anstatt von Intersubjektivität zu sprechen, eben weil Intersubjektivität auf die leibliche Fähigkeit der Perspektivenübernahme gründet. Ein solches Verstehen ist Basis für das Entstehen einer gemeinsamen Lebenswelt. Aus diesem Grund muss auch die habermassche kommunikative Vernunft als sinnkonstituierende Kraft an das im Leib begründete Mitgefühl rückgebunden bleiben, weil nur vor diesem Hintergrund der Übereinstimmung (hier im wörtlichen Sinne) wesentlich ein »Verstehen des Anderen« möglich ist. Einerseits kommt uns durch die Symmetrie unserer Körper von den Dingen der Welt eine ähnliche Bedeutung zu (Apellcharakter der Dinge). Andererseits bezieht die kommunikative Vernunft ihren intersubjektiven Sinn durch die Überlagerung von pluralen und differenten Perspektiven menschlicher Wahrnehmung (Intersubjektivität). Weil die kommunikative Vernunft auf diesen Chiasmus von Ähnlichkeit und Differenz angewiesen ist, ist sie zunächst verleiblichte Vernunft. Erscheinungsort einer solchen Vernunft ist das »Fleisch« (chair) der Welt. 108 Habermas’ Skeptizismus gegenüber einer leibfundierten »Subjektphilosophie« ist deshalb dort angebracht, wo es um den Menschen in seinem organischen Funktionieren geht. Als organisches Wesen sind wir vom Anderen absolut getrennt, weil uns niemand das Schlafen, Essen oder Sterben abnehmen kann. Auf dieser Ebene bildet der Leib, im Sinne eines unvertretbaren Erscheinungsorts des Individuums, das letzte private Refugium. Aber als soziales Wesen bin ich mir selbst nicht transparent und deshalb nach außen hin geöffnet. Erst in der Überlagerung von Seinsweisen und Perspektiven konstituiert sich meine Identität im Dialog mit eigenen und anderen Seinsweisen als engagierendes Subjekt innerhalb einer Lebenswelt (d. i. ich komme mir in meinem Ausdrucksgebaren zu, aktualisiere mich durch mein Handeln als Selbst etc.). »I act through myself; but others also act through me. The self that includes both must maintain its unity through negotiation. Its unity as an acting self is the result rather than the cause of the

108 »Fleisch« ist hier die leibliche Entfaltung des Sinns der Welt durch den Leib (vgl. M. Merleau-Ponty, Sichtbares und Unsichtbares, a. a. O.).

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negotiation.« 109 Nur so ist es möglich, dass wir in diesem Ineinander verschiedener Perspektiven durch unseren Leib eine gemeinsame Welt bewohnen und gleichzeitig als organische Wesen absolut voneinander getrennt bleiben. Diese Lebenswelt aktualisiert bzw. rekonstruiert sich durch das wiederholte Engagement und Überkreuzen verschiedener Perspektiven. Aus diesem Grund kann einer so verstandenen Lebenswelt nur ein intersubjektiver Wahrheitsbegriff zugrunde liegen. Der Begriff der »Intersubjektivität« unterscheidet sich jedoch insofern von seinem Gebrauch in den Naturwissenschaften, als es hier gerade nicht um die Abstraktion von der Besonderheit des einzelnen geht, sondern um die Integration von Pluralität, welche wesentlich in der leiblich-sozialen Welt verankert bleibt. Weil nun aber sowohl die eigene Identität als auch die soziale Welt in der leiblichen Situiertheit verschränkt sind, bedeutet die Abstraktion von dieser leiblichen Situiertheit in eins die Destruktion des Funktionierens des Menschen als soziales und organisches Wesen. 110 Das humanistische Verstehen kann deshalb als Pendant zum naturwissenschaftlichen Denken gesehen werden. 111 Für James Mensch basiert Ersteres auf der Fähigkeit zum Mitgefühl und bildet die Grundlage für die Konstitution einer gemeinsamen Sinnsphäre und einer intersubjektiven Lebenswelt. »To ask how humanistic understanding is possible is to ask how such empathy is possible.« 112 Es ist kein Verstehen von Universalien, sondern ein Verstehen des Partikularen, welches über das Mitgefühl (d. i. Ähnlichkeit und Andersheit durch die leibliche Verankerung; Bewohnen einer gemeinsamen materiellen Welt) erfahren wird. Daraus folgt, dass nur eine solche Form der Vernunft, welche an den Körper (Sinnstiftung durch »Ich kann«) und damit in eins an J. Mensch, Ethics and Selfhood, a. a. O., 45. Vgl. hierzu ebd., 45 ff. 111 Eine ähnliche, wenngleich mehr auf die Wahrnehmung gerichtete Unterscheidung trifft Erwin Straus. Er unterscheidet zwischen einer gnostischen und einer pathischen Wahrnehmung. Erstere ist angelehnt an Descartes und zielt auf eine vom menschlichleiblichen Kontext unabhängige Darstellung der Welt. Zweitere bezieht sich auf ein mimetisches Koexistieren mit den Dingen der Welt. D. h., die Dinge erlebe ich an und mit meinem eigenen Leib. Depersonalisierungserlebnisse gleichen einem »Herausfallen« aus der Lebenswirklichkeit, weil gnostische und pathische Wahrnehmung auseinanderfallen. Wirklichkeit ist für Straus das, was auf den Leib einwirkt, was leiblich gespürt wird und damit Sinn macht (vgl. E. Straus, Psychologie der menschlichen Welt, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1960, 150 ff.). 112 J. Mensch, Ethics and Selfhood, a. a. O., 39. 109 110

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das Mitgefühl (Verstehen des Partikularen und Verbindenden) rückgebunden bleibt, sich im intersubjektiv-öffentlichen Raum gegenseitiger menschlicher Sinnkonstitution befindet. Der Austausch von Perspektiven, gerade in ihrer Partikularität und Pluralität ist deshalb die Voraussetzung sowohl für das Aufrechterhalten der organischen als auch der sozialen Funktionen des Selbst. In diesem Sinne ist die öffentliche Welt Voraussetzung des Selbst bzw. die Bedingung seiner Erhaltung. »Leibhaft aufgenommen zu werden in eine uns unausdenkbare Endgültigkeit, in der wir ganz da sein dürfen in der Wahrheit, die uns frei macht. Dies bedeutet Verwandlung. In ihr beginnt Befreiung.« 113 Abschließend möchte ich aus dem Gesagten zwei Modi des Mitgefühls ableiten: Es wurde gezeigt, dass der Leib sowohl für die Trennung als auch für das gegenseitige Verstehen und die Begegnung zweier Entitäten eine unübergehbare Voraussetzung ist. In seinem organischen Funktionieren ist der Andere einerseits absolut getrennt und unvertretbar; andererseits wird er erst als allgemeiner Körper ergreifbar, sichtbar und verstehbar. Das Mitgefühl eröffnet uns nun zwei Zugänge zum anderen: Über a. das Analogiemodell und b. das Abstraktionsmodell, welche uns den Anderen je in seiner Unvertretbarkeit bzw. Einzigartigkeit erscheinen lassen. 114 a. Das erste Modell basiert auf einer analogen Wahrnehmung des Anderen. Das heißt, ich kann mich verstandes- oder gefühlsmäßig in die Situation eines anderen hineindenken und daraus schließen, wie sich der Andere fühlt. Dem geht die Annahme voraus, dass der Andere analog zu mir fühlen wird. Es ist ein Denken der Ähnlichkeiten und Entsprechungen: Ich habe Mitgefühl für die Ähnlichkeit des Anderen bzw. assimiliere das Erleben des anderen an mein eigenes Erleben. Das Analogiemodell präsentiert mir den Anderen in seiner organischen Unvertretbarkeit und Verletzlichkeit, die mir über den Analogieschluss zukommt; d. h., ich selbst bin ein verletzliches Wesen mit Bewusstsein – auf ähnliche Weise ist dieG. Marcel, Leibliche Begegnungen, a. a. O., 46. Diese hier vorgenommene Unterscheidung zwischen zwei Formen des Mitgefühls nimmt strukturell ein von Hildegard Landweer entwickeltes Modell als Orientierungshilfe auf, weicht jedoch in der inhaltlich Ausführung ab (H. Landweer, Resonanz oder Kognition? Zwei Modelle des Mitgefühls, in: N. Gülcher u. I. v. d. Lühe (Hg.), Ethik und Ästhetik des Mitleids, Freiburg 2007, 48 ff.). 113 114

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ser Mensch dort drüben mit einem Bewusstsein versehen, d. h., auch sein Leib ist verletzlich. 115 Ähnlich wie mein eigenes organisches Dasein ist auch sein Leben an seinen Leib gebunden. Niemand kann ihn in seiner organischen Funktion vertreten. Mein Mitgefühl gilt deshalb dem Anderen in seiner leiblichen Verletzlichkeit und Unvertretbarkeit, welche ich durch Analogieschluss erfasse. b. Dem gegenüber steht das Abstraktionsmodell, welches ein leibsinnliches Erfassen des Gefühlsausdrucks des Anderen bedeutet. Hinter diesem Modell steht die musikalische Idee der Schwingung. Der grundlegende Unterschied zum Analogiemodell besteht darin, dass hier die Gefühle des Anderen unmittelbar erfasst werden bzw. der Empfänger sogar von der Andersartigkeit der Gefühle des Anderen überrascht wird. Auf abstrakter Ebene kann ein Perspektivenwechsel vollzogen werden, innerhalb dessen mir trotz der Fremdheit der anderen Situation sein Bewusstseinszustand fassbar wird. Diese Art des Mitgefühls fungiert über die Idee von Identität und Differenz: Die Verkörperung des Menschen bedingt, dass wir unüberbrückbar vom Anderen getrennt sind; seine ähnlichen Verstrebungen mit der Welt sowie seine Empfindungsfähigkeit ermöglichen es jedoch, von der Andersheit des Anderen erfasst zu werden. Das zweite Modell baut deshalb auf dem Analogiemodell auf. Jedoch gilt mein Mitgefühl dem Anderen in seiner Einzigartigkeit, Andersheit und Besonderheit. 116 Eine gemeinsame Welt ersteht nun dadurch, dass wir den Anderen in seiner leiblichen Unvertretbarkeit (qua analogem Mitgefühl) als organisches Wesen wahrnehmen und zugleich seine Andersheit und Besonderheit (qua abstraktem Mitgefühl, Perspektivenwechsel bzw. unmittelbarer Resonanz) erkennen. Damit ist es nicht nur die Sprache, welche Öffentlichkeit konstituiert, sondern (auf fundamentalerer Ebene) der menschliche Leib, welcher eine Sphäre des Allgemeinen und der Bedeutung zwischen Menschen aufspannt.

Vgl. den bereits erwähnten Analogieschluss durch Sympathie bei Scheler. Die Charakterisierung dieser beiden Modi des Mitgefühls bedeutet keineswegs, dass immer nur eine Form auftritt, vielmehr gehen Analogie und Differenz ineinander über. 115 116

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4.2.4 Intersubjektivität und Interkorporeität: Das Problem des Fremdpsychischen Die Verleiblichung des Menschen bedingt, dass das Feld der Wahrnehmung noch Unsichtbares, Rück- und Innenseiten sowie tote Winkel in sich birgt. Unsere Wahrnehmung erschließt sich um das »Futter des Unsichtbaren« herum bzw. entfaltet sich um die Nischen des Verborgenen. 117 Erst die Bewegung ermöglicht es uns, einen Gegenstand von allen Seiten wahrzunehmen, d. h., die Erschließung ist eine sukzessive. Husserl betont in seinen Analysen, dass durch die potentielle Beweglichkeit des Körpers die Rückseite der Dinge apperzipiert wird. Schließlich ermöglicht uns der stete Perspektivenwechsel, dass wir der zentrifugalen Perspektive des Leibes eine exzentrische beifügen. 118 In diesem Sinne ist der Andere sozusagen die Ergänzung meiner eigenen Perspektive zur Welt bzw. trägt zu ihrer Vervollständigung bei. 119 Der Andere als fremdpsychische Entität entzieht sich meinem Zugriff, doch ist sein Blick wesentlich, um mir das »Unsichtbare« der Welt zu enthüllen. Wie steht es nun aber mit dem Problem des Fremdpsychischen, wenn es um das Phänomen des Mitgefühls geht? Das heißt insbesondere, wie können wir sicher sein, dass es sich bei unserem Mitgefühl auch wirklich um das Gefühl des Anderen handelt? Und inwiefern erleben wir tatsächlich die Gefühle des Anderen im Gegensatz zu einem nur äußerlichen Nachvollziehen oder einer Assimilation an unser eigenes Empfinden? 120 Käte Hamburger macht in diesem Kontext auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam: Sie weist darauf hin, dass Mitleid, im eigentlichen Sinne, eine größtmögliche emotionale Nähe zum Bemitleidenden ausschließt. Der Grund hierfür liegt darin, dass emotionale M. Merleau-Ponty, Sichtbares und Unsichtbares, a. a. O. Vgl. hierzu weiter oben die ausführlichen Darstellungen zur Entwicklung des Perspektivenwechsels in Abhängigkeit vom Leiberleben u. a. bei Plessner. 119 Vgl. Sartres Analysen zum »Blick« (Das Sein und das Nichts, a. a. O., 457 ff.): In dem Moment da eine andere Person den Raum betritt, verlagert sich die »Schwerkraft der Wahrnehmung«. Ich bin nicht mehr alleine im Raum, d. h., die Gegenstände erhalten ihre dritte Dimension, indem wir die Sichtweise des Anderen apperzipieren. Natürlich gelingt uns dies auch im einsamen Zustand. Voraussetzung dieser Möglichkeit ist jedoch die primordinale Sozialität des Menschen. 120 Vgl. ebd., 51. 117 118

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Nähe zu einer Identifikation mit der Situation des anderen führt. Es ist dann nicht mehr der Andere, den ich in seiner Situation bemitleide, sondern sein Leid ist eigentlich mein eigenes: Ich leide, habe Kummer, sorge mich oder habe Angst um den Anderen. Hiervon sind vor allem Angehörige und enge Freunde des zu Bemitleidenden betroffen. In diesem Fall weisen meine Gefühle auf meine eigene Sache, d. h., ich möchte den Anderen nicht verlieren, ihn gesund sehen, glücklich halten etc. 121 Und obgleich wir die Gefühle des Anderen nicht originär (als unsere) erleben, vermögen wir nichtsdestotrotz die Gefühle des Anderen als die seinen zu spüren und zu erleben. Hierbei kann uns der intentionale Gehalt der Situation und des Leids durchaus fern sein. Landweer unterscheidet dabei interessanterweise zwischen der Wahrnehmung des Gefühls des Anderen einerseits und der Betroffenheit andererseits. Denn ich kann beispielsweise die missliche Lage des Anderen wahrnehmen, ohne davon emotional affektiert zu werden. 122 In diesem Fall handelt es sich um eine Art des kognitiven Nacherlebens, ohne von einer inneren Resonanz begleitet zu werden. 123 Aufgrund dieser verschiedenen Nuancen des Mitgefühls unterscheidet Scheler sehr genau zwischen Nachfühlen, Mitgefühl, Gefühlsansteckung und Einfühlen. Dabei macht er deutlich, dass wir den Anderen »[i]mmer nur durch unser individuelles Wesen mitbedingten Aspekt seines individuellen Ichs erfassen« 124. Dabei sind uns aber nicht zunächst ein Körper und schließlich durch Schlussfolgerung ein »Mitgefühl« gegeben, sondern der Vollzug geht innerlich vonstatten über den unmittelbaren Ausdruck des Leibes. 125 Die Ähnlichkeit der Physiognomie unterstützt für Scheler das unmittelbare Erfassen der Aus121 »Ich leide nicht wie oder als er selbst, sondern trage um sein Leid Kummer und Sorge. Wobei eben Kummer und Sorge, aber nicht sein Leid, mein Leid ist.« (K. Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart 1985, 105 f.) 122 H. Landweer, Resonanz oder Kognition, a. a. O., 55. 123 Natürlich gibt es Bestrebungen, Gefühle als besondere Arten von Kognitionen zu begreifen, wie es u. a. von Martha Nussbaum vorgeschlagen wird. Hiergegen kann eingewandt werden, dass Emotionen keine isolierbaren Prozesse darstellen, sondern gestalhafte Einheiten sind, welche leiblich gespürt werden. Der Mensch ist von diesen Gefühlen leibhaft betroffen und vermag sich nicht von ihnen zu trennen. Gefühlszustände sind unmittelbar und einzigartig. Ein reines Bewusstsein kann deshalb kein Mitgefühl empfinden, weil es nicht von den Gefühlsausdrücken anderer affiziert wird bzw. ihm kein Verstehen durch Analogieschluss möglich ist. 124 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, a. a. O., 6. 125 Vgl. ebd.

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drucksgebärde. Durch einen Analogieschluss vermuten wir deshalb auch im anderen Leib ein Bewusstsein so wie das unsere. 126 Doch selbst der Analogieschluss lässt offen, ob es sich beim Mitgefühl wirklich um das Gefühl des Anderen handelt. Auf diese Frage antwortet Plessners Theorie des Ausdrucksverhaltens, das besagt, dass sich das Gefühl weder nur in mir noch nur im Anderen, sondern erst im Zwischenbereich von Ausdruck und Resonanz realisiert und dadurch auch dem Fühlenden erst im Nachhinein bewusst gegeben ist. Oder anders gesagt, ich lache nicht, weil ich mich freue, sondern ich freue mich, weil ich lache. Mitgefühl ereignet sich hier als merkwürdiger Chiasmus, innerhalb dessen mir etwas vom Anderen über die Ähnlichkeit seines Ausdrucksgebarens unmittelbar zukommt und zugleich den Anderen, eben in seiner Andersheit, offenbart. Das Gefühl des Anderen affiziert mich jedoch nicht vollständig, sondern überlagert mein eigenes, ohne mich gänzlich »umzustimmen«. Erst in diesem »Zugleich« von Ausdrucksgebaren und »Resonanz« realisiert sich das eigentliche Gefühl in der Sphäre des Zwischen. 127 Dabei ist die Fähigkeit zur mimetischen Resonanz, welche mein eigenes Gefühl kurzzeitig überlagert, Voraussetzung dafür, dass wir Mitgefühl im Sinne einer ethischen Haltung zum Anderen empfinden. Umgekehrt kommt dem Anderen sein eigenes Gefühl erst durch meine eigene Reaktion auf sein Ausdrucksgebahren voll zu Bewusstsein. 128 In diesem Sinne gibt es gar kein »originales« Gefühl, mit dem ich mitfühle, sondern Mitgefühl und Gefühlsausdruck sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Eine solche Kommunikation zwischen mir und Anderen ist nicht intendierte, sondern präreflexiv gegebene Abstimmung im Feld der zwischenleiblichen Kommunikation. 129 Sie verläuft jedoch nicht immer 126 Merleau-Ponty zeigt freilich, dass der sympathetische Analogieschluss Schelers ein nachrangiger kognitiver Akt ist, welchem das präreflexive unmittelbare Verstehen der Ausdrucksgebärde des Anderen vorangeht und so der Andere immer schon da ist, noch bevor wir uns als Subjekt wahrzunehmen und zu erkennen vermögen. Aus diesem Grund setzt er die Intersubjektivität als primordinal (vgl. PW 400 ff.). 127 Vgl. auch zur Problematik der Begriffsbestimmung des Mitgefühls (siehe Literaturbericht): Was genau fühlen wir im Mitgefühl? Sind Gefühle immer »reine« Gefühle oder »Gefühlsmischungen«? 128 Ein wesentlicher Unterschied zwischen Fühlen und Mitgefühl bleibt jedoch: Nur vom Leid des Anderen können wir uns abwenden, uns angeekelt oder beschämt fühlen. Mitgefühl ist deshalb nur eine mögliche Reaktion auf das unmittelbar-leibliche Wahrnehmen des Anderen (vgl. Th. Fuchs, Leib, Raum, Gefühl, a. a. O., 247). 129 Vgl. zur Idee der intercorporéité bei Merleau-Ponty weiter oben.

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reibungslos. Sonst wäre die mimetische Resonanz ein »Einsfühlen«, d. h., der Andere wäre mir gar nicht als Anderer gegeben. 130 Erst die ständige Brechung der mimetisch-komplementären Ausdrucksresonanz – im Sinne einer Art »Resistenz des Anderen« 131 – ermöglicht es, dass ich ihn in seiner Andersheit wahrnehme. Natürlich kann sich der Andere verstecken oder verstellen. Aber erst indem der Mensch primär Ausdruck ist, ist ihm eine solche Instrumentalisierung des Körper möglich. Ein Rückzug in die Innensphäre ist deshalb je nur unvollständig möglich und selbst ein geübter Lügner verrät sich durch sein unbewusstes Ausdrucksgebaren. Aufgrund dieser mangelnden Selbsttransparenz können wir uns auch über unsere eigenen Gefühle täuschen. Der Phänomenologe Herbert Plügge fasst dies in den Worten zusammen: »Es gehört zum Wesen des Äußeren, dass es etwas verbirgt wie auch offenbart.« 132 Und es ist offensichtlich, dass uns der Andere in seiner Gesamtheit immer schon flieht. »Und ebenso ziele ich, wenn ich sage, ich kenne jemanden oder ich liebe ihn, jenseits aller seiner Eigenschaften auf einen unerschöpflichen Grund seines Seins, der eines Tages das Bild sprengen könnte, das ich mir von ihm machte. Um diesen Preis nur gibt es für uns Dinge und Andere, nicht auf Grund einer Illusion, sondern auf Grund eines gewaltsames Aktes, der eben die Wahrnehmung selbst ist.« 133 Auf der Grundlage dieses Chiasmus zwischen Selbst und Anderem, Ähnlichkeit und Differenz wird im Folgenden der Stimmungsraum als öffentlichen Raum rekonstruiert, um damit dem gängigen Klischee zu entgegnen: Gefühle seien primär subjektiv und gehörten deshalb einzig dem privaten Raum an. Ganz im Gegensatz dazu werde ich Gefühle als Vektoren und Atmosphären beschreiben, welche den öffentlichen Raum mit Valenzen und Gestimmtheiten durchziehen.134 Es wird klar, dass wir selbst das Ausdrucksgebaren von Menschen nur vor dem Hintergrund eines so wahrgenommenen Raums des Allgemeinen verstehen. Das heißt: Die Sphäre des Politischen – d. i. der Sinn- und Handlungsraum – konstituiert auf dem Fundament des Emotionalen. Vgl. M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, a. a. O., 22 ff. Th. Fuchs, Leib, Raum, Gefühl, a. a. O., 250. 132 H. Plügge, Der Mensch und sein Leib, Tübingen 1967, 20. 133 M. Merleau-Ponty, PW, 414. 134 Ich beziehe mich mit den folgenden Gedanken in weiten Teilen auf Fuchs, Leib, Raum, Symbol, a. a. O. 130 131

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4.2.5 Wider die Privatheit des Gefühls: Das Ineinandergreifen von Leib-, Sinn- und Gefühlsraum Die vorangegangenen Kapitel haben die vielfachen Verflechtungen zwischen Leib, Mitgefühl und Vernunft dargelegt und gezeigt, weshalb der Leib Fundament einer gemeinsamen Welt ist. Hierzu gehören insbesondere das Konzept des »Ich kann« in Zusammenhang mit einer intersubjektiven Identitäts- und Sinngenese. Der Leib bildet die Grundlage der Offenbarung eines gemeinsamen Sinns der Gegenstände (Apellcharakter). Ein weiterer Aspekt ist die leibliche Fähigkeit zur Mimesis als Voraussetzung des Verstehens und Wahrnehmens von Fremdpsychischem. Im Folgenden möchte ich an den Aspekt der Mimesis anknüpfen, um eine oft übersehene Facette des öffentlich-politischen Raumes zu beschreiben: den Sinn- und Gefühlsraum. Dabei gehe ich von der Grundthese aus, dass es sich bei Gefühlen nicht um rein idiosynkratische Zustände handelt, sondern um intersubjektiv erfahrbare »Ausdrucksqualitäten«, welche aufgrund der Resonanzfähigkeit des Leibes unmittelbar verstanden werden können. Gefühle können aus diesem Grund nicht mehr in den Raum der Subjektivität und damit der Privatheit verbannt werden, sondern sie erfüllen den öffentlichen Raum mit intersubjektiv wahrnehmbaren Valenzen und Strebungen. Ich werde deshalb darstellen, warum die leibliche Resonanz für die Konstitution und Wahrnehmung eines gemeinsamen Stimmungsraumes notwendig ist und warum Sprechhandlungen erst vor dem Hintergrund einer solchen Theorie der Gefühle sinnvoll erscheinen. 135 Allen voran war es der Phänomenologe Hermann Schmitz, welcher zum ersten Mal Gefühle als objektive Erlebnismöglichkeiten innerhalb eines öffentlichen Raums beschrieben hat. Für ihn bildet der Stimmungsraum eine Art tragende Hintergrundatmosphäre, vor welcher sich das öffentliche Leben präsentiert. Oder anders gesagt: Leibliche Betroffenheit ist primordinale Ermöglichung von gemeinsamen Sinn-Räumen. 136 Diese These wurde von dem Phänomenologen Thomas Fuchs weiter modifiziert: 137 135 Insbesondere wird hierdurch klar, dass Sprache nicht nur allgemeinlogisch funktioniert, sondern dass Verstehen auf leiblich-mimetische Fähigkeiten zurückgreift. Ein solches leiblich-unmittelbares Verstehen ist analog-ambiguos. 136 Vgl. H. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2006. 137 Vgl. Th. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O.

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Der menschliche Leib gleicht einem »Instrument«, welches aufgrund seiner Wahrnehmungsorgane und Physiognomie Ausdrücke unmittelbar erfasst. Im Anschluss an Cassirer kann ein Ausdruck als Ursymbol begriffen werden, welches Inneres und Äußeres, Meinendes und Gemeintes noch ungetrennt umfasst. 138 Die Bedeutung eines solchen »Ursymbols« wird unmittelbar leiblich verstanden, d. h., der Ausdruck – auch der physiognomische Ausdruck eines Gesichts – ist ein dem Sinnlichen unmittelbar einwohnender Sinn. Ursprünglich geht diese Wahrnehmungsfähigkeit auf die triebhafte Bezogenheit des Menschen auf die Umwelt zurück. Scheler macht hier jedoch auf einen zentralen Wesensunterschied zwischen Tieren und Menschen aufmerksam: Dem Tier ist die Welt rein instinktbezogen gegeben und so erscheint ihm die Umwelt allein in dieser inneren Gerichtetheit. Der Mensch, durch seine relative Instinktarmut, ist hingegen weltoffen konstituiert und vermag so den Umweltbann abzuschütteln. 139 Aus diesem Grund verfügt der Mensch über eine enorme Bandbreite an Physiognomien, die er in leiblich-mimetischer Resonanz erlebt. Diese Resonanzfähigkeit kann so weit gehen, dass wir uns der Wahrnehmung der Gefühle anderer gar nicht entziehen können. Diese erscheinen uns dann wie Gegenstände, welche auf uns zufliegen oder Geräusche, die auf uns eindringen. Selbstverständlich vermögen wir dieses »Mitschwingen« in bestimmten Situationen zu unterdrücken. Aber ein stetes leichtes »Mitschwingen« – mit dem Raum oder dem Anderen –, welches unsere Kommunikation stets begleitet und beeinflusst, ist kaum zu vermeiden. 140 Solche Ausdruckscharaktere – des Anderen sowie der Umwelt – strukturieren nun den Stimmungsraum nicht nach rein formalen Kriterien bzw. leiblosen Vernunftkriterien, wie z. B. geometrische Orte, Zeitmessung oder Kausalitäten, sondern sie bleiben im Körper verankert. »Ausdruckserfassung ist vielmehr die leibvermittelte Wahrnehmung von seelischen Kräften, Wirkungen und Bedeutungen. [Sie …] sind zugleich Anmutungen, also Beziehungsformen, in denen 138 Vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. 3. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Berlin 1929, 9 f. 139 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern/München 1983, 40. 140 Andererseits kann die Resonanzfähigkeit eines Menschen stark differieren. Insbesondere Kultur und Erziehung können zu einer stärkeren oder schwächeren Sensibilisierung eines Menschen führen (vgl. auch H. Landweer, Resonanz oder Kognition, a. a. O., 61).

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die Dinge an Lebewesen appellieren und sie zu bestimmten Handlungen veranlassen.« 141 Und obgleich sie dem Schema »attraktiv bzw. aversiv« folgen, sind ihre Qualitäten fast nie ganz eindeutig, sondern ambivalent – sie funktionieren über das Prinzip der Analogie. Dem Prinzip der Analogie wird heutzutage oftmals der Stellenwert der Seriosität verweigert und wird stattdessen mit »Magie« oder »subjektivem Empfinden« assoziiert. 142 Foucault beschreibt in seinem Buch Die Ordnung der Dinge die Verdrängung des Zeitalters der Ähnlichkeiten, welches den Prinzipien der convenientia, aemulatio, Analogien und Sympathien folgen, durch das Zeitalter der analytischen Wissenschaften, welche über das Prinzip von Identität und Differenz funktionieren. Durch diese Verdrängung wird das Prinzip der Ähnlichkeit dem Prinzip des Beweises mittels Vergleichs unterworfen: Es wird nur anerkannt, was den Prinzipien »gemeinsame Einheit durch Maß«, »Ordnung durch Identität« bzw. »Serien der Unterscheidungen« unterworfen werden kann. Dadurch beginnt ein Zeitalter der genauen Aufzählung bzw. der vollständigen Gewissheit durch zahlenmäßiges Erfassen. »Der Vergleich kann also eine vollkommene Gewissheit erreichen: das alte System der Ähnlichkeiten konnte, da es nie beendet war und stets neuen Eventualitäten offen stand, durch den Weg sukzessiver Bestätigungen immer wahrscheinlicher werden.« 143 Alles Zweideutige und Ambiguose verliert so an Bedeutung und gehört nun zur Kategorie des Spiels, der Zauberkräfte, der Poesie und der Subjektivität. Ein Blick in noch urtümliche Gesellschaften sowie Analysen zum Spracherwerb bei Kindern zeigen jedoch, dass insbesondere Sprache ursprünglich »poetisch«, d. h. mehrdeutig und leibgebunden ist. »Die natürliche Sprache […] eröffnet Ähnlichkeitsräume […]. Dass die Sprache ursprünglich poetisch ist und der Mensch ›dichterisch wohnt‹, hängt damit zusammen, dass Ähnlichkeit das fundamentale Medium unseres In-der-Welt-Seins ist.« 144 Auf ebensolche Weise sind künstlerische Ausdrucksformen wie Tanz, Poesie, bildende Kunst o. Ä. nur Th. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 201. Beispiele sind hier Metaphern oder eine poetische Wortwahl: Wir sprechen von einem »trockenen Humor«. Und obgleich ein Humor nicht im tatsächlichen Sinne »trocken« sein kann, ist der Sinn, welcher dem Wort hier zukommt, leib-sinnlich zugänglich. D. h., Analogien werden durch eine ähnliche leibliche Resonanz hergestellt. 143 Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 2008, 88. 144 R. Spaemann, Ähnlichkeit, in: ZS phils. Forsch., 50, 1996, 290, auch zit. in: Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 204. 141 142

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verständlich, weil dem menschlichen Leib eine einheitliche Semantik der Existenz zugrunde liegt. Dabei ist die Leibmetaphorik nur allgemein verstehbar, weil der Leib als sensorium commune die Dinge ähnlich erfasst bzw. ähnliche Verbindungen und Verwandtschaften zwischen Dingen erspürt. »Ähnlichkeit ist die Weise der Erfahrung, in der die Welt für uns zu einer Einheit wird.« 145 Die Ähnlichkeit von Ausdruck und Resonanzerleben kann so stark ausgeprägt sein, dass dies als Metamorphose erlebt wird: Eine Ausdrucksverwandtschaft wird zur Verwandlung. Beispiele hierfür finden sich z. B. in den Erfahrungsberichten über Stammesvölker bei Elias Canetti. An einer Stelle beschreibt er, wie Jäger in Afrika das Herannahen der Springböcke spüren, indem sie die schwarzen Streifen auf den Gesichtern der Springböcke auf dem eigenen Gesicht spüren. 146 »Es scheint, dass eben die Begabung des Menschen zu Verwandlungen, das zunehmend Fluide seiner Natur es war, was ihn beunruhigte und nach festen und unveränderlichen Schranken greifen ließ. Dass er so vieles Fremdes an seinem eigenen Leib fühlte, […] dass er diesem Fremden ausgeliefert war und zu ihm werden musste, […] das musste einen Drang nach Permanenz und Härte in ihm wecken, der ohne Verwandlungsverbote nicht zu stillen war.« 147 Aus diesem Grund musste der identitätsgefährdende Anmutungsstrom durch Tabus und kulturelle Settings eingeschränkt werden. 148 Auch die Sprache ermöglichte eine zunehmende Distanzierung von den Gegenständen und hielt hierdurch den »Verwandlungszwang« in Schranken. 149 Diese Beispiele zeigen, dass der Mensch qua Leib Ausdrucksqualitäten ständig ausgeliefert ist und sich sein Verhalten nur vor diesem allgemeinen Hintergrund erfassen lässt. Ich werde aus diesem Grund auf die genaue Architektonik eines solchen Stimmungsraums in heuti-

145 Th. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 204. Entwicklungspsychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass 2-jährige Kinder eine Schnörkellinie als fröhlich, zickzack als ärgerlich sowie eine liegende Tasse als müde empfanden (vgl. H. Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie, München 1959, auch zit. in: Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 206). 146 E. Canetti, Masse und Macht, München 1994, 399. 147 Ebd., 453. 148 Auch Julian Jaynes beschreibt den Ursprung des Bewusstseins zunächst als Abgrenzungsversuch gegenüber dem stetig überwältigenden Anmutungsstrom der Assoziationen (J. Jaynes, Der Ursprung des Bewusstseins, Reinbek bei Hamburg 1993). 149 Vgl. ebd.

135 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

Der interne Zusammenhang zwischen Körper, Mitgefühl und Vernunft

gen Gesellschaften eingehen und deren Bedeutung für einen intersubjektiven Handlungs- und Bedeutungsraum darlegen. Fuchs unterscheidet grundsätzlich zwischen den beiden Begriffen »Ausdruckscharaktere« und »leibliche Resonanz«. Zwischen diesen Polen ereignen sich drei Phänomene, nämlich Atmosphären, Stimmungen und Gefühle: Atmosphäre

Stimmungen

Ausdruckscharaktere

Gefühle

Leibliche Resonanz

Atmosphären wirken über Feldkräfte und haben einen »objektiv« wahrnehmbaren Charakter. Sie werden über die leibliche Resonanz als Ausdrucks- oder Bewegungsanmutungen erfahren. Der Gefühlsphänomenologe Schmitz begründet ihre »Objektivität« damit, dass sie durchaus der eigenen Gestimmtheit widersprechen können. Als Beispiel führt er das Eintreten des fröhlich Gestimmten in eine Trauergemeinschaft an. 150 Umgekehrt widerfährt es dem melancholisch Nachdenklichen, welcher unversehens in eine Karnevalsveranstaltung gerät. Eine solche atmosphärische Trauer bzw. Freudigkeit ist gleichsam räumlich ausgebreitet und »objektiv« spürbar. Damit verläuft bei Atmosphären die Induktion von außen nach innen. Im Unterschied hierzu stehen die Stimmungen, welche eher von »innen nach außen« verlaufen. Die Gestimmtheit entspricht einer Art Zumutesein, welches von Herbert Plügge auch als Wohl- bzw. Missbefinden beschrieben wurde. 151 Hierzu gehören beispielsweise die Freude, die Langeweile oder auch die Angst. 152 Stimmungen können deshalb als eine Art Gesamtverfasstheit bezeichnet werden, welche noch vor jedem spezifischen Gegenstandsbezug steht. 153 Im Gegensatz zu den Stimmungen bezeichnet Fuchs die Gefühle als kurzdauernd und ungleich intensiver. Wenn Stimmungen eher zentripetal auf uns einwirken (im Sinne eines Angemutetwerdens), wirken Gefühle zentrifugal, d. h., sie äußern sich als unmittelbarer Ausdruck durch Mimik und Gestik. Fuchs geht nun davon aus – und Vgl. H. Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2007, 57 ff. Vgl. H. Plügge, Wohlbefinden und Missbefinden. Beiträge zu einer medizinischen Anthropologie, Tübingen 1962. 152 Vgl. z. B. die Phänomenbestimmung der Freude durch Martin Heidegger in: Sein und Zeit, Tübingen 2006, § 68. 153 Vgl. Th. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 217. 150 151

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stimmt hierin mit Plessner überein –, dass wir Gefühle nicht zuerst erleben, um ihnen dann Ausdruck zu verleihen, sondern dass uns die eigenen Gefühle erst durch die leibliche Resonanz überhaupt zu Bewusstsein kommen. 154 Resonanz und Ausdruck induzieren das Gefühl im Nachhinein. »Durch diese ›Entpersönlichung‹ tragen sie [die Gefühle] auch zur überpersönlich-atmosphärischen Welt bei.« 155 Durch die Unmittelbarkeit des Ausdrucks wirkt unser sogenanntes »Innenleben« ständig auf die Außenwelt bzw. hängt von ihr direkt ab. 156 Gefühle können deshalb als Art Vektoren im Raum gesehen werden, weil sie den Gegenständen eine gewisse Wertigkeit und einen gewissen Ausdruck verleihen. Sie ermöglichen eine unmittelbare und präkognitive Orientierung, welche die Prioritäten unseres Handelns und Wahrnehmens bestimmt. 157 Die Ausdruckscharaktere des Stimmungsraumes können aus diesem Grund nicht als rein »subjektiv« beschrieben werden, sondern wirken ständig auf uns ein. 158 Scheler hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Daseinsrelativität geprägt, d. h., Wertfühlen und Anmutungen sind nicht rein subjektiv, sondern sie sind relativ zur Wesenhaftigkeit des Menschen. Das bedeutet, dass sie im Kontext seiner leiblichen

154 Eine solche These geht ursprünglich auf James zurück, der behauptet: »Meine Theorie dagegen ist die, dass die körperlichen Veränderungen direkt auf die Wahrnehmung der erregenden Tatsache folgen, und dass das Bewusstsein vom Eintritt eben dieser Veränderungen die Gemütsbewegung ist« (W. James, Principles of Psychology, dt. Übers. v. M. Dürr, Leipzig 1884, zit. nach T. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 248.) 155 Th. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 230. 156 Natürlich spielt für die Intersubjektivität der Gefühle auch der Konflikt zwischen Kognition und Emotion hinein. António Damásio, Stanley Greenspan u. v. a. haben darauf hingewiesen, dass ein Mangel an Gefühlen oder Resonanzfähigkeit genauso eine Ursache für irrationales Verhalten sein kann wie der Mangel an Kognition. Für sie ist das Gehirn kein abgesondertes Organ, welches Sinneseindrücke verarbeitet und daraus kognitive oder emotionale Reaktionen ableitet. Vielmehr ist das Gehirn ein Wahrnehmungsorgan für den Gesamtorganismus, d. h., der Körper rückt ins Zentrum des Geschehens. Deshalb spricht Damásio auch von dem Körper als der eigentlichen Bühne der Gefühle (A. Damásio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1996, 213). 157 Vgl. L. Ciompi, Affektlogik, a. a. O. Eine solche These wird u. a. durch Darwin bestätigt, welcher Gefühle nicht primär als innere Zustände deutet, sondern vielmehr als Kommunikationsformen (vgl. C. Darwin, The expression of emotions in man and animal, London 1872). 158 Und würden wir aufgrund unserer ähnlichen leiblichen Verfasstheit nicht zu ähnlichen Resonanzen fähig sein, so verfehlten viele Kunstformen ihre Wirkung.

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Verfasstheit intersubjektiven Sinn haben. 159 Fuchs greift diesen Gedanken auf, wenn er sagt: »Auch wenn die Gehalte und Phänomene des Stimmungsraums nur von einem entsprechend disponierten Wesen wahrgenommen werden können, so besteht doch diese Korrelation selbst durchaus objektiv.« 160 Wird dieser Gedanke weitergedacht, dann folgt daraus, dass wir immer dann einen Ausschnitt der Welt wahrnehmen, wenn dieser Stelle eine spezifische Bedeutung zukommt. Ein Beispiel hierfür ist die Betrachtung eines steilen Berghanges: In dem Moment, da sich ein verletzliches Wesen ihm annähert, besteht die Gefahr, von einem Stein erschlagen zu werden. Diese Gefahr ist kein Ausdruck des bloßen Meinens, sondern bezeichnet eine Beziehung oder Komplementarität zwischen Organismus und Umwelt. Eine solche Valenz oder Bedeutung existiert nicht nur in einem privaten Innenraum, sondern ergibt sich aus der Relativität zwischen Wesen und Raum. Insofern nun der Leib jenen Sinn-Hintergrund bildet, vor welchem uns die Welt erscheint, ist er in eins Resonanzboden für ein solches Verstehen des Anderen. Deshalb spricht Scheler auch von einer »universalen Grammatik des Ausdrucks. 161 Auch Spaemann wehrt sich gegen die Abwertung der leiblich-mimetische Deutung der Welt als Anthropomorphismus, indem er betont: »Seiendes als Seiendes bestimmen, heißt, es unter dem Aspekt seiner Ähnlichkeit mit uns selbst zu bestimmen. Ein kritischer Anthropomorphismus ist die Bedingung jeder Ontologie […]. Sein von etwas bedeutet Ähnlichkeit mit unserem Dasein und mit allem anderen, oder es bedeutet nichts.« 162 Zu sagen, »es bedeute nichts«, heißt hier aber nichts anderes als »es bleibt für uns bedeutungslos« oder auch »sinnlos«, weil es keine Relevanz hat, keinen Anknüpfungspunkt, keine Beziehung. Eine solche Denkweise ist die Rückbesinnung auf das menschlich Relevante, das vor dem Hintergrund einer leiblich-emotionalen Verankerung die Welt erschließt und für ein Menschenleben Sinn macht. Jedes andere Denken führt in den Nihilismus oder den Relativismus. Das heißt, Gefühle durchziehen den politisch-öffentlichen Bereich 159 Vgl. M. Scheler, Idealismus – Realismus, in: Späte Schriften, Ges. Werke Bd. 9, Bern/München 1976, 196 ff. 160 Th. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 237. 161 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Werteethik, Ges. Werke Bd. 2, Bern/München 1980, 264. 162 R. Spaemann, Ähnlichkeit, in: ZS philos. Forsch., 50, 1996, 298, auch zit. in: Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 240.

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als »objektive« Raumvalenzen und verleihen ihm eine Sinnstruktur. Erst auf dieser Grundlage werden Sprechhandlungen versteh- und nachvollziehbar, weil wir die Bewegungen und den Ausdruck anderer Menschen immer schon mitvollziehen. Menschen sind in dem Maße »zurechnungsfähig«, als ihr Handeln innerhalb eines solchen Kontextes Sinn macht. »Sie wirken gleichsam als Indikatoren, die das unsichtbare Netz menschlicher Beziehungen, Erwartungen, Wünsche, Verpflichtungen, Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten sichtbar machen.« 163 Der Raum wird nicht begrifflich-rational, sondern im Sinne von ähnlichen Ausdrucksweisen bzw. attraktiver und repulsiver Kräfte strukturiert. 164

4.2.6 Fazit: Der Leib als Fundament einer öffentlich-intersubjektiven Sinngenese Die ähnliche Struktur des menschlichen Körpers sowie seine Resonanzfähigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass wir intersubjektiven Sinn generieren. Der Raum wird nicht nur von sinnvollen »Ich kann«-Strukturen durchzogen, sondern darüber hinaus von Gestimmtheiten und Atmosphären. Ein Beispiel, welches beide Aspekte berührt, ist die Architektur. Die Art der Bauweise, die Fassaden, Türen, Fenster etc. haben einen Appellcharakter, welcher am menschlichen Leib ausgerichtet ist: Das Fenster hat einen Hebel, die Tür ist so groß, dass ein Mensch hindurchpasst usw. Ferner suggeriert die architektonische Bauweise auch Gestimmtheiten (niedrige, gedrückte, bedrängende Gemäuer versus helle, hohe erhabene Räume). Diese Strukturierungen des öffentlichen Raumes wirken wie ein Hintergrundrauschen des öffentlichen Dialogs. Im negativen Falle kann Architektur auch den öffentlichen Dialog unterbinden. Ein Beispiel hierfür wird von Richard Sennett angeführt. Am Beispiel New York Citys zeigt er, wie die Reißbretteinteilung der Straßen keinen Raum für die Begegnung zwischen Menschen lässt. Der Dialog weicht der Geste des Th. Fuchs, Leib, Raum, Person, a. a. O., 240. Wieder einmal spielt hier auf psychologischer Ebene das Zusammenwirken von kognitiven und emotionalen Strukturen hinein. Insbesondere Ciompi beschreibt, wie Gefühle als primäre Organisatoren des kognitiven Systems wirksam werden (vgl. L. Ciompi, Affektlogik, a. a. O.). 163 164

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Der interne Zusammenhang zwischen Körper, Mitgefühl und Vernunft

Blicks: »In the course of the development of modern, urban individualism, the individual fell silent in the city. The street, the café, the department store, the railroad, and underground became places of the gaze rather than scenes of discourse. When verbal connections between strangers in the modern city are difficult to sustain, the impulses of sympathy which individuals may feel in the city looking at the scene around them become in turn monetary – a second of response looking at snapshots of life« 165 Michel de Certeau unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der Wegstrecke im Sinne eines organisch-körperlichen Bewegens durch den Raum und der Wahrnehmung des Raumes als Karte. 166 Das erste Modell nimmt den Raum aus der Horizontalen wahr, z. B. »wenn man gleich nach der Kirche um die Ecke geht, dann kommt linker Hand ein Bäcker«. Das »Ich kann« des Körpers erschließt den Raum in seiner Sinnhaftigkeit und beeinflusst in eins wie der Mensch sich selbst im Raum als Individuum begreift. Das zweite Modell folgt dem Prinzip des objektiven Betrachters bzw. der Vogelflugperspektive, z. B. »zwischen Kirche und Bäcker liegen 50 Meter und beide liegen sich gegenüber«. Im Falle der Stadtplanung New Yorks wurde der Raum nicht durch den tatsächlich bewegten Körper strukturiert, im Sinne einer organisch gewachsenen Stadt, sondern durch Konstrukteure von »oben« bzw. auf einer Karte. Das Ergebnis erscheint entfremdet, weil es nicht den organischen Bewegungen des menschlichen Körpers entspricht. In der Praxis New Yorks wird das gemeinsame Leben zur visuellen Agora, in welcher die tatsächliche zwischenmenschliche Begegnung beinahe unmöglich ist. Letzten Endes wirkt die Stadtplanung nicht nur auf die Möglichkeiten zwischenmenschlicher Begegnungen, sondern auch auf das Entstehen spezifischer emotionaler Räume. Die Fähigkeit des Menschen zum Mitgefühl (hier im Sinne einer Resonanzfähigkeit) ist Grundlage für ein solches Erfassen allgemeiner Gestimmtheiten und Ausdruckscharaktere. Diese Art der Wahrnehmung befindet sich in einem noch vor-sprachlichen Bereich und bildet hierdurch den vorgelagerten Lebenswelthintergrund des Dialogs. Der Leib bildet ein Grundsensorium für die »vernünftige« (d. i. hier all-

165 R. Sennett, Flesh and Stone. The Body and the City in Western Civilisations, New York 1996, 358. 166 M. de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 217 ff.

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Aus phänomenologischer Perspektive

gemein-intersubjektive) Erfassung einer Situation. Im Moment des »Auseinanderfallens« einer solchen umfassenden Allgemeinheit kann dieser Riss vermittels der Sprache (›ideale Sprechsituation‹) »repariert« werden.

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5. Konsequenzen einer leibfundierten Vernunft für den öffentlichen Raum: Exemplarische Phänomenanalyse

Auf der Grundlage der vorhergehenden phänomenologischen Rekonstruktion des politisch-öffentlichen Raumes entlang der Konstanten von Körper, Mitgefühl und Vernunft soll nun anhand exemplarischer Anwendungsanalysen dargelegt werden, welche neuen Perspektiven sich hierdurch auf eingefahrene Probleme und Fragestellungen des politischen Raumes und Handelns ergeben. Ideengeschichtlich bewegen sich diese Analysen weiterhin in der phänomenologischen Tradition. Als Denker werden Emmanuel Lévinas, Maurice Merleau-Ponty, Hannah Arendt, James Mensch sowie zeitgenössische Raumtheoretiker wie Michel Foucault, Michel de Certeau, Jean Baudrillard, Paul Virilio und Richard Sennett herangezogen.

5.1 Selbstaktualisierung, Freiheit und intersubjektive Sinnkonstitution Ein öffentlicher Raum, welcher den naturwissenschaftlichen Gesetzen gehorcht, ist ein Ort der Messungen, der Statistiken und Berechenbarkeiten. 1 In diesem Falle erscheinen die Dinge vor dem anonymen Auge eines entkörperlichten Betrachters, während er selbst nicht Teil dieser Gesellschaft ist, sondern sich bereits in die Anonymität zurückgezogen hat. Hannah Arendt hat vor einem solchen Denken gewarnt: Ein Denken, welches der Herrschaft des entmenschlichten Niemands gehorcht. Es abstrahiert von der Pluralität und Besonderheit des Menschen und Vgl. die Kritik Husserls am naturwissenschaftlichen Denken in der Krisis (E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. v. E. Ströker, Meiner 1996 (1936)).

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reduziert ihn auf die Berechenbarkeit seiner Handlungen – gefangen in der schlichten Graphik einer statistischen Untersuchung. Grundlage ihrer Kritik ist der von ihr propagierte immanente Zusammenhang zwischen Einzigartigkeit und Pluralität im öffentlichen Raum. In einer Massengesellschaft, welche nach der Vereinheitlichung und Vorhersagbarkeit der Individuen strebt, wird in eins die Identität des Einzelnen und damit auch seine Fähigkeit zu handeln unterminiert. Im Unterschied hierzu versteht Arendt Öffentlichkeit als Ort der intersubjektiven Sinnkonstitution zwischen einzigartigen Individuen, welche vermittels eines habituellen Leibes diesen Raum bewohnen. Die Partikularität ihrer je aktualisierten Leiblichkeit ermöglicht es, dass dieser Raum lebendig bleibt und sich an die Pluralität der Perspektiven und Möglichkeiten (Ich kann) »anschmiegt«. Umgekehrt wird die Partikularität des Einzelnen nur durch sein Handeln mit Anderen realisiert. Intersubjektivität ist deshalb jener Bereich des Ineinandergreifens von Ähnlichkeit und Verschiedenheit auf der Grundlage des Sinn- und Handlungsleibes. »Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, dass keiner diesem Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.« 2 Aufgrund dieser Verschränkung von Leib, Mitgefühl und Vernunft soll im Folgenden gezeigt werden, auf welche Weise Selbstaktualisierung und intersubjektive Sinnkonstitution im politischen Raum ineinander verschränkt sind und damit seine Funktionen wesentlich bestimmen: 3 Arendt unterscheidet grundlegend zwischen den Begriffen »Gewalt« und »Macht« und ordnet diese dem privaten bzw. öffentlichen Bereich zu. 4 Der Begriff der Gewalt basiert für Arendt auf physischem und psychischem Zwang bzw. Ungleichheit. Der Umstand, dass wir den Anderen in seinen organischen Funktionen nicht ersetzen können, führt zur gewalthaften Behauptung der einen Existenz gegen die des Anderen. Das Gleiche gilt für die Inanspruchnahme eines Ortes: Indem ich diesen Ort besetze, nehme ich ihn einzig für mich ein. Alles, was mir als organische Entität zukommt, bleibt dem Körper des Anderen

H. Arendt, Vita activa, a. a. O., 17. In der folgenden Darstellung beziehe ich mich in weiten Teilen auf die Analysen zum »Public Space« von James Mensch (Embodiments, a. a. O.). 4 Vgl. hierzu H. Arendt, Macht und Gewalt, München 1970. 2 3

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entzogen. Aus diesem Grund konstituiert sich Gewalt im Bereich des Privaten, d. i. des organischen Funktionierens des Körpers. Der öffentliche Raum ermöglicht hingegen eine andere Weise des Zueinanderseins. Die gemeinsame Sinnkonstitution innerhalb einer geteilten Lebenswelt generiert eine Art kommunikative Macht: Wenn beispielsweise viele Menschen gemeinsam an eine Idee glauben, dann wird sich diese Idee, falls notwendig, auch gegen die bestehende Regierung durchsetzen.5 Auf diese Weise wird den Menschen im öffentlichen Raum ihre Macht nicht genommen, sondern durch Partizipation zuteil. 6 Dabei wird der Andere nicht zur Bedrohung, sondern zur Voraussetzung meiner eigenen Teilhabe an der öffentlichen Macht. Die von Arendt propagierte Erweiterung von Macht im öffentlichen Raum erklärt jedoch noch nicht, warum wir uns erst in der Polis in unserer Einzigartigkeit aktualisieren. Die Erweiterung von Macht muss deshalb noch mit etwas anderem zusammenhängen, um zu erklären, warum dem öffentlichen Raum diese Funktion zukommt. Der öffentliche Raum dient nicht nur der Erweiterung von Macht, sondern auch der Aktualisierung von Freiheit. 7 Weil wir die Welt körperlich bewohnen, konstituiert die Art und Weise, wie wir uns in ihr bewegen, unsere Identität. Oder anders gesagt: Wir begreifen uns selbst in Beziehung zu den Dingen um uns herum, die wiederum nur Bedeutung gewinnen durch ihren Appell an das Vermögen des Leibes (ein Tisch, um etwas abzustellen, ein Stuhl zum Sitzen, ein Buch, das gehalten werden kann, um es zu lesen etc.). Natürlich kann der Sinn eines Dinges verändert werden oder mehrere Formen haben. Diese Sinnstiftung in Relation zu einer bestehenden Welt, im Sinne einer Erweiterung des »Ich kann« kommt uns aber nicht nur von den Dingen direkt zu, sondern vor allem auch über andere Menschen; von Anderen lernen wir, wie wir uns in der Welt bewegen und in ihr auf unterschiedlichste Weisen tätig werden. Aus diesem Grund deutet der Phänomenologe James Mensch die Erweiterung des »Ich kann« als Expansion Beste Beispiele hierfür sind Revolutionen, welche auf ein Auseinanderbrechen von Faktizität und Geltung hinweisen und diese bemerkbar machen. Auf die Durchschlagskraft der kommunikativen Macht vertraut auch Habermas (vgl. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1994). 6 Vgl. H. Arendt, Vita activa, a. a. O. sowie Macht und Gewalt, a. a. O. 7 Erneut greife ich hier auf eine zentrale Idee bei James Mensch zurück (vgl. Embodiments, a. a. O., 129 ff.). 5

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individueller Freiheit. Das heißt, in dem Maße wie ich mich vielfältig als tätiger Mensch in der Welt und ihren Dingen engagiere, entfaltet sich die Einzigartigkeit meiner eigenen Seinsweise, d. i. meine Identität. Gabriel Marcel bezeichnet dies mit dem vieldeutigen Namen der »Schicksalsgemeinschaft«. »Für eine solche Schicksalsgemeinschaft kann ich mich nicht entscheiden. In sie bin ich immer schon eingeboren und mit allen Fasern meines Wesens eingeflochten. Sie entspricht nicht der Einwilligung ihrer Teilnehmer in dieses Beisammensein […], vielmehr ergeben sich alle Möglichkeiten menschlicher Selbstauslegung und menschlichen Selbstverständnisses, wie vielfältig sie auch sein mögen, aus diesem zugrundeliegenden Beisammensein.« 8 Freiheit, verstanden als »freie Aktivitäten, Handlungen oder Möglichkeiten«, ist auf diese Weise an eine sinnkonstituierende Macht des Öffentlichen rückgebunden und mit den leiblich konstituierten Handlungsbezügen verknüpft. Bei dem Erwerb sowie der intersubjektiven Sinnhaftigkeit solcher Aktivitäten kommt dem Mitgefühl eine wesentliche Bedeutung zu: Der Andere ist einerseits ein leibliches Subjekt wie ich selbst, qua Körper jedoch andererseits wesentlich von mir geschieden. Indem ich mich in die Lage des Anderen versetze, lerne ich die Dinge »anders« bzw. »neu« zu sehen. 9 Die dadurch erweiterte Perspektive offenbart mir neue Möglichkeiten für mein eigenes Engagement in der Welt; es erweitert meine Freiheit mich als »Ich kann« handelnd zu aktualisieren. In der Partikularität, wie ich diese Handlung ausführe, ereignet sich jedoch zugleich meine Einzigartigkeit (aktueller Leib). Die Frage bleibt jedoch, warum die Andersheit des Anderen ein Problem bzw. eine potentielle Bedrohung darstellt. Der Blick des Anderen ist nur insofern eine Bedrohung, als er sich aus der Sphäre des Politischen, und damit aus der Intersubjektivität, ausklinkt. Nur dann werden meine Sichtweise, mein Verhalten, meine Handlung aus der absoluten Privatheit beurteilt und auf »wahr« bzw. »falsch« reduziert. Ein solcher Blick entzieht sich der Offenheit des Dialograums, um den anderen auf die Fassbarkeit eines zu beurteilenden Objekts zu begrenzen. Originäre Expressionen werden auf logisch falsifizierbare Aussagen reduziert. G. Marcel, Leibliche Begegnungen, a. a. O., 37. Das heißt, nur in dem Maße als wir gemeinsam vermittels unseres Leibes eine Welt bewohnen, erweitern wir gegenseitig unsere Freiheit.

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Die humanistische Denkweise 10 hingegen ereignet sich als Prozess im Chiasmus von Ähnlichkeiten und Unterschieden und steuert damit zur kontinuierlichen Rekonstruktion einer gemeinsamen Lebenswelt bei. Aus diesem Grund muss Habermas’ kommunikative Vernunft in ihrer Funktion einer Reparaturleistung als humanistische Denkweise verstanden werden, welche im leiblichen Vermögen zu Mitgefühl wurzelt. Als Resultat intersubjektiver, öffentlicher Verhandlungen muss sie an die unmittelbare Handlungssphäre rückgebunden bleiben, um dort ihre Praktikabilität zu beweisen, 11 andernfalls droht sie den öffentlichen Raum, im Sinne eines gemeinsamen Sinn- und Handlungsraumes, zu verlassen. Als ein Gegenbeispiel bzw. Destruktion des politischen Raumes soll abschließend das Beispiel der totalitären Systeme herangezogen werden: 12 James Mensch weist darauf hin, dass sich totalitäre Systeme insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie aus unverbundenen oder isolierten Individuen bestehen. Solche Systeme versuchen durch Überwachung und Bestrafung jegliche Interaktion sowie jeglichen Austausch zwischen Individuen zu unterbinden. 13 Insbesondere wird versucht, sowohl die Möglichkeit als auch die Fähigkeit, sich mit anderen zu treffen bzw. auszutauschen, zu unterminieren. Mensch sieht den Egoismus von Individuen nach dem Zusammenbruch von totalitären Systemen als Resultat einer solchen jahrelangen Vereinzelung und Privatisierung. 14 Auf der anderen Seite drängen totalitäre Systeme nach UniforVgl. weiter oben zum Unterschied zwischen wissenschaftlicher und humanistischer Denkweise in Auseinandersetzung mit James Mensch, Selfhood and Ethics, a. a. O. 11 Vgl. J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1999, 52 ff. Dies ist auch eine der wesentlichen Argumente gegen Rortys Erkenntniskritik, der behauptet, dass wir keinerlei Zugang zur Wahrheit haben. Schließlich erscheint die Debatte zwischen Habermas und Rorty über den Wahrheitsbegriff daran zu scheitern, dass sie je von einer unterschiedlichen Auffassung des Wahrheitsbegriffs ausgehen: Habermas greift auf einen lebensweltlichen und im Sprechhandeln verankerten Wahrheitsbegriff zurück, wohingegen Rorty Wahrheit als absolut unabhängig vom menschlichen Lebenskontext deutet. Diese Vermutung geht zurück auf den Dialog zwischen Habermas und Rorty in: R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, Oxford 2000. 12 Vgl. J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 89 ff. 13 Vgl. zu dieser Phänomenanalyse auch Foucaults Werk: Surveiller et punir, Paris 1975. 14 James Mensch bezieht sich hier selbstverständlich auch auf Hannah Arendts ausführliche Analyse zum Totalitarismus. 10

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mität. Ziel ist es, die natürliche Pluralität bzw. Einzigartigkeit von Menschen in einem Staat zu unterdrücken. Beide Aspekte reduzieren auf dramatische Weise die Expansion des »Ich kann« von jedem einzelnen und auf diese Weise zugleich die Freiheit, welche uns genuin durch den Anderen zukommt. Es folgt, dass die Bürger »vergessen«, sich mit anderen zu assoziieren. Sie verlieren die Fähigkeit, sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede ihrer Perspektiven sowie ihres leiblichen In-der-Welt-Seins wahrzunehmen. Auf individueller Ebene wird die organische und soziale Funktion der Individuen zerstört, weil ihnen die Grundlage für jede Selbstaktualisierung im gemeinsamen Handeln entzogen wird. Hinter einem solchen Streben liegt der Versuch, den öffentlichen Raum, in seiner Funktion der Erweiterung von Freiheit und Macht, zu destruieren. Im Gegenzug hierzu steht Menschs Idee einer Zivilgesellschaft als Resultat des offenen und öffentlichen Austauschs. »It is based on the overlap and excess of the interpretative accounts of the shared political and social space. Such interpretations point to the plurality of projects that overlap, yet differ. In civil society, the disclosed presence of the social space is multiply determined by such projects.« 15 Abschließend sollen diese Überlegungen zur Funktion des öffentlichen Raumes mit Habermas’ Konzeption einer kommunikativen Vernunft parallelisiert werden: Die wesentliche Funktion der kommunikativen Vernunft besteht in ihrer Reparaturleistung im sinnstiftenden Netz der Interpretationen. Die gegenseitige Offenbarung verschiedener Perspektiven und Weisen des Weltengagements bilden die inhaltliche Grundlage solcher Verhandlungen. Habermas selbst spricht davon, dass es ihm hierbei nicht nur um eine ideelle Realisation geht, sondern um die Praktikabilität, welche im Handeln erprobt wird. Eine Favorisierung der sprachlichen Ebene birgt allerdings die Gefahr, die leibliche Bedingtheit eines solchen Perspektivenwechsels zu übergehen. Insbesondere wird, unter Ausschluss des Leibes, die Funktion der kommunikativen Macht nicht klar. 16 Die leibfundierte Interpretation des Öffentlichen liefert zudem einen Beitrag zur Frage nach der »illokutionären Absicht«. Habermas J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 89 ff. Vgl. hierzu Gabriel Marcel, welcher diese Funktion des Körpers herausstreicht: »Verfügungsfähig bin ich nur durch und über den Körper, und nur insofern ich verfügen kann, habe ich einen Körper.« (Marcel, Leibliche Begegnungen, a. a. O., 29.)

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wurde vermehrt vorgeworfen, dass eine solche Absicht im politischen Raum nur in Ausnahmefällen gegeben ist. Gegen eine solche Kritik kann jedoch das Argument hervorgebracht werden, dass die gegenseitige leibliche Offenbarung von Sinn eine grundlegende Funktion des politischen Raumes ist. Hier stellt das intersubjektive Zur-Welt-Sein eine primordinale Modalität des Menschen dar. Das heißt, die illokutionäre Weise ist zugleich eine primordinale Seinsweise des Menschen. Demgegenüber ist der Rückzug in die private Subjektivität, welcher sich als perlokative Absicht äußert, eine sekundäre Modalität, die dem Raum des Privaten und der Gewalt zugeordnet werden kann. Sie reduziert das Subjekt auf den Erhalt seiner organischen Funktionen. Resümierend folgt hieraus, dass wir uns nur so lange im öffentlichen Raum mit Anderen befinden, als wir für deren Perspektive offen bleiben. Ein zweckrationales Denken, welches sich in die Monade des Selbst zurückzieht, hat hingegen die Sphäre des Politischen bereits verlassen. Ein solcher Rückzug verwehrt sich in eins der Erweiterung der eigenen Macht, der Freiheit und der Selbstwerdung. Ein auf den privaten Raum reduziertes Individuum ist seiner sozialen Funktionen beraubt. Im Folgenden wird gezeigt, warum die Dominanz der strategischen Vernunft (im Sinne einer perlokativen Absicht) und der Rückzug in den privaten Raum als Konsequenzen der Ökonomisierung des politischen Raumes gesehen werden können. Grund hierfür ist die Wettbewerbsgesellschaft, in welcher das Verhältnis zu Anderen auf eine Art ›statistische Berechenbarkeit‹ des Vergleichs reduziert wird.

5.2 Ökonomisierung des Öffentlichen als Folge der strategischen Rationalität 17 Für die Mehrheit der Bürger ist heutzutage nicht mehr klar, inwiefern der öffentliche Raum überhaupt einen Gewinn darstellt. Als eine mögliche Auswirkung dieser Unsicherheit kann z. B. die zurückgehende Wahlbeteiligung in den USA oder in Deutschland gesehen werden. Auf theoretischer Ebene wird z. B. von radikal liberalistischen Ansät-

Viele der hier folgenden Gedanken verdanke ich den intensiven Gesprächen mit James Mensch.

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zen der Staat als eine Art »Gefahr« gesehen, vor dessen Übermacht die Freiheit des Individuums zu schützen ist. Arendt diagnostiziert in ihrer gesellschaftskritischen Analyse deshalb den schleichenden Niedergang des Öffentlichen. Zu den Ursachen zählt sie u. a. die Absorption des Einzelnen durch Arbeit als lebenstechnische Notwendigkeit, den Konsum als Merkmal der späten kapitalistischen Tauschgesellschaften, das ökonomische Denken sowie den Einzug des Individualismus in den politischen Raum, welcher zur Vernichtung des politischen Subjekts führt. 18 Ich möchte im Folgenden zeigen – und mit Blick auf Habermas –, dass eine subjektzentrierte Vernunft Vorläufer bzw. Bedingung einer ökonomischen Daseins- und Denkweise ist. Die Vorstellung einer subjektzentrierten Vernunft geht auf die Metapher zurück, der Mensch sei eine Monade, welche vor dem Eindringen des Fremden und Anderen zu schützen sei. Der Mensch wird damit auf seine Unvertretbarkeit als leiblich-biologische Entität reduziert, welche sich gegen andere Entitäten zu behaupten hat. 19 Die Ausweitung der subjektzentrierten Vernunft auf die Öffentlichkeit führt deshalb zu einer Ökonomisierung des Politischen, d. h. die Reduktion des Subjekts auf zahlenmäßige Verhältnisse. Daraus folgt die Rekonstruktion der Gestaltung des öffentlichen Raumes, welche der Struktur der Ökonomie folgt. Dies ist ein reziproker Prozess: Durch die Benutzung eines so verstandenen Außenraumes wird diese Denkweise unterstützt, führt rückwirkend zu einer Rekonstruktion des Selbstverständnisses des Subjekts und definiert so die Selbstverwirklichungspotentiale der Mitglieder einer Gesellschaft. Die phänomenologische Idee einer leibfundierten Selbstverwirklichung 20 im Sinne der Erweiterung des »Ich kann« spielt auch hier eine zentrale Rolle. In diesem Fall steht das »Ich kann« als »Leerstelle«, die beliebig ausgefüllt werden kann: von »Ich kann etwas in der Welt verändern« und »Ich kann etwas von Dauer erschaffen« bis »Ich kann essen, trinken, auffallen«. Die Frage ist deshalb, welche Art des »Ich kann« spielt in westlichen Gesellschaften eine dominante Rolle? Vgl. zur Gesellschaftskritik in H. Arendt, Vita activa, a. a. O. Vgl. weiter oben zu den verschiedenen Formen der Vernunft. 20 Selbstverwirklichung hier im wörtlichen Sinne: Welchen Ideen, Konzepten gebe ich durch die Taten meiner Hände oder durch meine Worte eine Wirklichkeit in der sichtbaren-öffentlichen Welt. 18 19

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Bevor diese Frage adäquat beantwortet werden kann, möchte ich nochmals an die von Arendt entwickelten Tätigkeiten des »Ich kann« erinnern: Das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln. Arendt kritisiert insbesondere die Reduktion des Individuums auf ein arbeitendes und konsumierendes Wesen. In diesem Fall würde die Leerstelle des »Ich kann durch die Sätze »Ich kann arbeiten« und »Ich kann konsumieren« gefüllt werden. Eine solche Reduktion des Potentials der Selbstverwirklichung schlägt sich selbstverständlich in der Städteplanung nieder bzw. umgekehrt wirkt die Städteplanung auf die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten der Bürger: An die Stelle eines um den Stadtkern konzentrisch gewachsenen Stadtbildes werden Großstädte heutzutage nach dem Vorbild des Reißbrettes künstlich konstruiert. Es gibt keine Plazas, welche zu einem sozialen Miteinander einladen, sondern vielmehr dominieren Shopping Malls und Einkaufszentren den öffentlichen Raum und gehören zu den wenigen öffentliche Plätzen, an welchen sich fremde Menschen begegnen. Die Erfindung des Autos macht es fernerhin möglich, dass Menschen nicht mehr eng gedrängt an einem Ort, sondern in weiter Entfernung voneinander leben können. Die »Zwischenräume« zwischen öffentlichen Räumen werden verzweckt und funktionalisiert: Universalisierung, Standardisierung und so wenig körperlichen Kontakt wie möglich. 21 Umgekehrt wird das Auto zur Notwendigkeit, um überhaupt einen solchen Raum »bewohnen« und benutzen zu können. Menschen, welche sich kein Auto leisten können, bleiben von einer Benutzung des Raumes ausgeschlossen.22 Die Gegenstände solcher öffentlichen Plätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur in einer einzigen Weise benutzt werden können: Sie werden gekauft und konsumiert. Eine solche städtische Architektonik reduziert die Tätigkeiten und damit die Selbstaktualisierung auf das Arbeiten und Einkaufen. Und weil in solchen Gesellschaften Identität auf die Möglichkeiten des Arbeitens und Konsumierens beschränkt ist, bedeuten der Verlust der Arbeit und die Armut in eins einen Verlust an Identität. Aus diesem Grund besteht der wesentliche Fokus des politischen Handelns auf der Optimierung des Konsumierens und Produzierens, d. i. auf der Vgl. hierzu die ausführlichen und interessanten Analysen zum Zusammenhang zwischen Stadtbild, Körperwahrnehmung und bürgerlicher Kultur von Richard Sennett, Flesh and Stone, New York 1996, 357 ff. 22 Vgl. hierzu R. Sennett, Flesh and Stone, a. a. O., 360 ff. 21

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Schaffung von Arbeitsplätzen, das Ankurbeln der Wirtschaft usw. 23 »In the West, this undermining is largely economic. It is a function of our increasing tendency to understand presence in economic terms. To the point that we do, people will appear as economic agents. Their world, correspondingly, will consist of goods that can be measured in economic terms. Politics in such a world will take as its sole task the ensuring of the smooth functioning and growth of the economy. It will see its job as increasing the gross domestic product by promoting exports, enlarging domestic consumption by increasing employment, and ensuring that the educational and research capacities of the nation are such as to maintain its competitive position.« 24 Geographisch hat diese Art der »kreativen Destruktion« des Kapitalismus insbesondere in Amerika ganze Städte und Regionen zerstört. 25 Außerhalb der Städte liegende Shopping Malls – die ironischerweise oft eine kitschige Imitation europäischer Dörfer darstellen – haben die reale Dorfkultur mitsamt ihrer kleinen Läden, Cafés und Plazas aussterben lassen. 26 Die Tätigkeit des Konsumierens zeichnet sich, im Gegensatz zu anderen Tätigkeiten, vor allem dadurch aus, dass die Dinge angeeignet und dann »verbraucht« werden. Diese besondere Eigenschaft des Konsums lässt den öffentlichen Raum in seiner Funktion absterben: Richard Sennett 27 weist hier auf eine interessante Korrelation von Genuss und Individualismus hin, welche zum Verschwinden des öffentlichen Raumes führt. Hinter dem Streben nach Genuss steht nämlich eigentlich das Bedürfnis, sich wieder in die Abgeschlossenheit und Geschütztheit des Mutterleibes zurückzubegeben. Der Genuss als solches kann, genauso wie das Essen, Schlafen oder Sterben, von niemandem übernommen und mit niemandem geteilt werden. Es reduziert den Menschen ganz auf seine körperliche Unersetzlichkeit. Im Akt des Genusses selbst ist der Mensch ganz auf seine Innerlichkeit gerichtet und Vgl. H. Arendt, Vita activa, a. a. O. J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 86 f. 25 Vgl. hierzu die genauen Analysen von Jean Baudrillard, The Consumer Society. Myths and Structures, Thousand Oaks, CA, 1998. 26 Diese »Shopping Malls« gleichen äußerlich einem traditionellen Dorf, es ist aber ein Dorf in dem das Rathaus bzw. die Kirche die Informationstation ist, wo man sich nach dem billigsten Laden für ein Paar Jeans erkundigen kann. Durch die Lautsprecher, welche an jeder Ecke angebracht sind, hört man viertelstündlich die neuesten Preisknüller und Schnäppchen. 27 R. Sennett, Flesh and Stone, a. a. O., 370 ff. 23 24

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nimmt in diesem Moment äußere Reize nur gedämpft wahr. Es ist ein Zustand der »Selbstgenügsamkeit«, d. h., er ist in sich selbst ruhend und geht ganz in der Privatheit seines Genusses auf. Konsum ist so der Ausdruck des Bedürfnisses nach Abstand, nach Individualisierung und nach Einsamkeit. Die Andersheit des Anderen wird nicht mehr wahrgenommen, sondern nur mehr das Eigene: »We will never experience the difference of others until we acknowledge the bodily insufficiencies in ourselves. […] without significant experiences of self-displacement, social differences gradually harden because interest in the Other withers.« 28 Die Selbstzufriedenheit, der Konsum und übermäßige Genuss führt zu Passivität und einer Verhärtung der Fronten zwischen Selbst und Anderem. Ein gemeinsamer, öffentlicher Raum verschwindet. Das Problem des heutigen Konsums besteht ferner darin, dass die verkauften Produkte oftmals einer Massenproduktion entstammen und dadurch zur Uniformierung der Individuen beitragen. Die Lebenszeit der Produkte ist flüchtig und der Gegenstand wird im wahrsten Sinne des Wortes »aufgebraucht«. 29 Diese Flüchtigkeit der Gegenstände führt regelrecht zu einem »Aussterben« oder »Auslaufen« der gemeinsamen Welt. Die Dinge fliehen in den privaten Raum, in welchem sie vom Organismus »verbraucht« werden. Weil aus diesem Prozess nichts von Dauer hervorgeht, kommt diese Bewegung zu keinem Ende: Es werden immer neue Produkte produziert, welche im privaten Bereich verschwinden. »As for freedom, its primary manifestation will be that of economic choice. In the words of the free market theorists, each purchase a person makes will count as a kind of vote. In such voting, freedom will consist of choosing between competing brands. Given the power of advertising and the media to sway our choices, such freedom will, of course, be open to manipulation. Insofar as politics is thought of in these terms, the same forms of manipulation will be available to those with an economic interest in what the voters choose. Thus, one aspect of this reduction of presence will be an inherently oligarchic system. When purchases count as votes, those with more money by definition have more votes. When political choices are understood as choices between competing brands, political candidates will Ebd., 370 ff. Oft sind die einzelnen Produkte so billig, dass sich eine Reparatur nicht lohnen würde.

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be marketed as such. The money required for such marketing will increase the political power of wealth.« 30 Politische Präsenz wird zur vorhersagbaren Ware und politische Handlung zur Wahl zwischen Produkten. Der Phänomenologe Emmanuel Lévinas 31 beklagt, dass das Sein des Seienden nur mehr als Substanz begriffen würde. Dies habe zu einer Art »Apotheose der Arbeit« geführt. Ein auf die Arbeit reduziertes Sein des Menschen nimmt die Welt nur mehr als Materie wahr und eignet sie sich in seinem Bedürfnissen an. Diese Weise des In-derWelt-Seins greift auch auf das geistige Erfassen der Welt über und ein solches Substanzdenken (d. i. insbesondere das naturwissenschaftliche Denken) reduziert die Welt auf eine begreifbaren Materie. »Was es [die Herrschaft des Seienden] berührt, wird im Licht der Vernunft zu seinem Eigentum.« 32 Ein solches Denken löscht damit die Andersheit, die Unvorhersehbarkeit und den Widerstand des Seins aus. Es vermag sich zwar gegen die Unsicherheiten des Lebens zu versichern – dies reicht von der Vorhersage von Naturkatastrophen bis zur »Lebensversicherung« –, es entzieht dem Menschen jedoch die ihm eigentümliche Fähigkeit zur Transzendenz. Denn in der Welt des Arbeitens, Konsumierens und Besitzens bleibt der Mensch wesentlich allein. Als die ursprünglichste Wirklichkeit außer uns selbst setzt Lévinas im Gegensatz dazu nicht »das andere« (il y a), sondern den Anderen. Das heißt die Erfahrung der Transzendenz. Denn die Chance, aus der ewigen Sorge um sich selbst auszubrechen, kommt uns einzig über die Andersheit des Anderen, also in der zwischenmenschlichen Begegnung, zu. Denn der Andere ist derjenige, welcher sich grundlegend meiner eigenen Verfügungsgewalt entzieht. Zwar vermag ich ihn auf ein Objekt zu reduzieren, aber im eigentlichen Sinne seines Wesens übersteigt er immer schon das Bild, das ich mir von ihm gemacht habe. Der Mangel solcher Transzendenzerfahrungen führt in der Gesellschaft zu folgender Kompensation: Der innere geistige Hunger nach Transzendenz, den Lévinas auch als desir bezeichnet, wird durch das rein materielle Bedürfnis nach Selbsterhaltung (bessoins) ersetzt. Die J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 86 f. Folgender Abschnitt bezieht sich auf die eingehenden Analysen von Emmanuel Lévinas (Totalité et Infini, Essai sur l’Extériorité, La Haye 1961). 32 Ludwig Wenzler, in einem Nachwort in: E. Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1989, 69. 30 31

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Substitution von Begehren durch Bedürfen hält so die Ökonomie der materiellen Welt am Laufen. Diese Form der bedürfenden Selbsterhaltung ersetzt darüber hinaus die Funktion der Aktualisierung von Einzigartigkeit im öffentlichen Raum. Aktualisierung von Identität erfolgt nicht mehr in Form von politischem Handeln, Sprechen oder Herstellen, sondern wird durch die Konsumption von Markenartikeln übernommen. Kaufen wird so zur identitätsstiftenden Ersatznahrung, weil es die einzige Art und Weise ist, wie ein Subjekt öffentlich in Erscheinung treten kann bzw. handelnd sich selbst konstituiert. Verstärkt wird dieser Aspekt durch die Architektur und Größe von Städten, in welchen die Begegnung zwischen Menschen primär auf das Sehen reduziert ist, d. h., Mitmenschen werden vor allem als bekleidete Körper wahrgenommen. Das Aussehen, in Form von Kleidung, Accessoires und Körperdesign, tritt an die Stelle des Dialogs. Aus diesem Grund kommt dem Körper-sein-für-Andere, d. h. der Konsumware »Körper«, eine so große Bedeutung zu. Denn durch das Fehlen einer Kommunikation ist uns der Andere nur als Objekt gegeben und umgekehrt sind auch wir bloßes Objekt für Andere. »Sobald der Körper wie ein Instrument verwendet wird, sobald leibliche Anwesenheit als Hingabe an das unverfügbare Geschehen verweigert wird, ist die Begegnung unmöglich geworden.« 33 Die moderne Zivilisation ist überfrachtet mit Fremdheit und konfrontiert den Menschen auf diese Weise mit seiner inneren Unvollkommenheit und Verletzlichkeit. 34 Das Phänomen der Fremdheit wirkt in »ökonomisierten Gesellschaften« jedoch extrem verstörend: Identität kommt dem Subjekt nicht mehr durch die Einzigartigkeit seines Handelns zu, sondern vielmehr über die Konsumption von Massenwaren. Dabei sind weder die Produkte von Dauer, noch ist deren Konsumption einzigartig. Hieraus ergibt sich eine Identifikation durch Abgrenzung. Beispielsweise: »Ich bin jemand, der nur ›…‹ kauft«, im Gegensatz zu Menschen, die »…« kaufen. Auf jede Infragestellung oder Alternativverhalten reagiert das Selbst mit Abwertung, weil Pluralität als Bedrohung der eigenen Identität erfahren wird. »Dass die Menschen auf die Flut der Unterschiede G. Marcel, Leibliche Begegnungen, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit, a. a. O., 39. »This is the work civilization does: it confronts us, in all our frailty, with contradictory experiences, which cannot be pushed away, and which make us feel therefore incomplete.« (R. Sennett, Flesh and Stone, a. a. O., 372.)

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mit Abkapselung antworten, lässt sich auf eben jene Kräfte zurückführen, die die Trennung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit bewirkt haben. Diese Kräfte haben der Komplexität ihren humanen Wert genommen.« 35 Hieraus folgt, dass den von Arendts zentralen Faktoren der Identitätsbildung – Pluralität, Fremdheit und Differenz – nun eine konträre Bedeutung zukommen. Im ersten Fall wurde die eigene Identität als der Prozess von Integration und Überlagerung fremder Sichtund Seinsweisen gesehen. Im zweiten Fall werden gerade diese Faktoren als existentielle Bedrohung der Identität erfahren. Gemeinsam mit einer »naturwissenschaftliche Interpretation« 36 dieser humanen Verhältnisse führt dies zu einer Reduktion auf die Unterscheidung zwischen »wahr« und »falsch« und suggeriert, dass es nur eine »richtige« Interpretation oder Seinsweise geben kann, welche durch »richtiges« Nachdenken für jeden nachvollziehbar ist. Eine hieraus hervorgehende Vernunft, welche von der Allgemeinheit von Leib und Welt abstrahiert, um in der Sphäre des Privaten zu verweilen, reduziert den öffentlichen Bereich auf die Kategorien des Messens bzw. der Quantitäten. Ein Mehr für den Anderen bedeutet zugleich ein Weniger für mich selbst, weil der auf seine organische Daseinsform reduzierte Mensch einzig in seiner unteilbaren Körperlichkeit gesehen wird. Damit gehorcht ein solches Denken den Gesetzen der Ökonomie. Fremdheit und Komplexität können deshalb für die subjektzentrierte Vernunft nur eine Bedrohung sein, weil der Andere sowohl den eigenen Wahrheitsanspruch als auch den Anspruch auf Güter in Frage stellt. Marcel bezeichnet dies als wesentliche Beziehungsstörung: »Im Leben der Einzelnen wie der Gemeinschaften ergibt sich nämlich ein falsches Selbstverständnis, das zumeist versucht, sich im Widerspruch und Gegensatz zu anderen zu konstituieren und es resultiert aus einer Störung der Beziehung zu diesen anderen.« 37 Marcel leitet daraus einen Zusammenhang zwischen einem gestörten Selbstverständnis einerseits und gesellschaftlichen Krankheiten, Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen andererseits ab. Individuelle und gesell-

R. Sennett, Flesh and Stone, a. a. O., 169. Vgl. weiter oben die Gegenüberstellung von humanistischer und naturwissenschaftlicher Denkweise. 37 G. Marcel, Zwischenleibliche Begegnungen, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit, a. a. O., 37. 35 36

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schaftliche Krankheiten sind für ihn aus diesem Grund eine Störung des »Zwischen« 38. Abschließend kann festgehalten werden, dass die Reduktion des leiblichen »Ich kann«, welche sich in der Gestaltung der Öffentlichkeit in Dörfern und Städten sowohl architektonisch als auch ideell realisiert hat, in eins eine Reduktion von Lebenssinn bedeutet. In einer solchen Reduktion kündigt sich eine Form der Gewalt an, insofern Gewalt als die physische oder psychische Reduktion des »Ich kann« und damit der Möglichkeiten gesehen wird, wie sich ein Mensch qua seines Leibes in der Welt handelnd aktualisiert. Die Ökonomisierung des politischen Raumes als eine Folge des subjektzentrierten Vernunftgebrauchs führt so zum passiven Rückzug der Individuen in die eigene Privatheit, in welcher sie sich vor der Komplexität und Fremdheit zu schützen versucht. Diese Entwicklung kann auch als Emigration aus dem Öffentlichen bezeichnet werden und ist das genaue Gegenteil einer kommunikativen-humanistischen Vernunft bzw. eines mitfühlenden Seins-zum-Anderen. Sennett sieht in den Erfahrungen der eigenen Unzulänglichkeit oder auch des Schmerzes, welche allesamt einen Bruch mit dem eigenen Selbst bedeuten, einen Ausweg aus der Passivität, Individualisierung und Entfremdung. 39 Die Erfahrung von Unzulänglichkeit und Leid erschüttert die Abgeschlossenheit und Privatheit des Selbst und führt zu der Einsicht, dass wir weder abgeschlossen noch kohärent sind, d. h. dass die Privatheit des Individuums tatsächlich eine Illusion ist und nur so lange aufrechterhalten werden kann, solange alle Störungen der privaten Lust und des Konsums durch die Außenwelt abgeschirmt werden. Durch diesen Bruch mit dem eigenen Selbst wird das Individuum für die Perspektive des Anderen buchstäblich »aufgebrochen« und erfährt, dass es nicht alleine ist. Aus diesem Grund plädiert Sennett für eine öffentliche Bezeugung von Schmerzen, um so Mitgefühl und Mitsein mit Anderen zu kultivieren. Die Erfahrung von Differenz in multikulturellen Städten vermag eine ähnliche Erfahrung der Dissoziation auszulösen: »Man könnte diese nicht-lineare Erfahrung des Unterschieds auch als émigration extérieure bezeichnen. Man begibt sich an den Rand des eigenen Selbst. Aber gerade an diesem Rand kann man 38 39

Vgl. ebd., 38. R. Sennett, Flesh and Stone, a. a. O., 370 ff.

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Körper, Schuld und Strafe

kein Bild mehr von sich selbst gewinnen. […] Zu dieser Reise aufzubrechen bedeutet, das moderne, säkulare Experiment zu wählen, aus dem Mitgefühl hervorgeht.« 40

5.3 Körper, Schuld und Strafe Der Zusammenhang zwischen Körper, Schuld und Strafe kann im Folgenden nur angedeutet, jedoch nicht ganz ausgeführt werden. Es sollen, dennoch, die Gefahren einer rein mediatisierten Gesellschaft zumindest skizziert werden. Als Körper befindet sich der Mensch als physische Entität immer schon in einem öffentlichen Raum und ist ein Teil dieser Welt. Foucault betont deshalb, dass der Körper die unübergehbare Grundvoraussetzung des öffentlichen Raumes sei, weil über ihn durch Disziplin, Bestrafung und Überwachung auf den Menschen eingewirkt werden kann. Das heißt, der Mensch als Körper wird greifbar und damit einem System untergeordnet: 41 Er wird sozusagen zum ›staatlichen Anker‹ für Disziplinierung und Gleichschaltung. Und die gesellschaftliche Ordnung »bohrt« sich in das Subjekt ein. Foucault beschreibt den gesamten öffentlichen Raum als entfremdende Ordnungsstruktur, innerhalb derer es nur wenige Orte gibt, an welchen sich das Subjekt »frei« bewegen kann. Insbesondere in Städten sind alle Bewegungen genauestens »choreographiert« und geordnet: Verkehrsordnung, Gehbestimmungen an der Rolltreppe, Anstellen an der Kasse etc. Durch großräumige Überwachung z. B. in Form von Videokameras an öffentlichen Plätzen wie Bahnhöfen, Einkaufszentren oder Banken sowie Ordnungshütern wird sichergestellt, dass die Ordnung aufrechterhalten wird. Ziel ist die maximale Vorhersagbarkeit der Bewegungen eines jeden Subjekts. Allerdings ist nicht immer klar, ob gerade eine Überwachung stattfindet oder nicht (vgl. das Prinzip von Benthams Panoptikon). Die Regeln werden deshalb internalisiert und auch ohne Überwachung eingehalten. Hieraus erschließen sich nach Foucault die Ursprünge des Gewissens. Interessant ist hierbei, dass sich selbst etymologisch ein Zusammenhang zwischen »self-conscious« und »conscietia« nachweisen lässt. Die Sichtbarkeit des Menschen spielt dabei eine wichtige Rolle, 40 41

Ebd., 194. Vgl. M. Foucault, Surveiller et punir, a. a. O.

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Konsequenzen einer leibfundierten Vernunft für den öffentlichen Raum

d. i. der Fakt, dass der Mensch qua Leib identifizierbar ist und sich deshalb für seine Taten verantworten muss. Denn indem ich mir selbst als Objekt gegeben bin, weiß ich, dass mich der Andere auf dieses sichtbare Ding und seine Taten reduzieren kann. Aus diesem Grund schließt Jean-Paul Sartre: »Es genügt, dass der Andere mich anblickt, damit ich das bin was ich bin.« 42 Wichtig ist also das »Mitwissen« des Anderen: In der Objektivierung meiner Selbst wird mir die Zukunft entzogen, weil mich der Andere auf meine Taten in dieser Welt und in diesem Augenblick reduziert. 43 Als Körper bin ich in meiner Schuld dem Urteil des Anderen ausgeliefert, d. h., man vermag mir die Freiheit zu nehmen, man kann mich quälen und sogar töten. 44 Das Gleichnis des Gygesring bei Platon 45 bespricht den umgekehrten Fall, d. i. die impliziten Gefahren, welche entstehen, wenn der Mensch nicht mehr qua Leib an den öffentlichen Raum und seine Ordnungen gebunden ist. In diesem Fall ist er kein Teil der Gesellschaft, sondern stellt sein eigenes Urteil »über« die Gesellschaft. Und weil er weder Sanktionen noch Schuldbezichtigungen fürchten muss, flieht er der Verantwortung für sein Denken und Handeln, d. h., sein Denken ist ein radikal »subjektzentriertes« Denken, welches den Raum des Öffentlichen hinter sich gelassen hat.

5.4 Die entkörperlichte Sprache der Medien Sowohl für Arendt als auch für Habermas muss menschliches Handeln sprachlich strukturiert sein, insofern es dabei um selbstaktualisierendes bzw. kommunikatives Handeln geht. Oder in Habermas’ Worten: Verständigungshandeln muss von Sprache begleitet werden, damit der Aktor bekunden kann, wie er etwas versteht oder interpretiert (ND 64 ff.). Oder bei Arendt: »So steht das Handeln und Sprechen nicht nur im engsten Verhältnis zu dem öffentlichen Teil der Welt, den wir gemeinsam bewohnen, sondern ist diejenige Tätigkeit, die einen öffentlichen Raum in der Welt überhaupt erst hervorbringt.« 46 Über die

42 43 44 45 46

J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, a. a. O., 473. Ebd., 466 ff. Vgl. M. Foucault, Surveiller et punir, a. a. O. D. i. ein Ring, der den Träger unsichtbar macht. H. Arendt, Vita activa, a. a. O., 249.

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Die entkörperlichte Sprache der Medien

Sprache erreichen Menschen auf diese Weise eine gemeinsame Sinnsphäre, in welcher sie sich handelnd zugleich selbst konstituieren. 47 Für Arendt ist jedoch Sprechen allein keine Handlungsform, sondern lediglich ein Mittel des Handelnden. Sie sieht deshalb eine immanente Verknüpfung von Handeln und Sprechen, weil auf diese Weise das Subjekt in seinem Sein in Erscheinung tritt. Auch wenn Arendt den Körper nicht erwähnt, ist er durch seine Sicht- und Hörbarkeit zumindest angedeutet. Für sie konstituiert sich deshalb im Handeln das Machtpotential solcher kommunikativer Strukturen: Menschen verwirklichen sich sprechend und handelnd; sie gestalten die Wirklichkeit mit und verleihen dadurch sich selbst in Relation zu einer solchen Wirklichkeit Bedeutung und Dauer. Für Habermas dagegen bildet das Zentrum der sozialen Räume nicht der Körper, sondern die Sprechsituation (ND 92 ff.). Dennoch kritisiert er, dass die Massenmedien die Öffentlichkeit von der Straße in den virtuellen Raum abdrängen. Die aktuelle Transformation des öffentlichen Raumes durch Printmedien, Fernsehen und Internet führt zu einer Destruktion seiner originären Bedeutung, weil der Einzelne in diesem virtuellen Gefüge an Bedeutung verliert: Er ist nicht mehr verortbar bzw. tritt nicht notwendigerweise in Erscheinung. Eine erste entscheidende Veränderung ist, dass das passive »Publikum« an die Stelle der im Sprechen aktiv konkretisierenden Person tritt. Der Handelnde wird substanzloser und ungreifbarer. 48 Er tritt nicht mehr in seiner Leiblichkeit und damit Einzigartigkeit in Erscheinung, sondern vermag sich hinter der Anonymität des Bildschirms zu verbergen. In diesem Sinne nimmt das Subjekt im öffentlichen Raum keinen physischen Ort mehr ein und entzieht sich so zugleich der Möglichkeit der Sanktion bzw. der Verantwortung. Öffentlichkeit wird im überspitzten Sinn zu einem Netz zusammenhangsloser Informationen, das keiner Person mehr eindeutig zugeordnet werden kann. Für beide spielt der Begriff der Intersubjektivität, insbesondere die intersubjektive Struktur des Selbst, eine zentrale Rolle. 48 Inwiefern das veränderte Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit die Möglichkeit politischen Handelns beeinflusst, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden, und ich verweise auf die interessante Dissertation von Mareike Gebhardt über einen Vergleich von H. Arendt und J. Habermas (M. Gebhardt, Zwischen Ideal und Utopie. Zur Erosion und Rekonstruktion der politischen Öffentlichkeit bei Hannah Arendt und Jürgen Habermas, Manuskript). Ihr sind auch wichtige Anregungen für den obigen Vergleich zwischen Habermas und Arendt zu verdanken. 47

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Konsequenzen einer leibfundierten Vernunft für den öffentlichen Raum

Dieser notwendige Zusammenhang von ethischer Verantwortbarkeit und leiblicher Verortung wird in der bereits erwähnten Parabel Platons über den »Gyges-Ring« thematisiert. Die dahinterstehende These ist, dass wir in dem Maße aus den Konventionen und Normen einer Gesellschaft ausbrechen, als wir unsere physische und wiedererkennbare Verortung, d. i. unseren sichtbarer Körper, verlieren. 49 Ein Mensch ohne Körper ist deshalb auch nicht mehr zurechnungsfähig, weil er nicht mehr von gesellschaftlichen Ordnungen erfasst werden kann. Umgekehrt stellt der Körper denjenigen Ort dar, an welchem Macht sichtbar wird. 50 In heutigen Strafsystemen bildet beispielsweise die Überwachung das Fundament absoluter Kontrolle. Diese ist aber an die Sichtbarkeit des Körpers gebunden. Wer sich der Sichtbarkeit entzieht, entzieht sich in eins dem System der Normierung und Disziplinierung. Insbesondere das Anwachsen des virtuellen Raumes durch die globale mediale Vernetzung führt zu einer Abstraktion vom Körper und damit von der Verantwortung für das eigene Sprechhandeln in einer Gesellschaft. »Die Vorstellung, dass alles im selben Augenblick überall sein kann, nährt die Utopie, die gleichzeitig Atopie ist.« 51 Beispiele hierfür sind die stete Informationsflut durch Medien oder auch die Kontaktaufnahme über Skype, weil sie räumliche wie zeitliche Distanzen überbrücken. Der Mensch muss nirgends mehr körperlich anwesend sein, sondern sein virtuelles Dasein ersetzt die physische Präsenz. Auf der anderen Seite stehen beispielsweise anonyme Chaträume. Sie ermöglichen es, mit anderen aus dem anonymen Raum des Privaten heraus in Kontakt zu treten. Auf sogenannten Blogs können ferner Informationen anonym veröffentlicht werden. All diesen Möglichkeiten der medialen Kontaktaufnahme und Verbreitung von Informationen ist gemein, dass sie »entkörperlicht« und damit anonym bleiben. Darüber hinaus vermag sich der Benutzer hinter pluralen Persönlichkeiten zu verstecken. Ferner ermöglicht die »entkörperlichte Begegnung« es, sich jederzeit aus einer Kommunikation »auszuklinken«

Vgl. zum Zusammenhang zwischen Verantwortung und Sichtbarkeit J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, a. a. O. 50 Vgl. M. Foucault, Surveiller et punir, a. a. O. 51 P. Virilio, Die Auflösung des Stadtbildes, in: J. Dünne u. S. Günzel, Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, 266. 49

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Gefühl, Ethik und Sensitivität

und in die private Sphäre zurückzuziehen. Von dort aus agiert der Mensch nur mehr als Beobachter, Voyeur, Außenstehender, Unbeteiligter, welcher sich nicht mehr der Gefahr der Entgrenzung aussetzt. Diese Kombination aus unverbindlichem und entkörperlichtem Dialog minimiert die Sensibilität für die physische Realität und Einmaligkeit des Dialogpartners. Die Fähigkeit für das Mitgefühl geht verloren, weil sie primordinal in der leiblichen Resonanzfähigkeit wurzelt. Umgekehrt werden Informationen aus dem virtuellen Raum jenseits sozialer Kontakte aufgenommen und verarbeitet. Durch die mangelnde kommunikative Relativierung des Wahrgenommenen verdichten sich die Informationen zu weitgehend idiosynkratischen Sinnsystemen. Dieser Rückzug der Subjekte ist deshalb nicht nur ein »Schönheitsfehler« moderner Gesellschaften. Gabriel Marcel bringt dies auf den Punkt, wenn er sagt: »Das Mit-Sein ist ursprünglich. Das menschliche Sein ist nicht nur nicht ablösbar; es ist vielleicht nichts anderes als dieses Beim-Anderen-Sein. Psychische Erkrankung ist darum immer auch in irgendeiner Weise soziale Krankheit.« 52 Dabei geht es eben nicht nur um das Individuum, sondern insbesondere um die Auswirkungen auf das Funktionieren des politischen Raumes als solchem. 53

5.5 Gefühl, Ethik und Sensitivität Heutzutage gilt nicht nur im politischen Raum die gängige Prämisse, dass nur der »unbeteiligte Beobachter« vernünftige Aussagen zu treffen vermag. Eine solche Aussage impliziert, dass eine gültige oder allgemeine Aussage nur jenseits der Horizontalen des intersubjektiven Raumes gefunden werden kann. Im Kontext der Auseinandersetzung mit einer leibfundierten Vernunft habe ich auf die grundlegende Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlichem und humanistischem

G. Marcel, Leibliche Begegnungen, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit, a. a. O., 25. Die konkreten Pathologien, welche sich aus der Ignoranz dieser anthropologischen Grundbestimmung des Menschen ergeben, wurden ausführlich von Axel Honneth dargelegt (vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992, inbs. Kapitel 5 und 6 über die Weisen intersubjektiver Anerkennung bzw. Missachtung). Und obgleich Honneth sich vor allem auf George H. Mead und Hegel bezieht, verlaufen seine Schlussfolgerungen weitestgehend parallel mit dem hier vorgestellten Ansatz.

52 53

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Konsequenzen einer leibfundierten Vernunft für den öffentlichen Raum

Denken hingewiesen. 54 Es wurde dargestellt, dass ein naturwissenschaftliches Denken den Bereich des Politischen verlassen hat, weil es entweder in die Abstraktion des Subjektzentrierten oder des absoluten Beobachters abgetaucht ist und damit in keiner Verbindung zur intersubjektiven Welt steht. Der Raum des Öffentlichen wird in dem Maße destruiert, als das naturwissenschaftlich-subjektzentrierte Denken einer gesellschaftlichen Sinnkonstitution zugrunde gelegt wird. 55 Im Folgenden vertrete ich die These, dass nichts die intersubjektive Sinnstiftung als Quelle der politischen Entscheidung ersetzen kann und darf. Das heißt, der tatsächliche Dialog zwischen Menschen als Fundament des Politischen kann weder durch mediale Vermittlung noch durch wissenschaftliche Abstraktionen ersetzt werden. Einer solchen Argumentation liegt keine wahrheitstheoretische, sondern allen voran eine ethische Beweisführung zugrunde. In der Diskursethik konstatiert Habermas, dass es keine von der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft unabhängige »universale Ethik« gibt. Ethik ist immer schon in den Hintergrund lebensweltlicher Vorverständnisse eingewebt. Darüber hinaus, und hierin bestand der wesentliche Beitrag der vorliegenden Analysen, ist das originäre Verstehen des Anderen, als Basis eines jeden Dialogs, an das primordinalempathische Verstehen des Anderen in seiner organischen Funktion rückgebunden. Dies ermöglicht, dass ich von der Existenz des Anderen überlagert und dadurch mein eigener Anspruch in Frage gestellt werden kann. Beispielsweise wird erst durch den Anblick eines Hungernden mein eigener Anspruch auf Essen in Frage gestellt: »Warum habe ich zu Essen und er nicht?« Ohne die Fähigkeit zum Mitgefühl, d. h. das empathische Verstehen des Anderen in seiner organischen Unvertretbarkeit (dass ich nicht »für ihn« essen kann) macht eine solche Infragestellung keinen Sinn. 56 Auf ähnliche Weise werden uns abstraktere Sichtweisen und Interpretationen der Welt durch den Anderen zuteil. Dieses Mal erscheint mir der Andere in seiner Einzigartigkeit. Aber nur, weil wir den Standpunkt des Anderen (insbesondere auch physisch, d. i. qua ähnlichem Körper) erwägen können, vermögen wir Vgl. weiter oben zur leibfundierten Rationalität sowie in J. Mensch, Selfhood and Ethics, a. a. O. 55 Damit ist nicht gesagt, dass ein solches Denken keinen Wert habe, sondern lediglich, dass es den Raum des Öffentlichen destruiert. Eine jede Art des Denkens hat seine Funktion und seinen rechten Ort. 56 Vgl. zu dieser Überlegung J. Mensch, Rationality and Empathy, a. a. O. 54

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Gefühl, Ethik und Sensitivität

in einen rationalen Dialog einzutreten: 57 »In prompting us to search for the reasons it is as it is, the empathy that gives us access to others also makes possible rational inquiry.« 58 Ethisches Verstehen ist in diesem Sinne ein Aspekt des Verstehens überhaupt. Einer Ethik, welche von der Verkörperung abstrahiert, entgeht zugleich die Partikularität des Menschen. »As disembodied ›pure‹ observers, they collapse into an undifferentiated identity. To actually recognize an other as another, I require embodiment. This is because others appear to me through their bodies – more specifically, through their bodily behavior.« 59 Eine Ethik, welche hingegen auf eine Vernunft zurückgreift, die in der Idee des leibfundierten Mitgefühls verankert ist, wählt den Standpunkt des Anderen als Ausgangspunkt ihrer eigenen Überlegungen. Oder anders gesagt: Die Idee der Andersheit des Anderen, welche uns über das leibfundierte Mitgefühl zukommt und so die Herrschaft unseres eigenen Seins in Frage stellt, bildet das Zentrum einer solchen Ethik. Sie ist keine theoretische Urteilsbildung, sondern ihre Aufgabe besteht darin, im intersubjektiven Raum auf den Anspruch des Anderen zu antworten, d. i. ihn in seinem unmittelbaren Ausdruck zu verstehen. In der Überlagerung meiner eigenen Identität durch den Anderen wird die Autonomie des Selbst, d. i. die Herrschaft seiner Sichtweise, radikal in Frage gestellt. Der fremde Blick dissoziiert mein Selbstverständnis in dem Maße, als mein Selbst (meine Zufriedenheit, Sattheit, mein Genuss) von dem Anspruch des Anderen (sein Leib, sein Hunger, sein Schmerz) »gestört« wird. Der Begriff des »Mitgefühls« bedeutet in diesem Zusammenhang nicht ein »identisch werden« mit dem Anderen. Der Ausdruck der »Überlagerung« ist deshalb adäquat gewählt, weil er auf den Chiasmus zwischen Andersheit und Selbstsein verweist: Der Andere wird nicht in seinem gesamten So-Sein »begriffen«, aber seine Existenz vermag mich dennoch zu »betreffen«. »[…] in keinem Fall schließen die Betroffenheit, das Beisammen-Sein, die Intimität des Mit-Seins den Abstand aus. Ich werde nicht eingeschmolzen – sondern eingefordert, gerufen, bestimmt, vielleicht sogar erwählt und geliebt.« 60 Bereits im Zusammenhang mit der Ökonomisierung des öffent57 58 59 60

Vgl. die Idee des »Ich kann« bei Merleau-Ponty als Basis jeden Sinnverstehens. J. Mensch, Rationality and Empathy, a. a. O. Ebd. G. Marcel, Zwischenleibliche Begegnungen, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit, 27.

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Konsequenzen einer leibfundierten Vernunft für den öffentlichen Raum

lichen Raumes wurde auf die Unterscheidung zwischen Bedürfen und Begehren bei Lévinas aufmerksam gemacht. Lévinas weist darauf hin, dass das Herrschaftsstreben des Substanzdenkens zu einer Substituierung des Begehrens durch das Bedürfen geführt hat. Der hinter dem bloßen Bedürfnis stehende »geistige Hunger« kann jedoch nur durch das ethische Begehren des Anderen seine Erfüllung finden. Mit einer solchen These antwortet Lévinas auf die Frage, welchen Stellenwert die Ethik für den Menschen einnimmt. Im Hinblick auf die hier vorliegende Fragestellung soll insbesondere gezeigt werden, auf welche Weise ethische Sensibilität an die Verletzlichkeit des Leibes rückgebunden ist. Auf dieser Grundlage soll der Zusammenhang zwischen Mitgefühl, Ethik und Sensitivität aufgezeigt werden. Für Lévinas ist das »In-der-Welt-Sein« zunächst ein Genießen. Indem der Mensch von Nahrung lebt, arbeitet, sammelt, setzt er sich von der Totalität des »Es gibt« ab. Diese Distanz wird aber sofort wieder aufgebrochen, weil er durch seine Bedürfnisse von der Welt abhängig bleibt. Unterbrochen wird dieser Zyklus der Ontologie nur dann, wenn das Ich in seiner organischen Unvertretbarkeit und wesensmäßigen Einzigartigkeit angerufen wird. Voraussetzung hierfür ist seine Sinnlichkeit, denn im Leibsein liegt für Lévinas sowohl die absolute Andersheit des Anderen als auch seine Verletzlichkeit und Offenheit begründet. 61 Hierin besteht auch die Grundsituation des Menschen: Verletzlichkeit und Getrenntheit führen dazu, dass sich zwei Freiheiten niemals unbeteiligt gegenüberstehen. Als verkörperte Wesen können wir aufgrund unserer Materialität, Sichtbarkeit und Verletzlichkeit in unserem Willen, und damit unserer Freiheit, eingeschränkt oder im schlimmsten Fall getötet werden (dies geht einher mit dem Zusammenbruch sämtlicher »Ich kann«). 62 Die eigene Verwundbarkeit und Unabgeschlossenheit macht deshalb die Andersheit des Anderen zur Bedrohung; er kann mich töten, lieben, verletzen, weil er durch meinen Körper auf mich Zugriff hat. Zugleich erscheint mir in der Sterblichkeit des Anderen seine absolute Andersheit: »Ohne das Verhängtsein Vgl. hierzu E. Lévinas, Totalité et Infini, a. a. O. sowie ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 1998. 62 Sehr anschaulich beschreibt dies Sartre: »Was ich unmittelbar erfasse, wenn ich die Zweige hinter mir knacken höre, ist nicht, dass jemand da ist, sondern dass ich verletzlich bin, dass ich einen Körper habe, der verwundet werden kann, dass ich einen Platz einnehme und dass ich in keinem Fall aus dem Raum entkommen kann, wo ich wehrlos bin, kurz, dass ich gesehen werde« (Sartre, Das Sein und das Nichts, a. a. O., 467). 61

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Gefühl, Ethik und Sensitivität

des Todes, der dem autonomen Ich jede Verfügungsgewalt entreißt, es radikal in Frage stellt, gäbe es für das einsame Ich nicht die Erfahrung uneinholbarer Andersheit. Es könnte nicht sensibel sein für die Andersheit des anderen Menschen.« 63 Der Tod entreißt mir den Anderen und macht ihn in seinem organischen Sein unvertretbar, denn nur der Körper hält den Anderen im gemeinsam-geteilten Sein dieser Welt (d. h., ich kann den Anderen berühren, mit ihm sprechen etc.). Umgekehrt kann aber nur ein sterbliches Wesen, d. i. endliches Wesen, für einen Anderen Verantwortung übernehmen, weil nur ein solches Wesen durch die Sterblichkeit und Andersheit des Anderen angesprochen (d. i. betroffen) wird. Dieses Vermögen, für den Anderen Verantwortung zu übernehmen, ist die einzige Möglichkeit, den Menschen aus seiner Einsamkeit des organischen Seins und damit aus dem Zyklus der Ontologie herauszureißen. Das Antlitz des Anderen, das sich mir in seiner Nacktheit und Verletzlichkeit präsentiert, ruft mich auf, noch bevor ich diese Aufgabe bewusst übernehme. In dieser Verantwortung für den Anderen bin ich unvertretbar. Die »anarchische« Sinnlichkeit des Menschen, d. i. die zügellose Beherrschung der Welt qua Leib mitsamt seiner unerschöpflichen sinnlichen Bedürfnisse, wird durch den Anspruch und die Freiheit des Anderen in Frage gestellt. Durch den Anblick des Anderen, der mir in seiner Andersheit Widerstand leistet, werde ich mir der Vermögendheit meiner leiblichen Existenz bewusst. Jedoch nicht, weil der Andere stärker ist, sondern weil »[d]ie Moral beginnt, wenn sich die Freiheit, statt sich durch sich selbst zu rechtfertigen, als willkürlich und gewalttätig empfindet« 64. Diese Infragestellung meiner Autonomie mündet in meiner Scham über meine ungerecht eingesetzte Freiheit. Diese Scham ist der Ursprung des ethischen Bewusstseins; d. h., dass mein Anspruch mit dem des Anderen in Konflikt ist. »Dieser Blick, der bittet und fordert – der nur bitten kann, weil er fordert, dem alles mangelt, weil er ein Recht hat auf alles, den man anerkennt, indem man gibt (so wie man die Dinge in Frage stellt, indem man gibt) – dieser Blick ist nichts anderes als die Epiphanie des Antlitzes als Antlitz. Die Nacktheit des Antlitzes ist Blöße, Mangel. Den Anderen anerkennen heißt, seinen Hunger anerkennen. Den anderen anerkennen – heißt geben. Aber L. Wenzler, Nachwort, in: E. Lévinas, Die Zeit und der Andere, a. a. O., 75. E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, München/ Freiburg 1993, 116.

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Konsequenzen einer leibfundierten Vernunft für den öffentlichen Raum

man gibt dem Meister, dem Herrn, man gibt dem, den man in einer Dimension der Erhabenheit mit ›Sie‹ anredet.« 65 Durch diese Unterwerfung unter den Anderen wird das Selbst erst zum »Subjekt« (sujetion). Es wird erwählt in seiner Verantwortung, welche niemand für ihn übernehmen kann. Auf diese Weise wird es in seine eigentliche Freiheit gesetzt. 66 »In seiner Verantwortlichkeit ist das Subjekt unvertretbar es selbst. Es empfängt seine Identität, seine Einmaligkeit, durch eben jenes ethische Verhältnis.« 67 Für Lévinas ist jedoch Mitgefühl nicht möglich, weil die Differenz zwischen Selbst und Anderem absolut ist. Im Folgenden soll abschließend, und entgegen Lévinas, gezeigt werden, dass Mitgefühl, d. i. die Fähigkeit vom Sein des Anderen »überlagert« zu werden, Voraussetzung für eine solche von ihm geforderte ethische Ur-situation darstellt. Die ähnliche Verkörperung von Menschen sowie die grundsätzliche Offenheit durch die exzentrische Position des Menschen (Plessner) bildet dabei die Voraussetzung dafür, dass das Sein des Anderen in das Selbst »hinüberzuwandern« vermag, um von dort her »erwogen« zu werden. In der Begegnung mit dem Anderen geht es deshalb nicht so sehr um meine Furcht bzw. meinen »Gewinn«, sondern einzig um den Anderen. Ausgangspunkt für diese ethische Situation ist die Trias »Sinnlichkeit-Leiblichkeit-Sterblichkeit«. Denn der Mensch ist dem Anderen immer schon ausgesetzt, ist zur Rechtfertigung »vorgeladen«, vom Anderen besetzt oder von ihm überlagert. Er ist inmitten von Horizonten platziert, die er nicht selbst hervorgebracht hat. 68 Diese stete Infragestellung durch den Anderen (qua Verletzlichkeit) resultiert in einer Verschränkung von heterogener und autonomer Sinngebung und Selbstaktualisierung. Aus diesem Grund tragen wir füreinander Sorge. Zur Wirklichkeit kommt aber dieses ethische Verhältnis erst, wenn das Selbst zustimmend auf die Bitte des Anderen antwortet, weil erst dann »sein Leib durch den Anderen beseelt« wird. »Die ›Seele‹ der passiven Sinnlichkeit ist ›der Andere in mir‹«. 69 Der Andere ist der, welcher mich aufruft, für den ich verantwortlich bin, Ebd., 103. Vgl. L. Wenzler, Nachwort, in: E. Lévinas, Die Zeit und der Andere, a. a. O., 82. 67 Ebd., 82. 68 Vgl. E. Levinas, En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris 2002, 132 ff. 69 Beides in L. Wenzler, Nachwort, in: E. Lévinas, Die Zeit und der Andere, a. a. O., 85. 65 66

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Gefühl, Ethik und Sensitivität

weil ich ihn auch töten kann, den ich aber insofern nicht töten kann, weil er sich mir in seinem Sein immer schon entzieht. Diesem Anderen bin ich unterworfen und werde zugleich von ihm zum Leben erweckt, weil nur ich ihm auf seine Bitte antworten kann. In meiner Antwort bin ich unvertretbar und einzigartig. Der Tod markiert hier jedoch die absolute Grenze meines Vermögens (d. h. meines Ich-kann) und ist damit Endpunkt meiner Selbstaktualisierung. Hier beginnt für Lévinas das Dilemma der Menschengeschichte: Um aus dieser Situation gut »herauszukommen«, müssen wir dafür sorgen, dass wir miteinander gut auskommen. Das wissenschaftliche Substanzdenken versucht diese Misere durch die Kontrolle des »il y a« in den Griff zu bekommen: Die faktische »Gewalt« technischer Mittel ist so gewachsen, dass sie selbst zur Gefahr geworden ist (z. B. durch die Erfindung der Atombombe). »Gemeint ist, dass das äußerste zu Bedenkende, die äußerste Wirklichkeit, in der der Mensch steht, nicht einfach die Vorhandenheit des Vorhandenen und seine Ordnungen und Gesetze sind, sondern die offene und von uns aus zu bestehende Wirklichkeit des Eingefordertseins durch den Anderen, die Situation des Geiselseins für den Anderen.« 70 Obgleich auch der Substanz eine Realität und Gültigkeit zusteht, ereignet sich Geschichte letztlich zwischen mir und dem Anderen bzw. wie wir miteinander auskommen. Auch auf politischer Ebene sieht Lévinas in der »Erscheinung des Dritten« und damit der Universalität an Gesetzen ein Problem, weil jedes Gesetz immer schon von der konkreten Situation abstrahiert. Verwirklicht wird für Lévinas die Idee der Gerechtigkeit nämlich einzig in der konkreten Situation zwischen Ich und Anderem. 71 Nicht die Vernunft soll sich hier dem Anderen bemächtigen, sondern ihn »anhören« und sprechen lassen. Natürlich ist es möglich, sich jederzeit von dieser Situation der Überlagerung durch Fremdes in den Bereich der abgetrennten Privatheit und Subjektivität zurückzuziehen. Auf Dauer führt dieser Rückzug jedoch zur Stagnation des Selbst und damit zu seiner Desintegration oder Entaktualisierung. Die Notwendigkeit ethischen Handelns ist daher keine rein soziale, sondern in eins Voraussetzung des eigenen B. Casper, Angesichts des Anderen. Emmanuel Levinas – Elemente seines Denkens, Paderborn 2009, 26 ff. 71 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a. a. O., 435 ff. 70

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Konsequenzen einer leibfundierten Vernunft für den öffentlichen Raum

Funktionierens als organisches und soziales Selbst zugleich. »The ultimate sanction of morality is that ethical failure involves its progressive loss. It results in the self’s increasing inability to function both organically and socially.« 72 Und auch Marcel fasst deshalb die ethische Beziehung in den Worten zusammen: »Ich darf nun selber jene Frage sein, die nur durch sie beantwortet werden kann. Denn in dem Maße, in dem der Mensch dem Menschen als Frage begegnet, kann er allein durch die Liebe und Hingabe des anderen wahrhaft als Existenz beantwortet werden.« 73 Dabei geht es darum, sich ganz auf den Anderen einzulassen, seine fremde Existenz auf sich zu nehmen, sie mit zu erleiden und auf diese Weise dem Anderen in seiner Verwirklichung zu helfen. Vielleicht wird dann sogar Rortys ethische und öffentlichkeitskonstituierende Frage »Leidest Du?« 74 obsolet.

72 73 74

J. Mensch, Selfhood and Ethics, a. a. O., 47. G. Marcel, Leibliche Begegnungen, in: H. Petzold (Hg.), Leiblichkeit, a. a. O., 41. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 320.

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6. Versuch einer Phänomenologie der Menschenrechte: Transkulturelle Solidarität zwischen leibfundierter Vernunft und intersubjektivem Mitgefühl

Im Folgenden werde ich die hier erarbeitete Rekonstitution des öffentlichen Raumes auf den drei Begriffen von Leib, Mitgefühl und Vernunft auf die Problematik der Menschenrechte übertragen. Ausgangspunkt hierfür ist die exemplarische Darstellung einiger Kernprobleme der Um- und Einsetzung universeller Menschenrechte. Im Anschluss daran folgt der Versuch einer »Phänomenologie der Menschenrechte«, d. h. eine leibfundierte Rekonstruktion der Idee, Funktion und Notwendigkeit von Menschenrechten in Abhängigkeit von Leib, Mitgefühl und Vernunft.

6.1 Menschenrechte als globales Problem? Aktuelle Hürden eines »gutgemeinten« Projekts Hinter der Begründung der Menschenrechte steht die einfache Frage, ob dem einzelnen Menschen, allein durch sein Menschsein, eine Würde bzw. ein Wert zukommt. Im Falle einer Affirmation ergibt sich daraus die Frage, ob dies in einer legitimen Einsetzung spezifischer Rechte resultiert, welche für alle Menschen weltweit gelten. Auf der praktischen Ebene bleibt die Frage unbeantwortet, wie solche Rechte auf staatlicher Ebene faktisch durchzusetzen (top-down) bzw. auf bürgerlicher Ebene zu kultivieren und damit zu legitimieren sind (bottomup). Im Folgenden werden exemplarisch die Kernprobleme der theoretischen Diskussion über die Idee der Menschenrechte aufgezeigt, ohne dabei auf die einzelnen Menschenrechtsartikel genauer einzugehen.

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Versuch einer Phänomenologie der Menschenrechte

6.1.1 Die drei Generationen der Menschenrechte zwischen Recht und Anspruch Die 60-jährige Geschichte seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. 12. 1948 hat drei Generationen von Menschenrechten hervorgebracht: die liberalen Freiheitsrechte (status negativus), die politischen Mitwirkungsrechte (status activus) sowie die sozialen Rechte (status positivus). Die erste Generation entstammt einer liberalen Auffassung der Menschenrechte (etwa im Sinne Lockes oder Kants), die zweite Generation einem republikanischem Modell im Sinne Rousseaus und letztere einer sozialistischen Vorstellung von gleichen sozialen Teilhaberechten. Die Diskussion um die Gewichtung der verschiedenen Menschenrechtsarten fand ihren Ausgang im OstWest-Konflikt und wird heute in verschiedenen Konzeptionen fortgesetzt, die je eine oder zwei Menschenrechtsgenerationen für ihr Konzept bevorzugen. 1 Eine der Hauptprobleme der Kultivierung von Menschenrechten besteht darin, dass sich die sozialen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte im Gegensatz zu den politischen Freiheitsrechten nur sehr langsam realisieren lassen. Juan Carlos Quinteroz-Yanez sieht den Grund hierfür darin, dass es einen Gegensatz gibt zwischen der bürgerlich-individualistischen Auffassung von Rechten und Freiheiten, welche allen Menschen zustehen, sowie einer historisch-materialistischen Interpretation dieser Rechte und Freiheiten als »kontingentes Phänomen des Überbaus«, welche von dieser Wirklichkeit bestimmt werden. 2 Rechte wie soziale Sicherheit, körperliche und geistige Gesundheit u. Ä. werden für immer weniger Menschen zugänglich und vergrößern dadurch die Kluft zwischen der Gruppe der Privilegierten und der Marginalisierten. Insbesondere in Ländern der Dritten Welt werden dadurch fundamentale Rechte zum Schutz anderer Rechte verletzt. »Alle Menschenrechte und Grundfreiheiten sind unteilbar und wechselseitig voneinander abhängig. Sie verdienen gleiche Aufmerksamkeit und dringliche Beachtung […]. Die volle Verwirklichung der bürgerlichen Z. B. bei Habermas die liberalen Freiheitsrechte und die demokratischen Mitwirkungsrechte, was zu seiner juridischen Auffassung der Menschenrechte führt. 2 Vgl. J. C. Quinteroz-Yanez, 1990, 620, zitiert in: C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte, Frankfurt am Main 2004, 324. 1

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und politischen Rechte ohne Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ist unmöglich; die Erzielung dauerhafter Fortschritte […] ist abhängig von einer vernünftigen und wirksamen nationalen und internationalen Politik der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung.« 3 Das heißt, soziale Entwicklungspolitik und Ermöglichung von Menschenrechten vor Ort stehen in einem engen Zusammenhang. 4 Insbesondere wird die Problematik in der Frage deutlich, inwiefern die Rechte der ersten, zweiten und dritten Generation miteinander zu vereinbaren sind. 5 Und natürlich bleibt es fraglich, ob z. B. eine Forderung der grundsätzlichen Unversehrtheit des Menschen dem Recht auf Arbeit eins zu eins zur Seite gestellt werden kann bzw. inwiefern es möglich ist, Rechte dieser Art zu erzwingen. 6 Im Hinblick auf die wachsende Globalisierung besteht ein weiteres Problem darin, dass sich bisher zwar ein Weltmarkt, jedoch keine Weltgesellschaft herausgebildet hat. Die einzelnen Staaten wachsen wirtschaftlich immer mehr zusammen und sind voneinander abhängig, was die Welt insgesamt noch mehr in GewinnerInnen und VerliererInnen aufspaltet. 7 Auf der einen Seite entsteht ein asymmetrisch-hierarchisches System wirtschaftlicher Abhängigkeiten, auf der anderen Seite fördert der Export von Konsumgütern die Homogenisierung der Kulturen. 8 Die zentralen Werte, welche sich aus einer solchen Globalisierung erkennen lassen, bezeichnet Porteus als globales Kapital, Materialismus, Individualismus und Konkurrenz. 9 Noam Chomsky spricht in diesem Zusammenhang auch von der ökonomischen GlobaResolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 32/130; 1977. Diese gegenseitige Abhängigkeit wurde insbesondere von Rorty immer wieder betont: Dort wo soziale Ungewissheit und Überlebenskampf vorherrschen, kann das Bewusstsein für Rechte Einzelner kaum kultiviert werden. 5 Die Rechte der dritten Generation schließen fernerhin so umfassende Rechte wie Selbstbestimmung, Entwicklung, Umweltschutz und Frieden ein. Sie können mehr als Forderungen denn als Rechte betrachtet werden und die Möglichkeit ihrer faktischen Gewährleistung bleibt fraglich. 6 Ähnliches gilt beispielsweise für das Recht auf kulturelle Identität, welches sich von der Idee der Individualrechte ein Stück weit entfernt. Ich werde hierauf weiter unten noch genauer eingehen. 7 Vgl. C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte, Frankfurt am Main 2004, 29. 8 Ebd. mit Bezug auf Kimberley Porteus, The Personal and the Global: Grinding Gears? Reconsidering Efficiency Debates in General Education. Education and Policy Unit, in: Quarterly Review of Education and Training in South Africa, Vol. 7, Nr. 3, (2000), 35 f. 9 E. Porteus, The Personal and the Global, a. a. O., 36. 3 4

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lisierung als »Kapitalismus ohne menschliches Antlitz«. 10 Die Ökonomisierung globaler und nationaler Handlungsräume setzt Individuen einer Entfremdung durch Homogenisierung sowie einer individualisierenden Wettbewerbssituation aus, welche der Idee der Menschenrechte genau entgegenwirkt. Der Grund hierfür liegt darin, dass Identität einerseits durch Konsumgüter sowie andererseits durch die Zugehörigkeit zu einer möglichst eng umrissenen Gruppe definiert wird. Ein solches ökonomisches Denken setzt den Anderen gegen das Selbst und unterstützt so die Rivalität zwischen Gruppen: zwischen Geschlechtern, Kulturen und sozialen Schichten. Das heißt, der Widerstand gegen Menschenrechte kann auch als Symptom für die weltweite Ökonomisierung des politischen Raumes gedeutet werden. 11

6.1.2 Kultivierung globaler Solidarität versus Einsetzung eines universalen Rechtskatalogs Die unterschiedlichen Durchsetzungsgrade der Menschenrechte sowie ihr Stellenwert zwischen moralischer Verpflichtung und transnationaler rechtlicher Durchsetzung resultieren in einem weiteren Konflikt, 12 den Georg Lohmann mit der Frage konkretisiert: Was ist der Status der Menschenrechte? Sind sie moralische oder juridische Rechte? 13 Denn Menschenrechte werden oftmals entweder als universal gültige und damit moralisch-verpflichtende transnational zu kultivierende Idee angesehen bzw. als kulturrelativ, juridisch zu verankernde und individualistisch gültige positive Rechte. 14 Ungeklärt bleibt bei einer solchen Unterscheidung, ob sie vorstaatliche Naturrechte (Locke) oder vom politischen Gemeinwesen gesatzte positive Rechte darstellen. Dieser Doppelcharakter der Menschenrechte als moralische und positive Vgl. N. Chomsky, New Horizons in the Study of Language and Mind, Cambridge 2000. 11 Vgl. zur Ökonomisierung des politischen Raumes weiter oben. 12 H. Steiger, Brauchen wir eine universale Theorie für eine völkerrechtliche Positivierung der Menschenrechte?, in: H. Brunkhorst et al. (Hg.), Recht auf Menschenrechte, a. a. O., 41 ff. 13 G. Lohmann, Menschenrechte zwischen Moral und Recht, in: S. Gosepath u. G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1998, 63. 14 Insbesondere Habermas hat das »Janusgesicht« der Menschenrechte detailliert expliziert und auf die Notwendigkeit ihrer rechtlichen Verankerung hingewiesen. 10

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Rechte zugleich verweist auf den internen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und demokratischer Staatsverfassung. Damit einher geht die Frage, ob Menschenrechte global eine rechtliche Legitimierung erfahren können: das heißt konkret, ob hierzu alle Staaten in Demokratien umgewandelt werden müssen oder ob eine transnationale Weltbürgerschaft genügt. 15 Ist es möglich, Staaten dazu zu verpflichten, solche oder ähnliche Gesetze in ihr Grundgesetz aufzunehmen? 16 Sicherlich ist eine solche transnationale Einsetzung der Menschenrechte wenigstens aktuell wenig realistisch. Ihr voraus geht die Klärung, wie rechtliche Durchsetzung und Kultivierung ineinandergreifen, damit Menschenrechte nicht nur legal, sondern auch als legitim weltweit anerkannt werden. Die Frage ist deshalb, wie eine Harmonisierung von Faktizität und Geltung gewährleistet werden kann. Grundsätzlich ist die Idee der Menschrechte primordinal an die Anerkennung der Würde der Person sowie an die Idee der Gerechtigkeit (im Sinne der Egalität) rückgebunden. Ohne die Wertschätzung des Lebens eines jeden Menschen macht die Idee des positiven, und damit vom Individuum einklagbaren Rechts keinen Sinn. Ein solcher Grundwert der Würde des Einzelnen lässt sich jedoch nur mühsam rational rekonstruieren. Er bleibt vielmehr an die immer neu zu kultivierende zwischenmenschliche Erfahrung gebunden, innerhalb welcher mir der Andere als einzigartig und in seiner potentiellen Verletzlichkeit als schützenswert erscheint. In diesem Zusammenhang wurde von verschiedenen Seiten argumentiert, dass positive Rechte das Individuum über die Gemeinschaft stellen und dadurch moralische Pflichten in den Hintergrund gedrängt werden. Kritisiert wird insbesondere der individualistische Rechtscharakter der Menschenrechte, d. h., dass die Würde und damit der Rechtsanspruch des Einzelnen, manchmal auch gegen die Gesellschaft, im Vordergrund stehen. Dahinter steckt die Angst, solche Rechte könnten den kulturübergreifenden Individualisierungsprozess vorantreiben. Das heißt insbesondere, dass Menschenrechte die natürlich gewachsene Solidarität einer Gemeinschaft bedrohen. Natürlich wurzeln positive Rechte in einer Art vorstaatlichpräreflexivem Einverständnis, welches die Legitimität und damit die tatsächliche Einhaltung der Rechte garantiert. Aus diesem Grund wurVgl. J. Habermas, Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte, in: H. Brunkhorst et al. (Hg.), Recht auf Menschenrechte, a. a. O., 216 ff. 16 Vgl. ebd. 15

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de vorgeschlagen, Menschenrechte verstärkt auch als gegenseitige Pflichten zu sehen. Westliche Argumente betonen hingegen die gegenseitige Anerkennung minimaler Freiheiten als Grundstock für eine solidarische und partnerschaftliche Vergemeinschaftung.17 Diese Problematik verweist auf den internen Zusammenhang zwischen a. der Kultivierung für ein Bewusstsein des Personseins des Anderen (d. i. Erweiterung des Mitgefühls) und b. einer Verwirklichung von positiven Rechten. Dabei ist die Frage, welche Art der Vernunft bei der Vermittlung zwischen der Idee der Menschenrechte als Kultur und der Erarbeitung eines positiven Rechtskanons notwendig ist bzw. auf welche Weise Räume und Bedingungen für solche Dialoge geschaffen werden können.

6.1.3 Menschenrechte: Universale Ethik oder kulturimperialistische Entfremdung? Das Aufwerfen der Frage, ob die Geltung der Menschenrechte den angestrebten philosophischen Prinzipien, wie z. B. einer universalen Moralität, entsprechen oder letztendlich nur durch die Werte eines Kulturimperialismus bestimmt werden, heißt nicht, dass es keine vermittelnden Dialogen gäbe. Aber ihre Existenz beweist zugleich, dass wir von einer universalen Anerkennung der Menschenrechte noch weit entfernt sind. Die Universalität bzw. Kulturbedingtheit der Menschenrechte wird insbesondere dann in Zweifel gezogen, wenn es darum geht, ob Menschenrechte als moralischer Kanon oder positive und damit sanktionierbare Rechte eingesetzt werden sollen. Für Ersteres spricht, dass sie als moralische Gesetze universale Gültigkeit beanspruchen. Für Letzteres spricht hingegen, dass sie sich strukturell durch ihren rechtlich-positiven Charakter sowie inhaltlich von moralischen Gesetzen unterscheiden: Denn anders als moralische Grundvorstellungen beanspruchen Menschenrechte nicht Antworten auf sämtliche ethische FraInsbesondere Habermas hat gegen diesen Einwand mit der gegenseitigen Verweisung zwischen öffentlicher und privater Autonomie argumentiert. Vgl. auch H. Bielefeldt, Der Streit um die Universalität der Menschenrechte, in: Amnesty International (Hg.), Menschenrechte im Umbruch: 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Neuwied/Krieftel 1998, 41 ff.

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gen zu geben, sondern lediglich auf solche, welche mit der freien Entfaltung eines »menschenwürdigen« Lebens zu tun haben. Ausgeschlossen sind damit Antworten auf Fragen nach dem »Glück«, dem »guten Leben« sowie existentielle, religiöse, metaphysische oder anthropologische Fragen. 18 Nichtsdestotrotz werden Menschenrechte noch immer aufgrund ihrer klar säkularen und individualistischen Ausrichtung als Auswuchs der westlich-christlichen Zivilisation kritisiert. Insbesondere die Trennung von Staat und Religion sowie die Betonung der Rechte des Individuums vor den Pflichten für die Gemeinschaft wird in manchen Kulturen als Affront gegen ihre eigene gemeinschaftsorientierte Lebensweise erlebt. Solche Kulturen fordern daher eine kulturell-kontextuelle Anpassung. Diese berechtigte Forderung führt jedoch in der Realität zu einer »Aufweichung der Menschenrechte« in den einzelnen Regionen, d. h. einer laxen Durchsetzung bzw. fehlenden Sanktionierung. 19 Insbesondere droht die Gefahr, dass der Begriff des Unrechts zunehmend toleranter und weiter gefasst wird, wenn kulturelle Homogenität nicht mehr erreichbar ist und pluralistische Rechtsauffassungen gegeneinander stehen. Natürlich wird das Argument des Kulturimperialismus gegenüber den Menschenrechten auch vielfach strategisch eingesetzt. Insbesondere autoritäre Regime versuchen auf diese Weise von einer internationalen Kritik an ihrer Herrschaftsform abzulenken. 20 Weniger leicht abzuwenden ist hingegen der Einwand von Samuel Huntington, welcher in seinem Buch The Clash of Civilizations vom Zusammenstoß verschiedener mehr oder weniger offener bzw. geschlossener Zivilisationen spricht, deren moralische und kulturelle Unterschiede unvereinbar nebeneinander stehen. 21 Menschenrechte Vgl. hierzu H. Bielefeldt: Ein »von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal« (in: Der Streit um die Universalität der Menschenrechte, a. a. O., 33 ff.). 19 H. Steiger, Brauchen wir eine universale Theorie für eine völkerrechtliche Positivierung der Menschenrechte?, in: H. Brunkhorst et al. (Hg.), Ein Recht auf Menschenrechte, a. a. O., 41 ff. 20 R. Kößler u. H. Melber sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem »Totschlag-Argument« (vgl. dies., Chancen internationaler Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 1993, 12 ff.). 21 S. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of the World Order, New York 1998. Huntington stellte 1993 die These auf, dass die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts nicht von Auseinandersetzungen politischer, ideologischer oder wirtschaftli18

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gehören für Huntington ebenso wie die Idee der Demokratie, die Trennung von Staat und Kirche u. Ä. zu den rein westlichen Ideen, welche zunehmend von anderen aufsteigenden Kulturen, wie China oder dem Islam, in Frage gestellt werden. Auch Bassam Tibi argumentiert, dass die modernen Werte der westlichen Welt unvereinbar seien mit den »vormodernen« Vorstellungen wie z. B. des Islams. 22 Die Diskussion um die Unvereinbarkeit der Kulturen führte 1981 zu dem Versuch des Islamrats für Europa, die Menschenrechte direkt aus dem Koran abzuleiten. Dieses Bestreben endete jedoch in einer Verhärtung der Fronten, weil durch die religionsspezifische Auslegung der kulturübergreifende Impetus der Menschenrechte ad absurdum geführt wurde. Eine andere Argumentationsschiene sieht die Erkämpfung der Menschenrechte als das Endprodukt eines langen Modernisierungsprozesses, dessen Erfahrungen wie Religionskriege, Diskriminierung von Minderheiten, Diktaturen, ökonomische Ausbeutung u. Ä. transkultural übertragbar wären. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob Menschenrechte notwendigerweise ein spezifisch posttraditionalistisches bzw. modernes Wertekonstrukt darstellen oder aber als trans-traditionalistisch bezeichnet werden können, d. h. sich mit sämtlichen Religionen und kulturellen Ausprägungen in Einklang bringen lassen. Für eine solche Argumentation spricht, dass Ideen wie Frieden, Toleranz, Gewissensfreiheit, Würde und Gleichheit der Personen und soziale Gerechtigkeit, laut mehreren Untersuchungen, in allen Kulturen zu finden sind. 23 Dagegen spricht, dass solche Ähnlichkeiten m. E. nicht ausreichen, um eine transkulturelle Verständigung und Solidarität zu kultivieren. Mit der Problematik der Universalismus-Pluralismus-Debatte hat sich auch Michael Walzer 24 eingehend beschäftigt. Walzer versucht durch die Unterscheidung zwischen Menschenrechten einerseits und Verteilungsgerechtigkeit andererseits der Debatte zu mehr Klarheit zu verhelfen. Dabei verweist er auf die Problematik, dass wir uns entweder in Details atomistischer Konzepte verlieren oder durch zu hohe cher Natur, sondern von Konflikten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturkreise bestimmt sein werde. 22 B. Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995. 23 J. Kelsay u. S. B. Twiss (Hg.), Religion and Human Rights, The Project on Religion and Human Rights, New York 1994, 115–117 f. 24 M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1992.

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Abstraktion den Anwendungsbezug verlieren. Aus diesem Grund stellt er den dünnen, übergreifenden Moralkatalogen (z. B. Rawls) einen dicken, kulturspezifischen Katalog zur Seite. Henry Shue kritisiert Walzers Vorgehen jedoch scharf, weil dadurch beide Fronten geschwächt würden: Die Unterscheidung in dicke und dünne Moralkataloge führt zu »blockinterner Homogenität und blocküberschreitender Passivität«. 25 Ist nun aber die westliche Kultur als Modernisierungsprozess zu verstehen, welcher jede Kultur früher oder später erreicht, oder ist der Westen eine Sonderkultur unter vielen? Sind damit Menschenrechte eine Weiterentwicklung der Menschheit per se, welche nur langsam global anerkannt werden oder bleiben sie eine Sonderform des Westens? 26 Um auf dieses Problem adäquat zu antworten, wurde in der Weiterentwicklung der Menschenrechte auch das Recht auf kulturelle Identität in die Deklaration aufgenommen. Aus dieser Erweiterung ergeben sich aber schwerwiegende interne logische Probleme für eine Begründung der Menschenrechte, weil Kulturen nun gegen die Menschenrechte auf der Grundlage der Menschenrechte bestehen können, insofern deren Inhalte nicht mit der eigenen kulturellen Identität übereinstimmen. Dadurch wurde der interkulturelle Dialog erschwert. Hinzu kommt das Recht auf positive Ansprüche, welche nun den negativen Freiheitsrechten gleichwertig zur Seite gestellt wurden. Gegen die Aufnahme des Rechts auf kulturelle Identität in die Deklaration spricht das Argument, dass eben nicht die Kultur als solche zu respektieren sei, sondern die kulturelle Identität anderer Menschen aufgrund ihres Personseins, d. i., dass ein jeder dieselben Freiheiten und Rechte habe. Walter Schweidler bringt dieses Argument auf den Punkt, wenn er betont: »Die Kultur für wichtiger zu erklären als den lebenden Menschen: das wäre der eigentliche ›Kulturimperialismus‹.« 27 Auch hier steht wiederum die Idee des Individuums dem Wert der Gemeinschaft entgegen. Von Habermas und Taylor wurde in diesem Zusammenhang auf H. Shue, Menschenrechte und kulturelle Differenz, in: S. Gosepath u. G. Lohmann, Philosophie der Menschenrechte, a. a. O., 368. 26 W. Schweidler, Das Unantastbare. Zur Philosophie der Menschenrechte, Münster 2001. 27 W. Schweidler, Das Unantastbare, a. a. O., 174. 25

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zwei wesentliche Aspekte hingewiesen: Taylor macht auf die Notwendigkeit der gegenseitigen kulturellen Anerkennung aufmerksam. 28 Denn natürlich steht hinter der Forderung nach kultureller Identität die Sorge um die schleichende Veränderung von Kulturen im Zuge der Globalisierung. Habermas argumentiert hingegen, dass die Verpflichtung gegenüber der kulturellen Identität anderer Menschen »aus Rechtsansprüchen und keineswegs aus einer allgemeinen Wertschätzung der jeweiligen Kultur« hervorgeht. 29 Das bedeutet, dass kulturelle Identität gerade mit Blick auf die Universalität der Menschenrechte eventuell gar nicht eingelöst werden kann. Oder anders gesagt: Obgleich klar ist, dass die Sensibilität für kulturelle Differenz Grundvoraussetzung für einen offenen Dialog zwischen Kulturen bildet, bleibt unklar, ob die Forderung für ein Recht auf kulturelle Identität m. E. mit der Idee des Schutzes des Einzelnen vereinbar ist. Es scheint hier nämlich um zwei entgegengesetzte Bestrebungen zu gehen: Die Menschenrechte im klassischen Sinne versuchen das Individuum vor dem Übergriff der Gemeinschaft oder Einzelner zu schützen. Der Begriff der kulturellen Identität versteht sich hingegen als die Durchsetzung des Rechts einer Gemeinschaft, u. U. auch gegen das Individuum. Hierunter fällt die Problematik spezifischer kultureller Praktiken wie z. B. die Beschneidungsriten in Afrika. Die Gefahr besteht insbesondere darin, dass mit dem »Totschlag-Argument« der kulturellen Identität u. U. jede Art der Gewalt potentiell vertretbar wird. Ferner kann es nicht darum gehen, »kulturelle Zoos« zu schaffen. Alle Kulturen müssen sich dem Prozess der Globalisierung und den damit einhergehenden trans-kulturellen demographischen Wandlungen stellen. »Die kulturelle Vielfalt kann dabei in vielen Bereichen auch als Reichhaltigkeit und Reichtum des kulturellen Erbes der Menschheit insgesamt begriffen werden. Insofern ist in vieler Hinsicht nicht nur ein Schutz der natürlichen, sondern auch der kulturellen ›Arten‹ und der Chancen ihrer weiteren Gestaltung und Entfaltung angebracht. Dies kann allerdings nicht in ›Zoos‹ und Reservaten, sondern muss in der gegenseitigen Anerkennung und Respektierung weltweit, An anderer Stelle habe ich Taylors Argument (vgl. Ch. Taylor, Multiculturalism and »The Politics of Recognition«, hg. v. Amy Gutmann, Princeton 1992) detaillierter besprochen: B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, Freiburg 2013. 29 J. Habermas, Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: C. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, a. a. O., 172 ff. (147 ff.). 28

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auch im täglichen Zusammenleben, geschehen. In diesem Sinne lässt sich auch das eingangs angesprochene Paradox von Universalität und Ethnozentrismus bei der Entwicklung von Menschenrechten weiter gestalten und letztlich in gemeinsam akzeptablen Formen überwinden.« 30 Taylors Einwand ist einerseits sehr richtig, insofern es ihm darum geht, der intersubjektiven Verständigung das Bemühen um die Anerkennung der anderen Kultur zur Seite zu stellen. Andererseits bilden diese »vorrechtlichen« Diskurse nur die Grundlage für ein funktionierendes Verhältnis zwischen Faktizität und Geltung. Schweidler betont deshalb: »Man könnte insofern auch umgekehrt sagen, dass die für rechtliche Verhältnisse konstitutive intersubjektive Anerkennung gerade darauf beruht, dass wir uns einen Diskurs geschaffen haben, in dem wir bestimmte Sollensanforderungen zum Bestandteil unserer Selbstbeschreibung – als Personen oder eben Rechtssubjekte – gemacht haben, wodurch wir die Unbegründbarkeit unseres Selbstverständnisses aus gänzlich unrelationalen Fakten von vornherein festgehalten und institutionalisiert haben«. 31 Insbesondere heißt das, dass den Rechtsdialogen die gegenseitige Anerkennung der Dialogpartner als Personen vorausgeht, wozu natürlich auch die grundsätzliche Anerkennung der Kultur gehört. Hinter einer solchen Forderung steht die Einsicht, dass kulturelle Nähe, die allein eine Gesellschaft zusammenhält, in multikulturellen Gesellschaften nicht einfach durch rechtliche Zwangsregelungen ersetzt werden kann. 32 Denn Recht umfasst auch die Vorstellung von Pflicht, d. i. die Einhaltung und Garantie der Gesetze. 33 Habermas und Rorty bieten für die Erlangung einer solchen Solidarität zwei unterschiedliche Modelle. Habermas pocht auf die Anerkennung durch rationale Verständigung, Rorty vertraut hingegen auf die Anerkennung durch mitfühlendes Verstehen. Im Einzelnen argumentiert Habermas für eine Rekonstruktion von Faktizität und GelD. Berg-Schlosser, Zur Universalität von Menschenrechten – Problem und Grenzen, in: K. P. Fritzsche u. G. Lohmann (Hg.), Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Würzburg 2000. 31 W. Schweidler, Das Unantastbare, a. a. O., 168. 32 Vgl. hier das Auseinanderbrechen von Faktizität und Geltung von Rechten. 33 Dies verweist auf eine weitere ungelöste Aufgabe, nämlich den Versuch einer Begründung der Menschenrechte, insofern man sie nicht an spezifisch theologische Begriffe oder an die Idee der Vernunft rückbinden möchte. In beiden Fällen geht es um die Frage der Konstitution einer transnationalen Solidarität als Diskussionsbasis der Menschenrechte. 30

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tung durch dialogische Übereinstimmung. Dabei greifen Personsein und Schutz des Personseins durch die Einsetzung von Rechten ineinander, d. h., private und öffentliche Autonomie bedingen sich gegenseitig. Habermas’ Theorie bleibt dabei an einen dialogischen Wahrheitsbegriff gekoppelt, welcher in der Lebenswelt und dem Sprechhandeln wurzelt. Die so gebildete Sprachgemeinschaft bezieht sich damit auf eine ähnliche Handlungsrealität bzw. jeder Sprachteilnehmer vermag sich stets über die ähnliche Interpretation einer Situation rückzuversichern. Solidarität ergibt sich hier aus den steten Annäherungsprozessen solcher dialogischen Interpretationsversuche. Selbstverständlich setzt Habermas die Bereitschaft für solche Dialoge immer schon voraus. Rorty bindet die Idee der Menschenrechte hingegen an die Kultivierung von Mitgefühl, durch welches Menschen der Leidensfähigkeit anderer gewahr werden. Solche Solidarisierungsprozesse bleiben von der Suche nach Wahrheit bzw. konkreten Handlungen abgekoppelt, denn die Annäherung an den Anderen geschieht allein über die Sprache. Natürlich bleibt durch diese sprachanalytische Engführung seines Mitgefühlsbegriffs sein Konzept von der konkreten Handlungssphäre getrennt. Zudem fehlt die Garantie einer Zurechnungsfähigkeit. Im Folgenden geht es darum, die Verflechtung beider Ansätze exemplarisch anhand der Kultivierung der Menschenrechte aufzuzeigen. Ein solches Desiderat resultiert in der Frage nach der Menschenwürde, welche im Folgenden phänomenologisch über die Idee des Leibes erschlossen werden soll.

6.2 Versuch einer phänomenologischen Rekonstruktion der Idee der Menschenrechte: Zwischen Verletzlichkeit und Einzigartigkeit 6.2.1 Menschenrechte als Fundament der Selbstverwirklichung In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es in Artikel 26, dass sie die »volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit« schützen sollen. Im Folgenden werde ich argumentieren, dass die Störung des Beziehungsgefüges zwischen Körper, Welt und Anderen zu einer Minderung bzw. Zerstörung von Sinnstiftung und Identität führt und damit das Menschsein in seiner Idee (d. i. Identität und Sinnstif180 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

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tung) torpediert. Eine solche Zerstörung gilt als ultimative Form der Gewalt im Sinne Hannah Arendts. Menschen generieren, auf der Grundlage ihrer leiblichen Verwiesenheit, intersubjektiven Sinn in öffentlichen Dialogen, in welchen sie vermittels ihres Körpers in Erscheinung treten und für ihr Tun und Sprechen zur Verantwortung gezogen werden können. 34 Ein solches Beziehungsgefüge zwischen Selbst und Anderen bzw. Selbst und Welt kann gestört werden. Von einer Verletzung des Menschenrechts sprechen wir jedoch nur dann, wenn eine solche gewaltsame Störung von einem anderen Menschen ausgelöst wird; die Elster, die mir den Schmuck stiehlt, der Bär, der mich im Wald überfällt, verletzt kein ›Menschenrecht‹. 35 Warum aber ist ein Schutz dieses Beziehungsgefüges vor dem gewaltsamen Übergriff anderer Menschen zentral für die Selbstverwirklichung des Menschen? Ausgangspunkt für die folgende Argumentation bildet die Idee des »Ich kann« bei Merleau-Ponty. Sämtliche Handlungen von »Ich kann Fahrrad fahren« bis zu »Ich gestalte diesen öffentlichen Raum« oder »Ich benutze diese Treppe« bedingen mein Sinn- und Selbstverständnis in Bezug zu den Dingen und anderen Menschen. Der Verlust einer solchen Möglichkeit (z. B. durch körperliche Behinderung) bedeutet in eins den Verlust der Sinnhaftigkeit einer solchen Aussage. Der Satz »Ich kann Fahrrad fahren« wird für einen Gelähmten zu einer rein symbolischen Aussage ohne Sinn, weil sie nicht von der potentiellen Möglichkeit des Aktes erfüllt wird. Das heißt, in dem Maße als eine Person seine Handlungsmöglichkeiten verliert, verschwindet seine Teilnahme- und Gestaltungsfähigkeit in der Öffentlichkeit, sein aktiver Sprachgebrauch und damit seine Möglichkeit der Selbstaktualisierung. Im äußersten Fall wird der Körper zu einem dysfunktionalen Objekt bzw. seine Identität wird zu einer unkommunizierbaren, idiosynkratischen Insel, jenseits sozial mitteilbarer Möglichkeiten. Der Phänomenologe James Mensch schließt deshalb: »It is also the loss of the person’s ability to enact and, hence, uncover for himself the senses that make up the world he shares with his others.« 36 Der Sprache kommt hier die grundlegende Funktion der FreileVgl. hierzu und im folgenden Gedankengang den Artikel »Violence and Embodiment« in: J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 74 ff. 35 W. Schweidler, Das Unantastbare, a. a. O., 170. 36 J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 74. 34

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gung von Sinn in der Abstraktion vom konkreten Objekt zu und geht einher mit der grundsätzlichen Allgemeinheit eines bestimmten Sinnaktes; z. B. vermag ich nicht nur auf diesem Papier zu schreiben, sondern auch auf allen anderen Gegenständen, welche ähnliche Eigenschaften aufweisen; nicht nur dieses Gemüse ist essbar, sondern ebenso alle anderen Exemplare dieser Art; nicht nur dieses Stück Holz eignet sich zum Schnitzen, sondern auch ähnliche Hölzer können so bearbeitet werden. Ein solches Verständnis von Sprache resultiert in der Unmöglichkeit einer absolut »privaten Sprache«. 37 »The impossibility follows from the fact that the common meanings a language employs point back to the common usages of an object to achieve some goal. This implies that this combinability of meanings is based on the substitutability of objects as means to achieve a goal.« 38 Sprache wird immer schon im sozialen Kontext erlernt, d. i. durch das Teilhaben an gemeinschaftlichen Projekten. Diese reichen vom Gebrauch einer Gabel bis hin zur komplexen Handhabung einer Maschine. Alle Worte erlangen erst in diesem gemeinsamen Sprechhandeln einen Sinn. Genuin unkommunizierbar bleibt hingegen der Körper in seiner organischen Funktion. Organische Vorgänge wie Essen, Trinken, Schlafen oder Sterben sind mit niemandem teilbar. Sie können deshalb auch nicht von jemand anderem übernommen werden. In diesem Sinne ist der Mensch als körperliches Wesen unersetzbar. Diese Sphäre der organisch-körperlichen Funktionen konstituiert deshalb den eigentlich privaten Raum. Einziger Zugang zu diesen Vorgängen ist das Mitgefühl. Vermittels dieses unmittelbaren Nachvollziehens des körperlichen Ausdrucksgebarens erfahren wir den anderen »leibhaftig« in seinem Leiden bzw. seiner Freude oder Zufriedenheit. 39 Der Körper ist einerseits durch seine grundsätzliche Verletzlichkeit und Sterblichkeit zeitlich begrenzt, andererseits aber zeitlich ausDiese grundsätzliche Form der Allgemeinheit ist Voraussetzung dafür, dass wir auch private Zuständigkeiten kommunizieren können. Der Urgrund der Allgemeinheit fungiert als sinnstiftendes Chiasma zwischen Selbem und Anderem. 38 Ebd., 78. 39 Vgl. hierzu weiter oben die Ausführungen über »Körper, Raum und Politik« sowie James Mensch zum politischen Raum in: Embodiments, a. a. O., 78: »As the flesh that incarnates me, it escapes the signification that is correlated to the disclosure of substitutable objects. It is sense-less, insofar as, lacking commonality, it gives no handle to sense. Sense as a one-in-many that expresses what is common to many individuals cannot convey it.« 37

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gedehnt. Er vermag immer nur eine bestimmte Handlung zu einem gegebenen Zeitpunkt vorzunehmen, obgleich sein Sein-in-der-Welt viele mögliche Handlungsformen potentiell enthält. Im Sinne einer »Ekstase« steht der Mensch aus dem So-Sein heraus und entwirft sich als Möglichkeit in die Zukunft hinein. Dies kann mein Vorhaben betreffen, mich auf jenem Stuhl dort niederzusetzen oder auch meine Lebenspläne für die nächsten 10 Jahre. »Given this, to assert that sensemaking is a bodily function implies that the body, in its own functioning, has this temporal distension.« 40 Unser »In-der-Welt-Sein« ist in diesem Sinne immer schon ein »Voraus-Sein« bei den intendierten Zielen unserer Handlungen. Vermittels der Möglichkeiten des Leibes im Hinblick auf seine Verwirklichung – im Sinne eines Einwirkens auf die Welt und der daraus hervorgehenden Sinnentfaltung – befinden wir uns immer schon ausgreifend bei den Dingen, deren Sinn wir auf solche Weise entfalten. Aus diesem Grund beschreibt Merleau-Ponty das Bewusstsein als »Sein bei den Dingen durch das Mittel des Leibes«. 41 Sinnstiftung und Identität greifen auf der Ebene des Körpers ineinander. Daraus ergeben sich drei Grundbedingungen für den öffentlichen Raum: Das Selbst nimmt einen Ort ein, den es auf keine Weise mit einem Anderen teilen kann (Unvertretbarkeit); als körperliches Wesen vermag es als von der Welt getrennte Entität auf die Dinge einzuwirken (Einzigartigkeit); Handlungen können durch diese Verortung auf den Menschen rückbezogen werden, d. h., er kann zur Verantwortung aufgerufen und gegebenenfalls bestraft werden 42 (Verletzlichkeit-Verantwortlichkeit). Die Existentialphilosophin Debra Bergoffen konstatiert aus diesem Grund: »The dignity of the other is in his/her body.« 43 Dignity wird hier als die Realisierung der Einzigartigkeit sowie der Anerkennung der körperlichen Unvertretbarkeit des Anderen verstanden. Als diese »unvertretbare Einzigartigkeit« kommt der Mensch im öffentlichen Raum auf diese Weise zu sich: Seine Handlungen sind für andere sichtbar, gestalten den Raum mit und bleiben an seine körperliche Ebd., 77. M. Merleau-Ponty, PW., 167 f. 42 J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, a. a. O. 43 Diese Idee verdanke ich Dagmar Bergoffen in einem persönlichen Gespräch auf der International Association for Philosophy and Literature-Konferenz 1.–8. Juni 2009. 40 41

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Erscheinung geknüpft. Deshalb bildet die Unversehrtheit des Leibes (im Sinne seines ›Ich kann‹) die Grundvoraussetzung für die volle Entfaltung der Identität im, mit und durch den öffentlichen Raum. Der unversehrte Leib wird zur universalen Grundbedingung des Personseins. 44 Die Möglichkeit des gemeinsamen Zugreifens auf die Weltdinge hat ferner zur Folge, dass wir in einer gemeinsamen Welt leben, zu welcher wir alle Zugang haben, d. h. die Möglichkeit, auf die physischen Präsenzen in dieser Welt (Gegenstände und Lebewesen) einzuwirken. Die Kehrseite dieses Vermögens besteht jedoch darin, dass sowohl der Körper als auch sein Besitz und sein Werk verletzlich sind: Körper und Weltdinge gehören zum Bereich des Öffentlichen und sind damit für alle physisch greifbar und zerstörbar. Aus diesen Gründen, d. i., weil der Körper Fundament der Selbst- und Sinnkonstitution und zugleich verletzlich ist, verlangt körperliche Unversehrtheit nach universalem Schutz. Hieran schließt die Frage an, was genau körperliche Unversehrtheit umfasst bzw. durch welche Eingriffe sie zerstört wird: Gewalt besteht in der Zerstörung bzw. der Verminderung von Sinn und Bedeutung. 45 Sie zerstört deshalb nicht nur die Sinnstiftung der Welt, sondern in eins die sinnvolle Wahrnehmung unserer selbst in dieser Welt. Dabei lassen sich zwei Formen der Gewalt unterscheiden: a. die einfachste Form besteht in der direkten Einwirkung auf den Körper und damit die Minderung der körperlichen Möglichkeiten; b. eine andere Form ist die soziale Gewalt. a. Die direkte Ausübung von Gewalt auf den menschlichen Körper schmälert nicht nur die Möglichkeiten des Engagements in der Welt (und damit der Selbstverwirklichung), sondern führt ferner zur Ausgrenzung aus der Sprachgemeinschaft und damit zu einem unwiederbringlichen Sinnverlust. Beispielsweise bleibt für einen Beinamputierten der Sinn des Wortes »Skifahren« oder »Jogging« abstrakt. Die Worte werden verstanden, aber sie sind sinnentleert, weil sie in keiner Relation zum »Ich kann« des eigenen Körpers stehen. Die Amputation Dabei geht es selbstverständlich nicht um die umgekehrte Argumentation, dass Behinderungen zu einem minderen Personsein führen, sondern um die positive Realisationsermöglichung einer jeden Form der Verkörperung, eben und gerade in seiner Einzigartigkeit. 45 Vgl. J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 72 ff. 44

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versetzt den Amputierten damit außerhalb eines bestimmten Bereichs der Sprachgemeinschaft, d. i. der geteilten Sinnhaftigkeit der Sprache. Dies gleicht nicht nur einem Ausschluss aus den öffentlichen Handlungen, sondern zugleich einem Ausschluss aus der gemeinsamen Sinnstiftung qua Sprache. Die ultimative Gewalt ist selbstverständlich der Mord, welcher sämtliche körperliche Vermögen zerstört. Jede Art der gemeinsamen Sinnstiftung mit der Gemeinschaft kollabiert, weil es keinen gemeinsamen physischen Berührungspunkt mehr gibt. Das Individuum ist eliminiert. 46 Die Möglichkeit, diesen Wirkungsbereich zu stören, geht wiederum auf die Verkörperung zurück. Denn nicht nur können wir durch die Verortung des Körpers im Weltgeschehen zur Verantwortung gezogen werden, sondern auf gleiche Weise sind wir verletzlich und können »zu Unrecht« verletzt werden. Deshalb bedingt diese Verletzlichkeit des Menschen die eigentliche Notwendigkeit für Menschenrechte als Schutz vor »unrechtmäßigen« Verletzungen, welche eine Verminderung der Selbstverwirklichung zur Folge haben. Oder anders gesagt: Menschenrechte garantieren die maximale und optimale Entfaltung der körperlichen und geistigen Möglichkeiten. Das ist der Grund, warum Walter Schweidler die Menschenrechte als das »Unantastbare« bezeichnet. Sie sind dasjenige, was uns nicht qua Verkörperung entzogen werden darf, weil uns sonst in eins die Grundbedingungen des Menschseins entzogen werden: das Einwirken auf sowie das sich Verwirklichen in der Welt durch das Mittel des Leibes. b. Eine andere Form der Gewalt ist die soziale Gewalt. Ein Beispiel hierfür ist die erzwungene Milieuveränderung einer bestimmten kulturellen Gruppe wie die Zerstörung von Jagdgründen indigener Völker, deren Selbstverständnis grundlegend auf der Idee der Jagd basiert. Ein weiteres Beispiel sind die »songlines« der Aborigines in Australien. Diese Songlines ergeben eine unsichtbare, mythische Landkarte Australiens, die per Gesang von Generation zu Generation weitergetragen wird und die Grundlage der Wanderungen (Walkabouts) der australischen Urbevölkerung darstellt. Diese Landkarte wurde von der Zivilisation durch Baumaßnahmen grob verändert, sodass die kulturellen Wurzeln der Urbevölkerung zerstört wurden bzw. verloren gingen. Zugleich wird hierdurch die Art und Weise zerstört, wie sich die Aborigi-

46

Vgl. ebd., 77.

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nes durch ihre Landschaft bewegen, die Formen der Annäherung an bestimmte Plätze sowie die Interaktion mit Landschaft und Tieren, welche zentral sind für das Selbstverständnis des Volkes. Diese Beispiele machen deutlich, dass die körperliche Unversehrtheit nicht nur den bloßen Körper betrifft, sondern zugleich die gewohnte sozio-kulturelle und geographische Umwelt.

6.2.2 Grausamkeit und Gefühlskälte: Möglichkeiten der Entmenschlichung Es wurde gezeigt, auf welche Weise der Körper die Voraussetzung dafür ist, mit anderen in einer Welt zu leben, auf diese einzuwirken und sich so als Selbst sowie die Welt als sinnvoll zu begreifen. Meine leiblichen Möglichkeiten (im Sinne von Freiheiten) kommen mir dabei zunächst vom Anderen zu. Aus diesem Grund ist es der Andere, welcher meine Freiheit erweitert und mir dadurch zu meiner Selbstverwirklichung verhilft. Die Kehrseite des Leibes als Zugriffsfläche auf die Welt ist aber, dass er von anderen ebenso ergriffen und damit in seiner Potentialität der Verwirklichung eingeschränkt 47 bzw. im äußersten Falle zerstört werden kann. Oder wie Lévinas sagt: »Ich kann den Anderen töten«. Menschenrechte stellen deshalb einen Schutz vor solchen Übergriffen dar, d. h., der Mensch in seinen leibhaften Verwirklichungsmöglichkeiten soll geschützt werden. Kapitel 3 zeigte, dass der Mensch grundsätzlich ein sympathisches bzw. mitfühlendes Wesen ist. Im Folgenden sollen deshalb zwei mögliche Ursachen von psychischer oder physischer Gewalt genauer untersucht werden, um zu zeigen, wie es zu solchen Verletzungen dennoch kommen kann. Die beiden Phänomene, welche untersucht werden, sind die Gefühlskälte und die Grausamkeit. Es wird gezeigt, in welchem Verhältnis sie zu Leib, Mitgefühl und Rationalität stehen. Bei der Gefühlskälte handelt es sich um eine Form der Desensibilisierung. Die Folge ist, dass das leidvolle Ausdrucksgeschehen des Anderen nicht wahrgenommen wird bzw. auf keine Resonanz stößt. Gefühlskälte resultiert aus einer übermäßigen Abstraktion vom Anderen Foucault beschreibt in diesem Zusammenhang die komplexen und systematischen Disziplinierungen des Körpers, welche in engem Zusammenhang mit der Entstehung der »Seele« stehen (vgl. M. Foucault, Surveiller et punir, a. a. O.).

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als konkreten Menschen, d. h., die universalistische Perspektive nivelliert die organische Unvertretbarkeit und Einzigartigkeit des Anderen. Der Andere wird aus der Perspektive des »Niemand« rekonstruiert. Dies entspricht der Sphäre der Bürokratie: Menschen werden vergleichbar, zählbar und berechenbar. 48 Und weil der Mensch weder in seiner unvertretbaren Körperlichkeit noch in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen wird, kann in letzter Konsequenz (z. B. in einer ethischen Dilemmasituation) das Leben eines Menschen gegen das Leben vieler aufgerechnet werden. Grausamkeit bezeichnet hingegen die »Überidentifizierung« mit bzw. das genaue Nacherleben des Schmerzes eines Anderen. Der Grausamkeit liegt eine perverse Lust am Schmerz zugrunde, welche eine Folge der Identifikation durch Negation darstellt. Das heißt, die eigene Identität und Überlegenheit wird einzig durch die genau nacherlebte Unterdrückung, Verletzung oder Zerstörung des Anderen erfahren. Und die fremde Identität wird durch die totale Verfügungsgewalt über den Körper (bzw. die Seele) des Gequälten vom Peiniger absorbiert. Der Andere wird auf ein Objekt reduziert, um die eigene Identität zu stärken. 49 Eine Ursache für diese Art des Sadismus kann Überfremdung oder Sinnverlust sein. Ich werde im nächsten Kapitel zeigen, auf welche Weise Gefühlskälte eine Kehrseite der entkörperlichten Vernunft und Grausamkeit eine Kehrseite des Mitgefühls darstellen. Die daraus hervorgehende und hier stark vereinfachte These ist, dass eine Kultivierung der Menschenrechte, im Sinne einer Sensibilisierung für das Personsein des Anderen, nur in einer harmonisierenden Kombination aus Vernunft und Mitgefühl möglich ist.

6.2.3 Die Kultivierung der Menschenrechte auf der Grundlage von Vernunft und Mitgefühl Menschenrechte gelten im Sinne moralischer Rechte für alle Menschen, d. h., der andere hat in seinem Personsein (unabhängig von Herkunft, Alter oder Geschlecht) unbedingte Rechte, welche ihn zugleich in der vollen Entfaltung der Möglichkeiten seines Personseins 48 49

Vgl. zur Kritik der Bürokratie H. Arendt, Vita activa, a. a. O. Vgl. Sartre zum Sadismus in: Das Sein und das Nichts, a. a. O.

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schützen. 50 Menschenrechte verweisen damit auf zwei Grundbedingungen des Menschseins, nämlich a. seine Unvertretbarkeit als organisch-verletzliches Wesen, welche wir vermittels unseres Mitgefühls spüren, sowie b. seine Einzigartigkeit als Person, welche durch sein körperliches Engagement in der Welt in Erscheinung tritt und wir durch Perspektivenwechsel erfassen. Die dahinterliegende Frage ist, was uns dazu verleitet, dem Anderen sein Personsein abzusprechen bzw. durch Gewalt seine Verwirklichung als Person zu beschränken. Oder umgekehrt gefragt: Was ist dafür verantwortlich, dass wir den Anderen in seinem Personsein wahrnehmen? Ist es die Vernunft, die mir die Andersheit des Anderen offenbart (Einzigartigkeit) oder ist es mein Mitgefühl, welches mich für seine Leidensfähigkeit sensibilisiert (Unvertretbarkeit)? Wie bereits weiter oben dargelegt, erscheint mir der Andere in der Geometrie des öffentlichen bzw. privaten Raumes in je verschiedenen Modalitäten; als ähnlich bzw. unterschiedlich, als Ermöglichung (Ich kann) bzw. Beschränkung (Übergriff auf meinen verletzlichen Körper) meiner Freiheit. Die Ökonomisierung der Gesellschaft im Sinne einer Reduktion des politischen Raumes auf die Verteilung von Gütern und Geld wurde von Arendt scharf kritisiert, weil das Mehr für eine Gesellschaftsschicht zugleich ein Weniger für eine andere bedeutet und auf diese Weise die Konkurrenz zwischen Bürgern vorantreibt: Der Andere gilt nun nicht mehr als die Ermöglichung meiner Freiheit, sondern als die Beschränkung oder Minderung meines Besitzes. Freiheit wird hier nicht als Selbstverwirklichung durch politisches Handeln gesehen, sondern als Maximierung von Konsum im Hinblick auf die Sicherstellung des organischen Funktionierens des Körpers. Die Gegenstände des öffentlichen Raumes fließen so beständig in die Privatheit ab, wo sie vom Einzelnen in der Einsamkeit des Genusses konsumiert werden. Arbeiten und Einkaufen werden damit zu der wesentlichen bzw. einzigen Tätigkeit im öffentlichen Raum. Dadurch ist es nicht mehr das einzigartige politische Engagement, durch welches der Bürger in Erscheinung tritt, sondern sein Konsumverhalten. Identitätsbildung ist an die Produkte geknüpft: Labels und Marken werden zum Identitätsersatz und der Körper ist nicht nur Werbeschautafel, sondern zugleich identifizierbare und entschlüsselbare Produktmelange innerhalb einer Bei diesem Gedankengang geht es um die Idee der Menschenrechte und nicht um eine detaillierte Analyse der einzelnen Menschenrechtsverletzungen.

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anonymen Massengesellschaft, welche durch den zunehmenden Bedarf bestimmter Produkte, der Vereinheitlichung und Massenproduktion gekennzeichnet ist. Baudrillards beeindruckende soziologische Analysen des Konsumverhaltens verschiedener Schichten zeigten, wie konsequent vorhersagbar das Konsumverhalten geworden ist, und bestätigen damit Arendts Angst vor der totalen Vorhersehbarkeit des Bürgers. 51 Der Mensch wird zum quantitativen Wert, dessen Handeln statistisch berechenbar ist. Er verwirklicht sich dadurch nicht in seiner Einzigartigkeit, sondern gleicht sich der Uniformierung der Vergesellschaftung an. Diese Uniformierung des Konsumverhaltens führt zu Gruppenbildungen innerhalb verschiedener Konsumenten und verstärkt auf diese Weise das Wir-Ihr-Denken. 52 Das heißt, Identität wird nicht mehr positiv über das individuelle Handeln affirmiert, sondern »negativ« über die Abgrenzung von Anderen. 53 Diese Form der Identitätsbildung durch Abgrenzung verstärkt die Angst vor dem Fremden, weil die eigene Identität stets von außen reguliert wird und so jeder Einzigartigkeit entbehrt. Grausamkeit kann hier ein Ausweg sein, indem durch die physische oder psychische Unterdrückung oder Abgrenzung von anderen versucht wird, die eigene Identität zu bestärken bzw. zu erhöhen. Das Prinzip des ökonomischen Denkens könnte daher lauten »Ich oder Du« und steht damit diametral zum dialogischen Denken, das etwa mit dem Prinzip »Ich durch Du« umschrieben werden könnte. Ich möchte nun zeigen, auf welche Weise die Umkehrung der Geometrie des Raumes bei Rorty eine solche Ökonomisierung und damit Entmenschlichung des öffentlichen Raumes begünstigt, um im Anschluss daran die darin zugrunde gelegte Idee des Mitgefühls zu rekonstruieren, um sie für eine Kultivierung von Menschenrechten praktikabel zu machen. Rorty kehrt die Funktionsbereiche von öffentlichem und privatem Raum um, d. h., Mitgefühl (durch Literatur) konstituiert den öffentlichen und Selbsterschaffung (durch Philosophie) den privaten Bereich. Vgl. J. Baudrillard, The Consumer Society. Myths and Structures, Los Angeles 1998. Vgl. hier insbesondere seine Analysen zum Körper und Konsumverhalten in Part III, 129–151. 52 Vgl. hier die interessanten Analysen Taylors zum Zusammenhang von Identitätsbildung und gegenseitiger Abgrenzung (vgl. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, a. a. O.). 53 Das sind all diejenigen, die das »andere Label« kaufen, wie z. B. Coca Cola versus Pepsi, Adidas versus Puma, PC versus Macintosh etc. 51

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Die Ähnlichkeit des Anderen kommt mir über mein Mitgefühl mit der organischen Unvertretbarkeit des Anderen zu, d. h., der Andere erscheint mir als verletzliches und sterbliches Wesen wie ich selbst. Auf der Ebene des Privaten bestimmt Rorty die Selbstverwirklichung als Erweiterung von Vokabularen. Dem geht die Annahme voraus, dass das Selbst ein komplexes Netzwerk aus Sprachstrukturen darstellt. Mit einer solchen Umkehrung der Funktionsbereiche von Öffentlichkeit und Privatheit gehen jedoch einige Probleme einher: Zunächst bleibt unklar, in welcher Relation die Sensibilität für die Verletzlichkeit des Anderen und die Sensibilität für die Andersheit des Anderen stehen. Körperliche Funktionen sind grundsätzlich unkommunizierbar und können nur durch eine unmittelbar-empathische Sensibilität nahegebracht werden. Der Andere wird erst dadurch als »leidensfähig so wie ich« erfahren. Innerhalb dieser Funktionen ist ein jedes lebendes Wesen unvertretbar, will heißen: Ich kann diese Funktionen nicht für den Anderen übernehmen. Ein solches Erfassen des Anderen über die Analogie birgt die Gefahr, die Besonderheit des Anderen nicht zu berücksichtigen. Das heißt, bei Rorty bleibt unklar, warum der einzelne Mensch (in seiner Einzigartigkeit) wertvoll oder schützenswert ist. Durch die Prominenz des organisch-privaten Funktionierens des Leibes in Rortys Konstruktion der Öffentlichkeit wird eine Ökonomisierung des öffentlichen Raumes unterstützt, weil der Andere mir potentiell als Konkurrent zu meinem eigenen körperlichen Wohlergehen erscheint, wohingegen seine Einzigartigkeit, welche sich einzig durch das Handeln und Sprechen offenbart, in den privaten Raum gedrängt wird. Eine solche Verallgemeinerung und Nivellierung des öffentlichen Raumes arbeitet gegen die grundsätzliche Idee der Menschenrechte, d. i. als Rechte für das Individuum im Sinne des Schutzes seiner handlungsbezogenen Einzigartigkeit (in Kombination mit seiner organischen Unvertretbarkeit). Auf der Ebene des Privaten bleibt Rorty eine Antwort auf die Frage schuldig, wie Sprache überhaupt sinnvoll sein kann, insofern sie nicht an die körperliche Vermögendheit, d. i. soziale Handlungen oder Erfahrungen, rückgebunden ist. Es wurde bereits eingehend dargelegt, warum für einen Gelähmten Worte wie »Radfahren« oder »Spazieren gehen« abstrakt bleiben, weil sie nicht mit seinen körperlichen Möglichkeiten korrespondieren. Aber nicht nur der Sinn der Sprache, sondern auch die verschiedenen Weisen, mich in der Welt zu engagieren, 190 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

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kommen mir primär vom Anderen zu. Sie eröffnen mir Möglichkeiten der Selbstereignung und Sinnerweiterung in der Welt. Damit ist die Selbstaktualisierung an die leibliche Nachahmung des Anderen gebunden. Rortys Konzeption setzt hingegen eine solche soziale Sinnstiftung immer schon voraus bzw. reduziert Selbstverwirklichung auf die Erweiterung sprachlicher Konstrukte. Sie ereignen sich jenseits des Körpers im Abstrakten und bleiben damit genuin sinnentleert. Im vorhergehenden Kapitel habe ich gezeigt, welche Veränderungen mit einer phänomenologischen Rekonstruktion des politischen Raums einhergehen. Der Körper wird zur Aktualisierungsfläche der Identität, welche im öffentlichen Raum durch meine Taten sichtbar wird. Erst im Verstehen unserer selbst als kontinuierlicher Prozess der Ermöglichung finden wir zu unserer Eigentlichkeit. Ein solcher Identifizierungsprozess findet im Austausch mit Anderen und nicht in der Sphäre des Privaten statt. Eine negative Abgrenzung als Affirmation wird überflüssig, weil wir uns immer schon im Anderen und der Andere in uns befindet: Wir vollziehen die Handlungen des Anderen innerlich nach, werden von seiner Seinsweise überlagert und lernen daraus, die Welt neu zu erschließen. 54 Dieser stete innere Nachvollzug des Anderen macht ihn in seinen Handlungen erst verstehbar. Diese Verwurzelung in einer durch den Körper geteilten (weil durch den Leib erschließbar, sichtbar, fühlbar etc.) Welt, zusammen mit dem gegenseitigen Nachvollzug unserer Handlungen, ist Grundlage für die Möglichkeit einer kommunikativen Vernunft. Grundsätzlich unerreichbar bleibt der Andere jedoch auf der Ebene seiner bloß organischen Funktion – und obgleich der Andere in seiner organischen Funktionsweise nicht einzigartig ist, kann ich dennoch nicht für ihn einstehen: Er bleibt unvertretbar und unersetzlich. Die einzige Basis der »Mitteilbarkeit« ist hier das Mitgefühl für die Ähnlichkeit des Anderen; d. h., obwohl ich nicht für den Anderen essen kann, kann ich ihn in seinem Hunger unmittelbar und jenseits von Sprache verstehen. 55 Die Einzigartigkeit kommt dem Menschen aber erst durch die Teilnahme im öffentlichen Raum zu, d. i. in seinem Sprechhandeln innerhalb einer Kommunikations- und Handlungsgemeinschaft. Die kommunikative Vernunft fungiert hier als eine Metaperspektive, wenn 54 55

Dabei übernehme ich selbstverständlich nicht sämtliche Arten der Welterschließung. Vgl. hierzu J. Mensch, Rationality and Empathy, a. a. O.

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gemeinsame Handlungen unverstanden bleiben oder Weltinterpretationen gegeneinanderlaufen. Als soziale Reparaturleistung einer gebrochenen Lebenswelt vermag sie die Risse zu schließen, weil sie selbst dann zum gegenseitigen Perspektivenwechsel herausfordert, wo der intuitive Nachvollzug qua Resonanz versagt hat. Sie vermag diese zu kitten, weil dem Dialog dieses grundsätzlich ähnliche Sinnverhältnis zur Welt je schon vorausgeht. Ferner werden wir nur dann in einem solchen Dialog eine illokutionäre Absicht verfolgen, insofern wir den Anderen als leidensfähiges und einzigartiges Wesen erfahren. In diesem Kontext möchte ich die Unterscheidung zwischen a. dem unmittelbaren Mitgefühl für die Ähnlichkeit des Anderen in seiner grundsätzlichen Unvertretbarkeit (Analogiemodell) und b. der Fähigkeit des abstrakten Perspektivenwechsels, welcher die Einzigartigkeit des Anderen in seinem Engagement in der Welt erkennt (Abstraktionsmodell), nochmals weiter präzisieren und auf die Idee der Menschenrechte anwenden. a. Die Unteilbarkeit und Unvertretbarkeit machen den Leib in seinem bloß organischen Funktionieren zum letzten Refugium des Privaten. Weil aber die organischen Funktionen jedem Menschen (und ähnlichem Lebewesen) zugrunde liegen, vermögen wir mit dem Anderen mitzufühlen, d. h., wir sind in dieser Welt qua Leib auf ähnliche Weise verankert und auf ähnliche organische Voraussetzungen angewiesen. Das analoge Mitgefühl zeichnet sich darin aus, dass mich der Schmerz, die Freude, die Wut des Anderen überwältigen kann. Dieser Schmerz, diese Freude kommen mir vermittels des Ausdrucksgebarens durch den Anderen zu und hallen in mir wider. 56 Bei Scheler gründet das Erkennen des Anderen als Menschen auf dieser Analogiebildung: Genauso wie ich einen Leib habe und damit ein lebendiges-fühlendes Wesen bin, ist (wahrscheinlich) auch der Andere mit ebensolchem Vermögen begabt. 57 Das Erkennen dieser Ähnlichkeit bedingt auch das unmittelbare Verstehen des Anderen in seinem Ausdrucksgehalt. Ein solches Erkennen des Anderen als lebendiges-fühlendes Lebewesen ist also wesentlich an den Leib des Anderen und weniJenes unmittelbare Mitgefühl vermittels der Ähnlichkeit mit dem Anderen vermögen auch Tiere in verschiedenem Grad zu empfinden, wie z. B. Primaten, Hunde, Katzen etc. 57 Vgl. hier Schelers bereits erwähnte Idee des Analogieschlusses. 56

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ger an seine Sprache gebunden. 58 Wenn es Rorty deshalb um die Sensibilisierung für das Leid des Anderen geht, dann verweist er auf diese Ähnlichkeit mit dem Anderen; z. B. wir alle lieben unsere Kinder und Eltern, empfinden Schmerz, können gedemütigt werden etc. Das Paradox besteht darin, dass Rorty ein solches Mitgefühl allein durch Geschichten kultivieren möchte und damit die unmittelbare Begegnung mit Anderen ausschließt, welche die eigentliche Grundlage dafür bildet, dass solche Geschichten uns überhaupt berühren. b. Anders als der private Bereich zeichnet sich der öffentliche Raum dadurch aus, dass seine Inhalte teilbar sind und wir in unserem Handeln für den Anderen einstehen können; z. B. ich kann zwar nicht für den anderen essen, aber ich kann durchaus für ihn auf die Bank gehen, seine Meinung bei einem Wahlgang vertreten (mit vorheriger Einwilligung) oder für ihn ein Haus bauen. Das heißt, ich kann für den Anderen bestimmte Handlungen ausführen, auch wenn die Autorenschaft und damit auch die Verantwortung selbstverständlich beim Anderen bleiben. Dieser Umstand zeigt, dass wir in einer gemeinsamen Welt leben. Dennoch bleibt der Andere in seiner Wahl und seinen Entscheidungen einzigartig und unvorhersehbar, d. h., in dem Maße als ich den Anderen an seiner eigenen Entscheidung, Handlung oder Meinungsäußerung hindere, verwehre ich ihm die Möglichkeit der Selbstverwirklichung, d. i. seine originäre Weisee auf die Welt einzuwirken. Die Gesamtheit dieser Entscheidungen sowie die Unvorhersehbarkeit zukünftiger Entscheidungen machen ein jedes Leben einzigartig und unvergleichbar, weil jeder auf seine ihm eigentümliche Weise auf die öffentliche Welt einwirkt. In seinem Handeln nehmen wir deshalb den Anderen in seiner Andersheit wahr: Sein Handeln, seine Entscheidungen können nicht mehr automatisch an meine eigenen Gedankengänge, körperlichen Projekte und Gefühle angeschlossen werden. Auf welchem Fundament gründen daher das Mitgefühl und die Anteilnahme am Anderen im öffentlichen Raum? Was garantiert, dass wir den Anderen in seiner Einzigartigkeit schützen? Der Andere offeriert uns durch seine Andersartigkeit ein Mehr an Optionen, welche grundsätzlich von uns übernommen werden können. Grundlage eines solchen Nachahmens ist unsere Fähigkeit zum abstrakten Mitgefühl. Wir vermögen von der Unmittelbarkeit und Kon58

Vgl. M. Merleau-Ponty, PW, 398 ff.

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kretheit der Welterschließung des Anderen zu abstrahieren, um diese auf ähnliche Bereiche zu übertragen; z. B. kann ich nicht nur diese Kohle zum Schreiben auf Papier verwenden, sondern einen jeden Überrest verbrannten Holzes. Nicht nur jene spezifische Erdbeere ist essbar, sondern auch eine jede andere ähnlich geformte Frucht. Nicht nur in dieser Situation empfiehlt es sich ruhig zu bleiben, sondern m. E. auch in allen ähnlichen Situationen. Voraussetzung hierfür ist, dass ich mich qua Perspektivenwechsel in die für mich fremde Situation hineinzuversetzen und von innen heraus das Verhalten des Anderen zu verstehen vermag. Anders als im Erkennen der Leidensfähigkeit des Anderen, welche im Erkennen seiner Ähnlichkeit und Unvertretbarkeit wurzelt und ich ihn dadurch als eine Person wie mich selbst erkenne, erscheint mir der Andere im Dialog bzw. in seinem Handeln in seiner Andersheit, seiner Unvorhersehbarkeit und Einzigartigkeit, welche ich durch Abstraktion auf mich selbst anwende. Auch die kommunikative Vernunft fungiert, im Sinne eines Perspektivenwechsels, über das Prinzip des Erkennens von Andersheit, wohingegen das analoge Mitgefühl dem Prinzip der Ähnlichkeit folgt. Aus diesem Grund tritt bei Habermas die »Einbeziehung des Anderen« ins Zentrum seiner Überlegungen. Die Sprache ist hierbei eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung, um mich für die Andersheit des Anderen zu sensibilisieren, weil wir nur über die Sprache widersprechen bzw. korrigieren können, wie und ob wir uns verstanden bzw. gedemütigt fühlen. Die Gefahr eines solchen Perspektivenwechsels besteht darin, letzten Endes einen universalistischen Standpunkt einzunehmen, welcher vom Körper und damit von der Ähnlichkeit sowie der Besonderheit des Anderen abstrahiert. Eine solche Vernunft, die blind ist für den menschlichen Körper und damit für die Unvertretbarkeit des einzelnen Menschen, läuft Gefahr in eine strategische Vernunft bzw. Gefühlskälte abzugleiten und damit mit ihrer Argumentation an den Bedingtheiten des Menschseins vorbeizugehen. Die Durchsetzung von Menschenrechten mit den Mitteln einer solchen universalistischen bzw. von den körperlichen Voraussetzungen des Menschseins abstrahierenden Vernunft läuft deshalb Gefahr, die eigentliche Absicht solcher Rechte ad absurdum zu führen. Denn gerade Menschenrechte bedürfen einer Argumentation, welche sich auf die Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit der einzelnen Menschen zugleich rückbezieht. Nur wenn beide miteinander verknüpft bleiben, ist es möglich, den Anderen sowohl 194 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

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als Menschen wie mich selbst als auch in seiner fundamentalen Andersheit wahrzunehmen und damit sowohl Grausamkeit als auch Gefühlskälte zu unterbinden.

6.2.4 Menschenrechte als Menschenpflichten: Die Pflicht zur Sorge um den Anderen Im Jahre 1997 machte ein Projekt mit dem Namen Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten auf sich aufmerksam. Ziel des engagierten Projektes war es, durch die Umformulierung der Menschenrechte in –pflichten den Einzelnen stärker in die Verantwortung zu nehmen und dadurch der einseitigen Betonung des Rechtscharakters entgegenzuwirken. Ferner sollte die Wirksamkeit eines solchen Katalogs durch ein globales Verantwortungsbewusstsein sichergestellt werden. In diesem Sinne war das Projekt zur Kultivierung transnationaler Solidarität angelegt. Trotz dieser hohen Erwartungen und Ziele gingen die Resonanz und Wirksamkeit des Projekts gegen null. Insbesondere konnte nicht gezeigt werden, wer und mit welcher Begründung für bestimmte Pflichten zur Verantwortung gezogen werden sollte. Bernd Thomsen formuliert den Zwiespalt wie folgt: »Sympathisch und überzeugend sind die formulierten Menschenpflichten insoweit, als sie eine moralische Selbstverpflichtung aller Mitglieder einer Gesellschaft darstellen. Sollten die Pflichten darüber hinaus von Staaten verordnet werden, sind Artikel zum Teil überflüssig, ja sie laden zum Teil zum Missbrauch geradezu ein.« 59 Insbesondere ist Vorsicht vor einer sozialistischen Vergesellschaftung geboten, welche die Rechte entlang an Pflichten bildet. 60 Denn plural-demokratische Gesellschaften sind der Idee des Schutzes und Entfaltung der Einzigartigkeit des Einzelnen verpflichtet. Erst dadurch, dass Menschenrechte an individuelle Freiheiten B. Thomsen, Rechtliche Grundlagen für einen wirksamen Menschenrechtsschutz, in: Amnesty International (Hg.), Menschenrechte im Umbruch. 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Neuwied/Kriftel 1998, 28. Vgl. hierin auch eine Darstellung des oben genannten Projektes. 60 H. Bielefeldt, Ein »von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal«. Der Streit um die Universalität der Menschenrechte, in: Amnesty International (Hg.), Menschenrechte im Umbruch. 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Neuwied/Kriftel 1998, 41. 59

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gebunden sind, wird die Einbringung freiheitlicher und pluralistischer Ideen möglich. Eine solche freie Vergesellschaftung schiebt autoritären Kollektivismen einerseits und sozial-willkürlichen Ausgrenzungen andererseits den Riegel vor. Die Debatte um den Rechts- bzw. Pflichtencharakter der Menschenrechte ist nicht neu: Habermas argumentiert an verschiedenen Stellen, dass private und öffentliche Autonomie einander bedingen. Insbesondere weist er darauf hin, dass multikulturelle Gesellschaften einen rechtlichen Rahmen benötigen, der jedem die Chance gibt, in einer kulturellen Herkunftswelt aufzuwachsen, sich mit dieser Kultur kritisch auseinanderzusetzen und diese entweder konventionell fortzusetzen oder zu transformieren. 61 Nur auf diese Weise ist es den Kommunikationsteilnehmern möglich, sich aktiv mit der eigenen und anderen Kulturen auseinanderzusetzen und sie auf diese Weise lebendig zu halten. Er besteht deshalb auf dem positiven Rechtscharakter der Menschenrechte. 62 Ernst Tugendhat wendet gegen eine solche Argumentation ein, dass der negative Charakter der Menschenrechte nur für gesunde, aktive und partizipierende Bürger von Nutzen sei; für andere Gesellschaftsschichten wie alte Menschen, Kinder oder behinderte Menschen bringen diese hingegen wenig Vorteil, weil sie für ihre optimale Selbstverwirklichung auf Hilfe von außen angewiesen sind. Fernerhin können diese Gruppen ihre Rechte nicht alleine einklagen, sondern sind auch hier auf das moralische Pflichtgefühl anderer angewiesen. Letzten Endes bleiben sie vom demokratischen Diskurs über Rechte ohnehin ausgeschlossen bzw. müssen sich darauf verlassen, dass sich andere Menschen für sie im rechtlichen Diskurs stark machen. Das bedeutet, dass körperliche Unversehrtheit und ein gewisses Existenzminimum negative Freiheitsrechte (im Sinne der Selbstverwirklichung) erst relevant machen. 63 Im interkulturellen Dialog liefert das rechte Verhältnis zwischen den liberalen Freiheitsrechten und den sozialen und ökonomischen J. Habermas, Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: Ch. Taylor, Multikulturalismus, a. a. O., 175. 62 J. Habermas, Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte, in: H. Brunkhorst et al. (Hg.), Ein Recht auf Menschenrechte, a. a. O., 216 ff. 63 E. Tugendhat, Die Kontroverse um die Menschenrechte, in: S. Gosepath u. G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, a. a. O., 48 ff.; sowie E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, 332 ff. 61

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Teilhaberechten einen hohen Anteil an Konfliktpotential. 64 Tugendhat muss zum Ende seiner Argumentation selbst zugeben, dass er auf diese Frage keine »befriedigende Antwort« zur Hand hat. 65 Dritte Welt und Schwellenländer drängen dabei selbstverständlich auf die positive Verwirklichung der sozialen und ökonomischen Rechte, weil sie als benachteiligte Gruppe auf die positive Verpflichtungshaltung der anderen Staaten angewiesen sind. Die westlichen Industrieländer pochen hingegen lediglich auf die Einhaltung der liberalen Rechte, weil ihnen die negativen Rechte genügen. Doch selbstverständlich lässt sich die Diskussion nicht auf eine solche polarisierende Gegenüberstellung reduzieren. Vielmehr wird von manchen östlichen Ländern argumentiert, dass die negativen Rechte erst dann eingehalten werden können, wenn ein bestimmter ökonomischer Status Quo des Landes erreicht sei. Selbstverständlich wird eine solche Argumentation oftmals nur vorgeschoben, um von innerstaatlichen Unrechtssituationen abzulenken bzw. diese zu rechtfertigen. 66 Andere Kulturen argumentieren dennoch, die negativen Freiheitsrechte torpedierten ihre pflichten- und gemeinschaftsorientierte Kultur. Insbesondere führe der individuumszentrierte Rechtscharakter zum Verlust des moralischen Pflichtgefühls und bedinge so das Auseinanderfallen der kulturellen Gemeinschaft. 67 Letzterem Einwand soll genauer nachgegangen werden: In traditionellen Gemeinschaften folgen die Beziehungen in der Regel der Ordnung der Nähe, d. i. eigentlich einem zunächst »ungerechten« Beziehungsgefüge, welches über die Idee der geschichtlichen oder sozialen Kontingenz fungiert. »Eine gerechte Gesellschaft und Rechtsordnung kann es nur geben auf der Basis einer sie tragenden Gemeinschaft, die ihren Halt in demjenigen findet, was ein Mensch nur für die Seinigen und niemals für alle tut«. 68 Moralische Pflichten erwachsen deshalb grundsätzlich aus einem gewissen Solidaritätsgefühl gegenüber der Familie oder einer kulturellen Gemeinschaft. Das heißt, sie nehmen die Sorge um den Anderen als Ausgangspunkt und führen so zu einem gesteigerten Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft als Ganzes. Selbstverständlich wirkt Siehe auch die Darstellung der Probleme der Menschenrechte im ersten Teil dieses Kapitels. 65 Ebd., 333. 66 Vgl. hierzu insbesondere den Dialog über Menschenrechte mit China. 67 Vgl. auch die genaue Darstellung des Problems im ersten Teil des Kapitels. 68 W. Schweidler, Das Unantastbare, a. a. O., 187. 64

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eine solche Haltung auf den Einzelnen zurück, weil er sich in schwierigen Situationen auf die Hilfe durch andere verlassen kann. Die Idee des positiven Rechts forciert hingegen den Schutz des Individuums vor der Gemeinschaft. Fundament für ihre Legitimität ist die gemeinschaftliche und rationale Einigung auf solche Rechte. Hierdurch entsteht eine gemeinschaftsübergreifende Solidarität. Das Individuum wird dabei auf zweifache Weise zum Zentrum der Rechtsgemeinschaft, weil sowohl das Einbringen von Gründen in den Diskurs als auch das spätere Einklagen der Rechte in der Idee der Autonomie wurzeln. Gegen einen solchen »Rechtsindividualismus« wurde insbesondere von Liberalismuskritikern der Einwand hervorgebracht, zu viele Rechte und zu wenig Verantwortung atomisieren die Gesellschaft. Die starke Fokussierung auf Rechte (als negative Pflichten) mag deshalb für gemeinschaftlich ausgerichtete Nationen abschreckend wirken. Was ist nun aber das Spezifische an der Idee der Menschenrechte und was haben sie mit dem Streit um Rechte und Pflichten zu tun? Georg Lohmann bringt diesen Konflikt auf einen wichtigen Punkt: »Die Idee der Menschenrechte hat in der moralischen Verpflichtung, alle anderen als Subjekte von gleichen Rechten anzuerkennen, ihren moralischen Ausgangpunkt.« 69 Für die Sicherstellung eines rechtlichen Rahmens benötigen Menschenrechte deshalb eine Art präjuridische transkulturelle »Grundsolidarität«. Das heißt, als faktischrechtliche Verankerung gehen sie im eigentlichen Sinne mit der Idee der Verpflichtung einher, weil sich ein jedes Recht erst durch seine Verankerung in den jeweiligen moralischen Vorstellungen legitimiert und seine Umsetzung garantiert. Insbesondere Henry Shue kritisiert, dass das Versäumnis, Pflichten in den Menschenrechtskanon aufzunehmen, letzten Endes zur Abstraktion der Rechte geführt hat, weil nicht klar ist, wer dafür zu sorgen hat, dass sie tatsächlich eingehalten werden. 70 G. Lohmann, Menschenrechte zwischen Moral und Recht, in: S. Gosepath u. G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, a. a. O., 89. 70 »Ich habe, seit ich mich mit Recht befasse, die Auffassung vertreten, dass die Verpflichtungen, die für die Durchsetzung von Rechten konstitutiv sind, allzusehr vereinfacht und allzuwenig analysiert wurden […]. Inzwischen empfinde ich jedoch die Tatsache, dass wir die Verpflichtungen nicht ernst genug genommen haben, nicht mehr nur als ein relativ nebensächliches Versäumnis, das mit ein paar wenigen Strichen wettzumachen wäre und der Vollendung eines ansonsten festen Gefüges diente; vielmehr konfrontiert uns die Reflexion über dieses Versäumnis mit zentralen Problemen der 69

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»Eine abstrakte Konzeption von Rechten ist eine misslungene Konzeption. Es mangelt ihr […] an einer genauen Beschreibung dessen, was getan werden muss, damit Rechte respektiert und durchgesetzt werden können.« 71 Die Wichtigkeit der positiven Verpflichtungen innerhalb der Struktur der Durchsetzung von Rechten besteht darin, dass es Menschen bedarf, welche andere Menschen vor der Verletzung ihrer Rechte schützen bzw. solche Verletzungen anklagen und sanktionieren. Anders als das eingangs erwähnte Projekt der »Menschenpflichten« geht es deshalb nicht nur darum, Menschenrechte in –pflichten umzuformulieren, sondern vielmehr um eine detaillierte Analyse, welche bedenkt, wer diese Aufgaben zu verrichten hat bzw. damit sinngemäß betraut werden kann. Selbstverständlich sind Vereinigungen wie Amnesty International oder die Unesco heutzutage entscheidend, wenn es um die Übernahme solcher Verpflichtungen geht. Sie können diese Aufgabe aber nicht ausschließlich übernehmen, weil sie nicht immer und überall anwesend sein können. Aus diesem Grund müssen die Bürger in diese Verpflichtung einbezogen werden, um eine flächendeckende Einhaltung bzw. Sicherstellung der Rechte zu gewähren. Wenn man also bedenkt, dass jedes Recht eine ganze Reihe an Verpflichtungen nach sich zieht (positive, negative, formelle oder informelle), so wird klar, dass hier noch viel philosophische und bildungspolitische Arbeit zu tun ist. 72 Ferner sieht sich die Idee der Menschenrechte mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, einerseits durch moralische Rechte eine transkulturelle Solidarität kultivieren zu wollen, andererseits setzen sie als positive Rechte ein solches Vertrauensverhältnis bereits voraus. Auch hier wird die Verkettung von moralischen und positiven Rechten und Pflichten deutlich. Der Kern dieser Debatte um Faktizität und Geltung der Menschenrechte ist jedoch nicht so sehr ein rein kultureller bzw. rechtlicher Diskurs. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion des zwischenmenschlichen Anspruchsgefüges, welches im Recht immer schon vorausgesetzt wird. Die daraus hervorgehende Frage ist, ob in multikulturellen Gesellschaften eine solche rationale Übereinkunft als sozialer Kitt ausreicht; ob eine minimale Grundsolidarität notwendig ist.

Rechtstheorie selbst.« (H. Shue, Menschenrechte und kulturelle Differenz, in: S. Gosepath u. G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, a. a. O., 356). 71 Ebd., 367. 72 Vgl. ebd., 364.

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Sowie ferner, wie ein solches Anspruchs- und Erwartungsgefüge interkulturell kultiviert werden kann. Shue weist darauf hin, dass der Dialog über die Verteilung solcher gegenseitigen Pflichten selbst gemeinschaftsbildend wirken kann. Das heißt, der Dialog darüber, welche Garantien wir uns zu geben bereit sind. Er argumentiert insbesondere, dass auf diese Weise die Idee der Menschenrechte nicht mehr nur an das Individuum geknüpft ist, sondern an die gegenseitigen Verpflichtungen und damit notwendigerweise auch an die Sorgen Anderer. Durch ein solches Gespräch über die genuinen Interessen und Bedürfnisse anderer werden Menschen automatisch mehr in die Verantwortung einbezogen. 73 Denn ein solches gegenseitiges Verstehen vermag Übereinkünfte zu stiften und auf diese Weise m. E. auch die Solidarität unter Kulturen stärken. 74 Eine Betonung der Pflichten vor den Rechten macht insbesondere dort Sinn, wo die Idee der Menschenrechte basisorientiert kultiviert werden soll (bottom-up), weil es die konkreten Einbindungen und die Verantwortung des Einzelnen verdeutlicht. Leider macht Shue nicht wirklich deutlich, warum eine so verstandene Kultivierung des kulturübergreifenden Dialogs solidaritätsstiftend wirkt. Um seine These zu belegen, werde ich deshalb abschließend nochmals auf die beiden hier entwickelten Facetten des Mitgefühls zurückgreifen: Die Idee der Verknüpfung von Menschenrechten mit Pflichten vertraut auf die Sensibilität, das Leid des Anderen wahrzunehmen und als Appell zum Handeln zu verstehen. Das heißt, dass uns die Wahrnehmung von Leid zum Handeln verpflichtet. Wir nehmen Menschen in ihrem Leid unmittelbar (Analogiemodell) durch die Fähigkeit des Mitgefühls wahr. Grundlage hierfür ist die Anerkennung der Unvertretbarkeit des Anderen in seiner organischen Funktion. Darüber hinaus wissen Menschen nicht nur, was ihnen gut tut bzw. schadet, sondern sie definieren sich in ihrem Selbst-sein und anhand von Gründen, welche Dinge ihnen gut tun bzw. schaden. 75 Die Grundlage hierfür Ebd., 366. Shue zeigt mit Blick auf Jeremy Waldron, wie ein solcher interkultureller Austausch auch zu Solidarität führt. Meine folgenden Ausführungen können als Ergänzung hierzu gesehen werden (vgl. J. Waldron, Nonsense upon stilts? – A Reply, in: ders. (Hg.), Nonsense upon stilts. Bentham, Burke and Marx on the Rights of Man, London/New York 1987, 170; zit. nach H. Shue, Menschenrechte und kulturelle Differenz, a. a. O., 372). 75 Vgl. G. Lohmann, Menschenrechte zwischen Moral und Recht, in: S. Gosepath u. G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, a. a. O., 84. 73 74

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ist jedoch nicht die Analogie, sondern das Erkennen der Einzigartigkeit des Anderen in seinem affektiven Bezogensein auf die Welt (Abstraktionsmodell). Dabei ist offen, durch welche Inhalte sich der Einzelne bestimmt. Moralische Rücksichtnahme für die Selbstbestimmung des Anderen erlangen wir durch Perspektivenwechsel, d. h. zu erkennen, dass der Mensch seine eigene und einzigartige Konzeption seines Selbst- bzw. Gutseins hat. Nur so lässt sich erklären, dass wir anderen gegenüber nicht nur die Verpflichtung zur physischen, sondern zugleich zur moralischen Rücksichtnahme haben (im Sinne einer Vermeidung von Demütigungen, Einschränkungen ihres Ausdrucksgebarens etc.). Diese doppelte Pflicht für den Anderen in seiner Unvertretbarkeit und Einzigartigkeit sind beide an den Körper rückgebunden: Durch die Verletzlichkeit des Leibes habe ich Zugriff auf den Anderen (durch Taten oder Worte); zugleich erscheint mir der Andere qua Leib in seiner Alterität. 76 Ich kann ihn nicht nur physisch verletzen, sondern ihn in seinem Menschsein unterdrücken, d. i. in seiner je einzigartigen Welterschließung. Der Andere ist deshalb auf meine Obhut angewiesen. Die Abstraktion von meiner sinnlichen Wahrnehmung, d. i. der Verletzlichkeit des Anderen, führt in eins zur Abstraktion von der leiblichaffektiven Besonderheit seines In-der-Welt-Seins. Insbesondere Shue kritisiert deshalb den hohen Abstraktionsgrad der Menschenrechte: »Die menschlichen Individuen, entkleidet und bis auf die Knochen entblößt, nehmen sich wie unterschiedslose Skelette aus; ob sie männlich oder weiblich, afrikanischer oder skandinavischer Abstammung, senil oder infantil sind, ist ihnen nicht anzusehen. Da man sie aus allen besonderen – emotionalen, politischen und geschlechtsbedingten – Bedingungen herausgeschält hat, verfügen sie über keinerlei Individualität mehr.« 77 Die rein abstrahierende Bereitstellung von Räumen der Selbstverwirklichung birgt die Gefahr einer solchen Entkleidung des Menschen von seiner Besonderheit. Aus diesem Grund ist es unabdingbar, den Dialog über die Rechte und Pflichten zwischen verschiedenen Gesellschaften an die Sensibilität für die Ähnlichkeiten und Un-

Vgl. hierzu die komplexen Überlegungen zu Leiblichkeit und Alterität bei Lévinas, welche ich an dieser Stelle nur andeuten, jedoch nicht voll ausführen kann. 77 H. Shue, Menschenrechte und kulturelle Differenz, in: Philosophie der Menschenrechte, a. a. O., 346. 76

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terschiede des Menschen in seinem organisch-leiblichen Dasein zu verankern.

6.2.5 Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Recht und Geltung Wenn es um die Frage der demokratischen Anerkennung von Menschenrechten geht, trifft Frank Michelman 78 eine klare Unterscheidung zwischen der abstrakten Idee der Menschenrechte und der rechtlichen Verwirklichung spezifischer Menschenrechtskataloge. Im ersten Fall geht es um die Anerkennung der Würde bzw. des Personseins eines jeden Menschen, das mit bestimmten Erwartungshaltungen in Bezug auf ein spezifisches zwischenmenschliches Verhalten einhergeht. Im zweiten Fall ist die konkrete Einigung auf positive und damit individuell einklagbare Rechte angesprochen. Für die tatsächliche Umsetzung von Rechten müssen zwei Grundbedingungen zutreffen, nämlich 1. Faktizität und Geltung, d. h., die Einsetzung spezifischer Rechte muss an deren soziale Anerkennung und Akzeptanz rückgebunden bleiben. Rechte, welche nicht auf breite gesellschaftliche Anerkennung stoßen, bleiben »leere Versprechungen«; und 2. die Anerkennung des Menschseins, d. h., die Rechtsempfänger müssen den Status der Zugehörigkeit erfüllen. Normalerweise ist dies die Zugehörigkeit zu einem Rechtsstaat. Im Falle der Menschenrechte genügt die Anerkennung des Menschseins des Anderen aus. Damit geht die Kultivierung der gegenseitigen Anerkennung des Menschseins der Möglichkeit ihrer rechtlichen Einsetzung voraus. 79 Habermas adressiert mit seiner diskursorientierten Theorie der Menschenrechte insbesondere die erste Problematik. Durch die Einbeziehung sämtlicher Gruppen in den Dialog soll die Legitimität der Rechte sichergestellt werden. Transkulturelle Solidarität wird durch die Einigung auf spezifische Inhalte kultiviert und geht deshalb als Resultat aus einem solchen Dialog hervor. Ein oft kritisiertes Problem Vgl. F. Michelman, Bedürfen Menschenrechte demokratischer Legitimation?, in: H. Brunkhorst et al. (Hg.), Ein Recht auf Menschenrechte, a. a. O., 52 ff. 79 Selbstverständlich ist eine solche »Bestimmung des Menschseins« keineswegs unproblematisch und Konflikte treten immer dann auf, wenn wir in Grenzbereiche eintreten (vgl. z. B. Kinderrechte oder die Abtreibungsdebatte). 78

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bleibt jedoch die illokutionäre Absicht: Denn das Eintreten in einen interkulturellen Dialog, welcher auf Wahrhaftigkeit und gegenseitige Offenheit vertraut, setzt die Anerkennung des Personseins des Anderen und unser solidarisches Verhalten gegenüber diesen Personen schon voraus. Es kann deshalb nicht erst als Ergebnis aus solchen Dialogen hervorgehen. 80 Rortys Idee einer Kultur der Menschenrechte beschränkt sich deshalb auf die gegenseitige Anerkennung des Personseins bzw. der gefühlten Solidarität. Hierzu gehört, dass wir den Anderen in seiner organischen Funktion als lebendiges und leidensfähiges Wesen erkennen. Über dieses Erkennen der unmittelbaren Ähnlichkeit zwischen Menschen sollen Romane für die Andersheit des Vokabulars und damit für Demütigungen sensibilisieren. Rortys Kultur der Menschenrechte kann daher am besten mit Begriffen wie »gegenseitige Rücksichtnahme« oder dem »Gewähren größtmöglicher Freiheit« umschrieben werden. Insofern handelt es sich eher um eine gegenseitige Verpflichtungshaltung und weniger um individuelle Rechte. Nichtsdestotrotz bleiben auch solche Inhalte unabdingbar an die gegenseitige Anerkennung rückgebunden – denn ohne die minimale gegenseitige Zurechnungsfähigkeit bzw. rationale (d. i. intersubjektiv berechtigte) Erwartung verliert die Idee einer Kultur der Menschenrechte ihren Wert. An dieser Stelle zeichnet sich der Konflikt zwischen der rechtlichen Einsetzung von Menschenrechten einerseits und der moralischen Installation einer Kultur der Menschenrechte andererseits ab. Im Folgenden soll deshalb gezeigt werden, dass diese beiden Interpretationen keine sich ausschließenden Vorgehensweisen darstellen: Die Inhalte positiver Rechte entspringen (idealerweise) einem interpersonalen Dialog. Sie unterliegen der kontinuierlichen Veränderung, weil nur so das Verhältnis zwischen Faktizität und Geltung, d. i. die rechtliche (legale) Durchsetzung legitimer Maßstäbe gewährleistet werden kann. Ein solcher Austausch findet jedoch nur zwischen Dialogpartnern statt, die sich gegenseitig in ihrem Personsein wahr- und ernstnehmen, d. i. Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit des Anderen anerkennen und damit eine Art Grundsolidarität verspüren. Daraus folgt, dass die ideale Diskurssituation bei Habermas die »Kultur der Menschenrechte« im Sinne Rortys – d. i. eine Grundsolidarität sowie Vgl. hierzu meine eingehenden Analysen in: B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O.

80

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Sensibilität für das leibliche Bedürfen und die Möglichkeit der Demütigung anderer Kommunikationsteilnehmer – immer schon voraussetzt. In diesem Sinne sind die Theorien von Habermas und Rorty als komplementär und nicht als sich gegenseitig ausschließend zu verstehen. Ich werde das im Folgenden genauer ausführen, indem ich beide Theorien an den Konflikt zwischen Vernunft und Mitgefühl rückbinde: Als sichtbares Wesen nehmen wir den Anderen zunächst in seiner körperlichen Funktion wahr, d. h., er ist ein verletzliches und in seinem organischen Funktionieren unersetzbares Wesen. Und weil wir einen ähnlichen Körper haben, vermögen wir durch einen Analogieschluss zu erfassen, dass sich hinter dem Ausdrucksgebaren des Anderen ein fühlendes Wesen, wie wir selbst es sind, verbirgt. 81 Diese analoge Schlussfolgerung lässt sich aus dem unmittelbaren Mitgefühl und dem Verstehen der Gebärden des Anderen ziehen. Weil der Andere darüber hinaus mit einem ähnlichen Leib in der Welt verankert und engagiert ist, offenbart sich ein ähnlicher Sinn durch den Appellcharakter der Dinge. Durch Nachahmung wird unser »Ich kann« durch den Anderen erweitert. Außerdem ist der Andere als Körper und in seiner Unersetzbarkeit ein absolut Anderer: Er widerspricht mir und vermag meine Erwartungen jederzeit zu sprengen. 82 Die Art und Weise, wie er als Existenz sich in der Welt engagiert, ist jedem einzigartig – ich werde nie mit dem Anderen identisch sein. »In his actions, the other gives himself as both like and not like me. He behaves generally as I do, but not in any strictly predictable way. There is always a certain excess in what he shows me. He is not limited to the predictions I make from my own experience.« 83 Durch Sprache bzw. durch Perspektivenwechsel verIch greife hier auf Schelers Idee des Analogieschlusses zurück, weil er für die vorliegende Argumentation diesen Prozess genauer analysiert. Letzten Endes behält Merleau-Ponty jedoch recht, wenn er sagt, dass dieser Analogieschluss nie »bewusst« in diesen Schritten vollzogen wird, sondern wir immer schon »beim Anderen« sind bzw. ich den Anderen »in mir« vorfinde. Schelers Beschreibung ist deshalb lediglich eine gedankliche Rekonstruktion dieses Prozesses im Nachhinein. 82 »Und ebenso ziele ich, wenn ich sage, ich kenne jemanden oder ich liebe ihn, jenseits aller seiner Eigenschaften auf einen unerschöpflichen Grund seines Seins, der eines Tages das Bild sprechen könnte, das ich mir von ihm machte.« (M. Merleau-Ponty, PW, 414.) 83 J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 83. »To give a temporal cast to this is to note that this exceeding is toward the future. The real future – the future that distinguishes itself from the past – does not just repeat it. I do not anticipate the future simply as a pro81

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mögen wir mit den Augen des Anderen zu sehen und von dessen Seinsweise überlagert zu werden. Auf diese Weise vermag die fremde Perspektive meine eigene Perspektive zu ergänzen. Eine solche Überlagerung bzw. Ergänzung ist insbesondere dann notwendig, wenn es um das Verstehen des Anderen in seiner körperlichen Differenz geht (Frauen versus Männer, Kinder versus Erwachsene, kulturelle Unterschiede in der Ausbildung körperlicher Fähigkeiten oder Fähigkeiten des Körpers – z. B. stark-schwach, groß-klein – etc.). Auf ebensolche Weise vermag ich vom spezifischen »Ich kann« des Anderen zu abstrahieren, um es nicht nur auf jene Situation, sondern auch auf meine eigene Situation anzuwenden. Die Erweiterung des »Ich kann« verlangt deshalb beides, sowohl die Analogie zu (im Sinne eines Verstehens) als auch die Abstraktion (Übertragung) von der Besonderheit. Diese Grundbedingung des intersubjektiven Zur-Welt-Seins hält den Menschen offen für weitere Perspektiven und ermöglicht so die Frage nach dem »Wie noch?«, nach der Rückseite und den Alternativen; z. B. dass die Dinge eine Rückseite haben, dass Ideen pro und contra implizieren, dass Handlungen Folgen haben etc. Deshalb nimmt jede Frage den Anderen als Ausgangspunkt, auch wenn sie in der Einsamkeit gestellt wird. Das Erkennen von Ähnlichkeit durch analoges Mitgefühl bedingt, dass wir den anderen in seinem Personsein und damit in seiner Freude, seinem Leid, seiner Trauer etc. wahrnehmen. Die Ähnlichkeit des Körpers ist zugleich Voraussetzung dafür, dass wir in einen »rationalen« (intersubjektiven) Dialog treten können. Denn erst durch diese Ähnlichkeit des Körpers sind wir in der Lage, die Handlungen des Anderen grundsätzlich zu verstehen sowie diese uns durch unmittelbare Nachahmung anzueignen. Die Verkörperung bedingt jedoch zugleich die absolute Trennung vom Anderen, d. h., der Andere erschließt die Welt auf einzigartige Weise. Hierzu gehört sowohl die Besonderheit seines Körpers als auch die Vorstellung von seinem Selbst, dem Gutsein, seinen Zielen etc. Aufgrund dieser Andersartigkeit vermögen wir weder seine Handlungen noch seine Gedanken vorherzusagen oder zu bejection of what I have already experienced. It is present to me as an openness to the new, as an exceeding of the intentions that I form on the basis of my past experience. This presence of the future is, in fact, the presence of the other, that is, his exceeding givenness. The other will be what he or she will be, not simply what I determine and anticipate from my perspective.«

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rechnen. Wertvoll ist diese Andersheit, weil die Seinsweise und das »Ich kann« des Anderen unser eigenes Dasein erweitern. Aus diesem Grund bildet der Chiasmus aus Ähnlichkeit und Andersheit die Voraussetzung für das Entstehen eines dynamischen politischen Raumes der Sinnstiftung und des kommunikativen Handelns. In einen solchen intersubjektiven Prozess der Sinnkonstitution sind wir immer schon einbezogen, d. h., die Sphäre des Politischen ist eine primordinale und sich immer weiter entwickelnde. 84 Selbstverständlich können wir uns in eine solipsistische Welt zurückziehen, indem wir den Dialog verweigern. Aber dieser Rückzug geschieht immer schon auf dem Rücken eines solchen Sozialisationsprozesses. 85 Sinnstiftung und Identitätsbildung werden deshalb durch den Anderen nicht eingeengt, sondern zuallererst ermöglicht. Und Identität entwickelt sich nicht durch die Abgrenzung vom Anderen, sondern vielmehr durch die Anerkennung und Bezeugung durch den Anderen. 86 Aus diesem Grund ist auch die illokutionäre Absicht der Kommunikationsteilnehmer bei Habermas keine im Nachhinein konstruierte, sondern die eigentliche Grundhaltung, welche das Entstehen einer Sphäre des Politischen zuallererst ermöglicht. Mit dieser Verflechtung von Ähnlichkeit und Andersheit geht ferner ein Vernunftverständnis einher, welches durch das Mitgefühl an die Unvertretbarkeit und Einzigartigkeit des Menschen rückgebunden bleibt. Eine von den körperlichen Grundbedingungen entblößte Vernunft wäre zugleich eine entmenschlichte Vernunft. Das bedeutet, dass

Dies wurde weiter oben im Kontext von Mitgefühl und Vernunft ausführlich dargelegt. 85 Vgl. M. Merleau-Ponty, welcher in folgendem Zitat mit der erlebten Realität des Solipsismus ringt und ihn schließlich von innen her widerlegt: »Der sozialen Welt gegenüber kann ich stets mich meiner sinnlichen Natur bedienen, die Augen schließen, mir die Ohren verstopfen, in der Gesellschaft als Fremder leben, die Anderen, alle Zeremonien und Monumente als bloße Licht- und Farbenarrangements behandeln und ihrer menschlichen Bedeutung entkleiden. Der natürlichen Welt gegenüber kann ich noch stets mich auf meine denkende Natur zurückziehen und jede Wahrnehmung für sich genommen in Zweifel ziehen. Darin ist die Wahrheit des Solipsismus gelegen. […] Doch kann ich dem Sein nur ins Sein entfliehen, etwa der Gesellschaft in die Natur entfliehen, der wirklichen Welt in eine imaginäre, zusammengesetzt aus Bruchstücken der Wirklichkeit. Stets bleiben die physische und die soziale Welt der Anreiz meiner Reaktionen, positiver wie negativer.« (PW 412.) 86 Vgl. Ch. Taylor, Multiculturalism and ›The Politics of Recognition‹, a. a. O. 84

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selbst ein »universalistischer Perspektivenwechsel«, insofern es sich um Fragen des menschlichen Lebens handelt, in den Grundbedingungen des Menschseins (exzentrische Position) verankert bleiben muss. Die so intendierte Stellungnahme abstrahiert nicht vom Menschsein an sich – d. i. von seiner Sterblichkeit, seiner Verletzlichkeit, seiner Fehlbarkeit usw. –, sondern versucht lediglich jeden Standpunkt zugleich zu erwägen. 87 Wie weit es möglich ist, vom konkreten Menschen zu abstrahieren, d. i., ob eine Abstraktion von der körperlichen, geistigen, seelischen u. ä. Besonderheit des Menschen angemessen ist, bleibt eine andere Frage und ist wesentlich von der konkreten Problemstellung abhängig. Im Gegensatz hierzu würde eine radikal universalistische Perspektive von jeglicher menschlichen Bedingtheit abstrahieren und auf der Ebene der Ethik zu fatalen Folgen führen. Beispiele hierfür gibt es genügend und sie reichen über die Verletzung von sog. »Menschenrechten« über Fragen der Bioethik zu Problemen der Euthanasie. 88 Niemand kann wollen, dass eine Maschine oder eine formal logische Schlussfolgerung über solche Fragen entscheidet. Vielmehr verlangen wir, dass die Entscheidungsträger die Rahmenbedingungen des menschlichen Seins mitsamt ihrer eigenen körperlichen Verwurzelung (Zeitlichkeit, Sterblichkeit, Verletzlichkeit, Sensibilität, Unvertretbarkeit, Einzigartigkeit etc.) erwägen, um auf dieser Grundlage eine Entscheidung mit ihrer eigenen Existenz zu verantworten. Eine so verstandene Vernunft muss nicht um die Anerkennung des Personseins des Anderen ringen, sondern nimmt die Ähnlichkeit zum Ausgangspunkt, um zugleich die Andersheit des Anderen im Dialog zum Vorschein zu bringen.

Die praktische Vernunft bei Kant ist sich sehr wohl der menschlichen Bedingtheiten bewusst, auch wenn sie nicht explizit ausgewiesen werden. Sie erwägt zwar eine universalistische, aber trotzdem noch menschliche Stellungnahme – nicht eine außerirdische, amöbische, göttliche etc. 88 Eine radikal universalistische Rationalität, welche von der Unvertretbarkeit und Einzigartigkeit des Menschen abstrahiert, vermag leicht zu dem Schluss zu kommen, dass z. B. Menschenleben gegeneinander quantitativ aufgewogen werden können oder dass sich Klonen wirtschaftlich lohnt. 87

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6.2.6 Menschenrechte zwischen Mitgefühl und Vernunft: Problematisierung des mediatisierten öffentlichen Raumes Bevor diese phänomenologische Beschreibung der Verbindungslinien zwischen Vernunft und Mitgefühl, öffentlichem Raum, Körper und Menschenrechten abgeschlossen wird, soll auf eine wesentliche Transformation hingewiesen werden: die Entkörperlichung des öffentlichen Raumes durch Medien. Selbstverständlich kann an dieser Stelle dieses Problem nur angedeutet, nicht aber umfassend behandelt werden. Dennoch soll diese Transformation nicht ignoriert werden, weil sie die hier vorgestellte »Phänomenologie des politischen Raumes« sowie die Idee einer leibfundierten Kultivierung der Menschenrechte unmittelbar betrifft. Georg Lohmann konstatiert in seinen Überlegungen zu Recht und Moral der Menschenrechte, dass »Menschenrechtsforderungen […] am besten als Antworten auf exemplarische Unrechtserfahrungen zu verstehen [seien], weil nur so Unrecht durchlebt wird und zur Vermeidung motiviert sowie auf das Unrecht aufmerksam macht«. Das heißt, dass der Begriff des Unrechts abstrakt bleibt, insofern er nicht durch eigene Erfahrungen oder durch die Anteilnahme an Unrechtserfahrungen anderer Menschen angefüllt wird. Man kann sagen, dass es heutzutage zur Aufgabe eines verantwortungsvollen und sozial engagierten Bürgers gehört sich über Fernsehen, Zeitungen, Photographien etc. über das Unrecht und Leid von Mitbürgern sowie Menschen anderer Länder und Kulturen zu informieren. Diese Medien zwingen jedoch dazu, leidende Menschen, Katastrophen und Ungerechtigkeiten örtlich auf die Fläche des Fernsehens und zeitlich auf wenige Sekunden bis Minuten zu reduzieren. Die Distanzsinne wie Hören und Sehen sind hierbei, im Gegensatz zu den Nahsinnen wie Riechen, Schmecken und Fühlen, deutlich dominant. Eine solche Art der Auseinandersetzung mit Grausamkeiten, Ungerechtigkeiten und Leid kann sowohl auf der Seite des Betrachters als auch auf der Seite der Medien zu folgenden beiden Haltungen führen: a. dem Voyeurismus bzw. der Schadenfreude, d. h. dem Genuss des Betrachtens von Leid, das anderen Menschen zustößt, und b. der Distanz bzw. der Reduktion des Leids auf begreifbare Fakten. Die erste Reaktion rückt damit in die Nähe der Grausamkeit, wohingegen letztere Haltung eher der Gefühlskälte ähnelt. a. Grundsätzlich wird Voyeurismus als eine Form der Sexualität 208 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

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definiert, bei welcher ein Mensch durch das Betrachten von seiner Präferenz entsprechenden, sich entkleidenden oder nackten Menschen sexuell erregt wird. Im engeren Sinn bezeichnet der Begriff das heimliche Beobachten einer unwissenden Person, im weiteren Sinn jegliche Form der Lust am Betrachten. In seinem Lustcharakter kann der Voyeurismus eine Form der Katharsis sein. Er unterscheidet sich jedoch von seinem »griechischen Vorfahren«, weil es im Falle der Gaffgier oder Medienspektakeln um das Laben am tatsächlichen Leid anderer geht. Die Katharsis in der griechischen Theaterkunst ist hingegen das Nacherleben des Protagonisten in einem Schauspiel, das eine »innere Reinigung« zur Folge hat. Von den Medien wird die Lust am Sehen genutzt, um aus menschlichem Leid eine Sensation zu machen, das die Massen begeistert. Solche Versuche sind nicht neu und ähneln z. B. den Spektakeln in Roms Kolosseum der Kaiserzeit. Der Voyeurismus ist eine Schattenseite des Mitgefühls, d. h., das Leid des Anderen wird als lustvoll empfunden. Der Genuss besteht jedoch in dem Wissen, dass diese leidende Person ein Anderer ist. Das Wissen um die Andersheit zeichnet sich auch in der Asymmetrie der Beziehung ab, denn nur der Voyeur sieht den Anderen, wohingegen der Andere nicht weiß, ob oder von wem er beobachtet wird. Das heißt, er bleibt machtlos, die Interpretation des Betrachters zu beeinflussen. In diesem Mangel an Kommunikation wird der Betrachtete zum Objekt. Als Objekt wird sein Leid, das Grauen, das Unrecht vom Voyeur konsumiert. Der Körper wird zum visuellen Symbol oder Repräsentation ohne Personsein. b. Eine weitere Reaktion auf fremdes Leid ist die faktische Darstellung von menschlichem Leiden, d. i. die numerische Reduktion des Grauens auf Prognosen, Statistiken und Zahlen. In diesem Fall wird von der Unvertretbarkeit des organischen Leibes abstrahiert. Der spezifische Tod eines Menschen wird zur austauschbaren Zahl. In diesem Sinne ist faktische Darstellung nur eine weitere Form der Objektivierung von subjektivem Leid. Um nicht in eine der beiden Haltungen zu verfallen, muss sich der Betrachter stets fragen, ob er als unbeteiligter Beobachter Information einholt, als Voyeur ein Spektakel betrachtet oder als Bürger ein Unrecht bezeugt. Nur die letzte Haltung ist eine genuin politische, weil nur sie sich in den intersubjektiven Raum hinauswagt. Diese Situation stellt uns vor ein Reihe von ethischen Fragen: Wie können sich Menschen über die weltweiten Vorgänge informieren, 209 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

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ohne gleichzeitig eine der beiden aufgezeigten Negativ-Haltungen einzunehmen? Wie können umgekehrt die Medien über Unrecht und Leid berichten, ohne zu objektivieren bzw. zum Voyeurismus einzuladen? Vermögen die Medien m. E. sogar eine neue Form des politischen Marktplatzes zu kultivieren? Ist es dabei möglich, vom Körper bzw. der direkten Begegnung zwischen Menschen zu abstrahieren? Welche positiven Möglichkeiten politischen Engagements ergeben sich hieraus? Der folgende Abschnitt vermag nicht auf alle Fragen und Probleme einzugehen. Deshalb werde ich exemplarisch zeigen, inwiefern die Ökonomisierung des politischen Raumes den Voyeurismus unterstützt. 89 Insbesondere geht hiermit die Frage einher, ob für die Kultivierung von Mitgefühl Fernsehen, Bücher und ähnliche Medien ausreichen oder ob nicht umgekehrt, durch die Kultivierung eines »Voyeurismus des Grausamen«, die Entsolidarisierung eher vorangetrieben wird. Mit dieser Frage ist insbesondere auch die Praktikabilität von Rortys Vorschlag angesprochen, Mitgefühl durch Romane und Berichte zu kultivieren. Wenn wir einen literarisch-historischen Text lesen, z. B. einen Briefwechsel oder ein Tagebuch, dann geht es zunächst nicht um den genauen Inhalt des Schriftstücks, denn die Zahlen und Informationen des Textes sind für unsere Zeit nicht mehr relevant. 90 Der eigentliche Gehalt entfaltet sich vielmehr in dem Bedürfnis, immer wieder zu diesem Text zurückzukehren und mit jedem neuen Lesen eine weitere Bedeutung zu entfalten. In solchen Situationen erscheint uns der Text in seiner Andersheit und Unerfassbarkeit. Aus diesem Grund kann ein Textstück oder Kunstwerk in dem Maße als »exzessiv« bezeichnet werden, als es unsere eigenen Intentionen oder Vorstellungen übersteigt. Jede Rückkehr enthüllt uns ein neues Detail – ein Prozess, der niemals wirklich abgeschlossen werden kann. In dieser Hinsicht unterscheidet sich ein Kunstwerk, ein Roman, ein Gedicht, eine Performance etc. von einem informellen Text, weil Letzterer nur Informationen enthält, welche auch bei einmaligem Lesen verstanden werden. Eine Person in ihrer Subjektivität zeichnet sich nun in ähnlicher Folgende Gedanken nehmen ihren Ausgang bei J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 82 ff. 90 Ich beziehe mich mit diesem Beispiel und folgenden Gedanken auf J. Mensch, Embodiments, a. a. O., 82 f. 89

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Weise dadurch aus, dass sie frei ist, Zukunft hat und uns in ihrer Andersheit nie ganz gegeben ist. James Mensch schreibt: »To intend the other as exceeding your intentions is to intend her as free. This means that you intend her as the author of her actions. To do so, however, is to raise the question of whether she would authorize your actions. Would she consent to your treating her in the way you intend? Would she, for example, authorize your lying to her? Can you assume that she would make this an object of her will? If not, then to intend her as free is to limit your behavior in this regard. Kant expresses this limitation in a formulation of his categorical imperative. […] Concretely, this means that I cannot treat a person as a thing. In those actions that the other could not authorize, the recognition of the other’s freedom imposes limitations on my freedom.« 91 Jede direkte Begegnung mit einer anderen Person bedeutet eine wechselseitige Interpretation eines Ausdrucksgeschehens. Ebenso wird alles, was mir zustößt, von anderen bezeugt. Das heißt, ich erwarte eine Antwort. Erst durch diese Antwort bezeugt der Andere mein Unrecht und es erhält hierdurch eine soziale Realität. 92 Jedes Wahrnehmen ist eine Art der Interpretation. 93 Im Falle der Wahrnehmung einer Person bedeutet es, zugleich die Interpretation des Anderen in seinem Personsein zu bezeugen. Hier jedoch entflieht uns der Andere immer schon durch seine Subjektivität und deshalb müssen wir uns bei ihm »rückversichern«, ob wir ihn »recht verstanden haben«. Niemals steht es uns zu, den Anderen in seinem So-Sein festzusehen, weil wir ihm sonst die Autorenschaft seines In-der-WeltSeins absprechen würden. Erst im gegenseitigen Bezeugen und Versichern erkenne und anerkenne ich den Anderen in seinem Personsein, d. h. als anders, frei und Zukunft habend. 94 Der Konsum von Bildern unterstützt eine objektivierende HalEbd. 84 f. Vgl. F. Lyotard zur Ungerechtigkeit (Der Widerstreit, München 1987). Eine Schwierigkeit der Gaskammern des Holocausts bestand für die überlebenden Opfer darin, dass sie die Vernichtungskraft nicht beweisen konnten, weil sie diese ja selbst überlebt hatten. Umkehrt blieben Tausende von Toten unbezeugt, ihr Tod blieb anonym und wurde einzig in Zahlen erfasst, welche vom singulären Leid eines jeden Einzelnen abstrahieren. 93 Vgl. Mensch, Embodiments, a. a. O., 84. 94 Dies entspricht den drei Kategorien, welche James Mensch in dem zitierten Aufsatz entwickelt. 91 92

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Versuch einer Phänomenologie der Menschenrechte

tung gegenüber den Menschen auf dem Bildschirm, in der Zeitung, im Radio: Das Erscheinen des Anderen wird »verzehrt«, um zum nächsten Bild, zur nächsten Neuigkeit fortzufahren. Die Bilder leidender Menschen, des Unrechts oder des Grauens folgen einer Serie von Bildern, in welcher jedes Bild potentiell austauschbar ist. Sie werden vom Betrachter konsumiert, um durch ein weiteres Bild ersetzt zu werden. In diesem Sinne folgt die Medienflut dem Prinzip der Ökonomisierung des Raumes – mit den Leitlinien des Konsums bzw. der Messung in Zahlen. Das erste Prinzip entspricht dem zum Spektakel avancierten Leid, welches vom Voyeur konsumiert wird und zur Steigerung individueller Lust beiträgt; das zweite Prinzip bezeichnet das in Zahlen und Statistiken begreifbar gewordene Leid bzw. die Ungerechtigkeit, welche vom einzelnen Menschen abstrahiert. In beiden Fällen verliert die so gezeigte Person oder das Ereignis seine Einzigartigkeit und wird zum Bild wie jedes andere. Beide Formen des Bilderkonsums führen zum Verschwinden des politischen Raumes, weil dieser entweder vom Individuum konsumiert und verbraucht wird oder aber das Individuum durch seine innere Distanz vom öffentlichen Geschehen sich in seine Privatheit zurückzieht. Medien wirken in beiden Fällen nivellierend und totalisierend, indem sie durch die Parallelisierung von Einzigartigkeiten sowohl den Pluralismus als auch das Erscheinen der Subjektivität in seiner Singularität unterdrücken. Auf ebensolche Weise werden politische Programme und Kandidaten für die Medien vermarktet. 95 Das heißt, in dem Maße, da wir nicht mehr bezeugen, sondern nur beobachten, nicht nur Information sammeln, sondern als Voyeur den Anderen objektivieren, verlieren wir die exzessive Präsenz des Anderen im öffentlichen Raum bzw. der Betrachter hat sich in seine idiosynkratische Privatsphäre zurückgezogen. Das Erscheinen des Anderen in seiner Exzessivität ist jedoch das Fundament für ethische und politische Verantwortung. »The image that is allowed to express this presence refuses to be consumed. It provokes us, calling on us to respond just as another person does. Feeling the call, one returns to it again and again as to a master. Our own political, ethical, and artistic responsibility is to keep open the place for this call.« 96

95 96

Vgl. hierzu ebd. Ebd. 87.@

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7. Abschließende Gedanken

Vernunft ohne Mitgefühl birgt die Gefahr totalitären Denkens bzw. resultiert in der Auflösung des öffentlich-intersubjektiven Raums. Mitgefühl ohne Vernunft führt hingegen zum Verschwinden normativer Rechtsgrundlagen sowie des gemeinsamen Sprach- und Sinnraumes. Zur Auflösung dieser Dichotomie wurde deshalb an die Stelle der Vernunft bzw. des Mitgefühls der Leib in seiner sinn- und handlungskonstituierenden Funktion gesetzt. Denn die sprachliche Vermittlung der leiblichen Grunderfahrung in rationalen, d. i. intersubjektiv verstehbaren Sätzen, ist die Voraussetzung für die Entstehung einer gemeinsamen, öffentlichen und intersubjektiv zugänglichen Welt. Der Körper gilt hier als das Medium für die Sicht- und Hörbarmachung privater Gedanken und ist Voraussetzung für die Entstehung eines öffentlichen Raumes. Für die Kultivierung der Idee der Menschenrechte im Speziellen sind die organische Unvertretbarkeit und handlungsbezogene Einzigartigkeit qua Verkörperung wesentliche Faktoren. Insbesondere die gegenseitige Anerkennung des Personseins als auch die Legitimität von Rechtsinhalten bzw. spezifische gesellschaftliche Ordnungen sind auf die Anerkennung der körperlichen Grundbedingungen des Menschen angewiesen. Eine einseitige Vernachlässigung von Vernunft bzw. Mitgefühl führt hingegen entweder zur Abstraktion vom konkreten Menschsein (absolut universalistische Perspektive) oder zur Negation der Andersheit des Anderen. Wenn es schließlich um die Frage geht, ob Menschenrechte zuerst als positive Rechte eingesetzt oder als moralische Solidaritätsverpflichtung kultiviert werden sollen, dann kann darauf folgendermaßen geantwortet werden: Eine leibfundierte und mitfühlende Vernunft, der es um Fragen des menschlichen Daseins geht, nimmt ihren Ausgang zugleich bei der Einzigartigkeit und der Unvertretbarkeit des Anderen. In diesem Sinne ist eine solche Vernunft immer schon »in Sorge um den 213 https://doi.org/10.5771/9783495860618 .

Abschließende Gedanken

Anderen«. Um einen solchen politischen Dialograum zu kultivieren, müssen auf der praktischen Ebene »bottom-up Projekte« (Geltung, Legitimität, Gefühl) mit »top-down Projekten« (Recht, Vernunft) kombiniert werden, um das Erkennen des Personseins des Anderen sowie die pragmatische Einigung auf eine positive Rechtsverankerung gleichermaßen zu kultivieren. Bei solchen Verhandlungen geht es nicht um die Unterscheidung von »richtig« oder »falsch«, sondern um die Sensibilisierung für menschliche Grundbedingungen sowie die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Differenzen. Diese Arbeit versteht sich letztlich als ein emphatisches Plädoyer für die Bedeutung des Körpers und der Gefühle: Der öffentliche Raum ist auf das Sehen und das Gesehenwerden angewiesen, weil sich erst hieraus ein gemeinsamer Sinn sowie eine Sensitivität für das Dasein des Anderen entwickeln können. Ein Rückzug in die Monade des Selbst führt hingegen zur Destruktion des Politischen: Denn das auf den privaten Raum reduzierte Individuum ist seiner sozialen Funktionen beraubt. In diesem Sinne ist diese Studie eine »phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes« auf der Grundlage des Körpers. Damit ist sie mehr als nur die Antwort auf ein Forschungsdesiderat: Sie ist vielmehr die Offenlegung eines geistesgeschichtlichen blinden Flecks, welche in der Konsequenz zu einer Bedeutungsumkehrung wesentlicher politischer Begriffe wie ›Freiheit‹, ›Macht‹ oder ›politischer Raum‹ führt.

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Barbara Weber

Zwischen Vernunft und Mitgefühl Jürgen Habermas und Richard Rorty im Dialog über Wahrheit, politische Kultur und Menschenrechte 328 Seiten. Kartoniert ISBN 978-3-495-48594-1

Einerseits ist die Idee der Menschenrechte aus westlicher Perspektive zunächst so eingängig, dass zu fragen bleibt, warum die globale Durchsetzung auf solche Widerstände stößt. Andererseits scheint es, als würde der Dialog darüber, welche konkreten Rechte mit dem Menschsein einhergehen, die globalisierte Gesellschaft an den Rand ihrer Fähigkeiten bringen. Philosophisch betrachtet stehen sich hier zwei Diskursmodi globaler Verständigung gegenüber: der auf kommunikativer Vernunft basierende »ideale« Diskurs (Habermas) und die auf Mitgefühl setzende »Kultur der Menschenrechte« (Rorty). Dieses Buch ist jedoch mehr als ein bloßer Vermittlungsversuch: Vielmehr begibt sich die Autorin auf eine Art Spurensuche und führt die divergierenden politischen Visionen auf deren zugrundeliegende Epistemologien zurück. Erst hierdurch wird verständlich, warum Habermas und Rorty folgende Fragen so unterschiedlich beantworten: Müssen wir uns zunächst in rationalen Diskursen annähern, um für Menschen fremder Kulturen Solidarität zu empfinden? Oder aber gelingt die Kultivierung eines umfassenden Mitgefühls, um von dort zu einer transkulturellen Solidarität vorzudringen? Ist eventuell die Substitution der Vernunft durch Mitgefühl ein Gestus der Aufrichtigkeit einer Disziplin, die sich ihrer Grenzen bewusst geworden ist: ein »selbstloser Akt«, der das Eingestehen des eigenen Unvermögens über die Denunziation anderer stellt? Oder aber ist der rationale Diskurs im multikulturellen Dialoggefüge aktueller politischer Diskurse unersetzlich?

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Barbara Weber

Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte Vernunft und Mitgefühl als Grundvoraussetzungen einer demokratischen Dialogkultur 260 Seiten. Kartoniert ISBN 978-3-495-48596-5

Kinder entwickeln schon früh ein Bewusstsein für Ungerechtigkeiten – sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber anderen. Um dieses Bewusstsein zu schulen und gemeinsame Rechte trotz bestehender Unterschiede auszuhandeln, braucht es beides: ein umfassendes Mitgefühl sowie die Fähigkeit, intersubjektive »Wahrheiten« im demokratischen Dialog zu generieren. Was aber bedeutet diese Einsicht für die Kultivierung eines Menschenrechtsbewusstseins bei Kindern? Ist es möglich, rationale Dialogfähigkeit und Mitgefühl parallel zu kultivieren, bzw. bedingen diese sich unter Umständen sogar gegenseitig? Ziel dieses Buches ist es, eine »dialogische Blickwinkelpädagogik« zu entwerfen, welche die Kultivierung von individueller bzw. kultureller Identität nicht gegen, sondern mit und durch Andere versteht. »Identitätsbildung« ist Teil der politischen Kultur und umfasst den generalisierten Perspektivenwechsel ebenso wie die Sensitivierung für Ähnlichkeit und Andersheit durch Mitgefühl und Sprache. Bildungstheoretisch wird hierfür John Dewey als Ausgangspunkt gewählt, um die gesellschaftspolitische Aufgabe der Philosophie als Demokratiebildung neu zu bestimmen. Aus diesem theoretischen Ansatz wird das »Philosophieren mit Kindern« als Mittel zur Förderung von Demokratie und Dialogkompetenz abgeleitet.

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