Konstitutive Negativität: Zur Rekonstruktion des Politischen in der negativen Dialektik Adornos 9783839436790

Astoundingly, the political potential of Adorno's negative dialectic has until now rarely been explored. Sangwon Ha

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Konstitutive Negativität: Zur Rekonstruktion des Politischen in der negativen Dialektik Adornos
 9783839436790

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. TEIL: PHILOSOPHIE DES NEIN-SAGENS
1. Negativität und Selbstkritik der Dialektik
1.1 Undialektische Dialektik: Kritik der Dialektik als positiver Weltanschauung
1.2 Selbstreflexion der Dialektik
1.3 Negativität und die Aufgabe einer neuen Dialektik-Konzeption
2. Negative Dialektik und die Konstellation der Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik
2.1 Das Problem der Verschmelzung der Begrifflichkeit und Realität: Für eine nicht aporetische Auslegung
2.2 Idee der negativen Dialektik
2.3 Kritisches Verfahren: Negativität und immanente Kritik
2.4 Von der bestimmten Negation zur konstitutiven Negativität
2.5 Übergang zur Politik der Negativität
II. TEIL: ZUR POLITIK DER NEGATIVITÄT
3. Verweilen beim Negativen: Einsicht in die Negativität der Gesellschaft
3.1 Erkenntnis des gesellschaftlichen Leidens
3.2 Gesellschaft als nicht zusammenzuschließende Realität
3.3 Das Nichtidentische und die Ausgegrenzten
4. Negation des Negativen: Politische Theorie des Subjektes
4.1 Adornos »Wendung aufs Subjekt«
4.2 Ein Mündiger Mensch: Das »Nein« sagende Subjekt
4.3 Mimesis, Mit-Leiden und Solidarität
4.4 Gesellschaftliches Gesamtsubjekt: Immanente Selbsttranszendenz der subjektlosen Totalität
4.5 Zur assoziierten, gemeinsamen Subjektivität : Selbstbestimmung und Mitbestimmung
Schluss
Anhang
Siglen
Literaturverzeichnis

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Sangwon Han Konstitutive Negativität

Edition Moderne Postmoderne

Sangwon Han (Dr. phil.), geb. 1982, studierte Philosophie an der University of Seoul und promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Universitäten in Seoul.

Sangwon Han

Konstitutive Negativität Zur Rekonstruktion des Politischen in der negativen Dialektik Adornos

Zugleich Dissertation, die am 15. März 2016 an der philosophischen Fakultät I (Dekanin Prof. Dr. Gabriele Metzler) der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt worden ist (Erstgutachter Prof. Dr. Andreas Arndt, Zweitgutachter Prof. Dr. Frieder Otto Wolf). Der Autor bedankt sich herzlich bei beiden Gutachtern für ihre freundlichen und lehrreichen Betreuungen. Der Druck wurde freundlicherweise von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziell unterstützt. Der Autor möchte der RLS und insbesondere Dr. Macus Hawel seinen Dank für die Förderung und Hilfe ausdrücken.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung | 7

I. T EIL: PHILOSOPHIE DES NEIN-S AGENS 1. Negativität und Selbstkritik der Dialektik | 29

1.1 Undialektische Dialektik: Kritik der Dialektik als positiver Weltanschauung | 29 1.2 Selbstreflexion der Dialektik | 36 1.3 Negativität und die Aufgabe einer neuen Dialektik-Konzeption | 64 2. Negative Dialektik und die Konstellation der Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik | 75

2.1 Das Problem der Verschmelzung der Begrifflichkeit und Realität: Für eine nicht aporetische Auslegung | 76 2.2 Idee der negativen Dialektik | 82 2.3 Kritisches Verfahren: Negativität und immanente Kritik | 110 2.4 Von der bestimmten Negation zur konstitutiven Negativität | 127 2.5 Übergang zur Politik der Negativität | 137

II. T EIL: ZUR POLITIK DER NEGATIVITÄT 3. Verweilen beim Negativen: Einsicht in die Negativität der Gesellschaft | 143

3.1 Erkenntnis des gesellschaftlichen Leidens | 146 3.2 Gesellschaft als nicht zusammenzuschließende Realität | 161 3.3 Das Nichtidentische und die Ausgegrenzten | 176 4. Negation des Negativen: Politische Theorie des Subjektes | 181

4.1 Adornos »Wendung aufs Subjekt« | 182 4.2 Ein Mündiger Mensch: Das »Nein« sagende Subjekt | 189 4.3 Mimesis, Mit-Leiden und Solidarität | 205

4.4 Gesellschaftliches Gesamtsubjekt: Immanente Selbsttranszendenz der subjektlosen Totalität | 230 4.5 Zur assoziierten, gemeinsamen Subjektivität : Selbstbestimmung und Mitbestimmung | 240 Schluss | 253 Anhang | 257

Siglen | 257 Literaturverzeichnis | 258

Einleitung Philosophie schöpft, was irgend sie noch legitimiert, aus einem Negativen. ADORNO (ND, 62)

1. H ERRSCHAFT DES P OSITIVEN Die »Ontologie des falschen Zustandes« (ND, 22), so stellte Adorno in der Negativen Dialektik aufs Neue die dialektische Philosophie dar, weist die Richtung der gesamten theoretischen Anstrengung Adornos auf. Im ersten Satz der Zueignung in der Minima Moralia bezeichnete Adorno ferner die Philosophie angesichts der seit langem vergessenen, ihr aber zu seiner Zeit erneut dringend auferlegten Aufgabe, die im Grunde genommen in der Lehre vom richtigen Leben besteht, als die »traurige Wissenschaft« (MM, 13). Wodurch aber zeichnet diese sich aus? Wieso ist die Philosophie »traurig«, wieso reflektiert sie über den »falschen« Zustand? Ist es keine bloß sich selbst verachtende Klage eines Philosophen, der die Epoche von Auschwitz erfahren hat? Heutzutage scheinen alle großen Tragödien der Menschheitsgeschichte bereits besiegt worden zu sein oder zumindest mit einiger Gewissheit der Vergangenheit anzugehören. Was dann bleibt, ist demnach das verwirklichte Glück in der digitalen Zivilisation, in der das Individuum nun seinen eigenen Erfolg berücksichtigen darf, unter der Bedingung allerdings, dass es die Welt »positiv« anschaut gemäß dem Motto: »Alles ist möglich, alles ist wunderbar!« – doch ist es das wirklich? Die heutige Zeit charakterisiert sich als ein Überfluss an Positivem, wo man unausweichlich zubilligen muss, dass die Welt bereits ihre negative Phase überwunden hat und darum das, was vorhanden ist, sicherlich das Positive ist. Im Überfluss des Positiven hat das Subjekt kein Mittel dazu, seine Ablehnung und Unwilligkeit zum Ausdruck zu bringen. Dadurch wird ohnmächtig vergessen, dass das um es herum stattfindende Leiden in der Welt anhält – die angesichts der immer noch zusehends unstabiler werdenden, globalen wirtschaftlichen Lage prekarisierten Lebensformen der jungen Generationen, die furchtba-

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re Katastrophe des Schicksals der Flüchtlinge, die hilflos im Mittelmeer ertrunken sind, und die brutale Logik der Austerität, die den verarmten Ländern unverhohlen aufgezwungen wird. Es kommt sodann weiterhin zur Herrschaft des Positiven, worin das Subjekt sich mechanisch immer wieder versichert, dass seine Umwelt die allerschönste sei, und unterdessen für das Unglück der Welt zusehends unempfindlich wird. Dieses »Schema der ungestörten Genußfähigkeit « gehört nach Ansicht von Adorno zum »Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten « (MM, 70). Ich glaube, dass Adornos Philosophie, die uns zum Pathos der Negativität aufrüttelt, in diesem Kontext ihre Aktualität in negativer Weise erlangt, nämlich als eine Antithese zur Herrschaft des Positiven, solange der Überfluss des Positiven die reflexive Besinnung auf das Leiden der Realität verstellt. Mit dem Ausdruck der »traurigen Wissenschaft «, der einen Gegensatz zu Nietzsche bildet, welcher seine Philosophie »fröhliche Wissenschaft« nannte und die positive Moral der Liebe zum Schicksal, amor fati, in den Vordergrund seiner Anschauung stellte, hat Adorno sein philosophisches Grundmotiv dargestellt. Er wollte in einem traurigen Zeitalter an der traurigen Wissenschaft festhalten und durch das Verweilen beim Negativen das Leiden in der Welt philosophisch mit verneinender Gebärde ausdrücken.1 Philosophie ist ein Ausdruck des Leidens und zugleich ein Widerstand gegen den negativen Stand der Welt. Das Pathos der Negativität, wie sie sich in seine Philosophie eingesogen hat, betrifft darum nicht den Geist der Klage, sondern eher der Anklage. Seine Philosophie orientiert sich somit konsequent daran, die Herrschaft des Positiven als »affirmative Lüge« aufzudecken, ihr zu widerstreben. »Schon vor Auschwitz war es angesichts der geschichtlichen Erfahrungen affirmative Lüge, irgend dem Dasein positiven Sinn zuzuschreiben.« (ÄT, 229) Eine neue Form der Ideologie ist dann nach dieser Ansicht »die Reduplikation dessen, was ohnehin ist, als des allein wahren, sinnvollen Seins, die dann darauf sich stützen und berufen kann, daß dem Positiven gegenüber, das ist, ein anderes überhaupt nicht mehr zu denken sei« (PET, 210). Die in der Süße der Bilder der Realität kontemplativ bleibenden Menschen verfallen in die »Beobachtungstiere« (LGF, 327). Der Überfluss des Positiven ist somit der Grund für die Passivität der Menschen,

1 Ich bezeichne das gesamte philosophische Projekt Adornos als negative Dialektik, da das Pathos der Negativität gegen die Herrschaft des Positiven die gesamte Grundintention seiner Philosophie auszeichnet. Wenn seine Monographie Negative Dialektik als sein philosophisches Hauptwerk angeführt wird, so wird sie, wie andere Titel seiner Werke, mit großem N und kursiv geschrieben.

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das Subjekt wird diesem unterworfen. Sein Verhalten verwandelt sich zum »Konformismus« (LGF, 83) zur Welt, in der der Antagonismus noch dominant ist, während der »Nichtkonformismus« (LGF, 85) ein solcher Versuch ist, in der Mitte des antagonistischen Zustandes die Möglichkeit eines jenseits des Bestehenden herauszulesen. Mit noch gravierenderem Zuschnitt kann man sagen, dass nur das Bewusstsein der Negativität den Menschen zum leidenschaftlichen machen kann. Die Erfahrung des Leidens im antagonistischen Zustand macht ein Individuum zum Subjekt, das über seine Umwelt reflexiv denken kann, zum leidenschaftlichen Dasein, das seine Reflexion praktisch umsetzen kann, so, wie es sich etwa in einem denkwürdigen Wortspiel des jungen Marx finden lässt: »Der Mensch als ein gegenständliches sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und weil sein Leiden empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft d[es] Menschen.« (MEGA I.2, 409)

Adorno hat einmal in seinem Gespräch mit Horkheimer angemerkt, »es gibt die Schopenhauersche Nacht, aber in dieser Nacht sind die Sterne.«2 Wenn im »bestirnte[n] Himmel«3 über Kant Sterne strahlen, so ist dies nur in einer schopenhauerschen, mit Leiden gefüllten, finsteren Nacht möglich. Eben die »Rose im Kreuz der Gegenwart « (PR, 26), nämlich in der von Leiden gefüllten Realität die Hoffnung erkennen zu wollen, ist, mit hegelschem Ausdruck gesprochen, die Konsequenz der »ungeheure[n] Macht des Negativen « (PG, 36). Diese Macht ist unterschieden von der Melancholie, die den mit der Traurigkeit beschwerten Menschen zum ohnmächtigen Dasein herabsetzt. Die Macht der Negation, die die Negativität der Welt praktisch überwinden will, strebt nach einer »Säkularisierung der Melancholie« (LGF, 188). Dass Adorno den Titel seines philosophischen Hauptwerks Negative Dialektik nannte, hat aus diesem Grund eine praktische Bedeutung. Demzufolge ist es die Rolle der Dialektik und ihre Raison d'être, gegen die metaphysische Weltanschauung, die die unharmonische Welt als harmonisch manifestiert, die Misere, die Verzweiflung und das Leiden der Realität zum Ausdruck zu bringen. Das ge-

2 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Rettung der Aufklärung. Diskussionen über eine geplante Schrift zur Dialektik (1946), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 595. 3 Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg, 1990, S. 186.

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samte Projekt der negativen Dialektik zielt gegen diese »apologetische Sisyphusarbeit, das Negative des Allgemeinen wegzudenken « (ND, 321) auf den Widerstand gegen die Gewalt des Bestehenden ab. Um das Richtige im Falschen auszudrücken, soll die Philosophie beim Negativen verweilen, weil das Positive in der Tat erst dadurch aufgefasst werden könnte, indem »die vollendete Negativität einmal ganz ins Auge gefaßt« wird und sich das Positive »zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschließt« (MM, 283). Kurz formuliert: »Was als Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Bestehende« (ÄT, 55), und die Philosophie hat die Aufgabe, die »negative Erscheinung der Utopie« (ÄT, 196) zu erkennen.

2. W AS IST NEGATIVE D IALEKTIK ?: P HILOSOPHIE UND R EALITÄT In der Einleitung für Drei Studien zu Hegel erklärte Adorno, dass seine Grundintention bei der Verfassung seiner Schriften eigentlich in der »Vorbereitung eines veränderten Begriffs von Dialektik « (DSH, 250) liegt; der Kern dieses Projektes ergibt sich danach in der Negativen Dialektik, insofern es dabei darum geht, die »Dialektik von derlei affirmativem Wesen [zu] befreien « (ND, 9). Was soll diese Befreiung dann genau heißen? Die Dialektik ist für Adorno nicht als eine Gestaltung eines neuen, hypostasierten Denksystems zu begreifen 4, sondern als eine Denkbewegung, die hypostasierte reale Herrschaft einer Kritik zu unterziehen, was dadurch ermöglicht wird, dass sie negativ, also eine negative Dialektik ist. In einer einschlägigen Passage hat Adorno in diesem Zusammenhang die Dialektik kurz und bündig wie folgt definiert: »Dialektik heißt Intransigenz gegenüber jeglicher Verdinglichung.« 5 Die Dialektik ist nämlich für Adorno kein bloßes

4 »Hypostasierte Dialektik wird undialektisch und bedarf der Korrektur« (Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 308.). 5 Kulturkritik und Gesellschaft, GS 10.1, S. 26. In ähnlicher Hinsicht hat Oskar Negt in seiner Schrift über die aktuelle Bedeutung der hegelschen Dialektik eine allgemeine Bedeutung der dialektischen Denkweise überhaupt formuliert. Demnach wird die Dialektik dadurch charakterisiert, »daß die Anstrengung des Begriffs, die bestimmte Negation, die Kritik der verdinglichten Denkformen und der Ideologien den Zweck hat, die Widersprüche der Gesellschaft erfahrbar zu machen und durch politisch-kritische Tätigkeit aufzuheben.« (Negt, Oskar: Zum Problem der Aktualität Hegels, in: ders. (Hg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt/M, 1970, S. 16.) An

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geistiges Verfahren der positiv begrifflichen Setzung der Welt, keine Weltanschauung in diesem Sinne, sondern »das unbeirrte Bemühen, kritisches Bewußtsein der Vernunft von sich selbst mit der kritischen Erfahrung der Gegenstände zusammenzuzwingen« (DSH, 258). Die negative Dialektik ist darum eine konsequent kritische Dialektik. Lassen wir uns nunmehr auf die Bedeutung des Begriffs der Negativität der Dialektik eingehen. Sie bezieht sich in erster Linie darauf, einen Gegenstand in seiner Beziehung zu seinem Anderen, zu dem, was er nicht ist, zu bestimmen. Außerdem bedeutet sie darum die Einsicht, dass ein vorhandenes Sein keine selbstständige Substanz, sondern in die Bestimmung von sich selbst und zugleich von dem Anderen entzweit ist. Wir werden sehen, dass es das eigentliche Verfahren des dialektischen Denkens ist, innerhalb der Identität das Nichtidentische zu finden und umgekehrt zu bemerken, dass die Existenz des Nichtidentischen eine notwendige Bedingung für die Konstitution der Identität ist. Diese Entzweiung ergibt sich dann als eine Triebkraft dafür, dass das Sein sich bewegt. Damit weist die Negativität der Sache auf ihre Möglichkeit der Veränderung hin. Diese Einsicht in die Entzweiung der Sache bedeutet nun im Kontext dessen, als was sich die negative Dialektik Adornos in ihrer kritischen Relation zur gesellschaftlichen Realität versteht, dass die bestehende Gesellschaft nicht ihre wahrhafte Gestalt sein kann, und darum die theoretische Reflexion immer überprüfen muss, ob sie uns nicht als das Nichtseinsollende gegeben ist. Der gesellschaftliche Prozess drückt sich im Zustand des Nichtseinsollenden in einer Form des Leidens des Einzelnen aus und wird von ihm so erfahren. Darum ist die gesellschaftliche Realität in ihrer Ordnung der Negativität nicht als ein kontinuierlicher homogener Organismus, sondern als eine in sich widersprüchliche Totalität zu begreifen. Daraus entspringt die Notwendigkeit und zugleich die Möglichkeit der Politik. Eine dialektische Gesellschaftstheorie ist in diesem Zusammenhang Ausdruck des praktischen Interesses der Theorie, zu der als negativ existierenden gesellschaftlichen Ordnung »Nein« zu sagen. Eben daran anknüpfend versuche ich nun im vorliegenden Text eine Politik der Negativität aus der negativ dialektischen Philosophie Adornos abzuleiten.

diese Definition der Dialektik schließt sich die Fragestellung nach der Bedeutung der Dialektik bei Holloway, Matamoros und Tischler in ihrer präzisen Formulierung an: »Why dialectics at all, then? Simply because it is the only form of thought adequate to a wrong world.« (Holloway, John/Matamoros, Fernando/Tischler, Sergio: Negativity and revolution: Adorno and political activism, in: dies. (Hg.): Negativity and Revolution. Adorno and political activism, London, 2009, S. 8.)

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Hierbei ist die Differenz zwischen der Philosophie und der Kunst relevant, um ihre jeweils eigenen Rollen zu bestimmen. Solange Adorno die Grenze der begrifflichen, rationallen Denkweise der traditionellen Philosophie und damit der Vernunft selbst durchleuchten wollte (wir werden später sehen, dass dies aber auf keinen Fall den Verzicht auf den begrifflichen Gedanken bedeutet), ist es die Kunst, die diese Grenze der Philosophie und des begrifflichen, identifizierenden Denkens durch die Erinnerung an die Natur im Geist ergänzt – die Bedeutung dieser Erinnerung an die Natur wird in unserer Betrachtung als politische Kategorien wie Mimesis und Impuls im erweiterten Horizont wieder aufgegriffen. Was nun hier von Bedeutung ist, ist, dass Adorno dabei gleichwohl die eigene Rolle der Philosophie selbst nicht vergisst. Die Philosophie fasst er hierbei in Abgrenzung zur Kunst nicht als eine selbstständige Gestalt auf, vielmehr ist sie in ihrem Verhältnis zu dem außer ihr stehenden Sachlichen, Realen zu verstehen. Das Verhältnis zwischen dem Denken und dem, was dieses nicht ist, also was außer dem Denken ist, macht daher das »Kernthema der Philosophie« (VND, 75) aus. Dieser Gedanke über die Rolle der Philosophie wurde in der Dialektik der Aufklärung derart formuliert, dass sie in Anspruch genommen wird, sich als eine Theorie zu fassen, die »der Wahrheit einen Zeitkern zuspricht, anstatt sie als Unveränderliches der geschichtlichen Bewegung entgegenzusetzen« (DA, 9). Dem lässt sich nun hinzufügen, dass Adorno die Theorie, die oft gleichbedeutend mit Philosophie ist, als ein Tun, eine Art der Praxis verstanden hat, nämlich in doppelter Hinsicht: Einerseits ist die Theorie von Anfang an praktisch, weil sie als solche ein Tun ist, das geistige Produkte wie neue Denkformen oder Diskurse herstellt. »Denken ist ein Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis «6. Theorie ist in diesem Sinne als eine Art der »verändernden, praktischen Produktivkraft« 7 zu verstehen. Zweitens gibt die Theorie dem praktischen Impuls der Theorie Auftrieb, indem sie mit ihrem kritischen Pathos den praktischen Impuls der Veränderung fördert. »Betrifft Denken irgend etwas, worauf es ankommt, so setzt es allemal einen, wie sehr auch dem Denken verborgen praktischen Impuls. Der allein denkt, welcher das je Gegebene nicht passiv hinnehmen will.«8 Diese Tätigkeit, tätige Kraft des Denkens, die Gegebenheit nicht unmittelbar aufzunehmen, sondern ihre praktische Veränderung voranzutreiben, indem es über sie kritisch reflektiert, heißt Negation. »Die spekulative Kraft, das Unauflösliche aufzusprengen, ist aber die der Negation.« (ND, 38) Negative Dialektik ist daher unter anderem die philosophische Anstrengung, die »unbeirrte Negati-

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Marginalien zu Theorie und Praxis, GS 10.2, S. 761.

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A.a.O., S. 765.

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Ebd.

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on« (ND, 162) ins Auge zu fassen. Damit ist auf das kritische Verhältnis des philosophischen Denkens zur Realität verwiesen, das für die dialektische Denkweise nach Hegel und Marx charakteristisch ist, der sich Adornos negative Dialektik grundsätzlich verdankt.9 Indem das begriffliche Denken nämlich den gegebenen Gegenstand bearbeitet, d. h., seine an sich seiende Positivität verneint, löst es die Autarkie des Gegenstandes auf und rekonstruiert ihn in einem allgemeinen Netzwerk der Beziehungen. In dieser Weise arbeitet das Denken produktiv durch die Negation. Die produktive Negativität ist eben der Grund dafür, dass sich die dialektische Theorie als dynamisches und kritisches Denken verstehen lässt. Signifikant ist in dieser Hinsicht, dass der Prozess, in dem der Gegenstand als abstraktes An-Sich-Sein ad infinitum aufgelöst und damit zum bestimmten aufs Neue erschaffen wird, die Arbeit der Negativität des dialektischen Denkens aufweist. Diese Tätigkeit des Denkens, die wie die Arbeit des Maulwurfes perpetuell durchgeführt wird, impliziert sodann eine theoretische Praxis in dem Sinne, dass die Theorie im Verhältnis zum gegebenen Gegenstand eine neue Konsequenz produziert, statt dass sie ihn unmittelbar positiv einnimmt. 10 Durch ihre unablässig kritische Haltung zur Realität kommuniziert die negative Dialektik

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»Eine andere Position nehmen Marx sowie Autoren wie Adorno und Plessner ein, die Hegels Kritik der unvermittelten Unmittelbarkeit grundsätzlich akzeptieren, die Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung jedoch nicht im Hegel’schen Sinne als Selbstrepräsentation eines Absoluten verstehen.« (Arndt, Andreas: Unmittelbarkeit, Berlin, 2013, S. 62; Auch vgl. Arndt, Andreas: Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg, 1994.)

10 In Bezug auf die Einsicht, dass die Theorie produktive Wirkung besitzt, nämlich auf den Aspekt der theoretischen Praxis trifft die negative Dialektik Adornos mit der Philosophie von Althusser, die eigentlich von der theoretischen Tradition der dialektischen Negativität absichtlich Abstand nahm, interessanterweise zusammen. Das Verhältnis zwischen der kritischen Theorie seit Horkheimer und Adorno und der Althusser-Schule hat Frieder Otto Wolf derart dargestellt, dass im Laufe der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus die akademische und wissenschaftliche Lage einen Kampfplatz des sozialen Konfliktes bildete und in diesem Kontext die kritische Theorie in der BRD neben der Althusser-Schule in Frankreich durch die intellektuelle Reflexion über die Herrschaft des Faschismus in Deutschland und den endgültigen Sieg des Stalinismus in der Sowjetunion ein Projekt der emanzipatorischen Praxis im Bereich der intellektuellen Tätigkeit rekonstruieren und damit »die emanzipativen Kämpfe im intellektuellen Prozess der akademischen Disziplinen, in Forschung und Lehre« weiterhin betreiben wollte. (Vgl. Wolf, Frieder O.: Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit, Münster, 2009, S. 288.)

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als Antithese zur Realität mit derselben. Sie ist in diesem Sinne die Philosophie des Nein-Sagens. Hinter den philosophischen Darstellungen und Aussagen von Adorno nistet sich von daher immer sein Interesse an der praktischen Veränderung der Realität ein, was uns dann dahin lotst, seine Philosophie im politischen Hinblick zu rekonstruieren. Seine Philosophie bestand somit immer aus auf der Seite der intellektuellen Praxis gestellten Antworten auf die geschichtliche und gesellschaftliche Situation seiner Zeit und war darum Ausdruck des philosophischen Impulses zu emanzipatorischer Politik.11 Meine Intention besteht in diesem Zusammenhang darin, das Konzept der Politik der Negativität darzustellen, die ich in vorliegender Arbeit fernerhin zu entwickeln versuche, indem der Horizont des Negativitätsbegriffs, der durch die Reinterpretation der negativen Dialektik Adornos festgestellt wird, auf die politische Philosophie erweitert wird. Bereits weit bekannt sind seine gesellschaftstheoretischen sowie kritischen Kategorien wie der Verblendungszusammenhang, die verwaltete Welt, die Liquidation des Individuums und die Kulturindustrie etc., die auf die Verallgemeinerung der sozialen Herrschaft und die Subsumtion des Individuums in den Reproduktionsmechanismus der Gesellschaft hinweisen und sich darum zugleich seit langem mit den Vorwürfen des politischen Pessimismus abfinden mussten. Hingegen versuche ich zu beweisen, dass ein neuer politisch-philosophischer Horizont, der bislang kaum erschlossen wurde, in Adornos Philosophie erkennbar ist, indem die philosophische Idee der negativen Dialektik und die eigenständige Rolle des Begriffs der Negativität politisch-philosophisch erweitert und umgesetzt wird. Die Voraussetzung dafür ist aber zunächst, zu verdeutlichen, in welchem theoriegeschichtlichen Zusammenhang die negative Dialektik Adornos steht, welche Rolle der Negativitätsbegriff in der intellektuellen Tradition der dialektischen Philosophie spielte, und warum Adorno an dieser Tradition festhielt, während er sie andererseits weiterhin kritisch zu rekonstruieren versuchte. Nunmehr lässt sich die Frage stellen, wie der Negativitätsbegriff an die Sphäre der politischen Philosophie anzuschließen ist. Um darauf zu antworten, gehe ich zuerst davon aus, dass der Begriff der Negativität in der negativen Dialektik einen konstitutiven Charakter innehat, den ich als konstitutive Negativität

11 In diesem Zusammenhang ist eine solche Einschätzung der Philosophie Adornos von Espen Hammer als zutreffend zu bezeichnen: »One of his most impressive feats was to have invented a form of philosophical reflections that at every step is politically oriented and critical, yet without eventually relinquishing philosophy altogether. « (Hammer, Espen: Adorno & the Political, New York, 2006, S. 178)

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kennzeichnen will. Demzufolge ist das wirklich Positive nicht unmittelbar vorgegeben, sondern kann nur durch die Tätigkeit der Negation nachträglich konstituiert werden, und von daher ist das, was das Positive konstituiert, eigentlich die Negation. »Aber das einzig Positive, das man ›hat‹, ist das Gegebene in seiner Schlechtigkeit, über das die Erkenntnis mit nichts anderem hinausgeht als damit daß sie die Schlechtigkeit durch den immanenten Widerspruch des Gegebenen bestimmt. Das Positive ist das Negative, und nur das Negative, die bestimmte Negation, eigentlich positiv. «12

Das Positive kann weder allein existieren, noch von sich aus das Negative seiner selbst gebären. Im Gegenteil stellt die Negation es durch ihre Operation her, d. h., es wird lediglich durch ihre Tätigkeit konstituiert, weil es nicht unmittelbar gegeben, sondern nur als Potential vorhanden ist. Infolgedessen verdeutlicht dies, dass die Negation Vorrang vor dem Positiven hat. Sie gibt dem potentiell Positiven Auftrieb, weshalb jenes auf sein Negatives angewiesen ist. »Wahrheit ist nichts anderes als der Inbegriff der Negation dessen, was falsch ist.«13 Für Adorno ist die Wahrheit nichts an sich isoliert Existierendes, sondern etwas durch die Operation der Negation ihres Negativen, des Falschen Herzustellendes. Erweitern wir den Negativitätsbegriffs dadurch, diese logische Struktur auf die kritische Methode anzuwenden, so ist Negativität ein anderer Name der kritischen Vernunft14, die den gegenwärtigen Zustand durch die Entdeckung seines Selbstwiderspruchs immanent kritisiert und dadurch die Transzendenz dessen ermöglicht. »Die Möglichkeit des sich Entringenden wird vom Druck der Negativität gezeigt.«15

12 Adorno, Theodor W.: Contra Palum, in: ders./Horkheimer, Max: Briefwechsel, Bd. II: 1938-1944, hg. v. Theodor Adorno Archiv, Frankfurt/M, 2004, S. 486. 13 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 490. 14 Vor allem Hegel sah die Negativität der dialektischen Vernunft, wie er in der Wissenschaft der Logik darstellte: »[D]ie Vernunft ist negativ und dialektisch, weil sie die Bestimmungen des Verstands in nichts auflöst; sie ist positiv, weil sie das Allgemeine erzeugt und das Besondere begreift.« (WL I, 16). Die Vernunft ist positiv, insofern sie negativ ist. 15 Fortschritt, GS 10.2, S. 627.

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3. N EGATIVE D IALEKTIK

UND

P OLITIK

DER

N EGATIVITÄT

Der Gedanke, dass die tätige und produzierende Negativität das Positive konstituiert, lässt sich praktisch umsetzen, woraus ich die Politik der Negativität abzuleiten versuche. In erster Linie dreht es sich dabei um das Verweilen beim Negativen, nämlich den theoretischen Blick auf das Leiden der Einzelnen an und in der Gesellschaft, wobei der Begriff der Erfahrung bei Adorno eine wesentliche Rolle spielt und seine erkenntnistheoretische sowie gesellschaftstheoretische Bedeutung deshalb tief analysiert werden muss. Kritische Gesellschaftstheorie muss demgemäß dem Abhub der Erscheinungswelt (Freud), der in der Alltagssphäre vorkommenden Erfahrung der Einzelnen und dem Leiden als ihre negative Gestalt ins Auge sehen. Die theoretische Praxis hält aber nicht dabei an, diese Phänomene des Leidens wahrzunehmen, sondern bringt die Perspektive ans Licht, dass die Ursache des Leidens auf Antagonismen beruht, deren Ursprung in der wesentlichen und strukturellen Dimension der Gesellschaft liegt, insofern die Erscheinungen eigentlich die des (gesellschaftlichen) Wesens sind – Hegels berühmte These, »[d]as Wesen muß erscheinen« (WL II, 124) erweist mithin ihr Wahrheitsmoment in der Gesellschaftstheorie. Die Konsequenz, die sich aus dieser Perspektive ableiten lässt, ist, dass die gesellschaftliche Totalität als die negative, antagonistische anzusehen ist, die darauf hinweist, dass sie keine in sich vollständige und abgeschlossene, sondern eine fundamental nicht zusammenzuschließende Realität ist. Daraus erweist sich nun, dass die gesellschaftliche Totalität grundsätzlich fragil und flüssig ist und aus diesem Grund darin Bedingungen für die Ereignisse der Politik als die Sphäre der kollektiven Handlungen enthalten sind. Nunmehr leuchtet die Rolle der Politik ein. Wenn ein bestimmter Zustand der Gesellschaft durch die Diagnose der kritischen Gesellschaftstheorie als negativ betrachtet wird, indem sie beim Negativen, den Erscheinungen des Leidens in den Lebensformen der Einzelnen verweilt, so spielt die Rolle der Negation dieses Negativen eben die Politik, die praktische Vereinigung der Einzelnen zur Überwältigung und damit zur Aneignung der gesellschaftlichen Macht. In dieser Darstellung ist eine Unterscheidung des spezifisch Politischen und des Sozialen vorausgesetzt, deren Vormodell bereits Hegel, der längst von seinen Kritikern als spekulativer Staatsapologet verkannt ist, systematisch aufwies, indem er die Unterscheidung zwischen Polis und Oikonomia aus der antiken griechischen politischen Philosophie in einer modernen Manier aufnahm. Von ihm wird die bürgerliche Gesellschaft infolge ihrer inneren Negativität aufgrund ihrer ökonomischen Verselbstständigung als grundsätzlich instabil betrachtet, so dass sie in sich eine nicht nur sich selbst, sondern das ganze Gemeinwesen zer-

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störende Kraft birgt. Der Staat als politisches Gemeinwesen, als moderne koinonia politiké tritt in einer Instanz der Machtverhältnisse auf Grundlage der Negativität der bürgerlichen Gesellschaft als die den Selbstwiderspruch der Gesellschaft bewältigende politische Macht auf. 16 Von daher ist die Politik bei Hegel nichts aus der Gesellschaftsebene Abzuleitendes, sondern steht als äußerliche Gewalt, als eine Zwangsmacht für die Regulierung der Gesellschaft dieser entgegen. Wie bei Hegel spricht Adorno von »Gesellschaft « nur im Hinblick auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, die er auch Tauschgesellschaft nennt. Sie bezieht sich für ihn nicht auf ein bloßes Zusammenleben der Einzelmenschen, sondern auf den verselbstständigten Funktionszusammenhang, den über Bewusstsein und Handlung der Einzelnen hinausgehenden Selbstzweck. Er findet »das spezifisch Gesellschaftliche im Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen«17, was im Grunde genommen an die marxsche Analyse der gesellschaftlichen Totalität anknüpft. Die »Totalität des Processes als ein objectiver Zusammenhang« wird von Marx als »fremde gesellschaftliche Macht« (MEGA, II.1.1, 126) bezeichnet, die, gegenüber den Individuen verselbstständigt, diese selbst beherrscht. »Das Capital ist die alles beherrschende ökonomische Macht der bürgerlichen Gesellschaft. « (MEGA II.1.1, 42) Die Einzelmenschen konfrontieren sich in der bürgerlichen Gesellschaft mit der über die Ökonomie hinaus alles beherrschenden verselbstständigten Macht, worin die Einzelsubjekte isoliert und zu Trägern und auf die Funktion der gesellschaftlichen Reproduktion herabgesetzt werden, während sich der gesellschaftliche Prozess als solcher zum Subjekt, zum »automatische[n] Subjekt« (MEW 23, 169) erhebt. Vor diesem theoretischen Hintergrund ist Adorno einerseits vor allem darin mit Hegel einig, dass die politische Macht in der modernen Ära in ihrer bestimmten Rolle legitimiert wird, die verselbstständigte Macht der bürgerlichen Gesellschaft zu bewältigen, er ist aber andererseits mit Marx grundsätzlich der Meinung, dass diese politische Macht als positive nicht in der bestehenden Gesellschaft selbst institutionell gegeben, sondern durch die Vereinigung einzelner Menschen gegen diese verselbstständigte Macht aufs Neue zu konstituieren ist.

16 Meine Auslegung der Politik bei Hegel verdankt sich der Auffassung Arndts: »Hegel war es, der bürgerliche Gesellschaft und Staat nicht nur begrifflich konsequent getrennt, sondern ihr Verhältnis auch als Machtstruktur dechiffriert hatte. « (Arndt, Andreas: Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin, 2015, S. 80.) 17 Gesellschaft, GS 8, S. 9.

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Aus der Forderung, sich die verselbstständigte Macht der gesellschaftlichen Sphäre anzueignen, entspringt die Frage nach der Souveränität, die den Ausgangspunkt der Politik ausmacht. Die Frage ist nämlich, ob ein allgemeiner Zusammenhang zu schaffen ist, in dem die Einzelnen nicht in das heteronome Verhältnis zur Gesellschaft treten, sondern diese in einen Ort für ihre autonomen Handlungen verwandeln können. Diese Frage nach der Selbstbestimmung der Lebensformen der Einzelnen ist der Ansatzpunkt der Politik und der Souveränität. Weil die Einzelnen keine Mittel zur Kontrolle der ihnen gegenüber verselbstständigten Macht der Gesellschaft besitzen, können sie nur durch die Bildung der Souveränität, durch die Konstitution der gemeinsamen Subjektivität und Mitbestimmung18 mit anderen Einzelnen die Selbstbestimmung ihres gesellschaftlichen Lebens leisten. Auf diese Weise wird die Definition der Politik aus der Form der Beziehungen der Einzelnen zur sozialen Macht heraus abgeleitet. Die Politik, die wir unter dem Aspekt der Politik der Negativität begreifen können, ist die Frage nach der gemeinsamen Subjektivität der Einzelnen gegen die verselbstständigte Macht des Sozialen. 19 Beide Sphären – das Politische und das Soziale – reduzieren sich nicht aufeinander. Die Politik ist kein bloßer idealer Ausdruck der Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft, wie traditionell vom orthodoxen Marxismus unterstellt wird, sondern einerseits eine Macht, die der verselbstständigten sozialen Macht gegenüber wirkt, was aber dann dafür einen Veränderungsprozess der Gesellschaft selbst durch die assoziierte, gemeinsame Subjektivität impliziert. Sie ist darum andererseits die eine Gesellschaft in eine andere Form transformierende, konstitutive Macht. Dabei bringt Adorno die Einsicht zur Geltung, dass das Politische eigentlich über die institutionelle Sphäre hinaus, die bloß der stabilen Verwaltung der

18 Die Mitbestimmung betrifft hier nicht den gewerkschaftlichen Korporatismus, wie die übliche Sprachwendung aufweist, sondern hat eine darüber hinausgehende politische Bedeutung, nämlich sie wird als Mit+Bestimmung, die Allgemeine Beteiligung an der Konstellation verstanden und weist darum auf die Konzeption der Volkssouveränität hin, was im Begriff der »Methexis« impliziert worden ist. Darüber wird später weiter diskutiert werden. 19 Christoph Menke definiert den Begriff der Politik, der gemeinsam aus Hegel und Arendt zu entnehmen ist und im engen Zusammenhang mit Adorno steht, als »das gemeinsame Handeln kollektiver Selbstregierung, das sich auf eben die Bedingungen, die ›Verhältnisse der Gesellschaft‘‹ richtet, denen das Handeln des einzelnen hilflos ausgeliefert ist« (Menke, Christoph: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M, 2004, S. 178).

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Gesellschaft dient, einen Kampfplatz, einen Ort der Konflikte in der Gesellschaft ausmacht: »Da jedoch Politik keine in sich geschlossene, abgedichtete Sphäre ist, wie sie etwa in politischen Institutionen, Prozeduren und Verfahrensregeln sich manifestiert, sondern begriffen werden kann nur in ihrem Verhältnis zu dem Kräftespiel der Gesellschaft, das die Sub stanz alles Politischen ausmacht und das von politischen Oberflächenphänomenen verhüllt wird, so ist auch der Begriff der Kritik nicht auf den engeren politischen Bereich zu beschränken.«20

In dieser Darstellung unterscheidet er das Politische, »die Substanz alles Politischen« von der Politik im engeren Sinne, nämlich, von der Politik als Verwaltungs- und Herrschaftsform, als »Oberflächenphänomenen « und »de[m] engeren politischen Bereich « der politischen Institutionen. Hierbei wird genauer genommen impliziert, dass es die über die institutionelle Ebene hinaus herzustellende Aufgabe der Politik gibt, die auf die Gründung der Macht zur Überwältigung der heteronomen Kraft der Gesellschaft abzielt. Damit taucht der Begriff der Souveränität als Kernfrage der Politik auf. Er reduziert sich nicht auf die Staatsgewalt, Staatsangehörigkeit oder Nationalität, wie in der dominanten Vorstellung der Politik heute angenommen wird, sondern bezieht sich grundlegend auf die Idee der Einheit von Herrschenden und Beherrschten. Die Souveränität ist das Recht auf absolute Selbstbestimmung, das ein Volk durch die allgemeine Beteiligung aller an öffentlichen Angelegenheiten gemeinsam ausübt. Die Demokratie wird auf diese Weise von Adorno als Identität der Gesellschaft mit dem Volk gedacht: »Aber Demokratie hat nicht derart sich eingebürgert, daß sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen. Sie wird als ein System unter anderen empfunden, so wie wenn man auf einer Musterkarte die Wahl hätte zwischen Kommunismus, Demokratie, Faschismus, Monarchie; nicht aber als identisch mit dem Volk selber, als Ausdruck seiner Mündigkeit.«21

Adornos Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes, die er gebrochen und fragmentarisch an mehreren Textstellen gestreut zum Ausdruck brachte, lässt sich in diesem Zusammenhang als ein Begriff verstehen, der auf eine radikal ausgelegte Volkssouveränität hinweist, die über die repräsentative Demokratie

20 Kritik, GS 10.2, S. 785. 21 Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit,, GS 10.2, S. 559.

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hinaus dem eigentlichen Recht des Unvertretbaren treu bleibt und damit auf die Assoziation der Einzelnen ohne Ausgrenzung abzielt. »Das egalitäre Ideal der Vertretbarkeit ist ein Schwindel, wenn es nicht getragen wird vom Prinzip der Abberufbarkeit und der Verantwortung vor rank und file. « (MM, 146) Wie im Warenaustausch die qualitative Differenz verschiedener Dinge abstrahiert und auf eine quantitative Beziehung reduziert wird, wird das Inkommensurable im Prinzip der Vertretbarkeit des Unvertretbaren eliminiert. »Vertretbarkeit unterwirft die Gedanken derselben Prozedur wie der Tausch die Dinge. Das Inkommensurable wird ausgeschieden. « (Ebd.) Ein über die formale Demokratie hinaus die Souveränität der assoziierten Einzelnen verkörperter Zustand wird unter anderem von ihm als »freie und solidarische Zusammenarbeit unter gemeinsamer Verantwortung« (MM, 147) dargestellt, in der die Einzelnen ihre Lebensformen autonom selbstbestimmen können, indem sie den gesellschaftlichen Prozess partizipatorisch mitbestimmen. Hierbei muss aber zuerst zur Kenntnis genommen werden, dass in einem Zustand, in dem die gesellschaftlichen Verhältnisse eine Herrschaftsstruktur durch ihre Verselbstständigung in Besitz nehmen, die Verwirklichung der Souveränität vor allem in der Form einer Gegen-Souveränität, einer Gegen-Macht zur Herrschaft der verselbstständigten gesellschaftlichen Macht möglich ist. Heutzutage zertrümmert die Macht der Unternehmen das Versprechen der politischen Herrschaft des Volks so exorbitant wie nie zuvor, in den demokratischen Ländern wurde die Macht des Staates von daher mit der der Unternehmen unermesslich eng verschmolzen. Das demokratische Wahlsystem ist inmitten des Spektakels von Marketing und Management keine Ausübung der Souveränität mehr, sondern in ein Feld der kommerziellen Werbung verfallen, und dementsprechend wird mit der allmählichen Vergrößerung der Macht der Unternehmen und der Herrschaft des Marktes auf globaler Ebene die Entsouveränisierung der Souveränität in zunehmendem Maße verallgemeinert. Auf der Folie der Entpolitisierung der Gesellschaft auf globaler Ebene soll die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, dass die souveräne Assoziation aufs Neue konstituiert werden muss, und dass dies erst durch die Bildung der Gegen-Hegemonie zur verselbstständigten gesellschaftlichen Macht, die unter anderem als die Macht von Unternehmen und Markt erscheint, ermöglicht wird. Ich werde nun versuchen, die Möglichkeit der Konstitution der Souveränität als Gegen-Souveränität, des Durchbruchs der gemeinsamen Subjektivität im Begriff der Mimesis von Adorno aufzuspüren. Ad hoc werde ich ihn auf die Theorie des Impulses der praktischen Solidarität vermittels des Leidens der Anderen erweitern und daneben mit dem Ausblick der Methexis als derjenigen Konstellation verbinden, die die Verwirkli-

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chung der souveränen Freiheit der Einzelnen in ihrer gemeinsamen Teilhabe ermöglicht. Dieser Gedanke an die Souveränität sowie Gegen-Souveränität präsentiert sich als eine Kombination verschiedener und gar entgegengesetzter Perspektiven in modernen politischen Theorien: Hannah Arendt und Carl Schmitt.22 Arendt vertritt die assoziative Theorie des politischen Handelns, der zufolge die Politik als vom Bereich der Gesellschaft unterschieden auf die Schaffung der Assoziation zielt, die durch das gegenüber dem Sozialen befreite, deliberative Zusammenhandeln (Acting Together) gegründet werden kann, wodurch die Einzelnen ihre gemeinsame Macht schaffen können, welche den entscheidendsten Begriff für politische Bindung in einem Gemeinwesen bei Arendt darstellt. »Die einzige rein materielle, unerläßliche Vorbedingung der Machterzeugung ist das menschliche Zusammen selbst. Nur in einem Miteinander, das nahe genug ist, um die Möglichkeit des Handels ständig offen zu halten, kann Macht entstehen [...]. Was eine Gruppe von Menschen als Gruppe zusammenhält, wenn der immer flüchtige Augenblick des Zusammenhandels verflogen ist, und was wir heute Organisation nennen, ist Macht, die wiederum ihrerseits dadurch intakt gehalten wird, daß die Gruppe sich nicht zer streut.«23

Diese Perspektive nenne ich nun die positive Theorie der politischen Assoziation, die positive Politik. Die Definition der Politik, die ich daraus zu entwickeln versuche, ist die souveräne Assoziation der Einzelnen, um ihre eigene Macht für die Zusammenbindung zu schaffen. Im Gegensatz dazu wird das Wesentliche im Politischen bei Schmitt als Handlung der Unterscheidung von Freund und Feind, nämlich als Handlung des Antagonismus präzisiert. »Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.«24 Dies weist eine eigenständige Hinsicht auf,

22 Der Vergleichsversuch beider Autoren verdankt sich der Problemstellung von Mar chart, der das Politische bei Arendt als »das assoziative Paradigma «, das bei Schmitt als »die dissoziative Operation« gegensätzlich betrachtete. Vgl. Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt/M, 2010, S. 32-42. 23 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, 1982, S. 195. 24 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, 1963, Berlin, S. 26.

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was ich dann als die Politik der Negativität bezeichne, 25 nämlich, dass die Handlung der Unterscheidung, d. h., die der Negation grundlegend für die Etablierung des spezifisch politischen Bereichs ist. »Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen «.26 Während also bei Arendt der politische Bereich als ein Raum der Freiheit und öffentlichen Deliberation gekennzeichnet wird, handelt es sich hierbei bei Schmitt um Feindschaft und Antagonismus. Allerdings hypostasiert und vereinfacht die schmittianische Variante der Politik der Negativität die antagonistischen Handlungen als solche und birgt daher eine Gefahr in sich. Die Logik der Bestimmung des Feindes im politischen Raum entspricht, um mit Adorno zu sprechen, der Herrschaft des Identifikationsprinzips, das das Nichtidentische endlos zu beseitigen versucht. Darum macht nicht der Hinblick auf die Unterscheidung von Freund und Feind, sondern die Betonung der Wesentlichkeit der Handlungen des Antagonismus selbst im Politischen, also der negativen Bestimmung der politischen Begriffe das Wahrheitsmoment von Schmitt. Das Hauptziel für das Politische liegt bei Schmitt im Grunde genommen darin, dass sich verschiedene Interessen der Einzelnen um ein gemeinsames Projekt miteinander verbinden lassen, d. h., dass eine Frontlinie, die ein und denselben Feind bestimmt, aufgestellt und damit eine bestimmte Form der Einheitlichkeit verschiedener Interessen hergestellt wird. Diese gerade im antipodischen Standpunkt der Totalitarismuskritik Adornos stehende Position von Schmitt stimmt paradoxerweise mit Adornos Diagnose der gesellschaftlichen Totalität als eine dissoziative, in sich gespaltete zusammen. »Je mehr die Gesellschaft der Totalität zusteuert, die im Bann der Subjekte sich reproduziert, desto tiefer denn auch ihre Tendenz zur Dissoziation.« (ND, 339. Kursiv von mir,

25 Höchstwahrscheinlich hätte Schmitt diese Definition seiner Perspektive meiner An sicht nach gerne akzeptiert. Für ihn existieren politische Begriffe nur in den negativen Formen, in diesem Sinne in dialektischer Weise. Er behauptete, »daß jede Bewegung eines Rechtsbegriffs mit dialektischer Notwendigkeit aus der Negation hervorgeht « (a.a.O., S. 14), dass also »alle politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte einen polemischen Sinn« haben (a.a.O., S. 31.). Sie haben ihm zufolge keine ewige oder allerletzte Bedeutung, sondern allein leere und gespenstische Abstraktionen, wenn sie nicht mit der konkreten Gegensätzlichkeit, den Kämpfen und den Konflikten wie Krieg oder Revolution verschränkt werden. Außerdem existieren alle politischen Begriffsbestimmungen nur als Negativität, wie beispielsweise bei Macchiavelli die Republik diejenige politische Form ist, die nicht Monarchie ist. 26 A.a.O., S. 27.

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S. H.) Die gesellschaftliche Totalität stellt von sich aus die Tendenz zur Dissoziation her, die die notwendige Bedingung für die Politik und das Kräftespiel in der Gesellschaft ist. Nun kann die Politik der Negativität, die ich mich aufgrund der hegelschen und marxschen Diagnose der bürgerlichen Gesellschaft, durch die Verbindung beider theoretischen Elemente von Arendt und Schmitt und außerdem den negativ-dialektischen philosophischen Aspekten Adornos entlang (sowie zugleich über ihn hinaus) zu entwickeln anstrenge, zusammenfassend dargestellt werden. Wie die Negation vor dem Positiven den Vorrang hat, so hat das dissoziative Paradigma, die Politik der Negativität vor der positiven Politik ebenfalls Vorrang. Die Assoziation des Miteinanders und die deliberative Interaktion werden als ein Gegensatz zu ihrem Negativen, als »Assoziation gegen « konstituiert, wobei darum ihrer inneren Logik nach die Dissoziation notwendigerweise vorausgesetzt ist. Die Politik der Negativität bezweckt die souveräne Assoziation der Einzelnen gegen die verselbstständigte Macht des Sozialen. Die assoziierte, gemeinsame Subjektivität wird folglich auf Grundlage der Solidarität für die gemeinsame Bewältigung der das Leiden der Einzelnen verursachenden gesellschaftlichen Realität, d. h., in ihrem negativen Zusammenhang mit der vorhandenen gesellschaftlichen Situation gebildet.

4. S CHWIERIGKEITEN

BEI

ADORNO

Da meine Betrachtung der Politik der Negativität von der Auslegung Adornos negativer Dialektik ausgeht, müssen etliche Schwierigkeiten in diesem Versuch, die meistens auf jenen von Adornos Philosophie selber beruhen, berücksichtigt werden. Erstens ist darauf aufmerksam zu machen, dass Adorno in seinen gesamten philosophischen Bemühungen versucht, seine kritischen Theoreme ohne die dazu geeigneten Begründungen zu rechtfertigen, wie er in dem Vorwort der Negativen Dialektik ankündigte: »Das Verfahren wird nicht begründet sondern gerechtfertigt.« (ND, 9) Er wollte dadurch zwar aus gutem Grund die Reduktion der philosophischen Kritik auf rein prozedurale, diskursive Begründungen, wie bei der positivistischen Denkweise der Fall ist, vermeiden, hingegen lediglich kritisch aufgestellte Theoreme in einer von Nietzsche und Benjamin beeinflussten aphoristischen und essayistischen Gedankenkonstellation vorbringen. Aber die Rechtfertigung ohne Begründung ist aus meiner Sicht in einer philosophischen Diskussion, auch in einer dialektischen, eigentlich nicht möglich. Wie in

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Adornos Kritik am Intuitionismus geäußert wurde, ist eine begriffliche und vernünftige Denkweise für die philosophische Kritik auch dann erforderlich, wenn auf den Selbstwiderspruch der traditionell rationalistischen philosophischen Problematik abgezielt wird. Das vorhandene begriffliche System und seine ScheinRationalität darf erst der Kritik unterzogen werden, wenn die Kritik mittels ihrer eigenen, versöhnten Rationalität ausgeübt wird, die in einer ins Detail gehenden Form zu zeigen Adorno nur halbwegs gelang, weil das kritische Verfahren in seiner philosophischen Darstellung keine eigene Begründungsmethode entwickeln konnte. Aus meiner Sicht erkannte auch Adorno dieses Problem, als er in Minima Moralia die Erfordernis der Erfüllung des Argumentes und des Grundes im dialektischen Denken hervorhob. »Dialektisch denken heißt, unter diesem Aspekt, daß das Argument die Drastik der These gewinnen soll und die These die Fülle ihres Grundes in sich enthalten.« (MM, 79) Zweitens ist als ein Problem bezüglich der theoretischen Konstruktion seiner Philosophie anzusehen, dass Adorno in seiner kritischen Darstellung der Erkenntniskategorien die begrifflichen, erkenntnistheoretischen Kategorien mit denen der Realität identifiziert. Dieses auf der Problemstellung der Realabstraktion von Alfred Sohn-Rethel basierende Problem beeinträchtigt eigentlich Adornos Grundintention der Einheit von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik, weil die Deduktion der abstrakten Denkformen aus den Warenformen und Handlungen des Warenaustausches letzten Endes unwillkürlich auf die Gleichsetzung der verschiedenen Abstraktionsstufen – Denkformen und Realität – hinausläuft. Grob gesagt, ist die Kritik der hegelschen philosophischen Kategorie der Totalität auf jeden Fall nicht unmittelbar und selbstverständlich mit der Kritik des politischen Totalitarismus zu identifizieren, und das kantische transzendentale Subjekt gleicht nicht dem Einheitsprinzip der abstrakten Arbeit in der Tauschgesellschaft. Eine stringente Konstruktion, die das Verhältnis zwischen der Erkenntniskritik und der Gesellschaftskritik begründen kann, ist darum erforderlich. Drittens ist anzumerken, dass die praktische Konsequenz und die Möglichkeit der politischen Erweiterung seiner Philosophie undeutlich bleibt, wie Adorno selber einmal zugestand: »Wir hätten zwar Elemente einer kritischen Theorie der Gesellschaft entwickelt, wären aber nicht bereit, daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen. «27 Allerdings ist eindeutig, dass seine Philosophie in allen Hinsichten über den geschichtlichen Zustand der Zeit und den als falsch erwiesenen gesellschaftlichen Zusammenhang reflektierte und aufgrund dessen die praktische Veränderung der Realität beabsichtigte. Zu veranschaulichen, welche politische Perspektive aus seiner negativ-dialektischen Philosophie abgeleitet und

27 Resignation, GS 10.2, S. 794.

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erweiternd entwickelt werden kann, bleibt aber eine Aufgabe der Auslegungsarbeit. Mit diesen Schwierigkeiten kann die Philosophie Adornos in systematischer Hinsicht einer durchgängig konsequenten Interpretation nicht komplett gerecht werden: Adornos philosophische Absicht liegt eigentlich am Widerstand gegen diese systematische Interpretation, denn sie bedeutet für ihn einen ohnmächtigen Versuch der Festnahme des philosophischen Denkens. Ungeachtet dessen bedarf ein Versuch der Erweiterung der negativen Dialektik auf die politische Ebene einer kohärenten Übersicht zur Anwendungskraft einer philosophischen Problematik auf die reale Ebene. Dabei stoßen wir unumgänglich auf eine Aporie. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit weiterhin und unverdrossen der Versuch unternommen, neue Lesevorschläge der negativen Dialektik Adornos zu geben, sie aufs Neue begründend zu interpretieren, was dann dazu beizutragen vermag, jene Aporie zu vermeiden und zugleich theoretische Potentiale der Philosophie Adornos herauszuarbeiten. Die hermeneutische Bemühung soll einer systematisch gerichteten Rekonstruktion im Blick auf die politische Erweiterung der philosophischen Thematik der negativen Dialektik Adornos dienen. Erst durch die rekonstruierende, aktuell wieder aufbauende Lektüre seiner Philosophie aber wird ein neuer Horizont der nonkonformistischen, konsequent kritischen Philosophie des Nein-Sagens und der darauf basierenden Politik der Negativität zu Tage kommen.

I. TEIL PHILOSOPHIE DES NEIN-S AGENS

1. Negativität und Selbstkritik der Dialektik

1.1 U NDIALEKTISCHE D IALEKTIK : K RITIK DER D IALEKTIK ALS POSITIVER W ELTANSCHAUUNG »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« (ND, 15) So lautet der erste Satz der Einleitung Adornos philosophischer Hauptmonographie Negative Dialektik. In diesem Satz bezieht sich das Moment der »Verwirklichung« der Philosophie einerseits auf die der Vernunft in der Wirklichkeit im hegelianischen Sinne, andererseits auf die praktische Veränderung der Welt im Sinne der 11. Feuerbachthese von Marx, oder anders gesagt, auf den endgültigen Sieg der geschichtsphilosophisch als solche verstandenen Proletarier. Hier wird zugleich impliziert, dass er in diesem Zusammenhang das Ausbleiben der »Verwirklichung« der Philosophie mit dem Scheitern der Weltrevolution gleichsetzte. Aber erst in dem Moment, wo dieses Projekt der »Verwirklichung« der Philosophie durch die »vernunftgemäße« Klasse gescheitert ist, müsste man zu guter Letzt Fragen nach dem Grund dafür und nach der authentischen Rolle der Philosophie stellen. Adorno geht dabei von einer Diagnose aus, wie Jay Bernstein beschreibt, dass ein »[m]öglicher Grund für das Ausbleiben der Revolution des Proletariats [...] gerade die Nähe zwischen revolutionärem und bürgerlichem Denken sein [könnte].«1 Die einzig mögliche Schlussfolgerung daraus wäre dann die Rekonstruktion dieses »revolutionären« Denkens, der Theorie selbst. Diese Rekonstruktion bzw. Erneuerung der Theorie ist jetzt als eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit der die Welt verändernden Praxis selbst zu verstehen. Ich will nun kurz zeigen, dass, wenn man sein Projekt der negativen Dialektik – nicht nur im 1

Bernstein, Jay: Negative Dialektik. Begriff und Kategorien III: Adorno Zwischen Kant und Hegel, in: Honneth, Axel/Menke, Christoph (Hg): Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, Klassiker Auslegen Bd. 23, Berlin, 2006. S. 91.

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Sinne seines gleichnamigen Hauptwerkes, sondern auch im Sinne des allgemeinen Projektes des Erneuerungsversuchs der Dialektik von ihm – als Selbstreflexion der Philosophie bezeichnet, eben dieses Projekt der »Selbstreflexion « sich zugleich und hauptsächlich auf eine der marxistischen Theorie, und zwar auf jene der marxistischen Dialektik bezieht, d. h., dass das gesamte Projekt der »negativen Dialektik« von Adorno als diese Selbstreflexion der marxistischen Dialektik verstanden werden muss. Von dieser Konzeption von »re-thinking« des Marxismus geht die gesamte Tradition der sogenannten (frühen) »Kritischen Theorie« aus. Horkheimer hat seit seiner Inauguration als Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt die Kritik am traditionellen (oder orthodoxen) Selbstverständnis des Marxismus als eine der Hauptaufgaben der Kritischen Theorie hervorgehoben. In seiner Programmschrift, Traditionelle und Kritische Theorie, wird der Begriff »Kritik«, der von ihm als »ein menschliches Verhalten«2 aufgefasst wurde, das die gesamte Gesellschaft zum Gegenstand hat und das sich auf die vernünftige Einrichtung der Gesellschaft richtet, »weniger im Sinn der idealistischen Kritik der reinen Vernunft, als in dem der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie verstanden«3. Aber diese Rezeption eines Ansatzes des marxistischen Kritikbegriffs hat gleichzeitig den traditionellen Marxismus selbst zu ihrem Gegenstand der Kritik. Mit anderen Worten waren die Hauptgegenstände der marxistischen Selbstkritik von Horkheimer und seinem Kreis einerseits die »Marx-Orthodoxie nach Kautsky« und andererseits die »an Engels orientierte, naturalistisch-ökonomistische und geschichtsphilosophisch ausgerichtete Sozialismuskonzeption«,4 d. h., die gesamten Traditionen des etablierten Marxismus, denen gemeinsam war, dass die Dialektik zu einer »wissenschaftlichen Weltanschauung« des Proletariats und einer Lehre von den allgemeinen Gesetzen der Natur und der Geschichte geronnen ist. Diese Tendenz zur »naturalistisch-ökonomistischen und geschichtsphilosophisch ausgerichteten Sozialismuskonzeption« bezieht sich sehr stark auf die immer weiter zunehmende Positivierung oder positivistitische Orientierung des Marxismus. In seinem Brief an Henryk Grossmann, der relevanteste marxistische Ökonom am Institut, expliziert Horkheimer, dass bei ihnen keine neue Na-

2

Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, Max Horkheimer Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M, 1988, S. 180.

3

Ebd.

4

Engster, Frank: Die Neue Marx-Lektüre, ihr kritischer Gehalt und die nächste Generation, in: ders./Hoff, Jan: Die Neue Marx-Lektüre im internationalen Kontext, Philosophische Gespräche 28, Berlin, 2012, S. 30.

NEGATIVITÄ T UND S ELBSTKRITIK DER D IALEKTIK

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tionalökonomie als eine positive Wissenschaft mehr nötig sei, sondern eine »Kritik« der Nationalökonomie als neuer Rahmen der Rekonstruktion dieser kritischen Theorie. Es wäre ohne die Hilfe der Dialektik nicht möglich, diesen bereitzustellen. Aber die gängige marxistische Tendenz verdrängte die Dialektik, damit aber verliere sie den kritischen »Geist«: »Man kann die Kategorien der politischen Ökonomie zwar der gängigen Wissenschaft so lange akkommodieren und annähern, bis sich schließlich eine Art absoluter Nationalökonomie daraus herstellen läßt, aber eine solche Konkurrenz läßt sich vermittels ihrer nur aufnehmen, wenn man ihnen den Geist austreibt. – Die Dialektik [...] hat in ihrer idealistischen und erst recht in ihrer materialistischen Gestalt mit jener Philosophie Schluß gemacht, die Bewußtsein und Sein, Begriff und Wirklichkeit, Wesen und Erscheinung, Geist und Natur, Denken und Geschehen, kurz alle entschiedenen Kategorien als Invar ianten behandelt, antinomisch gegeneinander stellt und von außen her, mechanisch, miteinander in Beziehung bringt.«5

Dabei sei der Versuch, den Marxismus als eine Art der positiven Wissenschaft zu etablieren, mit einer Marx-Lektüre-Tendenz verflochten, theoretische Inhalte marxscher Texte vom hegelschen Gedankengut abzusondern. »Aber auch für deutsche Marxisten war es seit jeher viel bequemer, Marx vom Hegelschen Gift zu reinigen, um ihn in die Reihe der seriösen Sozialwissenschaftler einzugliedern, als sich daran den Magen zu verderben. Nur glauben Sie mir: Mit dem Entzug des Giftes hört das Leben der Theorie selbst auf.«6

Die (marxistische) Theorie hört, ihm zufolge, genau dann auf zu existieren, wenn sie von der Dialektik Abschied nimmt, wenn sie sich also als eine Variante der positiven Wissenschaft, der Nationalökonomie versteht. In diesem Gedankengang verbindet Horkheimer die Aufgabe der Kritischen Theorie der Erneuerung marxistischer Theorie sehr eng mit der Auseinandersetzung mit der positivistischen Tendenz innerhalb der marxistischen Theorien, und zwar mit deren gegen-dialektischen Richtungen. Adorno nimmt nun dieses Projekt der Begründung der dialektischen kritischen Theorie und damit der Selbstreflexion des Marxismus von Horkheimer auf und schließt es dann an die negativistische philosophische Orientierung an. Als

5

Horkheimer an Grossmann, 20. 1. 1943, in: Horkheimer, Max: Briefwechsel 1941 -

6

Ebd.

1948, Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 17, Frankfurt/M, 1996, S. 407.

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er in seinem ersten akademischen Antrittsvortrag im 1931 die wichtigste Idee der Philosophie in der »Deutung« erkannte7, zeigte sich zugleich die Hauptrolle der philosophischen Dialektik als die Deutung der negativen Situation der Welt. Wie Wiggershaus darstellt, bedeutet das Wort »Dialektik« bei Adorno seit der Frühzeit des Instituts für Sozialforschung eine theoretische Verhaltensweise »zur Entmythologisierung und Entzauberung eines breiten Spektrums von Erscheinungen der Gegenwart«, während es bei Horkheimer die theoretische Totalität bedeutet, die das interdisziplinäre Forschungsprojekt zur Feststellung der geschichtlichen Stufe der kommenden Vernunft und zum Finden der Möglichkeit des Übergangs der Gegenwart zur vernünftigen gesellschaftlichen Einrichtung aus der Realität selbst ermöglicht.8 In diesem Sinne war es Adorno, der fest überzeugt war, dass das Projekt der Kritischen Theorie als Selbstreflexion des Marxismus getrennt von der Erneuerung der marxistischen Dialektik selbst ganz und gar undenkbar ist. Bereits 1931 hat er in seinem Vortrag Die Idee der Naturgeschichte verkündet; »Ich stelle mich sozusagen als der richterlichen Instanz der materialistischen Dialektik.«9 Man kann dann eine erstaunliche Kontinuität dieses Gedankens bis zu seiner späteren Phase feststellen. So hat er in seinem Manuskript Zur Spezifikation der kritischen Theorie, das er Anfang 1969, also wenige Monate vor seinem Tod schrieb, explizit den Schwerpunkt seines theoretischen Projektes ausgedrückt. »Kritische Theorie nimmt – gegen den Materialismus als Metaphysik – Dialektik unvergleichlich viel schwerer als der etablierte Marxismus.«10 Wie und in welcher Weise hat er denn die marxistische Dialektik »viel schwerer als der etablierte Marxismus« behandelt? Wie in der Dialektik der Aufklärung erwähnt worden ist, lassen »[d]ie Metamorphosen von Kritik in Affirmation [...] auch den theoretischen Gehalt« – gemeint ist damit die marxistische Theorie – »nicht unberührt, seine Wahrheit verflüchtigt sich« (DA, 12). Was verwandelte dann die marxistische Theorie von Kritik in Affirmation? Besonders wichtig für die Idee der Selbstreflexion des Marxismus oder der marxistischen Dialektik bei Adorno ist, so lautet meine These, dass er den Begriff der Negativität als ein wesentliches Moment für die Erneuerung der marxistischen Dialektik verstand. Um diesen Prozess der Erneuerung richtig zu verste-

7

Die Aktualität der Philosophie, GS 1, S. 334.

8

Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung,

9

Die Idee der Naturgeschichte, GS 1, S. 365.

politische Bedeutung, München, 2001, S. 214. 10 Adorno, Theodor W.: Zur Spezifikation der kritischen Theorie, in: Theodor W. Ador no Archiv (Hg.): Adorno. Eine Bildmonographie, Frankfurt/M, 2003, S. 292.

NEGATIVITÄ T UND S ELBSTKRITIK DER D IALEKTIK

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hen, sollte zuerst erklärt werden, an was es der zu seiner Zeit vorhandenen dialektischen Denkweise mangelte. Hierbei ist bezeichnend, dass er die gängige Dialektik als den Gegenstand seiner Kritik für »undialektisch« hielt. Von dieser Bezeichnung und Charakterisierung der »undialektischen Dialektik« weicht Adorno auch später nicht ab. »Hypostasierte Dialektik wird«, so behauptet er im sogenannten Positivismusstreit auch, »undialektisch und bedarf der Korrektur«.11 Es ist sehr leicht zu durchschauen, dass sich diese Vorstellung der undialektischen Dialektik auf »Diamat (Dialektischer Materialismus)«, die dogmatische offizielle Dialektik-Orthodoxie in den damaligen Ostblockstaaten bezieht. »Die ganze Rede von ›Diamat‹ enthüllt sich«, wie Adorno in seiner Vorlesung Einführung in die Dialektik im Sommersemester 1958 darstellt, »als ein propagandistischer Schwindel, da in ihr selber bereits das Prinzip der Dialektik negiert ist, daß nämlich die Philosophie an ihren bloßen Ursprungsprinzipien eigentlich nicht genug hat.« (ED, 29) Nach Adorno ist das wichtigste Prinzip des dialektischen Denkens, »daß es nicht auf die Jagd geht nach einem absoluten Ersten« (ED, 28), während »in dem ganzen Ostbereich genau dieses Motiv verkannt und die Materie oder die materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen Daseins nun ihrerseits zu einem absolut Ersten gemacht werden, dessen man sich nur zu versichern brauche« (ED, 29). Aus seiner Sicht ist Diamat in eine Variante der materiellen Metaphysik verwandelt, die das Material als das Erste, das Urprinzip, das Letzte, das Endgültige bestimmt, während die Dialektik keineswegs auf irgendeine positive Setzung, sogar des materiellen Prinzips abzielen sollte. Der Primat des Materiellen gegenüber dem Geistigen, der von Diamat triumphal proklamiert wurde, sei aber zugleich der des Geistigen gegenüber dem Materiellen, »denn dies Letzte ist ja immer ein vom Geist Gedachtes, und insofern wird selbst in dem dogmatischen Materialismus, in dem nicht-dialektischen Materialismus also, ein Idealistisches insofern zu konstatieren sein, als er glaubt, aus dem reinen Gedanken heraus ein solches absolutes Ursprungsprinzip zu haben« (ED, 156 f.). Nochmal kommt der Ausdruck »nicht dialektische[r] Materialismus« zum Vorschein. Eine ähnliche Formulierung taucht auch in der Negativen Dialektik auf: »In einer schlechthin Einen, unterschiedslosen, totalen Materie wäre keine Dialektik« (ND, 205). Und es war Engels, der aus der Kritik der undialektischen Vorstellung des Sozialismus »ebenfalls undialektische Konsequenz gezogen [hat], Materie sei das erste Sein.« (ND, 127) In dieser Kritik der traditionellen Vorstellung der marxistischen Dialektik (auch in Bezug auf den Materialismus) steckt der Hinweis darauf, dass die Dialektik Schritt für Schritt in eine positive Wissenschaft verfällt. Die Notwendig-

11 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 308.

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keit der Selbstreflexion tritt vor diesem Hintergrund hervor. »Kritik bezieht sich auch auf den dial[ektischen] Mat[erialismus] soweit er sich als positive Wissenschaft aufwirft. Darum negat[ive] Dial[ektik] = rücksichtslose Kritik alles Bestehenden.« (VND, 26) In diesem Manuskript für die Vorlesung über Negative Dialektik aus dem Jahr 1966 ist herauszufinden, dass er die »undialektische Dialektik« mit dem Zustand der marxistischen Dialektik gleichsetzt, worin sie als eine positive Wissenschaft feststeckt, und dass die authentische dialektische Kritik nur als eine Selbstreflexion durch den negativistischen Richtungswechsel der Dialektik möglich ist. Der »negativen Dialektik«, die aus dieser Selbstreflexion resultiert, entspricht nun die kritische Idee des jungen Marx, die »rücksichtslose Kritik alles Bestehenden«, die jetzt auf den etablierten Marxismus selbst angewandt werden muss. Hierbei bedeutet Selbstreflexion, dass die Dialektik »gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben« (ND, 215) hat, dass diese gegen sich selbst gedachte Dialektik »keine Weltanschauung« (VND, 9) mehr ist. Der »Weltanschauungsmarxismus« nach dem Tod von Marx entstand vor dem Hintergrund des Wachstums der Arbeiterbewegung und des Aufschwunges der SPD seit Ende des 19. Jahrhunderts in dem Versuch, die marxsche Theorie mit Hilfe der vorhandenen bürgerlichen Werte und Begriffe sowie mit mühelos verständlichen einfachen Schemata zu erklären, um die umfangreiche Arbeitermasse sehr effektiv aufzuklären. Die 3. Internationale von Lenin und seiner Partei hat das sowohl theoretische wie praktische Erbe der 2. Internationalen und der SPD bekämpft, aber ihre theoretischen Voraussetzungen bleiben ebenso grundsätzlich weltanschaulich.12 Eben bei diesem »Weltanschauungsmarxismus« zeigt sich die Dialektik überhaupt als allgemeine Entwicklungslogik von Logik, Natur und Gesellschaft, die durch die »Bewegung in Widersprüchen«, den »Umschlag von Quantität in Qualität« und die »Negation der Negation« vereinfacht charakterisiert werden kann, und der Materialismus wird somit als eine geschlossene Lehre über die materielle Einheit der Welt aufgefasst. Adornos Marxismuskritik kann man in diesem Sinne als eine Kritik der Doktrin als »positiver Weltanschauung« verstehen. Was von ihm postuliert wird, ist daher eine konsequente Selbstreflexion der marxistischen Dialektik: »Ich wollte immer versuchen das einzuholen, eine Theorie, die Marx, Engels und Lenin die Treue hält, aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt.«13

12 Vgl. Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart, 2004, S. 22-26. 13 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussion über Theorie und Praxis (1956), in: Max Horkheimer Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt/M, 1996, S. 69.

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Vor diesem Hintergrund hat Adorno in seinem Brief an Thomas Mann einen wichtigen Punkt exponiert, nämlich dass die tiefgründige Intention seines Erneuerungsversuchs der Dialektik, der in diesem Punkt erstaunlicherweise demjenigen von Althusser sehr ähnlich ist, in der Abrechnung mit dem bürgerlichen Überbleibsel im Marxismus bzw. in der daran orientierten Sozialismuskonzeption besteht. Das gründet den Hauptpunkt der Selbstkritik des Marxismus: »[Wenn] Sozialismus selber zu einem Stück der Produktionsmaschine wurde, so hängt das wohl mit einer eigentümlichen Farbenblindheit gegen den Schein zusammen, ohne den es keine Wahrheit gibt. Ich fürchte, an dieser Stelle sind die Kirchenväter des dialektischen Materialismus allzu bürgerlich gewesen«.14

Denn diese Kirchenväter, gemeint sind nicht nur Bebel, Kautsky und Lenin, sondern auch Marx und Engels, haben sich von der bürgerlichen philosophischen Tradition nicht genug entfernt. Noch in der Dialektik der Aufklärung ist eine ähnliche Problematik der Kritik des Marxismus zu finden: »Indem er für alle Zukunft die Notwendigkeit zur Basis erhob und den Geist auf gut idealistisch zur höchsten Spitze depravierte, hielt er das Erbe der bürgerlichen Philosophie allzu krampfhaft fest.« (DA, 58)

Hier wird der Basis-Überbau-Dualismus im Marxismus dahingehend kritisiert, dass er sich in Wahrheit dem Schema der bürgerlichen Philosophie des MaterialGeist-Dualismus (seit Descartes und Hobbes) annähert. Der Marxismus vollbrachte den Bruch mit der bürgerlichen Denkweise (dem Primat der positiven Wissenschaft, der instrumentellen subjektiven Vernunft und der Formalisierung der Vernunft selbst)15 nicht, sondern setzte stattdessen eine positive Gedankentotalität auf deren Grundlage und wurde so selbst zu einer Variante bürgerlicher Gedankenform. Diese Kritik impliziert, dass der Verfall der realsozialistischen Staaten in den »Staatkapitalismus« eine tragische und notwendige Folge der Deformation des Marxismus zur pseudo-bürgerlichen positiven Gedankenform sein könnte – positive Weltanschauung, positive Totalität sowie positive Wissenschaft im Sinne des »wissenschaftlichen Sozialismus«. Der blinde Glaube an die Produktivkräfte, die industrielle Technik und den quantitativen Wachstum; die einseitige Betonung der Disziplin und der Primat des Ganzen über das Besonde-

14 Adorno an Mann, 1. 12. 1952, in: Adorno, Theodor W./Mann, Thomas, Briefwechsel 1943-1955, hg. v. Theodor Adorno Archiv, Frankfurt/M, 2002, S. 127. 15 Vgl. Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M, 1985.

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re; die umfangreiche strategische und instrumentelle Denkweise, um die sog. »Klassenfeinde« zu besiegen. Kurz: Sämtliche theoretischen wie praktischen Katastrophen im ehemals real existierenden Sozialismus könnten dann möglicherweise ihren tiefen Grund in der zu engen theoretischen Nähe zwischen orthodoxmarxistischer und kapitalistisch-bürgerlicher Denkweise haben: der Primat der quantitativen Produktivität, Nützlichkeit und Effizienz um der Naturbeherrschung willen, die Instrumentalisierung der Vernunft sowie das Identifikationsprinzip. Adorno sah in diesem Zusammenhang in der theoretischen Notlage der traditionellen Dialektik auch den Grund für die praktische Tragödie im 20. Jahrhundert. »Was in Hegel und Marx theoretisch unzulänglich blieb, teilte der geschichtlichen Praxis sich mit« (ND, 147). Damit die Dialektik ihre kritische Sichtweise nicht verliert, muss sie besser versuchen, das bestehende Gedankensystem zu subversieren, statt ein neues System vorschnell zu etablieren, weil jene Dialektik, die einem positiv weltanschaulichen Gedankensystem verhaften bleibt, die vorhandene herrschende Gedankentotalität nicht zu überwinden vermag und sich schließlich bloß in der Realität niederlässt. Der so diagnostizierte Zusammenhang hinterlässt nunmehr die Aufgabe, zu erkennen, was in den etablierten Formen der dialektischen Theorien fehlt, und dadurch das eigentlich kritische und subversive Potential der Dialektik von Hegel und Marx selbst wiederzuentdecken, das durch den offiziellen Hegelianismus und Marxismus übersehen worden ist.

1.2 S ELBSTREFLEXION

DER

D IALEKTIK

In diesem Abschnitt wird Adornos eigene Lektüre von Hegel und Marx behandelt, wobei es um seinen Erneuerungsversuch der Dialektik durch die rekonstruierende Lektüre geht. Bei Adornos Hegel-Lektüre handelt es sich unter anderem um das Motiv der Tätigkeit der Negativität in der Dialektik. Das bedeutet zuerst, dass er Hegel im marxistischen Interesse der gesellschaftlichen Transformation und Veränderung gelesen hat, aber umgekehrt hat er durch den begrifflichen Rahmen der hegelschen Dialektik die dogmatisch festgehaltene marxistische Dialektik selber zu reinterpretieren versucht. Von daher ist seine Rezeption von Hegel und Marx als ein Versuch einer intertextuellen Lektüre zu verstehen. Thomas Rentsch hat diese Methode der Lektüre wie folgt dargestellt:

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»Seine Hegelkritik gründet in einer, ob zwar nicht explizit entfalteten, methodenkritischen Marx-Rezeption. Aber seine Marx-Rezeption setzt zugleich die im Marxismus offizieller Prägung stillgestellte begriffskritische Dialektik des jungen Hegels wieder in Gang.«16

Die hegelsche Dialektik wurde als eine bloße Methode des Denkens, als die autarkische Bewegung der Begriffe oder als die von der Wirklichkeit abgesonderte Selbstentfaltung des Denkens missverstanden und aufgrund dessen kritisiert. Adorno erklärt hingegen den Kern der hegelschen Dialektik nicht als diese Selbstentfaltung der Begriffe, sondern als die Erfahrung der in Begriffen reflektierten Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu wurde die materialistische Dialektik, der Marxismus als die Dialektik der Objekte, der Sache, als die Gesetze der materiellen Bewegungen verstanden. Die marxsche Dialektik, besonders in seinen Spätwerken, bezieht sich aber auf eine »kritische Darstellungsmethode«, d. h. die Dialektik bezieht sich hier nicht auf die reelle Bewegung selbst, sondern auf die Reflexion und die kritische Gedankentätigkeit darüber. Dadurch wird gezeigt, dass Adornos Erneuerung der Dialektik ein Versuch war, sich strikt dagegen zu richten, »die Dialektik mit dem Hinweis auf die unüberwindliche Schwerkraft der Fakten zu sistieren« (MM, 282). Adornos Projekt der negativen Dialektik ist, anders als klischeehafte Auslegungen, nämlich keine Anti- oder Kontra-Dialektik, sondern ein Versuch, fokussiert auf den Begriff der Negativität die Dialektik von Hegel und Marx zu reinterpretieren und dadurch die kritische Funktion der Dialektik zu rekonstruieren. Im Zusammenhang mit dem Thema der vorliegenden Arbeit wird aufgezeigt, dass die Texte von Hegel und Marx im Gegensatz zu traditionellen Vorstellungen der Dialektik uns Hinweise darauf verliehen, dass die Dialektik bereits in ihren klassischen Formen eine Waffe des kritischen Denkens war und Adorno von diesem kritischen Erbe der Dialektik her seine eigene Idee der negativen Dialektik entwickeln konnte.

16 Rentsch, Thomas: Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt/M, 2000, S. 269.

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1.2.1 »Die ungeheure Macht des Negativen«: Adornos Hegel-Auffassung 17 Als der Tübinger Universitätskanzler Gustav Rümelin eine spottende Frage über Hegel stellte, teilte er damit sicherlich ein typisches und karikatives Vorbild der hegelschen Philosophie oder, besser, des Hegelianismus: »Verstehst du es denn? Bewegt sich der Begriff in dir von selbst und ohne dein Zutun? Schlägt er in sein Gegenteil um, und springt daraus die höhere Einheit der Gegensätze hervor?« Gegen dieses Hohnlachen der hegelschen Philosophie als mystifizierter Sophisterei verteidigt Adorno die hegelsche Dialektik als eine rationale Methode der philosophischen Kritik. Sie sei keineswegs eine irrationale unrealistische Spekulation, sondern: »Gemeint ist philosophische Kritik der Philosophie, so rational wie diese selbst.« (DSH, 358)

17 Adorno verkündete in der Negativen Dialektik die »Lossage von Hegel« (ND, 148), und behauptete, dass die hegelsche Dialektik wegen ihrer Gleichsetzung des Anfangs mit dem Ende nichts anderes als eine bloße »Tautologie« (ND, 163) sei. Diese Aussagen von ihm sind aber meiner Ansicht nach (teilweise wegen eines Bedürfnisses, seinen eigenen Standpunkt differenziert von Hegel klar und deutlich zu zeigen) unnötig übertrieben, und verhindern aus diesem Grund das Verhältnis zwischen der hegelschen und adornoschen Dialektik genealogisch aufzuspüren. Darüber hinaus ist es aus heutiger Sicht nicht deutlich, ob Hegel, wie Adorno ihm vorwarf, in Wahrheit als ein Identitätsdenker kritisiert werden dürfte. Michael Theunissen interpretiert die Entwicklungsprozesse der logischen Kategorien in der Wissenschaft der Logik von Hegel als Vorbereitungsstufen seiner gesellschaftlichen Theorie und sieht in seiner Begriffs logik eine absolute Relationalität und »die kommunikative Freiheit« jedes Seienden, die er als ein Kriterium für die Kritik der Gleichgültigkeit (Seinslogik) und der Herrschaft (Wesenslogik) bestimmte. Slavoj Žižek findet in Hegel im Gegensatz zur postmodernen Kritik an ihm die stärkste Affirmation der Differenz und Kontingenz heraus. Der Totalitätsbegriff von Hegel wird heutzutage nicht mehr als ein repressiver Gedankenzwang, sondern auf diese Weise als die Totalität von Vielfältigkeit, Verschiedenheit und Pluralität verstanden (vgl. Theunissen, Michael: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt/M, 1980; Žižek, Slavoj: The sublime object of ideology, London/New York, 1989.). Hier versuche ich aus diesem Grund teilweise unabhängig von Adornos eigenem Selbstverständnis und seinen Aussagen, unter anderem mithilfe seines 1963 als Monographie erschienenen Hegel-Studienbuchs (Drei Studien zu Hegel) und seiner Vorlesungsprotokolle, die erst seit den 90er Jahren veröffentlicht wurden, dieses Verhältnis zu rekonstruieren.

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Allerdings wird sowohl von vielen Adorno-Nachfolgern als auch von seinen Gegnern zumeist nicht berücksichtigt oder sogar ignoriert, dass er seinen Begriff der Negativität zwar in heftiger Auseinandersetzung mit Hegel entwickelt, diese Auseinandersetzung aber immer nur als eine Fortdauer der hegelschen Problematik selbst verstanden hat; dass er sich nämlich in diesem Sinne als »Hegelianer« bezeichnet hat: »Auch darin weiß ich mich als Hegelianer [...], daß ich die Dialektik für das Gegenteil von bloßer Standpunktphilosophie halte.« (VND, 22) In diesem Sinne ist sein Projekt der negativen Dialektik als »eine Transposition oder eine Fortbildung eines Hegelschen Motivs« (VND, 18) zu begreifen, was sich aus der Tatsache verstehen lässt, dass er die hegelsche Philosophie für »die höchste Erhebung philosophischer Spekulation bis heute«18 hielt. Das bedeutet aber nicht, dass man die hegelsche Philosophie restaurieren müsse als das, was sie ist, sondern »daß es sich dabei um einen Versuch der Rettung Hegels handelt, und zwar [...] in einem gewissen Widerspruch zu gewissen Grundintentionen von Hegel selbst« (ED, 124). Bei dieser rekonstruierenden Hegel-Lektüre handelt sich es darum, die hegelsche Philosophie sowie ihre Begriffe auf solche Weise auszulegen, ihre verborgenen verschiedenen Potentiale radikal herzuleiten. »Man muß Hegel sehr differenziert lesen, und vor allem mit einer ständigen Bereitschaft, alle Möglichkeiten eines Begriffs in einem Begriff mitzudenken, so wie dann später Nietzsche von seinen Lesern mit großem Recht es sich gewünscht hat. « (ED, 161)

Von daher stellt Adorno in der hegelschen Philosophie die Möglichkeit philosophischer Kritik fest. Sie ist »in eminentem Sinn kritische Philosophie« (DSH, 315), d. h., »in der Tat wesentlich negativ: Kritik« (DSH, 276). In welchem Zusammenhang steht diese »Kritik« mit dem Begriff der Negativität? »Die Kernbedeutung der Hegelschen Negation« für Adorno besteht, wie Hauke Brunkhorst zeigt, in der »Entzweiung«, das heißt: »Die bestimmende Tätigkeit des Begriffs ist eine Praxis des Unterscheidens.«19 Für Adorno war es ausschlaggebend, dass Hegel den Begriff der Negativität als ein wesentliches Mittel für das Projekt der philosophischen Kritik dachte. Hegel beschreibt die Vernunft als wesentlich negative und tätige Kraft des Denkens.

18 Wozu noch Philosophie, GS 10.2, S. 461. 19 Brunkhorst, Hauke: Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, München, 1990, S. 272.

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»Der Verstand bestimmt und hält die Bestimmungen fest; die Vernunft ist negativ und dialektisch, weil sie die Bestimmungen des Verstands in nichts auflöst; sie ist positiv, weil sie das Allgemeine erzeugt und das Besondere begreift. « (WL I, 16).

Das Besondere in dem Allgemeinen positiv zu begreifen, ist, wie wir sehen werden, aber für Hegel nur mit der konstitutiven und kritischen Funktion der Negativität möglich. Diese kritische Funktion des Negativitätsbegriffs bei Hegel taucht auf, indem er, wie Andreas Arndt aufzeigt, den in der Sache enthaltenen Widerspruch zum (negativen) Kriterium der Wahrheit selbst erhebt. »Der Widerspruch soll seine Wahrheit allein darin haben die Falschheit Nicht -Widerspruchs aufzuzeigen. Wahr ist der Widerspruch nur als Negation der Unwahrheit [...]. In diesem Sinne ist er nicht Begriff, sondern Regel der Wahrheit.«20

Der Widerspruch als Regel der Wahrheit: Das setzt nun voraus, dass die Negativität des Denkens eine konstitutive Rolle in seiner Entwicklung spielt. »Negation ist ontologisch nicht nur apóphasis (Absprechen), sondern Zusprechen von Bestimmtheit.«21 Dass Hegel der Negativität eine konstitutive Funktion zusprach, kann man meines Erachtens an der Tatsache erkennen, dass er in seiner Frühschrift die Negativität als im Dritten bzw. in der Synthese der dialektischen Entwicklung unauflösbar bleibend und das Allgemeine als ein in sich negatives darstellte: »Diß dritte ist aber so beschaffen, daß es alles ist, was ist, es ist die Allgemeinheit, Negativität, und da mehrere allgemeine sind, ihr Seyn. Die Allgemeinheit ist eine solche welche unmittelbar sich gleich, und sich selbst entgegengesetzt; in sich ihr Gegentheil dirimirt ist, ebenso die Negativität«22.

Ich werde in diesem Zusammenhang meine These weiterhin zu bestätigen versuchen, dass Adorno diese Idee des konstitutiven Charakters des Negativitätsbegriffs von Hegel übernahm und sie auf eigene Weise zu seiner negativen Dialektik entwickelte. Ich unterscheide damit bezüglich des Einflusses von Hegel auf Adorno drei Elemente: a) Entdeckung des Nichtidentischen in der Identität, b)

20 Arndt, Andreas: Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg, 1994, S. 170. 21 A.a.O., S. 171. 22 Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe III, Gesammelte Werke Bd. 8, hg. v. R.-P., Horstmann, Hamburg, 1975, S. 199.

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Negation als kritische Haltung und c) das Negative in der gesellschaftlichen Realität. a. Entdeckung des Nichtidentischen in der Identität Indem das mit sich selbst Identische in der hegelschen Philosophie auch in sich vermittelt ist, steht es nur im Zusammenhang mit seinem Nichtidentischen. Die Identität, das Identische ist in sich widersprüchlich und enthält in sich das mit sich nicht Gleiche; dies stellt Hegel derart dar, »daß es in seiner Gleichheit mit sich sich ungleich und widersprechend und in seiner Verschiedenheit, in seinem Widerspruche mit sich identisch und an ihm selbst diese Bewegung des Übergehens einer dieser Bestimmungen in die andere ist, und dies darum, weil jede an ihr selbst das Gegenteil ihrer selbst ist.« (WL II, 40) Adorno fand den »Geburtsort des Nichtidentischen«23 in der hegelschen Philosophie gerade in diesem Punkt, d. h., »aus dem zweiten Band der Hegelschen ›Logik‹, wo die Kategorie der Identität abgehandelt wird und wo Hegel äußerst stringent nachweist, daß der Begriff der Identität selbst in der einfachsten Prädikation überhaupt nur einen Sinn hat, soweit ich, indem ich den Sub jektbegriff ausspreche, erwarte, daß das Subjekt etwas anderes sei als das, was es selber ist« (PT 2, 134).

Für Hegel ist ein Sichselbstgleiches ein absolutes, indem es gleichzeitig ein absolut Nicht-Sichselbstgleiches ist. Insofern ist die Identität »das Nichts«, also »die Negativität, der absolute Unterschied von sich selbst« (WL II, 45). Das Schema von Hegel, dass die Identität, die Negation der Negation und das absolut Negatives eins sind, wird einerseits von Adorno dahingehend kritisiert, dass darin das Nichtidentische auf die ursprüngliche Identität zurückgeht und darunter subsumiert wird, andererseits aber zeigt bereits Hegel, dass die Negativität noch konstitutiv für die Identität selbst ist. Nur das durch die Negation hindurch gesetzte, sich selbst entzweite Sein erhält die Sichselbstidentität. Sonst bleibt die Identität leer und inhaltlos. Die hegelsche Dialektik enthält also beide Seiten zugleich: Sie ist, wie Ute Guzzoni es ausdrückt, »sowohl durch das Prinzip der Identität wie durch das Prinzip der Nichtidentität bestimmt und geprägt«.24

23 Ritsert, Jürgen: Das Nichtidentische bei Adorno – Substanz- oder Problembegriff?, in: Zeitschrift für kritische Theorie Heft 4, Lüneburg, 1997, S. 33. 24 Guzzoni, Ute: Identität oder nicht. Zur Kritischen Theorie der Ontologie, Freiburg/München, 1981, S. 42.

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Wie Adorno in der Negativen Dialektik anerkannte, liegt bei Hegel auf diese Weise »der Ursprung des Ichs im Nichtich« (ND, 199). Aus diesem Grund konnte Adorno mithilfe Hegels »im Begriff der Identität selber« erblicken, »daß er seinen Sinn überhaupt nur dann hat, wenn er sich auf ein Nicht-Identisches bezieht« (ND, 135). Nur aus dieser eigenartigen Hegel-Rezeption konnte er die Aufgabe der dialektischen Philosophie als die Entdeckung des Nichtidentischen in sich definieren. »Subjektiv betrachtet ist philosophisches Denken ohne Pause mit der Forderung konfrontiert, konsequenzlogisch sich in sich zu verhalten und dennoch das in sich zu empfangen, was es nicht selber ist und was sich a priori seiner eigenen Gesetzmäßigkeit nicht unterwirft.«25

Hierbei ist mit Gewissheit festzustellen, dass die theoretische Überlegung über das Verhältnis von Adorno und Hegel, dass jener diesem als einem »Identitätsdenker« derart vorgeworfen habe, dass er in seinem philosophischen System, das auf die Identität, die positive Totalität hinausgeht, den philosophischen Weg zum Totalitarismus geöffnet hätte, widerlegt wird. Adorno kritisierte an Hegel tatsächlich, dass seine Philosophie letzten Endes der Identitätskreis bleibe. Adorno erkennt einerseits an, dass Hegels Dialektik »auf dem perennierenden Widerstand des Nichtidentischen beruht«, zugleich wirft er ihm vor, dass es in seiner Dialektik endlich durch die Subsumtion unter die Identität negiert wird, nämlich, dass es zu einem bloßen »Vehikel« wird, »es zum Identischen, zur Selbstgleichheit zu machen« (ND, 126). Doch setzt diese Kritik meines Erachtens immer voraus, dass Adornos Hinsicht auf das Nichtidentische umgekehrt nur bei seiner Hegel-Rezeption in Bezug auf den Gedanken der »Nichtidentität in der Identität« selbst entwickelt wurde. Er ist sich dessen bewusst, dass der Widerspruch bei Hegel »zum Agens des Philosophierens« wird, und außerdem die »Identität [...] auf ihrer Spitze Agens des Nichtidentischen [wird]« (DSH, 308). Auf diese Weise zeigt sich in den Drei Studien zu Hegel, dass die Nichtidentität des Begriffs mit der Sache bereits bei Hegel aus der Identität selbst abgeleitet wird: »Indem der Begriff festgehalten, also seine Bedeutung mit dem unter ihm Befaßten konfrontiert wird, zeigt sich in seiner Identität mit der Sache, wie die logische Form der Definition sie verlangt, zugleich die Nichtidentität, also daß Begriff und Sache nicht eins sind.« (DSH, 310) Ferner, und gegen das oben erwähnte Vorurteil über Hegel sowie über das Verhältnis zwischen ihm und Adorno, ist es aus diesem Grund möglich, Hegel

25 Anmerkungen zum philosophischen Denken, GS 10.2, S. 601.

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als den ersten philosophischen Kritiker des (abstrakten) Identitätsdenkens zu bezeichnen. Dabei geht es in erster Linie um seine Kritik des Identitätssystems sowie der abstrakten Identität in der Seinslogik der Wissenschaft der Logik. »Die philosophische Ansicht, welcher ›Sein ist nur Sein, Nichts ist nur Nichts‹ als Prinzip gilt, verdient den Namen Identitätssystem; diese abstrakte Identität ist das Wesen des Pantheismus.« (WL I, 85)

Auch in der Wesenslogik bestimmt Hegel den Begriff der Identität, indem er die traditionelle Vorstellung dessen als »Mangel des Bewußtseins über die negative Bewegung« (WL II, 42) und insofern als leer und abstrakt kritisiert. Der Satz der Identität, A=A gilt ihm als eine Tautologie. Diese abstrakte Formel ignoriert seiner Ansicht nach »daß die Identität ein Verschiedenes ist« (WL II, 41). Im Anschluss daran expliziert er in seiner Darstellung der »absoluten Idee« in der Begriffslogik, dass »die negative oder vermittelte« Denkbestimmung ebenso »die vermittelnde« ist (WL II, 562). Weil das Vermittelte nur als »eine Beziehung oder Verhältnis« (ebd.) besteht, entsteht die Vermittlung mit einem Anderen in diesem Vermittelten selbst, wird es von sich aus zum Vermittelnden. Die Einheit eines Seienden besteht nur insofern, als es »das Andere eines Anderen« (ebd.) ist. In dieser Erklärung setzt Hegel die Negation mit dem Verhältnis (zum Anderen) gleich, somit auch mit der Alterität. Die einfache Identität sowie das unmittelbar Positive ohne seine Negation gilt ihm als leer und abstrakt. Kurz: In der Kritik der »abstrakten Identität« und des »Identitätssystems« (Seinslogik), in der Bestimmung der Identität als in sich Unterschiede enthaltend (Wesenslogik) und als »das Andere eines Anderen« (Begriffslogik) erblicken wir schließlich die hegelsche kritische Darstellung des Identitätsbegriffs. Man denkt, dass das Positive dem Licht, das Negative der Finsternis entspricht. Hegel zufolge ist das Licht aber unendlich expandierend, eine lebendige Kraft und die Wirkung für alle Lebewesen, die die Finsternis heraustreibt, insofern erhält es »die Natur der absoluten Negativität« (WL II, 71). Die abstrakte Identität, das unmittelbar Positive ist dagegen tot, finster, solange dabei die lebendige Kraft der Negativität fehlt: »Die Finsternis dagegen als Unmannigfaltiges oder der sich nicht selbst in sich unterscheidende Schoß der Erzeugung ist das einfache mit sich Identische, das Positive. « (WL II, 71 f.) Der hegelsche Begriff der »bestimmten Negation«, die Adorno einmal den »Nerv der Dialektik als Methode« (DSH, 318) nannte, impliziert, dass alles Seiende nur in einem Netzwerk mit seinem Nichtsein, seiner Negation, seinem Anderen bestimmt werden kann. In diesem Sinne ist es meiner Ansicht nach auch möglich, die bestimmte Negation zugleich als die »negierende Bestimmung« zu bezeichnen. Hegel lehnt durch diese begriffliche Methode zwei Arten des Sub-

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stanzbegriffs ab. Auf der einen Seite weist er seine Bestimmung als eine geschlossene, in sich begründete Einheit zurück, die sich nicht auf ein Anderes bezieht, auf der anderen Seite lehnt er eine Vorstellung der Substanz ab, die die ganze Welt als eine unmittelbar wahre, statische hypostasiert. In diesem Sinne ist die bestimmte Negation als eine Kraft zu verstehen, die das (abstrakte) Eine zerstört und die Substanz gleichzeitig als Subjekt in Bewegung bringt. Dieser Charakter des Negativitätsbegriffs lässt sich unter anderem in der Phänomenologie des Geistes feststellen. Hier schreibt Hegel, dass die ursprüngliche und unmittelbare Einheit des Seienden keineswegs die Wahrheit ist, insofern sie in sich keine Negation als die Reflexion über sich in seiner Negativität enthält, wie es die traditionelle Metaphysik annimmt. Gerade diese Negativität ist die Ursache der »Entzweiung des Einfachen«: »Sie [die lebendige Substanz – S. H.] ist als Subjekt reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen; nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche – ist das Wahre.« (PG, 23)

Die Negativität wird als eine Kraft beschrieben, die in der dialektischen Bewegung die Härte dieser Ursprünglichkeit, der Unmittelbarkeit zu durchbrechen 26, als »die ungeheure Macht des Negativen«, d. h, »die Energie des Denkens« (PG, 36). Eben diese Durchbrechung, Zerrissenheit ist die Quelle des Wahrheitsgehaltes der Negativität: »Er[der Geist – S. H.] gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. [...] [E]r ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins An gesicht schaut, bei ihm verweilt. « (Ebd.)

Dieses »Verweilen beim Negativen« wird zum entscheidendsten Motiv von Adorno, insofern er jene »ungeheure Macht des Negativen« als das kritische Potential in der dialektischen Denkbewegung konsequent beibehalten will.27 Diese Gestalt der negativen Bewegung der Dialektik, die Idee der fest und unverändernd bleibenden Substanz als das unbewegende Eine aufzulösen, wird das Modell der

26 Vgl. Andreas Arndt: Unmittelbarkeit, Berlin, 2013, S. 47-64; auch S. 108-112. 27 Adorno zitiert in diesem Zusammenhang diese Stelle in der Phänomenologie des Geistes in seiner Minima Moralia und fügt hinzu, dass er damit »in Opposition zu Hegels Verfahren und gleichwohl in Konsequenz seines Gedankens auf der Negativität « (MM, 15) insistieren wolle.

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Negativität in der negativen Dialektik Adornos, insofern sie das Identifikationsprinzip des sich selbst gleichen Subjektes auf diejenige hegelsche Weise aufzulösen versucht: »[D]iese Sichselbstgleichheit ist ebenso Negativität; dadurch geht jenes feste Dasein in seine Auflösung über« (PG, 54), und dies bedeutet, »[d]as Selbstgleiche [...] hebt sich als schon Entzweites, es hebt sich als Anderssein auf« (PG, 132). Diese Entzweiung der Einfachheit der Substanz, der Einheit des Subjektes führt, Hegel zufolge, zum Anderswerden des Sichselbst. Dieses Reflexionsverhältnis zeigt, dass die Identität immer auf das Nichtidentische, das Subjekt auf sein Anderes und das Positive auf das Negative angewiesen ist. Wie Michael Wolff exponierte, »[j]edes dieser entgegengesetzten Relate ist ›identisch‹ mit dem eigentümlichen Gegenstück seines eigentümlichen Gegenstücks«.28 Diese Beziehung der Angewiesenheit aufeinander von Hegel, oder »[d]as Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches, wie Hegel beinahe es erreichte« (ND, 126), ist ein Hinweis darauf, dass sich sein Totalitäts- sowie Systembegriff als »ein Netz von Relationen«29 neu denken lässt. »Die traditionelle Vorstellung des Systems ist gerade die der geschlossenen Ableitung aus einem bestimmten Satz« (ED, 44), und in diesem Sinne bezeichnet Adorno es als ein »geschlossenes und lückenloses Denkbilde«, »einen geschlossenen Deduktionszusammenhang« (ED, 43). Seine Einsicht in die Differenz zwischen dem hegelschen und traditionellen Systembegriff ist in diesem Punkt auffallend. Von ihm wird gezeigt, dass der hegelsche Systembegriff keineswegs als geschlossen und autarkisch zu verstehen ist, sondern »daß der Hegelsche Systembegriff oder [...], daß der dialektische Begriff der Totalität eigentlich das genaue Gegenteil davon ist« (ED, 44). Adorno durchschaute, »daß zwar in jeder einzelnen Bestimmung, die das Denken überhaupt treffen kann, die Nichtidentität hervortritt, daß das Denken und sein Gegenstand nicht miteinander zusammenfallen, daß aber der Inbegriff aller Bestimmungen, zu denen das Denken überhaupt sich erheben kann, oder die Totalität aller Bestimmungen der Philosophie, in sich doch eben diese absolute Identität herstelle« (ED, 16). Aber diese »Totalität« oder die »absolute Identität« muss man »vorsichtiger und strenger hegelisch« betrachten, sodass sie »als Inbegriff aller ausgeführten einzelnen Widersprüche« (ebd.) charakterisiert werden muss. Hegels System spielt aus dieser Sicht eine kritische Rolle, indem er einerseits die

28 Wolff, Michael: Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels, Frankfurt/M, 2010, S. 107. 29 Arndt, Arndt: Was ist Dialektik? Anmerkungen zu Kant, Hegel und Marx, in: Das Argument: Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Jg.50, Heft 1, 2008, S. 44.

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einzelnen Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Ganzen stehen lässt, andererseits dieses Ganze als ein widerspruchsvolles, in sich negatives bezeichnet; diese immanente Konsequenz seiner Philosophie trieb Hegel laut Adorno allerdings nicht vollständig, insofern die Nichtidentität bei ihm als ein affirmatives Moment für die auf sich zurückgekehrte positive Identität in eine Totalität aufgehoben wird. Der Kern Adornos Hegelkritik besteht nun darin, dass Hegel die Identität nicht nur als ein unausweichliches Element für die Erkenntnis des Subjektes, sondern »als Letztes, Absolutes« (ND, 150) bestimmte. Hegel wird auf der einen Seite für einen Reformer der Philosophie, der den traditionellen metaphysischen Substanzbegriff widerlegte, auf der anderen Seite für deren Restaurator gehalten, der schließlich auf die traditionelle Philosophie zurückkommt, indem die Identität und das Positive als das erste und zugleich letztliche Prinzip proklamiert werden, was nun wiederum durch Adornos negativistischen Richtungswechsel der Dialektik abgelehnt wird. b. Negation als kritische Haltung Nach einer auffallenden These von Michael Theunissen lässt sich die Wissenschaft der Logik von Hegel als einen systematischen Versuch verstehen, die traditionelle Metaphysik durch Darstellung der neuen logischen Systematik zu kritisieren und darüber hinauszuführen. Die »Einheit von Kritik und Darstellung der Metaphysik«30 ist nach Theunissen das Grundmotiv der hegelschen Logik, deren Darstellungsmethode in diesem Sinne derjenigen des Kapital von Marx vorangeht, und eben in dieser »kritischen Darstellung« liegt die wesentliche Intention der Idee des Systems der Logik. Zudem zeigt sich Theunissen zufolge deutlich, dass die Voraussetzung für diese kritische Darstellung unter anderem die reflexive Distanzierung von der unmittelbaren Gegebenheit ist. »Das Hegelsche System beruht auf der Überzeugung, daß das unmittelbar Gegebene nicht schon das in Wahrheit Seiende sei. Das unmittelbar Gegebene ist bloß eine Erscheinung, die sich bei näherem Zusehen in Schein auflöst.«31

Denn dieser Gedanke impliziert, dass etwas Unmittelbares, etwas Gegebenes an sich keineswegs die Wahrheit erreichen kann, sondern nur den Schein bildet,

30 Theunissen, Michael: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt/M, 1980, S. 16. 31 A.a.O., S. 141

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enthält er den kritischen Gehalt, dass der Vorstellung der metaphysischen Substanz als einer unmittelbaren, einer positiven, die uns unvermittelt durch die Anschauung gegeben sein kann, entsagt werden sollte. Die hegelsche Kritik der Metaphysik, ihres Substanzbegriffs besteht nunmehr darin, den Schein der Positivität als der Vorgegebenheit und des Affirmativen abzustreifen. Insofern ist der Negationsbegriff grundsätzlich von Bedeutung für die kritische Wirkung der hegelschen Dialektik. Hegel stellt ferner dar, dass die Negativität sogar in Begriffen selbst beinhaltet ist. Insofern die Dialektik »die Seite der Endlichkeit, Veränderlichkeit und Erscheinung« in einem vorhandenen objektiven Gegenstand durch die begriffliche Auffassung dessen aufdeckt, ist diese zugleich ein negatives Begreifen der unmittelbar gegebenen, äußerlichen Gegenstände, »die Negativität, wodurch ihr gleichgültiges Außereinandersein sich als Unwesentliches und Gesetztsein zeigt«, tritt in diesem Sinne als »der Begriff selbst« auf (WL II, 467). Von daher wird nunmehr zur Kenntnis genommen, dass »in der Tat [...] das Denken wesentlich die Negation eines unmittelbar Vorhandenen [ist]«.32 Erst dadurch, dass das begriffliche Denken das Unmittelbare an sich nicht bloß passiv rezipiert, sondern es einmal tätig negiert, wird der reflexive, kritische und spekulative Abstand zu diesem Gegenstand bewahrt. Indem Adorno nun den Begriff der Negativität auf diese Weise mit dem kritischen Vollzug des Denkens verflicht, übernimmt er dieses Grundmotiv der hegelschen Dialektik. Gleichzeitig eignet er es sich auf seine eigene Weise an, wobei es um die doppelte Gleichsetzung geht – Negativität mit Kritik einerseits, Kritik mit Widerstand andererseits, wie Theunissen folgendermaßen präzisierte: »Damit knüpft er bekanntlich an Hegels These über die Negativität an. Er tut dies jedoch so, daß er sie zweifach verschärft. Erstens setzt er Negativität mit Kritik gleich. Denkende Negation muß ihm als solche schon Kritik sein, weil er voraussetzt, daß das Positive im Sinne des Seienden, Gegebenen in sich bereits negativ im Sinne des Nichtseinsollenden ist. Zweitens faßt er Kritik ihrerseits als Widerstand auf.«33

Adorno fasst die hegelsche Metaphysikkritik zugleich als erkenntnistheoretische Kritik auf, weil darin die Kritik der ontologischen Substanz zugleich die Kritik des die Dinge als isoliert betrachtenden Standpunktes des Erkennens voraussetzt.

32 Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Werke in 20 Bänden Bd. 8, Frankfurt/M, 1986, S. 57 33 Theunissen, Michael: Negativität bei Adorno, in: Friedeburg, L. V., Habermas, J. (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 44.

48 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄ T »Die Dynamik der Phänomenologie des Geistes hebt erkenntnistheoretisch an, um dann freilich, wie es bereits die Einleitung skizziert, die Position einer isolierten oder, nach Hegelscher Sprache, abstrakten Erkenntnistheorie zu sprengen.« (DSH, 253)

»Sprengt« aber Hegel wirklich den Gegenstand seiner Kritik so »dynamisch«? Hegel betont tatsächlich den kritischen Charakterzug des Negativitätsbegriffs als eine auseinandersetzende Kraft dergestalt, dass die Negativität keineswegs einen moderaten Zwischenhalt auf dem Weg zum Positiven darbietet, sondern »das Tun des negativen Wesens [...] als ein lauter Lärm und gewaltsamer Kampf mit Entgegengesetztem als solchem vorhanden sein muß« (PG, 404). Eine so verstandene Negation »als bewußtes Tun« (ebd.) lässt sich als kritische Haltung der dialektischen Darstellung verstehen. Sie bezieht sich auf die subjektive Anstrengung des Denkens – erinnern wir uns daran, dass für Hegel das Subjekt mit der Substanz gleich ist – nicht durch die Selbstverständlichkeit eines gegebenen Gegenstandes befriedigt zu sein, sondern ihn zu dekonstruieren sowie zu rekonstruieren. »Hegels Gleichsetzung von Negativität mit dem Subjekt – gegen die Positivität der Wissenschaft und die Kontingenz des Einzelnen – hat ihren Erfahrungskern. Denken ist, vor allem besonderen Inhalt, Negieren, Resistenz (daher das Moment der Anstrengung, das Denken von der Rezeptivität unterscheidet. Darin gleicht das Denken seinem Urbild, der Arbeit: auch diese zugleich negativ) « (VND, 163, unterstrichen von Adorno).

Die Philosophie tut ihren ersten Schritt für Adorno dann, wenn sie das Seiende nicht als einfach Gegebenes annimmt, sondern seine Selbständigkeit als Schein dekonstruiert, um es als einen theoretischen Gegenstand zu analysieren, und Fragen nach dem Verhältnis zwischen verschiedenen Gegenständen, nach der Angewiesenheit der Gegenstände aufeinander stellt. Durch diese Distanzierung, diese Dekonstruktion ist die Philosophie erst im Stande, einen Gegenstand begrifflich aufzufassen. Das philosophische Begreifen, das begriffliche Denken ist eine unvermeidliche Anwendung der Abstraktion, der Gewalt des Denkens, um die Macht der Positivität der empirischen Gegebenheit zu zerstören. Es geht dabei Adorno ebenso wie Hegel darum, durch die Aufdeckung des Scheins des unmittelbar Gegebenen diese Macht unter das reflexive Denken zu subsumieren. »Wenn die große Philosophie auf ihrer Höhe, in Hegel, die Arbeit des Geistes mit dem Prinzip der Negation gleichsetzte, so ist damit die Verpflichtung anerkannt, über das je

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Gegebene und bloß Soseiende hinauszugehen, nicht bloß um der Möglichkeit eines Besseren willen, sondern bereits um das Gegebene selber begreifen zu können.«34

Die Negation ist darum eine Triebkraft des begrifflichen Denkens zum Hinausgehen über das Gegebene. c. Das Negative in der gesellschaftlichen Realität Das dritte Element des hegelschen Negativitätsbegriffs, das für die Entwicklung von Adornos negativer Dialektik ausschlaggebend ist, bezieht sich auf dessen gesellschaftstheoretische sowie geschichtsphilosophische Rolle. Adorno sah ihn als eine Voraussetzung für das Erkennen des negativen Zustandes des Objektes. »In all ihren partikularen Momenten will Hegels Philosophie negativ sein; wird sie aber, entgegen seiner Absicht, zur negativen auch als ganze, so erkennt sie darin die Negativität ihres Objekts.« (DSH, 277) Hegel hielt das Moment der Negativität für notwendig, um diese Negativität des Objektes, obzwar in Bezug auf ihre positive Versöhnung, philosophisch sowie begrifflich zu erkennen. Den negativen Zustand der Objekte, der Realität, wie er ihn in seiner Frühschrift »Nacht der Welt«35 nannte, stellt er in der Phänomenologie des Geistes so dar: »Das Leben Gottes und das göttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden; diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt. « (PG, 24)

Diese Stelle hat Adorno in seiner Vorlesung im Sommersemester 1958 zitiert und folgendermaßen interpretiert, dass »bei Hegel immer, wenn bei ihm überhaupt von Widerspruch die Rede ist, darin zugleich eben jenes Moment des ›Menschlichen‹, der Erfahrung, des Leidens der Negativität in jenem Sinn steckt, in dem wir eben an einem negativen Zustand leiden« (ED, 66). Kant fasste den Widerspruch in unserer Erkenntnis auf, ließ ihn aber nicht der Welt selbst, nicht der Realität zukommen, weil er dachte, dass der Widerspruch nur in der erkennenden Vernunft existieren muss. Hegel betrachtete diese Entdeckung des Widerspruchs von Kant als »wesentlich und notwendig«, als »einen der wichtigsten und tiefsten Fortschritte der Philosophie neuerer Zeit«36,

34 Frage an die intellektuelle Emigration, GS 20.1, S. 354 f. 35 Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe III, S. 187. 36 Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, S. 126.

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nichtsdestoweniger bleibt die kantische Auffassung Hegel zufolge »trivial«, insofern Kant die Widerspruchslosigkeit der Welt voraussetzt und unterstellt, dass der Widerspruch nur der denkenden Vernunft, dem Wesen des Geistes zukommt.37 Adorno übernimmt nun die hegelsche Einsicht, dass der Widerspruch der Realität selbst zugrunde liegt und verbindet sie mit der kritischen Überlegung über die negative, widersprüchliche gesellschaftliche Realität. Die Stimme der Philosophie ist nach Adorno und Horkheimer »die des Widerspruchs« (DA, 281). Infolgedessen enthüllt sich die Totalität unserer gesellschaftlichen Realität ihnen zufolge als unvollständig und gescheitert. Hier lässt sich zunächst ein erweiterter Charakterzug der hegelschen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft aufzeigen, um deutlich zu machen, welche Rolle der Begriff der Negativität in seiner Gesellschaftstheorie spielt, und wie sie sich bei Adorno weiter entwickelt. In Grundlinien der Philosophie des Rechts, und zwar im Zuge seiner Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft, beschreibt Hegel »[d]as Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendig reguliert« (PR, 389). Sowohl aufgrund des Mangels an Erwerb als auch wegen ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung wird diese große arbeitslose und eigentumslose Masse durch den »Verlust des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen« (ebd.) charakterisiert. Die ungeheure Konzentration des Eigentums der gesamten Gesellschaft in wenigen Händen und die »Erzeugung des Pöbels« (ebd.) fallen in der bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Der Pöbel wird sowohl aus dem wirtschaftlichen Verteilungsprinzip als auch aus der ständischen Organisation der Gesellschaft ausgegrenzt, er ist ein Teil ohne Anteil in der bürgerlichen Gesellschaft, die die Ursache für seine Entstehung ist und gleichwohl keine Lösung dafür weiß. Der Pöbel bei Hegel bezeichnet sich, wie Frank Rudas Auslegung zeigt, in diesem Zusammenhang als ein Nichts, ein Nichtsein, das ein notwendiges Element sowie eine unausweichliche Konsequenz der bürgerlichen Gesellschaft ist. »Der Arme ist darüber, dass ihm die Teilhabe an einem Stand abgeht, nicht länger Etwas, vielmehr ist er ein Nichts, das innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aufscheint.«38 Ferner erscheint aber dieses Nichts, dieses Nichtsein als ein die bürgerliche Gesellschaft selbst bestimmendes Prinzip. Ruda zufolge geht diese Problematik des Pöbels bei Hegel über ihn selbst hinaus, der im Grunde genommen der An-

37 Ebd. 38 Ruda, Frank: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, Konstanz, 2011, S. 61.

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sicht ist, dass die Negativität des Pöbels durch die Synthese des Staats als das sittliche Gemeinwesen ins Rechtssystem wieder einschließbar sei. Der Pöbel ist in Rudas Hinsicht aber zugleich in Hegels Konstruktion selbst »das Negative überhaupt«39, »ein Name der absoluten Negation, ein Name des Nichts«.40 Hegel entdeckte dieses Prinzip der absoluten Negativität des Pöbels, wobei der Pöbel in Konsequenz seiner absoluten Ausgrenzung, als Teil ohne Anteil in die bürgerliche Gesellschaft dauerhaft nicht integrierbar ist, wobei diese hegelsche Entdeckung allerdings die gesamte Konstruktion seines politisch-philosophischen Programms sprengt, das in der Versöhnung des Widerspruchs durch den Staat kulminiert. In dieser Hinsicht zeigt sich dann deutlich, dass Hegel bezüglich seiner Problematik des Pöbels in der bürgerlichen Gesellschaft, so kann man wenngleich grundsätzlich im Gegensatz zu seiner ausgedrückten Grundintention seine Philosophie auslegen, den Gedanken der negativen Totalität, des nicht-integrierbaren Überschusses in der Gesellschaft theoretisiert hat, der für Adorno dann die wichtigsten Annahmen seiner Gesellschaftstheorie bildet. Für ihn lässt sich nunmehr das gesellschaftliche Ganze als die nichtzusammenzuschließende Realität begreifen, in der das Leiden des nichtidentischen Einzelnen die Spalte der Gesellschaft verkörpert. Nur aus dem Gedanken, dass die gesellschaftliche Totalität sowenig in sich geschlossen wie unbeweglich stabil, sondern in sich widersprüchlich und daher dynamisch ist, kann die Politik der Negativität begründet werden, die auf die Überwindung der negativen gesellschaftlichen Totalität zielt. d. Schlussfolgerung Durch die bisherige Betrachtung kommt zum Vorschein, dass Adorno ein wesentliches Moment hegelscher Dialektik weiter ausführen wollte: das Positive nur in der Negation. Ihm zufolge wusste Hegel, dass das »bloß Negative keineswegs ein bloß Negatives bleibt, sondern daß es so entwickelt werden muß, daß es in sich selbst zu einem positiven Moment wird« (ED, 95). »Das Positive in seinem Negativen« ist tatsächlich für Hegel »das Wichtigste im vernünftigen Erkennen« (WL II, 561). Hier versucht Adorno, aus der hegelschen Philosophie eine Konzeption des Vorrangs der Negativität gegenüber dem Positiven zu entwickeln. Auf diese Weise sah er in Hegels Texten ein verborgenes Potential der kritischen Funktion des Negativitätsbegriffs und stellt es – im Gegensatz zur traditionellen Vorstellung des Hegelianismus vom zentralen Standpunkt der Syn-

39 A.a.O., S. 176. 40 A.a.O., S. 238.

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these – in den Vordergrund. »Bei Hegel [ist – S. H.] von Synthesis relativ selten die Rede. In Concreto ist seine Methode wesentlich doch Negation.« (VND, 201, unterstrichen von Adorno) Dies ist der Grund dafür, warum er der hegelschen spekulativen Vernunft nicht absagen wollte, sondern betonte, dass sie zugleich die negative, kritische und dynamische Vernunft ist. »Seinem Idealismus wird die Vernunft zur kritischen in einem Kant nochmals kritisierenden Sinn, als negative, die Statik der gleichwohl festgehaltenen Momente bewegende.« (DSH, 257) Diese Dynamik des hegelschen Vernunftbegriffs ist für Adorno von großer Bedeutung, indem Hegel die Dialektik als einen Prozess bezeichnet, der das für fest und ewig Gehaltene auflöst und in Bewegung versetzt. Adorno zufolge ist der dialektische Prozess für Hegel »in permanentem status nascendi« und in diesem Sinne »eher Filme[n] des Gedankens als Texte[n]« (DSH, 353) ähnlich. Wie detaillierte Bilder und Inhalte in einem Film nicht in jede isolierte Szene geschnitten werden können, so ist die hegelsche Philosophie als der nicht festgehaltene Entstehungsprozess des Denkens zu verstehen. Bei diesem Prozess, dieser Bewegung geht es deswegen darum, »daß die Kraft eigentlich, die die Hegelsche Philosophie bewegt, eben doch so sehr die Kraft der Negation, also die kritische Kraft in jedem einzelnen Moment ist« (ED, 106). Adornos Auffassung von Hegel ist allerdings keineswegs eine strikte Textinterpretation, die Hegel, so wie er ist, wörtlich zu verstehen versucht, sondern eine »Radikalisierung der Hegelschen Dialektik«41, die Hegel auf eine immanente Weise rezipiert und zugleich kritisiert. Dies bedeutet, dass seine Hegel-Lektüre vielmehr »ein hegelkritisches Ziel mit hegelschen Mitteln«42 hat. Seine Dialektik entwickelt Adorno also auf diese Weise »hegelisch gegen Hegel«43, das heißt, Adorno musste »ziemlich rigoros zwischen zu Bewahrendem und zu Kritisierendem in der Hegel’schen Philosophie scheiden«.44

41 Schmidt, Friedrich W.: Hegel in der Kritischen Theorie der ›Frankfurter Schule‹, in: Negt, Oskar (Hg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt/M, 1970, S. 17. 42 Schnädelbach, Herbert: Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 67. 43 Schweppenhäuser, Hermann: Spekulative und negative Dialektik, in: Negt, Oskar (Hg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt/M, 1970, S. 81. 44 Sommer, Marc N.: Die Differenz in der Vermittlung. Adorno und die Hegel’sche Dialektik, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 32/33, Lüneburg, 2011, S. 145.

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Adornos Auffassung nach trieb Hegel das, was er entdeckte, nicht konsequent weiter, weil er noch auf ein festes und selbstständiges System, dessen Beginn endgültig dem Ende entsprechen soll, beharrte. Hegel präsentiere zwar ein vorzügliches Modell für die Annäherung an das Nichtidentische, dennoch bleibe seine Dialektik tautologisch. In diesem tautologischen Gang werde das Besondere der Einheit durch die Allgemeinheit geopfert. Aber Adornos Kritik an Hegel negiert nicht, dass es in der hegelschen Philosophie eine andere Möglichkeit für die Entwicklung des Besonderen, des Nichtidentischen gibt. Daher geht es bei Adorno darum, durch das methodische Verfahren, das Hegel selber aufzeigte, das auszudrücken, was er nicht ausdrückte, d. h., über die hegelsche Philosophie »nach dem Richtspruch ihres eigenen Begriffs« (DSH, 264) hinauszuführen. Hegel fordert Einheit zwischen dem systematischen und dynamischen Charakterzug seiner Dialektik, die aus Adornos Sicht nicht möglich ist. »Soll das System tatsächlich geschlossen sein, nichts außerhalb seines Bannkreises dulden, so wird es, sei es noch so dynamisch konzipiert, als positive Unendlichkeit endlich, statisch.« (ND, 37) Hegel klebte nach Adorno der Negativität die unmittelbare, auf sich selbst gegründete absolute Positivität eklektisch an. Um jetzt die eigentliche Dynamik der Dialektik aus der unmöglichen Einheitsforderung zu retten, war die Revidierung der Dialektik für Adorno unentbehrlich, die ihr Gewicht auf die Negativität legt. Ich insistierte nunmehr darauf, dass im System der hegelschen Dialektik ein Prototyp des kritischen Potentials der Dialektik, das durch den traditionellen Hegelianismus übersehen worden ist und das Adorno dann mit der Beleuchtung des Negativitätsbegriffs entfalten wollte, aufgedeckt werden kann und Adorno durch seine eigentliche Hegel-Auffassung versuchte, den kritischen Charakterzug des Begriffs der hegelschen »bestimmten Negation« seiner inneren Logik gemäß bis zum Schluss durchzusetzen. Außerdem wollte ich bei der Betrachtung der Hegelkritik von Adorno aufzeigen, dass diese Kritik nicht, wie die Behauptungen derjenigen, die ihn als einen Gegen-Dialektiker bezeichnen möchten, annihilierend ist, sondern dass er durch diese Kritik zeigen wollte, dass das kritische Potential der hegelschen Philosophie – Negation – durch die es störenden Faktoren – Synthese und System – auf den Kopf gestellt ist. Meine These lautet in diesem Zusammenhang, dass das Verhältnis zwischen der Dialektik Adornos und Hegels nicht als eine einseitige Entgegensetzung zwischen der Negation und dem Positiven (dem System, der Identität) zu verstehen ist, sondern immer als Differenz vom Modus des »Vorrangs« zwischen beiden. Adorno hat nämlich die Systematizität, die Positivität und die Identität nicht abstrakt abgelehnt, sondern wollte den Vorrang der Negativität vor diesen verkündigen, was ihm zufolge Hegel allzu sehr zögernd tat; darin liegt der Hauptpunkt seiner Hegelkritik.

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1.2.2 Dialektik als kritische Darstellungsmethode: »Neue Marx-Lektüre« von Adorno Seine theoretische Haltung zu Marx sowie Marxismus fasste Adorno in einer kleinen Notiz Zur Spezifikation der kritischen Theorie sehr deutlich mit den Worten zusammen, »daß in der kritischen Theorie der Marxismus – ohne daß er aufgeweicht würde – sich selbst kritisch reflektieren muß. Er ist dem Positivismus unversöhnlich«. 45 An dieser Stelle zeigt sich die Aufgabe der Kritischen Theorie, den Marxismus von seiner etablierten offiziellen Form zu befreien, ohne seinen theoretischen Kern aufzugeben. Hierbei geht es vor allem um die Diagnose, dass der Marxismus seinen theoretischen Kern verlor, indem er in eine Art des Positivismus verfiel. Nun will ich zeigen, dass Adorno die sogenannte »Neue Marx-Lektüre«, eine Rezeptionsweise der marxschen Theorien in der BRD seit den 1970er Jahren, vorwegnahm, die die Krise des Marxismus durch die Wiederaneignung von marxschen Texten selbst zu überwinden versuchte. Die Neue Marx-Lektüre wird von Frank Engster wie folgt definiert: »Die Neue Marx-Lektüre ist in zweifacher oder vielmehr in doppelter Hinsicht ›neu‹ und markiert einen Einschnitt in der Geschichte der Kapitalismuskritik, nämlich durch ihre Abgrenzung zum Marxismus-Leninismus einerseits, die andererseits mit einer Rückkehr zu Marx einherging.«46

Das Motiv für diese »Rückkehr zu Marx selbst« manifestiert sich bei Adorno in seiner Bemerkung, dass die Lehre jener offiziellen Form des Marxismus den Textinhalten von Marx selbst nicht entspricht. »Im Osten hat man aus Marx so etwas wie eine materialistische Weltanschauung gemacht, was den Texten strikt widerspricht [Kursiv von mir, S. H.].« (PT 2, 256) Diese »Neue Marx-Lektüre«, und ihre Hauptrichtung, sich sowohl der historisch-logischen und empiristischen Interpretation der Kritik der politischen Ökonomie als auch den teleologisch und dogmatisch interpretierten marxistischen Lehren zu entziehen, entstand tatsächlich unter dem Einfluss der Lehre Adornos, die den reflexiven und kritischen Zugang zur verselbstständigten gesellschaftlichen Objektivität hervorhebt. Diese Wiederaneignung der marxschen Texte

45 Adorno, Theodor W.: Zur Spezifikation der kritischen Theorie, in: Theodor W. Ador no Archiv (Hg.): Adorno. Eine Bildmonographie, Frankfurt/M, 2003, S. 292. 46 Engster, Frank: Die Neue Marx-Lektüre, ihr kritischer Gehalt und die nächste Generation, S. 30.

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durch Adorno hat in Bezug auf die epistemologische Fragestellung der Werttheorie und ihre Anwendung auf die kritische Gesellschaftstheorie maßgeblich dazu beigetragen, seit den 60er Jahren eine neue kritische Wende bei der Interpretation marxscher Ökonomiekritik zu etablieren. Die Fragestellungen der »Neuen Marx-Lektüre« begannen zufällig, als Hans-Georg Backhaus 1963 in einem Studentenwohnheim in Frankfurt eines der seltenen Exemplare der Erstauflage des Kapital von 1867 entdeckte. Er erkannt sofort ihre Unterschiede gegenüber der zweiten Auflage und begann sodann mit der ausführlichen Textanalyse. Aber eine neue Auseinandersetzung mit Marx infolge dieses zufälligen Ereignisses verdanke sich letztlich Adornos dialektischer Gesellschaftstheorie, meint Reichelt: »Ohne Adornos wiederholt vorgetragene Vorstellung eines ›Begrifflichen in der Realität selbst‹, eines auf die Tauschabstraktion zurückzuführenden real Allgemeinen, ohne seine Fragen nach der Konstitution der Kategorien und deren innerem Zusammenhang in der politischen Ökonomie und seine Vorstellung von objektiver, verselbständigter Struktur wäre dieser Text stumm geblieben. «47

Nun lassen sich die theoretischen Beiträge Adornos zur neuen Marx-Aneignung präziser unter die Lupe nehmen.

47 Reichelt, Helmut: Neue Marx-Lektüre. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Logik, Hamburg, 2008, S. 11. Kornelia Hafners Anmerkung, dass Adornos Marx-Rezeption »nur halbherzig« (Hafner, Kornelia: ›Daß der Bann sich löse‹. Annäherungen an Adornos Marx-Rezeption in: Behrens, Diethard (Hg.): Materialistische Theorie und Praxis: Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Kritik der Politischen Ökonomie, Freiburg, 2005, S. 145.) gewesen sei, ist aus diesem Grund nicht sachgemäß. Im Gegensatz dazu behauptet Oskar Negt, dass Adorno die marxschen Kategorien wie Wert gesetz, Akkumulationstheorie sowie Mehrwertproduktion einerseits »für absolut gültig hält« (Negt, Oskar: Adorno als Marxist, in: Perels, Joachim (Hg.): Leiden beredt werden lassen. Beiträge über das Denken Theodor W. Adornos, Hannover, 2006, S. 19.) andererseits »aber wiederum in den geschichtlichen Wandel mit einbezieht« (A.a.O., S. 21.). Dirk Braunstein zeigt auch zwei Momente für »Adornos neuerliche Hinwendung zu Marx in der Nachkriegszeit«, nämlich einerseits das Verfassen seines philosophischen Hauptwerks Negative Dialektik, andererseits eine Notwendigkeit für die Behandlung der metaökonomischen Gesellschaftskritik, die aus konsequenten Gesprächen mit Studenten hervorging (Braunstein, Dirk: Adornos Kritik der politischen Ökonomie, Bielefeld, 2011, S. 269.).

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a. Begriff der Kritik Bei seiner Rezeption der marxschen Dialektik-Konzeption richtete Adorno sein Augenmerk immer auf die methodischen Züge marxscher Texte, nämlich auf die kritische Methode insbesondere seiner Spätwerke der Kritik der politischen Ökonomie. »Großartig bekundet sich die Einheit von Kritik im wissenschaftlichen und metawissenschaftlichen Sinn im Werk von Marx: es heißt Kritik der politischen Ökonomie, weil es aus Tausch und Warenform und ihrer immanenten, ›logischen‹ Widersprüchlichkeit das seinem Existenzrecht nach zu kritisierende Ganze herzuleiten sich anschickt.«48

Michael Heinrich stellte zu Recht fest, dass die Dialektik bei Marx keine einheitliche Weltanschauung bedeutet, die das Bewegungsgesetz der Welt erklärt, sondern, »eine bestimmte Strategie der Darstellung«49. Adornos Marx-Interpretation geht von der gleichen Prämisse aus. Das Ziel des Projektes des Kapital lag ihm zufolge nicht in der Darstellung eines nationalökonomischen Systems von Marx selbst, sondern, wie der Untertitel jenes Werkes lautet, in der »Kritik« der politischen Ökonomie. Diese Kritik ist gleichzeitig eine darstellende, weil sie zugleich solchermaßen verfährt, die innere Struktur sowie die inneren Voraussetzungen der ökonomischen Kategorien systematisch aufzuzeigen. Die dialektische Methode, die Marx im Kapital zu entfalten versuchte, ist die Einheit von Darstellung und Kritik, die durch die systematische Darstellung des inneren Zusammenhangs eines Gegenstandes diesen gleichzeitig kritisiert. »Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien, oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.« (MEW 29, 550)

Doch zielt diese kritische Darstellung keineswegs auf ein vollständiges logisches System ab, so exponierte Marx bei seiner Kritik an Lassalle:

48 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 307. 49 Heinrich, Michael: Weltanschauung oder Strategie? Über Dialektik, Materialismus und Kritik in der Kritik der politischen Ökonomie, in: Demirović, Alex (Hg.): Kritik und Materialität, Münster, 2008, S. 64.

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»Er wird zu seinem Schaden kennenlernen, daß es ein ganz andres Ding ist, durch Kritik eine Wissenschaft erst auf den Punkt zu bringen, um sie dialektisch darstellen zu können, oder ein abstraktes, fertiges System der Logik auf Ahnungen eben eines solchen Systems anzuwenden.« (MEW 29, 275)

Das Kapital ist darum nicht nur ein Werk, das die Totalität der kapitalistischen Produktionsweise systematisch darstellt, sondern eines, das umgekehrt den Selbstwiderspruch, die Grenze und die Unmöglichkeit der Totalität des Kapitals aufzeigt. Die kritische Darstellungsmethode des Kapital ist in diesem Sinne Adorno zufolge grundsätzlich »negativ«. Diese dialektische Darstellung ist eine kritische theoretische Praxis, indem sie nicht bloß die Bewegung der (ökonomischen) Sache selbst mittels der begrifflichen Sprache repräsentiert, sondern die ganze Problematik der national- bzw. politischen Ökonomie dadurch sprengt, dass sie das wesentliche Gesetz der ökonomischen Verhältnisse feststellt, welches die Nationalökonomen wegen ihrer empiristischen theoretischen Voraussetzungen nicht durchsehen konnten. 50 Die kritische Darstellung ist in diesem Sinne nicht als eine positive Darstellung der Bewegungen des Kapitals als Totalität zu verstehen. Die »dialektische Entwicklung« der Kategorien in dem Kapital ist keine einfache Kunst der Darstellung, sondern bezieht sich im Grunde genommen auf die Entwicklung einerseits der Verselbstständigung jeder Bestimmung der kapitalistischen Bewegungen – Tauschwert, Waren, Geld und Kapital – und andererseits der Widersprüche aufgrund dieser Verselbstständigung. Diese Entwicklungslogik der Darstellung der inneren Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise zeigt einen Prozess der Entwicklung der objektiven Verselbstständigung des Werts nach der Abfolge der Entwicklung der ökonomischen Kategorien. Von der Bestimmung des

50 Einer dieser »Grundmängel der klassischen politischen Ökonomie« (MEW 23, 95) lässt sich darin finden, dass sie den Wert von seiner Erscheinungsform, Wertform nicht unterschied, und damit die Geheimnisse der Geldform nicht durchsah, weil sie sich aufgrund ihres Empirismus nur auf empirische Erscheinungen fokussierte. Im Gegensatz dazu konnte Marx aber durch die materialistisch übersetzte »wesenslogische Dialektik« (Krahl, Hans-Jürgen: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/M, 2008, S. 35.) von Wesen und Erscheinungsform, wie Hans-Jürgen Krahl in seinem Referat in einem Seminar, das Adorno im Wintersemester 1966/67 leitete, explizierte, diese Differenz analysieren und seine Fetischismuskritik darauf aufbauen. »Adornos wesenslogische Reflexion auf die Kategorien der Verdinglichung und Fetischisierung, der Mystifikation und zweiten Natur« (a.a.O., S. 293.) wurde aus dieser marxschen Kritik des Empirismus der politischen Ökonomie gewonnen.

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Tauschwerts ausgehend zeigt sich dieser Prozess aber als in sich widersprüchlich. Das um das Geld strukturierte System des Äquivalententausches macht eine gesellschaftliche Einheit aus, die dennoch, wie Backhaus zeigt, gleichzeitig »als eine widersprüchlich strukturierte Einheit«51 verstanden wird. b. Negatives System Diese Widersprüche, die oben gezeigt wurden, werden nicht, wie bei Hegel, in das endgültige Allgemeine vereinheitlicht, sondern im Laufe der Bewegung des Kapitals immer eklatanter. Sie sind in diesem Sinne, wie Andreas Arndt es ausdrückte, »Widersprüche im Endlichen«.52 Die Totalität, die durch diese Entwicklung der Widersprüche konstruiert wird, ist ebenso endlich, womit meiner Ansicht nach der negative Charakterzug der marxschen Darstellungsmethode zusammenhängt. »Das negative Resultat der Dialektik bei Marx«, so heißt es bei Arndt, »indiziert in der Tat eine grundlegend andere Konzeption von Dialektik, die Totalitäten nur als endliche ansieht.«53 Die Entwicklung der Widersprüche der logischen Bestimmungen der ökonomischen Kategorien wird im marxschen Darstellungsprozess zu ihrem »Eklat« als »realem Widerspruch« in der real ökonomischen Sphäre, zu der wirtschaftlichen »Krise«, d. h., ein Widerspruch bewegt sich ständig auf einen neuen, auf einer höheren, komplizierteren Stufe liegenden Widerspruch hin, keineswegs löst er sich auf. Insofern unterscheidet sich seine Darstellungsmethode von der hegelschen, in der aus der Entwicklung der Widersprüche eine positive Totalität, in der die Widersprüche aufgelöst sind, entsteht.54 Diese logische Struktur der Widersprüche in der Kritik der politischen Ökonomie versteht Adorno in Verbindung mit seiner Konzeption der negativen Dialektik. In seiner Vorlesung über die philosophische Terminologie insistiert Adorno im Anschluss an seine Analyse der negativen Totalität auf einer »gegenüber der gesamten offiziellen Marx-Interpretation abweichende[n] These von dem durchaus antisystematischen, das heißt, kritischen Charakter des Marxi-

51 Backhaus, Hans-Georg: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg, 1997, S. 54. 52 Arndt, Arndt: Was ist Dialektik? Anmerkungen zu Kant, Hegel und Marx, in: Das Argument: Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Jg.50, Heft 1, 2008, S. 48. 53 Ebd. 54 Vgl. Arndt, Arndt: Karl Marx. Versuch über dem Zusammenhang seiner Theorie, Bochum, 1985, S. 251-267.

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schen Systems« (PT 2, 269). Marx selber stellte diesen »kritischen Charakter« seines Systems derart dar, dass er »niemals ein ›sozialistisches System‹ aufgestellt« (MEW 19, 357) habe, sondern »alle Systeme verwarf« (MEW 14, 449). Adorno versteht in diesem Sinne das marxsche System als »ein negatives System« (PT 2, 216), in dem versucht wird, »die systematische Einheit der bürgerlichen, der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen und ihr sozusagen die Frage zu stellen, ob sie in der Tat die bruchlose Einheit ist«, die durch die allseitige Abhängigkeit jeder voneinander in der Tauschgesellschaft hergestellt werden sollte, und er schlussfolgert, »darin möchte ich noch einmal an Marx anschließen« (Ebd.). Bei diesem negativen Systembegriff handelt es sich darum, die vorhandene gesellschaftliche, systematische Einheit kritisch zu begreifen, was dann bedeutet, dass das »System« nur als ein kritischer Begriff angewendet wird. Hier ist zu betrachten, dass Adorno den marxschen Systembegriff in doppelter Hinsicht verstand: Einerseits ist eine »[s]ystematische enzyklopädische Analyse der Tauschabstraktion notwendig«55 für die Analyse der systematischen Einheit der kapitalistischen Tauschgesellschaft, andererseits aber kommt dem Systembegriff ausschließlich die kritische Funktion zu; keine neue systematische Totalität darf die kritische Theorie positiv aufbauen. c. Wertformanalyse Während sich der frühe Horkheimer eher an einer dialektischen Theorie der Geschichte orientierte, war für Adorno ein wesentliches Moment der marxschen Theorie, wie wir bereits sahen, die totalitäre Systematizität der gesellschaftlichen Einheit. Diese Idee entwickelte er durch die Auseinandersetzung mit Alfred Sohn-Rethel seit den 1930er Jahren. Sohn-Rethels Theorie der gesellschaftlichen Integration mittels Tauschabstraktion wirkte sich nicht nur auf Adornos Diagnose der modernen Gesellschaft als Verblendungszusammenhang aus, sondern motivierte eine epistemologische Frage nach dem Verhältnis zwischen Warenform und Denkform. Aus diesem Grund taucht bei Adornos Marx-Lektüre die Tendenz auf, mit der Analyse der Waren- sowie Wertform zu beginnen, denn »[d]ie gesamte Marxische Analyse der modernen Gesellschaft geht aus von der Analyse der Warenform des Tauschobjekts« (PT 2, 272). Sohn-Rethels theoretisches Programm fand die Stärke der marxschen Wertformanalyse in ihrem kritischen Potential, »den Idealismus von seinem Zentrum

55 Adorno, Theodor W.: Notizen von einem Gespräch zwischen Th. W. Adorno und A. Sohn-Rethel am 26. 4. 1965, in: Sohn-Rethel, Alfred: Warenform und Denkform, Frankfurt/M, 1978, S. 141.

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her aufzubrechen«56. Er entdeckte in der Wertformanalyse eine homogene Beziehung zwischen Warenform und Denkform, eine strukturelle Affinität zwischen beiden Formen, indem er eine enge Verbindung zwischen »Einheit des Selbstbewußtseins«, »Erkenntnissubjekt« und »Einheit des Geldes«57 zu zeigen versucht. Auf diese genealogische Weise bringt Sohn-Rethel die Kategorien der traditionellen philosophischen Metaphysik und auch des transzendentalen Idealismus in die Warenwelt ein. Sohn-Rethels Hypothese funktioniert wie eine theoretische Voraussetzung, wenn Adorno die Illusion des konstitutiven Subjekts durch seine Abhängigkeit von der objektiven Struktur auf der Meta-Ebene wie folgt kritisiert: »Die Abstraktion liegt also hier nicht in dem abstrahierenden Denken des Soziologen, sondern in der Gesellschaft selbst steckt eine solche Abstraktion, oder [...] es steckt in der Gesellschaft als einer Objektivität bereits etwas wie ›Begriff‹.« (ES, 58 f.)

In der homogenen Beziehung zwischen der Einheit des Subjektes und dem gesellschaftlichen Identitätsprinzip des Warenaustausches sieht Adorno ferner den »Begriffscharakter der objektiven Struktur selbst« (ES, 60), d. h., die Begrifflichkeit, das begriffliche, abstrahierende Moment des Denkens, wird weder nur durch die subjektive Konstitution hergestellt, noch als falsches Bewusstsein, als Ideologie des Überbaus aus der gesellschaftlichen Basis abgeleitet, sondern steckt bereits in der gesellschaftlichen Objektivität selbst. 58 Diese Einsicht kommt aus der Analyse der Wertform bzw. des Tauschwerts als abstrakten Gleichheitsverhältnisses, denn diese Gleichheit setzt eine die qualitative Vielfalt abstrahierende Struktur des Denkens, das Begriffliche voraus. Dieser Gedanke, den Tauschwert und das Geld als etwas Begriffliches aufzufassen, findet sich aber schon beim frühen Hegel: »Diese mannichfaltigen Arbeiten der Bedürfnisse als Dinge müssen ebenso ihren Begriff, ihre Abstraction realisiren; ihr allgemeiner Begriff muß eben so ein Ding seyn wie sie, das aber als allgemeines alle vorstellt; das Geld ist dieser materielle existierende Begriff die Form der Einheit, oder der Möglichkeit aller Dinge des Bedürfnisses. «59

56 Sohn-Rethel, Alfred: Warenform und Denkform, Frankfurt/M, 1978, S. 12. 57 A.a.O., S. 37. 58 Diese theoretische Konstruktion hat auch eine unübersehbare Schwierigkeit sowohl bei Sohn-Rethel als auch bei Adorno, wie wir im zweiten Kapitel sehen werden. 59 Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe I, Gesammelte Werke Bd. 6, hg. v. K. Düsing und H. Kimmerle, Hamburg, 1975, S. 324.

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Marx übernimmt in seiner Darstellung der Wertform diesen Gedanken von Hegel. Bei Marx tritt nun dieser in einem Darstellungsprozess in dem Kapital auf, in dem die Entwicklung der Wertformen der Waren zur allgemeinen Äquivalentform und die Einheit der Warenwelt durch das Geld als das allgemeine Äquivalent dargestellt werden. Aus diesem Prozess leitet er das Einheitsprinzip des Warentausches ab, »daß die Größen verschiedner Dinge erst quantitativ vergleichbar werden nach ihrer Reduktion auf dieselbe Einheit« (MEW 23, 64). Was er also in Grundrisse »die scheinbar transzendentale Macht des Geldes« (MEGA II.1.1, 81) nannte, kann man als ein grundlegendes Prinzip der gesellschaftlichen Einheit im Kapitalismus verstehen. Eine Ware besitzt, Marx zufolge, gleichzeitig Gebrauchswert und Wert. Wert unterscheidet sich dadurch vom Gebrauchswert, dass er nur als gesellschaftlicher Reflex existieren kann und damit eine Abstraktionswirkung von der konkreten Nützlichkeit der Ware entsteht. Das Gleichheitsverhältnis im Warenaustausch stellte er in der 1867 erschienenen ersten Auflage des Kapital folgendermaßen dar: »Ihr [Leinwand] Werth erscheint dagegen nur im verhältniß zu andrer Waare, dem Rocke z. B., ein Verhältniß, worin die Waarenart Rock ihr qualitativ gleichgesetzt wird und daher in bestimmter Quantität gleichgilt, sie ersetzt, mit ihr austauschbar ist.« (MEGA II.5, 29) Beim Tausch der Waren handelt sich es nämlich nicht um die qualitative Verschiedenheit der Waren, sondern um diese quantitative Beziehung. Die Wertform oder der Tauschwert ist der notwendige Ausdruck für diese Abstraktionswirkung. Marx zeigte dabei einen Subsumtionsprozess der Waren ins allgemeine Äquivalent (in seiner letzten Form: Geld), in dem sich eigene qualitative Besonderheit jeder Ware auf eine einheitliche Beziehung zum allgemeinen Äquivalent reduziert. Von daher spielt das allgemeine Äquivalent die Rolle des Königs der Waren (MEW 23, 72), der die ganze Warenwelt als ein Identitätsverhältnis beherrscht. Indem eine Warenart die Stelle des allgemeinen Äquivalents besitzt und sich zu allen anderen Waren »gleichgültig« verhält, indem damit die qualitative Vielfältigkeit aller Waren auf die quantitative Beziehung mit diesem allgemeinen Äquivalent reduziert wird, setzt sich der Wert der Waren erst allgemein durch. Die marxsche Analyse der Reduktion der qualitativen Vielfalt der Waren auf ihre Gleichheit, ihres unterschiedslosen Verhältnisses durch den Warenaustausch sowie des Vorrangs des diesen Prozess beherrschenden allgemeinen Äquivalents ist als eine Kritik der ökonomischen Identitätslogik zu verstehen, und nimmt aus diesem Grund das Thema der Identifikationskritik von Adorno vorweg. Durch diese theoretischen Ansätze der Wertformanalyse entwickelt Adorno eine Idee der Analogie zwischen dem Einheitsprinzip des Tauschwerts und der

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subjektiven Einheit der bürgerlichen Erkenntnisform. Dadurch erkennt er in der marxschen Wertformanalyse ein gesellschaftstheoretisches Modell für die Kritik des Identifikationsdenkens und entwickelt damit seine eigenständige Einsicht in die gesellschaftliche Einheit und Totalität. d. Gegen die anthropologische Marx-Interpretation In den 50er und 60er Jahren wies der Hauptstrom der neuen Marx-Aneignung im westlichen Marxismus, beispielsweise ehemalige Mitglieder der Frankfurter Schule wie Marcuse und Fromm, die Tendenz auf, angereizt durch die neue Veröffentlichung der bislang nicht publizierten Frühtexte von Marx, ÖkonomischPhilosophische Manuskripte, die Kritik des Kapitalismus von Marx sowie seine Kommunismuskonzeption anthropologisch, auf die ursprüngliche menschliche Natur hinweisend zu interpretieren. Dabei war die theoretische Annahme der menschlichen Natur als Gattungswesen vom jungen Marx entscheidend. »Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als Gattungswesen. Diese Production ist sein Werkthätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit.« (MEGA I.1, 370)

Adorno hingegen grenzte sich von dieser Marx-Interpretation ab, indem er die strukturelle Differenz zwischen den frühen und reifen Texten von Marx betonte und die auf den Frühwerken basierten anthropologischen Interpretationen kritisierte. »Ideologisch ist die heute bis in den Marxismus Lukács’scher Provenienz hinein populäre Frage nach dem Menschen« (ND, 61), die das Wesen des Menschen (Gattungswesen) annimmt und es auf eine Skizze des befreiten Zustands des Menschen anwenden will, weil sie dieses menschliche Wesen als »das Invariante« der Geschichte hypostasiert. Der Mensch ist vielmehr nach Adorno »nicht nur, was er war und ist, sondern ebenso, was er werden kann« (ND, 61). Der Mensch existiert nämlich als eine Möglichkeit, ein Potential seines Werdens. Im Gegensatz zum anthropologischen Standpunkt der erwähnten Tendenz der Marx-Interpretation kritisiert Adorno den Begriff der Entfremdung des frühen Marx, der den humanistischen Marx-Interpreten nach Lukács als die Quintessenz der marxschen Theorie galt, und die Problematik der Verdinglichung, die von jenen als die Fortsetzung des Entfremdungsbegriffs gedacht wurde. »Dialektik ist so wenig auf Verdinglichung zu bringen« (ND, 191), insofern diese Problematik der Entfremdung und Verdinglichung eine geschichtsphilosophische oder sogar romantische Konstruktion voraussetzt, in der der Gang der Geschichte als ein Prozess des Auf-sich-Zurückkehrens des entfremdeten

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menschlichen Wesens gedacht wird. Diese Entfremdungstheorie ist auch insofern problematisch, als sich die Kritiker der Entfremdung dem Fremden überhaupt feindlich entgegensetzen. In diesem Zusammenhang richtet Adorno, auf eine erstaunlich an Althusser erinnernde Weise, sein Augenmerk auf die Veränderungen der marxschen theoretischen Konstruktion in seinen Spätwerken. »Daß jener Begriff [der Entfremdungsbegriff – S. H.] im Marxschen Kapital nicht mehr figuriert, ist nicht nur von der ökonomischen Thematik des Werkes bedingt sondern philosophischen Sinnes.« (ND, 274) Darüber hinaus wird Marx von ihm als ein heftiger Kritiker dieses Anthropologismus dargestellt. »Marx war« nach Adorno »extrem anti-anthropologisch«.60 »Die Marxische Theorie ist genetisch zu einem sehr wesentlichen Maß gerade die Kritik des anthropologischen Materialismus, indem sie gegen diese statische und geschichtslose Reduktion aller Phänomene auf den Menschen das Hegelsche Motiv der inneren Widersprüchlichkeit und Bewegtheit wieder aufgenommen hat.« (PT 2, 278)

Diese marxsche Kritik des Anthropologismus findet man an einigen Stellen seiner Spätwerke, wie im Vorwort zur ersten Auflage des Kapital; dort schreibt er, dass es sich bei ihm nur um Personen handelt, »soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen.« (MEW 23, 16. Kursiv von mir, S. H.) Diese Perspektive unterscheidet sich von dem Menschenbegriff des frühen Marx dadurch, dass er das menschliche Wesen nicht mehr voraussetzt, sondern den Menschen zuerst in Bezug auf seine objektive gesellschaftliche Struktur, von seiner Funktion in den bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen her zu verstehen versucht. Diese anti-anthropologische Marx-Interpretation von Adorno reduziert die marxsche Theorie weder auf den ökonomischen Determinismus noch unterstützt sie die Erweiterung des materialistischen Dogmatismus des Vulgärmarxismus. Diese Marx-Interpretation von Adorno führt vielmehr zu seiner neuen Auffassung des Materialismus, der von ihm lediglich als ein begriffliches und analytisches Mittel für die Erklärung der materiellen Bedingungen und Strukturen der Gesellschaft verstanden wurde. Der anthropologische Materialismus wurde von ihm als eine Erweiterung des positiven Bildes über die Materialität im Diamat aufgefasst, womit in diesem Fall allerdings nicht die dinghafte Substanz, sondern die anthropologische Ursprünglichkeit des Menschen gemeint ist. Von ihm wird

60 Adorno, Theodor W.: Adorno über Marx und die Grundbegriffe der soziologischen Theorie, in: Backhaus, Hans-Georg: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg, 1997, S. 504.

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somit ein nicht-anthropologischer und darüber hinaus nicht-substanzieller, nichtmetaphysischer Materialismus ohne positives Bild über die Ursprünglichkeit postuliert: ein kritischer Materialismus. »Materialismus ist nicht das Dogma, [...] sondern Auflösung eines seinerseits als dogmatisch Durchschauten« und das Recht des Materialismus liegt aus diesem Grund lediglich »in kritischer Philosophie« (ND, 197).

1.3 N EGATIVITÄT UND DIE AUFGABE EINER NEUEN D IALEKTIK -K ONZEPTION In der Vorrede der Negativen Dialektik schreibt Adorno, dass er die »Dialektik von derlei affirmativem Wesen befreien« wollte (ND, 9). Was mit diesem Ausdruck intendiert ist, ist nun auf der Grundlage dessen erkennbar, was wir bei Adornos Auslegung von Hegel und Marx festgestellt haben. Es geht dabei um den Versuch, die eigentlich kritische Funktion der Dialektik von ihrer hypostasierten, verselbstständigten Form zu befreien. Die Dialektik muss dementsprechend äußerst offen sein und den geschlossenen geistigen Kreis ablehnen. Adorno sieht nur in einem »Begriff von offner Dialektik – gegenüber der idealistisch geschlossenen Dialektik« (ED, 36) die Möglichkeit einer gelungenen »Kritik von Herrschaft, als deren Mittel Denken erwuchs« (DA, 54 f.). Sein Programm der Selbstreflexion der Dialektik führt zu einem Bruch der dialektischen Philosophie mit ihrer affirmativen, unkritischen Form. Nunmehr stellen wir fest, wie dieser Bruch durchgeführt wird, wie der Begriff der Negativität dabei eine ausschlaggebende Rolle spielt.

1.3.1 Dialektik als kritische Tätigkeit des Denkens: Bruch mit der Weltanschauung In seiner Vorlesung Einführung in die Dialektik im Sommersemester 1958 stellte Adorno zwei Arten der Auffassung des Begriffs der Dialektik vor (ED, 13 f.). Nach der ersten Auffassung versteht sich Dialektik als eine Methode bzw. ein Verfahren, wobei es um die subjektiven Denkbestimmungen für die Ergreifung der Objekte in ihren widerspruchsvollen Bewegungen geht. Die Dialektik bezeichnet sich in diesem Sinne als eine von der Sache selbst abgetrennte, verselbstständigte Methode, die die Realität in vorbestimmte Schemen hineinpasst: Dialektik von oben. Die zweite Auffassung hingegen bezieht sich auf die soge-

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nannte Realdialektik, d. h., eine Dialektik aus der Sache selbst, die sich nach der Begrifflichkeit bzw. Zweckmäßigkeit ihrer selbst bewegt. Adorno fasst sie in dem Sinne als Ausdruck des positivistischen, verdinglichten Bewusstseins auf, dass sie die Subjektivität ausschließt und unreflexiv an die Objekte herangeht. Adorno hat eben in diesem Betreff versucht, in seinen eigentlichen Auseinandersetzungen mit klassischen Formen der Dialektik einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden. Hegels Dialektik wird gewöhnlich als Bewegung der Begriffe, als Methode sowie als die von der Wirklichkeit abgetrennte Selbstentfaltung des Denkens verstanden. Im Gegensatz zu dieser Vorstellung erblickte Adorno u. a. in Hegels Phänomenologie des Geistes, dass der Kern der hegelschen Dialektik nicht aus der Selbstentfaltung der Begriffe, sondern aus den in den Begriffen reflektierten Erfahrungen der Wirklichkeit besteht. Umgekehrt wird die materielle Dialektik des Marxismus traditionell als eine Dialektik der Objekte, als Realdialektik, als Bewegungsgesetz des Materials verstanden. Dagegen findet Adorno das eigentlich Dialektische marxscher Theorien in der kritischen Darstellungsmethode der Kritik der politischen Ökonomie. Nun lässt sich Adornos These, die Dialektik sei »weder Methode allein noch ein Reales« (ND, 148), in diesem Zusammenhang verstehen. Weder die nur als ein subjektiver Gedankenprozess verstandene (traditionell hegelianische) Dialektik noch die auf eine vereinfachte Realdialektik zurückgeführte (orthodox marxistische) Dialektik ist von Adorno zu akzeptieren. Durch die neue Interpretation von Hegel und Marx findet sich nun vielmehr ein Modus der Vermittlung zwischen subjektiven, begrifflichen und objektiven, realen Momenten der Dialektik. Um diese Vermittlung zu begründen, betont er das Vermögen des dialektischen Denkens, tätig und aktiv in die Objekte selbst einzugreifen. Die Dialektik ist ihm zufolge ein Versuch, »die Begriffe selbst derart zu verwenden, derart ihre Sache zu verfolgen« (ED, 18), d. h., »objektive Widersprüchlichkeiten, die in der Realität liegen, nachzuvollziehen« (ED, 23). Dialektik versteht Adorno nämlich als reflexive und kritische Tätigkeit des Denkens, die sich nach der Realität selbst richtet, und sich sowohl von der rein subjektiven Denkbestimmung als auch von der kontemplativen Realdialektik unterscheidet. Seine Grundidee von diesem tätigen, aktuellen Zug des dialektischen Denkens, das immer in Beziehung zu seinen Objekten steht, drückt sich wie folgt aus:

66 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄ T »Denken erschöpft sich so wenig im psychologischen Vorgang wie in der zeitlos reinen, formalen Logik. Es ist eine Verhaltensweise, und ihr ist unabdingbar die Beziehung zu dem, wozu es sich verhält.«61

Stellenweise behauptet er, dass die Bedeutsamkeit der Tradition der spekulativen Philosophie des deutschen Idealismus darin besteht, dass dieser das Wesen des Denkens in seiner Tätigkeit (Hegel spricht von »Arbeit des Begriffs«) findet, obwohl er gleichzeitig die konstitutive Subjektivität des Idealismus kritisiert. Tätigkeit bedeutet nun für Adorno, dass das Denken an die Objektivität herankommt und sich der objektiven Sache überantwortet. Diese Verhaltensweise des Denkens als »subjektiver Akt«, als »Sich-der-Sache-Überantworten« ist für Adorno ein wünschenswertes Erbe des deutschen Idealismus seit Kant. »Denken als subjektiver Akt muß erst recht der Sache sich überantworten, wo es, wie Kant und die Idealisten es lehrten, die Sache konstituiert oder gar produziert.«62 Eben diese Verhaltensweise des Denkens, sich der Sache zu überantworten oder, anders gesagt, »alle Innervation und Erfahrung in die Betrachtung der Sache hinein[zu]nehmen«63, ist aus meiner Sicht mit der reflexiven Tätigkeit der Dialektik gemeint. Da die Dialektik als »weder Methode allein noch ein Reales«, sondern als diese Tätigkeit des Denkens verstanden werden muss, ist sie zugleich aber – paradoxerweise – in demselben Sinne sowohl eine Methode des Denkens als auch ein Ausdruck der realen, sachlichen Struktur: »Dialektik ist beides, eine Methode des Denkens, aber auch mehr, nämlich eine bestimmte Struktur der Sache, die allerdings aus sehr grundsätzlichen philosophischen Erwägungen zum Leitmaß der philosophischen Betrachtung gemacht werden soll.« (ED, 9)

Diese Tätigkeit als Vermittlung zwischen dem subjektiven Denkprozess und der objektiven, realen Sphäre ist nicht anders als eine Denkbewegung zur Realität zu

61 Anmerkungen zum philosophischen Denken, GS 10.2, S. 602. 62 A.a.O., S. 601. 63 A.a.O., S. 602. Diese erkenntnistheoretische Methode der negativen Dialektik nennt Adorno »Erkenntnis von unten nach oben« (VND, 123). Wir werden im dritten Kapitel feststellen, dass diese Idee der Erkenntnis von unten auf der gesellschaftstheoretischen Ebene mit der Methode der gesellschaftlichen Physiognomik verbunden wird und sich damit zur der Hermeneutik des Leidens entwickelt, die im Leiden des Einzelnen im Alltagsleben dem Schatten des Wesens des gesellschaftlichen Ganzen auf die Spur kommt.

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verstehen. Die Dialektik muss darum zunächst auf der subjektiven Seite gedacht werden. »Der Begriff der Dialektik [...] ist in sich selber ohne Subjekt, ohne ein Denkendes, Reflektierendes, Bewegendes gar nicht zu fassen« (PT 2. 23). Dialektik ist insofern subjektiv, als sie eine Bewegung, eine Tätigkeit des Denkens selbst ist. Sie ist aber insofern auch objektiv, als sie in ihre Objektivität, in die Realität eingreift und diese kritisch reflektiert. Sie ist eine reflexive Tätigkeit, an die Realität selbst kritisch heranzukommen. Den Kern dieser reflexiven und kritischen Tätigkeit des Denkens bildet Adorno zufolge die Negation. Die Negation als reflexive Tätigkeit geht über die kontemplative Erkenntnis der objektiven Welt hinaus und drückt das praktische Interesse des Denkens an ihrer Veränderung aus. Aus dieser Sicht ist eine Dialektik, die durch die Negation als Tätigkeit des Denkens getragen wird, eine theoretische Praxis, die einen praktischen Wert impliziert. Mit diesem Begriff der Dialektik ist Adorno zufolge »überhaupt kein rein theoretischer Begriff« gemeint, »sondern daß in ihm das Moment der Praxis selber ein bestimmendes Moment abgibt« (ED, 127). Indem er auf diese Weise ebenso die rein begriffliche, subjektivistische Dialektik-Vorstellung als eine bloße Methode, als eine verselbstständigte Dialektik, wie die kontemplative, positivistische Dialektik-Vorstellung kritisiert, wendet sich die Dialektik nunmehr gegen ihre weltanschauliche, spekulative Auffassung. Bei Adorno bedeutet die Dialektik »keine weltanschauliche Spielart, keine philosophische Position, auf einer Musterkarte auszuwählen unter anderen« (ND, 298). Den Ursprung der Weltanschauung als statischer Vorstellungen von Dingen und Menschen der Welt und von ihrem Zusammenhang findet Adorno zuerst darin, dass sich diese Vorstellungen »an dem subjektiven Bedürfnis nach Einheit, nach Erklärung, nach letzten Antworten« (PT 1, 118) messen und der Anspruch der objektiven Wahrheit deshalb von Beginn an aufgegeben wird. Die »Aufgabe der Philosophie gegenüber den Weltanschauungen« besteht nun darin, »sie zu liquidieren« (ebd.). Während der traditionelle Marxismus die Dialektik zu einer Weltanschauung, zum Inbegriff der positiven Aussagen der Welt machte, bedeutet sie für Adorno den »Inbegriff negativen Wissens« (ND, 397). Das Problem der Weltanschauung liegt für ihn hauptsächlich darin, dass sie kontemplativ ist. Selbst wenn die »dialektische« Weltanschauung des Diamats auf der Notwendigkeit der Veränderung der Welt und der Gesellschaft insistiert, so bleibt sie kontemplativ und damit unkritisch, da diese Notwendigkeit nur an etlichen festen abstrakten Gesetzen festgemacht wird und das Denken nur ruhig außerhalb der objektiven Sache steht sowie bei ihrer Bewegung zuschaut. Wenn also der Diamat sich stark an den materialistischen Gesetzten festhält, so zeigt sich darin auf eine paradoxe Weise die Hypostasierung des Geistes; diese weltanschauliche Dialektik abstrahiert von der

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Wirklichkeit, indem sie diese selbst einfach in die Gedankenschemen hineinpasst. Als kritische, reflexive Tätigkeit des Denkens aber intendiert die Dialektik stark den kritischen Eingriff des Denkens in die Wirklichkeit, ohne dass die Lebendigkeit der konkreten Wirklichkeit dabei verloren geht. Sie bleibt aber nicht einfach unreflexiv, affirmativ, sondern immer mit der reflexiven Abstandnahme zur Sache selbst, durch die sie sich vom Positivismus unterscheidet. »Das dialektische Denken unterscheidet sich von dem positivistischen dadurch, daß es alles andere ist als natürlich.« (ED, 166) Indem ein natürlicher Gegenstand als nicht natürlich, sondern als reflektiert und vermittelt betrachtet wird, besitzt die negative Haltung der Dialektik »die kritische Intention gegenüber dem unkritischen und bloß hinnehmenden Positivismus« (ED, 167), die Adorno mit anderen Worten »eine nichtnatürliche Einstellung« nennt, »die von vornherein dem, was man als gegeben, als Tatsache betrachtet, mit einer gewissen Skepsis begegnet und die Tendenz hat, hinter dem, was Erscheinung ist, was uns als gegeben begegnet, die darin verborgenen Kräfte des Ganzen aufzusuchen« (ED, 170). Die Negation oder die negative, verneinende Haltung ist die Kraft des Denkens, sich von der vorgegebenen, unmittelbaren Wirklichkeit kritisch zu distanzieren und durch deren begriffliche Erkenntnis über diese hinauszugehen: »Die spekulative Kraft, das Unauflösliche aufzusprengen, ist [...] die der Negation.« (ND, 38) Der Bruch der Dialektik mit der Weltanschauung kann, so ist nun festzustellen, nur in ihrer »negativen« Form erfolgreich durchgeführt werden, die nicht auf das affirmative, positive Wesen reduziert wird. Die negative Dialektik, die sich in diesem Sinne zur Dialektik als Weltanschauung abgrenzt, ist nichts anderes als die Dialektik als Kritik, die kritische Dialektik. »Negative Dialektik als Kritik« (VND, 37) zu verstehen, ist für Adorno selbstverständlich. Diesen kritischen Charakter der Dialektik formulierte er in seiner Vorlesung über Negative Dialektik deutlich: »Die Dialektik wird dadurch wesentlich kritisch. Im mehrfachen Sinn: a) als Kritik am Anspruch der Identität von Begriff und Sache b) als Kritik an der darin gelegenen Hypostase des Geistes (Ideologiekritik). Die Kraft jener These nötigt zur größten Anstrengung. c) als Kritik der antagonistischen und potentiell auf ihre Vernichtung tendierenden Realität.« (VND, 26, unterstrichen von Adorno)

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1.3.2 Die Rolle des Negativitätsbegriffs in der neuen Dialektik-Konzeption Nun betrachten wir durch eine Skizzierung der Bedeutung und der Rolle des Negativitätsbegriffs in Adornos gesamttheoretischem Projekt der Erneuerung und der Selbstreflexion der Dialektik aufgrund ihres negativistischen Richtungswechsels die begrifflichen Voraussetzungen des zweiten Kapitels, wo Denkbestimmungen und Kategorien der negativen Dialektik konkret ausgelegt werden. Hier kommt es zuerst darauf an, den Zusammenhang der logischen Negation mit ihrem kritischen Gehalt in der Wirklichkeit aufzuzeigen. Wir gehen von einer Stelle in seiner Einleitung zum Positivismusstreit aus, wo er auf diesen Zusammenhang ausdrücklich hinweist: »Logische Kritik und die emphatisch praktische, die Gesellschaft müsse verändert werden, allein schon um den Rückfall in Barbarei zu verhindern, sind Momente der gleichen Bewegung des Begriffs.«64

In demselben Sinne drücken sich im dialektischen Widerspruch »die realen Antagonismen« 65 aus, die ihm zufolge der Positivismus sowie das logisch-szientistische Denksystem nicht erfassen könnten. Erst Hegel sah eine enge Verbindung zwischen dem »logischen« Prozess und den darüber hinausgehenden »realen« Erfahrungen, wie Adorno in seiner Vorlesung Einführung in die Dialektik derart erwähnte, »daß in der gesamten Hegelschen Philosophie der Denkprozess zwar durchaus ein logischer Prozeß ist, aber eben zugleich ein Prozeß, der seiner eigenen Logizität nach über den abstrakten Gedanken hinausweist und sich sättigt mit den Erfahrungen, an denen man eigentlich steht« (ED, 67). Aus dieser Annahme, dass das reale Moment im Begriff selbst enthalten ist, zieht Adorno in Bezug auf das kritische Verfahren in der negativen Dialektik die ausschlaggebende Idee, dass die Kritik des Begrifflichen (bzw. die Kritik der logischen Bestimmungen) zugleich mit der Gesellschaftskritik vereinheitlicht werden kann und soll. Doch eben in diesem Punkt zeigt sein theoretisches Programm eine Aporie, weil es ihm nicht gelang, den genauen Mechanismus der direkten Beziehung zwischen der Begrifflichkeit und Realität ausführlich und sachgemäß zu erklären, und weil er diese Beziehung nur als eine unbeweisbare Hypothese an-

64 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 307. 65 A.a.O., S. 308.

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nimmt. Adorno wurde diesbezüglich sehr oft kritisiert. 66 Über die theoretische Voraussetzung und auch die Gefährlichkeit dieser direkten Gleichsetzung der begrifflichen Kategorien mit der Realität wird im zweiten Kapitel bei der detaillierten Auslegung seines kritischen Verfahrens in der Negativen Dialektik weiter diskutiert. Hier wird nur die Richtung dieser Auslegung in Bezug auf die kritische Rolle des Negativitätsbegriff angedeutet. Um einerseits diese Aporie zu vermeiden, andererseits Adornos Grundintention zu rechtfertigen, versucht meine Adorno-Interpretation eine Lesestrategie seiner negativen Dialektik dergestalt vorzustellen, dass in der als Kritik aufgefassten Dialektik das logisch-kritische Verfahren über die rein logischen Denkbestimmungen hinaus als ein Modell bzw. ein Grundmuster für die Kritik der Realität selbst fungiert. Auf der einen Seite impliziert die Kritik der logischen Denkbestimmung zugleich die Kritik des materiellen, wirklichen Bodens, aus dem jene abgeleitet worden ist, auf der anderen Seite zeigt sich die Methode des logisch kritischen Verfahrens als ein Vorbild der Kritik des realen Gegenstandes in unserem gesellschaftlichen Leben. Auf diese Weise wird die Kritik des Identitätsdenkens ausgeführt, die einerseits zur Kritik des herrschaftlichen Identifikationsprinzips in der Wirklichkeit führt, andererseits auf das auf dem Warenaustausch basierende gesellschaftliche Tauschprinzip als seine reale Grundlage hinweist. Darin sehen wir die Verbundenheit zwischen der Kritik der logischen Denkbestimmung und der realen Objekte. Was hat der immanente Zusammenhang zwischen dem logischen und dem realen kritischen Prozess mit dem Negativitätsbegriff zu tun? Die Struktur des Negativitätsbegriffs als einer logischen Bestimmung lässt sich nun auf die Sphäre des realen und gesellschaftlichen menschlichen Lebens anwenden, indem er dazu dient, widersprüchliche Bestimmungen des realen Gegenstandes zu erfassen und dadurch die Transzendenz und die Transformation des Gegenstandes zu bewirken. Meine These lautet in diesem Zusammenhang, dass die negative Dialektik ein begrifflicher Rahmen für die Begründung der Politik der Negativität ist. In den folgenden Kapiteln wird gezeigt, dass der Negativitätsbegriff, der in der negativen Dialektik entwickelt wird, auch ein notwendiges theoretisches Element für die Politik der Negativität als eine dialektische politische Theorie ist, die durch die Triebkraft des Negativitätsbegriffs aus dem widersprüchlichen Charakter des vorhandenen Gesellschaftssystems die Möglichkeit seiner Veränderung untersucht.

66 Vgl. Schnädelbach, Herbert: Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno, S. 67 f.

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Um diese Einsichten gründlich und präzise zu entfalten, führe ich in der vorliegenden Arbeit – teilweise unabhängig vom Gebrauch der Terminologien bei Adorno selbst – eine Unterscheidung zwischen zweierlei Zügen des Negativitätsbegriffs bei der Auslegung der negativ dialektisch verstandenen politischen Philosophie ein. Es geht hier darum, die Termini »Negation« und »das Negative« voneinander zu unterscheiden, wie Adorno einmal in seiner Vorlesung Ontologie und Dialektik im Wintersemester 1960/61 ausführte: »Negative Dialektik denkt demgegenüber die in jeglicher einzelnen Bestimmung wirkende Kraft des Ganzen nicht nur als Negation der Einzelbestimmung, sondern selber auch als das Negative – nämlich als das Unwahre, als das was Versöhnung hintertreibt. «67

An dieser Stelle weisen »Negation« und »das Negative« auf differenzierte Bedeutungen hin: Ersteres bedeutet Entgegensetzung, Entzweiung oder Antithese einer Bestimmung, etwas, was verneinend ist, während sich Letzteres auf »das Unwahre«, etwas, was kaum wünschenswert ist, vielmehr verneint werden soll, bezieht. Aufgrund dieser Unterscheidung schlage ich vor, »Negation« als die verneinende, kritische Wirkung des Denkens, »das Negative« aber als einen Ausdruck für den negativen Zustand der Welt zu definieren. »Unter dem Negativen«, so fasst Theunissen zusammen, »verstehen wir hier das, womit wir nicht einverstanden sind, oder das, wovon wir nicht wollen, daß es ist«.68 Der Begriff des Negativen bei Adorno ist in diesem Sinne »das Nichtseinsollende«69 zu nennen. Diesen negativen Zustand als »das Nichtseinsollende« stellt Adorno als etwas »von dem Unterdrückenden, Rücksichtslosen, eigentlich Tödlichen und Destruktiven« (MM, 87) dar. Die negative Dialektik wird zur »Ontologie des falschen Zustandes« (ND, 22), weil sie ihr Augenmerk auf diesen negativen, nichtseinsollenden Zustand der Welt richtet, indem sie bemerkt, dass »[d]en Weltgeist als Ganzes erfahren [...] seine Negativität erfahren heißt« (ND, 300), insofern der Weltgeist »nicht Geist, sondern eben das Negative« (ND, 298) ist. Wann immer er diesen negativen Zustand der Welt beschreibt, verwendet er pathetische Ausdrücke; er stellt die geschichtliche Totalität nicht als eine positive, eine die menschliche Geschichte vollkommen abschließende, sondern als »die Totalität geschichtlichen Leidens«, »das absolute Leiden« dar, in diesem Sinne wird der Weltgeist »als permanente Katastrophe« aufgefasst (ND, 312). Der

67 Ontologie und Dialektik, NS IV. 7, S. 331. 68 Theunissen, Michael: Negativität bei Adorno, S. 41 f. 69 A.a.O., S. 40.

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Kern seines Denkens besteht darin, dass die in der Geschichte verborgene Allgemeinheit und die Vernunft keineswegs der Prozess der Verwirklichung der Freiheit war, sondern daraus immer eine ewige Fortdauer der Repression resultierte, wie auch Marx bisherige geschichtliche Zustände der Menschen einmal als »Vorgeschichte« bezeichnete. Diese Idee der »Vorgeschichte« als der permanenten Katastrophe impliziert, dass sich in der Geschichte des Menschen seit ihrem Beginn bis heute nichts ändert außer den Formen der Katastrophe. Insofern aber das moderne Fortschrittsdenken oder der neue Optimismus der Vernünftigkeit der Welt bei der Aufklärung die Geschichte »mit rosigem Licht« verklärt, bleibt es »die apologetische Sisyphusarbeit, das Negative des Allgemeinen wegzudenken« (ND, 321). Diese anscheinend pessimistische Diagnose der negativen Züge der Welt, d. h., die Ablehnung der »Positivität des Daseins« und die ausschließliche Sicht auf »die absolute Negativität«, ist eine Konsequenz aus der Erfahrung der geschichtlichen Katastrophe im 20. Jahrhundert, wie sie sich der Dialektik als eine neue Aufgabe nach Auschwitz gestellt hat (ND, 354). Sie bliebe aber durchaus pessimistisch, wenn sie nichts mehr als das negativistische Schwarzmalen der Welt ausführen würde, wie viele Leser von Adorno einschließlich einiger von seinen Nachfolgern annehmen. In der Tat aber wollte Adorno den Boden des Pessimismus verlassen, indem er die herausragende Rolle der Negation des dialektischen Denkens als kritische Haltung und reflexive Tätigkeit hervorhebt, um über diesen negativen Zustand hinauszugehen. »Die Philosophie kann man heute geradezu definieren als eine Haltung, die versucht, so gut sie kann, den universalen Zusammenhang der Verblendung zu durchbrechen« (PT 1, 131), mit diesen Worten stellt er die Aufgabe der (dialektischen) Philosophie dar, und dabei zeigt sich diese durchbrechende, negative Haltung als »geistig organisierten Widerstand« (PT 1, 132). Die »Negation« ist also eine (geistige) Tätigkeit, zu jenem Negativen »Nein« zu sagen, d. h., eine kritische und widerstehende Haltung gegen die negative gesellschaftliche Realität, und ferner ein Wille, einen negativen Gegenstand abzuschaffen und zu subversieren. Adorno radikalisiert Hegels »Negation der Negation«, und wehrt sich dagegen, dass die Negation der Negation eine voreilige Position wird, weil die Negation in diesem Fall »nicht negativ genug« (ND, 162) ist. Er verleiht dagegen dieser berühmten Formel einen normativen Gehalt, danach ist die Negation der Negation als die »Negation des Negativen« wieder zu formulieren. Der Ansatzpunkt dieser neuen Formel lässt sich dort finden, wo Adorno eine Aufgabe der negativen Dialektik darin sieht, dass sie »in eins Abdruck des universalen Verblendungszusammenhangs und dessen Kritik« (ND, 397) sein soll. Bei dieser doppelten Aufgabe der Dialektik handelt es sich um die verneinende geistige Tätigkeit (»Kritik«) gegen den negativen Zustand (»universalen Verblendungszusammen-

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hang«), damit werden beide Kategorien »in eins« gesetzt. Die Diagnose des negativen Zustandes der Welt ist der Grund dafür, dass die Philosophie diese kritische Haltung der Negation annimmt. »Die Haltung, die auch heute noch die Philosophie motiviert, entspringt dem Ungenügen an der Erscheinung, an der Welt, wie sie uns unmittelbar gegeben ist.« (PT 1, 199) Der Negativitätsbegriff in der negativen Dialektik Adornos lässt sich auf diese Weise nicht nur als deskriptiv, sondern auch als präskriptiv bestimmen. Eine ähnliche Erläuterung der doppelten Dimensionen des Negativitätsbegriffs bei Adorno hat Anders Bartonek gegeben, nach dem die Hauptaufgabe des dialektischen Negativitätsbegriffs bei Adorno darin besteht, »das Negative zu negieren«. Hier sieht er den Unterschied des dialektischen Negativitätsbegriffs bei Adorno zu demjenigen bei Hegel: »Aber: das Negieren des Negativen mündet bei Adorno, im Gegensatz zu Hegel, nicht in Positivität, denn solange das Negative negativ bleibt, kann es nicht positiv werden.«70 Diese Aussage ist zwar richtig und sachgemäß, aber nicht ausreichend, insofern darin der konstruktive und produktive Charakter des Negativitätsbegriffs fehlt. Aus meiner Sicht erzeugt die Negation eine positive Wirkung, indem das Negative durch diese Negation konsequent negiert wird und es in diesem Sinne, wie eben Bartonek erwähnte, »negativ bleibt«. Das positive Element wird also nicht dadurch, dass die Negation abermals negiert wird, sondern durch die konsequente Negation des Negativen konstituiert. Darin besteht der Kern der negativistischen Wende in der Dialektik von Adorno. Nach diesem Verständnis lässt sich die Negation nicht nur als eine Kraft, einen Gegenstand zu unterbrechen und abzuschaffen, sondern auch als diejenige Kraft auslegen, die das innerhalb dieser negierenden Tätigkeit eine neue Wirklichkeit schaffende Potential enthält. Ich werde im zweiten Kapitel versuchen, diese »konstitutiven« Züge des Negativitätsbegriffs noch präziser zu zeigen. Um, wie Marcus Hawel erwähnte, »sich nicht am schlechten Ganzen und an dessen Aufrechterhaltung durch Reformierung mitschuldig« zu machen, muss die Kritik durchaus negativ sein.71 Wenn die Kritik ihre Negation, ihre negative Haltung aufgibt, wenn sie sich vorschnell an etwas Positivem festhält, so verliert sie ihre Kraft und wird damit an der repressiven Praxis »mitschuldig«. Aus dieser Sicht erkennen Adorno und Horkheimer den einzigen Ausdruck der

70 Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, Würzburg, 2011, S. 45. f. 71 Hawel, Marcus: Negative Kritik und bestimmte Negation. Zur praktischen Seite der kritischen Theorie, in: UTOPIE kreativ 184 (Februar 2006), 2006, S. 104.

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Wahrheit als »den Gedanken, der das Unrecht verneint« (DA, 248), was Adorno an einer anderen Stelle als »ein[en] negative[n] Wahrheitsbegriff« (ED, 269) charakterisiert. Dies bedeutet, dass nicht die Wahrheit ein Index für sich und für die Falschheit (»verum index sui et falsi« bei Spinoza), sondern umgekehrt die Falschheit der Index für sich und die Wahrheit ist (»falsum index sui et veri«). Die Philosophie kann Adorno zufolge nur von der Wahrheit sprechen, wenn sie der Falschheit widersteht. Aus der bisherigen Darstellung ziehe ich vor der ausführlichen Darstellung der Kategorien und der kritischen Durchführung in seiner negativen Dialektik eine Zwischenbilanz, die mit zwei Grundsätzen zusammengefasst werden kann: Ein emanzipatorisches Denken geht von der Negation der repressiven Realität aus – das ist der simple, aber fundamental bedeutsame erste Grundsatz der negativen Dialektik. Die Bewegung der Negation produziert den positiven Gehalt nicht durch die Negation der Negation als die wieder negierte Negation, sondern durch den konsequenten Prozess der Negation selbst, durch die Negation des Negativen, das ist der zweite Grundsatz. Die neuen Territorien der Politik der Negativität aufgrund dieser negativistischen Wende der Dialektik lauten nun wie folgt: 1. Auffassung des gesellschaftlichen Antagonismus (Was ist negativ in der gesellschaftlichen Realität?) 2. Negation ohne Aufhebung, die subversive Kraft der Negativität (Wie kann die Negation produktiv sein?) 3. Ein neuer Horizont der Alterität jenseits der herrschaftlichen Identität (Wie macht Negation eine alternative assoziative Kraft aus?)

2. Negative Dialektik und die Konstellation der Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik

Das Grundmotiv der Philosophie Adornos besteht in der Einheit der Erkenntniskritik und der Gesellschaftskritik. »Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.«1 Dies wird durch folgende theoretische Annahme unterstützt: »Was im Innern des Begriffs sich vollzieht, darin erscheint stets auch etwas von der realen Bewegung.«2 Die negative Dialektik Adornos ist eine Wissenschaft der begrifflichen Mittel für die Begründung der Gesellschaftskritik aus der Erkenntniskritik. Aus den Kategorien der negativen Dialektik findet man die begriffliche Grundlage, die gesellschaftliche Realität zu denken und zu kritisieren. Nunmehr werden begriffliche Kategorien sowie ihre Konstellation in der negativen Dialektik untersucht. Dafür müssen Texte von Adorno, unter anderem sein Hauptwerk Negative Dialektik derart interpretiert werden, dass die Bezugnahme der Erkenntniskritik oder Kritik bestimmter begrifflicher Kategorien auf die Gesellschaftskritik nach derjenigen Perspektive der Interpretation der Dialektik Adornos herausgestellt wird, in der die als theoretische Praxis verstandene Dialektik die Grundlage ihrer politisch-philosophischen Konsequenz herstellt. Der emphatische Punkt besteht dabei darin, festzustellen, wie sich der Begriff der Negativität in der negativen Dialektik Adornos zu seinem konstitutiven Charakter entwickelt, worin die Möglichkeit der politisch-philosophischen Wendung der negativen Dialektik herausgelesen wird.

1

Zu Subjekt und Objekt, GS 10.2, S. 748.

2

Wozu noch Philosophie, GS 10.2, S. 465.

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2.1 D AS P ROBLEM DER V ERSCHMELZUNG DER B EGRIFFLICHKEIT UND R EALITÄT : F ÜR EINE NICHT APORETISCHE AUSLEGUNG Bevor die Kategorien der negativen Dialektik von Grund auf untersucht werden, muss zuerst die Schwäche von Adornos Theorie, d. h., die von ihm ohne Begründungen als sachgemäß unterstellte unmittelbare homogene Beziehung zwischen Begrifflichkeit und Realität überschaut werden. Dies ist unter anderem darum angezeigt, weil ein zutreffendes Verständnis der Konfiguration dieser Beziehung auf den Erfolg bzw. Misserfolg unserer Auslegung für die Entdeckung der politisch-philosophischen Ansätze in der negativen Dialektik einen entscheidenden Einfluss ausüben wird und seine Hypothese zudem bereits von vielen Interpreten als unbeweisbar und dogmatisch kritisiert worden ist. Aus diesem Grund versuche ich hier, einen eigenen Lese-Vorschlag zu machen, der weder Adornos problematische Annahme unmittelbar akzeptiert noch seine kritische und zu rechtfertigende Intention grundsätzlich zurückweist. Adornos Annahme der Beziehung beider Sphären tritt etwa in folgendem Zitat zutage: »Begriff und Realität sind des gleichen Widerspruchsvollen Wesens. Was die Gesellschaft antagonistisch zerreißt, das herrschaftliche Prinzip, ist dasselbe, das, vergeistigt, die Differenz zwischen Begriff und dem ihm Unterworfenen zeitigt.« (ND, 58)

Wie im ersten Kapitel analysiert worden ist, sieht Marx in der Wertform, im Tauschwert einen Abstraktionsvorgang, in dem die jeweils unterschiedliche Qualität der Waren auf ihre quantitative Gleichheit zurückgeführt wird. Dass diese Analyse der Warenform eine epistemologische Implikation enthält, kann man daher feststellen, dass Marx den Wert der Waren als eine bestimmte »Gegenständlichkeit« (»Wertgegenständlichkeit«) bezeichnete. Er stellte den Wert, um seinen undurchsichtigen Charakterzug im Unterschied zu dem stofflichen Dasein hervorzuheben, als »gespenstige Gegenständlichkeit« (MEW 23, 52) dar. Der Wert der Waren als undurchsichtige Substanz wird nur durch das »Geltungsverhältnis« im speziellen gesellschaftlichen Zusammenhang wahrgenommen. Wo aber existiert der Warenwert dann, wenn wir den Wert nicht stofflich wahrnehmen können, sondern nur durch eine »gesellschaftlich gültige Form«? Wir können im Rohmaterial des Kapital, unter anderem in den Grundrissen zur politischen Ökonomie einige deutliche Textstellen über die geistige Abstraktion der Wertform finden: »Auf dem Papier, im Kopf geht diese Metamorphose durch bloße Abstraction vor sich« (MEGA II.1.1, 77); »Dieß Dritte von beiden

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verschieden, da es ein Verhältniß ausdrückt, existirt zunächst im Kopfe, in der Vorstellung, wie Verhältnisse überhaupt nur gedacht werden können« (MEGA II.1.1, 77 f.). Das heißt, die »Reduktion aller wirklichen Arbeiten auf den ihnen gemeinsamen Charakter menschlicher Arbeit, auf die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft« (MEW 23, 81) verfährt in einer bestimmten gesellschaftlichen Beziehung in einer »gesellschaftlich gültigen Form« und dieser Vorgang erzwingt einen Abstraktionsprozess »im Kopf« der Menschen. Marx zieht daraus den Schluss, dass der Warenaustausch in seiner verselbstständigten Form, unter dem Primat des Tauschwerts »gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen« (MEW 23, 58) hervorbringt. Anlässlich dieser marxschen Analyse des Abstraktionsvorgangs im Warenaustausch und der damit begleiteten Gedankenformen nahm Alfred Sohn-Rethel den begrifflichen Faktor jenes Erkenntnisvermögens in den Blick, das mit der Entwicklung der Warenproduktion hervortrat. Sein Hauptargument besteht darin, dass die begriffliche Grundlage der Erkenntnis durch die Grundstruktur der gesellschaftlichen Synthesis jeglicher Epoche strukturiert wird, d. h., dass die gesellschaftlich notwendige Denkform der Funktion jener gesellschaftlichen Synthesis entspricht, die sich in Geld als allgemeinem Äquivalent kristallisiert. Wenn der Warenaustausch eine Abstraktion mittels des Geldes ist, so ist er nach Auffassung Sohn-Rethels die Matrix sowie die gesellschaftliche und geschichtliche Quelle der abstrakten Erkenntnis über die Natur und die objektive Welt. »Realabstraktion« bedeutet, dass die Abstraktion auf diese Weise nicht im Denken, sondern im realen Verhältnis des Warenaustausches ihren Grund hat, darin sieht er die materialistische Wendung marxscher Wertformanalyse und ihr idealismuskritisches Potential: »Dies wäre der Fall, wenn die Warenform bis auf die Grundelemente der idealistischen Erkenntnistheorie durchsichtig gemacht ist, so daß sich also die Begriffe der Subjektivität, der Identität, des Daseins, der Dinglichkeit, Objektivität und der Logik der Urteilsformen eindeutig und lückenlos auf Momente der Warenform der Arbeitsprodukte und ihrer Genesis und Dialektik zurückführt fänden.«3

Von daher zieht er die in ihrer Eigenständigkeit bedeutende Konklusion, dass die reale Basis der Einheit des transzendentalen Subjektes bei Kant die aus der Ökonomie des Warenaustausches entspringende gesellschaftliche Synthesis sei. Er behauptet, »daß im Innersten der Formstruktur der Ware – das Transzenden-

3 Sohn-Rethel, Alfred: Warenform und Denkform, Frankfurt/M, 1978, S. 12.

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talsubjekt zu finden«4 sei. Hieraus ergibt sich aber ein unlösbares Problem: Seine Theorie tendiert dazu, die Kategorie der Realabstraktion maßlos expandieren zu lassen. Dass die philosophische Erkenntnistheorie, die die begriffliche Abstraktion zu ihrer notwendigen Bedingung hat, im antiken Griechenland entstand, wird von ihm im Zusammenhang mit der Entstehung des Geldes und der Ökonomie des Warenaustausches in Ionien erklärt, ferner stellt er dar, dass die abstrakte Denkensweise überhaupt, wie Mathematik und Geometrie usf., ein unmittelbares Resultat der Warenabstraktion sei. Diese unbeweisbare Verallgemeinerung und diese ahistorische Ausdehnung der Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie werden mit Adorno eindrücklich geteilt. Seit den 1930er Jahren tauschten Sohn-Rethel und Adorno ihre Gedanken aus. Adorno schätzte das 1936 ihm zugesandte Exposé von SohnRethel sehr positiv ein. Auf dessen Basis entwickelte er sodann seine eigene Idee der materialistischen (oder metakritischen) Theorie der Erkenntnis bezüglich des realen Prozesses vom Tausch maßgeblich weiter. So setzte Adorno in seinem Gespräch mit Horkheimer im Jahr 1939 beispielsweise die Erkenntnis mit dem Tausch gleich, ferner, den Gedanken überhaupt mit der Äquivalenz und somit der Tauschbarkeit: »Man könnte ja nachweisen, daß der ganze, vom Subjekt ausgehende Erkenntnisbegriff immer ein Tausch von Äquivalenten ist. Für eine gleiche Quantität Gedanken bekommt man ein gleiches Quantum von Gegenständen. In der Adäquatheit steckt schon der Gedanke vom gerechten Tausch.«5

4

Sohn-Rethel, Alfred: Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt/M, 1972, S. 12. Den Zusammenhang zwischen kantischer Synthesiskonzeption und Abstraktion in der Wertform sowie im Geld impliziert auch Marx in Grundrisse nachdrücklich: »die scheinbar transzendentale Macht des Geldes« (MEGA II.1.1, 81). Bereits Horkheimer erblickte in seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (1937) eine allgemein gesellschaftliche Dimension in dem kantischen allgemeinen Subjekt. »Jedenfalls hat er [Kant – S. H.] begriffen, dass hinter der Diskrepanz zwischen Tatsache und Theorie [...] eine tiefere Einheit steckt, die allgemeine Subjektivität, von der das individuelle Erkennen abhängt.« (Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, S. 177) Doch entwickelte er den systematischen Zusammenhang zwischen Wertform und Denkform nicht wie bei Sohn-Rethel, vielmehr war er anders als Adorno kritisch gegenüber dieser theoretischen Konzeption eingestellt.

5

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 470.

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In diesem Kontext findet sich auch in solchen Aussagen von Adorno durch seinen Gedankengang hindurch eine beträchtliche Spur von Sohn-Rethel: »Tauschwert, Tausch überhaupt gibt es eigentlich nur insoweit, als es Begriff gibt« (PT 2, 23); »die transzendentale Allgemeinheit ist keine bloße Fiktion des Subjekts von sich selbst«, sondern »ist so wirklich wie die durchs Äquivalenzprinzip hindurch realisierende Herrschaft. Der von der Philosophie verabsolutierte Abstraktionsvorgang spielt sich in der tatsächlichen Tauschgesellschaft ab.«6 Wie bei SohnRethel geht auch bei Adorno die transzendentale Einheit des Bewusstseins, dessen Grund im Tauschvorgang liegt, dem Bewusstsein des einzelnen Menschen voraus und stellt die allgemeine Denkform einer bestimmten Epoche. Adorno behauptet in diesem Betreff, dass die begriffliche Abstraktion so bereits in der Realität selbst verborgen liegt, und dass der Idealismus überhaupt darum höchst real ist, weil schon die Realität selbst durch begriffliche Kategorien strukturiert ist. Man kann dann so seine Konstruktion der Beziehung zwischen Begrifflichkeit und Realität doppelseitig formulieren: a) Begriff ist in der Realität enthalten, diese ist schon etwas Begriffliches. Das System der idealistischen Totalität und sein Gesetz ist »keines von Denken, sondern real« (ND, 18). »Die Abstraktion liegt also hier nicht in dem abstrahierenden Denken des Soziologen, sondern in der Gesellschaft selbst steckt eine solche Abstraktion, oder [...] es steckt in der Gesellschaft als einer Objektivität bereits etwas wie ›Begriff‹.« (ES, 58)

b) Realität wird umgekehrt in Begrifflichkeit reflektiert, in dieser ist die menschliche geschichtliche Praxis enthalten. »Jenseits des identitätsphilosophischen Zauberkreises läßt sich das transzendentale Subjekt als die ihrer selbst unbewußte Gesellschaft dechiffrieren.« (ND, 178 f.) Die Begrifflichkeit wird als reale Momente enthaltend dechiffriert, indem ihre Autarkie abgestreift wird. Begriffe sind gesellschaftliche und geschichtliche, also reale Produkte. Wenn wir zum Schluss diese sich entgegengesetzten Thesen, a) und b), synthetisieren, so sehen wir einen verschmolzenen Komplex von Begrifflichkeit und Realität. Das heißt, es ist durch dieses analytische Verfahren festzustellen, dass Begrifflichkeit und Realität in dieser Argumentationsreihe direkt in eins gesetzt werden. Daher behauptet er:

6

Ontologie und Dialektik, NS IV. 7, S. 339.

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»Die begrifflichen Gehäuse [...] gleichen angesichts der unermeßlich expandierten Gesellschaft und der Fortschritte positiver Naturerkenntnis Überbleibseln der einfachen Warenwirtschaft inmitten des industriellen Spätkapitalismus.« (ND, 15)

Adornos eigentümliche Ausdrucksweise wie der »real herrschenden Metaphysik« (ND, 343) hat ihren Ursprung in dieser direkten Gleichsetzung der geistigen (begrifflichen) und ontischen (realen) Sphäre. Von ihm wird der Begriff dergestalt dargestellt, dass er zuerst eine geistige Gestalt ist und seine Immanenz im Geist besitzt, aber zugleich jenseits dieser geistlichen Autarkie seine Realität in der materiellen Wirklichkeit hat. »Ihr Gehalt [der Begriffe - S.H] ist ihnen sowohl immanent: geistig, wie ontisch: ihnen transzendent. Durchs Selbstbewußtsein davon vermögen sie ihres Fetischismus ledig zu werden.« (ND, 23) Infolgedessen werden bei Adorno die Erkenntniskritik (Kritik der Begrifflichkeit von Erkenntnistheorien) und die Gesellschaftskritik (Kritik der begrifflich strukturierten gesellschaftlichen Totalität) gleichgesetzt. Dies ist insbesondere in seiner Kritik des Identitäts- und Identifikationsprinzips sichtbar. »Sie [die Identität – S.H] immanent kritisieren heißt darum, paradox genug, auch, sie von außen kritisieren.« (ND, 149) Aus diesem Grund geht die Kritik des philosophischen Identitätsprinzips über die Philosophie hinaus. »Darum überschreitet philosophische Kritik an der Identität die Philosophie.« (ND, 22) Adorno glaubte, dass es damit möglich sei, die Autarkie des Begriffs zu tilgen. Das Problem dieser direkten Gleichsetzung verschiedener diskursiver Dimensionen besteht darin, dass zu zeigen, dass diese beiden Sphären in Zusammenhang miteinander stehen, nicht identisch damit ist, zu zeigen, dass sie ein und dieselbe diskursive Dimension ausmachen. Begriffe und Realität gehen für Adorno aufgrund ihrer formellen Homogenität unmaßgeblich ineinander über, was eine Verwirrung beim kritischen Verfahren der negativen Dialektik hervorbringt. Adorno versucht, an traditionellen begrifflichen Kategorien der Philosophie wie beispielsweise Identität und Totalität Kritik auszuüben, womit intendiert wird, das gesellschaftliche Identifikationsprinzip und die totalitäre Struktur der modernen kapitalistischen Gesellschaft zu kritisieren. Dennoch ist noch unklar, inwiefern und in welchem Mechanismus diese beiden Kritiken ineinander übergehen könnten, denn bereits die vorausgesetzte Gleichsetzung beider Dimensionen selbst ist unplausibel und skeptisch zu sehen. Es kann eine Verwirrung hervorbringen, wenn diese beiden Dimensionen nicht unterschieden werden, auch wenn es zwischen ihnen einen engen Zusammenhang gibt. Adorno selbst kritisierte bereits in seiner Vorlesung »jene Verwechslung des Erkenntnisgrundes oder, besser, des zur Erfahrung Unmittelbaren mit dem Realgrund«, d. h., »mit der Totalität des geschichtlichen Zusammenhangs« (LGF, 39). Trotzdem

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verstieß er selber in seiner theoretischen Konstruktion gegen seine eigene Regel und brachte dieselbe Verwirrung der Kategorienverwechselung hervor. Um dieses aporetische Moment in Adornos kritischem Verfahren in seiner Konstruktion der negativen Dialektik aufzulösen, versuche ich mit einer aufgeweichten Auslegung der Realabstraktionsthese eine Alternativinterpretation zu unternehmen. Der Begriff der Realabstraktion muss sich nach ihren beiden verschiedenen Richtungen unterscheiden, die eine nenne ich holistisch-ontologische Gleichsetzung (eine starke These)7, und die andere strukturelle Analogie (eine schwache oder aufgeweichte These). Die oben vorgestellte Perspektive von Adorno zu diesem Thema bezieht sich insofern auf die erste Version, als seine Hypothese der Realabstraktion einen holistischen – weil er Begrifflichkeit und Realität topologisch in eine und dieselbe Dimension verschmilzt – und ontologischen – weil er sie nicht nur miteinander in Verbindung bringt, sondern auf einem ontologischen Niveau gleichsetzt – Komplex bildet. Die andere Version der Realabstraktionsthese (meine alternative Auslegung) hingegen bezeichnet in der Beziehung von Begrifflichkeit und Realität eine strukturelle Analogie, indem dabei kein unmittelbar gleichgesetzter Zusammenhang angenommen, sondern eine reziproke Analogie angedeutet wird. In dieser aufgeweichten Problematik der Realabstraktion gelten die Kritik der erkenntnistheoretischen Abstraktion und deren Identitätsmechanismus als ein Modell oder ein Grundmuster für die Kritik der (herrschaftlichen) Totalität und des Identifikationsprinzips der bestehenden Gesellschaft. In diesem Fall lässt sich aus meiner Sicht Adornos kritische Idee, die Verbindung der Erkenntniskritik mit der Gesellschaftskritik, beibehalten und gleichzeitig die Aporie der holistisch-ontologischen Implikation der Verschmelzung der Begrifflichkeit und Realität vermeiden. Ich schlage nämlich eine alternative Lesart der Realabstraktionsproblematik vor, der zufolge die beiden Ebenen, also die geistige und reale, nicht identisch oder aufeinander reduzierbar, doch eng aufeinander bezogen sind – und dies ist eben das, was Adorno eigentlich mit seinem Begriff der Nichtidentität darstellen wollte. Diese aufgeweichte These, die strukturelle Analogie, stützt sich auf den Satz in der Negativen Dialektik: »[D]arum weitet es [das bürgerliche Denken – S. H.] seine Autonomie theoretisch zum System aus, das zugleich seinen Zwangsmechanismen ähnelt.« (ND, 32. Kursiv von mir, S. H.) Ihm zufolge befürchtet das aufklärerische bürgerliche Denken, das die mittelalterliche Ordnung und die statische scholastische Ontologie herausforderte, ein neues Chaos, das aber dieses Mal von modernen Arbeiterbewegungen und der Drohung des Pöbels gegen das Bürgertum selbst hervorgerufen worden ist, und führte daher so

7

Vgl. Müller, Ulrich: Theodor W. Adornos Negative Dialektik, Darmstadt, 2006.

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schnell wie möglich wieder die (bürgerliche) neue Ordnung ein: das Systemdenken. Die »bürgerliche Ratio« (ebd.; vgl. DA, 236) führte an der Stelle der feudalen Ordnung die moderne ein und wurde dadurch der repressiven Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft ähnlich. In der Erkenntnis dieser Analogie erhält sich das Recht der philosophischen Kritik, weil das philosophische System, das immer mehr dem gesellschaftlichen ähnelt, vor der Gefahr steht, in eine Apologie des bestehenden gesellschaftlichen Systems zu verfallen. Letztlich lässt sich die alternative Interpretation der Realabstraktionsthese als die strukturelle Analogie wie folgt formulieren: • •



Der Hauptgegenstand der negativen Dialektik Adornos ist die gesellschaftliche Totalität, das reale Identifikationsprinzip sowie das Zwangssystem. Das der gesellschaftlichen Totalitätsstruktur immer ähnlicher werdende philosophische System verinnerlicht und wiederholt sie in sich, stellt daher den apologischen Effekt her. Indem die philosophische Erkenntniskritik ein Grundmodell für die Kritik der Logik eines bestimmten herrschaftlichen Gesellschaftssystems herausbil-det, lässt sich die Erkenntniskritik mit der Gesellschaftskritik verschwistert verbinden.

2.2 IDEE

DER NEGATIVEN

D IALEKTIK

2.2.1 Antisystem In der Vorrede der Negativen Dialektik stellte Adorno seine Idee vom »Antisystem« derart dar: »Spricht man in der jüngsten ästhetischen Debatte von Antidrama und vom Antihelden, so könnte die Negative Dialektik, die von allen ästhetischen Themen sich fernhält, Antisystem heißen.« (ND, 10) Das Antidrama bezieht sich dabei auf den modernen Trend der Literatur, der den Lauf des Dramas in einer neuen Form, durch einen Bruch mit derjenigen klassischen Strömung des Dramas renovieren wollte, in der die harmonische Struktur in den Beziehungen der Personen oder in der Entfaltung der Geschichte hervorgehoben wird. Der Antiheld stellt einen Figurentypus dar, der das reflexive Denken des Publikums oder Lesers über die geschichtlichen Ereignisse fordert, indem er sich anders als das klassische Ideal des Helden zu Ereignissen und anderen Personen kontemplativ, spekulativ und skeptisch verhält. Aber diese Haltung führt nicht zum Eskapismus. Im Gegenteil bricht ein Antiheld mit der Möglichkeit des Eskapismus,

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bei dem der Leser seine Wunschträume auf die starke, tapfere sowie kluge Hauptfigur projizieren kann, indem die sich distanzierende Haltung des Antihelden einen Raum der Reflexion des Publikums oder Lesers bildet. Die Idee des »Antisystems« lässt sich in dieser Weise nicht als eine passive, sondern eine aktive Haltung der Philosophie verstehen, die durch ihre Skepsis und Distanzierung von dem positiven System vielmehr einen Raum der Reflexion über die Wirklichkeit herstellt. Adorno verhält sich kritisch zum traditionell-philosophischen Systembegriff, nicht nur weil er abstrakt subjektiv ist, insofern das System auf der rein architektonischen Funktion des Subjektes selbst, nicht aber auf dem Objekt beruht, sondern auch weil er gegenüber dem, was in sich nicht hineinpasst, repressiv wirkt. Diese kritische Haltung gegenüber der philosophischen Systematizität schließt sich andererseits an die kritische Perspektive über die gesellschaftliche Totalität an. »Kritische Theorie geht nicht auf Totalität sondern kritisiert sie. Das heißt aber auch, daß sie ihrem Inhalt nach anti-totalitär ist, mit aller politischen Konsequenz.«8 Diese »anti-totalitäre« Haltung der Kritischen Theorie hat ihre Konsequenz in der Ablehnung der totalen Herrschaft. Aber eben aus dem Grund, dass die Kritische Theorie anti-totalitär ist, steht der Begriff der Totalität im Zentrum des Projektes der negativen Dialektik Adornos. Dies bedeutet, dass es sich bei Adorno nicht um die Ablehnung des Gebrauchs der Totalitätskategorie, sondern, wie Frederic Jameson zu Recht pointiert 9, um den kritischen Gebrauch des Begriffs der Totalität handelt. Die Totalitätskategorie als solche ist eigentlich ein notwendiger Gegenstand der dialektischen Theorie, die sie aber kritisch, nämlich nicht als lückenlos kontinuierlich, sondern als in sich diskontinuiert auffasst. »Es ist auf der einen Seite die theoretische Aufgabe der Dialektik, eben des Ganzen, der Totalität sich zu versichern, und ohne die Idee einer Totalität ist die Erkenntnis nicht möglich; auf der anderen Seite aber ist diese Totalität selber keine der Kontinuität, keine des ungebrochenen deduktiven Zusammenhangs, keine logische, sondern [...] sie ist in sich diskontinuiert.« (ED, 212)

Diese Idee des Antisystems wurde aber von den meisten Adorno-Interpreten als eine passive Bedeutung, als die einseitige Ablehnung, die reine Antithese der Philosophie der Systematizität verstanden: »Aber eine anti-idealistische, dem

8

Adorno, Theodor W.: Zur Spezifikation der kritischen Theorie, in: Theod or W. Adorno Archiv (hg.): Adorno. Eine Bildmonographie, Frankfurt/M, 2003, S. 292.

9

Vgl. Jameson, Fredric: Spätmarxismus, Adorno oder die Beharrlichkeit der Dialektik, Hamburg/Berlin, 1992, S. 284.

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Begriff des Systems opponierende Konzeption der Gesellschaft durfte in seinen Augen auch gar nicht systematisch sein wollen.«10 Nach der Adorno-Interpretation auf Basis dieses Missverständnisses ist die Idee des Antisystems so verstanden worden, dass sie gegen die Philosophie der Systematizität, wie bei Kant und Hegel, ein Prinzip hervorhebe: »Ich will niemals ein philosophisches System aufbauen.« Aber in der Tat enthält Adornos Idee des Anti-Systems meiner Interpretation nach auch einen Einspruch gegen das System der »vorhandenen« Denkformen und gegen das »repressive« gesellschaftliche System. Aus diesem Grund besitzt sie eine aktive Bedeutung: »Ich will das System der vorhandenen Denkformen und das repressive gesellschaftliche System subversieren.« Dies bedeutet, dass es bei Adorno nicht darum geht, die vorhandene Systematizität und Totalität zu vermeiden, sondern darum, deren herrschaftlichen und repressiven Charakter zu enthüllen und jenseits dessen ein neues Netzwerk zu konstruieren. »Die Kritik des Systems bleibt Adorno zufolge von Bedeutung, weil sie an die Grundschichten von Herrschaft rührt.«11 Negative Dialektik, wie Brunkhorst pointiert, stellt sich »quer zur Totalisierung eines negativen Ganzen«12, nicht darüber hinaus. Diese »quer zur« systematisierten und totalisierten Herrschaft des negativen Ganzen stehende Haltung der dialektischen Philosophie nennt Adorno in der Negativen Dialektik die »Logik des Zerfalls« (ND, 148). Dieser Begriff scheint ebenso wie die Idee des Antisystems in der Gefahr zu stehen, dass er pessimistisch ausgelegt wird, teilweise aufgrund der Nuance des Wortes »Zerfall«, als ob mit dieser Logik des Zerfalls gemeint sei, dass die Philosophie keine Systematizität anstreben dürfte und sich mit der Fragmentation bescheiden sollte. Hingegen findet sich in seiner Vorlesung Einführung in die Dialektik ein Ansatz, aus jenem Begriff eine aktive Bedeutung abzuleiten. Hier bezieht Adorno die Logik des Zerfalls darauf, dass sich der Zwangscharakter sowie der Schein des Verselbstständigten des Systems durch die negative Kraft des Begriffs »aus ihrer eigenen Kraft heraus zerfallen« lassen (ED, 306). Darin sieht Adorno den »Kern einer jeglichen Dialektik«: »Und die Kraft, die diesen Zerfall herbeiführt, diese im Hegelschen Sinn negative Kraft des Begriffs, diese eigentlich kritische Kraft, die ist wohl in Wahrheit identisch mit dem Begriff der Wahrheit selber.« (Ebd.)

10 Wiggershaus, Rolf: Theodor W. Adorno, München, 2006, S. 105. 11 Demirović, Alex: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt/M, 1999, S. 644 12 Brunkhorst, Hauke: Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, München, 1990, S. 32.

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Hierbei ist wichtig, das Moment, mit dem die Beharrlichkeit des Systems zerstört werden kann, und das gegen die Einheitlichkeit des Systems Resistierende nun im System selbst zu finden und dadurch die autarkische Einheitlichkeit des Systems zu dekonstruieren. Die Logik des Zerfalls ist daher nicht als eine Logik der Fragmentation, sondern als ein philosophischer Versuch zu verstehen, das hartnäckig etablierte »gesellschaftliche« System und die daraus entsprungenen fixierten Gedankenformen von innen her zu zerlegen. Umgekehrt muss das dem System entgegengesetzte Denken aber gleichzeitig in sich das Moment der Systematizität enthalten, weil die Idee des Antisystems dessen gewahr werden muss, was das bestehende System genau ist, und dies darum eine systematische Analyse über das System fordert. »Kritik liquidiert« aus diesem Grund »nicht einfach das System.« (ND, 35) Die Kritik des Systems führt keineswegs zum asystematischen Denken. Vielmehr ist die »[s]ystematische enzyklopädische Analyse der Tauschabstraktion notwendig« 13 , um den Systemcharakter der auf der Tauschabstraktion beruhenden gesellschaftlichen Totalität zu analysieren, wenn die Wirklichkeit schon systematisch strukturiert worden ist. Erheischt wird daher die systematische Untersuchung sowie Darstellung des Systems, um es der Kritik zu unterziehen. Hieraus zeigt sich, dass Adorno eine doppelseitige Haltung gegenüber dem Systembegriff hatte. Er stellt den philosophischen Systembegriff unter Anklage und schlägt eine antisystematische Dialektik vor, andererseits legt er das System als den Gegenstand der Kritik ins Zentrum seines antisystematischen Denkens. Diese Doppelstellung nennt sich in der Negativen Dialektik »Doppelsinn philosophischer Systematik« (ND, 35). Einerseits besitzt die idealistische Systemphilosophie ihr Wahrheitsmoment (dies auch in Bezug auf ihren Einfluss auf die marxsche Dialektik). Adorno zufolge ist die idealistische Systemphilosophie zwar auf den Kopf gestellt worden, ihr Wahrheitsmoment aber liegt darin, dass sie nicht die Wahrheit der Partikularität, sondern die des Ganzen ans Licht bringt. Auch wenn er mit seiner Idee des Antisystems in der negativen Dialektik über die Systemphilosophie hinauszugehen versucht, zögert er nicht, »das Recht in der Idee des Systems« zu beleuchten. Dies kann man vor allem in seiner Vorlesung über Negative Dialektik, die er kurz vor der Publikation der Negativen Dialektik im Jahr 1966 gehalten hat, deutlich sehen. »Das Recht in der Idee des Systems: nicht mit den membra disiecta des Wissens vorlieb zu nehmen sondern aufs ganze gehen – wenn auch das Ganze darin besteht, daß es die Unwahrheit

13 Adorno, Theodor. W.: Notizen von einem Gespräch zwischen Th. W. Adorno und A. Sohn-Rethel am 26. 4. 1965, in: Sohn-Rethel, A., Warenform und Denkform, Frankfurt/M, 1978, S. 141.

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ist.« (VND, 167) Derart leistet der Aufbau eines philosophischen Gedankensystems zwar einen Beitrag dazu, unsere Welt nicht bloß partikulär, sondern systematisch und auf das Ganze hin zu erkennen. Es ist z. B. für jeden einzelwissenschaftlichen Versuch zwar nicht möglich, einem einzelnen Unternehmer die Ausbeutung nachzurechnen, doch ist sie im Weiteren durch die systematischen Reflexionen über die gesamtgesellschaftliche Produktionsweise gleichwohl nachzuweisen. Andererseits steht das philosophische Gedankensystem doch stets in der Gefahr, die bestehende Totalität der gesellschaftlichen Herrschaft als eine vollständige zu rechtfertigen. Adorno behauptet, dass die Anstrengung der traditionellen Philosophie, eine einzige hierarchische und metaphysische Struktur der Welt aufzubauen, eine Rechtfertigung des Ordnungsprinzips der gesellschaftlichen Herrschaft war. »Die metaphysischen Systeme hatten apologetisch den gesellschaftlichen Zwangscharakter auf das Sein projiziert.«14 Das Beispiel einer unreflexiven und daher die bestehenden Elemente der Gesellschaft bloß anerkennenden Systemkonzeption der modernen Epoche zeigt der Positivismus. Die Dialektik darf im Gegenteil das bestehende System nicht nachahmen, sondern muss es sprengen. Dafür muss sie selber aber noch einmal »systematisch« werden, denn nur eine systematische Analyse des bestehenden Systems ist im Stande, es kritisch zu überwinden. Aus dieser doppelten Haltung gegenüber dem Systembegriff wird eine paradoxe Konsequenz gezogen – eine systematische Theorie zur Dekonstruktion des bestehenden Systems. »Die dialektische Theorie jedoch betreibt gar keinen Kult der totalen Vernunft; sie kritisiert jene«15, denn die »Totalität ist keine affirmative, vielmehr eine kritische Kategorie«. 16 Die Problemstellung des Antisystems vermeidet die Frage nach dem System nicht, vielmehr ist die Analyse des bestehenden Systems ein Ausgangspunkt für die Kritische Theorie. »Soviel aber bleibt ihr [der Philosophie – S. H.] am System zu achten, wie das ihr Heterogene als System ihr gegenübertritt. Darauf bewegt die verwaltete Welt sich hin. System ist die negative Objektivität, nicht das positive Subjekt. « (ND, 31)

Aus diesem Grund besitzt die dialektische Systematik in Bezug auf den Systemcharakter der gesellschaftlichen Realität ihren Wert für die Kritik der systematisch strukturierten gesellschaftlichen Herrschaft.

14 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 322. 15 A.a.O., S. 351. 16 A,a,O., S. 292.

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»Die Systematik der Dialektik wäre danach genau die des Systems, das die Wirklichkeit bildet, nämlich die Dynamik des Systems, das in einem gewissen Sinn als eine Fatalität sich entwickelt und dessen fatalen Charakter jeder einzelne an sich selbst in jedem Augenblick erweisen kann.« (ED, 116)

Hieraus zeigt sich, »wieso eine Theorie, die ursprünglich konservativ ausgesehen hat, so als ob sie die Welt als System verteidigen wollte, dadurch, daß in ihr zugleich jenes System als ein negatives bezeichnet ist, die Voraussetzung gebildet hat für die revolutionäre Konzeption des Sozialismus« (ebd.).

Gleichgültig ob die hegelsche Dialektik so ausgeprägt konservativ war, wie Adorno hier dargestellt hat, ist es nunmehr sehr klar, dass sich Adornos Idee des Antisystems vom Dekonstruktivismus des Postmodernismus unterscheidet, der dem System die Fragmentation entgegensetzt und diese als eine pluralistische Alternativekonzeption lobpreist. Gegen diese Idee würde Adorno seinen Einwand derart erheben, wie er den (liberalistischen) pluralistischen Gedanken kritisierte: »Wird demgegenüber heute von Pluralismus geredet, dann ist zu argwöhnen, daß dieser Pluralismus unter der ansteigenden Herrschaft des Gesamtensystems zur Ideologie wurde. Es käme darauf an, die Vormacht der Totale zu brechen, anstatt so zu tun, als ob Pluralität bereits existent wäre.«17

Allerdings hat die negative Dialektik Adornos ein normativ sehr ähnliches Ziel wie der Postmodernismus: die Emanzipation des Nichtidentischen, das Recht des Besondern und der Pluralität. Doch ist sie von ihm dadurch zu unterscheiden, dass diese Emanzipation bei ihr nur in einem emanzipierten Zustand, in dem die bestehende Totalität der Herrschaft verschwindet, möglich ist. Um die Macht der herrschaftlichen Totalität aufzufassen, die Vielfalt und Differenz subsumiert, bleiben die Elemente der Systematizität im kritischen Denken selbst enthalten, weil es das bestehende System systematisch darstellen muss, eben aus dem Grund, dass sich das bestehende System überwinden lässt. Adorno versucht nicht die Systematizität in seinem Gedanken auszutreiben, sondern sie in eine kritische Funktion umzuschlagen, um den Herrschaftscharakter der Totalität zu enthüllen. Aus diesem Grund erklärt er in seiner Vorlesung über Negative Dia-

17 Diskussionsbeitrag zu »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«, GS 8, S. 586.

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lektik, dass »in einem gewissen Sinn doch die Motive, die einmal die philosophischen Systeme getragen haben« in seinen eigenen Versuchen »aufbewahrt werden sollen« (VND, 57). Dies bedeutet, dass die Philosophie, hier die negative Dialektik Adornos, wie er es in seiner Vorlesung im Sommersemester 1964 präzise ausdrückte, zugleich ein System und Nicht-System sein soll, nämlich, »daß Theorie heute in die Zwangslage versetzt wird, ebenso System wie Nicht-System zu sein, System insofern, als sie die Geschlossenheit der Gesellschaft, der wir uns gegenüberfinden, jedenfalls als einem Potential gegenüberfinden, [...] als sie diese Geschlossenheit und Einheit ausdrücken muß, auf der anderen Seite aber auch Nicht-System insofern, als sich gezeigt hat, daß diese Geschlossenheit ihrerseits durch sich selbst die Antagonismen reproduziert, sich also gezeigt hat, daß diese Einheit selber in ihrer Absolutheit gerade die Entzweiung aus sich heraus produziert.« (PET, 125 f.)

In einem Gespräch mit Horkheimer, in dem ihr Plan zur Verfassung eines Buchs über die dialektische Methode diskutiert wurde, erklärt Adorno sogar die Notwendigkeit des Totalitätscharakter der Erkenntnis in der dialektischen Theorie, um die gesamten Zusammenhänge der Tatsachen begrifflich zu gründen, wobei diese aber keine hierarchischen oder in sich geschlossenen Fundierungsverhältnisse voraussetzen. Das ist der Charakterzug dessen, was er »Konstellation« nennt: »[I]ch glaube, daß es sich in der Erkenntnis vielmehr um Konstellation, um Zusammen hänge von Tatsachen handelt, die man herstellt, um die Totalität der Gegebenheit verstehen zu können, ohne daß damit über irgendwelche Fundierungsverhältnisse zwischen den einzelnen Fakten notwendig etwas ausgemacht wäre.«18

Nun richten wir unser Augenmerk auf den Begriff der Konstellation, den Adorno in der Negativen Dialektik weiter entwickelte, um nämlich das systematisierende und totalisierende Moment seiner negativen Dialektik aufzunehmen.

2.2.2 Begriffe, Konstellation und theoretische Praxis Wenn die Idee des Antisystems die doppelte Bedeutung besitzt, zugleich das herrschaftliche System umzustürzen und eine systematische Theorie zu sein, so

18 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussion über Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 536.

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stellt sich die Frage, welcher systematische Charakter zur dialektischen Theorie gehört. In seiner Vorlesung über Negative Dialektik redet Adorno über den systematischen Charakter der dialektischen Darstellung: »Wenn ich also von Dialektik hier rede [...], dann meine ich dabei die Fiber des Denkens, seine innere Struktur« (VND, 16 f.). Diese Idee der Fiber des Denkens und der inneren Struktur entwickelte sich zum Begriff der Konstellation in der Negativen Dialektik. Der theoretische Entwurf der Konstellation bei Adorno, den er im Grunde genommen von Walter Benjamin übernahm, lässt sich als die Antwort darauf aufzeigen. Benjamin behauptet, dass das von ihm das System der Erkenntnis genannte traditionelle Erkenntnisgesetz für die begriffliche Erfassung des Gegenstandes auf der Intention des Habens des Dings beruht. Im Gegenteil taucht die Wahrheit im Verhältnis zwischen Ideen und Erscheinungen auf: »Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen.«19 Dieses sternbilderartige Netzwerk der Idee nannte er Konstellation bzw. Konfiguration. In einem Sternbild wird die Position eines Sterns nur durch das Verhältnis zu anderen Sternen bestimmt. Eine Sache oder ein Begriff, die Bedeutung der Dinge oder die Kausalität zwischen ihnen definieren sich ebenso nicht auf einem einzigen und absoluten Grund, sondern werden durch die gesamten, vielfältigen und komplizierten Beziehungen mit anderen bestimmt. Die ganze Idee der Dinge wird aber nicht durch die Abstraktion des einzelnen konstruiert, vielmehr macht jeder Teilbestand von seiner Einzelheit aus das Ganze aus, wie jeder einzelne Stern das ganze Sternbild ausmacht. Dies ist, was Konstellation bei Benjamin bedeutet. Negative Dialektik ist bei Adorno als eine Denkbewegung zu verstehen, die sich von dem statistischen System unterscheidet. In dieser Bewegung wird die nicht zu fixierende Beziehung zwischen Begriff und Realität aufgestellt. Sie ist damit wiederum als eine negative Bewegung gegen das vorhandene Gedankensystem zu verstehen, das die gegebene Ordnung unreflexiv in sich fixiert und wiederholt. Die Konstellation ist dabei eine alternative Allgemeinheit des Begriffs, die weder hierarchisch und repressiv geordnet ist noch unreflexiv die Sache anerkennt. Wir werden dadurch zur Erkenntnis kommen, dass hinter dem Überblick Adornos über dieses Netzwerk des Begriffs sein praktisches Interesse an einem gewaltlosen und nicht repressiven Netzwerk der Einzelnen steht. Darauf hin werden seine politisch-philosophischen Konnotationen über den Entwurf der alternativen Allgemeinheit durchzusehen sein.

19 Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Walter Benjamin Gesammelte Schriften Bd. I.1, Frankfurt/M, 1974, S. 214.

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a. Bedeutung des begrifflichen Denkens Christian Iber erblickt in der negativen Dialektik Adornos eine »Skepsis gegen das Denken überhaupt«20, weil Adornos Kritik des Begriffs und seine Betonung des Nichtbegrifflichen auf die Identität zwischen Begriff und Objekt und von daher auch darauf verzichte, die Sache begrifflich zu fassen. Diese Auslegung von Adorno ist meiner Ansicht nach aber nicht sachgemäß. Indem Adorno auf der Vorrangigkeit des begrifflichen Denkens und der begrifflichen Erkenntnis über die unreflexive Intuition insistiert, übernimmt er das Erbe des Gedankens von Kant und Hegel, bei denen die Wahrheit nur durch die begriffliche Erkenntnis hindurch gedacht werden kann. Adornos Kritik des Intuitionismus (bezüglich Heidegger und Bergson) besagt, dass der Gedanke ohne Begriffe schlechterdings zur Ideologie führt. »Denken ohne Begriff ist keines.« (ND, 105) Während der Intuitionismus Adorno zufolge die negative Haltung gegenüber der Gegebenheit aufgibt, weil er sich dem vor dem Begriff vorhandenen Sein nicht begrifflich annähern will, setzt die begriffliche Erkenntnis die Negation des Gegebenen voraus, sonst kann das Denken sich nicht auf es reflexiv beziehen. »Etwas so empfangen, wie es jeweils sich darbietet, unter Verzicht auf Reflexion, ist potentiell immer schon: es anerkennen, wie es ist; dagegen veranlaßt jeder Gedanke virtuell zu einer negativen Bewegung.« (ND, 48)

Gerade darin, dass das unmittelbar Gegebene durch die negative Bewegung des Denkens »bestimmt« wird, besteht das Wahrheitsmoment des begrifflichen Denkens. In der Dialektik der Aufklärung sehen Horkheimer und Adorno den wahren Anspruch der Erkenntnis in demselben Sinne in der bestimmten Negation durch die kritische Distanzierung des Denkens vom Unmittelbaren: Der ganze Anspruch der Erkenntnis »besteht nicht im bloßen Wahrnehmen, Klassifizieren und Berechnen, sondern gerade in der bestimmten Negation des je Unmittelbaren« (GS 3, 43). Kritisches Denken muss deshalb begrifflich denken, und die Negation, die kritische Haltung des Denkens ist ohne das begriffliche Denken nicht möglich. Wie Werner Bonefeld zu Recht insistiert: »Denken, so wie Adorno es verstanden hat, ist wesentlich die Negation der Sachen in deren Unmittelbarkeit,

20 Iber, Christian: Begriff und Kategorien negativer Dialektik bei Adorno, in: Jubara, Annett/Benseler, David (Hg.): Dialektik und Differenz. Festschrift für Milan Prucha, Wiesbaden, 2001, S. 74.

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also von etwas unmittelbar Erkennbarem.« 21 Begrifflich denken heißt negativ denken. »Begriffliches Denken ist ein Akt der Revolte gegen Unmittelbarkeit.«22 Diese negative Bewegung des begrifflichen Denkens, diese »Revolte gegen Unmittelbarkeit« versteht sich bei Adorno genauso wie bei Hegel (wie wir im ersten Kapitel dargelegt haben) als das kritische Moment des begrifflichen Denkens, wobei das Denken, das begrifflich und somit reflexiv ist, versucht, das Unmittelbare begrifflich zu bestimmen, indem es die Positivität und die Selbstständigkeit des Unmittelbaren auflöst und es in den Zusammenhang mit anderen Gegenständen hineinbringt. »Die Anstrengung, die im Begriff des Denkens selbst, als Widerpart zur passivischen An schauung, impliziert wird, ist bereits negativ, Auflehnung gegen d ie Zumutung jedes Unmittelbaren, ihm sich zu beugen. « (ND, 30)

Die Herausbildung des Begriffs ist eine vermittelnde Bewegung und eine kritische Tätigkeit des Denkens, den Schein des unvermittelten Unmittelbaren abzustreifen. Hierin sieht Adorno »das utopische Potential des Gedankens« (ND, 134), weil das begriffliche Denken ein isoliert Einzelnes im allgemeinen Zusammenhang vermittelt und darin eine Möglichkeit zur Überwindung der Verdinglichung der Gegebenheit besitzt. Diese Idee bringt Adorno in der Minima Moralia ins Klare: »Das dialektische Denken widersetzt sich der Verdinglichung auch in dem Sinn, daß es sich weigert, ein Einzelnes je in seiner Vereinzelung und Abgetrenntheit zu bestätigen: es bestimmt gerade die Vereinzelung als Produkt des Allgemeinen.« (MM, 80)

Hierbei ist die Wichtigkeit des allgemeinen Zusammenhangs des Begriffs zu sehen, in dem jedes Einzelne in die Vermittlung gebracht wird. Das begriffliche Denken führt seine kritische Funktion aus, indem es die einzelnen Tatsachen in dem allgemeinen Zusammenhang, dem ganzen Netzwerk in Betrachtung zieht. Die Negativität, das kritische Moment des begrifflichen Denkens wird nur in seiner Konstellation verwirklicht.

21 Bonefeld, Werner: Praxis und Kritik. Bemerkung zu Adorno, in: ders./Heinrich, Michael (Hg.): Kapital & Kritik. Nach der »neuen« Marx-Lektüre, Hamburg, 2011, S. 331. 22 Ebd.

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b. Konstellation, dialektische Bilder und die Geschichtlichkeit des Begriffs In seinem 1931 gehaltenen, ersten akademischen Antrittsvortrag Die Aktualität der Philosophie verlautbart Adorno seine eigene Philosophiebestimmung, Philosophie sei Deutung: »die Idee der Wissenschaft ist Forschung, die der Philosophie Deutung.«23 Diese Bestimmung kollidiert nicht mit seiner anderen Bestimmung der Philosophie in seinem vom Hessischen Rundfunk im Januar 1962 übertragenen Vortrag, Wozu noch Philosophie, die heutige Aktualität der Philosophie liege nach wie vor in der Kritik24. Das gesamte kritische Programm in der Philosophie Adornos besteht in der Kritik durch die Deutung, wie er in seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit 1964/65 formulierte: »Deutung und Kritik dürften in einem tiefsten Sinn miteinander koinzidieren.« (LGF, 189) Dies bedeutet, dass die deutende Praxis der Philosophie den Schein, dass eine einzelne Erscheinung oder ein einzelner Tatbestand isoliert an sich schon wahr sei, dadurch enthüllt, dass sie diese Erscheinung oder diesen Tatbestand an einen bestimmten Platz in dem gesamten Zusammenhang positioniert, und dass von daher darin von Anfang an eine kritische Haltung impliziert worden ist, die nach der Veränderung des gedeuteten Gegenstandes fordert. »Die Deutung der vorgefundenen Wirklichkeit und ihre Aufhebung sind aufeinander bezogen. Nicht zwar wird im Begriff die Wirklichkeit aufgehoben; aber aus der Konstruktion der Figur des Wirklichen folgt allemal prompt die Forderung nach ihrer realen Veränderung.«25

In dieser Idee der Kritik durch die Deutung bzw. der deutenden Kritik bei Adorno war die Heranziehung des Begriffs der dialektischen Bilder von Benjamin entscheidend. Die Wirklichkeit wird an sich nicht irgendeinem Zweck unterworfen und hat daher keine Intentionalität. Was diese Intention an der Wirklichkeit konstruiert, ist nur die Arbeit des Begriffs. Die Wirklichkeit kann durch die Konstruktionsarbeit des Begriffs in ihrer Konstellation gedacht werden. »Aufgabe der Philosophie ist es nicht, verborgene und vorhandene Intention der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der

23 Die Aktualität der Philosophie, GS 1, S. 334. 24 Wozu noch Philosophie, GS 10.2, S. 464. 25 Die Aktualität der Philosophie, GS 1, S. 338.

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Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt, deren prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist«. 26

Die Arbeit des Begriffs, die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, in der Wirklichkeit eine Montage, eine Einheitlichkeit durch die Einzelmomente zu konstruieren und darin die dialektischen Bilder zu finden, welche utopische Augenblicke jenseits dieser Wirklichkeit in sich enthalten, ist eben das, was diese Idee der deutenden Kritik bedeutet. Die begriffliche Konstellation ist in diesem Sinne eine kritische Denkbewegung, wobei es, wie es in der Negativen Dialektik lautet, um das »Lesen des Seienden als Text seines Werdens« (ND, 62) geht. Muss dann das begriffliche Denken, das den Schein der Selbstständigkeit des Unmittelbaren in seinem allgemeinen Zusammenhang auflöst, diesen kritischen Prozess nicht auch hinsichtlich sich selbst aufwerfen? Ist es nämlich heierfür nicht nötig, den Begriff im Zusammenhang mit dem Nichtbegrifflichen, der Realität selbst, zu denken? Der Begriff als Richter, der den Schein des Unmittelbaren verurteilt, fällt in die Gefahr, sich selber in das unmittelbar Vorgegebene und das Verselbstständigte, nämlich den Schein umzuschlagen, wenn er den kritischen Blick nicht auf sich selbst wirft. Hierin besteht die Eigentümlichkeit der Zugangsmethode Adornos zum Begriff. Es ist ein anderer Kern der Idee der Konstellation, die Kraft des Begriffs zu beleuchten, durch den Begriff über die Unmittelbarkeit, und damit letzten Endes über den Begriff, also über sich selbst hinauszugelangen. In der Negativen Dialektik zeigt sich die »Sprache« (ND, 164) als ein Modell der Konstellation. Der Sinn der Sprache, jeden Wortes und Satzes wird einerseits in dem Zusammenhang mit anderen sprachlichen Elementen definiert. Ein Wort (wie der Hund, die Blume, das Buch usw.) hat keinen Sinn, wenn es nur allein, ohne den Zusammenhang mit anderen Worten existiert. Andererseits wird der Sinn der Sprache in einem größeren Horizont, in der geschichtlichen Praxis der Menschen bestimmt. Die Menschen im Mittelalter können auf keinen Fall die Bedeutung von »Computer« oder »Handy« verstehen, und noch ferner können Naturmenschen nicht verstehen, was das »Recht auf etwas« bedeutet, weil dieses »Recht auf etwas« nur im Rechtszustand eines Staats oder einer Gemeinschaft gedacht werden kann. In diesem Zusammenhang impliziert der Herausbildungsprozess des sprachlichen Sinnes zugleich die Kritik der Annahme der absoluten Selbstständigkeit des Begriffs. In dieser Weise spürt der theoretische Versuch, die Konstellation zu konstruieren, dem Entstehungsprozess des Begriffs nach, und bringt das geschichtliche und gesellschaftliche Eingebettetsein des Begriffs

26 A.a.O., S. 335.

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zu Tage. Es ist naheliegend, dass in einem Wort eine bestimmte gesellschaftliche Situation reflektiert worden ist. An den Alltagsbegriffen kann man es eindeutig erkennen. Im Ausdruck »Nigger (Neger)« spiegelt sich das rassistische Verhalten zu Schwarzen wider, in dem des »jungfraulichen Bodens« das patriarchale zu Frauen. Diese Ausdrücke sind Produkte bestimmter gesellschaftlicher Situationen, worin beide, die Schwarzen und die Frauen, unterdrückt werden. Dieses historische und soziale Eingebettetsein gilt auch für den philosophischen Begriff. Der Begriff, der dem subjektiven Idealismus absolut immanent zu sein scheint, dem zufolge es nur das denkende Subjekt selbst ist, welches den Begriff durch die rein innere Reflexion herstellt, ist in der Tat die »sedimentierte Geschichte«, und darum befinden sich die Momente der Realität als das Nichtbegriffliche im Begriff selbst. »In Wahrheit gehen alle Begriffe, auch die philosophischen, auf Nichtbegriffliches, weil sie ihrerseits Momente der Realität sind, die zu ihrer Bildung [...] nötigt.« (ND, 23) Aus diesem Grund ist die Erkenntnis der Konstellation zugleich das Dechiffrieren jener sedimentierten Geschichte, des Werdens in dieser. »Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt.« (ND, 165) Diese Kritik gilt auch für den Positivistische Gesellschaftsauffassung, die die realen gesellschaftlichen Kategorien an sich als wahrhaft positiv annimmt, statt ihren geschichtlichen Herausbildungsprozess zu betrachten. Aus dieser Konsequenz wird nunmehr das Ziel der begrifflichen Konstellation durchschaubar. Die Erkenntnis der Konstellation des Begriffs in seinem geschichtlichen Horizont, den Walter Benjamin einmal die »historische[...] Kodifikation« 27 nannte, durchbricht mit dieser Denkbewegung alle Formen des Begriffsfetischismus sowohl innerhalb des subjektiven Idealismus als auch bei den positivistischen Wissenschaften. Die negative Dialektik ist von daher als eine Theorie zu verstehen, die in der materiellen Analyse des Begriffs und der damit verbundenen (geschichtlichen) Erfahrung ihren Wahrheitsanspruch entfaltet. In diesem Belang ist die negative Dialektik wiederum als eine theoretische Praxis zu erkennen, die aufdeckt, dass der Begriff durch Erfahrungen und Bedeutungskontexte geschichtlich herausgebildet ist. Wenn man nun diesen Blickpunkt in die gesellschaftstheoretische Stufe einbezieht, dann bedeutet dies, dass das »Verstehen« begrifflicher Kategorien einer bestimmten Gesellschaft zugleich ein Kriterium für deren »Kritik« wird. Der Prozess der Entzauberung des Begriffs verleiht uns die Einsicht in die menschliche Praxis, die hinter dem gesellschaftlichen Bann steckt, der sich als Naturzusammenhang reproduziert. »Was unter dem Bann von gesellschaftlichen Natur-

27 Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 207.

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gesetzen zu stehen scheint, wird«, Alex Demirović zufolge, durch diese Theoretische Praxis »als von ihnen [den Menschen – S. H.] erzeugte Praktiken erkennbar und veränderbar«28 erhellt. c. Konstellation und die alternative Allgemeinheit Nun nehmen wir jenes allgemeine Netzwerk des Begriffs in den Blick. Die Konstellation wird in der Negativen Dialektik als eine »immanente Allgemeinheit des Einzelnen« (ND, 165) definiert, die zugleich ein nicht-totalitäres, nicht-synthetisches und nicht-aufzuhebendes allgemeines Vermittlungsverhältnis bildet. »Das einigende Moment überlebt, ohne Negation der Negation, doch auch ohne der Ab straktion als oberstem Prinzip sich zu überantworten, dadurch, daß nicht von den Begriffen um Stufengang zum allgemeineren Oberbegriff fortgeschritten wird, sondern sie in Konstellation treten.« (ND, 164)

Abgesehen davon, ob und inwiefern diese dem hegelschen Synthesisbegriff entgegengesetzt skizzierte Darstellung der Konstellation tatsächlich von der »konkreten Totalität« von Hegel, in der jedes einzelne Moment im allgemeinen Zusammenhang des Ganzen mit den anderen als dem Nichtidentischen reziproziert, streng abzutrennen sei, kann man in dieser Skizze den Kern der Konstellationskonzeption von Adorno feststellen. Die Konstellation ist im Gegensatz zur abstrakten Ordnung des Identitätszwangs, in der die Differenz der Sachen abstrahiert wird, eine nicht repressive Vermittlungsart, worin die Eigentümlichkeit und Autonomie des Einzelnen nicht deformiert wird und eine dezentrierte Reziprozität zwischen dem Einzelnen und dem Allgenmeinen fortbestehen kann. Hieraus lässt sich diese Konzeption der begrifflichen Konstellation in der negativen Dialektik Adornos nunmehr mit der Skizze der herrschaftslosen Gesellschaft in Verbindung bringen. Die Konstellation wird auf diese Weise das Denkmodell für ein herrschaftsloses gesellschaftliches Netzwerk. Den Zusammenhang der dialektischen Vermittlung in der Konstellation mit diesem Entwurf der alternativen Allgemeinheit zeigt Adorno in der Minima Moralia konkreter. »Nur dort vermag Erkenntnis zu erweitern, wo sie beim Einzelnen so verharrt, daß über der Insistenz seine Isoliertheit zerfällt. Das setzt freilich auch eine Beziehung zum Allge-

28 Demirović, Alex: Geist, der fliegen will. Adorno unterm Bann, in: Hirsch, Michael/Müller, Vanessa J./Schafhausen, Nicolaus (Hg.): Adorno. Möglichkeit des Unmöglichen. Vol. 2, Frankfurt/M, 2003, S. 15.

96 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄ T meinen voraus, aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil. Die dialektische Vermittlung ist nicht der Rekurs aufs Abstraktere, sondern der Auflösungsprozeß des Konkreten in sich.« (MM, 83)

Dementsprechend behauptet Anders Bartonek, dass die Konzeption der begrifflichen Konstellation von Adorno immer auf den utopischen Zustand des Menschen hinweist und Adorno nur in Bezug darauf seine Darstellung der Konstellation entfaltete. Demzufolge muss das Modell der alternativen Allgemeinheit der begrifflichen Konstellation in der Wirklichkeit verwirklicht werden, was aber »ohne die gesellschaftlich verwirklichte Versöhnung zwischen den Subjekten und zwischen Subjekt und Objekt nicht denkbar« wäre.29 So geht es nunmehr darum, wie diese verwirklichte Versöhnung dargestellt werden soll. Ein Beispiel der Konstellation findet sich in der neuen Musik. Adornos Skizze der alternativen Allgemeinheit hängt ausschlaggebend mit der Komposition zusammen. Er findet in der neuen Kompositionsmethode der modernen Musik eine Darstellungsmethode für die Beschreibung der Konstellation des Begriffs. Parallel dazu steht hinter dieser Analogie mit der Komposition auch ein praktisches Interesse am emanzipatorischen Zustand des Nichtidentischen. In Hinblick darauf schreibt er in der Vorrede der Philosophie der neuen Musik, dass die Kritik der neuen Musik ihre Intention darin besitzt, in der Musik »die Gewalt der gesellschaftlichen Totalität« zu erkennen und in der Musikform selbst einen Zustand der Versöhnung zu suchen.30 In der klassischen Musik befinden sich die sogenannten »Hauptdreiklänge« im Zentrum der Kompositionskunst: Tonika, Dominante und Subdominante. Das Prinzip der klassischen Musik hat eine Struktur des Selbstkreislaufs, in der die Tonfolge mit der Tonika beginnt und mit derselben endet. Die Dominante und die Subdominante besitzen keinen Wert ohne Tonika in der ganzen Konstruktion, was bedeutet, dass das Verhältnis zwischen Dreiklängen auf der Hierarchie um die Tonika beruht. In der klassischen Musik kann ein Komponist die Dissonanz in ein Musikstück einführen, aber dieser unstabile Akkord muss bald durch die Konsonanz ersetzt werden, um die euphonische Harmonie der Tonfolge wieder herzustellen. Dieser Eliminierungsprozess der Instabilität heißt Auflösung. In der klassischen Musik kann ein stabiles Finale nur vorkommen, nachdem die Dissonanz aufgelöst wurde. In der neuen Musik hingegen entstand eine neue Kompositionskunst, in der diese harmonische Tonfolge der klassischen Musik durch die

29 Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, S. 181. 30 Philosophie der neuen Musik, GS 12, S. 9 f.

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Atonalität ersetzt wird. Um der Emanzipation der Dissonanz (von ihrer Auflösung) willen führte Schönberg in die Kompositionskunst die Zwölftontechnik ein, in der die Unterscheidung der wichtigen von den weniger wichtigen Tönen abgeschafft wird und alle Töne gleich behandelt werden, indem ein Ton prinzipiell nicht wiederholt wird, bevor alle zwölf Töne unbedingt mindestens einmal benutzt worden sind. Durch die Veränderung der Reihenfolge wird die Möglichkeit der Organisation der Töne viel größer, aber in dieser Veränderung gelten auch die Regeln – Umkehrung (eine Spiegelung an der Horizontale), Krebs (eine Spiegelung an der Vertikale) und Krebsumkehrung (Umkehrung + Krebs). Hieraus ergibt sich die paradoxe Konsequenz, dass diese Zwölftontechnik ein in sich geschlossenes System in dem Sinne bildet, dass die Töne in einer strengen Kompositionskunst gefangen bleiben und das Ziel der Emanzipation der Dissonanz nur mit dieser stickigen Systematizität erreicht wird. Adorno lobt einerseits Schönberg, dass seine Zwölftontechnik als ein Resultat der innermusikalisch notwendigen Entwicklung den Entmythologisierungsprozess in der Musik fortgetrieben habe. Andererseits habe Schönberg diesen Fortschritt für den freien Stil der Musik gebremst oder unterbrochen, indem seine Zwölftontechnik in einen absoluten Formalismus verfallen sei.31 Adorno verteidigt in diesem Punkte die freie Atonalität, in der alle Töne als nichtidentische Dissonanz in einer freien Beziehung mit anderen Tönen dargeboten werden. In dieser Beziehung findet er ein Modell für die alternative Allgemeinheit der Einzelmenschen. Die Idee der begrifflichen Konstellation lässt sich derart auf ihr wirkliches Moment erweiternd interpretieren, dass sie das Denkmodell bzw. das Grundmuster für die Skizze der gesellschaftlich verwirklichten Versöhnung zeigt. Danach wird sich zuletzt die allgemeine politische Konstellation als Methexis, als allgemeine Beteiligung aller Einzelnen an der gemeinsamen Subjektivität herausstellen.

2.2.3 Nichtidentität: Selbstreflexion der Identität a. Identitätskritik als Herrschaftskritik Die Identitätskritik ist das berühmteste Thema von Adorno ebenso in der Dialektik der Aufklärung wie in der Negativen Dialektik, worin sich auch die Eigentümlichkeit seiner Philosophie finden lässt. Weil sich nach seinem Tod dieses

31 Vgl. Wiggershaus, Rolf: Theodor W. Adorno, München, 2006, S. 113.

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Thema unabhängig von ihm in der Form des Postmodernismus in Frankreich zur Hauptagenda der Philosophie entwickelte, wurde seine Identitätskritik vor allem seit den 1980er Jahren zumeist in der Analogie mit diesem diskutiert. Doch führte diese postmodernistische Auslegung von Adorno im Resultat dazu, dass die Fragestellung nach dem endlichen Ziel seiner Identitätskritik und nach der Eigentümlichkeit dieser Kritik durchaus verwässert wird, weil die Identität, über die von vielen Interpreten behauptet wird, dass sie von Adorno und dem Postmodernismus als ein und dasselbe Thema geteilt wird, eigentlich ein undeutlicher Diskussionsgegenstand ist. Dieses Problem wurde teilweise von Adorno selbst verursacht. Weil er keine klare Grenze darüber aufstellte, worauf sich das Identitätsprinzip in aller Welt genau bezieht, erlaubt seine Identitätskritik sehr verschiedene Interpretationen. Insbesondere im Fall der an den Postmodernismus gebundenen Adorno-Interpretation versteht sich seine Identitätskritik als ein Angriff auf die philosophische Identität überhaupt. In diesem Fall wird die negative Dialektik als eine Kritik von Identität, Begriff und Vernunft überhaupt bestimmt, was aber von Herbert Schnädelbach als unmöglich nachgewiesen wurde.32 In der Negativen Dialektik (ND, 145 f.) formuliert Adorno folgende vier Dimensionen des Identitätsbegriffs in der Philosophie der Neuzeit, insbesondere in Bezug auf die kantische: 1. Einheit vom persönlichen Bewusstsein (Selbst), 2. Denken als logische, gesetzliche Allgemeinheit, 3. Sichselbstgleichheit des Gedankengegenstandes (A=A), 4. Zusammenfallen des Subjektes mit dem Objekt im Erkennen. Das »Ich denke« ist der letze Garant des Identitätsbegriffs in der Philosophie der Neuzeit, insofern ist sie eine Philosophie des Subjektes. Demgegenüber weist Adorno darauf hin, dass das denkende Ich als Träger der Identität noch eines Moments der überindividuellen Einheit bedarf und insoweit die Singularität des Subjektes immer überindividuell ist. Das konstitutive Subjekt ist stets durch die objektive Realität vermittelt, die außerhalb seiner liegt. Das Ziel der Kritik der Identitätsphilosophie liegt daher einerseits darin, dass sich die geschlossene Selbstidentität des Subjektes ins selbstreflexive offene Subjekt verwandelt, indem auf die Außenseite der Identität des Subjekts hingewiesen wird. Andererseits zielt diese philosophische Identitätskritik auf die Durchleuchtung dessen ab, was dieses »überindividuelle« Moment der Selbstidentität des Subjek-

32 Vgl. Schnädelbach, Herbert: Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): AdornoKonferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 66-93. Auffallend bei seiner Behauptung ist, dass er erstens die Rationalität bei Adorno zu retten versucht, und dass er zweitens vorschlägt, die »Identität mit etwas« von der »Identität als etwas« zu unterscheiden und nur die erste als den Gegenstand der Identitätskritik zu bestimmen.

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tes bedeutet. »Das identifizierende Prinzip des Subjekts ist selber das verinnerlichte der Gesellschaft.« (ND, 239) Hierin findet sich wiederum der durchaus entscheidende Einfluss des Realabstraktionsbegriffs von Sohn-Rethel auf Adorno. »Identität, Dinglichkeit und Dasein sind ihrer Genesis nach gesellschaftliche Formcharaktere der Ware und sind Verbindungsformen der Menschen«33, so lautet die These von Sohn-Rethel. Auch wenn es, wie wir oben feststellten, unklar und sogar zweifelhaft ist, ob es solch einen direkt zusammenfallenden Zusammenhang zwischen dem philosophischen Identitätsbegriff und dem ökonomischen Tausch- und Identifikationsprinzip gäbe, wie Sohn-Rethel und Adorno präsupponierten, ist doch nunmehr deutlich, dass die Identitätskritik Adornos sich nicht bloß auf die Ablehnung des philosophischen Identitätsbegriffs überhaupt bezieht, sondern einerseits auf dessen Selbstreflexion in der Philosophie und andererseits auf den Hinweis auf sein reales, überindividuelles und übersubjektives Moment. In der vorliegenden Arbeit wird in diesem Zusammengang die Identitätskritik bei Adorno als Kritik einer bestimmten Herrschaftsform behandelt, die mit der identifizierenden Verhaltensweise des Menschen verbunden ist. Die Identität bezieht sich auf eine Realitätskategorie, und von daher ihre Kritik auf die Kategorie der realen Herrschaft, der geschichtlich gewordenen Realität der Identität: das Identifikationsprinzip. Bei Adorno geht die Identitätskritik darum immer über die Philosophie hinaus: »Darum überschreitet philosophische Kritik an der Identität die Philosophie.« (ND, 22) Auch wenn er die Identität als eine rein philosophische Kategorie zu behandeln scheint, liegt sein Interesse stets in der Kritik der gesellschaftlichen Identifikation und Subsumption. »Durch Identifikation vermitteln sich zuinnerst Philosophie und Gesellschaft in jener.« (ND, 232) Weil in der »nach dem Identitätsprinzip gemodelten Wirklichkeit« (ND, 239) beides eine Analogie besitzt, ist das Thema der Identität, das traditionell der Hauptgegenstand der Metaphysik war, für Adorno im höchsten Grad Politisches 34 In diesem Sinne verstärkt die philosophische Kritik der abstrakten Identitätsthese laut Alex Demirović die Fähigkeit zur Kritik des realen Identifikationsprinzips. »Ist die gesellschaftliche Wirklichkeit ein System, dann kann Kritik philosophischer Sys teme die Einsicht vorbereiten, die zur Emanzipation erforderlich ist. Die philosophische

33 Sohn-Rethel, Alfred: Warenform und Denkform, Frankfurt/M, 1978, S. 42. 34 Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, S. 208.

100 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT Kritik an der Identität überschreitet die Philosophie, weil sie die Fähigkeit erlernt, die identitäre Logik des Systems der Wirklichkeit in einer Art Judo-Technik zu kritisieren.«35

Das Identitätsprinzip als »Geist gewordener Zwang« (ND, 148) ist zugleich »bis heute real« (ebd.). Wie Ute Guzzoni zu Recht erwähnte, lässt sich Adornos Identitätskritik als eine »Kritik an der Vorherrschaft des identifizierenden Verhaltens des Menschen gegenüber seinen Gegenständen«36 verstehen. »Identität ist«, wie sie an einer anderen Stelle behauptet, »hier ersichtlich kein abstrakter Begriff, sondern erleidbare und – bewußt oder unbewußt – erlittene Realität.«37 Die Kritik der Identität als realer Kategorie bei Adorno betrifft in diesem Zusammenhang das, was meines Erachtens kapitalistische Identitätslogik heißen dürfte, wobei es um das Tauschprinzip geht, das alle qualitative Vielfalt der Waren produzierenden Arbeit des Menschen quantifizierend identifiziert, was er von der marxschen Wertformanalyse übernahm. In diesem Sinne setzt Adorno meiner Ansicht nach das Tauschprinzip mit dem Wertgesetz gleich. Wir haben im ersten Kapitel gesehen, dass die Wertformanalyse von Marx im Kapital als eine Vorwegnahme der Kritik der kapitalistischen Identitätslogik verstanden werden darf. Die herrschende Eigenschaft der gesellschaftlichen Einheitlichkeit des Tauschwertes und des Geldes stellt Marx in Grundrisse klarer dar: »Es[Geld – S. H.] trägt seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft, in der Tasche mit sich. Die Thätigkeit, welches immer ihre individuelle Erscheinungsform, und das product der Thätigkeit, welches immer seine besondre Beschaffenheit, ist der Tauschwerth, d. h. ein Allgemeines, worin alle Individualität, Eigenheit negiert und ausgelöscht ist.« (MEGA II.1.1, 90)

Die planmäßige Verteilung der Arbeitszeit in einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus wäre nicht identisch mit diesem gesellschaftlich erzwungenen durchschnittlichen Messen der Arbeitszeit mittels des Tauschwertes. Sowohl die Eigenschaften der Waren als auch die sie produzierende menschliche Arbeit müssten eigentlich qualitativ verschieden sein, was aber in der Gesellschaft, wo der Tauschwert herrscht, nicht der Fall ist.

35 Demirović, Alex: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, S. 646. 36 Guzzoni, Ute: Identität oder nicht. Zur Kritischen Theorie der Ontologie, Freiburg/München, 1981, S. 31. 37 Guzzoni, Ute: Sieben Stücke zu Adorno, Freiburg/München, 2003, S. 8.

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»Die Arbeiten der Einzelnen in demselben Arbeitszweig, und die verschiedenen Arten der Arbeit, sind nicht nur quantitativ, sondern qualitativ verschieden. Was setzt der nur quantitative Unterschied von Dingen voraus? Die Dieselbigkeit ihrer Qualität. Also das quantitative Messen der Arbeiten die Ebenbürtigkeit, die Dieselbigkeit ihrer Qualität.« (MEGA II.1.1, 104)

Dirk Braunstein versucht, aus der Analyse des Tauschprinzips bei Adorno eine metaökonomische Herrschaftsanalyse abzuleiten. »Primäres Prinzip aller Herrschaft ist für Adorno das der Identität, deren ökonomisches Derivat die Äquivalenz, Index jedweden Messens, ist«38, wobei aber es nicht nur um die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise im Besonderen geht, sondern auch darum, dass diese geschichtliche metaökonomische Herrschaft eine jenseits der kapitalistischen Ökonomie bestehende ist. Aus meiner Sicht ist es aber eine bessere Lesart bzgl. der Identitätskritik Adornos, sie als diejenige Herrschaftsanalyse und –kritik zu verstehen, deren Hauptmodell grundsätzlich in der Kritik der kapitalistischen Produktionsweise liegt, weil einerseits jede Form der metaökonomischen Herrschaft in der kapitalistischen Gesellschaft in die kapitalistischökonomische Herrschaft konvergiert (allerdings nicht darauf reduziert wird. Es gibt auch nicht-kapitalistische Formen der Herrschaft in der kapitalistischen Gesellschaft wie Sexismus, Rassismus usf., dennoch ziehen sich alle Herrschaftsformen in dieser ihre kapitalistischen Kleidungen an und nehmen die kapitalistischen Erscheinungsformen an), andererseits Adornos Bestimmung des Tauschprinzips als einer metaökonomischen Herrschaft auf der unbeweisbaren und ahistorischen Voraussetzung basiert, dass der Äquivalententausch auch vor dem Kapitalismus eine dominante Form der Ökonomie war. In der ersten Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung in Los Angeles (1944) vor der ersten offiziellen Buchausgabe in Amsterdam (1947) lässt sich die Richtung der Identitätskritik beider Autoren noch klarer beobachten, weil die anscheinend nicht auf die spezifisch kapitalistische Epoche bezogenen Terminologien in der Buchausgabe eigentlich in der ersten mimeographierten Publikation deutlich auf die kapitalistische Phase und deren Kritik hinweisen. Die Terminologien beispielsweise wie »Monopol« in der ersten Publikation wurden durch »Wirtschaftsapparatur« oder »das System der modernen Industrie« in der Buchausgabe, »Kapital« durch »Wirtschaft« ersetzt, und das Wort »Kapitalismus« ist sogar verschwunden.39 Wenn aber Adorno das Prinzip des Äquivalententausches

38 Braunstein, Dirk: Adornos Kritik der politischen Ökonomie, S. 390. 39 Van Reijen, Willem/Bransen, Jan: Das Verschwinden der Klassengeschichte in der ›Dialektik der Aufklärung‹. Ein Kommentar zu den Textvarianten der Buchausgabe

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und den Begriff der abstrakten Arbeit – bei dem es darauf ankommt, dass sich der Wert nur dadurch durchsetzt, dass die qualitativ verschiedenen Arbeiten der Einzelmenschen auf die rein quantitative Beziehung, auf die Form der gesellschaftlich notwendigen Arbeit reduziert und damit qualitativ gleichgesetzt werden – als die Urform des Identifikationsprinzips aufstellt, nämlich wenn er z. B. behauptet, dass »[d]as Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, [...] urverwandt mit dem Identifikationsprinzip« (ND, 149) ist, so ist es selbstverständlich, dass diese Kritik die in der kapitalistischen Produktionsweise vorkommende und herrschende abstrakte Identitätslogik anvisiert. So verleiht ein solches Motiv der Kritik des Tauschprinzips, dass die Individuen erst jenseits des Tauschprinzips befreit werden können, Adorno ein Moment für seine Konzeption der alternativen Gesellschaft, wie es in seinem von Hans-Georg Bachhaus verfassten Vorlesungsprotokoll heißt: »Dem Einwand, Sozialismus führt zur Vermassung, ist zu entgegnen, daß erst dann, wenn die Individuen nicht mehr von Tauschverhältnissen bestimmt sind, diese verschwinden wird.«40 Hieraus kann man den Unterschied der Identitätskritik Adornos zu derselben des Postmodernismus ersehen. Wie etliche autonomistischen Autoren in Großbritannien ausdrückten, »[i]t is not dialectics but capital that is the name of the straitjacket that forces our multiple differences into the binary antagonism of exploited labour”.41 Während im Postmodernismus der Grund für die Entstehung der Identitätslogik in der abendländischen Vernunft selbst und ihrer philosophischen Ausdrucksform in der Moderne besteht, geht es Adorno um die Deformierung der Vernunft in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Dialektik ist daher für Adorno keine Ursache der falschen Identität, sondern das Mittel des selbstreflexiv rationalen Denkens, um den Grund der Deformierung der Vernunft, die antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnisse aufzudecken und durch die Kritik darüber hinauszugehen.42

von 1947 gegenüber der Erstveröffentlichung von 1944, Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt/M, 1987, S. 456. 40 Adorno, Theodor W.: Adorno über Marx und die Grundbegriffe der soziologischen Theorie, in: Backhaus, Hans-Georg: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg, 1997, S. 513. 41 Holloway, John/Matamoros, Fernando/Tischler, Sergio: Negativity and revolution: Adorno and political activism, in: dies. (Hg.): Negativity and Revolution. Adorno and political activism, London, 2009, S. 6. 42 Vgl. Bonnet, Alberto R.: Antagonism and difference. Negative dialectics and poststructuralism in view of the critique of modern capitalism, in: Holloway,

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In einer Produktionsweise, in der alles auf der Erde, sogar das Arbeitsvermögen des Menschen (und somit der Körper des Menschen, der die Arbeitstätigkeit ausführt) als austauschbar, kommensurabel und quantitativ kalkulierbar gilt, tritt die Immergleichheit als die prägende Herrschaftsform auf, wobei nicht nur die qualitative Differenz unterdrückt wird, sondern auch die unwiderstrebbare Anpassungstendenz der Individuen auf das Ganze und ihre Ohnmacht gegenüber der Macht des Ganzen vermittels der immergleichen Alltagsstimmung zuwächst. Die Herrschaft setzt sich als das Identifikationsprinzip durch, indem sie die Gesellschaft auf eine Einheitlichkeit zurückführt und ihre Mitglieder dieser anpasst. Das Identitätsprinzip ist bei Adorno einerseits die gewalttätige Durchsetzung der Totalität des allgemeinen Äquivalentes, in der jedes Nichtidentische repressiv ausgetrieben und damit der Antagonismus in diesem Prinzip selbst verschleiert wird. »Gerade das unersättliche Identitätsprinzip verewigt den Antagonismus vermöge der Unterdrückung des Widersprechenden. Was nichts toleriert, das nicht wie es selber wäre, hin tertreibt die Versöhnung, als welche es sich verkennt. Die Gewalttat des Gleichmachens reproduziert den Widerspruch, den sie ausmerzt.« (ND, 146)

Andererseits ist es die »Chiffre des sozialen Konformismus«43 in dem Sinne, dass die Menschen ihrer Ohnmacht in ihrem Alltag nicht gewahr werden. Dennoch ist diese Herrschaft des Identifikationsprinzips nicht als allmächtig zu bestimmen, insofern es in sich sein Nichtidentisches als ein notwendiges Moment für sich enthält, das eigentlich von ihm ausgetrieben werden müßte. b. Nichtidentität und das Nichtidentische In der Einleitung der Negativen Dialektik bestimmt Adorno seine Dialektik als »das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität« (ND, 17). Dementsprechend verwendet er in der Vorlesung über Negative Dialektik den klaren Ausdruck der »Dialektik nicht der Identität sondern der Nichtidentität« (VND, 9). Es geht dabei für Adorno darum, wie Ritsert darstellte, »die Philosophie des Nichtidenti-

John/Matamoros, Fernando/Tischler, Sergio (Hg.): Negativity and Revolution. Adorno and political activism, London, 2009, S. 41-78. 43 Claussen, Detlev: Konformistische Identität. Zur Rolle der Sozialpsychologie in der Kritischen Theorie, in: Schweppenhäuser, Gerhardt (Hg.): Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt, 1995, S. 29.

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schen im Rahmen dialektischer Argumentationsfiguren zu entwickeln«. 44 Das Nichtidentische lässt sich nicht als ein abstrakter Gegenbegriff der Identität verstehen, ebensowie das Nichtbegriffliche kein bloßer Gegenbegriff des Begriffs ist. Es ist keine bloße Antithese der Identität, sondern ihr notwendiges Element, insofern ist es bereits ein Teil von ihr. Nicht nur darf die Nichtidentität im Zusammenhang mit der Identität gedacht werden (»Identität in der Nichtidentität« (ND, 157)), die Identität kann auch ohne die Nichtidentität nicht bestehen (»Nichtidentität in der Identität« (ebd.)). Das Nichtidentische ist nicht als das Erste zu hypostasieren, wie bei der Identität in der traditionellen Metaphysik der Fall ist, sondern als die konstitutive Alterität der Identität zu verstehen.45 Es steht nicht der Identität äußerlich entgegen, sondern ist unbedingt erforderlich, nämlich konstitutiv für ihren Bestand, weil, bereits logisch gesehen, sie ihre Andersheit voraussetzt, um gemäß dem Identitätsprinzip diese Andersheit mit sich selbst vereinheitlichen, d. h., zu sich selbst integrieren zu können. Es ist nicht jene unvermittelte Unmittelbarkeit, mit der einige Junghegelianer gegen die hegelsche Vermittlungstotalität Einspruch erhoben.46 Allerdings stellte Adorno in der Negativen Dialektik dar, dass die Vermittlung selber von der Unmittelbarkeit vermittelt ist. Mit diesem Hinweis auf das Vermitteltsein der Vermittlung durch die Unmittelbarkeit versuchte er, die Vermittlungstotalität im hegelschen System zu kritisieren, weil die Hypostasierung der Kategorie der Vermittlung zum absoluten Primat des Subjektes in der Totalität des Begriffs führt (ND, 174). Meiner Ansicht nach aber ist diejenige Unmittelbarkeit, die sich

44 Ritsert, Jürgen: Das Nichtidentische bei Adorno – Substanz- oder Problembegriff?, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 4, 1997, S. 37. 45 In diesem Zusammenhang lässt sich die Behauptung von Birgit Sandkaulen als ein Missverständnis festhalten, dass nämlich Adorno von der hegelschen Dialektik zu einem »Typus einer dualistischen Reflexionsphilosophie« (Sandkaulen, Birgit: Modell 2: Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel, in: Honneth, Axel/Menke, Christoph (Hg.): Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, Klassiker Auslegen Bd. 23, Berlin, 2006. S. 184.) zurückgetreten sei, indem er sich bloß an das Nichtidentische halte, nicht aber zur Synthese der These und Antithese gelange. Ihre Behauptung widerlegt Marc Nicolas Sommer wie folgt: »Die spezifische Differenz zwischen Ador nos Position und einem Dualismus liegt im Gedanken der Vermittlung, welcher nicht bloß die äußerliche Verwiesenheit der Momente behauptet, sondern ihre immanente, wechselseitige Abhängigkeit.« (Sommer, Marc N.: Die Differenz in der Vermittlung. Adorno und die Hegel’sche Dialektik, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 32/33, 2011, S. 139.) 46 Vgl. Andreas Arndt: Unmittelbarkeit, Berlin, 2013, S. 64-80.

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dem Primat der Vermittlung widersetzt, zugleich eine durch die Vermittlung vermittelte Unmittelbarkeit, indem sie selbst die Vermittlung vermittelt. Was Adorno mit jener Behauptung versucht, ist daher kein Rückgang zur unvermittelten Unmittelbarkeit Das Nichtidentische ist vielmehr eine Außenseite der Vermittlung in dieser selbst, die darauf hinweist, dass eine bestimmte Art der Vermittlung durchaus fehlschlagen könnte. Das Nichtidentische entsteht nicht anders als nach dem Kriterium der Identität selbst. »Das Nichtidentische, das ihn [Idealismus – S. H.] von innen her, nach dem Kriterium von Identität, determiniert, ist zugleich das seinem Prinzip Entgegengesetzte, das zu beherrschen er vergebens beteuert.« (ND, 183) In seiner Vorlesung Einführung in die Dialektik sieht Adorno »das Wesen des dialektischen Verfahrens« in dieser Wechselbeziehung: »[D]as Wesen des dialektischen Verfahrens ist, daß die Antithesis aus der Thesis selber herausgenommen wird, daß also das, was ist, selber als mit sich selbst identisch und nicht-identisch begriffen wird.« (ED, 59) Es war Hegel, der diese Vermittlungsbeziehung fand. Diese Vermittlung impliziert für Hegel (und auch für Adorno), dass die Identität zu dem Nichtidentischen als ihrem Gegenteil übergeht, um eben ihrer inneren Bestimmung gerecht zu werden. »Wie jedoch die Begriffe ihrem eignen Sinn nach ein sie Erfüllendes fordern; wie nach Hegels unüberholter Einsicht der bloße Gedanke von Identität ein Nichtidentisches er heischt, von dem allein Identität kann ausgesagt werden: so sind noch die reinsten Begriffe immanent, und gar nicht erst polar, auf ihr Anderes angewiesen. «47

Was nun am Begriff des Nichtidentischen 48 Adornos im gesellschaftstheoretischen Bezug besonders signifikant ist, beruht auf dem Tatbestand, dass das

47 Wozu noch Philosophie, GS 10.2, S. 466. 48 Anders Bartonek führte eine sehr lehrreiche Unterscheidung in die Auslegung des Begriffs der Nichtidentität und des Nichtidentischen ein. In seiner Antwort auf die Debatten in den 80er Jahren (insbesondere zwischen Ute Guzzoni und Anke Thyen), ob die Nichtidentität bzw. das Nichtidentische Adornos auf etwas Objektives hinweist oder allein als ein Grenzbegriff der Identität benutzt werden soll, nimmt er beide Positionen auf und unterscheidet die Nichtidentität und das Nichtidentische. Für ihn bezieht sich die Nichtidentität auf »die Grenze des Begriffs«, die Kategorie und die Relativität, während das Nichtidentische auf »etwas Reales und Sachhaltiges, das nicht unter der Allgemeinheit des Begriffs subsumiert werden kann«, hinweist (Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, S. 59.). In der Tat benutzt

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Nichtidentische keineswegs als ein positiver Begriff zu verstehen ist. »Unmittelbar ist das Nichtidentische nicht als seinerseits Positives zu gewinnen und auch nicht durch Negation des Negativen.« (ND, 161) Dies bedeutet, dass das Nichtidentische als Negatives immer auf den falschen Zustand (im Identifikationsprinzip) hinweist. »Im unversöhnten Stand wird Nichtidentität als Negatives erfahren.« (ND, 41) Guzzoni erklärt diesen negativen Charakterzug des Begriffs der Nichtidentität derart präzise: »Der Gegenentwurf der Nicht-Identität kann sich allein aus seiner Kritik – aus der Negativität des Kritisierten und dem dabei freiwerdenden Blick auf ein Anderes – ergeben und also auch rechtfertigen. [...] Die Nicht-Identität ist für sich kein eigenes positives Thema«. 49

Das Nichtidentische ist keine an sich positive und positiv anzuerkennende Differenz, die beispielsweise bei Deleuze50 der Fall ist. Vielmehr weist es lediglich auf das negativ Seiende hin: Es wird im Identitätszwang als Negatives erfahren und lässt sich aus diesem Grund nicht zur Identität integrieren, sondern es ist etwas Fremdes, Heterogenes und etwas, das der harmonischen Totalität eine Spalte antut, das »divergent, dissonant, negativ« (ND, 17) ist. Das Nichtidentische ist die bestimmte Negation der Identität und eine negative Kraft, über das Identifikationsprinzip dadurch hinauszugehen, durch sein Dasein es ans Licht zu bringen, dass das absolute Identitätsprinzip grundsätzlich nicht bestehen kann, insofern die Identität eigentlich nur im Verhältnis zur Nichtidentität erst konstituiert werden kann. Diese Hinsicht wird in der Berücksichtigung der politischen Herrschaft des Identifikationsprinzips dann zur Einsicht in die Lücke des Identifikationsprinzips führen, was wir im nächsten Kapitel konstatieren werden.

Adorno den Ausdruck »das Nichtidentische« als etwas objektiv Seiendes, wie in folgendem Satz: »Objekt wäre einmal das Nichtidentische, befreit vom subjektiven Bann und zu greifen durch dessen Selbstkritik hindurch« (Zu Subjekt und Objekt, GS 10.2, 752.) Im Gegensatz dazu bezieht sich die »Nichtidentität« in demjenigen Satz auf die begriffliche Kategorie für die Begrenztheit sowie Bedingtheit der Identität: »Die Kategorie der Nichtidentität gehorcht noch dem Maß von Identität. Emanzipiert von solchem Maß, zeigen die nichtidentischen Momente sich als materiell, oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem.« (ND, 193) 49 Guzzoni, Ute: Identität oder nicht. Zur Kritischen Theorie der Ontologie, S. 237. 50 Vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München, 2007.

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c. Vollbrachte Identität Für Adorno besteht das grundsätzliche Problem des Identifikationsprinzip, wie wir oben dahinter kamen, darin, dass sich die wirkliche Identität in diesem Prinzip nicht erfüllt. Das Identifikationsprinzip ist keine Erfüllung, sondern die Nichterfüllung der Identität, und das ist eben der Selbstwiderspruch des Identifikationsprinzips. Durch seine Verweigerung des Identifikationsprinzips in diesem selbst zeigt das Nichtidentische den inneren Widerspruch der Identität auf. Man kann dies in zweierlei Hinsichten auffassen. Auf der einen Seite erscheint die Identität im Tauschprinzip nicht als die Gleichheit, sondern als Ungleichheit. Die Gleichheit, die das moderne Tauschprinzip im Namen des gerechten Tausches verspricht, wandelt sich in die Ungleichheit um, nicht wegen einer äußerlichen Störung, sondern aufgrund ihres inneren Prinzips selbst; im Äquivalententausch kommt der Mehrwert vor, wobei die eigentliche Verheißung der Gleichheit in der Realität nicht erfüllt wird und daher als eine bloße Lüge auftritt. Eben dieser Mechanismus zeigt sich als die »Lüge der Gleichheit« (LGF, 238). Auf der anderen Seite bleibt, wie vorhin hingewiesen worden ist, im Identitätszwang selbst das Nichtidentische, und auch wenn er es auszutreiben versucht, verschwindet diese Andersheit der Identität aus diesem Grund nicht. Damit bleibt die Identität im Identitätszwang nicht als sich selbst identisch, vielmehr wird gezeigt, dass die Identität selbst auf ihr Anderes, ihr Äußerliches im Innen angewiesen ist, damit sie sich selbst gegenüber identisch wird. Hiermit wird die Identität abermals nicht erfüllt. Dieser Nachweis der Unmöglichkeit der Identität im Identifikationsprinzip führt dennoch nicht zur Forderung nach Verzicht auf die Identität selbst. Gezeigt wird vielmehr, dass die wahre Erfüllung der Identität nur durch die Überwindung des Identifikationsprinzips selbst möglich ist. Das Identifikationsprinzip wird zuerst nicht anders als in eben dem Maßstab der Identität selbst kritisiert. »Dialektik bedeutet objektiv, den Identitätszwang durch die in ihm aufgespeicherte, in seinen Vergegenständlichungen geronnene Energie zu brechen.« (ND, 159) Je mehr das Identifikationsprinzip sich an die Identität annähert, desto mehr entfernt sich es von dieser. Aus diesem Grund zielt die »Dialektik der Nichtidentität« und die Kritik des Identifikationsprinzips nicht auf die Auflösung der Identität, sondern auf ihre qualitative Veränderung. »Durch ihre Kritik verschwindet Identität nicht; sie verändert sich qualitativ.« (ND, 152) Wie Adorno in seiner Vorlesung im Jahr 1964/65 darstellte, muss »die vollbrachte Identität, also die Abschaffung der Antagonismen« in diesem Zusammenhang nicht als

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»die Identifikation von allem unter einem Totalen, einem Begriff, einer integralen Gesellschaft«, sondern als »das Bewußtsein der Nichtidentität oder [...] die Herstellung einer versöhnten Nichtidentität« (LGF, 82) verstanden werden. Die vollbrachte Identität ist daher sein Versöhnungszustand mit der Nichtidentität und braucht die Transzendierung des Identifikationsprinzips für die Identität selbst. Anders Bartonek erkannte diese dialektische Beziehung von Identität und Nichtidentität und drückte den Wahrheitsgehalt der Identität für Adorno zu Recht aus: »Trotz seiner Kritik gegen sie verspricht die Identität für Adorno eine Verwirklichung des Utopischen, wodurch das Individuum, als verschieden, wirklich eine positive Identität entwickeln könnte.«51 Dieser Ausdruck der »vollbrachten Identität« in seiner Vorlesung von 1964/65 schließt sich auch an einer anderen Stelle in der Negativen Dialektik an den Ausdruck der »rationale[n] Identität« an: »Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus.« (ND, 150) Bereits in den Drei Studien zu Hegel erwähnt er das »Wahrheitsmoment noch jener [hegelscher – S. H.] Identitätsthese« (DSH, 285). Hier kritisiert er »das absolut beziehungslose Denken« (höchstwahrscheinlich mit Bezugnahme auf den subjektiven Idealismus und auch im gewissen Sinne auf den Positivismus) als das Bewusstsein des Schizophrenen, weil es Subjekt und Objekt trennt, in diesem Sinne außerdem auch als Narzissmus. Die hegelsche Philosophie entkommt ihm zufolge diesem Narzissmus, indem sie nicht auf die traditionell metaphysische Weise an der adaequatio von Subjekt und Objekt festhält, sondern ihre Affinität zu begreifen versucht. »Der Hegelsche spekulative Begriff errettet die Mimesis durch die Besinnung des Geistes auf sich selbst: Wahrheit ist nicht adaequatio sondern Affinität, und am untergehenden Idealismus wird, durch Hegel, dies Eingedenken der Vernunft an ihr mimetisches Wesen als ihr Menschenrecht offenbar.« (DSH, 285)

Durch dieses »Eingedenken der Vernunft an ihr mimetisches Wesen« nähert sich Hegel Adorno zufolge an den Begriff des mimetischen Impulses als wirklicher Identität an – allerdings kritisiert Adorno Hegel dahingehend, dass im philosophischen System Hegels letzten Endes das Identitätsprinzip trotz jenes Wahrheitsmoments der Identitätsthese gegenüber dem Nichtidentischen triumphiert. Hier lässt sich nunmehr eindeutig dessen innewerden, was das »Wahrheitsmo-

51 Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, S. 199.

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ment noch jener Identitätsthese« oder die »vollbrachte« sowie »rationale Identität« bei Adorno bedeutet. Adorno hält die Affinität, die Mimesis für das wahre Moment für die vollbrachte Identität, denn ohne diese Affinität zwischen Subjekt und Objekt sind die Erkenntnis, die Wahrheit sowie die Vernunft ganz und gar unmöglich. Die Affinität, die Mimesis ist die Identität ohne das Identifikationsprinzip, wobei keine Andersheit des erkennenden Subjektes ausgeschlossen wird, sondern die Identität in einer anderen Konstellation als im Identifikationsprinzip mit ihrem Nichtidentischen versöhnt wird. Die vollbrachte Identität ist aber nicht als die Rückkehr zur vor der SubjektObjekt-Unterscheidung liegenden, ursprünglichen und vorsprachlichen Identität bzw. archaischen Mimesis zu verstehen. Diese romantische Vorstellung der Rückkehr zum Naturzustand besitzt ihrerseits eine irrationale Auffassung der vormodernen Utopie, was Adorno ohne Zweifel für verwirrt hält. Die »vollbrachte« Identität ist vielmehr auch die »rationale« Identität. Die negative Dialektik Adornos lässt sich in diesem Sinne, wie Günter Figal zutreffend darstellte, als »die Dialektik einer offenen Identität«52 verstehen, die nicht im archaischen und ursprünglichen Sinne als unmittelbare Einheit, sondern als Prozess zur Versöhnung mit dem Nichtidentischen in einer Konstellation charakterisiert wird. Nun lässt sich in Bezug auf die Anwendung der Kategorien der negativen Dialektik auf die reale, gesellschaftliche und politische Ebene die Bedeutung der vollbrachten Identität näher beleuchten – die mimetische und solidarische Beziehung des Menschen ohne den Herrschaftszwang des Identifikationsprinzips. Auf diese Weise übt »das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität« im demselben Maß der Identität selbst die Kritik am Identitätsprinzip. Hier fasse ich die gesellschaftstheoretischen Ansätze der Kritik des Identifikationsprinzips wie folgt zusammen: (1) Identifikationsprinzip und die Einheitlichkeit der Herrschaft Das Identifikationsprinzip wird als Herrschaftsprinzip festgestellt. Soziale Herrschaft versucht immer eine Einheitlichkeit in einer Gesellschaft herauszubilden. Das moderne Herrschaftsprinzip charakterisiert sich durch die Schaffung der Identität.

52 Figal, Günter: Über das Nichtidentische zur Dialektik Theodor W. Adornos, in: ders./Ette, Wolfram/Klein, Richard/Peters, Günter (Hg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg/München, 2005, S. 22.

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(2) Das Nichtidentische und das Scheitern der herrschaftlichen Einheit Das Identifikationsprinzip stößt auf den Widerspruch, dass es in sich auf das Nichtidentische als sein Anderes angewiesen ist. Die herrschaftliche Einheit versucht, das Anderes unter sich zu subsumieren, doch zeigt dies wiederum, dass sie umgekehrt auf es angewiesen ist. Ohne das Außen im Innen ist die Einheit des Innen unmöglich. Dies bedeutet, dass die Einheit des Innen das Außen in diesem voraussetzt und sie dann in diesem Sinne keine Einheit mehr ist. Die Einheitlichkeit der Herrschaft scheitert eben im Augenblick ihres Gelingens. (3) Die Nichtidentität und die Ausgrenzung Das Identifikationsprinzip zeigt die Logik der gesellschaftlichen Ausgrenzung auf, in der die Vielfalt der Einzelnen eben um deren willen unterdrückt wird. Die durchs gesellschaftliche Identifikationsprinzip Ausgeschlossenen lassen sich als das Nichtidentische, als das Subjekt des Leidens definieren. (4) Vollbrachte Identität als Versöhnungszustand Die herrschaftslose Konstellation der Eigentümlichkeiten aller Menschen, die durch die vollbrachte, rationale Identität als mimetische Verhaltensweise erreicht wird, wird als eine Skizze des alternativen Versöhnungszustandes aufgezeichnet. Wir stellen weiterhin in Bezug auf die Kritik des Identitätsprinzips nun Adornos eigentliche kritische Methode fest, die er von der dialektischen Tradition seit Hegel und Marx übernimmt – die immanente Kritik.

2.3 K RITISCHES V ERFAHREN : N EGATIVITÄT UND IMMANENTE K RITIK Adorno setzt die Philosophie wesentlich mit der Kritik gleich. Er stellte in einem Vortrag für den Hessischen Rundfunk dar, dass die gesamte Geschichte der Philosophie eine Geschichte der Kritik war und in dieser Geschichte der Philosophie ein jeweiliges Wahrheitsmoment von verschiedenen Philosophen auch nur in Formen der Kritik erscheint: »Jene Denker hatten in Kritik die eigene Wahr-

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heit«53. Die Aktualität der Philosophie leitet sich aus diesem Grund nach wie vor aus dem Bedarf nach der Kritik des Bestehenden her. »Ist Philosophie noch nötig, dann wie von je als Kritik, als Widerstand gegen die sich ausbreitende Heteronomie«.54 Die Methode dieser kritischen Ausführung der Philosophie ist für Adorno die immanente Kritik, die von ihm eben als die dialektische kritische Methode betrachtet wird: »Dialektik ist kein dritter Standpunkt sondern der Versuch, durch immanente Kritik philosophische Standpunkte über sich und über die Willkür des Standpunktdenkens hinauszubringen.«55 Bei dieser Formulierung der immanenten Kritik spielte die hegelsche Konzeption der kritischen Methode eine große Rolle. Die immanente Kritik als Methode ist ein entscheidendes Erbe der hegelschen Dialektik. Hegel brachte seine Idee vom wahren kritischen Verfahren wie folgt in seiner Begriffslogik zum Ausdruck: »Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht. « (WL II, 250)

Das Prinzip der immanenten Kritik, dass sie keinen Maßstab als den des kritisierten Gegenstandes haben soll, und dass die kritische Ausführung selbst daher diesen Maßstab der Kritik konstituiert, wird aber eben wegen ihres »immanenten« Prinzips vielen Missverständnissen ausgesetzt. Hauke Brunkhorst z. B. pointiert eine aporetische Situation der Konzeption der immanenten Kritik bei Adorno dahingehend, dass sie einerseits unkritisch sei, weil sie den Begriff der Vernunft als ihren normativen Maßstab nicht begründen könne, und dass sie auf der anderen Seite nicht immanent sei, weil sie Elemente des Positiven innerhalb der Wirklichkeit nicht finden könne und das Ganze bei ihm das Unwahre sei. Diese Aporie nennt er den »Grundwiderspruch im Denken Adornos«56, wobei das schädliche Erbe der kritischen Radikalität im »Hegelmarxismus« bei ihm eine große Rolle spielte und daraus eine nicht gerechtfertigte Konsequenz gezogen wurde: »das Bestehende als durchgängig negative Totalität«57 aufzufassen.

53 Wozu noch Philosophie, GS 10.2, S. 462. 54 A.a.O., S. 464. 55 A.a.O., S. 467. 56 Brunkhorst, Hauke: Mehr als eine Flaschenpost. Kritische Theorie und Sozialwissenschaften, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 314. 57 A.a.O., S. 315.

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Dennoch war das Erbe des »Hegelmarxismus« bei Adorno meiner Ansicht nach produktiv in dem Sinne, dass aufgrund der Radikalität der immanenten Kritik bei Adorno nicht der Maßstab der Kritik verloren, sondern eben durch diese Radikalität die immanente Kritik mit der Idee der Transzendenz der Kritik in Verbindung gebracht wird. Das Erbe des »Hegelmarxismus« im kritischen Verfahren ist eine Konsequenz seines Bruchs mit der traditionellen Philosophie, die die unmittelbare Übereinstimmung zwischen Begriff und Objekt beteuert, indem er dagegen die Nichtübereinstimmung zwischen Begriff und Realität supponiert, und davon die Inkonsequenz zwischen den bestehenden Verhältnissen und ihrem eigenen Ideal abgeleitet wird. Wie Michael Theunissen zu Recht ausdrückte, ist sowohl bei Hegel als auch bei Marx »die Entsprechung von Begriff und Realität zugleich Nichtentsprechung«.58 Wenn sich aber bei diesem immanent kritischen Verfahren abzeichnet, dass diese Inkonsequenz eine notwendige Konsequenz aufgrund des Widerspruchs der bestehenden Gesellschaft ist, dann entwickelt sich diese immanente Kritik zur neuen Forderung nach der Transformation sowie Transzendenz des bestehenden Zustandes der Welt. Der junge Marx erkannte diese logische Konsequenz der immanenten Kritik und stellte dies kurz und treffend dar: »Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien.« (MEW 1, 345)

Die Kritik, die von Marx betrieben wird, ist immanent in dem Sinne, dass sie »aus den Prinzipien der Welt« selbst gezogen wird, gleichzeitig aber transzendent in dem Sinne, dass damit »neue Prinzipien« gefordert werden. Das kritische Verfahren, das sich von der immanenten Kritik her zur Transzendenz des kritisierten Gegenstandes erhob, nenne ich die immanente Selbsttranszendenz. Die Kritik der politischen Ökonomie des reifen Marx versteht Adorno auch im doppelten Sinne als immanente Kritik, da sie einerseits die logischen Widersprüche der Kategorien der politischen Ökonomie, andererseits die Unstimmigkeit zwischen den normativen Idealen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Realität aufzeigt. Dabei werden die Widersprüche in den logischen Bestimmungen als Grund für die Diskrepanz zwischen Normen und Realität angeführt. Indem Marx die bürgerliche Ökonomie einer immanenten Kritik unterzieht, ver-

58 Theunissen, Michael: Krise der Macht. Thesen zur Theorie des dialektischen Widerspruchs, in: W. R. Beyer (Hg.): Hegel-Jahrbuch 1974, Köln, 1975, S. 328.

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meidet er die vorschnelle und unmittelbare Proklamation des endgültig wahren und idealen gesellschaftlichen Zustands: »Der dialektische Weg ist nun immer der der immanenten Kritik, das heißt, es darf [...] nicht etwa an die Sache ein ihr äußerliches Kriterium herangebracht werden, keine ›Versicherung‹ und kein ›bloßer Einfall‹, sondern sie muß, um zu sich selber zu kommen, an sich, an ihrem eigenen Begriff gemessen werden. Wenn etwa Marx [...] Kritik übt an der kapitalistischen Gesellschaft, dann kann das bei Marx niemals geschehen, indem er ihr eine sogenannte ideale, etwa sozialistische Gesellschaft gegenüberhält. Das ist bei Marx an allen Stellen sorgfältig vermieden, genauso wie Hegel niemals an irgendeiner Stelle sich dazu hergegeben hat, die Utopie oder die verwirklichte Idee als solche auszumalen. Darüber herrscht in beiden Versionen der Dialektik ein schweres Tabu.« (ED, 51)

Die dialektische Pointe dieser kritischen Methode, die laut Adorno von Marx erkannt wird, liegt darin, dass der Äquivalententausch, der auf der Gleichheit der Tauschwerte beruht, durch sein Resultat selbst negiert wird und auf die Ungleichheit der Klassen umschlägt, indem der Wert der Arbeitskräfte nur einen Teil der gesamten Wertsumme darstellt, die von den Arbeitskräften produziert wird. Die Totalität der Äquivalente des Tauschwerts ist eine negative Totalität, die die Ungleichheit, den Unäquivalententausch zwischen dem durch die Arbeitskräfte hergestellten Wert und dem Wert der Arbeitskräfte sowie den daraus folgenden Antagonismus enthält. Es ist eine immanente Kritik, die aus diesem Widerspruch des Äquivalententausches seinen Umschlag auf sein Entgegengesetztes aufzeigt und dadurch die Unwahrheit des Äquivalententausches aufdeckt. Das war ein großer Fortschritt der kritischen Methode bei Marx, die er von Hegel übernommen hat und an die nun Adorno sich anschließen will: »Das ist die entscheidende Wendung bei Marx, daß er nicht einfach wie irgendein primitiver Sozialist oder ein primitiver Anarchist, der der bürgerlichen Gesellschaft widersteht, sagt: Das ist alles nicht wahr. Sondern er sagt: Wir wollen, um überhaupt diesen ungeheuren Apparat zu verhindern, ihn aus seiner eigenen Kraft heraus in Bewegung setzen. So hat schon Hegel an einer Stelle der subjektiven Logik formuliert, daß es die Aufgabe der Dialektik sei, die Kraft des Gegners in die eigene Argumentation hineinzunehmen und gegen ihn zu wenden. Dieses Hegelsche Prinzip ist von Marx außerordentlich beherzigt und außerordentlich ernst genommen worden. Anstatt den Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft, Harmonie zu leisten, einfach zu verwerfen, nimmt er ihn ganz ernst und fragt: Ist die Gesellschaft, die ihr lehrt, wirklich identisch mit ihrem Begriff? Entspricht eurer Welt des freien und gerechten Tausches wirklich, wir ihr behauptet, eine freie und gerechte Gesellschaft? Er bleibt auch darin dem Prinzip der Dialektik treu, daß er sagt, sie ist es und

114 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT sie ist es nicht. Er zeigt, daß die Äquivalente wirklich getauscht werden, daß es aber an einer entscheidenden Stelle, nämlich wo es sich um die Ware Arbeitskraft handelt, indem es mit rechten Dingen zugeht, zugleich nicht mit rechten Dingen zugeht.« (PT 2. 261 f.)

Die kritische Idee der Selbsttranszendenz, das Gekoppeltsein der immanenten Kritik mit der Idee der Transzendenz werde ich nun in der negativen Dialektik Adornos zu finden versuchen.

2.3.1 Immanenz der Kritik »Legitim ist das immanent Argumentative, wo es die zum System integrierte Wirklichkeit rezipiert, um wider sie ihre eigene Kraft aufzubieten.« (ND, 40) Die immanente Kritik ist eine Kraft der Kritik, die Wirklichkeit mit ihrer eigenen Kraft selbst zu überwinden. Es muss erstens ein solches Verfahren sein, den Widerspruch dadurch zu entdecken, die eigene Bewegung des Gegenstandes aufzuspüren. Zweitens ist die Notwendigkeit dieses Widerspruchs zu beweisen, indem die Geltung des Gegenstandes in ihrer Genese aufgefasst wird. Wenn diese Notwendigkeit bewiesen ist, dann muss die Kritik drittens zur den Gegenstand transzendierenden Konsequenz führen. Die konstitutive Negativität, die ich in der negativen Dialektik Adornos zu finden versuche, bezieht sich auf die neue Rekonstruktion des kritischen Gegenstandes durch die kritische Tätigkeit als die Negativität. a. Bestimmte Negation als Methode »Der Nerv der Dialektik als Methode ist die bestimmte Negation.« (DSH, 318) Im Kern der immanenten Kritik findet sich die bestimmte Negation als die produktive Negativität. Omnis determinatio est negatio. Alle Bestimmtheit ist gleichzeitig die Negation und ebenso umgekehrt. Erstens wird ein Gegenstand nur in einem äußerlichen Verhältnis zum Anderen bestimmt. Die Bestimmung des Gegenstandes erhält ihre Geltung solchermaßen allein im Verhältnis zum Anderen. Zweitens wird der Gegenstand durch die in sich enthaltene innerliche Negativität nicht als standfest, sondern als ein an sich Widersprüchliches bestimmt. Dass die Bestimmung des Gegenstandes auf sein äußerlich Anderes angewiesen ist, bedeutet, dass diese Bestimmung nicht selbstständig vollbracht werden kann, und dies führt dazu, dass in der Bestimmung des Gegenstandes eine entgegengesetzte solche enthalten ist, die seiner eigentlichen Identität widerspricht. Schließlich lässt sich ein Gegenstand erst nur im äußerlich negativen

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Verhältnis zum Anderen ebenso wie im innerlich negativen zu sich selbst als ein selbstständiges Wesen bestimmen. In diesem Fall aber fügt die Bestimmung des Gegenstandes diesem einen neuen Inhalt jenseits der Tautologie A=A hinzu, denn es kommt hierbei zur neuen Bestimmung als dem Negativen: A=~(~A). Die bestimmte Negation, die einen Gegenstand durch dessen Negation bestimmt und zugleich durch dessen Bestimmung negiert, also die bestimmende Negativität, ist die essentielle Methode der negativen Dialektik Adornos, die er ursprünglich von Hegel übernahm.59 Sie versteht sich als ein Prozess, in dem ein Gegenstand als ein Wesen bestimmt und zugleich die Selbstgleichheit eines festen und unbeweglichen Seins entzweit und damit dekonstruiert wird. Dieser entzweiende und dekonstruierende Prozess ist aber auch ein dadurch die Bestimmung des Gegenstandes selbst konstituierender. Indem der Gegenstand in dieser Weise dekonstruiert und damit sein Selbstwiderspruch aufgedeckt wird, indem also immanente Mängel seines Prinzips erhellt werden, kann nunmehr der Gegenstand zum reflexiven Verhalten mit diesen Mängeln übergehen. Die negative Selbstbeziehung jedes Dinges auf sein Anderes ist der Grund dafür, dass es wegen seines immanenten Widerspruchs der immanenten Kritik ausgesetzt werden kann. Hierbei zeigt sich die Möglichkeit der bestimmten Negation, als eine kritische Methode zu funktionieren, und ferner die positive Funktion dieser negativen Kritik. Solange im Begriff der bestimmten Negation impliziert ist, dass die Negation zugleich eine bestimmende Wirkung ist und daher die Negation und die Bestimmung nicht voneinander trennbar sind, impliziert die immanente Kritik auch, dass Kritik und Lösung überhaupt nicht voneinander zu trennen sind60: Die Lösung eines Problems tritt nicht von außen hinzu, sondern wird eben durch die Kritik selbst konstruiert. In diesem Sinne ist die Kritik ebenso eine bestimmende produktive Negativität. Die bestimmte Negation und die immanente Kritik kommen aus diesem Grund bei Adorno zweifellos überein: »es geht um die bestimmte Negation, d. h. die immanente Kritik die den Begriff mit seinem Gegenstand und umgekehrt konfrontiert.« (VND, S.40) Sowohl in jener als auch in dieser wird keine unmit-

59 Die Wichtigkeit der bestimmten Negation in der Herausbildung seiner eigenen dialek tischen Philosophie gesteht Adorno derart ein: »Die wirklich entscheidenden Fragen der Metaphysik können tatsächlich nur negativ beantwortet werden. Eine bestimmte Negation der hegelschen Position wäre das Optimum einer theoretischen Wahrheit, die ich mir vorstellen kann.« (Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 489). 60 Zur Logik der Sozialwissenschaft, GS 8, S. 556

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telbare Vorstellung einer transzendenten Existenz des jenseitigen Zustandes erlaubt, sondern allein der immanente Zugang zum Gegenstand im bestimmten und vorhandenen Zustand. Keine Transzendenz ohne Immanenz. »Dialektik ist das Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nicht bereits diesem entronnen. Aus ihm von innen her auszubrechen, ist objektiv ihr Ziel.« (ND, 398) Nur »aus ihm von innen her« kann das dialektische Denken den Kreis der herrschaftlichen Struktur transzendieren. b. Modell der immanenten Kritik des Idealismus In der Negativen Dialektik versucht Adorno, den Idealismus der immanenten Kritik zu unterziehen. Diese Kritik hat zumeist den subjektiven Idealismus – die konstitutive Subjektivität und die Selbstständigkeit des Geistes – im Visier, deren maßgeblicher Punkt zielt daher auf den Selbstwiderspruch des subjektiven Identitätsprinzips ab. Sie ist eine Rückgabe jenes Motives der bestimmten Negation, das zugleich im hegelschen Sinne die Selbstreflexion des Geistes bedeutet, an den subjektiven Idealismus selbst, der die Absolutheit des Geistes als Causa sui in den Vordergrund stellt, was bedeutet, ihm »dem Wort von Marx zufolge, seine ›eigene Melodie‹ vorzuspielen« (ND, 183). Dieses Motiv der immanenten Kritik spiegelt sich etwa in dem Ausdruck »über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen« (ND, 27) richtig wieder. Adornos Kritik des Begriffs negiert die spekulative Kraft des Begriffs nicht abstrakt, sondern lässt die kritische Kraft des Begriffs, die ihm selbst innewohnt, nach ihm selbst richten, d. h., sie ist eine Rückgabe der Methode des begrifflichen Denkens, einen Gegenstand nicht als ein Unmittelbares, sondern als Vermitteltes zu sehen, an den Begriff selbst: Nunmehr versteht sich der Begriff auch als durch das Nichtbegriffliche vermittelt. Auf diese immanente Weise kritisiert Adorno zwar den subjektiven Idealismus, das Identitätsprinzip und die Autarkie des Begriffs; das Ziel dieser Kritik besteht aber darin, die Versöhnung mit dem Nichtidentischen jenseits des Identitätszwangs kraft des Begriffs und des Subjektes selbst zu erfüllen. »Dialektisches Denken ist der Versuch, den Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen.« (MM, 171) Um diesen »idealistischen Bannkreis« (ND, 149) zu überschreiten, muss die Kritik dem Prinzip des Idealismus selbst folgen und so dieses Prinzip immanent zerfallen. Infolgedessen muss der Gegenstand der Kritik immer daran gemessen werden, wie weit er seinem objektiven Anspruch gerecht wird. Die immanente Kritik des Idealismus in der Negativen Dialektik lässt sich nun wie folgt formulieren:

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Argumentatives Ideal des Idealismus: das Erkennen alles Bestehenden auf der Welt. Das Subjekt ist dabei die Quelle aller Erkenntnis und nur durch dieses wird die Welt begreifbar. Das Subjekt konstituiert seinem eigenen Identitätsprinzip gemäß die Einheit der objektiven Welt. • Bestimmte Negation: Zur Bestimmung der Identität ist es erforderlich, was außerhalb der Identität steht, also das Nichtidentische. Das Identitätsprinzip bedeutet, Dinge nach ihrer Gleichheit zu klassifizieren, die Gleichen dem Identischen zuzuordnen, die anderen nicht. Unter diesem Prinzip der Klassifizierung nach der Identität aber steckt bereits die Angewiesenheit des Identischen auf sein eigenes Nichtidentische, denn die Identität wird seinem Inhalt nach durch das Verhältnis zu seinem Nichtidentischen bestimmt. Wenn es das Nichtidentische nicht gibt, gibt es die Identität auch nicht. • Immanente Kritik: Diese Angewiesenheit der Identität auf seine Andersheit, das Nichtidentische ist die Lücke der Erkenntnis, die der Idealismus nicht sehen will. Weil der Idealismus nach seinem abstrakten Prinzip alle Gegenstände der Erkenntnis und sogar das Subjekt selbst auf die Identität zurückführt, gelingt ihm das Ideal der Erkenntnis gar nicht. Es bleiben noch die nicht auf die Identität zurückzuführenden Reste, die den Abstraktionsprozess der Begriffe ablehnen und der Gleichsetzung des erkennenden Subjektes widersprechen. Deswegen ist der Anspruch des Idealismus auf die Absolutheit der Erkenntnis nicht zu erreichen. • Transzendentes Resultat: Der Anspruch des Idealismus, alle Objekte nach seinem Identitätsprinzip zu erkennen und mit abstrakten Begriffen ein absolutes metaphysisches System aufzustellen, ist eine Anmaßung der Vernunft. Durch die Selbstreflexion der Vernunft kann der Bereich der Erkenntnis vielmehr bis hin zum Nichtidentischen und Nichtbegrifflichen erweitert werden. Dadurch wird die falsche Annahme der Autarkie des Denkens und des konstitutiven Subjektes zerstört. Die Selbstreflexion des Denkens wird gleichzeitig zu seiner Selbsttranszendenz. 61 •

Die immanente Kritik des Idealismus bei Adorno will den Idealismus nicht ausmustern und annullieren, insofern dieser sein bestimmtes Wahrheitsmoment –

61 Martin Seel findet in der Negativen Dialektik vier Modelle des »Jenseits des identifizierenden Denkens«: Das Modell des Namens, der Interpretation von Kunstwerken, der Sprache und des Freiheitsbegriffs. Vgl. Seel, Martin: Negative Dialektik. Begriff und Kategorien II: Adornos Analyse des Gebrauchs von Begriffen, in: Honneth, Axel/Menke, Christoph (Hg.): Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, Klassiker Auslegen Bd. 23, Berlin, 2006, S. 71-87.

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die Idee der Autonomie des Geistes – in sich behält, das eher durch die Kritik selbst zu verteidigen ist. »Immanente Kritik des Idealismus verteidigt den Idealismus, insofern sie zeigt, wie sehr er um sich selber betrogen wird« (ND, 40). Die immanente Kritik bei Adorno geht nicht von der Ablehnung, sondern von der Anerkennung des Idealismus aus. Der kritische Punkt besteht dann darin, dass dieses Wahrheitsmoment des Idealismus nicht in seinem Identitätsprinzip, sondern in einer alternativen Denkweise, in der Dialektik der Nichtidentität jenseits des Identitätsprinzips verwirklicht werden kann. Der Grund besteht vor allem darin, dass erstens unter dem Identitätsprinzip nicht nur das Objekt, sondern das Subjekt selbst auf die Identität reduziert wird, und dies dann die Abhängigkeit des Subjektes von seinem Identitätsprinzip, also eine Selbstunterwerfung bedeutet, zweitens das Subjekt darum die Versöhnung mit dem Objekt nicht erfüllen kann und insofern in dem subjektiven Gefängnis von sich aus festgenommen wird, denn das Objekt wird von seiner Nichtidentität abstrahiert und darum nicht vollständig erkannt. Auf diese Weise übernahm Adorno die Methode der immanenten Kritik von Hegel, in der die Wahrheit eines Gegenstandes als durch seine Transzendenz (Erhöhung) verwirklichbar bestimmt wird, und wendete sie dann auf das subjektzentristische Identitätsprinzip der Philosophie der Neuzeit selbst an. Wir stellen nunmehr fest, wie aus diesem Modell der Kritik der »Philosophie« der Neuzeit eine Methode der Kritik der gesellschaftlichen »Normen« der Moderne abgeleitet wird. c. Immanente Kritik der gesellschaftlichen Normen Eine Gesellschaft wird bei Adorno auch nach dem Prinzip der immanenten Kritik daran gemessen, wie weit sie ihrem objektiven normativen Anspruch gerecht wird. Keine Gesellschaft kann sich ohne ihre normativen Ansprüche erhalten, insofern sie die Bewilligung ihrer Mitglieder für notwendig für ihre Reproduktion hält. Von daher ist es der Ausgangspunkt der immanenten Kritik der Gesellschaft, zu überprüfen, ob die bereits vorhandenen Normen in der gesellschaftlichen Realität tatsächlich verkörpert werden. Rahel Jaeggi unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Varianten der kritischen Methode, die gemeinsam von der Unstimmigkeit zwischen Ideal und Realität der bestehenden gesellschaftlichen Normen ausgehen.62 Die »interne Kritik« versteht sich als einen Versuch zur Vervollständigung einer bestimmten normativen Ordnung der bestehenden

62 Jaeggi, Rahel: Was ist Ideologiekritik?, in: dies./Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt/M, 2009, S. 285-288.

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Gesellschaft. Als ihr Beispiel nennt Jaeggi das Modell des Oliver-Stone-Patriotismus, also eine in seinen Filmen ausgedrückte Sehnsucht nach den in der verkommenen politischen Wirklichkeit verlorengegangenen Idealen von Amerika. Dagegen bezieht sich die »immanente Kritik« als Ideologiekritik auf Forderung nach der Transformation der gegebenen gesellschaftlichen Struktur selbst, indem sie zeigt, dass die Deformation der bestehenden Normen auf der inneren Widersprüchlichkeit der Gesellschaft selbst beruht. Verändert werden müssen aber nicht nur die objektive Struktur der Gesellschaft, sondern auch die Normen selbst, insofern sie einen widersprüchlichen Zustand der bestehenden Gesellschaft reflektieren. Dieser dynamischen Darstellung des Begriffs der immanenten Kritik entspricht Adornos immanent kritischer Zugang zur Normativität der modernen bürgerlichen Gesellschaft – nämlich Freiheit und Gleichheit. Adorno bestimmt diese Normen ebensowie bei Marx als politische Ausdrücke der kapitalistischen Produktionsweise, in der der Warenaustausch herrscht. Für Marx ist die politische Gleichheit der Ausdruck des in Gleichheit stattfindenden Verhältnisses der Austauscher als Subjekte im Tauschverhältnis, d. h., der Ausdruck der in der Produktion der Waren verausgabten qualitativen Gleichheit. »Jedes der Subjekte ist ein Austauschender; d. h. jedes hat dieselbe gesellschaftliche Beziehung zu dem andren, die das andre zu ihm hat. Als Subjekte des Austauschs ist ihre Be ziehung daher die der Gleichheit. Es ist unmöglich irgendeinen Unterschied oder gar Gegensatz unter ihnen auszuspüren, nicht einmal eine Verschiedenheit.« (MEGA II.1.1, 165)

Ebenfalls bedeutet die Freiheit für ihn eine Ergänzung der abstrakten qualitativen Gleichheit im Tauschverhältnis. Jeder Warenbesitzer besitzt verschiedene Bedürfnisse, die er durch den freiwilligen Austausch zwischen gleichen Personen im Markt zu erfüllen versucht. Die Warenbesitzer stehen einander als freie Individuen gegenüber, sonst setzt sich das Wertgesetz nicht durch. Ohne freie Konkurrenz gäbe es keinen gerechten Warenaustausch, keinen Äquivalententausch. Ebensowie die Gleichheit ist die Freiheit dem Warenaustausch vorausgesetzt. »So weit nun diese natürliche Verschiedenheit der Individuen und der Waaren derselben [...] das Motiv bildet zur Integrirung dieser Individuen, zu ihrer gesellschaftlichen Beziehung als Austauschende, worin sie sich als Gleiche vorausgesetzt sind und bewähren, kömmt zur Bestimmung der Gleichheit noch die der Freiheit hinzu.« (MEGA, II.1.1, 167)

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Die Form des ökonomischen Verhältnisses des Tausches setzt die Gleichheit und der Inhalt des Tausches, also die stoffliche Verschiedenheit die Freiheit. In diesem Sinne ist das Austauschverhältnis die reale Basis der Normen in der modernen demokratischen Gesellschaft. »Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respectirt im Austausch, der auf Tauschwerthen beruht, sondern Austausch von Tauschwerthen ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit.« (MEGA, II.1.1, 168) Damit wird dieser allgemeine Austausch und dadurch die Abhängigkeit aller von allen eine Grundlage des allgemeinen und wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses (allerdings wird in diesem Verhältnis die Beziehung von Mittel und Zweck verkehrt. Die Anderen werden anerkannt nicht als solche, sondern lediglich insofern sie für mich nützlich sind. Ich werde auch anerkannt, wenn ich für die Anderen nützlich bin). Das allgemeine Austauschverhältnis erzeugt einen totalen sozialen Zusammenhang, in dem aber dessen normativen Ideale – Freiheit und Gleichheit – in der Tat zu Unfreiheit und Ungleichheit führen. Der Grund dafür ist nicht, dass diese Normen durch äußerliche Störungen deformiert wurden. Weil die Verwirklichung dieser Normen in der bürgerlichen Gesellschaft dem Verallgemeinerungsprozess des Tauschwertes gleicht, ist sie auch identisch mit der Verwirklichung der Unfreiheit und Ungleichheit. Dieser Widerspruch konstituiert die Grenze der bürgerlichen Gesellschaft. In dieser marxschen Kritik der Normativität der bürgerlichen Gesellschaft wird aber deren positive, zumindest beizubehaltende Seite nicht in den Blick genommen. Im Kapital dienen ihm die politischen Normen der modernen Gesellschaft – Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit sowie Eigentum – nur zum Gespött, insofern sie ideologische Formen der Tauschökonomie sind. »Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham« (MEW 23, 189).

Aus diesem Grund kann man sagen, dass in dieser Kritik am Tauschprinzip bei Marx unklar bleibt, auf welcher normativen Grundlage diese Kritik ihre Geltung besitzen kann: Handelt es sich dabei um die Verwirklichung der »wahren« Freiheit und Gleichheit, oder um deren Abschaffung aufgrund der Tatsache, dass sie bloße Ideologien des kapitalistischen Tauschprinzips sind? In der Erwartung, dass die Veränderung der Basis, also die Abschaffung des Kapitalismus die Veränderung vom Überbau mitschleppen wird, konkretisierte Marx die kritische Zugangsmethode zu den gesellschaftlichen Normen selbst nicht.

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Darum bleibt die Konkretisierung der immanenten Kritik der Normativität der bürgerlichen Gesellschaft, also des Ideals vom gerechten Tausch, eine Aufgabe von Adorno. Wie er den Wahrheitsgehalt des Idealismus zum Maßstab zur Kritik dessen machte und ihm zurückgab, übernimmt er nun die Waffe zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft von dieser selbst.63 Adorno erkennt zwar an, dass die Freiheit und die Gleichheit Ausdrücke der Warenaustauschgesellschaft und daher dem Identifikationsprinzip unterworfen sind, versucht aber, anstatt diese Normen trotz aller Skepsis dagegen voreilig wegzuwerfen, ihr utopisches Potential für die emanzipatorische Praxis zu maximieren. Die kritische Fragestellung wäre dann: Warum wird die Freiheit in einer »freien« Gesellschaft nicht verwirklicht? Warum sind wir in einer »gleichen« Gesellschaft ungleich? Hierin ist Adornos Auffassung der »Ideologie« nachzuschlagen, um die Ambivalenz der gesellschaftlichen Normen zu erklären – obwohl hier allerdings nicht eine solche (traditionell marxistische) Vorstellung akzeptiert wird, dass die gesellschaftlichen Normen bloße Ideologien und darum zu verweigern sind. Adorno lehnt in seinem Beitrag zur Ideologienlehre eben diese Vorstellung ab, indem er das Wahrheitsmoment der Ideologien als gesellschaftlich notwendigen Schein hinsellt. »Sie erheischt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes, den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde, und die ihr Modell am Tausch von Vergleichbarem hat.«64

Von daher behalten die Ideologien ihr rationales Element, und nur insofern ist deren Kritik – gemeint ist damit die immanente – möglich. »Demgemäß ist auch Ideologiekritik, als Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit, nur soweit möglich, wie jene ein rationales Element enthält, an dem die Kritik sich abarbeiten kann.«65 In der normativen Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft steckt bereits eine der Assoziation der freien Individuen, die aber in jener wegen ihres Selbstwiderspruchs nicht verwirklicht werden kann. Aus diesem Grund for-

63 Raymond Geuss argumentierte, dass die Kritik, insbesondere die radikale Kritik eine Tochter des bürgerlichen Zeitalters ist, die aber zugleich als dessen Negation funktioniert. (Geuss, Raymond: Bürgerliche Philosophie und der Begriff der »Kritik«, in: Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt/M, 2009, S. 189.) 64 Beitrag zur Ideologienlehre, GS 8, S. 465. 65 Ebd.

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dert die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und des Tauschprinzips zuerst, dass ihre normativen Ideale verwirklicht werden. »Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch. Hat ihn die kritische Theorie als den von Gleichem und doch Ungleichem enthüllt, so zielt die Kritik der Ungleichheit in der Gleichheit auch auf Gleichheit, bei aller Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das nichts qualitativ Verschiedenes toleriert. « (ND, 150)

Statt eine neue apriorische Norm zu etablieren, bemisst Adorno die bestehenden Normen in einer Perspektive des gesellschaftlichen Übergangs. Wenn die Freiheit und die Gleichheit in der jetzigen Gesellschaft zur Unfreiheit und Ungleichheit führen, so ist es das Verfahren der immanenten Kritik der Normativität der bürgerlichen Gesellschaft, einerseits die Vervollständigung des Wahrheitsmoments dieser Gesellschaft dadurch zu betreiben, nach der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit zu fordern, andererseits daraus die Notwendigkeit des Strukturwandels der Gesellschaft herzuleiten, indem gezeigt wird, dass die Freiheit und Gleichheit in dieser Gesellschaft notwendig nicht verwirklicht werden. Doch lässt sich in diesem Punkt die Frage stellen: Was ist eigentlich die »echte« Freiheit und Gleichheit? Sind die Freiheit und die Gleichheit dann der ewige Maßstab für die richtige Gesellschaft? Mit Adorno kann man darauf wie folgt antworten: Nein. Die Normen selbst werden durch die gesellschaftliche Veränderung verändert. Der kritische Maßstab verändert sich auch durch die kritische Tätigkeit. Man sollte nicht apriorisch feststecken, was der Maßstab in der Gesellschaft jenseits der bestehenden werden soll – hier gilt wiederum das Bilderverbot. »Es darf nichts gedacht, geschrieben, getan und gemacht werden, was über diese Gesellschaft hinausginge, die sich weitgehend durch die Bedürfnisse der ihr Ausgelieferten hindurch an der Macht hält.«66 Wenn wir wie bei Adornos Annahme in einem bestimmten Verblendungszusammenhang leben, müssen unsere Vorstellungen stets durch diesen Zusammenhang begrenzt und verdreht werden. Neue Normen werden deswegen lediglich im Prozess der Veränderung der Struktur der Gesellschaft durch den kollektiven Lernprozess herausgestellt, nicht a priori durch die theoretische Spekulation. Fokussieren wir uns nun auf die Kritik des Tauschprinzips bei Adorno. Diese Kritik setzt ihrer logischen Entwicklung zufolge die Unterscheidung zwischen dem Tausch selbst und dem (speziell mit der verallgemeinerten Geldökonomie

66 Thesen über Bedürfnis, GS 8, S. 395.

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verbundenen) Tauschprinzip voraus. Das Ideal des gerechten Tausches, das er bei seiner Kritik des Tauschprinzips in den Vordergrund stellt, bezieht sich auf die soziale Kommunikation des Menschen, deren Element dem Tausch selbst innewohnt. Adorno kritisiert aber andererseits das Tauschprinzip als das dominante Herrschaftsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Das Tauschprinzip hängt sehr eng mit dem speziell verselbstständigten System der Warenproduktion zusammen, in dem der Warenaustausch mit dem Zweck der Erzeugung des Mehrwerts durchgeführt und daher die Ausbeutung der Arbeitskräfte vorausgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund behauptet Adorno paradoxerweise, dass die Verwirklichung des Tauschprinzips und dessen Abschaffung ein und dasselbe sind. Er glaubt, dass diese Idee ursprünglich in der besonderen Darstellungsstrategie von Marx wurzelt, wie er in einem Gespräch mit Horkheimer in 1939 darstellte: »Marx will nicht etwa zeigen, nach welchen Gesetzen positivistisch ›nun wirklich‹ getauscht wird, sondern er entreißt der bürgerlichen Gesellschaft die von ihr selbst konstitu ierten Maßstäbe ihrer Gesetzlichkeit, zeigt, daß sie sie nicht erfüllen kann, und hält diesen Maßstab zugleich als negativen Ausdruck einer richtigen gesellschaftlichen Verfassung durch.«67

Mit den von der bürgerlichen Gesellschaft selbst konstituierten, aber ihr entrissenen Maßstäben ist die Entstehung des Mehrwerts und die damit verbundene Deformation des Wertgesetzes gemeint, die aber zugleich eben das Wesentliche dessen ist. Laut Adorno geht es für Marx darum, die bürgerliche Gesellschaft als die ihren Prinzipen selbst entgegengesetzte zu zeigen, und von daher zu erklären, dass »die Verwirklichung dieser Prinzipien die Gesellschaftsform selber aufhebt«.68 Ungeachtet dessen, dass es zwischen Marx und Adorno eigentlich eine Differenz der Standpunkte über die Normen der bürgerlichen Gesellschaft gibt, wird nun klar gezeigt, dass die Forderung nach der Verwirklichung des Tauschprinzips bedeutet, dass seine wahren Elemente entwickelt werden müssen und gleichzeitig die durch das Tauschprinzip strukturierte Realität verändert werden muss.69 Die Verwirklichung und Abschaffung des Tauschprinzips stimmen para-

67 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 438. 68 Ebd. 69 In diesem Zusammenhang ist die kritische Bemerkung Michael Heinrichs zum Begriff der immanenten Kritik meiner Ansicht nach problematisch, insofern er ihn zu en g verstanden hat. »Bei der Kritik der politischen Ökonomie«, so lautet seine These, »geht

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doxerweise überein. »Die Erfüllung des immer wieder seinem eigenen Begriff nach gebrochenen Tauschvertrags wäre eins mit dessen Abschaffung; der Tausch verschwände, wenn wahrhaft Gleiches getauscht würde«. (LGF, 238) Wie sich daraus feststellen lässt, ist die immanente Kritik keine apologische Kritik, die versucht, das normative Ideal und die Realität bloß zu vergleichen und dadurch allein die Unvollständigkeit einer Gesellschaft zu kritisieren. Sie ist eine radikale Kritik, die auf den Strukturwandel und ferner den Wandel der sozialen Normen selbst, die jenen Strukturwandel betreiben, abzielt. Daraus wird nun gewiss erkannt,Gdass der Zweck der immanenten Kritik nicht in der Vervollständigung des positiven Charakters des kritisierten Gegenstandes, sondern in dessen Transformation liegt. Die immanente Kritik erfordert ihrer Konsequenz nach die Transzendenz.

2.3.2 Transzendenz der Kritik Die immanente Kritik hat, solange sie durch den Hinweis auf die immanent logischen Inkonsequenzen und Widersprüche die Transformation des Gegenstandes betreibt, ihre Transzendenz als Konsequenz. Bezüglich dessen handelt sich es darum, dass jedes Ding nur von innen her, durch seine inneren Widersprüche hindurch sich selbst transzendieren kann. Hier lässt sich nun die immanente Selbsttranszendenz feststellen. Die bestimmte Negation und die immanente Kritik beziehen sich, wie Marcus Hawel pointiert, auf die »säkularisierte Philosophie«70, weil das Transzendente gemäß diesem kritischen Prinzip nicht unmittelbar aufgezeigt werden darf. Das Bilderverbot, verstanden als ein Versuch, ohne die vorherige Setzung des Götzen, des positiven Bildes jenseits des jetzigen Zustandes sich mit diesem zu

es auch nicht um eine immanente Kritik der bürgerlichen Verhältnisse, etwa um den Nachweis, dass die bürgerliche Gesellschaft ihre eigenen Versprechungen Freiheit und Gleichheit nicht einhalten würde.« (Heinrich, Michael: Weltanschauung oder Strategie? Über Dialektik, Materialismus und Kritik in der Kritik der politischen Ökonomie, S. 68.) Heinrich verstand die immanente Kritik zu eng als eine Forderung nach der inneren Vervollständigung des vorhandenen Gesellschaftssystems. Er sah nicht, dass die Kritik erst durch ihre immanente Verfahrensweise die Notwendigkeit der Transzendenz der Gesellschaft um der Verwirklichung ihrer Normen selbst willen beweisen kann. 70 Hawel, Marcus: Negative Kritik und bestimmte Negation. Zur praktischen Seite der kritischen Theorie, in: UTOPIE kreativ 184 (Februar 2006), 2006, S. 105.

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konfrontieren, hängt wesentlich mit der bestimmten Negation als Methode zusammen. Damit versucht Adorno, das altjüdische Gebot des Bilderverbotes an die von Hegel übernommene kritische Methode der bestimmten Negation anzuschließen und dadurch das immanent kritische Verfahren in seiner kritischen Theorie der Gesellschaft in einer Art – um es kurz zu sagen, materialistisch säkularisierter – negativer Theologie71 zu begründen. Das Bilderverbot bezieht sich auf eine, wenn auch materialistisch säkularisierte, Theologie in dem Sinne, dass man eine Hoffnung auf einen neuen Zustand jenseits des vorhandenen haben darf, aber zugleich eine negative in dem Sinne, dass diese Hoffnung nicht zur direkten Einführung eines Götzen, eines vorherigen positiven Bildes führen darf, weil dieses zugleich ein abstraktes, von der Wirklichkeit getrenntes ist und sich daher wegen seiner abstrakten Positivität nicht nur ohnmächtig zur Wirklichkeit verhält, sondern auch sich selbst zu einer neuen Repression führen kann, indem es die konkrete Wirklichkeit in seinen abstrakten Rahmen hineinpasst. Den theologischen (und auch messianistischen) Ansatz der materialistischen kritischen Theorie übernahm Adorno von Benjamin, jedoch will er den Messianismus Benjamins mit Hilfe der hegelschen Negativitätstheorie in die dialektische Philosophie übersetzen.72 Das utopische, messianistische Element in der Theorie will er nicht im Voraus verkünden, sondern durch die bestimmte Negation des Gegenwärtigen erreichen. Auf diese Weise, nur durch eine bestimmte Negation und durch ihr immanent kritisches Verfahren kann die Dialektik diese Hoffnung auf die Veränderung beibehalten. Hegel zeigte die Verbindung der negativen Beziehung auf sich selbst mit der Selbsttranszendenz auf, so schreibt er in der Wissenschaft der Logik – und zwar in der Seinslogik – wie folgt: »Die endlichen Dinge sind, aber ihre Beziehung

71 In einem Gespräch mit Horkheimer am 5. April 1939 über die materialistische Dialektik gesteht Adorno ihm zu, und zwar dem Einwand von Horkheimer zum Trotz, dass die negative Theologie einen Teil seiner Theorie ausmacht: »Aber wie es auch damit sich verhalte, ich kann meine Meinung nicht hinterm Berg halten, daß eine For mulierung des Begriffs der Wahrheit ohne einen bestimmten Begriff von negativer Theologie unmöglich ist.« (Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 492) In der Negativen Dialektik formuliert er seine Idee der Verteidigung der negativen Theologie gegen die positivistische Vertreibung des utopischen Gedankens sehr präzise: »Negativ, kraft des Bewußtseins der Nichtigkeit, behält die Theologie gegen die Diesseitsgläubigen recht.« (ND, 371) 72 Theunissen, Michael: Negativität bei Adorno, S. 51.

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auf sich selbst ist, daß sie als negativ sich auf sich selbst beziehen, eben in dieser Beziehung auf sich selbst sich über sich, über ihr Sein, hinauszuschicken.« (WL I, 139) Die bestimmte Negation eines Dinges ist zugleich damit identisch, seine Grenze zu ziehen, weil dabei sein Nichtidentisches, seine Außenwelt für seine Bestimmung eine konstitutive Rolle spielt. Doch ist diese Grenzsetzung keine bloße Begrenzung, sondern eine Bedingung sowie ein Sprungbrett zur Selbsttranszendenz. »Und indem sie [die Grenze – S. H.] in der Bestimmung selbst als Schranke ist, geht Etwas damit über sich selbst hinaus.« (WL. I, 143) Adorno erkennt diese Idee der Verbindung der Setzung mit der Überschreitung der Grenze bei Hegel, demzufolge ist an die Erfahrung der Grenze zu denken und die zu überschreiten »nach Hegels großartiger Einsicht das Gleiche« (MM, 145). Adorno überzeugt sich von der Möglichkeit der Selbsttranszendenz des Seienden. Durch die Erkenntnis aber, dass diese Transzendenz ohne die bestimmte Negation, also ohne den Prozess der Selbstentzweiung nicht möglich ist, stellt er, wie Hegel, die bestimmte Negation als eine Bedingung der Transzendenz des Seienden fest. Jedes Seiende erfordert ein Anderes als sich selbst, um bestimmt zu werden, denn es ist nicht möglich, sich selbst von sich aus zu bestimmen. Diese negative Bezugnahme auf das Andere ist die Bedingung seiner Selbsttranszendenz. Diese Idee beschreibt Adorno in der Negativen Dialektik: »Ein jegliches Seiendes ist mehr, als es ist; [...] Weil nichts Seiendes ist, das nicht, indem es bestimmt wird und sich selbst bestimmt, eines anderen bedürfte, das nicht es selber ist – denn durch es selbst allein wäre es nicht zu bestimmen -, weist es über sich hinaus.« (ND, 109)

Vor diesem Hintergrund wird nunmehr verstanden, auf welcher Grundlage die immanente Kritik als das kritische Verfahren zur Transzendenz des kritisierten Gegenstandes führt. Die immanente Kritik ist eine kritische Methode, nicht nur den bestehenden Zustand nach dem Prinzip der bestimmten Negation zu kritisieren, sondern auch dadurch auf die Idee seiner Veränderung zum Jenseits hinzuweisen. Sie ist daher keine rein immanent-logische Methode und es wird darum ihr Ziel, über die rein logische Immanenz hinaus die Veränderung und den qualitativen Sprung der Sache selbst zu treiben. »Immanente Kritik hat ihre Grenze daran, daß schließlich das Gesetz des Immanenzzusammenhanges eins ist mit der Verblendung, die zu durchschlagen wäre. Aber dieser Augenblick, wahrhaft erst der qualitative Sprung, stellt einzig im Vollzug der immanenten Dialektik sich ein, die den Zug hat, sich zu transzendieren, nicht durchaus unähnlich dem Übergang der Platonischen Dialektik zu den ansichseienden Ideen « (ND, 183).

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Den objektiven Verblendungszusammenhang »[a]us ihm von innen her auszubrechen« (ND, 398) ist das objektive Ziel dieser immanenten Dialektik. Die bestimmte Negation, die in dieser immanenten Kritik wesentlich ist, ist die Triebkraft, den Gegenstand von seiner Immanenz her zu seiner Transzendenz zu führen. In diesem Sinne ist die bestimmte Negation eine werdende, produktive und daher konstitutive Kraft der Negation.

2.4 V ON

DER BESTIMMTEN N EGATION ZUR KONSTITUTIVEN N EGATIVITÄT

2.4.1 Ist negatives Denken nihilistisch? Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! BERTOLT BRECHT, AN DIE NACHGEBORENEN 73 [E]s gibt die Schopenhauersche Nacht, aber in dieser Nacht sind die Sterne. ADORNO, IM GESPRÄCH MIT HORKHEIMER AM 3. OKT. 1946. 74

Der dialektische Negativismus, die negativistische Wendung der Dialektik bei Adorno, ist immer Anlass für Stereotype über seine Theorie, so etwa, dass sie pessimistisch oder nihilistisch, ohne Hoffnung auf die Möglichkeit der Verbesserung der Welt zum Positiven, sei. Dieser typische Einwand gegen Adorno, das negative Denken sei nichts anderes als nihilistisch, beruht meistens auf einer ideellen Assoziation zwischen dem »Negativen« und dem »Nihilismus«. Bereits zu seinen Lebzeiten kritisierte sein intellektueller Mitarbeiter Habermas ihn dahingehend, dass in seiner Theorie Resignation und Pessimismus sehr stark anzu-

73 Brecht, Bertolt: An die Nachgeborenen, Gesammelte Werke Bd. 9, Frankfurt/M, 1967, S. 722. 74 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Rettung der Aufklärung. Diskussionen über eine geplante Schrift zur Dialektik (1946), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 595.

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treffen seien. Vor diesem Hintergrund fragte ein Journalist in einem Spiegel-Interview mit Adorno nach seiner Antwort auf jenen Einwand. »Spiegel: Bisher, so formulierte einmal Ihr Freund Habermas, hat sich Ihre Dialektik an den ›schwärzesten Stellen‹ der Resignation dem ›destruktiven Sog des Todestriebes‹ überlassen. Adorno: Ich würde eher sagen, daß der krampfhafte Hang zum Positiven aus dem Todestrieb kommt.«75

Nicht die negative Denkweise, sondern »der krampfhafte Hang zum Positiven« ist die Konsequenz des Todestriebes. Diese Vorstellung schließt sich daran an, dass es eine nicht nihilistische und vielmehr der Wirklichkeit viel ernsthafter und tätiger als die vorschnelle Position gegenüberstehende Denkweise der Negativität gibt. Die negative Dialektik bei Adorno ist ein Versuch, durch die Kraft des negativen Denkens den Pessimismus, der in der affirmativen Denkweise impliziert worden ist, zu überwinden. So schreibt er in der Einleitung der Negativen Dialektik, dass sich nach dem Ausbleiben der »Verwirklichung der Philosophie« der »Defaitismus der Vernunft« (ND, 15) ausbreite. Dieser Defaitismus, der mit der kontemplativen Haltung der positiven Weltanschauung verbunden ist, ist ein Überwindungsziel der negativen Dialektik Adornos. Bereits in seiner Frühzeit distanzierte er sich von dieser positiven Denkweise in der Philosophie. In seinem Antrittsvortrag die Aktualität der Philosophie führte er aus, dass es nicht die Aufgabe der Philosophie sei, »einen solchen Sinn als positiv gegeben, die Wirklichkeit als ›sinnvoll‹ darzutun und zu rechtfertigen«.76 Damit ist gemeint, dass der Versuch, die Wirklichkeit als sinnvoll zu entdecken, eine Verkehrung der Negativitätserfahrungen des Subjektes über die Welt hin zur Positivität ist. Es ist dann eben ein sinnloser Versuch, den Sinn des Seins aus seiner eigenen Sinnlosigkeit in einer bestimmten sinnlosen Situation der Welt zu finden.77 Dieses positive Verhalten, die Welt als sinnvoll zu beschreiben, ist eben der Grund für den Nihilismus, denn es verhindert die bitterernste Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt. Wer durch die positive Haltung den Nihilismus vermeiden will, wird letzten Endes in diesen verfallen. »Nihilisten sind die, welche dem Nihilismus ihre immer ausgelaugteren Positivitäten entgegenhalten, durch diese mit aller bestehenden Gemeinheit und schließlich dem zerstören-

75 »Keine Angst vor dem Elfenbeinturm«. Ein »Spiegel«-Gespräch, GS 20.1, S. 408. 76 Die Aktualität der Philosophie, GS 1, S. 334. 77 Ontologie und Dialektik, NS IV. 7, S. 198.

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den Prinzip selber sich verschwören. Der Gedanke hat seine Ehre daran, zu verteidigen, was Nihilismus gescholten wird.« (ND, 374)

Was ist dann zu verteidigen unterm Gescholtenen des Nihilismus? Warum verursacht nicht das negative Denken, sondern das affirmative, also unmittelbare positive Denken den »Defaitismus der Vernunft«? In seiner Kritik an der Fundamentalontologie in der Negativen Dialektik stellte er dar, dass die Philosophie, der es an der Negativität des begrifflichen Denkens mangelt, nicht imstande ist, den Schein der Unmittelbarkeit zu überwinden, und deswegen in der obskurantistischen Mystifikation bleibt. Ferner verfällt das ontologische Bedürfnis nach der Position des Unmittelbaren »ins unwahr Affirmative« (ND, 73) und steht vor der Gefahr, dem Schrei aus der miserablen Welt den Rücken zuzudrehen und das Gegenwärtige mit rosigem Licht, mit der »Idee einer Fülle des Lebens« zu verklären. »Die Idee einer Fülle des Lebens [...] ist nicht die Utopie, als welche sie sich verkennt, weil jene Fülle nicht getrennt werden kann von der Gier, [...] einem Verlangen, das Gewalttat und Unterjochung in sich hat.« (ND, 371) Diese Idee der »Fülle des Lebens« bezieht sich auf »amor fati« bei Nietzsche, der dem negativen Denken überhaupt Nihilismus vorwarf und diesem das positive Denken, die »Liebe zum Schicksal« entgegensetzte. In der Minima Moralia verhöhnt Adorno der Idee des amor fati; bei Nietzsche könnte man den »Ursprung des amor fati im Gefängnis aufsuchen« (MM, 110). Ein Gefangener muss sich an seine objektive Situation anpassen und dieses Motiv der Anpassung führt zur Liebe zum Schicksal, die letzten Endes der Resignation gleich ist. Auf diese Weise gibt Adorno Nietzsche seine Kritik zurück, dass das negative Denken in den Nihilismus verfällt. 78 Das unmittelbar positive Denken bringt demzufolge die »Schmach der Anpassung« (MM, 110) an die gegebene Realität hervor. Der Grund dafür, dass man die Gegenwart nicht affirmativ anerkennen darf, und dafür, dass es darum gefährlich ist, das Schicksal als solches für sinnvoll zu halten, liegt in der Diagnose, dass die als objektiver Geist strukturierte gesellschaftliche Realität das Schicksal des Einzelnen heteronom zur Unterwerfung zwingt. Darum ist es kaum möglich, dass der Einzelne sein Schicksal als solches aus seinem autonomen Geist heraus zu lieben imstande ist. Es mangelt Nietzsches

78 Nietzsches Kritik der Dialektik wurde seit den 60er Jahren zum Ansatzpunkt des Postmodernismus, der den Negativitätsbegriff in Nachfolge Nietzsches als Ressentiment bestimmte und heftig angriff. (Vgl. Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, Hamburg, 2008.) Adornos Kritik an der positiven Moral von Nietzsche dürfte nun wiederum als ein virtueller Einwand gegen Postmodernismus verstanden werden, der der unvermittelten Positivität von diesem entgegenstehen würde.

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Amor fati und seiner positiven Moral eben an der Reflexion auf die objektive, soziale Instanz, also auf »die Substantialität des objektiven Geistes« (PM, 256). Er erkennt kaum, dass die Sklavenmoral die gezwungene Herrenmoral ist, darum ist sein Lob der Positivität der Gegenwart abstrakt und verliert seine wirkliche Verbindlichkeit. In dieser Widerlegung der positiven Moral Nietzsches bei Adorno wird nun einer Askese des Positiven nachgespürt, was aber nicht bedeutet, dass das Positive überhaupt nicht gehofft werden dürfte. Seine eigene verborgene Hoffnung auf das Positive in der Askese dessen gesteht Adorno in seinem Brief an Thomas Mann: »Wenn mir etwas von Hegel und denen, die ihn auf die Füße stellen, in Fleisch und Blut übergegangen ist, dann ist es die Askese gegen die unvermittelte Aussage des Positiven; wahrhaft eine Askese, glauben Sie mir, denn meiner Natur läge das Andere, der fessellose Ausdruck der Hoffnung, viel näher. Aber ich habe immer wieder das Gefühl, daß man, wenn man nicht im Negativen aushält oder zu früh ins Positive über geht, dem Unwahren in die Hände arbeitet. «79

Die negativistische Wendung der Dialektik bei Adorno beharrt deshalb nicht auf dem Pessimismus. Im Gegensatz dazu behauptet Adorno, dass der Pessimismus, also eine Art der Weltanschauung, der zufolge alles an sich uneingeschränkt schlecht ist und weiterhin so wird, zum Konformismus führt, der die Möglichkeit der Veränderung der Gegenwart verweigert. »Pessimismus als Generalthese, Pessimismus, der, sofern er die Totalität lehrt, impliziert, alles sei von Grund auf schlecht, wie schon bei Schopenhauer, hat die Tendenz, dem einzelnen real Schlechten in der Welt zu Hilfe zu kommen, indem es sagen kann, die Versuche, das Ganze zu ändern, seien doch vergebens.« (LGF, 15 f.)

Vor dem Hintergrund der Auffassung der negativen Realität steht das Motiv für das Bessere. »Das Bestehende kann einzig der begreifen, dem es um ein mögliches und besseres zu tun ist.«80 Das »Verweilen beim Negativen« wird durchgehalten, nur um ihm eine Anzeige auf das Positive, die Hoffnung zu entnehmen, was sich dann wiederum davon unterscheidet, sich an dem unvermittelt unmittelbaren Positiven festzuhalten. Die Voraussetzung des Positiven ist die Erkenntnis

79 Adorno an Mann, 1. 12. 1952, in: Adorno, Theodor W./Mann, Thomas: Briefwechsel 1943-1955, hg. v. Theodor Adorno Archiv, Frankfurt/M, 2002, S. 128. 80 Eine Stätte der Forschung, GS 20.2, S. 601.

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des Negativen des Gegebenen. »Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint.« (MM, 110)

2.4.2 »Das Positive in seinem Negativen«: Produktivität der Negativität Nunmehr wird ins Klare gebracht, weshalb sich Adornos philosophisches Projekt der negativen Dialektik vom Nihilismus unterscheidet. Dieser bezieht sich auf das abstrakte Nichts, nämlich auf Verschwinden und Untergang. Im Gegenteil ist die Negativität als die bestimmte Negation nicht als das Verschwinden, sondern als die Tätigkeit für die neue Herstellung zu verstehen. Von daher ist die Negativität nicht nur eine unablässige Haltestelle, sondern eine wesentlich notwendige Triebkraft für die Entbindung des Positiven. Die Negativität produziert und bewegt sich. Die bestimmte Negation ist die das Positive produzierende und konstituierende Negativität. Nun lässt sich dieser Negativität ein neuer Name verleihen: Ich nenne sie die konstitutive Negativität, um die Produktivität der Negativität in der negativen Dialektik Adornos zu charakterisieren. Stellen wir diese konstitutive Bedeutung des Negationsbegriffs fest. Der Ansatzpunkt dabei ist allerdings Hegel. Für Adorno ist »Hegels Gleichsetzung von Negativität mit dem Gedanken« der Ausgangspunkt dafür, dass das Denken seine kritische und widersetzliche Rolle besitzen kann, und daraus wird das Denken »an sich schon, vor allem besonderen Inhalt Negieren, Resistenz gegen das ihm Aufgedrängte« (ND, 30), was dann die Quelle der spekulativen Kraft des Denkens ist: »Die spekulative Kraft, das Unauflösliche aufzusprengen, ist aber die der Negation.« (ND, 38) Für Hegel birgt das begriffliche Denken nur mit der Negation seine spekulative Kraft in sich, weshalb es vergänglich wird, wenn es sich nur an der unmittelbaren Positivität des Vorgegebenen festhält. Im Gegenteil kann das Positive nur in seinem Negativen festgehalten werden. Hegel leitet das Positive aus seinem Negativen ab, es tritt immer beim »Verweilen beim Negativen« auf. Dies bedeutet, dass die Negation, und insbesondere die bestimmte bei Hegel keine leere Nichtigkeit ist, sondern einen Inhalt hat. »Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt.« (WL I, 49) Dieser Inhalt der Negation bezieht sich auf ihr Konstitutionsvermögen zur Bewegung des Begriffs. »Das, wodurch sich der Begriff selbst weiterleitet, ist das vorhin angegebene Negative, das er in sich selbst hat; dies macht das wahrhaft Dialektische aus.« (WL I, 51) Am Anfang der Seinslogik stellt Hegel den Übergang des Seins in sein Ge-

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genteil, in Nichts, und wiederum in die widersprüchliche, mit seinem Gegenteil vereinheitlichte Bewegung des Werdens dar. Das Nichts tritt in dieser gesamten Bewegung als ein wesentliches Moment für den Übergang der Seinsbestimmung auf, es bleibt in diesem Sinne nicht Nichts. »Das Werden enthält, daß Nichts nicht Nichts bleibe, sondern in sein Anderes, in das Sein übergehe.« (WL I, 85) Die Negativität ist der Grund der Selbstbewegung des Seins. »Die Ansicht, daß das Leere den Grund der Bewegung ausmache, enthält den tieferen Gedanken, daß im Negativen überhaupt der Grund des Werdens, der Unruhe der Selbstbewegung liegt; in welchem Sinne aber das Negative als die wahrhafte Negativität des Un endlichen zu nehmen ist.« (WL I, 186)

Die Leere konstituiert die Bewegung, sie ist in diesem Sinne der Grund des Werdens, Grund für die Unruhe des Seins. Dies bedeutet, dass nicht nur die Fülle, sondern auch der Mangel die Bestimmtheit ist, wie Hegel in seiner Wesenslogik schreibt: »Aber zugleich ist dieser Mangel auch als Bestimmtheit zu nehmen« (WL II, 72). Hier weist er auf den Vorrang des Widerspruchs vor der Identität hin, insofern der Widerspruch »für das Tiefere und Wesenhaftere« als die Identität zu nehmen ist, d. h., die Identität ein einfaches Unmittelbares, also das tote Sein, der Widerspruch hingegen die Quelle aller Bewegung und Lebendigkeit, und in diesem Sinne »Trieb und Tätigkeit« ist (WL II, 75). Die Bewegung als »der daseiende Widerspruch« macht ein Seiendes lebendig, nur ein in sich seinen Widerspruch enthaltendes Sein kann über sein Dasein hinausgelangen. »Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.« (WL II, 76) Diese positive Seite des Widerspruchs als absolute Tätigkeit konnten die traditionelle Metaphysik wie auch die Reflexionsphilosophie nicht erkennen, weil sie den Widerspruch allein aufzulösen versucht haben: »[E]s bleibt bei der einseitigen Betrachtung der Auflösung des Widerspruchs in nichts stehen und erkennt die positive Seite desselben nicht, nach welcher er absolute Tätigkeit und absoluter Grund wird.« (WL II, 78) Wie Theunissen pointierte, ist die Negativität als »Tätigkeit« zugleich als »dynamis« im Sinne von Aristoteles zu verstehen und es handelt sich dabei um die reine Prozessualität, in der die Kraft zur Bewegung, zum Prozessieren, nicht anders als aus sich selbst, aus dem inneren Widerspruch jedes Seienden genommen wird.81

81 Theunissen, Michael: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, S. 173

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Das Nichts in der Seinslogik ist als die konstitutive Andersheit der Grund für die Metamorphose und die Selbsttranszendenz des Seins, der Widerspruch in der Wesenslogik ist kernhaft für den Bestand der Identität. Diese Angewiesenheit des Positiven auf sein Negatives ist der Grundcharakter der hegelschen Dialektik, wobei die Negativität das Wesentliche der Dialektik ausmacht. In diesem Zusammenhang schreibt er in der Begriffslogik zusammenfassend: »Das Positive in seinem Negativen, dem Inhalt der Voraussetzung, im Resultate festzuhalten, dies ist das Wichtigste im vernünftigen Erkennen« (WL II, 561). Diese Idee des »Positiven in seinem Negativen« bei Hegel übernimmt auch Adorno, und fügt der eine weitere Bedeutung des Widerstandes hinzu. Für Adorno wird das Positive nur durch die Kraft der Negation im negativen Zustand, nämlich nur im Negierten versteckt konstituiert, so lautet seine Vorlesungsschrift aus dem Jahr 1966: »der Begriff des Negativen [hat – S. H.] sein Recht, als Widerstand, auch wenn er sein Positives abstrakt nicht hat – es steckt im Negierten« (VND, 40, unterstrichen von Adorno). Das Positive wird nicht in einer abstrakten Form (einem transzendentalen Sollen oder einer Gestalt der hinterweltlichen Substanz) gegeben, sondern steckt in der Tätigkeit der Negation als Widerstand. Dies bedeutet, dass auch in der negativen Dialektik Adornos ein Motiv für das Positive durchgesetzt wird, auch wenn es nicht direkt ausgesprochen ist: »Vielleicht gibt es sogar ein positives Movens, aber es darf sich nicht aussprechen (Bilderverbot!)« (Ebd.). Der Grund dafür, dass das Positive nicht direkt ausgesprochen werden darf, besteht darin, dass es nur in einer negativen Form authentisch ausgedrückt werden kann. Das Wahre, Positive existiert nicht im Voraus, sondern wird lediglich in der Negation von etwas Falschem, Negativem nachträglich konstituiert. »Wir mögen nicht wissen, was der Mensch und was die rechte Gestaltung der menschlichen Dinge sei, aber was er nicht sein soll und welche Gestaltung der menschlichen Dinge falsch ist, das wissen wir, und einzig in diesem bestimmten und konkreten Wissen ist uns das Andere, Positive, offen«. 82

Wir stellen nun den konstitutiven Charakter der Negativität in der DialektikKonzeption von Adorno fest. Das Nichtbegriffliche (also die Negation des Begriffs) treibt den Begriff zu seiner Selbstreflexion, indem durch den Hinweis auf das Nichtbegriffliche, die Außenseite des Begriffs dessen Autarkie nicht mehr erhaltbar wird. Das Nichtbegriffliche verändert den Status des Begriffs und die Negation des Begriffs wird damit zum konstitutiven Bestandteil des Begriffs selbst. Diesen »konstitutiven Charakter des Nicht-Begrifflichen im Begriff« er-

82 Individuum und Organisation, GS 8, S. 456.

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kennt Adorno und gibt dem eine dynamische Rolle zur Veränderung des Identitätszwangs im Begriff hinzu: »Vor der Einsicht in den konstitutiven Charakter des Nicht-Begrifflichen im Begriff zerginge der Identitätszwang, den der Begriff ohne solche aufhaltende Reflexion mit sich führt. « (ND, 24) Das Nichtbegriffliche als konstitutive Alterität des Begriffs wird nun als die konstitutive Negativität verstanden, die die Selbsttranszendenz des Begriffs jenseits des Identitätszwangs ermöglicht. Die Negativität (hier das Nichtbegriffliche) ist nicht nur konstitutiv für das Bestehen des Begriffs, sondern nimmt eine produktive Funktion ein, indem sie die Veränderung des Charakters des Begriffs betreibt. Ebenso wie das Nichtbegriffliche im Begriff, spielt die konstitutive Negativität in einem negativen Zustand der realen Welt durch den immanenten Hinweis auf die andere Möglichkeit eine Rolle für den Impuls der Transzendenz. Die negative Dialektik Adornos »erschöpft sich nicht darin, im Negativen zu verharren«, wie Emil Angehrn meint: »Vielmehr will sie sowohl im bestehenden Negativen dessen Anderes wahrnehmen, im geschlossenen Immanenzzusammenhang den Impuls der Transzendenz aufweisen wie für sich selbst das spekulative Moment theoretischer Schau in transformierter Gestalt aneignen.«83

Obwohl Adorno die berühmte hegelsche Grundformel der Dialektik, die Negation der Negation sei die Position, als ein undialektisches Prinzip verweigert, lehnt er die Negation der Negation nicht grundsätzlich ab. »Die Negation der Negation macht diese nicht rückgängig, sondern erweist, daß sie nicht negativ genug war« (ND, 162). Erforderlich ist die »unbeirrte Negation« (ebd.), die nonkonformistisch gegen alle Formen der Gewalt der Positivität auflehnt, also die konsequente Negation, die »Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht« (ND, 398). In welchem Zusammenhang steht dann der Negationsbegriff mit dem Positiven, wenn die Negation einerseits nicht in die Position übergehen darf und andererseits aber eine positive Veränderung des Bestehenden bewirkt? Das Positive, das zu Bezweckende wird weder als eine von der Wirklichkeit abgetrennte und direkt erreichbare Transzendenz vorgestellt, noch durch die Aufhebung der Negation erhalten. Das Positive tritt nicht dadurch auf, dass die Negation in dieses übergeht, sondern wird erst im Prozess der Negation des Negativen als ein

83 Angehrn, Emil: Kritik und Versöhnung. Zur Konstellation Negativer Dialektik bei Adorno, in: Kohler, Georg / Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Wozu Adorno?: Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilers wist, 2008, S. 268.

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Nicht-Negatives konstituiert. Die Negation macht das Positive aus, nur indem sie eine kritische Tätigkeit ist. »Positives wäre allein die bestimmte Negation, Kritik« (ND, 161). Das bestehende Positive ist eigentlich ein negatives, zu überwindendes. Nur in der Negation der negativen Realität lässt sich das Positive herausfinden. »Aber das einzig Positive, das man ›hat‹, ist das Gegebene in seiner Schlechtigkeit, über das die Erkenntnis mit nichts anderem hinausgeht als damit daß sie die Schlechtig keit durch den immanenten Widerspruch des Gegebenen bestimmt. Das Positive ist das Negative, und nur das Negative, die bestimmte Negation, eigentlich positiv. «84

Für Adorno ist die letztendliche Utopie der Welt allerdings nicht als unmittelbar realisierbar zu denken. Seine Kritik der abstrakten Utopie bildet den Gegensatz zu den zeitgenössischen dogmatischen Marxisten, die den Übergang zur klassenlosen Gesellschaft als geschichtlich notwendig erklärten und dabei die Steigerung der Produktivkräfte und die Verwirklichung des menschlichen Potentials miteinander gleichsetzten. Adorno nahm keine teleologische Perspektive über die Emanzipation ein, sondern hielt am Bilderverbot fest. Er kritisiert auch die Konzeption der Diktatur des Proletariats aus demselben Grund, aus dem er gegen die abstrakte Utopie folgenden Einwand erhob: »Denn er [Bewusstseinsstand des Proletariats – S. H.] ist von der Klassengesellschaft erzeugt und von ihren Malen gezeichnet; den ›proletarischen Staat‹ proklamieren heißt nicht weniger als diese Male verewigen, die Klassengesellschaft beseitigen, um ihr trostloses Resultat zu konservieren.«85

Direkte Skizzen einer jenseits der Klassenherrschaft stehenden Gesellschaft – die Diktatur des Proletariats, der proletarische Staat – sind Reflexe eines Bewusstseinszustandes, der auf dem gegenwärtigen Zustand der Klassenherrschaft basiert. Wo traditionelle Marxisten glauben, in ihren Alternativentwürfen über die Klassengesellschaft hinaus gelangt zu sein, ranken sie sich stets bloß um die Logik einer antagonistischen Gesellschaft. Eine utopische Blaupause zu malen ist nicht weniger als die Einführung einer noch anderen Variante der Logik der kapitalistischen Gesellschaft in die postkapitalistische Aussicht. Diese Bilderlosig-

84 Adorno, Theodor W.: Contra Palum, in: ders. / Horkheimer, Max: Briefwechsel, Bd. II: 1938-1944, hg. v. Theodor Adorno Archiv, Frankfurt/M, 2004, S. 486. 85 Adorno, Theodor W.: Pontius als Reichsstatthalter, in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Adorno. Eine Bildmonographie, Frankfurt/M, 2003, S. 150 f.

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keit der Utopie bei Adorno ähnelt meiner Ansicht nach letzten Endes dem Begriff des Kommunismus in der Deutschen Ideologie von Marx und Engels: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.« (MEW 3, 39) In dieser Idee hat der Kommunismus nichts mit dem positiven Bild der Utopie zu tun, sondern bezieht sich nur auf die wirkliche Bewegung der Negation gegen die Klassengesellschaft. Er ist eine konstitutive Negativität, und das Positive wird erst durch deren wirkliche Bewegung konstituiert. Die negative Dialektik ist eine gedankliche Form der theoretischen Praxis, diese konstitutive Negativität in der Wirklichkeit festzustellen und dadurch eine wirkliche Bewegung der Subversion in einer negativ erfahrenen Welt zu betreiben. Auch wenn Adorno seine Philosophie die »traurige Wissenschaft« (MM, 13) nannte und sie damit der »fröhlichen Wissenschaft« von Nietzsche entgegensetzte, so referierte er in seiner Vorlesung am 12. Januar 1965 über das »Glück der Deutung« (LGF, 193). Philosophie ist Deutung, eine deutende Praxis in dem Sinne, dass sie in Phänomenen Spuren der Vergangenheit jedes Dinges folgt, die das Leiden des Seins in der geschichtlichen Tragödie enthalten. Diesen Schatten der Vergangenheit im Sein nachzufolgen ist daher eine Arbeit der Trauer. Dieses Verfahren der Trauer ist gleichzeitig das der Kritik, insofern der Schein der Positivität und der Unmittelbarkeit der geschichtlichen Phänomene dadurch abgestreift wird. Die Deutung wird, solange sie sich selbst als Negativität, als Kritik aufzeigt, zur Kraft des Geistes, nämlich zum Glück. Dies wird zugleich als »Säkularisierung der Melancholie« (LGF, 188) verstanden. Die Melancholie – ein wichtiger Begriff von Benjamin in seinem Trauerspielbuch – bezieht sich auf die zum Alltag gewordene Schwermut, und ihre Säkularisierung heißt, ihre vergeistigte, heilige Gewalt, die auf dem Gehirne der Lebenden lastet, außer Kraft zu setzen. Sie ist also eine Verhaltensweise, bei der das Bewusstsein in dieser Melancholie sich nicht als das unglückliche ansieht, sondern den gegenwärtigen Zustand überwindet, was nun impliziert, die tragische geschichtliche Situation in ihrer Negativität zu bestimmen und zugleich sich diesem Negativen zu widersetzen. Das Glück der Deutung wird nur durch die Säkularisierung der Melancholie zum »Urbild eines utopischen Verhaltens zum Denken« (LGF, 194).

K ONSTELLATION DER E RKENNTNISKRITIK UND G ESELLSCHAFTSKRITIK

2.5 Ü BERGANG ZUR P OLITIK

DER

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N EGATIVITÄT

Adorno findet darin seine Gemeinsamkeit mit dem orthodoxen Marxismus, dass die vorgegebene Situation des sozialen Systems, insbesondere die diesem innewohnende Dynamik den absoluten Primat über das Subjekt besitzt. Doch weist er andererseits darauf hin, dass der orthodoxe Marxismus nur auf die objektive Gesetzlichkeit der Geschichte fokussiert und die Frage des Subjektes selbst bloß als »den psychologischen Subjektivismus« betrachtet, weshalb sich darin keine »Konstitutionsprobleme« (LGF, 36) finden lassen. Ihm zufolge ist die geschichtliche Praxis aber nicht getrennt von der Art und Weise aufzufassen, wie das Subjekt die Welt erkennt und darüber reflektiert. Die epistemologische Konstitution des Subjektes und die Konstitution der geschichtlichen Praxis hängen miteinander zusammen. Der traditionelle, orthodoxe Marxismus sieht hingegen die subjektive Praxis lediglich als vom objektiven Gesetz und vom objektiven Klasseninteresse abgeleitet, was von daher ernsthafte Fragestellungen nach der subjektiven Tätigkeit verhindert. In dieser Problematik ist die Politik als lebendige, verändernde Praxis nicht aufzufassen. Die Politik bezieht sich im traditionellen, orthodoxen Marxismus aus diesem Grund immer auf die institutionelle Ebene zur Verwaltung der kapitalistischen Produktionsweise, nämlich auf den Überbau der ökonomischen Basis. Nun bleibt es aber fragwürdig, ob sich die Theoretisierung der subjektiven Tätigkeit bei Adorno auch nicht finden lässt. Ungeachtet seines theoretischen Ansatzes der konstitutiven Negativität legte Adorno das Gewicht seiner Theorie zumeist auf die einseitigen Herrschaftskategorien (Tausch- und Identifikationsprinzip, Totalität der Herrschaft, Verdinglichung, die zweite Natur usf.). Die gesamte theoretische Konstruktion Adornos hinterlässt eine leere Stelle in Bezug auf das Problem, wie die negativistische Diagnose der Wirklichkeit zur Theoretisierung der emanzipatorischen, den Gegenstand verändernden konstitutiven Praxis führen kann. Diese leere Stelle wirft verschiedene Fragen auf, die innerhalb seiner Theorie als solcher nicht beantwortet werden können. Ich werde aber im Folgenden beweisen, dass durch die politisch theoretische Rekonstruktion der negativen Dialektik Adornos in der Form der Politik der Negativität die Assoziationsform gegen die gesellschaftliche Repression begriffen werden kann. Dafür ist vorausgesetzt, dass die begrifflichen Kategorien der negativen Dialektik so umgedeutet werden sollen, dass sie als Denkmodell bzw. Grundmuster der negativ dialektischen politischen Theorie gelesen werden. Mit der »politischen Theorie« bzw. »politischen Philosophie« ist hier – in Abgrenzung zur Gesellschaftstheorie – eine Darstellungsform derjenigen souveränen Assoziation der Mitglieder einer Gesellschaft gemeint, die das Potential

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erhält, den bestehenden Zustand der gesellschaftlichen Realität zu transformieren, dessen Analyse eben die Aufgabe der Gesellschaftstheorie ist. Diese Ansicht basiert auf folgender, diesbezüglichen Erwähnung Adornos, in der die Politik als das »Kräftespiel der Gesellschaft« bezeichnet wird. »Da jedoch Politik keine in sich geschlossene, abgedichtete Sphäre ist, wie sie etwa in politischen Institutionen, Prozeduren und Verfahrensregeln sich manifestiert, sondern begriffen werden kann nur in ihrem Verhältnis zu dem Kräftespiel der Gesellschaft, das die Substanz alles Politischen ausmacht und das von politischen Oberflächenphänomenen ver hüllt wird, so ist auch der Begriff der Kritik nicht auf den engeren politischen Bereich zu beschränken.«86

Besonders signifikant ist in dieser Perspektive, dass Adorno an dieser Textstelle das Politische (»die Substanz alles Politischen«) als eine Ausdrucksweise des Kräftespiels der Gesellschaft bestimmte. Es ist darum ein Bereich der (gemeinsamen) Handlungen und unterscheidet sich von der Politik im engeren Sinne als einer institutionellen Dimension zur Verwaltung der Gesellschaft. In der weiteren Darstellung der Politik der Negativität wäre auch ein Vergleich mit der Konzeption des Politischen von Carl Schmitt hilfreich, der das Thema des Politischen nicht als zeitlose Wesensbestimmung, also nicht als das, was von der ontologischen Frage ausgeht, sondern, wie Adorno, das Politische als ein konkretes Schlachtfeld der Kräfte bestimmte: »Das Beziehungsfeld des Politischen ändert sich fortwährend, je nach den Kräften und Mächten, die sich miteinander verbinden oder voneinander trennen, um sich zu behaupten.«87 Sowohl Schmitt als auch Adorno würden auch darin übereinstimmen, »daß jede Bewegung eines Rechtsbegriffs mit dialektischer Notwendigkeit aus der Negation hervorgeht«. 88 Beide glauben, dass die Politik (oder »das Politische«) der Sphäre der menschlichen Handlung und Praxis angehört, und dass sich politische Begriffe und Bestimmungen infolgedessen unendlich verändern. Für Schmitt besitzen die politischen Begriffe ihre Geltung nur insofern, als sie in ihrer negativen, polemischen Funktion bestimmt werden. Keine politischen Begriffe haben

86 Kritik, GS 10.2, S. 785. 87 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, 1963, Berlin, S. 9. 88 A.a.O., S. 14. Diese Negation bezieht sich für Schmitt allerdings auf die Bestimmung der Feindlichkeit, des Nichtidentischen in einer politischen Gemeinde, was aber eine andere Ansicht als jene Adornos bezeichnet. Wir stellen in der weiteren Darstellung die Differenz beider fest, insbesondere in Bezug auf die Funktion des Nichtidentischen für die Integration der Gesellschaft.

K ONSTELLATION DER E RKENNTNISKRITIK UND G ESELLSCHAFTSKRITIK

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ihre an sich definierbaren Bedeutungen. Für Adorno ist der Begriff der Politik auch ein an sich dialektischer (PET, 67). Er setzt die Politik einerseits mit einer Ideologie gleich, mit der oberflächliche Machtkämpfe in politischen Institutionen (Legislative, Abstimmung usf.) so erscheinen, als ob sie das Wesen des gesellschaftlichen Prozesses wären. Andererseits ist die Politik aber mehr als Ideologie und Überbau, indem darin das Potential enthalten ist, das in dieser Ideologie Versteckte, d. h. den Unterbau, den realen gesellschaftlichen Prozess, zu wandeln: »Also die Politik ist, exakt gesprochen, die Gestalt der Ideologie, die ihrerseits den Unterbau ergreifen und den Unterbau tendenziell verändern kann.« (PET 67 f.) In dieser Perspektive geht es nunmehr darum, die »unversöhnliche Kraft des Negativen«89 in der Wirklichkeit im politischen Alltagsleben zu entdecken. Der Ansatzpunkt für diese Kraft zur Negation des Bestehenden findet sich im Begriff des Nichtidentischen, der meines Erachtens in der gesellschaftstheoretischen wie politischen Dimension als das Dasein der widersetzlichen Kraft gegen die zusammenschließende Gesellschaft erweitert werden kann, insofern das Nichtidentische als ein Signifiant zu verstehen ist, das auf den Fehlschlag des Identifikationsprinzips hinweist. Das Nichtidentische und sein Leiden werden deshalb in der weiteren Darstellung die Schlüsselwörter in der Politik der Negativität. Das Bedürfnis nach dem Ausdruck des Leidens bringt den praktischen Impuls mit sich, und dies bedeutet, dass auch in der totalen Herrschaft Ethik und Politik möglich ist – das »Leiden« wird zum Grund der »Leidenschaft«. Falls in der totalen Herrschaft die Ethik und die Politik, also die »Praxis« möglich ist, ist es dies nur dann, wenn unser mimetischer Impuls, das Leiden des Anderen als jenes von sich selbst wahrzunehmen, auf das Pathos des Widerstandes hinausläuft. Dieses Pathos als die Negativität, das Negative des Bestehenden zu überschreiten, zur positiven Kraft der Transformation zu konstituieren, ist eben die Aufgabe der »Politik«. Die politische Theorie der Negativität soll dann eine Ausdrucksform von diesem negativen Pathos der Politik sein. »[H]inzutreten muß, als Konstituens der Erkenntnis, der praktische Wille zur Veränderung, der einmal die soziologische Wissenschaft inspirierte, bis über ihn das wissenschaftliche Tabu erging. Er ist aber nichts der Wissenschaft Äußerliches, sondern wird von ihrem physiognomischen Vermögen verinnerlicht, und berichtigt sich ebenso an der fortschreitenden Erfahrung wie an der Theorie.«90

89 Reflexionen zur Klassentheorie, GS 8, S. 375. 90 Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, GS 10.1, S. 195.

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Die Erweiterung der begrifflichen Kategorien der negativen Dialektik auf die reale Sphäre detailliert darzustellen ist die Aufgabe des dritten und vierten Kapitels. Meine Thesen für den Übergang von der negativen Dialektik zur Politik der Negativität sind in erster Linie wie folgt zu formulieren: Der Ausgangspunkt der Kritik bestimmter gesellschaftlichen Verhältnisse liegt in der Erfahrung des Leidens des Einzelnen. Es ist das Kriterium für die Einsicht in die Negativität der Gesellschaft. • Eine Gesellschaft wird gemäß den von ihr selbst aufgestellten Normen immanent kritisiert. Die Ideale der modernen Gesellschaft verlangen um ihrer Verwirklichung willen ihre Veränderung. • Während in der philosophischen Dialektik die Negation die tätige Kraft ist, den Schein der Selbstständigkeit des unmittelbar Vorhandenen abzustreifen, so ist die Politik als eine Kraft zu verstehen, die verselbstständigte Macht bestimmter gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewältigen. Die Politik ist die Kraft der Negation. • Indem die gesellschaftlichen Verhältnisse als eine verselbstständigte Totalität erscheinen, verlieren die Einzelnen als das Nichtidentische den allgemeinen Raum für die Verwirklichung ihrer Eigentümlichkeiten. Die Schaffung der allgemeinen Konstellation ohne Unterdrückung der Einzelheit ist der Zweck der Politik als Assoziationsform.



II. TEIL ZUR POLITIK DER NEGATIVITÄT

3. Verweilen beim Negativen: Einsicht in die Negativität der Gesellschaft

Wir haben in bisherigen Diskussionen gesehen, dass die negative Dialektik Adornos als das philosophische Projekt der kritischen Dialektik den Widerstand gegen die Gewalt des Bestehenden zum Ziel hat. Es zeigt sich dadurch ihr praktisches Interesse bezüglich der realen Verhältnisse. Unsere Fragestellung führt damit zur dialektischen Gesellschaftstheorie von Adorno, die grundsätzlich auf die Prämisse gestellt worden ist, dass eine Gesellschaft, wie er in seiner ersten Vorlesung der Einleitung in die Soziologie (1968) klarlegt, als »in sich wesentlich konstitutiv widerspruchsvoll« (ES, 18) aufzufassen ist, wodurch er sich von der empiristischen, positivistischen Richtung der Hauptströmung der Soziologie abzugrenzen versucht. Dadurch wird auf die Frage geantwortet, wie und in welchem Kriterium er die Widersprüche, die Negativität der Gesellschaft aufgefasst hat. »Das Ganze ist das Unwahre« (MM, 55). So lautet eine der berühmtesten Formulierungen Adornos in seiner Minima Moralia. Bei Betrachtung dieser These scheint es zuerst, als ob er eine nominalistische Gesellschaftsauffassung in den Vordergrund stellte, die beteuert, dass nur partikulare Erscheinungen theoretisch erfasst werden können, so dass eine allgemeine und systematische Theorie der Gesellschaft ebensowenig möglich wie begehrenswert wäre. In der Tat aber impliziert jener Satz nicht, dass Adorno die Einsicht in das Ganze überhaupt in seiner Gesellschaftstheorie aufgibt oder sogar normativ das Gewicht auf die Fragmentierung der Gesellschaft legt. Ganz im Gegensatz dazu formulierte Adorno in einem Gespräch mit Horkheimer aus dem Jahr 1939 seinen Standpunkt ausdrücklich wie folgt: »Wir können ja nicht sagen, das Ganze ist das

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Wahre, wir können nur sagen, das Ganze, das es nicht gibt, ist das Wahre.«1 Wie Alex Demirović zu Recht beschrieb, war jener Satz also keine abstrakte Kritik an dem gesellschaftlichen gesamten Zusammenhang überhaupt, sondern enthält die Forderung, »die Wahrheit über das Ganze der gesellschaftlichen Verhältnisse zu sagen«.2 Im Gegensatz zu vielen Adorno-Interpretationen, die sich lediglich auf seine Erklärung zur Unwahrheit des Ganzen konzentrieren, ohne seine Grundintention der richtigen, vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft mit zu berücksichtigen, zielt er vielmehr letzten Endes auf den Zustand »eines sozialen und geistigen Kosmos, der, nach Hegels Sprachgebrauch, ›substantiell‹, ohne Gewaltsamkeit, fürs Individuum fraglos verbindlich wäre« d.h., »eines richtigen, mit den Einzelnen versöhnten Ganzen«.3 Adornos Kritik der Überlegenheit des Allgemeinen über das Besondere stellt auf keinen Fall das Besondere als Gegenmittel zum Allgemeinen in den Vordergrund, vielmehr wollte er zeigen, dass »das Allgemeine in seiner gegenwärtigen Gestalt kein wahres Allgemeines ist« (LGF, 33) und folglich eine neue allgemeine Konstellation des gesellschaftlichen Zusammenhangs gebildet werden soll. Diese Kritik ist daher immer ein Ausdruck der Sehnsucht nach dem richtigen Allgemeinen, in dem das Besondere, das Einzelne nicht mehr subsumiert, sondern seine eigenständige Existenzweise gewaltlos aufbewahrt wird. »Wahrhafter Vorrang des Besonderen wäre selber erst zu erlangen vermöge der Veränderung des Allgemeinen.« (ND, 307) Aber gerade in diesem Punkt wird seiner Gesellschaftstheorie von den Kritikern, wie z. B. Axel Honneth, vorgeworfen, dass »all das, was sich in solchen Texten Adornos findet, [...] nicht nur wenig informiert, eigentümlich inspirationslos und daher geradezu dogmatisch [ist]« 4, weil ihm zufolge Adornos Gesellschaftstheorie grundsätzlich von den dogmatischen und unbeweisbaren (quasimetaphysischen) Voraussetzungen wie Tauschprinzip und Totalität abhänge und daran anschließend eine fundamentale, aber anscheinend nicht mögliche Veränderung des Ganzen fordere. Als Ausweg aus diesen Schwierigkeiten schlägt nun

1

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 478

2

Demirović, Alex: Leidenschaft und Wahrheit. Für einen neuen Modus der Kritik, in: ders. (Hg.): Kritik und Materialität, Münster, 2008, S. 34.

3

Theorie der Halbbildung, GS 8, S. 104.

4

Honneth, Axel: Eine Physiognomie der kapitalistischen Lebensform. Skizze der Gesellschaftstheorie Adornos, in: ders. (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter AdornoKonferenz 2003, Frankfurt/M, 2005, S. 165.

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Honneth vor, Adornos Theorie auf die normative Interpretation der Beschädigung der Lebensformen der Individuen im mikroskopischen Bereich zu beschränken. Allein auf die Analyse der normativen Grundlage der Gesellschaft konzentriert sich dabei Honneths Variante der kritischen Gesellschaftstheorie, die im Grunde genommen auf der individuellen Psychologie basiert, worin daher die Grundstruktur oder der innere Zusammenhang des gesellschaftlichen Ganzen verblendet bleibt und die fundamentale Begrenztheit der individuellen normativen Handlungen durch die gesamte Struktur einer Gesellschaft nicht berücksichtigt worden ist. Im Gegensatz dazu setzt Adornos gesellschaftliche Physiognomie eine systematische Analyse der Gesamtstruktur einer Gesellschaft voraus, weil die Ursache jener Beschädigung der Lebensformen der Individuen getrennt von dieser Gesamtstruktur nicht denkbar und die theoretische Einsicht ins Strukturgesetz der Gesellschaft deswegen erforderlich ist. Wenn die verselbstständigte Macht der Gesellschaft, die die individualistische Einsicht ihrerseits nicht einzubeziehen im Stande ist und für die daher die Kategorie der Totalität theoretisch vorausgesetzt werden muss, in Betracht kommt, dann leuchtet ein, dass die Methode der Gesellschaftsanalyse bei Adorno, von der Analyse des Leidens der Einzelnen ausgehend dies im Hinblick auf den gesamtgesellschaftlichen Zustand zu ergründen, eine wenig übersehbare Bedeutung hat. Adornos Versuch, die ethischen Fragen nach dem Leben und den Handlungen des Einzelnen in der privaten Sphäre an die sozialen und politischen Probleme, d. h., die Probleme des ganzen gesellschaftlichen Zusammenhangs anzuknüpfen (»vom Ethischen zum Politischen«) zeigt meines Erachtens eine Stärke seiner theoretischen Grundrichtung in Abgrenzung zu denjenigen gängigen Gesellschaftstheorien, die als angewandte Ethik die politischen Probleme durch das Ethische auflösen wollen (»vom Politischen zum Ethischen«).5

5

In ähnlicher Perspektive kritisierte Raymond Geuss die normativistische Richtung gegenwärtiger politischen Philosophien als »angewandte Ethik«. Vgl. Geuss, Raymond: Kritik der politischen Philosophie. Eine Streitschrift, Hamburg, 2011.

146 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT

3.1 E RKENNTNIS

DES GESELLSCHAFTLICHEN

L EIDENS

3.1.1 Leiden als Erkenntnis »Das Objekt ungeschmälerter Erfahrung«6 ist der Zweck jener subjektiven Erkenntnis bei Adorno, deren Theoretisierung bei ihm aber nicht mehr auf die Formanalyse des Subjektes reduzierbar ist. »Die Schlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis ist Erfahrung, nicht Form; was bei Kant Formung heißt, wesentlich Deformation.«7 Dies zeigt Adornos theoretisches Projekt, in dem eine auf der Erkenntniskritik begründete Gesellschaftskritik entwickelt wird: »Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.«8 In der traditionellen Erkenntnistheorie wird ein Gegensatz zwischen Rationalismus und Empirismus vorausgesetzt, wie er seit Platons Ideenlehre die dualistische Konstruktion der abendländischen Erkenntnistheorie herausbildete. Keine der beiden Positionen glaubte, dass es möglich ist, durch die subjektive Erfahrung hindurch die Allgemeinheit aufzufassen, denn der Rationalismus hat versucht, im Verfahren der Erkenntnis alle empirischen Erscheinungen zu abstrahieren, wohingegen der Empirismus sich damit begnügt hat, umgekehrt durch die unmittelbare Empirie nur partikulare Teile des Ganzen zu erfassen. Eine Wende tauchte dann in der Philosophie Hegels auf, indem dieser den Begriff der geistigen Erfahrung jenseits der dualistischen Konstruktion des Rationalismus und Empirismus entwickelte. Adorno nimmt nunmehr den hegelschen Erfahrungsbegriff auf und versucht, ihn auf seine Analyse der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur anzuwenden. Demzufolge ist die Erfahrung des Einzelnen weder eine unwesentliche noch eine unbegreifbare, sondern eine durch das Allgemeine vermittelte, in der der Prozess der objektiven Realität sedimentiert ist. Bevor ich auf die Diskussion über seinen eigenen Begriff der Erfahrung noch näher eingehe, halten wir zunächst Adornos Kritik an den traditionellen Erkenntnistheorien fest. In der rationalistischen Erkenntnistheorie der Neuzeit herrscht nach Adorno ein Primat des konstitutiven Subjektes, dem zufolge die Abstraktionstätigkeit des Subjektes als ein konstitutives Wesen des Erkennens bestimmt wird. Die Kritik dieses Primats macht nun den Kern des Vorrangs des Objektes bei Adorno aus, mit dem er zu zeigen versucht, dass je mehr der Geist paranoid fordert, seine Außenwelt (Sinnenerfahrung) zu abstrahieren, desto mehr paradoxerweise bewiesen wird, dass der Geist in sich bereits abhängig ist von dem,

6

Zu Subjekt und Objekt, GS 10.2, S. 747.

7

A.a.O., S. 752.

8

A.a.O., S. 748.

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was er verfolgen will, also von der Erfahrung – Ausschluss ist Adornos dialektischer Perspektive nach eine andere Seite von Einschluss. Die somatische Empfindung und das Körpergefühl sind Elemente, die eigentlich nicht von der Erkenntnis abtrennbar sind. Vielmehr hängt die subjektive Erkenntnis von der inneren Natur des Subjektes, dem körperlichen Moment ab. »Am ontischen Pol subjektiver Erkenntnis tritt« das körperliche Moment »als deren Kern hervor. Das entthront die leitende Idee von Erkenntnistheorie, den Körper als Gesetz des Zusammenhangs von Empfindungen und Akten, geistig also, zu konstituieren« (ND, 194). Dieser Erfahrungsbegriff lässt sich dennoch nicht direkt mit der Empirie im Empirismus gleichsetzen. Ute Guzzoni hat den Unterschied zwischen dem Erfahrungsbegriff im Empirismus (Empirie) und dem bei Adorno wie folgt formuliert: »Der hier verwandte Erfahrungsbegriff ist somit streng zu unterschieden vom empiristischen Erfahrungsbegriff alter oder neuer Art. Für diesen ist die Erfahrung gerade ausschließlich auf das sinnlich oder sprachlich gegebene reine Datum bezogen, während die allgemeine und einzelne Verfassung des erkennenden Subjekts in diesem Bezug keine verändernde oder gar konstitutive Rolle spielen soll. «9

Indem die Empirie durch den Empirismus in der Philosophie der Neuzeit als etwas Unmittelbares naiv unterstellt wird, wird das in Erfahrung sedimentierte, geschichtlich und gesellschaftlich vermittelte, nicht direkt durchsichtige Allgemeine nicht betrachtet. Von daher verkürzt Empirismus den Erfahrungsbegriff selbst, weil jener diesen nicht als eine komplexe, durch das Allgemeine vermittelte Gestalt aufzufassen vermag. Der Empirismus behandelt also nur den Sinnenreiz, aber nicht die Erfahrung des Einzelnen in einem überindividuellen, historischen und gesellschaftlichen Horizont. Adorno ruft nun eben in diesem Zusammenhang zur »Rebellion der Erfahrung gegen den Empirismus« (ES, 91) auf, indem er dagegen den geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang im Erfahrungsbegriff zu durchschauen und dadurch, wie Oskar Negt formulierte, einen »soziologisch erweiterten philosophischen Erfahrungsbegriff«10 zu entfalten versucht. Laut Adorno liegt die wesentliche Aufgabe der dialektischen Gesellschaftstheorie in diesem Bezug in der »Wiederherstellung« (ED, 90) der Erfah-

9

Guzzoni, Ute: Sieben Stücke zu Adorno, Freiburg/München, 2003, S. 46.

10 Negt, Oskar: Adornos Begriff der Erfahrung, in: Schweppenhäuser, Gerhard/Wischke, Mirko (Hg.): Impuls und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno, Berlin, 1995, S. 170.

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rung des Einzelnen, die dabei einerseits die Restauration der Erfahrung bedeutet, die durch die Instrumentalisierung der Vernunft vergessen und abstrahiert zu werden droht, andererseits als Rekonstruktionsversuch der Erfahrung zu verstehen ist, wobei sich die Verknüpfung der einzelnen Erfahrung mit dem gesellschaftlichen Zusammenhang finden lässt. Richten wir nun unser Augenmerk auf den Gehalt der Erfahrung des Subjektes. Wenn Adorno die rationalistische Erkenntnistheorie kritisiert, zielt diese Kritik auf die »Vergeistigung der Empfindung« ab, in der die sinnliche Wahrnehmung oder Empfindung zu untersten Stufen der Erkenntnis herabgesetzt oder sogar für die Begriffsbildung abstrahiert wird und damit den wirklichen Inhalt verliert. Dagegen handelt es sich bei Adorno um »das materialistische Element; sie grenzt an physischen Schmerz und Organlust; ein Stück Natur, das nicht auf Subjektivität sich reduzieren läßt«.11 Wie Alfred Schmidt zu Recht zeigt, besitzt Adornos Materialismus gegen jene Vergeistigungstendenz im Idealismus und Rationalismus »eine triebnaturalistische Komponente«. 12 Trotzdem ist diese materialistische Betonung des erkenntnistheoretischen Inhalts des Körpergefühls insofern nicht mit dem reinen Sensualismus zu verwechseln, als die Erkenntnis des sinnlichen, somatischen Wesens immer durch die gesellschaftliche Realität vermittelt ist. »Materielle Realität im hierzu erforderlichen Sinn«, so Schmidt, »kommt Adorno zufolge nur dem historischen Lebensprozeß der Gesellschaft zu.«13 Wenn aber das gesellschaftliche Ganze ein Negatives ist, wenn nämlich der Inhalt der Erfahrung des Subjektes in einem falschen Zustand eine negative Erfahrung ist, so wird auch der Ausdruck dieser Erfahrung des Subjektes notwendigerweise eine negative Form annehmen: das Leiden. Daraus wird nunmehr eine kritische Bedeutung abgeleitet, die die Erkenntnis des Leidens besitzt, nämlich dass Leiden als das leibhafte Moment der Erkenntnis zum kritischen Kriterium der Gesellschaftsanalyse wird und die kritische Theorie der Gesellschaft demgemäß normativ fordern muss, dass Leiden aufhören soll.14 Das Leiden als das Kriterium des Negativen der Gesellschaft, index falsi, besitzt in diesem Sinne einen Wahrheitsgehalt, index veri. Das somatische Moment bei Adorno ist in Abgrenzung zum sensualistischen Empfindungsbegriff als irreduzibler Kern erfahrener Negativität zu sehen.

11 Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. GS 5, S. 166. 12 Schmidt, Alfred: Begriff des Materialismus bei Adorno, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 24. 13 Schmidt, Alfred: Adornos Spätwerk: Übergang zum Materialismus als Rettung des Nichtidentischen, S. 95. 14 Vgl. Schmidt, Alfred: Begriff des Materialismus bei Adorno, S. 25.

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Schmidt hat, wie gesehen worden ist, scharfsinnig zur Kenntnis genommen, dass das somatische Moment bei Adorno einen Inhalt der Erkenntnis besitzt und dies zu einer Kritik der Herrschaft als Grundlage des Leidens führt. Dennoch missversteht er den Erfahrungsbegriff Adornos in theoriegeschichtlicher Hinsicht, wenn er Adornos Begriff der körperlichen Erfahrung auf den naturalistisch-sensualistischen Materialismus bei Feuerbach zu beziehen versucht. »Die triebnaturalistische Komponente des Adornoschen Materialismus verweist zurück auf Feuerbachs sensualistischen Protest gegen Hegel.«15 Diese Aussage entspricht aber in der Tat nicht der Auffassung des Materialismus bei Adorno, der sich an die marxsche Feuerbachkritik anzuschließen versucht: »Gemeint ist gewiß nicht der anthropologische Naturbegriff Feuerbachs, gegen den Marx den dialektischen Materialismus pointierte, im Sinn einer Reprise Hegels wider die Linkshegelianer.« (ND, 347) Gegen die naturalistische und sensualistische Interpretation von Adornos Erfahrungsbegriff bei Schmidt erhebe ich den Einwand, dass sich der Ausdruck der körperlichen Erfahrung bei Adorno immer auf eine auf der objektiven, also geschichtlichen und gesellschaftlichen Dimension beruhende, verkörperte geistige Erfahrung bezieht.16 Demzufolge ist die Erfahrung zuerst eine geistige – Geist ist aber bei Adorno (ebenso wie bei Hegel 17) nicht als selbstständige und mystifizierte Ideengestalt,

15 Schmidt, Alfred: Adornos Spätwerk: Übergang zum Materialismus als Rettung des Nichtidentischen, S. 98. 16 Anders Bartonek und Raymond Geuss zeigen in Bezug auf den Erfahrungsbegriff bei Adorno eine der meinen ähnliche Hinsicht. Bartonek definiert Adornos Erfahrungsbegriff derart: »Erfahrung ist nicht mit Wahrnehmung identisch, sondern ist – als geistige Erfahrung – begrifflich bearbeitete Wahrnehmung.« (Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, S. 99.) Raymond Geuss definiert auch in diesem Zusammenhang Adornos Philosophie als »eine Philosophie des leidenden Geistes.« (Geuss, Raymond: Leiden und Erkennen (bei Adorno), in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M, 2005, S. 42.) Ihm zufolge geht es bei Adornos Philosophie um diese Interpretation des Leidens unter einer speziell normativ bestimmen Welt, und gerade dieser Interpretationsprozess bildet Adornos Begriff der Erkenntnis. 17 Der Geist bei Hegel bedeutet, wie Andreas Arndt formuliert, »Ausdruck und zugleich auch praktisches Moment der Gestaltung der jeweiligen ›Welt‹«, und ist daher kein rein abstrakt-philosophischer Begriff, sondern immer mit dem »Prozess des Weltwerdens geistiger Prinzipien überhaupt« zusammen zu denken (Arndt, Andreas: Ge-

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sondern als ein Produkt eines menschlichen Zusammenlebens, als historisch gebildete kollektive Bewusstseinsform einer Zeit zu verstehen. Indem der Geist auf diese Weise nicht als autarkische Gestalt, sondern immer als ein Resultat der Praxis in einem bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang anzusehen ist, beinhaltet die geistige Erfahrung immer einen Abdruck des gesellschaftlichen Zustandes, in dem sich ein Subjekt der Erfahrung befindet. Das körperliche Leiden ist in diesem Sinne als ein Ausdruck der geistigen, inneren Zerrissenheit in der bestimmten gesellschaftlichen Negativität zu verstehen – und dies impliziert allerdings, dass sich das materialistische Moment des physischen Leidens zwar der idealistischen, abstrakten Vergeistigung entgegensetzt, jedoch nicht dem dialektischen Begriff der geistigen Erfahrung, der mit dem Materialismus nicht antithetisch ist. In diesem Kontext kann man sagen, dass das Vorbild des Erfahrungsbegriffs bei Adorno nicht, wie Schmidt aufgefasst hat, der naturalistische und sensualistische Materialismus von Feuerbach ist, sondern der Begriff der geistigen Erfahrung bei Hegel, insbesondere in seiner Phänomenologie des Geistes. »Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstände ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.« (PG, 78)

Hegel bestimmt die Erfahrung als eine dialektische Bewegung, als einen Prozess, in dem das Bewusstsein sich selbst von seinem natürlichen Zustand her über seine Selbstverlorenheit, seine Negativität zu seinem erhöhten Zustand unablässig entfaltet, was bedeutet, dass die Erfahrung sich auf den konkreten Inhalt bezieht, den das Bewusstsein in seinem Entfaltungsprozess als seine Negativität, seinen Verlust und seine Zerrissenheit erleidet, damit ein neuer Gegenstand (eine neue, höhere Bewusstseinsform) daraus entspringt. Phänomenologie des Geistes ist in diesem Sinne als eine »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins« (PG, 80) zu verstehen, die viel mehr bedeutet als eine Erkenntnistheorie, indem die Erfahrung des Bewusstseins ein Prozess der Erkenntniskritik ist, in dem es sich so entfaltet, dass die Inhalte seines Erkennens kritisiert und überwunden werden. Dieser Erfahrungsbegriff Hegels spielte eine maßgebliche Rolle, wenn Adorno die dualistische Abstraktheit der traditionellen Erkenntnistheorie kritisch zu betrachten und damit einen für sein Konzept der dialektischen Gesellschaftstheorie geeigneten Erfahrungsbegriff zu entwickeln versucht:

schichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin, 2015, S. 27.).

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»Denn die Hegelsche Philosophie beansprucht, über den Gegensatz von Rationalismus und Empirismus [...] hinaus zu sein: also ebenso in ihren Erfahrungen von der Welt deu tend des Geistes mächtig zu werden, wie in der Bewegung des Geistes die Erfahrung zu konstruieren. « (DSH, 297)

An dieser Stelle in Drei Studien zu Hegel wird der Geist als den Erfahrungskern beinhaltend dargestellt, womit Adorno die hegelsche Gleichsetzung der Erfahrung mit der dialektischen Bewegung akzeptiert. Der Geist ist immer die Erfahrung einer Zeit, die Erfahrung der Inhalt der Zeit, der durch den geistigen Reflexionsprozess hindurch im Bewusstsein erscheint. Seit Adorno in 1931 in seinem Vortrag Die Aktualität der Philosophie Deutung als Idee der Philosophie verkündete18, wird die Philosophie von ihm als die kritische Arbeit der Vernunft verstanden, die versucht, aus der im Geist erscheinenden Erfahrung heraus das Wesen ihrer Zeit zu deuten, und von daher ist die Feststellung des Leidens in dieser Erfahrung bei Adorno das »Maß der Philosophie« (PT 1, 171). Die innere Zerrissenheit des Subjektes ist durch diese von Hegel motivierte, kritische und philosophische Gesellschaftstheorie, durch die Hermeneutik des Leidens als die Ursache des Leidens zu betrachten. Sie ist auch ein Zeichen dafür, dass ein einheitlicher (innerer) Charakter des Subjektes nicht herausgebildet werden kann, insofern in der gesellschaftlichen Realität nur ein innerlich gespaltetes Subjekt gebildet wird. Die psychische Identität des Subjektes ist darum eine innerlich gespaltete Identität und Totalität. »Seine Totalität ist fiktiv: man könnte ihn [Charakter des Subjektes – S.H.] beinahe ein System von Narben nennen, die nur unter Leiden, und nie ganz, integriert werden.«19 In der gesellschaftlichen Totalität, die wegen ihrer inneren Zerrissenheit (Antagonismus) nicht ganz integriert werden kann, erscheint die Einheitlichkeit des subjektiven Bewusstseins auch als innerlich zerrissen, und damit als nicht zusammengeschlossen, wie die Psychoanalyse von Freud und Lacan bewies. Wir gehen nun zuerst auf die Erkenntnisfunktion des Leidens zurück. Diesem Aspekt der Erkenntnis des Leidens entspricht meines Erachtens das, was Adorno in seiner Vorlesung über Negative Dialektik als »Erkenntnis von unten nach oben« (VND, 123) ausgedrückt hat. Dem zufolge bezieht sie sich auf ein »Sichüberlassen«, ein Verhalten des erkennenden Geistes, sich (mimetisch) dem konkreten Gegenstand zu nähern, in Abgrenzung zur »Erkenntnis von oben nach unten«, die durch die abstrakte Schematisierung den Gegenstand klassifiziert. Diese Haltung der Erkenntnis von unten kann man meines Erachtens im gleichen

18 Vgl. Die Aktualität der Philosophie, GS 1, S. 334. 19 Die revidierte Psychologie, GS 8, S. 24.

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Kontext der Definition der Dialektik Adornos, wie wir im ersten Kapitel festgestellt haben, als »Sich-der-Sache-Überantworten« positionieren. Auch hier wird allerdings der Einfluss der hegelschen Phänomenologie des Geistes auf die Erkenntniskritik sowie die eigene Erkenntniskonzeption Adornos gefunden, insofern es vor allem Hegel war, der im Laufe der Erfahrung des Bewusstseins das Moment des sich dem Gegenstand nähernden Geistes hervorhob: »Das wissenschaftliche Erkennen erfordert aber vielmehr, sich dem Leben des Gegenstandes zu übergehen oder, was dasselbe ist, die innere Notwendigkeit desselben vor sich zu haben und auszusprechen.« (PG, 52) Mit dieser »Erkenntnis von unten« leistet die Erkenntnis des Leidens (als Erscheinung) der kritischen Besinnung Vorschub, indem sie die Reflexion über die objektive gesellschaftliche Realität (als Wesen) ermöglicht. Auch in diesem Sinne besitzt der Ausdruck des Leidens einen Wahrheitsgehalt, da es eine subjektive Erfahrung ist, die objektiv durch die gesellschaftliche Realität vermittelt ist. »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als ein Subjektives erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.« (ND, 29) Das Leiden hat den Wahrheitsgehalt, indem es zum Ausdruck dieses Wesens als Negativität verhilft »Daß es [das Ganze – S. H.] mit dem Einzelnen unversöhnt bleibt, ist Ausdruck seiner eigenen Negativität. Wahrheit ist die Artikulation dieses Verhältnisses.«20 »Aller Schmerz und alle Negativität« sind bei Adorno in diesem Zusammenhang »Motor des dialektischen Gedankens« (ND, 99). Das Ideal der wahren Erkenntnis in der negativen Dialektik, das begriffliche Denken mit der nichtbegrifflichen Erfahrung zu versöhnen, d. h., »die volle, unreduzierte Erfahrung im Medium begrifflicher Reflexion« (ND, 25) enthält daher einen normativen Gesichtspunkt und zielt auf diese Weise inhaltlich darauf, vermöge der philosophischen Deutungsarbeit das Leiden auszudrücken und fordert darüber hinaus normativ, es abzuschaffen. 21

20 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 319. 21 In ähnlicher Hinsicht schreibt Gerhard Schweppenhäuser: »Adorno stellt sein Denken gewissermaßen a priori unter einen moralischen Gesichtspunkt. Dem Leiden Wort und Begriff zu geben und an seiner Abschaffung zu arbeiten, ist das Movens Kritischer Theorie.« (Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg, 1993, S. 6.)

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3.1.2 Kritik der prekären Lebensformen »Das Wesen muß erscheinen.« (WL II, 124) Dieser bemerkenswerte Satz von Hegel über das Verhältnis zwischen Wesen und Erscheinung zeigt, dass sich einerseits das Wesen lediglich in seiner Erscheinung darstellen könne, andererseits daher die Erscheinung ein notwendiger Ausdruck des Wesens sei. Dieser Satz wurde von Adorno als methodologische Idee seiner dialektischen Gesellschaftstheorie aufgenommen und erweitert: Einzelne soziale Erscheinungen sind keinerlei Konsequenz einer isolierten Zufälligkeit, sondern notwendiger Ausdruck vom Wesen als dem Gesetz, der makrokosmischen Struktur der Gesellschaft. »Der Satz von Hegel, daß das Wesen erscheinen müsse, hat durchaus auch für die Soziologie, durchaus auch für ihre Methoden, soweit sie der Analyse des Wesens gelten, seinen Sinn, das heißt, es ist ganz müßig und ganz leer, von ›dem Wesen‹ oder ›wesentlichen Gesetzen der Gesellschaft‹ zu reden, wenn diese Gesetze nicht in den Phänomenen durch deren Interpretation selber sichtbar gemacht werden; wenn nicht dieses Wesen eben in den Phänomenen aufgedeckt wird.« (ED, 40 f.)

Das Wesen der gesamtgesellschaftlichen Struktur enthüllt sich, indem es jederzeit erscheint. Der Ort, auf den jene kritische Gesellschaftstheorie ihre Aufmerksamkeit richten soll, die das Wesen der gesellschaftlichen Struktur durchschauen will, ist die Stelle, wo es erscheint. Dieser Gedanke von Adorno setzt voraus, dass das Wesentliche nicht immer etwas umfassend Großes bedeuten muss, also »daß das Wesentliche nicht identisch sein kann mit den sogenannten großen Gegenständen« (ES, 37). Das Wesentliche kann auch in dem anscheinend als unwesentlich Erscheinenden auftreten: Es ist eine der Aufgabe der kritischen Gesellschaftstheorie, zu beleuchten, wie das Wesentliche in den mikroskopischen, kleinen und peripheren Erscheinungen versteckt ist, also »wie in einzelnen sozialen Phänomenen Wesentliches aufgeht oder erscheint« (ES, 41), dies insbesondere in einem Zustand der integrierten Gesellschaft, wo das Identifikationsprinzip herrscht und die Einzelnen dadurch »zu mikrokosmischen Abbildern des Ganzen« (ES, 74) werden. Daran schließt sich nun ein Hauptmotiv der Psychoanalyse von Freud an. Die Themen, die den Kern der freudschen Psychoanalyse ausmachen, sind periphere, irrationale Erscheinungen des Subjektes: Irrtümer, zufällige Handlungen, Träume und Neurosen, wie Adorno mit freudschen Ausdrücken wie »Abhub des Begriffs« (VND, 96) oder »Abhub der Erscheinungswelt« (ND, 172) zeigen wollte, worin Freud eine Möglichkeit der wissenschaftlichen Deutungsarbeit zur Struktur des Unbewussten sieht. Adornos Idee der negativen Dialektik, die Er-

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kenntnis des Nichtbegrifflichen, lässt sich sehr eng mit diesem Thematisierungskonzept der Psychoanalyse verbinden und dann auf die Gesellschaftsanalyse in ihrer mikrokosmologischen Sphäre anwenden, damit soll »das Vernachlässigte, das Ausgeschlossene« der Hauptgegenstand der kritischen Gesellschaftstheorie werden. Hierbei wird die These vertreten, dass »die gesellschaftliche Physiognomik des Erscheinenden«22, die er unter dem Einfluss von Benjamin entwickelte, als Erweiterung der Idee der »Erkenntnis von unten« auf den Bereich der Gesellschaftstheorie und auch als eine Verbindung zwischen der hegelschen Dialektik und der Psychoanalyse zu verstehen ist. Dabei geht es um die Deutung, das heißt, die Einsicht in das Wesen des gesellschaftlichen Ganzen an den einzelnen Elementen der Erscheinungen, damit will Adornos gesellschaftliche Physiognomik als Hermeneutik des Leidens durch die Erkenntnis von unten »an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr werden«.23 Dieser Konzeption der sozialen Physiognomik zufolge sind mit der Beachtung der Peripherie der Erscheinungswelt, des mikroskopischen privaten Bereichs die wesentlichen Aspekte der Gesellschaft, die in jenen kleinen Bereich eingesickert sind, zu verfolgen. Diese Physiognomik schließt das theoretische und damit begriffliche Denken nicht aus, insofern die Theorie aus der Basis der Physiognomik das Wesentliche erkennen und damit das systematische Bild der Gesamtgesellschaft gewinnen soll. Die gesellschaftliche Physiognomik ist auch als ein theoretischer Versuch zu verstehen. »Theorie und gesellschaftliche Physiognomik fusionieren sich. [...] Bis hinab zu ebenso läppischen wie affektiv besetzten privaten Zänkereien präsentiert die Gesellschaft den Lebendigen die Rechnung für ihre verkehrte Gestalt, an der sie mitschuldig sind, und für das, was sie aus ihnen gemacht hat.«24

Die positivistische Sozialwissenschaft, die der Gegenstand der Polemik Adornos war, hält die Erscheinungen nur als Empirie für den unmittelbaren Gegenstand der Analyse, während die dialektische Theorie der Gesellschaft das Wesen von der Erscheinung unterscheidet. Adorno erkennt die Existenz des verborgenen Wesens der Erscheinung (in der Form von Gesetz und Struktur der Gesamtgesellschaft) an, damit auch teilweise den Wahrheitsgehalt der prima philosophia als Metaphysik gegenüber dem Positivismus – indem er dennoch diagnostiziert, dass das Wesen zugleich das Unwesen ist, und damit die gegenwärtige gesell-

22 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 315. 23 Ebd. 24 Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, GS 8, S. 186.

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schaftliche Wesensstruktur kritisiert, unterscheidet sich seine Gesellschaftstheorie von jener. Dabei stellt sich die Frage, wie es erkennbar ist, dass das Wesen das Unwesen sei, wenn wir in einem Unwesen leben, es aber für ein wirkliches Wesen halten. Das Kriterium dessen liegt letztlich in der Erscheinung, dem entäußerten Ausdruck des Wesens. Dies weist sodann auf die Hermeneutik des Leidens als philosophische Begründung der kritischen Gesellschaftstheorie hin. Wenn Adorno also aufzeigt, dass das Kriterium der Gesellschaftstheorie im »realen Leben der einzelnen Menschen«25 und im Leiden und der subjektiven Erfahrung besteht, so bedeutet dies, dass Adornos Anstrengung der philosophischen Begründung der kritischen Gesellschaftstheorie auf das Herauslesen der hier und jetzt passierenden Gewalttätigkeiten und Leiden zielt. Dieser Gedanke führt weiterhin dazu, dass die individuelle, private Sphäre im Grunde genommen als der Ort zu lesen ist, an dem der soziale Antagonismus erscheint. Unter der Voraussetzung, dass im Zeitalter des Spätkapitalismus die klare Grenze des Klassengegensatzes nicht durchschaubar ist, stellte Adorno die Hypothese auf, dass obwohl es so scheint, dass der Antagonismus gemäß der gesellschaftlichen Integrationstendenz verschwunden ist, er sich in der Tat im privaten Bereich weiter reproduziert – Dies gilt nunmehr umgekehrt als ein Beweis dafür, dass der gesellschaftliche Antagonismus sich fortsetzt und in der Tat nicht, wie angenommen, verschwunden ist. »Gesellschaftliche Erkenntnis, die weder die Theorie noch die Epiphänomene fetischisieren möchte, muß der Gestalt sich versichern, in welcher die objektiv vorhandenen, aber im doppelten Sinn verdrängten Klassengegensätze sich manifestieren. Unabweisbar die Ver mutung, das geschehe im privaten Bereich.«26

Indem Adorno die Einsicht aus seiner erkenntnistheoretischen Perspektive des Leidens gezogen hat, dass bei den Einzelnen die »objektive Negativität als subjektives Leiden, und zwar über die Klassengrenzen hinweg, erfahren« 27 wird, konnte er eine eigenständige Methode der kritischen Gesellschaftstheorie entwickeln, die aufgrund der subjektiven Erfahrung den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft zu beleuchten versucht. Hierbei ist das zu finden, was Rahel Jaeggi in ihrer Betrachtung von Adornos Minima Moralia »eine Kritik des Kapitalis-

25 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 292. 26 Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, GS 8, S. 184 f. 27 Ad Lukács, GS 20.1, S. 254.

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mus als Lebensform«28 nannte. In seiner Minima Moralia stellte Adorno hierzu die Formulierung in den Vordergrund: »[D]as Individuellste sei das Allgemeinste.« (MM, 50) Die individuelle Lebensform ist danach ein Reflex der überindividuellen und allgemeinen Situation der Gesellschaft und damit der Index der Kritik der Gesellschaft, indem die subjektive Erfahrung, die sie ausdrückt, auf diese objektive Realität der Gesamtgesellschaft hinweist. Daran schließt meine These an, dass Adornos soziale Physiognomik die Kritik der prekären Lebensformen und damit die Kritik der Prekarisierung ankündigt. Bereits in der Dialektik der Aufklärung hat Adorno mit Horkheimer im Jahr 1944 folgende auffallende These präsentiert: Die Stellung des Einzelnen wird prekär. Als Grund dafür wurde angesprochen, dass sich die Rolle der angestellten Arbeiterklasse in der gesamten Wirtschaft im Spätkapitalismus zusehends reduziert – allerdings abgesehen davon, dass diese Erscheinung in der Tat ein Schein der spätkapitalistischen Wirtschaftsform ist. »Die Arbeiter, die eigentlichen Ernährer, werden, so will es der ideologische Schein, von den Wirtschaftsführern, den Ernährten, ernährt. Die Stellung des Einzelnen wird damit prekär. Im Liberalismus galt der Arme für faul, heute wird er automatisch verdächtig.« (DA, 173)

Diese These der »Prekarisierung des Einzelnen« bezieht sich eigentlich auf die wirtschaftliche Situation in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als die Arbeiterklasse durch die staatliche Wohlfahrtspolitik wirtschaftliche Erhöhung und Stabilität erlebt hat. Trotzdem zeigt sich ihre bemerkenswerte Aktualität noch in der heutigen gesellschaftlichen Situation, in der die Wohlfahrtspolitik durch den neoliberalen Finanzkapitalismus zerbrochen ist. Der Neoliberalismus, der nunmehr seit Dutzenden von Jahren als ein Prinzip der ökonomischen Politik auf der Welt wirksam ist, die daraus resultierte wirtschaftliche Krise und die gesellschaftliche Polarisierung haben eine Änderung im Verständnis des Begriffs der Klasse bewirkt. Das traditionelle Verständnis der Arbeiterklasse oder des Proletariats bezieht sich auf die Gruppe jener Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen und für den zeitweisen Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Klasse der Kapitalisten Arbeitslohn erhalten. Sie konstituieren Organisationen und verteidigen damit ihre Rechte, üben politischen Einfluss aus. Doch aufgrund der scharfen sozialen Polarisierung muss der bisherigen

28 Jaeggi, Rahel: »Kein Einzelner vermag etwas dagegen«. Adornos Minima Moralia als Kritik von Lebensformen, In: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M, 2005, S. 116.

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Vorstellung vom Proletariat noch die Existenz der neuen instabilen sozialen Klasse, »Prekariat«, hinzugefügt werden. Aufgrund der dauerhaften Arbeitslosigkeit und der sich wiederholenden wirtschaftlichen Krise nach der weltweiten neoliberalen Politik beherrscht die Logik der ökonomischen Leistung immer mehr das Leben der Individuen. Es ist die Liquidation des Individuums im Zeitalter des extremen Individualismus. Dieser Widerspruch wird durch die Beobachtung deutlich, wie prekär das Leben des Individuums geworden ist. Dies zeigen uns die soziale Klasse des Prekariats bzw. die heutigen Jobnomaden. Der Begriff des Prekariats ist ein Neologismus, ein Portmanteau aus dem Adjektiv »prekär« und dem »Proletariat«. Dieser Begriff deutet auf eine soziale Schicht hin, der diejenigen Menschen angehören, die keine festen Arbeitsplätze haben und die in extremer Unsicherheit leben müssen. In diese Gruppe sind nicht nur saisonale oder temporäre Arbeiter und Arbeitslose, sondern auch Intellektuelle, die trotz ihres hohen Bildungsniveaus keine festen Arbeitsplätze bekommen können, Künstlerinnen und Künstler sowie Alleinerziehende eingeschlossen. Es ist ihre gemeinsame (prekäre) Lebensweise oder Existenzweise, die diese verschiedenartigen Menschengruppen zu der Kategorie des Prekariats verbindet. Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich das Prekariat von der Auffassung eines Klassenverhältnisses, das zur Definition des Proletariats angeführt wird. Die traditionelle Methode zur Definition der Arbeiterklasse geht von ihrem gemeinsamen und objektiven ökonomischen Interesse (insbesondere gegen Kapitalisten) aus, wohingegen sich das Prekariat nicht durch das ökonomische Interesse (die Prekären haben kein gemeinsames Interesse), sondern durch seine (prekären und instabilen) Lebensformen auszeichnet. Das Prekariat ist also eine anonymisierte, zersplitterte Masse, ein Beispiel der »negativen Individualisierung«, es wird durch den Mangel an Würde, Sicherheit, gesicherten Gütern und stabilen Beziehungen charakterisiert. Während sich mit dem Proletariat allerlei Heilserwartungen oder politische Verbesserungsphantasien verknüpfen, eignet sich das Prekariat heute eher für politische Ressentiments und soziale Resignation. Das Prekariat als die Jobnomaden der heutigen Welt scheint in dieser Perspektive ein Ort sozialer Aussichtslosigkeit zu sein. Das schweifende und schwebende Leben ohne irgeneinen bestimmten Lebensrhythmus – das ist der Charakterzug des Prekariats. Sein Auftritt fordert die philosophische und kritische Reflexion auf die heutige Gesellschaft, und bereits in Adornos sozialer Physiognomik zeigt sich Anlass für die weitere Einsicht in diese Problematik. Seine Analyse der Angst des Einzelnen in seiner gesellschaftlichen Umwelt als zweite Natur schließt sich an die Kritik der prekären Lebensformen an, indem die Angst eine grundsätzliche Erscheinungsform der prekären Existenzweise ist.

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Er stellt die Angstkategorie von daher als einen Knotenpunkt der psychischen Analyse und der Gesellschaftskritik wie folgt dar: »Die Angst vorm Ausgestoßenwerden aber, die gesellschaftliche Sanktionierung des wirtschaftlichen Verhaltens hat sich längst mit andern Tabus verinnerlicht, im einzelnen niedergeschlagen. Sie ist geschichtlich zur zweiten Natur geworden; nicht umsonst bedeutet Existenz im philosophisch unverderbten Sprachgebrauch ebenso das natürliche Dasein wie die Möglichkeit der Selbsterhaltung im Wirtschaftsprozeß. «29

In einem am 3. 2. 1965 geführten Gespräch mit Arnold Gehlen hat Adorno den Grund für die »Realangst« der einzelnen Menschen erwähnt und damit die These von der potentiellen Überflüssigkeit aller Menschen in der total verwalteten spätkapitalistischen Gesellschaft aufgestellt, nämlich »daß innerhalb der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verfassung im Grunde die Menschen überflüssig für die Erhaltung ihrer eigenen Gesellschaft sind und daß wir alle im Innersten wissen, daß wir potentielle Arbeitslose sind und daß wir durchgefüttert werden, das heißt, daß es ohne uns auch ginge. Ich glaube, das sind die höchst realen Gründe dieser Angst.«30

Diese Einsicht in die Überflüssigkeit jedes Einzelnen, dass alles »ohne uns auch ginge«, ist für die heutige Welt im Neoliberalismus viel aktueller geworden, in der die prekären Lebensformen zu einem Teil des Alltagslebens wurden. Angst, Instabilität und Abhängigkeit sind die Grundcharakterzüge der Lebensweise der einzelnen Menschen, die an der gesellschaftlich verursachten Prekarisierung leiden. Wir finden den Zugang zur Kritik des Kapitalismus aufgrund der prekären Lebensformen der modernen Menschen durch Adornos Versuch, die Spuren der Herrschaft in der kapitalistischen Produktionsweise im Bereich der Lebensformen der Einzelnen auszumachen. In diesem Kontext der sozialen Physiognomik und Kritik der prekären Lebensform ist meines Erachtens auch Adornos Lehre von der Kulturindustrie zu reinterpretieren, die vielen Kritikern als problematisch gilt, weil sie die Sache übertreibe und darum keine Lösung zeigen könne, da sie voraussetze, dass die Masse ihre Fähigkeit zur Einrichtung der autonomen

29 Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, GS 8, S. 47. 30 Adorno, Theodor W./Gehlen, Arnold: Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Ein Streitgespräch, in: Grenz, Friedmann: Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt/M, 1974, S. 248.

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Kultur völlig verloren habe. Tatsächlich scheint es so, dass Adorno in der Dialektik der Aufklärung keine Außenwelt der kulturellen Totalität erlaubt und seine Theorie damit ausweglos ist: »Alles Erscheinende ist so gründlich gestempelt, daß nachgerade nichts mehr vorkommen kann, was nicht vorweg die Spur des Jargons trüge, auf den ersten Blick als approbiert sich auswiese.« (DA, 149) Trotzdem erhalten theoretische Elemente des Kulturindustrie-Kapitels in der Dialektik der Aufklärung meines Erachtens ihre Aktualität, indem hier ein aufschlussreicher theoretischer Ansatz in der Analysemethode gefunden wird – eine hermeneutische kritische Theorie der Gesellschaft, die von der privaten, mikroskopischen kulturellen Sphäre ausgehend das Moment der darin enthaltenen Herrschaft herausliest. So erblickt Adorno beispielsweise ein widersprüchliches Verhältnis zwischen der Herrschaft und dem Subjekt bei städtischen Wohnungsproblemen, deren Erscheinung heute am Problem der »Gentrifikation« zu erkennen ist, in deren Verlauf sich die kulturelle sowie sozioökonomische Metamorphose bestimmter Viertel in Großstädten und der Exodus ärmerer auf der einen Seite und der Zuzug vermögenderer Bevölkerungsgruppen auf der anderen Seite vollziehen. Infolge dessen und der dazu einlenkenden Maßnahmen der Immobilienindustrie führt dies zum Anstieg des Wohnpreisniveaus, was der untersten Schicht der Bevölkerung und den »Prekariern« schlechte Lebensformen aufzwingt. Die modernen Kleinwohnungen und der dazugehörige Stadtbauplan produzieren den Schein, dass das Individuum ein autonomes Subjekt und Herr seines Umweltbereichs sei, aber sie »unterwerfen es« zugleich »seinem Widerpart, der totalen Kapitalmacht« (DA, 141), weil das Individuum in der Tat sein Alltagsleben nur innerhalb der Grenze, die durch die Profitwirtschaft, also »Kapitalmacht« gestellt worden ist, fixiert planen und betreiben kann. Im Mikrokosmos unseres Alltagslebens setzt sich die makrokosmische gesellschaftliche Herrschaft durch, was die Identität von Allgemeinem und Besonderem, dies jedoch auf eine falsche Weise, zeigt. »Die augenfällige Einheit von Makrokosmos und Mikrokosmos demonstriert den Menschen das Modell ihrer Kultur: die falsche Identität von Allgemeinem und Besonderem.« (Ebd.) In seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit hat Adorno aus einer ähnlichen Perspektive die Identifikationstendenz der Lebensformen der Einzelnen, und zwar vor dem Hintergrund der Globalisierung – allerdings war dieser Begriff zu seinen Lebzeiten nicht so geläufig wie heutzutage – der Ökonomie und Kultur zum Ausdruck gebracht, was im heutigen Zusammenhang um einiges deutlicher zu erkennen ist. Dort nannte er dieses Identifikationsphänomen »die Konvergenz ungezählter Lebensformen, Produktionsformen bis in Kleidung und alle möglichen Dinge hinein« (LGF, 160), und darin sieht er »eben die Vormacht der industriellen Produktion« (ebd.).

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Diese Phänomene im Bereich der Lebensformen zeigen den Fortbestand der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Individuen und weisen damit darauf hin, dass das Projekt des Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft in der Neuzeit grundsätzlich gescheitert ist. Dieser Fehlschlag ist aber insofern bereits zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft angekündigt worden, als im wirtschaftlichen System, auf dem sie basiert, allein die Selbstverwertung des Werts zum Selbstzweck wird und das Einzelne zum Mittel dafür herabgesetzt wird. Ein Ausdruck in der Dialektik der Aufklärung, »der subjektlose Kapitalismus« (DA, 134) verweist auf diese Problematik des Fehlschlags des subjektivistisch orientierten Projektes des Individualismus. Diese Logik der Verwertung des Werts in der kapitalistischen Produktionsweise ist durch ein Prinzip gekennzeichnet, das die Individuen zwar befolgen müssen, um sich gesellschaftlich zu erhalten, um ihre gesellschaftliche Existenz und ihre Umwelt zu bewahren und zu reproduzieren, aber zugleich über die Köpfe der Individuen hinaus durchgesetzt wird und damit notwendigerweise ihnen ihre gesellschaftliche Fremdbestimmung aufzwingt. »Die Theorie der verwalteten Welt ist«, wie Schiller zu Recht aufzeigt, »deshalb immer auch eine Theorie vom Schicksal der Individuen, die der Verwaltung unterworfen werden.«31 Es handelt sich dabei um eine gesellschaftlich erzwungene Heteronomie, eine Vergesellschaftung als Verwaltung für die Verwertung des Werts, was letztlich ein Funktionszusammenhang der Heteronomie ist. Soweit ist der Grund ersichtlich, warum eine Gesellschaftstheorie, die ihr Augenmerk auf den privaten und mikroskopischen Bereich richtet, letzt endlich die Veränderung des Ganzen, des gesellschaftlichen Makrokosmos fordern muss: Das Wesen muss als das Unwesen erscheinen und darum praktisch verändert werden. Durch die Erkenntnis des Leidens in der privaten und mikroskopischen Sphäre und die damit einhergehende Kritik der prekären Lebensformen des Einzelnen wird nun bewiesen, dass gesellschaftliche Integrationsversuche nicht gelingen können, sowie dass die Gesellschaft als nicht zusammenzuschließende Realität aufzufassen ist.

31 Schiller, Hans-Ernst: Erfassen, berechnen, beherrschen. Die verwaltete Welt, in: ders./Ruschig, Ulrich (Hg.): Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno, BadenBaden, 2014, S. 130.

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3.2 G ESELLSCHAFT

ALS NICHT ZUSAMMENZUSCHLIESSENDE

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R EALITÄT

Die kritische Gesellschaftstheorie Adornos hört nicht mit der Beobachtung der sozialen Erscheinungen auf. Wenn das Wesen erscheinen muss, wird eine theoretische Betrachtung des in den Erscheinungen sedimentierten Inhaltes des Wesens in Anspruch genommen. Die Analyse der gesellschaftlichen Struktur und deren Totalität bedarf theoretischer, spekulativer Zugänge zu den gesellschaftlichen Kategorien. Adornos Analyse der gesellschaftlichen Totalität ist eine nicht auf die empirische Stufe reduzierbare theoretische Arbeit, was wir nun näher betrachten werden. Eine der typischen Vorstellungen über Adornos Gesellschaftsauffassung, die auch von seinen offiziellen Nachfolgern geteilt wird, besagt, dass er eine Gesellschaft beschrieben habe, in der sich die totale Herrschaft absolut durchsetze und darum keine Hoffnung auf einen Ausweg aus dieser totalen Herrschaft und Verwaltung mehr möglich wäre. In dieser Lesart stellte Helmut Dubiel den Grundcharakter von Adornos Gesellschaftstheorie dar als ein »Beschreibungsbild einer systematisch geschlossenen Gesellschaft, das die funktionalistische und die kritische Gesellschaftstheorie bei aller substantiellen Verschiedenheit doch teilten«, weshalb sie »angesichts gegenwärtiger Realentwicklungen obsolet geworden«32 sei. Auch Christoph Deutschmann sieht in ihr lediglich »eindimensionale Begriffe der Vergesellschaftung«.33 Gegen diese Vorstellungen werde ich mich wenden, indem ich zu zeigen versuche, dass sich die gesellschaftliche Totalität bei Adorno, wie wir vorhin bezüglich der Problematik des Nichtidentischen zur Kenntnis genommen haben, nur insofern durchsetzt, als sie ihre Außenseite aufstellt, die zu ergreifen sie nicht im Stande ist. Versuche der Subsumtion durch die vorherrschende Identität hinterlassen notwendigerweise ihr Äußeres, ohne das jene Identität nicht fortbestehen kann. Diese Problematik des Nichtidentischen verleiht uns nochmals die Fragestellung der Charakterzüge der nicht zusammenzuschließenden gesellschaftlichen Realität. Die fundamentale Spalte in der gesellschaftlichen Realität lässt sich nunmehr durch die Problemstellung des Antagonismus begreifen. Aus

32 Dubiel, Helmut: Die Aktualität der Gesellschaftstheorie Adornos, in: Friedeburg, Ludwig. v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 309. 33 Deutschmann, Christoph: Naturbeherrschung und Arbeitsgesellschaft, in: Friedeburg, Ludwig. v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 328.

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diesem Grund ist die Gesellschaft, in der wir leben, an sich als ein Selbstwiderspruch und ein nicht versöhnbarer Antagonismus zu fassen. Stellen wir nun fest, was der Begriff der gesellschaftlichen Totalität bei Adorno bedeutet.

3.2.1 Theorie der gesellschaftlichen Totalität von Adorno Konzentrieren wir uns zuerst auf Adornos Kritik des sozialen Nominalismus, um uns klar zu machen, was die gesellschaftliche Totalität bei ihm bedeutet. Der soziale Nominalismus ist eine Auffassung der Gesellschaft, der zufolge das gesellschaftliche Ganze nichts anderes als die Summe der Individuen ist und daher die gesellschaftliche Substanz nur als ein Name existiert. Das nominalistische Bewusstsein, »daß das Individuelle und die Individuen allein das wahrhaft Wirkliche seien«, ist aber »unvereinbar mit der an Hegel geschulten Marxischen Theorie des Wertgesetzes«, an das sich Adorno auch anschließen will (ND, 199). Für ihn ist die nominalistische Auffassung deshalb falsch, weil sie nur Partikularität der Gesellschaft, jedoch nicht ihre reale, systematische Totalität sieht. »Nominalistisches Bewußtsein reflektiert ein Ganzes, das vermöge der Partikularität und ihrer Verstocktheit fortlebt; buchstäblich Ideologie, gesellschaftlich notwendiger Schein.« (ND, 307) Der Nominalismus ist eine Form der Ideologie, solange er allen Zugang zur von den Individuen unabhängigen, überindividuellen gesellschaftlichen Entität verweigert, indem er dieses überindividuelle Moment nicht anerkennt und folglich die vorgegebenen gesellschaftlichen Bedingungen affirmiert. Während der bürgerliche Individualismus in der Neuzeit das Bewusstsein des Individuums als ein Kriterium der Wahrheit aufstellte, ist dieses Bewusstsein als solches aber bereits ein überindividuelles Moment, das durch den Nominalismus verhüllt wird. Diese »Verblendung gegen das überindividuelle Moment« (ND, 46) macht ihn zum Schein, wenngleich zu einem gesellschaftlich notwendigen: Es ist die Gesellschaft selbst, die ihr überindividuelles Moment versteckt, sich als nominalistisch, individualistisch erscheinen lässt, weil das Wertgesetzt, das die Grundlage der gesellschaftlichen Totalität ausmacht, »im Kapitalismus über den Köpfen der Menschen sich realisiert« (ND, 199), wie Marx es in seiner Fetischismusanalyse dargestellt hat. Hingegen liegt die Wichtigkeit der Auffassung der gesellschaftlichen Totalität darin, dass »ohne Beziehung auf Totalität, das reale, aber in keine handfeste Unmittelbarkeit zu übersetzende Gesamtsystem, nichts Gesellschaftliches zu denken ist«.34

34 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 315. Aus diesem Grund kann man mit Fredric Jameson sagen, dass die Totalitätskategorie in

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Adornos Kritik des sozialen Nominalismus teilt ein und dieselbe Voraussetzung der Auffassung von Gesellschaft mit Marx: »Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn.« (MEGA II.1.1, 188) Für Adorno ist die Gesellschaft ebenso als Totalität eine objektive Struktur, die nicht als eine Summe der Individuen, sondern als die objektive Bedingung zur Bestimmung der Lebensformen der Individuen in der Tat ein reales System ist. Gleichzeitig bezieht sich der Begriff der Gesellschaft von Adorno immer auf die bürgerliche Gesellschaft. Wenn er von Gesellschaft spricht, weist er nur auf die bürgerlichkapitalistische Gesellschaft hin, die er oft auch die Tauschgesellschaft nennt. 35 Sie ist ein Funktionszusammenhang, der die Menschen als ihre Mitglieder verbindet und gleichzeitig als ein verselbstständigter ihnen entgegen existiert. Die gesellschaftliche Totalität ist kein abstraktes Gedankengut, sondern real, indem »[n]ichts sozial Faktisches, das nicht seinen Stellenwert in jener Totalität hätte«, existieren kann, und in diesem Sinne ist sie »das Allerwirklichste«.36 Hierbei ist von Bedeutung, dass sie eine Totalität vom Tauschwert und aus diesem Grund eine den Individuen verselbstständigte Macht ist. Um dies zu verstehen, muss wiederum auf die Analyse der verselbstständigen Macht des Tauschwerts in der marxschen Kritik der politischen Ökonomie verwiesen werden. Marx zufolge ist der qualitative Vergleich der verschiedenen Waren erst »nach ihrer Reduktion auf dieselbe Einheit« möglich (MEW 23, 64). In der 1867 erschienenen ersten Auflage des ersten Bandes des Kapital schrieb er noch ausdrücklicher, dass diese Einheit aus einer bestimmten gesellschaftlichen Form

der Gesellschaftstheorie Adornos ein wesentliches Moment ist, welches über ihren Er folg und Misserfolg entscheide. Jameson stellt ferner fest, dass das »Tauschverhältnis« auch grundlegend bedeutsam für Adornos Theorie des Identifikationsprinzips als die der gesellschaftlichen Herrschaft ist und hierin sieht er die entscheidendste Stärke der Gesellschaftstheorie von Adorno gegenüber anderen Strömungen der marxistischen oder dialektischen Tradition: »Identität ist [...] in Wirklichkeit Adornos Wort für den Marxschen Begriff des Tauschverhältnisses (ein Ausdruck, den Adorno eben falls häufig benutzt), wobei es ihm gelang, den Widerhall und die Implikationen der Lehre vom Tauschwert als verallgemeinerbaren Moment für die höheren Bereiche der Philosophie nachhaltiger und detaillierter aufzuweisen als alle anderen Denker des marxistischen oder dialektischen Tradition.« (Fredric Jameson: Spätmarxismus, Adorno oder die Beharrlichkeit der Dialektik, S. 35.) 35 Vgl. Reichelt, Helmut: Neue Marx-Lektüre. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Logik, Hamburg, 2008, S. 27. 36 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 292.

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stammt: »Als Gebrauchsgegenstände oder Güter sind die Waaren körperlich verschiedne Dinge. Ihr Werthsein bildet dagegen ihre Einheit. Diese Einheit entspringt nicht aus der Natur, sondern aus der Gesellschaft.« (MEGA II.5, 19) Die Einheit und die quantitative Vergleichbarkeit der Waren ist etwas gesellschaftlich Hergestelltes, und dies bedeutet, dass diese Abstraktion allein auf der gesellschaftlichen Grundlage beruht. Die Abstraktheit und damit die Einheit der Waren setzt nämlich dieselbe Abstraktheit und Einheit der Gesellschaft selbst voraus. Wie die naturhaften Dingen lediglich individuell existieren aber nur das abstrakte Denken des Menschen diese individuellen Dinge miteinander verbindet, voneinander unterscheidet und damit kategorisiert, ist der Wert der Waren auch ein Produkt der gesellschaftlichen Abstraktion. Marx sagt daher, dass diese Gattungsbegriffe in den gesellschaftlichen Beziehungen real sind. »Es ist als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und allen andern wirklichen Thieren, die gruppirt die verschiednen Geschlechter, Arten, Unterarten, Famillien u.s.w. des Thierreichs bilden, auch noch das Thier existirte, die individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs.« (MEGA II.5, 37)

Leinwand ist Leinwand. Er hat nur naturhafte Eigenschaften wie Masse und Dichte. Was die Leinwand aber zum allgemeinen Äquivalent macht, ist eine bestimmte gesellschaftliche Beziehung, erst damit erhält sie die Eigenschaft der Gattungsform des Äquivalentes. Es ist, wie Reichelt darstellt, eine »Objektivität der Abstraktion«37, nämlich eine objektivierte gesellschaftliche Abstraktion, die erst durch eine von den naturhaften Eigenschaften verselbstständigte gesellschaftliche Form möglich ist. Das Wertgesetz ist eine solche gesellschaftliche Kategorie, deren man sich beim Austausch der Waren nicht bewusst werden kann. »Sie wissen das nicht, aber sie tun es.« (MEW 23, 88) Es macht die verselbstständigte gesellschaftliche Einheit aus und daher setzt sich in der Gesellschaft als eine (gesellschaftlich produzierte) Naturnotwendigkeit durch. Als die Erscheinungsform des Werts besitzt das Geld, wie Marx in Grundrisse darstellt, eine auf dieser Verselbstständigung des gesellschaftlichen Verhältnisses beruhende Macht.

37 Reichelt, Helmut: Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien. Überlegungen zum Problem der Geltung in der dialektischen Darstellungsmethode im »Kapital«, in: Fetscher, Iring/Schmidt, Alfred (Hg.): Emanzipation als Versöhnung. Zu Adornos Kritik der »Warentausch«-Gesellschaft und Perspektiven der Transformation, Frankfurt/M, 2002, S. 149.

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»Es [Geld – S.H.] trägt seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft, in der Tasche mit sich. Die Thätigkeit, welches immer ihre individuelle Er scheinungsform, und das Product der Thätigkeit, welches immer seine besondre Beschaffenheit, ist der Tauschwerth, d. h. ein Allgemeines, worin alle Individualität, Eigenschaft negirt und ausgelöscht ist. « (MEGA II.1.1, 90)

Damit erscheint »die Totalität des Processes als ein objektiver Zusammenhang« nun als »Naturmacht«, als naturalisierte Zwangsmacht der Gesellschaft, d. h. als »verselbständigte Macht über die Individuen«, sie ist in diesem Sinne »eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht« (MEGA II.1.1, 126). Der Tauschwert und das Geld sind Produkte des menschlichen gesellschaftlichen Verhältnisses, aber werden umgekehrt verselbstständigt und von dem Bewusstsein und den Handlungen der Menschen unabhängig zu der selbstständigen Macht, die die Menschen beherrscht. Wenn Adorno die Gesellschaft als ein »Funktionszusammenhang durch den Tausch« versteht, übernimmt er gerade diese marxsche Gesellschaftsauffassung. Die verselbstständigte Macht vom Tauschwert und Geld, die aus der marxschen Wertformanalyse abgeleitet wird, wird nun zur Grundlage der Analyse der gesellschaftlichen Totalität bei Adorno. Die Bestimmung des spezifisch Gesellschaftlichen als ein verselbstständigter Strukturzusammenhang bei Adorno entspringt erst daraus. »Das, was Gesellschaft eigentlich zu einem Gesellschaftlichen macht, wodurch sie im spezifischen Sinn sowohl begrifflich konstituiert wird, wie auch real konstituiert wird, das ist das Tauschverhältnis, das virtuell alle Menschen, die an diesem Begriff von Gesellschaft teilhaben, zusammenschließt« (ES, 57).

Die Totalität des vom Tauschwert strukturierten gesellschaftlichen Zusammenhangs macht eben »die Selbständigkeit der Übermächtigkeit«38 aus. Tauschwert, Geld und das sich durch den gesamten gesellschaftlichen Zusammenhang hindurch durchsetzende Wertgesetz sind die Grundlage für »[d]as allherrschende Identitätsprinzip«. 39 »Totalität ist«, wie Reichelt darlegt, sowohl bei Marx als auch bei Adorno »kein methodologisches Postulat, sondern der Begriff einer wirklichen Verselbständigung.«40 In diesem Zusammenhang gilt es nun zu erklären, warum Adorno die Totalität des verselbstständigten Tauschwerts so verseht,

38 Gesellschaft, GS 8, S. 17. 39 A.a.O., S. 13. 40 Reichelt, Helmut: Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien. Überlegungen zum Problem der Geltung in der dialektischen Darstellungsmethode im »Kapital«, S. 143.

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dass sie eine gesamte gesellschaftliche Struktur der kapitalistischen Produktionsweise gestaltet. In seinem Brief an Krenek schrieb er, dass er »unter Kapitalismus mehr als das bloße ›für Geld‹, nämlich die Totalität eines durch die abstrakte Arbeitszeit als Tauscheinheit definierten gesellschaftlichen Prozesses«41 versteht. Die Totalität des Tauschwerts sowie des Tauschprinzips stellt die Einheit des Prozesses und der Struktur der Gesellschaft her und ist darum eine über das Bewusstsein und die Herstellung der Individuen hinaus selbstständig existierende Realität. In diesem Punkt konfrontiert sich Adornos Konzeption der Totalität mit der sehr oft gestellten Frage, ob es dann eine Möglichkeit geben könne, dass die Individuen die Struktur der Gesellschaft zu erkennen und damit zu transformieren im Stande sind. Wir beschäftigen uns mit dieser Frage nicht jetzt, weil es hierfür einer bestimmten Theorie des politischen Subjektes bedarf, die wir später im vierten Kapitel in den Blick nehmen werden. Zuerst aber soll gefragt werden, ob der auf Adorno gefallene Verdacht legitim ist, und ob nicht seine Gesellschaftsauffassung ähnlich der der funktionalistischen Soziologie eine total integrierte und darum in sich keine Diskrepanz erlaubende Gesellschaft voraussetze und er darum allein die allmächtige Herrschaft der gesellschaftlichen Totalität und keine strukturelle Möglichkeit des Auswegs gesehen habe. Um darauf eine Antwort zu geben, ist die Einbeziehung dessen, was Adorno neben seiner Totalitätstheorie als Doppelcharakter der Gesellschaft hervorhob, unabdingbar.

3.2.2 Ein System prästabilierter Disharmonie: Eine fragile Totalität a. Negative Totalität Herbert Spencer, der das Gesetz des organischen Fortschritts nicht nur auf die Natur, sondern auf gesellschaftliche Phänomene und Geschichte angewendet hat, war der relevanteste Vertreter einer Theorie der Integrationstendenz der Gesellschaft im 19 Jahrhundert. Diese Tendenz der gesellschaftlichen Integration wird auch von Adorno als »der umfassende Oberbegriff« (ES, 45) anerkannt, wobei aber das Hauptmoment dafür, wie wir bereits feststellten, Tauschwert genannt wird.

41 Adorno an Krenek, 30. 09. 1932, in: Adorno, Theodor W./Krenek, Ernst: Briefwechsel, hg. v. Wolfgang Rogge, Frankfurt/M, 1974, S. 18.

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Hierbei wird aber nicht selten ignoriert, dass diese »Tendenz« der Integration der Gesellschaft nicht die Auflösung des Antagonismus, des wesentlichen Moments des Konflikts bedeutet. »Aber durch die Integration ist der objektive Antagonismus nicht verschwunden.«42 Wie wir oben gesehen haben, wird diese Konfliktscharakter der Gesellschaft, nämlich die Tatsache, dass die gesellschaftliche Integration zum Ausdruck des Antagonismus führen soll, im mikroskopischen Bereich der Gesellschaft klar dargestellt: Das Leiden beweist es. Die totale gesellschaftliche Integration »kann nicht bruchlos gelingen. Der Konflikt, unsichtbar unter der Oberfläche des Partnertums, äußert sich in gesellschaftlichen Randphänomenen«. 43 Adorno geht in dieser Argumentation von der Voraussetzung aus, »daß unsere Gesellschaft weniger ein Organismus als ein System sei, und trotzdem ist sie ja eine antagonistische Gesellschaft« (ED, 211). Über den Systembegriff unserer gesellschaftlichen Umwelt, die den Menschen zweite Natur geworden ist, entfaltet Adorno seine Problemstellung derart, »daß die Welt, in der wir leben, ein System ist, daß sie also ein in sich Einheitliches und [...] trotzdem ein in sich unendlich Dissonantes, ein unendlich in sich selber Widerspruchsvolles sei« (ED, 110). Ein durch den Funktionszusammenhang strukturiertes gesellschaftliches System enthält den grundsätzlichen Antagonismus und ist darum kein »Organismus«, wo die Integration total gelang und es daher keinen Raum der einzelnen Momente der Gesellschaft gibt, denn »die Einheit des Systems rührt her von unversöhnlicher Gewalt« (DSH, 273). Die bürgerliche Gesellschaft ist eine Totalität, aber zugleich »eine antagonistische Totalität« (DSH, 274), darum eine negative Totalität, die in sich durch Widersprüche und Antagonismen zerrissen ist und von daher keineswegs zu einer einheitlichen Substanz integriert werden kann. Darin, »die Totalität des Negativen«, nämlich »die Negativität des Ganzen« (DSH, 324) zu erkennen, besteht die Aufgabe der dialektischen Gesellschaftstheorie. Die Diagnose der gesellschaftlichen Totalität und des gesellschaftlichen Antagonismus ist für Adorno darum gleichbedeutend, weil die gesellschaftliche Totalität »eine Art negativer Identität von Allgemeinem und Besonderem«44 ist und noch auf der Basis des Klassenantagonismus steht. Sie ist nämlich »die negative Einheit des Unterdrückten«.45 Nunmehr kann man dahinter kommen, dass bei Adorno die Totalität immer mit der Negativität verbunden gedacht wird. Diese »Verschränkung von Totalität

42 Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, GS 8, S. 184. 43 A.a.O., S. 188. 44 A.a.O., S. 186. 45 Reflexionen zur Klassentheorie, GS 8, S. 377.

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und Negativität«46 macht den Grundcharakter der Gesellschaftstheorie Adornos aus. Die Einheit der Gesellschaft ist immer die Einheit »von etwas« – hier gilt meiner Ansicht nach die Problematik des Nichtidentischen, das das Äußere im Inneren, das konstitutive Alterität der Identität ausmacht. Ihrer reinen Form nach sind die Einheit und die damit gegründete Totalität der Gesellschaft antagonistisch, und eine vollständige gesellschaftliche Totalität ist deshalb eigentlich nicht möglich. Adornos Kritik der allgemeinen, totalen Vernunft als antagonistisch muss sich auf diese Weise in die Stufe der gesellschaftstheoretischen Analyse der Kategorien der Gesellschaftsstruktur umsetzend rekonstruieren. »In der Totale des Allgemeinen spricht dessen eigenes Mißlingen sich aus. Was kein Partikulares erträgt, verrät damit sich selber als partikular Herrschendes. Die sich durchset zende allgemeine Vernunft ist bereits die eingeschränkte. Sie ist nicht bloß Einheit innerhalb der Mannigfaltigkeit sondern, als Stellung zur Realität, aufgeprägt, Einheit über et was. Damit aber der puren Form nach in sich antagonistisch. « (ND, 311)

Man kann weiterhin in der Gesellschaftsanalyse Adornos zwei auseinandergelegte und gleichzeitig miteinander zusammengehängte Implikationen erblicken. Antagonismus wird von ihm einerseits als ein unabdingbares Moment für den Vergesellschaftungsprozess in dem Sinne verstanden, dass dieser antagonistische Charakter das spezifisch Gesellschaftliche konstituiert, andererseits bedeutet dies zugleich, dass die Gesellschaft von Anfang ihrer Konstruktion an in sich zerrissen und damit dekonstruiert ist. »Der Vergesellschaftungsprozeß vollzieht sich nicht jenseits der Konflikte und Antagonis men oder trotz ihrer. Sein Medium sind die Antagonismen selbst, welche gleichzeitig die Gesellschaft zerreißen.«47

So wird dadurch erwiesen, dass dieser Vergesellschaftungsprozess, sich tendenziell auf die Totalität auszurichten, zugleich ein Prozess der Dissoziation ist. »Je mehr die Gesellschaft der Totalität zusteuert, die im Bann der Subjekte sich reproduziert, desto tiefer denn auch ihre Tendenz zur Dissoziation.« (ND, 339. Kursiv von mir, S. H.) Eine Gesellschaft so von ihren Widersprüchen her aufzufassen bedeutet eine Absage an die Vorstellung von der harmonischen Tendenz und der Kontinuität der Gesellschaft. Die Gesellschaft, die eigentlich von Ador-

46 Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M, 2013, S. 345. Kursiv von mir, S. H. 47 Gesellschaft, GS 8, S. 14 f.

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no als synonym mit der bürgerlichen Gesellschaft aufgefasst wird, erwies sich mit ihrer Tendenz zur Dissoziation als eine solche, die »zu einer geschlossenen wird, einem System prästabilierter Disharmonie«.48 Die Gesellschaft ist nämlich eine in sich geschlossene, aber zugleich eine in sich Disharmonie enthaltende, widerspruchsvolle und darum fragile Totalität. Die derart verstandene Totalität setzt Adorno paradoxerweise mit dem kantischen Ding an sich gleich, sie ist »die Gesellschaft als Ding an sich«. »Totalität ist, provokatorisch formuliert, die Gesellschaft als Ding an sich, mit aller Schuld von Verdinglichung. Gerade aber weil dies Ding an sich noch nicht gesellschaftliches Gesamtsubjekt, noch nicht Freiheit ist, sondern heteronom Natur fortsetzt, eignet ihm objektiv ein Moment von Unauflöslichkeit, wie es Durkheim, einseitig genug, zum Wesen des Sozialen schlechthin erklärte. «49

Wie in der kantischen Philosophie das Ding an sich eine Grenze der subjektiven Erkenntnis stellt und damit auf einen unerkennbaren Punkt hinweist, so deutet die (antagonistische) Totalität die spezifische Eigenschaft der »Unauflöslichkeit« der Gesellschaft in dem Sinne an, dass sie in sich nicht völlig zu integrieren und zusammenzuschließen ist, insofern der Antagonismus sich fortsetzt. Über diesen eigentümlichen Charakterzug der Gesellschaftskritik Adornos wurde bisher erstaunlicherweise selten diskutiert. Meinem Rekonstruktionsversuch der Gesellschaftskritik Adornos nach liegt aber ihr eigenständiger Punkt nicht in dem Beweis der Durchsetzung der Herrschaft, sondern ihres notwendigen Scheiterns. Bewiesen wird also, dass die Logik der Subsumtion und der Integration ihrer Form nach nicht vollständig ist und nicht sein kann. Erst hier tritt die Möglichkeit der Entstehung vom Raum der Politik auf, die nicht nur auf der institutionellen Ebene, sondern in Bezug auf die Möglichkeit der souveränen Selbstregierung des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes gesehen wird. Das Missverständnis über die Gesellschaftsauffassung Adornos, dass er eine sich durch die Verwaltung total durchsetzende gesellschaftliche Herrschaft unterstellt habe, stammt aus der allgemein anerkannten Ansicht, dass er mit Hork-

48 Kleine Proust-Kommentare, GS 11, S. 206. 49 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 10.1, S. 292 f. Die These der »Gesellschaft als Ding an sich« wurde vor allem von Žižek, der dieses Konzept von Laclau übernommen hat, angewendet und weitreichend bekannt (Vgl. Žižek, Slavoj: The sublime object of ideology, London/New York, 1989). Es ist aber kaum bekannt, dass diese These bereits 1968 bei seiner Widerlegung der positivistischen Soziologie zunächst von Adorno aufgestellt worden ist.

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heimer die Theorie des Staatskapitalismus vom Ökonomen Friedrich Pollock akzeptiert habe, die darauf insistiert, dass die ökonomische Krise und die Antagonismen in der kapitalistischen Gesellschaft in ihrer neuen Phase im 20. Jahrhundert durch die staatliche Verwaltung entschärft und gemildert worden seien, so dass die kapitalistische Herrschaft durch die Staatspolitik ihre neue Grundlage für die Vermeidung der Klassenkonflikte gefunden habe. Dirk Braunstein hat versucht, diese allgemein anerkannte Ansicht zu korrigieren, weil nach seiner Sicht Adorno jene Annahme aus der Theorie des Staatskapitalismus Pollocks nicht als solche geteilt hat. Adorno kritisierte tatsächlich in seinem Brief an Horkheimer den Standpunkt von Pollock wie folgt, dass dieser »von der undialektischen Annahme« ausgehe, »daß in einer antagonistischen Gesellschaft eine nicht antagonistische Ökonomie möglich sei«.50 Aus diesem Einwand Adornos gegen Pollock – und zwar nicht in Bezug auf den Begriff des Staatkapitalismus überhaupt, sondern auf seine theoretische Hypothese einer in sich geschlossenen Gesellschaft ohne Antagonismus –, sieht Braunstein den Ansatz einer Eigentümlichkeit der Verbindung der Ökonomiekritik und Gesellschaftsauffassung Adornos. »Hätte Adorno der These Pollocks zugestimmt, daß ein Staatskapitalismus den Monopolkapitalismus überwunden habe, so hätte er keine Ökonomiekritik zum Zweck einer Gesellschaftskritik mehr betreiben müssen (und können), sondern nur mehr eine Kritik an der durchhierarchisierten Verwaltungshölle, wie sie weithin ja auch von Horkheimer und Adorno – unter dem Gesichtspunkt der ›verwalteten Welt‹ – geübt wird.«51

Die gesellschaftliche Integrationstendenz, die Adorno nicht nur in der staatskapitalistisch gesteuerten spätkapitalistischen Gesellschaft erblickt, sondern überall wo die bürgerliche Gesellschaft nach dem Tauschprinzip herrscht, ist immer begleitet durch die Tendenz zu einer Desintegration der Gesellschaft. Damit wird Integration Adornos gesellschaftskritischer Ansicht nach als das »Deckbild von Desintegration«52 verstanden.

50 Adorno an Horkheimer, 08. 06. 1941, in: Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Briefwechsel, Bd. II: 1938-1944, hg. v. Theodor Adorno Archiv, Frankfurt/M, 2004, S. 139 51 Braunstein, Dirk: Adornos Kritik der politischen Ökonomie, S. 151 f. 52 Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, GS 8, S. 368.

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b. Integration als Desintegration Der Satz, dass im Zustand, in dem der Antagonismus herrscht, der Versuch der Integration zur Desintegration führe, macht meiner Interpretation nach den wesentlichen Kern von Adornos Gesellschaftskritik aus. In diesem Punkt bricht Adorno mit einer funktionalistischen Perspektive der Gesellschaft wie bei Talcott Parsons, der zufolge die organische gesellschaftliche Ordnung durch ihre stabile Integration und Hartnäckigkeit ihre feste Struktur bildet. Ihr steht Adorno zufolge die »kritische« Gesellschaftstheorie entgegen, die die Veränderbarkeit jetziger gesellschaftlichen Ordnungen im Verlauf der immanenten Kritik der Gesellschaft zu finden versucht. Adorno zeigt nämlich, »daß diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was gesellschaftlich ›der Fall ist‹, [...] an dem mißt, was es selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch zugleich die Potentiale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren« (ES, 31). Zu erklären ist von daher bei Adorno vielmehr, wie dieser Mechanismus der Integration ihrem Anspruch nach gescheitert wird. Eine gesellschaftliche Integration kann allein in ihrer Angewiesenheit auf die Existenz des inneren Anderen gelingen, das die Integration aktuell ermöglicht. Dennoch ist die Integration eigentlich ein Versuch, die Existenz dieses Anderen, Fremden zu negieren, um durch die Assimilation eine feste Homogenität zur Einheitlichkeit zu bilden, weshalb dann auch der Erfolg des Integrationsversuchs zugleich seinen Misserfolg bedeutet. Die durch den gesellschaftlichen Integrationsversuch Ausgegrenzten, die Nichtidentischen erscheinen damit als ein an sich die gesellschaftliche Ordnung bedrohendes, subversives (sowohl im emphatischen, als auch im negativen Sinne) Moment. »Nicht sowohl für die Ordnung als für mißliebige Minderheiten oder politisch nicht Konformierende bilden sie [die marginalierten Zwischengruppen – S. H.] ein gefährliches Potential: gegen sie mag im Krisenfall die ihrem primären Ziel entfremdete Klassenkampfenergie nutzbar gemacht werden. Dies Potential ist eines von Desintegration. Der Zerfall in zentrifugale Partikeln ist die Kehrseite sozialer Integration.«53

Insofern die Desintegration die Rückseite einer Münze der Integration ist, steigt die Tendenz zur Desintegration, gemäß der Steigerung der Integration selbst. »Je rücksichtsloser sie [die Integration – S. H.] das Verschiedene unter sich begräbt,

53 Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, GS 8, S. 188.

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desto mehr zersetzt unterirdisch sich das soziale Gefüge.« 54 Der faschistische Versuch unter der nationalsozialistischen Gewalt, die Energie der Angst auf bestimmte soziale und ethnische Gruppen zu konzentrieren, (»Cliquenkämpfe[...] der Nationalsozialisten«55) ist ein extremes aber auch archetypisches Beispiel dafür, dass für die soziale Integration zugleich die Desintegration angestiftet wird. In der Analyse des Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung haben Horkheimer und Adorno ihre These über diese paradoxe Logik der Integration und Desintegration am Beispiel der Judenverfolgung aufgezeigt: »Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches« (DA, 192). Die Juden waren nicht nur eine für die homogene gesellschaftliche Integration ausgegrenzte ethnische Gruppe, sondern eine, die auf den faktischen Fehlschlag der Integration hinweist, und in diesem Sinne die »Gegenrasse«. Die Juden als die unterdrückte soziale und ethnische Gruppe waren keine reale Ursache des gesellschaftlichen Antagonismus, sondern bloß eine Inkarnation einer Mauer und Unmöglichkeit, die es verhindert, dass eine Gesellschaft als eine abgeschlossene und homogene Totalität ihre vollständige Identität gewinnt. Zu dieser »Gegenrasse« als »das negative Prinzip« einer Gesellschaft konnte außer den Juden zur Zeit der faschistischen Herrschaft auch jede andere soziale Gruppe werden, die den Zwiespalt der Gesellschaft verkörperte. Marx sah auch aus einer ähnlichen Perspektive die Klasse des Proletariats als »das negative Prinzip« der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist eine »Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist« (MEW 1, 390). Das Proletariat ist ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft, der den Reichtum der Gesellschaft erschafft und sein Dasein damit eine notwendige Bedingung der bürgerlichen Gesellschaft ist. Es hat aber zugleich keinen Anteil an der bürgerlichen Gesellschaft, insofern es in dieser nur seine vergegenständlichte Existenz besitzt und keine Teilhabe an dem Recht auf die Bestimmung des gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozesses hat und damit eigentumslos, darum eigentlich eine ausgegrenzte Klasse, also »keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft« ist. An diesen Diskussionen über »das negative Prinzip« in einer Gesellschaft als ausgegrenzte, aber dadurch die Unmöglichkeit der totalen sozialen Integration markierende soziale Menschengruppen geht es hierbei nicht um die meiner Ansicht nach beiläufige und sekundäre Frage, »wer« diese ausgegrenzte Gruppe ist, welche Minoritätsgruppe heutzutage ihre Existenzweise gemäß diesem Prinzip hat, sondern darum, in welchem Mechanismus die gesellschaftliche Einheit und

54 Ebd. 55 Ebd.

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der Integrationsversuch notwendigerweise auf das konstitutive Andere als die innere Außenseite angewiesen sind und dadurch zu einer in sich antagonistischen, widerspruchvollen und negativen Totalität werden. Diesen Mechanismus der gesellschaftlichen Einheit formulierte vor allem Carl Schmitt, der sich obenauf zu behaupten unterfangen hat, dass die Desintegration die ursprüngliche Bedingung der Integration ist. »Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.«56 Diese weithin bekannte These zeigt das grundlegende Prinzip dafür auf, was er »das Politische« nennt, nämlich ein Prinzip für die Herausbildung der politischen Einheit, die aus der Unterscheidung von Freund und Feind besteht. Seinen methodischen Ansatz erklärt er derart, »daß jede Bewegung eines Rechtsbegriffs mit dialektischer Notwendigkeit aus der Negation hervorgeht«. 57 Die Negation in seinem Kontext bedeutet die Bestimmung vom Feind. Der Feind ist also die notwendige Bedingung für eine politische Einheit. Er kann eine Bedrohung aus einem Ausland sein, aber auch ein innerer Feind, der die Einheit eines politischen Gemeinwesens potentiell zerstören könnte oder zumindest derart bestimmt wird. Der innere Feind in diesem Fall ist nämlich das konstitutive Andere für die Selbsterhaltung eines politischen Gemeinwesens, das bei Adorno mit anderem Wort »das Nichtidentische« heißt. Erst wenn angenommen wird, dass jede Identität relational ist, dass also jede Existenzbedingung der Identität daraus besteht, die Nichtidentität und ein Anderes zu bewältigen und damit die Einheitlichkeit des Sichselbstgleichen zu formen, so lässt sich die Art und Weise der Entstehung des Antagonismus verstehen. Im Bereich der Formung der kollektiven Identität, in der es um die Abgrenzung des Anderen geht, entsteht die Notwendigkeit, dass sich die Beziehung von ›Wir‹ und ›Sie‹ in einen Typus von Freund und Feind transformiert. Hierbei ist eine Ähnlichkeit zwischen Carl Schmitt und Adorno zu erkennen. In der Analyse des »kollektiven Narzißmus«, der von Adorno als ein Begriff zur Erklärung der Erscheinungen der kollektiven Identifikation wie Nationalismus sowie massiver Identitätsverlust der Individuen vor dem Kollektiven aufgefasst wird, findet Söllner zutreffend, dass er der Hintergrund der Unterscheidung von Freund und Feind ist: »Unter diesen Begriff faßte er [Adorno – S. H.] jede Form von produktiver Angstbewältigung, die individuelle wie kollektive Bedrohungszustände nur dadurch stillzustellen vermag, daß sie sich einen äuße-

56 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, S. 26. 57 A.a.O., S. 14.

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ren oder inneren Feind schafft.«58 Beide Denker sind sich aus meiner Sicht in dem Punkt ähnlich, dass sie in der das konstitutive Andere der Identität bestimmenden Tätigkeit die Grundeigenschaft der politischen Einheit finden. Während dennoch bei Schmitt die Handlung der Negation und Unterscheidung als die Herstellung des Feindes eine Voraussetzung für das positive Resultat, die politische Einheit, ist, bedeutet der Versuch der Ausgrenzung der Andersheit bei Adorno das Scheitern der gesellschaftlichen Integration. In diesem Punkt zeigen die beiden ihre wesentliche Differenz. Das Hauptinteresse von Schmitt liegt also in der politischen Einheit, die durch die Bestimmung des Feindes aufgebaut wird, im Gegenteil aber die wesentliche Angelegenheit bei Adorno darin, dass das Nichtidentische die fundamentale Unvollständigkeit der gesellschaftlichen Totalität beweist. c. Dünne Kruste Wir können Adornos Beweis für die Unmöglichkeit der totalen Integration auf der psychischen Ebene finden, wo er mit seiner gesellschaftstheoretischen Aufnahme der Psychoanalyse Freuds darauf insistiert, dass die Unmöglichkeit des Zusammenschlusses der antagonistischen Gesellschaft die Ursache für die Entstehung der antagonistischen Spalte im individuellen psychischen Zustand und die Einheitlichkeit des individuellen Charakters darum unmöglich ist. »Seine Totalität ist fiktiv: man könnte ihn beinahe ein System von Narben nennen, die nur unter Leiden, und nie ganz, integriert werden.«59 Aus diesem Grund sind in einer antagonistischen Gesellschaft »die einzelnen Subjekte auch in sich antagonistische [...], frei und unfrei« (ND, 290). Das Bewusstsein der Einzelnen wird darum stets gespaltet. Diese Spaltung, die Unmöglichkeit der Einheit des Bewusstseins ist aber kein bloßes Zeichen dafür, dass das Subjekt sein einheitliches Bewusstsein verliert und sich darum gegenüber dem Subsumtionsversuch der Gesellschaft ohnmächtig verhält, sondern zeigt darüber hinaus, dass die gesellschaftliche Integration auch im Bewusstsein der Einzelnen nicht leicht gelingen kann. Dieser psychische Charakterzug der Spaltung des Bewusstseins der Einzelnen ist außerdem der Grund für den Doppelcharakter des – von vielen skeptischen postmarxistischen Theoretikern als total integriert und darum nicht mehr

58 Söllner, Alfons: Angst und Politik. Zur Aktualität Adornos im Spannungsfeld von Politikwissenschaft und Sozialpsychologie, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 345. 59 Die revidierte Psychoanalyse, GS 8, S. 24.

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militant angesehenen – Bewusstseins der Arbeiterklasse, der sich durch die von Adorno und seinen Mitarbeitern durchgeführte empirische Sozialforschung erwies. In seiner Vorlesung Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft aus dem Jahr 1964 stellte Adorno das Resultat dieser Forschung kurz vor, dem zufolge gezeigt werden konnte, »daß man zeitweise doch offensichtlich auch auf der subjektiven Seite den sogenannten Integrationsprozeß erheblich überschätzt hat« (PETG, 88). Es erwies sich durch diese Forschung, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter »unideologischer, skeptischer, mehr auf die schleierlose Anerkennung oder Erkenntnis [...] der Realität verwiesen sind als die anderen« sozialen Klassen (Ebd.). Allerdings setzt Adornos Kritik an der blinden Anbetung der Arbeiterklasse durch die orthodoxen Marxisten, wie bereits wohl bekannt, voraus, dass die Arbeiterklasse mehr zu verlieren haben als ihre Ketten, und daraus hervorgehend behauptet er weiter, dass die Vorstellung, dass sie unmittelbar zur revolutionären Praxis führen wird, ebenso eine Phantasie wie ein Dogma ist. Trotzdem entwickelt er daraus keine defätistische Perspektive als zu ziehende Konsequenz. Mit jenem Forschungsresultat versucht er vielleicht zu zeigen, dass das Bewusstsein der Arbeiterklasse, wenn auch nicht unmittelbar revolutionär, stets ein Konfliktverhältnis zum ideologischen Integrationsversuch bildet. Viele Theoretiker, die die Integrationstendenz in der spätkapitalistischen Gesellschaft übertreibend hervorheben, bemerken nicht, »wie dünn diese Kruste einer integrierten Gesellschaft ist« (PETG, 100). Man kann an dieser Stelle überrascht sein, doch stellt dies keine Kritik an Adorno, sondern – was man nicht verwechseln sollte – seine Kritik an anderen Theoretikern der Integrationstendenz dar. In seinem kleinen Essay über die Freizeitkultur kritisiert er im Anschluss daran die allgemein anerkannte Vorstellung, dass sie das Bewusstsein der Einzelnen ohnmächtig macht und die Integrationstendenz darum durch sie verstärkt wird, und beschreibt seine Prognose der Unmöglichkeit der totalen Integration. »Integration von Bewußtsein und Freizeit ist offenbar doch noch nicht ganz gelungen. Die realen Interessen der Einzelnen sind immer noch stark genug, um, in Grenzen, der totalen Erfassung zu widerstehen. Das würde zusammenstimmen mit der gesellschaftlichen Prognose, daß eine Gesellschaft, deren tragende Widersprüche ungemildert fortbestehen, auch im Bewußtsein nicht total integriert werden kann. «60

Erst in diesem Zusammenhang wird verständlich, weshalb Adorno die Bewegungsgesetze der Gesellschaft als »ein dynamisches Prinzip« (ES, 71) betrachten

60 Freizeit, GS 10.2, S. 655.

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und in demselben Sinne so bestimmen konnte, dass die Gesellschaft »wesentlich Prozeß«61 ist. Die Gesellschaft bildet sich durch ihre gegenüber den Menschen verselbstständigte Totalität heraus, aber sie besteht nicht aus den invarianten Elementen, stellt keine in sich geschlossene harmonische Konsonanz sondern die diskontinuierliche Dissonanz her, in der der Antagonismus keinesfalls bloß durch den Integrationsversuch versöhnt werden kann. Dem entspricht Adornos Perspektive über den Doppelcharakter der Gesellschaft, den er in seiner Vorlesung Einleitung in die Soziologie erklärte. Demnach zeigt sich die Gesellschaft auf der einen Seite als das gegenüber den Menschen verselbstständigte, ihr Schicksal entscheidende, aber zugleich sich nicht als unendlich, sondern als veränderbar definierende Verhängnis. Auf der anderen Seite hat sie auch das Potential, eine Kraft in sich selbst zu entwickeln, sich zu dekonstruieren und damit sich zu verändern. In diesem Punkt nimmt Adorno das Wesentliche der ›faits sociaux‹, des spezifisch Gesellschaftlichen in den Blick. »Und da würde ich nun allerdings sagen: wesentlich sind die objektiven Bewegungsgesetze der Gesellschaft, die über das Schicksal der Menschen entscheiden, die ihr Verhängnis sind – und das eben ist zu verändern –, und die andererseits auch die Möglichkeit, das Potential [enthalten], daß es anders wird, daß die Gesellschaft aufhört, ein Zwangsverband zu sein, in den man nun einmal hineingeraten ist.« (ES, S,42)

Adorno war allerdings, wie bereits bekannt ist, kein schlichter Utopist, der die Möglichkeit der grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft als ein Notwendiges unmittelbar vor Augen hat. Gleichwohl zeigt seine Beschreibung das relativ wenig bekannte Antlitz eines Theoretikers, der den gesellschaftlichen Prozess so dynamisch auffassen wollte, dass die Gesellschaft in sich die Kräfte erzeugt, aus ihren verselbstständigten, geronnenen Verhältnissen herauszutreten. Solche Kräfte in der politischen Hinsicht greifbar zu machen bleibt als die weitere Aufgabe im nächsten Kapitel.

3.3 D AS N ICHTIDENTISCHE

UND DIE

AUSGEGRENZTEN

Wir haben im zweiten Kapitel in den Blick genommen, dass der Begriff des Nichtidentischen bei Adorno sich nicht auf die an sich affirmative Differenz außerhalb der Identität bezieht, sondern als die konstitutive Alterität der Identität

61 Gesellschaft, GS 8, S. 9.

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zu begreifen ist. Es bleibt im Identifikationsprinzip selbst immer das Nichtidentische, das in der alles mit sich identifizierenden Einheit der Herrschaft nicht subsumiert ist. Das Nichtidentische ist in diesem Sinne eine Lücke der Identität im Identifikationsprinzip, die die Spalte der Identität symbolisiert. Es ist ein Signifiant dafür, dass die Identität nicht vollständig ist. »Das Differenzierte erscheint« in einem Zustand, worin die Identität als eine erzwungene Heteronomie herrscht, »divergent, dissonant, negativ« (ND, 17). Adorno benutzt den Begriff, das Nichtidentische, eigentlich weniger in den gesellschaftstheoretischen als in seinen erkenntnistheoretischen und ästhetischen Schriften. Obwohl schon in seiner philosophischen Darstellung impliziert worden ist, dass er mit dem Begriff des Nichtidentischen die Lücke, die Spalte der Identität im praktischen Interesse zu theoretisieren versucht, bleibt dennoch nebelhaft, was dieser Begriff auf der gesellschaftstheoretischen Ebene ins Detail gehend objektiv darstellt. Vor diesem Hintergrund läuft unsere Diskussion nunmehr darauf hinaus, den objektiven, gesellschaftstheoretischen Implikationen des Begriffs des Nichtidentischen auf die Spur zu kommen. »Nichtidentität und das Nichtidentische sind« wie Anders Bartonek betont, »als Begriffe Symptome für Leiden.«62 Die Nichtidentität verweist nämlich, so Oskar Negt, auf »die sich in den einzelnen soziologischen Tatbeständen zeigende Gebrochenheit und Zerrissenheit des gesellschaftlichen Ganzen«. 63 Das gesellschaftliche Identifikationsprinzip, das, wie bereits untersucht worden ist, auf der ökonomischen Identitätslogik des Tauschprinzips basiert, ist eine Macht der Subsumtion, und wird darum zum Mechanismus der Herrschaft, worin stets versucht wird, den Raum der Alterität auszuschließen. »Gleich um Gleich ihrer quantifizierenden Methode ist so wenig Raum für das sich bildende Andere wie im Bann von Schicksal.« (ND, 216) So besteht der »Grundbestand der Herrschaft« darin, dass das nicht mit der Herrschaft identifizierte Andere allein »um der bloßen Differenz willen« ausgeschlossen wird (MM, 149). Die »Intoleranz gegen das Verschiedene« (ED, 105) ist der Hauptcharakter dieses Herrschaftsprinzips. Aber dieser Ausschluss ist selbstwidersprüchlich, weil dies impliziert, dass die Identifikation als Prinzip der Herrschaft zugleich nur mit dieser Andersheit vermittelt bestehen kann. »Das Prinzip absoluter Identität ist in sich kontra-

62 Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, S. 57. 63 Negt, Oskar: Adornos Begriff der Erfahrung, in: Schweppenhäuser, Gerhardt/Wischke, Mirko (Hg.): Impuls und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno, Berlin, 1995, S. 177.

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diktorisch. Es perpetuiert Nichtidentität als unterdrückte und beschädigte.« (ND, 312) Diese »unterdrückte und beschädigte« Nichtidentität, also das, was sich nicht an das Identifikationsprinzip anpasst, wird in dem sozialen Raum, wo dieses Prinzip herrscht, »immer nur als ein Leiden, als ein schmerzliches Bewußtsein« (LGF, 63) erfahren, worin die Negativität der Nichtidentität klar zu sehen ist. Diesem sich nicht an das Herrschaftsprinzip Anpassenden auf die Spur zu kommen ist die Aufgabe der dialektischen Gesellschaftstheorie von Adorno: »Dialektische Kritik möchte retten oder herstellen helfen, was der Totalität nicht gehorcht, was ihr widersteht oder was, als Potential einer noch nicht seienden Individuation, erst sich bildet.« 64 Dies macht den Grund erkennbar, weshalb das Nichtidentische, das sich an das Identifikationsprinzip nicht anpasst, als ein subversives Moment gegenüber der sozialen Herrschaft wirkt. 65 Aus den bisherigen Diskussionen über das Nichtidentische möchte ich den Vorschlag unterbreiten, die Diskurse über das Nichtidentische in der gesellschaftstheoretischen Hinsicht auf ausgegrenzte, marginalisierte und vernachlässigte einzelne Menschen sowie Menschengruppen, die daher unter dem herrschaftlichen Identifikationsprinzip nicht subsumiert werden, umzusetzen. Diese Umsetzung stützt sich auf die Bestimmung des Nichtidentischen in der Ästhetischen Theorie Adornos als »das Andere, vom Getriebe des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Gesellschaft Ausgenommene, dem Realitätsprinzip nicht Unterworfene« (ÄT, 461). Die negative Dialektik wird dann in dieser herrschaftskritischen Dimension als ein Gedanke verstanden, der diese Verbannten in Ehre hält und dem dominanten Identifikationsprinzip widersteht. In der Negativen Dialektik stellt Adorno den »Erfahrungsgehalt« der Dialektik »am Widerstand des Anderen gegen die Identität« fest, worin er die »Gewalt« der dialektischen Kritik erblickt (ND, 148). Es geht hierbei um eine solche kritische Theorie, die von der Nichtidentität und dem daraus hervorgebrachten Leiden derjenigen ausgeht, deren Lebensformen und Existenzweisen nicht mit der herrschaftlichen Identität identisch sind und durch sie ausgegrenzt werden: »individuum ineffabile« (ND, 148) Die Logik der Identität und des Ausschlusses hängen in dieser Perspektive zusammen und haben ihre Korrelation. Ausschluss ist eine andere

64 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 292. 65 In diesem Sinne kann man auch sagen, wie John Holloway und seine Kollegen darstellten, »Non-identity is the subterranean movement of the refusal of identity«. (Holloway, John/Matamoros, Fernando/Tischler, Sergio: Negativity and revolution: Adorno and political activism, in: dies. (Hg.): Negativity and Revolution. Adorno and political activism, London, 2009, S. 8.)

V ERW EILEN BEIM NEGATIVEN

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Logik von Einschluss, insofern die Identität sich durch die (ausschließende) Vermittlung mit den Ausgeschlossenen erhält. Es ist ein Einschluss durch Ausschluss. Lassen wir uns nunmehr diese Diskussion zum Thema der Abwehrmaßnahme des Nationalstaats gegenüber den ausländischen Migranten und Flüchtlingen praktizieren, über das heutzutage hauptsächlich in Europa und in den USA viel diskutiert wird. In den heutigen politischen Debatten um die »illegalen« Migranten (wie bei Jacques Rancière, Giorgio Agamben, Étienne Balibar und Wendy Brown) kommt gemeinsam zur Aussprache, wie ein Nationalstaat die nationale Identität seiner Staatsbürger durch die Ausgrenzung der illegalen Migranten etabliert. Anteillos sind diejenigen, denen die Bürgerrechte der Gleichheit und Freiheit verweigert werden, weil sie Fremde, nämlich mit der bestimmten nationalen Identität nicht-identisch sind. Ihre Anteillosigkeit, ihre Fremdheit ist aber eine Bedingung dafür, dass eine politische Einheit des Nationalstaats ihre Selbstgleichheit gewinnt. Der Ausschluss bzw. die Verbannung der illegalen Migranten ist nämlich eine notwendige Bedingung für die nationale Identität der Einzelpersonen als Staatsbürger im Nationalstaat. Die Existenz der illegalen Ausländer gibt dem Nationalstaat den Anlass, durch den er die Staatsbürger überreden kann, seine Raison d'être als legitim anzusehen. Ohne die Ausgrenzung des Nichtidentischen kommt die Einheitlichkeit des Nationalstaates nicht zustande, dennoch muss seine politische Einheit es in sich unvermeidlich einschließen, indem er es ausschließt. Das Gebilde der nach Außen von dem gesetzlichen Rahmen ausgestoßenen Ausländer wird zum Opfer der Herausbildung der einheitlichen nationalen Identität. Der Staat kann seine Macht durch sein Vermögen zur Schau stellen, zu entscheiden, wer aufgenommen und wer verbannt wird. Dadurch gleicht er seine Ohnmacht aus, dass er eigentlich in der Mitte der wirtschaftlichen Globalisierung die Wanderungen der Finanzen und der Ströme der Wirtschaft zu regulieren nicht imstande ist. Die Instabilität, die aus dieser Ohnmacht resultiert, wird aufgelöst, indem ein stabiler Boden mit der Herrschaftsmacht des Staates über das fremde Gebilde der Ausländer gefunden wird. Trotzdem kann diese Auflösung nicht vollständig sein, und das Gefühl der Instabilität und Unruhe, die durch die Lücke der gesellschaftlichen Regulationskraft vor der globalisierten wirtschaftlichen Macht verursacht wird, wird zur Quelle des Hasses gegen die ausländischen Migranten. Als Ergebnis verbreiten sich politische Bewegungen, die darauf insistieren, die verlorene nationale Identität zu restaurieren, so weitreichend, dass der Staat selbst sie nicht mehr kontrollieren kann. Dieser gesellschaftstheoretische Erweiterungsversuch des Nichtidentischen hat dennoch nichts mit der normativen Forderung nach einer Integration zu tun,

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die von manchen als Lösung der sozialen Ausgrenzung gedacht werden könnte. Vielmehr ist »der regressive Zug zur assimilierenden Identifikation«66 Adorno zufolge auch im Terminus Integration festzustellen. Sie soll vielmehr letzten Endes zur Verstärkung der Macht der dominanten Identität führen, die eigentlich die Ausgrenzung selbst angerichtet hat. Aus diesem Grund sieht Adorno die Integration als »den aufs äußerste kompromittierenden Terminus«67, als gleichbedeutend mit der Abschaffung der Individualität an: »Der Prozeß der Verselbstständigung des Individuums, Funktion der Tauschgesellschaft, terminiert in dessen Abschaffung durch Integration.« (ND, 259) Eine Gesellschaft, die in sich total integriert ist, bestimmt sich als »die Volksgemeinschaft der Unfreien und Ungleichen«. »Die viel berufene Integration, die organisatorische Verdichtung des gesellschaftlichen Netzes, das alles einfing, gewährte auch Schutz gegen die universale Angst, durch die Maschen durchzufallen und abzusinken. Ungezählten schien die Kälte des entfremdeten Zustands abgeschafft durch die wie immer durch manipulierte und angedrehte Wärme des Miteinander; die Volksgemeinschaft der Unfreien und Ungleichen war als Lüge zugleich auch Erfüllung eines alten, freilich von alters her bösen Bürgertums.«68

Erfordert wird bei Adorno darum weder Ausgrenzung noch Integration. Die kritische Gesellschaftstheorie soll sich der Ausgrenzung der Nichtidentität entgegensetzen, gleichzeitig darauf ihr Ziel setzen, dass diese Nichtidentität nicht bloß integriert wird, sondern dass ein gesellschaftliches Netzwerk um die Freiheit der Individualität in einer allgemeinen Konstellation hergestellt wird. Zurückgehend auf die Diskussion über die Ausgegrenzten, wird die Bildung der versöhnten Identität (im Sinne der »vollbrachten«, »rationalen« Identität, die im zweiten Kapitel ausgesprochen worden ist) nicht durch die Assimilation nach Innen, sondern durch die zivile Solidarität und die Bildung der Mimesis mit ihnen ermöglicht, was uns nun zum Thema des politischen Subjektes führt.

66 Brunkhorst, Hauke: Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, S. 269. 67 Das Bewußtsein der Wissenssoziologie, GS 10.1, S. 32. 68 Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, GS 10.2, S. 562

4. Negation des Negativen: Politische Theorie des Subjektes

In unserem Beweis der These im dritten Kapitel, dass die Gesellschaftstheorie Adornos die moderne bürgerliche Gesellschaft nicht als eine organische Substanz annimmt, sondern sie als eine nicht zusammenzuschließende Realität betrachtet, hielten wir fest, dass sie eine antagonistische Totalität der leidenden Nichtidentischen ist. Unsere Analyse führt jetzt zur Theorie des politischen Subjektes bei Adorno, um dessen innezuwerden, ob und wie die lebendigen Kräfte der Subjekte der ihrer selbst gegenüber verselbstständigten sozialen Herrschaft und Abhängigkeit entgegentreten können. Es drängt sich auf den ersten Blick der Eindruck auf, der unter vielen Adorno-Nachfolgern verbreitet ist, dass Adorno keine eigene Subjekttheorie habe und haben könne, weil in seiner Konstatierung einerseits die Individuen im totalen Verblendungszusammenhang durch die Verwaltung der Macht liquidiert seien, andererseits Adorno selber dann die Subjektphilosophie der Neuzeit als Identitätsphilosophie, das bürgerliche Subjekt als Agent der Naturbeherrschung blamiert habe. Diese beiden Elemente in der Philosophie Adornos würden dann die unauflösbare Aporie ausmachen, dass die Abhängigkeit des Subjektes als Unterdrückung betrachtet wird, aber über das Subjekt selber zu reflektieren trotzdem weder möglich noch begehrenswert ist. Daraus stellt sich die Frage, ob Adorno nur das aus den gesellschaftlichen Gründen bestehende Unmöglich-Werden der Autonomie des Subjektes oder den Begriff des Subjektes überhaupt kritisieren wollte. Darauf kann aber erst geantwortet werden, wenn auf der einen Seite der Begriff des Subjektes im emphatischen Sinne bei Adorno definiert wird, auf der anderen Seite objektive, gesellschaftliche und politische Bedingungen für die Realisierung der Autonomie des Subjektes mitgedacht werden. Ich versuche in diesem Zusammenhang in diesem Kapitel zu zeigen, dass die Subjekttheorie Adornos aufs Neue festzustellen zugleich für die Rekonstruktion der politischen Umsetzung der philosophischen Kategorien seiner negativen Dia-

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lektik eine unerlässliche Bedingung ist. Im Zuge dessen werde ich mich auch damit beschäftigen, eine politische Theorie des Subjektes bei Adorno zu skizzieren, die vom Subjekt als Individuum ausgehend über die Solidarität der leidenden Subjekte durch ihr Mimesisvermögen auf das gesellschaftliche Gesamtsubjekt als Idee der alternativen Konstellation jenseits der gesellschaftlich verursachten Unfreiheit des Subjektes hin richtet. Wichtig dabei ist in erster Linie, dass Adorno das Kriterium sowohl für den Herrschaftscharakter einer Gesellschaft als auch für seine Konzeption der alternativen Gesellschaft auf das Subjekt legt. Gefragt werden muss aber dann auch nach der Handlungsfähigkeit des Subjektes, nämlich ob das Subjekt selber die Kraft hat, seine eigene Abhängigkeit und Herrschaftsunterworfenheit zu überwinden. Damit hängt die Möglichkeit zusammen, die politische Theorie des Subjektes als Teil der Politik der Negativität bei Adorno zu begründen.

4.1 ADORNOS »W ENDUNG AUFS S UBJEKT « 4.1.1 Theorie des politischen Subjektes im Anschluss an die Spezifik des Politischen Adornos Grundbestimmung der Gesellschaft, dass sie eine negative Totalität ist, scheint sich zunächst nicht von der traditionell marxistischen Vorstellung des Negativitäts- und gesellschaftlichen Widerspruchsbegriffs zu unterscheiden. In der Tat verdanken sich die entscheidendsten Kategorien in der Gesellschaftsanalyse Adornos wie Tauschprinzip und antagonistische Totalität usw. der marxschen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise. Dennoch sind hier grundsätzliche Unterschiede zu finden: Erstens beschränkt Adorno den gesellschaftlichen Antagonismus nicht auf den Widerspruch der Produktivkräfte und der Produktionsweise und als dessen Ausdruck auf den Widerspruch der sozialen Klassen. Indem Adorno an der sich durch das Tauschprinzip herausbildenden gesellschaftlichen Totalität festhält, versucht er, die Bereiche des Antagonismus nicht nur im Kampf zwischen sozialen Klassen, sondern auch im Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen zu erblicken. Das theoretische Interesse an dem Leiden der Einzelnen führt zur Kritik an der verselbstständigten gesellschaftlichen Totalität, die über jene ihre überlegene Macht ausübt. Die Analyse der Herrschaft des gesellschaftlichen Identifikationsprinzips beweist, dass die Herrschaft nicht nur ein Ausdruck der Klassenkonflikte vermittels der Ausbeutung, sondern auch eine solche Konsequenz ist, die dadurch zum Vorschein

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kommt, dass die Einzelnen unter das ökonomische Naturgesetz subsumiert werden. Aus diesem Grund läuft die theoretische Frage nach der Möglichkeit des dieser Herrschaft widerstehenden Subjektes in erster Linie auf die Suche nach dem selbstständigen Potential des einzelnen Subjektes hinaus. Zweitens, und noch wesentlicher, bricht die Betrachtung des gesellschaftlichen Widerspruchs bei Adorno mit der teleologischen Vorstellung des Widerspruchs, die auch von Marx selber partiell impliziert und innerhalb der systematisierten marxistischen Doktrin noch weit strikter formuliert wurde. In dieser Vorstellung steht die Entwicklung der Produktivkräfte im Widerspruch zur vorhandenen Produktionsweise, dies kommt im Klassenkampf zum Ausdruck und letzten Endes bricht die endgültige Revolution der unterdrückten Klasse aus, woraufhin – als deren Ergebnis – die klassenlose Gesellschaft entsteht. In dieser Vorstellung wird also angenommen, dass bereits im Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft seine Aufhebung und der Übergang zur klassenlosen Gesellschaft als Endziel, als Telos enthalten sind. Der Bruch mit dieser teleologischen Vorstellung des Widerspruchs, in der von Anfang an seine Auflösung und Aufhebung impliziert worden ist, ist eben das, was Adorno intendierte, indem er sich vom Begriff der Aufhebung in der Dialektik lossagte. Hierin ist ein theoretisch noch bedeutsameres Problem versteckt. In der traditionell marxistischen Vorstellung ist die Frage nach dem Subjekt der geschichtlichen Praxis bereits in der Frage nach dem gesellschaftlichen Objekt enthalten, d. h., in der bürgerlichen Gesellschaft als einem widerspruchsvollen Ort tritt ihr zufolge eine bestimmte Klasse durch diesen Widerspruch selber als ein Subjekt der Revolution auf und verwirklicht letzten Endes die klassenlose Gesellschaft. Wer diese Klasse zu einem revolutionären Subjekt organisiert, ist von daher der objektive Widerspruch selbst. Indem er mit der teleologischen Perspektive des Negativitätsbegriffs im traditionellen Marxismus bricht, bricht Adorno zugleich auch mit der Vorstellung der objektivistischen Ableitung des Subjektes. Die Theoretisierung des Subjektes wird bei ihm nicht direkt aus der objektiven Gesellschaftsanalyse unmittelbar abgeleitet. Die Frage nach dem »politischen« Subjekt lässt sich auf einer anderen Ebene als die nach der objektiven Struktur und dem Wesen der Gesellschaft stellen, und dies bedeutet, dass die Fragestellung nach dem Politischen nicht auf die Problematik der Gesellschaftstheorie zu reduzieren ist. Die Politik gehört zum Feld der Handlungen, die nicht direkt aus bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen abgeleitet werden, sondern umgekehrt die Verselbstständigung dieser Verhältnisse beschränken und bewältigen wollen – darum decken sich die Fragestellungen nach der Politik nicht mit denen nach der objektiven Struktur der Gesellschaft. Die teleologische Vorstellung des Negativitätsbegriffs im traditionel-

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len Marxismus enthält den ökonomischen Determinismus, der das Politische lediglich als den idealen, gedanklichen Ausdruck des gesellschaftlichen Wesensgesetzes (d.h., der Ökonomie) bestimmt. In dieser Vorstellung wird nicht vollständig erklärt, wie der politische Wille der Subjekte in einer Gesellschaft rückläufig gegen die Logik und die Gesetze dieser selbst wirken kann. Wenn wir gegen jenen Determinismus die Politik als die Assoziation der Einzelnen, um den verselbstständigten gesellschaftlichen Prozess zu überwältigen, bestimmen, dann lässt sich die Fragestellung nach dem politischen Subjekt darum mit der Prämisse der Spezifik des Politischen behandeln.

4.1.2 Liquidation des Subjektes und Mehr an Subjekt Adornos Diagnose des Subjektes geht von einer Paradoxie aus, dass in einer Gesellschaft, wo die Selbsterhaltung des Subjektes als Zweck gesetzt worden ist, dieser Zweck aber erst realisierbar wird, wenn das Subjekt dem gesellschaftlichen Mechanismus der Verwertung des Wertes unterworfen ist und jener Zweck zu einem bloßen Mittel für die Selbsterhaltung dieses Mechanismus wird. Darin herrscht die Produktion um der Produktion willen und die Selbsterhaltung des einzelnen Subjektes wird nur als ein Mittel dafür liquidiert. Hierin liegt der kritische Punkt der Subjekttheorie Adornos, dass »in der gegenwärtigen Phase der geschichtlichen Bewegung deren überwältigende Objektivität einzig erst in der Auflösung des Subjekts besteht« (MM, 14). Das Mittel für die Selbsterhaltung des einzelnen Subjektes, die ökonomische Reproduktion der Gesellschaft, wird zum Selbstzweck und der anfängliche Zweck zum Mittel dafür. Das einzelne Subjekt wird also zum bloßen Mittel für die gesellschaftliche Reproduktion herabgesetzt. Die Freiheit des Subjektes und dessen Selbstverwirklichung, die in der modernen bürgerlichen Gesellschaft als ihr normatives Ziel aufgestellt worden sind, wird unter der kapitalistischen Produktionsweise und im Prozess der Erzeugung des Mehrwerts durchaus vergegenständlicht. Die Freiheit des Subjektes wird in dessen Unfreiheit, die Autonomie als Heteronomie verwirklicht. Adornos Streben nach der »Wendung aufs Subjekt« wird sodann durch das theoretische Interesse an der Neuentdeckung des subjektiven Potentials zum von dem allgemeinen Verblendungszusammenhang unabhängigen, reflexiven Denken als ein Versuch der »Verstärkung von dessen Selbstbewußtsein und damit auch von dessen selbst«1 verstanden, die auf den ersten Blick im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess unmöglich geworden zu sein scheint.

1

Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, GS 10.2, S. 571.

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In der Negativen Dialektik unterstreicht Adorno vor diesem Hintergrund, dass seine Theorie um der dialektischen Erkenntnis willen auf das »Mehr an Subjekt« achtgeben werde: »In schroffem Gegensatz zum üblichen Wissenschaftsideal bedarf die Objektivität dialektischer Erkenntnis nicht eines Weniger sondern eines Mehr an Subjekt. Sonst verkümmert philosophische Erfahrung.« (ND, 50) Die dialektische Erkenntnis steht eben um der Objektivität willen dem positivistischen Wissenschaftsideal der subjektlosen Rationalität gegenüber, weil das Objekt durch objektive Schemata oder klassifikatorische Statistiken nur erst vollständig erkannt werden kann, wenn »das qualitative Subjekt« (ND, 54), die nicht ausgeglichene Erfahrung des Subjektes abstrahiert wird. Das »Mehr an Subjekt« ist in diesem Zusammenhang in zweifacher Weise zu verstehen: Erstens lässt sich in der Erkenntnis mehr Gewicht auf das Subjekt legen, zweitens soll das Subjekt aber über seine rein abstrakte Form der Erkenntnis hinausgehen und auf seine nicht klassifizierte Erfahrung achtgeben. 2 Obwohl die Philosophie der Neuzeit seit Descartes das Subjekt und sein einheitliches Selbstbewusstsein als einen Bürgen für die klare und distinktive Wahrheit in den Vordergrund stellte, wurde umgekehrt die Ohnmacht des Subjektes als ihr Resultat herbeigeführt. In diesem Bezug wird paradoxerweise das »Subjekt als Feind des Subjekts« (ND, 22) betrachtet. Das erste »Subjekt« in diesem Ausdruck bezieht sich auf die abstrakte Einheit der subjektiven Form, wie sie in der Subjektphilosophie der Neuzeit angenommen wird, während das letzere sich auf die nicht abstrakt-begrifflich klassifizierte, innere Objektivität des Subjektes (wie seine Erfahrung oder das somatische Moment) bezieht. Die Hauptthese innerhalb der Kritik der Subjektphilosophie der Neuzeit in der Negativen Dialektik liegt daher darin, dass die konstitutive Subjektivität zur Amnesie des lebendigen Subjektes selbst führt. »Der Bann, den das Subjekt ausübt, wird ebenso zu einem über das Subjekt« (ND, 142). Diese Kritik besitzt eine der hegelschen Dialektik von Herr und Knecht sehr ähnliche Struktur. In dieser Dialektik stürzt der Herr als ein mächtiges und selbstständiges Selbstbewusstsein ohne direkte Bezugnahme auf die objektive Natur eventuell in einen abhängigen Zustand, weil das wahre Selbstbewusstsein außer seinem Vermitteltsein mit der Natur und ohne Selbstreflexion dadurch nicht möglich ist. In einer engen Analogie dazu wird das Subjekt in der Philosophie der Neuzeit seit Descartes, das ohne Bestrebungen, sich mit der objektiven Welt zu vermitteln, sich selbst als das selbstständige und direkte Selbstbewusstsein setzt, in der Tat durch diese abstrakte Selbstständigkeit in den abhängigen

2

Adornos Kritik der rationalistischen Erkenntnistheorie haben wir im letzten Kapitel, 3.1. festgestellt.

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Zustand herabgesetzt, d. h. in den von sich selbst gestellten Bann gesetzt. Seine geistige Allmacht ist der Grund für seine reale Ohnmacht. »In der geistigen Allmacht des Subjekts hat seine reale Ohnmacht ihr Echo.« (ND, 181) Es ist eine »reale« Ohnmacht, weil in der bürgerlichen Gesellschaft, die nach dem Rahmen der Subjektphilosophie der Neuzeit das Individuum als Subjekt und zugleich als Substanz der Gesellschaft annimmt, in der Tat die Individuen eben aufgrund ihrer scheinbaren Selbständigkeit die Frage nach ihrem gesellschaftlichen Vermitteltsein aufgeben und dadurch immer mehr in den realen Verhältnissen ohnmächtig werden. »Kritik des konstitutiven Bewußtseins selbst« (ND, 151) ist für Adorno darum eine Art der Ideologiekritik. Diese Kritik schließt sich damit an die These an, »daß das Subjekt in weitem Maß Ideologie wurde, den objektiven Funktionszusammenhang der Gesellschaft verdeckend und das Leiden der Subjekte unter ihr beschwichtigend« (ND, 74). Die These, dass das Subjekt zur Ideologie wurde, ist aber keine direkte Kritik am Subjektbegriff überhaupt, sondern stellt dar, dass in einem Zustand, in dem das Subjekt infolge der gesellschaftlichen Situation nichts mehr als seine Ohnmacht innehat, die Proklamierung, dass es an sich selbstständig und einheitlich ist und darum den Primat über sein Objekt hat, ideologische Wirkungen herstellt, die die objektive Bedingtheit des Subjektes verdecken und das durch diese Bedingtheit verursachte subjektive Leiden mildern. Noch einmal sehen wir, dass das Subjekt der »Feind des Subjekts« ist. Insofern impliziert diese These, dass Adorno den Subjektbegriff in dem Sinne als einen dialektischen Begriff ansieht, dem zufolge das Subjekt einerseits in seinem gesellschaftlichen Bann unter den Zwangsmechanismus subsumiert ist, andererseits aber ohne es keine Möglichkeit auftreten kann, diesen Bann zu brechen. Diesen doppelseitigen Charakterzug seines Subjektbegriffs legt er in seiner Vorlesung Einleitung in die Soziologie dar, indem er seine These in der Negativen Dialektik ein weiteres Mal verteidigt und als Kommentar hinzufügt: »Man könnte sagen daß in der gegenwärtigen Verfassung das Subjekt beides sei: auf der einen Seite Ideologie, nämlich deshalb, weil es auf es tatsächlich nicht ankommt, und weil sich überhaupt als Subjekt in dieser Gesellschaft zu fühlen, bereits etwas Scheinhaftes hat; auf der anderen aber ist es auch das Potential, durch das diese Gesellschaft sich ändern kann, und in dem zwar alle Negativität des Systems sich speichert, zugleich aber doch auch das, was über das System, so wie es heute nun einmal ist, hinausweist.« (ES, 254 f.)

Hierbei tritt ein theoretisches Interesse an dem wahren Subjektbegriff auf. Darum wird gefragt, wie das Subjekt zu seiner zweiten Bestimmung, nämlich zu sich selbst kommen kann. Dies ist eine Frage nach dem Subjekt, das über die Ideologisierung seiner selbst und über das System, in dem es zur Ideologie wird,

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hinausgeht und alle Negativität des Systems bewältigt. Man kann auch feststellen, dass bereits in Adornos Kritik des Subjektes als Ideologie oder sogar als Lüge in der Negativen Dialektik dieses theoretische Interesse am Zu-Sich-Kommen des Subjektes steckt: »Das Subjekt ist die Lüge, weil es um der Unbedingtheit der eigenen Herrschaft willen die objektiven Bestimmungen seiner selbst verleugnet; Subjekt wäre erst, was solcher Lüge sich entschlagen, was aus der eigenen Kraft, die der Identität sich verdankt, deren Ver schalung von sich abgeworfen hätte. « (ND, 274)

Somit stellt sich in diesem Zusammenhang heraus, dass Adorno sein subjektphilosophisches Interesse zum Ausdruck bringt, wenn immer er die Subjektphilosophie der Neuzeit der Kritik unterzieht, wenn immer er also diagnostiziert, dass das Subjekt seine Kraft verloren hat aber in ihr trotzdem sein Primat über das Objekt ohnmächtig und scheinhaft proklamiert wird. Der theoretische Ansatzpunkt in der Negativen Dialektik besteht nämlich nicht darin, durch die Kritik der konstitutiven Subjektivität den Vorrang des Objektes zu proklamieren und damit die Rolle des Subjektes in der Erkenntnis herabzusetzen, sondern zu zeigen, dass sein Primat gegenüber der objektiven Welt letzten Endes dem Subjekt selber seinen Bann verleiht, weil es dadurch die Kraft verliert, sich selbst reflexiv zu denken, ebenso wie seine objektive Umwelt, den gesellschaftlichen Zustand zu durchschauen. Der Vorrang des Objektes bei Adorno ist aus meiner Sicht kein emphatischer, sondern ein kritischer Begriff, mit dem der Anspruch sich erhebt, die idealistische Vorstellung der Einheit des Selbstbewusstseins und der Identität des Subjektes zu überwinden, die das Subjekt selbst um dessen Einheit willen fesselt, und seine Versöhnung mit sich selbst verhindert, insofern das Nichtidentische des Subjektes in sich (die Erfahrung als im Subjekt sedimentierte Geschichte) theoretisch abstrahiert wird. Der Vorrang des Objektes ist also nicht ein Begriff, der sich auf das Objekt selber hin ausrichtet, sondern ein Begriff, der die Selbstreflexion des Subjektes in Anspruch nimmt. Er impliziert darum eine Theorie vom Vorrang des sich mit dem (nicht nur äußerlichen, sondern auch dem Subjekt innerlichen) Objekt als dem konstitutiven Anderen seiner selbst versöhnenden, selbstreflexiven Subjektes. Dies wird sodann mit der theoretischen Bestrebung verbunden, den »Überschuß des subjektiven Anteils, dessen das System nicht vollends Herr wurde« (ND, 99) zu finden. Eine Theorie, die die Möglichkeit eines Zustandes über den jetzigen hinaus herausfinden will, merkt darum auf das Subjekt auf. Das Subjekt ist ein Ort, wo einerseits der Bann der gesellschaftlichen Herrschaft reproduziert wird, andererseits aber auch das Potential zu dessen Überwindung aufbewahrt ist.

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»Nur wo das Subjekt auch, nach Hegels Sprache, dabei ist, mindert sich sein Bann« (ND, 76). Das theoretische Hauptinteresse der Kritik der konstitutiven Subjektivität liegt in der Herstellung der kommunikativen, solidarischen Subjekte, die aus dem Solipsismus herausfinden, insofern durch die Kritik gezeigt wird, dass die Vorstellung der konstitutiven Subjektivität das Subjekt in seinem eigenen Universum isoliert. Die Ansätze der politischen Subjekttheorie Adornos werden also wie oben angeführt begründet. Doch wird aus dieser Argumentationslinie keine positive Theorie des Subjektes abgeleitet. Die Subjekttheorie bei Adorno kann insofern nur kritisch und negativ bestehen, als sie nicht positive Bilder des autonomen Subjektes beschreiben will, sondern allein aus der Kritik einer bestimmten Form bzw. Gestalt des subjektiven Selbstbewusstseins abgeleitet wird. In dieser Hinsicht grenzt sich Adornos negative Subjekttheorie vom traditionellen Marxismus und dessen subjektivistischer Variante, die die Arbeiterklasse als das Subjekt der Revolution preisen, sowie von dessen postoperaistischer Variante nach Negri und Hardt, die an die Stelle der Arbeiterklasse die Multitude als das neue revolutionäre Subjekt aufstellt, ab. 3 Was gefragt werden soll, ist nicht, »wer das (positive, revolutionäre) Subjekt ist«, etwa ob es die Arbeiterklasse oder die Multitude ist, da kein einzelnes Subjekt in einer verselbstständigt herrschenden Gesellschaft das reine Selbstbewusstsein jenseits des gesellschaftlich fetischisierten Verblendungszusammenhangs gewinnen kann. Es kommt vielmehr für Adorno darauf an, wie die unter der gesellschaftlichen Unterdrückung leidenden Subjekte, also die in der Herrschaft des verselbstständigten gesellschaftlichen Scheins lebenden Einzelnen, gegenüber den bestehenden Verhältnissen kritische Fragen stellen und dadurch ihre Solidarität bilden können. Dies ist eine nur in einer negativen Form zu stellende Frage, darum ist die Subjektbestimmung bei Adorno nur als eine Form der bestimmten Negation erreichbar, wie Jan Weyand dies so zutreffend formulierte: »Der Begriff des Subjekts ist bei Adorno wesentlich negativ, durch die gesellschaftlichen Zwänge, denen es unterworfen ist, bestimmt.«4

3

Schweppenhäuser drückte auch diesen negativen Charakterzug der Subjekttheorie Adornos wie folgt aus: »[D]as in seiner Identität zerfallene, unzurechnungsfähige oder gar schizophrene Subjekt ist für Adorno gerade nicht positive Antizipation emphatischer Freiheit, sondern negatives Aufscheinen des Zwangscharakters der bestehenden, immer schon deformierten Gestalt von Freiheit und als solches Gegenstand der kritischen Reflexion.« (Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik nach Auschwitz, S. 115)

4

Weyand, Jan: Adornos kritische Theorie des Subjekts, Lüneburg, 2001, S. 30.

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Ich werde aber einen Schritt weiter gehen und versuchen, ein theoretisches Projekt über den Prozess der Herausbildung der Solidarität und der gemeinsamen Subjektivität gegen die gesellschaftlich hervorgebrachte Verhinderung der Verwirklichung der Freiheit der Subjekte aus jenem negativen Subjektbegriff bei Adorno zu rekonstruieren. Hierbei handelt es sich deshalb um einen von Adorno selbst nicht unterfangenen Versuch. Es lässt sich aus meiner Sicht aus den der negativen Dialektik Adornos immanenten philosophischen Ansätzen eine Skizze der politischen Theorie des Subjektes extrahieren. Dabei geht es vor allem darum, dass, wo Adorno nämlich alle gesellschaftlichen Verhalten des Subjektes letzt endlich allein nach dem Muster der instrumentellen Verfügung, dem Funktionszusammenhang aufgefasst zu haben scheint, zugleich die Hinsicht auf politische Agenten herausgelesen wird, deren subjektive Handlungsmotive sich als resistent gegenüber der Überlegenheit der instrumentellen Handlungsweise ergeben.

4.2 E IN MÜNDIGER MENSCH: D AS »N EIN « SAGENDE S UBJEKT Nein. Ich bin nicht einverstanden. AUS DER SCHULOPER VON BERTOLT BRECHT, DER NEINSAGER . 5

Immanuel Kant stellte seine Idee der Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« dar, wobei es darum geht, dass sich jeder ohne die Hilfe der Anderen seinen eigenen Verstand zunutze machen kann. In einem Zustand aber, wo der Unmündigkeit weiterhin Vorschub geleistet wird, ist dafür umso mehr Mut vonnöten. »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«6 Diese Idee der Aufklärung impliziert die Kritik an einem Zustand, in welchem unter einer bestimmten gesellschaftlichen Situation der freie vernünftige Gedanke des Menschen verschränkt wird. Sie ist also die Kritik an der gesellschaftlich erzwungenen Heteronomie. Bei Kant ist

5

Brecht, Bertolt: Der Jasager und Neinsager. Vorlagen, Fassungen und Materialien,

6

Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung, in: Werkausgabe XI,

Berlin, 1966, S. 48. Frankfurt/M, 1977, S. 53.

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die Autonomie eine allein als die Negation der Heteronomie mögliche Idee, und diese Idee der Aufklärung als das Wachstum der Autonomie und das Mündigwerden des Subjektes ist ein Vormodell dafür, was die Autoren der Kritischen Theorie die theoretische Praxis nannten, d. h., für ein theoretisches Projekt zur Förderung des Auftretens des Subjektes, das von sich aus zu denken im Stande ist. Adorno sukzediert nun dieser Idee der Aufklärung von Kant und erblickt darin den ersten Schritt zum Auftreten der mündigen Subjekte und zu ihrer Emanzipation von der gesellschaftlichen Heteronomie. 7 Die Idee der Erziehung muss nach Adorno ihr Ziel an diesem Auftreten der mündigen Subjekte haben und seine Kritik der Halbbildung läuft nunmehr darauf hinaus, dass die Bildung in der spätkapitalistischen Gesellschaft bei der Herstellung der »lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten«8 fehlgeschlagen ist. Damit ist auch klar zu sehen, dass Adorno die Idee der Aufklärung nicht abstrakt negiert, wie zumeist aufgrund seiner Kritik in der Dialektik der Aufklärung so interpretiert wird, sondern sie in negativ dialektischer Hinsicht als kritische Idee umdeutend aufgenommen hat.

4.2.1 Begriff der Mündigkeit: Das Nein-Sagen Für detaillierte Diskussionen über die Bedeutung der Mündigkeit und des Individuums als Subjekt ist sodann zuerst festzustellen, in welchem Zusammenhang der Begriff des mündigen Menschen mit der Emanzipation von der gesellschaftlichen Heteronomie steht. Als »subjektloses Subjekt«9 stellte Adorno in seiner psychologischen Schrift den Stand des Subjektes in einem Zustand der erzwungenen Ohnmacht dar. Die Ohnmacht des Subjektes verstärkt den Bann des gesellschaftlichen Zwangssystems als die zweite Natur, die Auflösung des Banns bedarf daher des Vermögens des Subjektes zum Entgegensetzen. Die Sicherstellung dieses Vermögens heißt das Mündigwerden des Subjektes, wobei es darauf

7

So heißt es in seinem im Jahr 1969 im Hessischen Rundfunk gesendeten Gespräch mit Helmut Becker, Erziehung zur Mündigkeit: »Mir scheint dieses Programm von Kant [...] heute noch außerordentlich aktuell.« (Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, hg. v. Gerd Kadelbach, Frankfurt/M, 1971, S. 133.) Dieser Text ist äußerst wichtig für die Feststellung, wie Adorno die Idee der Aufklärung von Kant für ein wesentliches Moment seiner Theorie hielt.

8

Theorie der Halbbildung, GS 8, S. 103.

9

Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, GS 8, S. 68.

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ankommt, das Subjekt »weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen« (MM, 63). Diesem entweder heteronomen oder selbst verschuldeten Dumm-Machen des Subjektes steht dessen Mündigwerden gegenüber, wodurch die Fähigkeit zum selbstständigen Denken zum Ziel gesetzt wird. Diese Fähigkeit zum Denken wird für das Subjekt benötigt, damit es seine Kraft, der gesellschaftlichen Heteronomie entgegenzuwirken, entwickeln kann. »Das eigentliche Problem von Mündigkeit heute ist, ob und wie man [...] entgegenwirken kann.« 10 Im Gespräch mit Helmut Becker über Erziehung zur Mündigkeit, welches im Jahr 1969 im Hessischen Rundfunk gesendet wurde, drückte Adorno aus, dass das Wesentliche der Idee der Mündigkeit eigentlich auf der Kraft beruht, anders zu denken, zu widerlegen, also Widerstand zu leisten, nämlich, »daß also die einzige wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit darin besteht, daß die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, daß die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist«.11 In der Negativen Dialektik nannte Adorno dieses entgegensetzende, sich an den äußerlichen Zwang nicht anpassen wollende Subjekt dem Titel einer Schuloper von Bertolt Brecht zufolge den »Neinsager« (ND, 226).12 An der kernhaften Stelle dieses Theaterstücks steht der Schrei des Jungen, der als solcher ein Ausdruck seines Erweckens, Mündigwerdens ist. Auf die Frage seines Lehrers, ob er mit dem »großen Brauch« einverstanden sei, dass wer beim Steigen des Berges verletzt wird, in das Tal hinab geworfen werden muss – es ist bereits in diesem Brauch festgeschrieben, dass wer so gefragt wird, seine Zustimmung ausdrücken muss –, antwortet der Junge:

10 Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, hg. v. Gerd Kadelbach, Frankfurt/M, 1971, S. 144. 11 A.a.O, S. 145. 12 Das Theaterstück von Brecht Neinsager wurde zusammen mit seiner Schwesteroper Jasager vom Suhrkamp Verlag im Jahr 1966 – in demselben Jahr der Veröffentlichung von der Negativen Dialektik Adornos – veröffentlicht. Diese Koinzidenz ist insofern bemerkenswert, als in beiden das herrschaftliche Element des Positiven und die Ak zentuierung des dagegen widerstehenden Neinsagers gemeinsam erschienen.

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»Nein. Ich bin nicht einverstanden. [...] Und was den alten großen Brauch betrifft, so sehe ich keine Vernunft an ihm. Ich brauche vielmehr einen neuen großen Brauch, den wir sofort einführen müssen, nämlich den Brauch, in jeder neuen Lage neu nachzudenken. «13

Zu dem alten Brauch nein zu sagen, bedarf eines großen Mutes. Heutzutage lehrt die Gesellschaft den Individuen keineswegs solchen Mut, sondern schneidet ihn ab und erzwingt an dessen Stelle blind die Heteronomie, die Gehorsamkeit. Die Gesellschaft von denjenigen, die nein zu sagen nicht gelernt haben, läuft auf die Herrschaft des Positiven hinaus, wie wir sie heute ins Auge fassen müssen. Ebenso Brecht wie Adorno behaupten, dass man aus dieser Entkräftung des Subjektes herausgezogen werden soll. Dafür ist es nötig, dass ein Einzelner »ein kritisch Distanzierter«14 wird. Die philosophische Arbeit wird von Adorno in diesem Zusammenhang als »Widerstand gegen die etablierte Meinung«15 verstanden, was sodann die Geburt des kritischen Distanzierten ermöglichen würde. In diesem Punkt wird deutlich, dass Adorno das Nein-Sagen als eine autonome Haltung des Einzelnen gegen seine äußerliche Heteronomie in den Vordergrund stellt. Das Nein-Sagen als die negative Haltung macht bei Adorno die Bedeutung der Mündigkeit aus. Demnach sollte der Einzelne dazu nein sagen, dass seine Lebensform durch äußerlichen Zwang bestimmt und durch unabhängig von seinem Willen gebildete Normen ermessen wird. Dies bedeutet dann, dass das Nein-Sagen sich darauf bezieht, dass der Einzelne von sich aus über seine Lebensform und Lebenshaltung eine eigene Entscheidung fällt. Es ist, wie Christoph Menke vermerkt, ein Nein dazu, das Leben »an einer Bestimmung oder einem Sollen zu messen: als ein Nein zu seiner Beurteilung, zum evaluativen Ja oder Nein«.16 Erstrebt wird daher das Nein-Sagen für die Selbstbestimmung der eigenen Lebensform. Es ist zugleich »ein ›Nein‹ innerhalb des Laufs der falschen Totalität«.17 Das Nein ist keine äußerliche Flucht aus dem vorhandenen

13 Brecht, Bertolt: Der Jasager und Neinsager. Vorlagen, Fassungen und Materialien, Berlin, 1966, S. 48. 14 Zum Studium der Philosophie, GS 20.1, S. 323. 15 Ebd. 16 Menke, Christoph: Über eine Weise Nein zu sagen, in: Hirsch, Michael/Müller, Vanessa J./Schafhausen, Nicolaus (Hg.): Adorno. Möglichkeit des Unmöglichen. Vol. 2, Frankfurt/M, 2003, S. 65. 17 Bonefeld, Werner: Praxis und Kritik. Bemerkung zu Adorno, in: ders./Heinrich, Michael (Hg.): Kapital & Kritik. Nach der »neuen« Marx-Lektüre, Hamburg, 2011, S. 348.

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gesellschaftlichen inneren Zusammenhang, sondern eine Haltung, diesen von seiner inneren Struktur her umgestalten zu wollen. Es handelt sich also aus diesem Grund um keine abstrakte Versagung der vorhandenen Verhältnisse und bedarf daher keiner transzendenten Position der Außenseite der jetzigen Verhältnisse, sondern um eine immanente Bewegung, die auf die Veränderung der falschen, heteronomen Verhältnisse abzielt. Dem steht die erzwungene Dummheit als die gesellschaftlich verursachte Unmündigkeit entgegen. »Dummheit ist nichts Privates, nicht die einfache Abwesenheit von Denkkraft, sondern die Narbe von deren Verstümmelung.«18 Es ist eine erzwungene Dummheit, die durch die gesellschaftliche Heteronomie dergestalt verursacht worden ist, dass die gesellschaftliche Integrationstendenz die Anpassung des Einzelnen erzwingt. Wenn der Einzelne dagegen nicht verstümmelt werden will, muss er über »Zivilcourage« zum Widerstand, zum Andersdenken verfügen. Hieraus findet Adorno den »Erfahrungskern der Lehre von der Autonomie«.19 Der Einzelne soll darum Brunkhorst zufolge »die Fähigkeit zum hypothetischen Denken«20 lernen. Wer dieses gelernt hat, könne erst das Vermögen zum epoché (ἐποχή), zur Enthaltung im Urteil verkörpern, woraus er Aufschluss darüber erhält, dass die vorhandene Welt keine einzig mögliche, sondern nur eine der vielfältigen Möglichkeiten ist. Die reflexive Distanzierung von der Unmittelbarkeit des Vorhandenen, die, wie wir oben festgestellt haben, als die wesentliche Haltung der Negation in der negativen Dialektik gestellt worden ist, findet ihren Ausdruck nunmehr im Nein-Sagen des Einzelnen. Vom »subjektlosen Subjekt« herausgezogen, erhält jetzt das »Subjekt« als der mündige einzelne Mensch aufs Neue seine spezifische Bedeutung. Das Subjekt als Subjekt des autonomen Denkens besteht nicht an sich, sondern wird erst in seinem Zusammenhang mit der Fähigkeit zum Nein-Sagen verstanden. Das Subjekt muss durch die Subjektivierung zum Nein-Sagen erzeugt werden. Daran anschließend könnte der Begriff der Mündigkeit von Adorno der kantschen Formulierung entlehnend wie folgt definiert werden: »Habe Mut, durch deinen eigenen Verstand nein zu sagen!« Das Nein-Sagen ist eine Voraussetzung für die Mündigkeit des Subjektes und damit für seine reflexive, autonome Denkfähigkeit. Vor diesem Hintergrund erkennt Adorno im Nein-Sagen, im Widerwillen des Einzelnen eine »sachliche Bedingung der Humanität als Utopie« (MM, 87).

18 Anmerkungen zum philosophischen Denken, GS 10.2, S. 605. 19 A.a.O., S. 604. 20 Brunkhorst, Hauke, Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, S. 34.

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4.2.2 Stellung des Individuums So versteht sich das Subjekt in erster Linie in Bezug auf den Einzelnen. Das Subjekt soll ein Einzelner, ein Individuum sein. In der Tat ist aber in einer Gesellschaft, in welcher ihre Reproduktion zum Selbstzweck wird, das Subjekt sie selbst, und das Individuum dann umgekehrt das Objekt bzw. das Mittel zum Zweck. Dementgegen behauptet Adorno, dass anstelle des verselbstständigten gesellschaftlichen Systems das Individuum als Subjekt erkannt werden soll. Es ist die notwendige Aufgabe für den Umsturz dieses verkehrten Verhältnisses, dass die Mündigkeit des Individuums als Subjekt wiederhergestellt wird. Dass das Individuum das Subjekt und damit mündig werden soll, impliziert ferner die Kritik am kollektivistischen Verständnis des Subjektbegriffs, das die traditionellen Marxisten teilten, dem zufolge das Individuum bloßer Schein sei, und nur das Kollektivsubjekt eine kollektive Kraft zur Veränderung des gesellschaftlichen Ganzen besitze. Dagegen wendet sich Adorno, weil dieses vom Individuum abstrahierte Kollektivsubjekt auf der einen Seite von seiner Ohnmacht nicht befreit werden kann, solange auf der individuellen Stufe jeder Einzelne sich dem heteronomen Verhältnis aussetzt. Auf der anderen Seite verschwindet in dieser Auffassung von Beginn an die Möglichkeit des einzelnen Subjektes, zum von sich aus denkenden, über seine Lebensform reflektierenden autonomen Individuum zu werden. »Je reicher ein Allgemeines mit den Insignien des Kollektivsubjekts ausstaffiert ist, desto spurloser verschwinden darin die Subjekte.« (ND, 332) Trotz seiner Kritik des Kollektivismus wendet sich Adorno nicht an den Individualismus, weil dieser den umgekehrten Fehler hat, dass er das Individuum als die unabhängige Substanz beschreibt, und darum seine objektive Bedingtheit nicht auffassen kann. In der Moderne, die mit dem Auftritt des Individualismus zusammen gebildet worden ist, herrscht jedoch in der Tat die Überlegenheit der gesellschaftlichen Macht gegenüber den Individuen. Dass die Individuen gesellschaftlichen und staatlichen Sachverhalten gegenüber indifferent sind, beruht nach Adorno auf ihrer Unfähigkeit, auf die öffentlichen Angelegenheiten ihre Kraft auszuüben. 21 Der moderne Individualismus ist ein Produkt des gesellschaftlichen und geschichtlichen Prozesses und dient der Ohnmacht der Individuen gegenüber ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Der Individualismus, der die individuelle Freiheit als absoluten Wert setzt, unterdrückt in der individualistischen bürgerlichen Gesellschaft die Individuen selber.

21 Individuum und Staat, GS, 20.1, S. 290.

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Im Gegensatz zur Unterstellung des Individualismus sieht Adorno also in diesem paradoxerweise die Allmacht des gesellschaftlichen Allgemeinen. »Das Individuum spiegelt gerade in seiner Individuation das vorgeordnete gesellschaftliche Gesetz der sei’s noch so sehr vermittelten Exploitation wider.« (MM, 169) Wie Adorno in seinem in 1939 geführten Gespräch mit Horkheimer darstellte, hat das Individuum seine Wirklichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht verwirklicht, in der das Prinzip der Individualität als ihr Grundsatz in den Vordergrund gestellt worden ist, vielmehr existieren nur jene Individuen, an denen umgekehrt die Macht des Ganzen durchgesetzt wird. Die Vorstellung des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft als isoliert selbstständiges Subjekt ist demnach eine Illusion und darum Ideologie und der gesellschaftlich notwendige Schein, insofern die bürgerliche Gesellschaft es in der Tat verhindert. Vielmehr ist das Individuum eine in der bürgerlichen Gesellschaft nicht verwirklichbare Kategorie. »Das Individuum ist deshalb keine Grundkategorie der bürgerlichen Gesellschaft, weil es von Anbeginn als deren bloße Funktion aufgefaßt werden kann.«22 Das Ideal des Individuums in der individualistischen Vorstellung als das autarkische, isolierte Subjekt ist nicht zu verwirklichen. Aus diesem Grund bedeutet die Emanzipation nicht nur die der Individuen von der Gesellschaft, sondern sie ist auch als die der Gesellschaft selbst erst möglich, wenn die Individuen im Stande sein würden, das Wesen des gesellschaftlichen Objektes, das die Individuen umfasst, durchzusehen. Die Emanzipation des autonomen Individuums und sein Mündigwerden sind nicht voneinander abzutrennen. »Vor dem Mündigwerden gibt es kein Individuum.«23 Nunmehr lässt sich präzisieren, dass Adorno sowohl Kollektivismus als auch Individualismus ablehnt, genauer gesagt, dass er »das komplementäre Verhältnis von Kollektivierung und Atomisierung« 24 kritisch betrachtet. »Kollektivismus und Individualismus ergänzen einander im falschen Zustand« (LGF, 369), und zwar in dem Sinne, dass in beiden keine Möglichkeit der Emanzipation der Individuen durch ihr Mündigwerden zum Vorschein kommt. Auf diese Weise hat Adorno in der Mitte des Kalten Kriegs im letzten Jahrhundert sowohl die Denkweise des Ostens, wo Individuen der Partei und dem Staat unterworfen wurden, indem der Wert der sozialen Gleichheit in kollektivistischer Weise verkörpert wurde, als auch die des Westens, wo unterm Gesetz des Marktes im Namen der

22 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985, S. 438. 23 A.a.O., S. 454. 24 Aldous Huxley und die Utopie, GS 10.1, S. 105.

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rationalen Auswahl (rational choice) die individuelle Freiheit hypostasiert aber dadurch die Individuen paradoxerweise der invisible hand als Naturgesetz des Marktes untergeordnet wurden, aufgehoben. In beiden Teilen wurde die Emanzipation des Individuums sowohl von der gesellschaftlich erzwungenen Heteronomie als auch von seiner Isoliertheit und Atomisierung durch die Hypostasierung nicht erreicht. Daher bleibt die Norm der Moderne der eigenen Selbstverwirklichung und der Selbstbestimmung des Individuums, so lautet der emphatische Punkt von Adorno, unvollendet. Damit wird ein besonderer Charakterzug des Begriffs des Individuums bei Adorno gekennzeichnet. Adorno hat es dabei meiner Interpretation nach darauf angelegt, die gesellschaftliche Natur des Individuums wiederherzustellen, ohne das Individuum auf einen bloßen Bestandteil eines organischen Ganzen zu reduzieren. Das Individuum ist einerseits eine gegenüber dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang selbstständige, selbstbewusste Person, ihre Selbständigkeit ist andererseits eine Art ihrer Vergesellschaftung, d. h., »Reflexionsform des gesellschaftlichen Prozesses« (MM, 261). Die Mündigkeit des Individuums, sich selbst über seine gesellschaftliche Umwelt als zweite Natur reflexiv zu denken, ist daher eine Voraussetzung der individuellen Freiheit von den vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnissen, weil ohne sie die Individuen die Bedingung ihrer Freiheit als die allgemeine Verfassung nicht erkennen können und die Verwirklichung dieser Freiheit eigentlich nur in den überindividuellen gesellschaftlichen Verhältnissen möglich ist. Das Individuum ist keine selbstständige Substanz außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse, aber seine kritische Distanzierung von diesen Verhältnissen ist die Voraussetzung dafür, dass die gesellschaftliche Totalität nicht gewaltsam gegenüber allen einzelnen Menschen durchgesetzt wird. Die individuelle Freiheit als Autonomie ist in diesem Zusammenhang insofern wichtig, als sie das Kriterium für die Kritik der vorhandenen gesellschaftlichen Totalität ausmacht. »Das Individuum ist gewissermaßen der Prüfstein der Freiheit.« (LGF, 247)25 Indem Adornos Ansatzpunkt die »aufs Wesen bezogene

25 Jürgen Ritsert hat diese These von Adorno mit seiner Betonung des subjektiven Reflexionsvermögens wie folgt reformuliert: »Die Reflexion des Subjekt ist der Prüfstein für den Vernunftstatus der Gesellschaft.« (Ritsert, Jürgen: Der Mythos der nichtnormativen Kritik. Oder: Wie misst man die herrschenden Verhältnisse an ihrem Begriff?, in: Müller, Stefan (Hg.): Probleme der Dialektik heute, Wiesbaden, 2009, S. 172.) Er hat damit Adornos theoretisches Projekt der individuellen Freiheit zu Recht als »Verteidigung des Individuums gegen den Individualismus« bezeichnet (Ritsert, Jürgen: Das Nichtidentische bei Adorno – Substanz- oder Problembegriff?, in: Zeitschrift für kritische Theorie Heft 4, Lüneburg, 1997, S. 46.).

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Individualität« (ND, 343) betrifft, ist die emphatische Zielsetzung der individuellen Freiheit eben als die Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen. »Solche Individualität ist selber ein gesellschaftlich produzierter Begriff, der unter die Kritik der politischen Ökonomie fällt«26, und von daher lässt sich die Individualität, die individuelle Freiheit als eine gesellschaftskritische Kategorie verstehen: Die individuelle Freiheit bedarf aber der gesamtgesellschaftlichen, allgemeinen Bedingung dafür, und ist in diesem Sinne nicht nur eine rein individuelle Kategorie. »Die Emanzipation des Individuellen jedoch gelänge einzig, wofern sie das Allgemeine ergriffe, von dem alle Individuen abhängen.« (ÄT, 452) Das Individuum als das mündige Subjekt ist in diesem Sinne »ein politisch denkender Mensch«, der sich gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt kritisch verhält. »Und dieses Denken selber hat ja als einen Ort überhaupt nichts anderes als das Individuum; nur Individuen können denken, blinde Kollektive können schon überhaupt nicht denken« (LGF, 94). Damit stellen wir die besondere emphatische, normative Bedeutung des Individuums bei Adorno in Bezug auf seine kritische Haltung fest. »[W]enn wir von Individuum sprechen, dann meinen wir dabei ja nicht einfach das biologische Einzelwesen, sondern eben wirklich den in sich selbst reflektierten und sich als geistige Einheit konstituierenden Einzelmenschen « (LGF, 338).

Die reflexive Kraft des Individuums hat die Rolle eines Stützpfeilers, der verhindert, dass sich die gesellschaftliche Totalität durchaus gewaltsam durchsetzt. In diesem Punkt ist die individuelle Freiheit nicht nur das Ziel der gesellschaftlichen Emanzipation, sondern auch deren Voraussetzung. Von welchem Standpunkt aus man es auch betrachten mag, ist die Individualität der Prüfstein der freien Gesellschaft und zugleich der Ausgangspunkt für den Widerstand gegen die repressiven Züge der Gesellschaft. »Individualität ist sowohl Produkt des Drucks wie das Kraftzentrum, das ihm widersteht« (LGF, 369). Das Mündigwerden des Individuums ist vor diesem Hintergrund wiederum eine notwendige Bedingung seines Subjektwerdens. Um mit dem hegelschen Ausdruck zu sprechen: Das ansichseiende Individuum kann erst durch sein Mündigwerden die Einsicht in den gesellschaftlichen Zusammenhang für seine Selbstverwirklichung und Autonomie erhalten. Damit wird es zum fürsichseienden, und in diesem Sinne zum (politischen) Subjekt. »Zum Subjekt wird das Individuum, insofern es kraft seines individuellen Bewußtseins sich objektiviert«

26 Reflexionen zur Klassentheorie, GS 8, S. 389.

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(ND, 56). Dieses Subjektwerden des Individuums ist nicht als ein naturwüchsiger Prozess zu verstehen, weil es eigentlich nicht unmittelbar möglich ist, dass das naturwüchsige Bewusstsein des Individuums im gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang seine Heteronomie ohne Weiteres überwindet. Das Subjektwerden benötigt darum das pädagogische Moment, durch das die Individuen ihre autonome Denkfähigkeit erwerben können.

4.2.3 Bildung, Subjektivierungsprozess und die immanente Kritik Soeben konnten wir erfassen, dass das mündige Individuum den Ausgangpunkt des politischen Subjektes ausmacht, dessen Heraustreten aber zugleich den Prozess der Subjektivierung voraussetzt. Nun kommt im Anschluss daran das Problem zum Vorschein, dass in einem Zustand, in welchem die gesellschaftlich versursachte Heteronomie herrscht, diesem Prozess der Subjektivierung Beschränkungen zugefügt werden sollen. Terminologien der Psychologie entlehnend kann man sagen, dass diese Heteronomie ihren Ursprung in der fesselnden Kraft des Realitätsprinzips nimmt, weil das Subjekt tendenziell in dem Betrug befangen ist, dass es seine gelingende Selbsterhaltung dadurch erreichen könne, indem es nicht gegen das Realitätsprinzip verstößt. Das Mündigwerden des Subjektes setzt aus diesem Grund die Stärkung des Ich voraus, das sich nicht an das Realitätsprinzip anpassen will. »Das Ich muß geschichtlich erstarkt sein, um über die Unmittelbarkeit des Realitätsprinzips hinaus die Idee dessen zu konzipieren, was mehr ist als das Seiende.« (ND, 389) Diese Idee, über das Realitätsprinzip ebensowie über das bloße Seiende hinausgehen zu wollen, zu konzipieren, wird aber aufgrund der Bindungskraft des Realitätsprinzips nicht unmittelbar geleistet, und bedarf eines pädagogischen Moments, das in zweierlei Bedeutungen »Bildung« genannt werden darf. Die doppelte Bedeutung des Bildungsbegriffs betrifft einerseits die Entstehung bzw. Gestaltung, Formung eines Gegenstandes. Die Bildung des Subjektes heißt in diesem Sinne die Formung des Subjektes, das Subjektwerden des Subjektes. Andererseits besitzt sie ihre Bedeutung bezüglich der Erhebung des Selbstbewusstseins, als ein Synonym für Erziehung. Die beiden Bedeutungen hängen in dem Sinne miteinander zusammen, dass darauf abgezielt worden ist, dass das Selbstbewusstsein einer Person als Einzelheit durch den Bildungsprozess in der Allgemeinheit ihre Selbstverwirklichung erreicht. Adornos Interesse an der Pädagogik stellt sich auf die Verwirklichung des mündigen Subjektes ein, damit jeder sein starkes Selbstbewusstsein hat, mit dem

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jeder jenseits des Realitätsprinzips seine eigenen Behauptungen entfalten kann. Dass Individuen, die sich an den Verlauf der Sache unreflexiv anpassen, en masse produziert werden, ist ein Kennzeichen für das totalitäre System, das das Urteilsvermögen der Masse anästhesiert und zur anonymen Herrschaft mobilisiert. Dagegen beabsichtigt die »demokratische Pädagogik«27, dass jedes Individuum sein Ich auf die reflexive Besinnung auf sich selbst und auf gesellschaftliche Verhältnisse anwenden kann. Daraus kommt die poltische Bedeutung der Erziehung zum Vorschein. »Ich möchte es danach riskieren, auf einem Beine stehend, zu sagen, was ich mir zunächst unter Erziehung überhaupt vorstelle. Eben nicht sogenannte Menschenformung, weil man kein Recht hat, von außen her Menschen zu formen; nicht aber auch bloße Wissensübermittlung, deren Totes, Dinghaftes oft genug dargetan ward, sondern die Herstellung eines richtigen Bewußtseins. Es wäre zugleich von eminenter politischer Bedeutung; seine Idee ist, wenn man so sagen darf, politisch gefordert. Das heißt: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen. «28

Die demokratische Pädagogik bezweckt also »eher die Aufgabe, Widerstand zu kräftigen, als Anpassung zu verstärken«29. Hierbei handelt es sich um die Einsicht, dass die moderne Demokratie als politisches Regime eigentlich sehr schwach ist und droht, in ihrer Krisenzeit in die totalitäre Ordnung zu verfallen, wenn die Mündigkeit jedes Individuums nicht vorausgesetzt ist. Wie Norbert Rath formulierte, kann man in diesem Punkt in den bildungstheoretischen Anstrengungen Adornos den Begründungsversuch einer antifaschistischen Pädagogik finden. »Wenn seine sozialpsychologischen Forschungen, seine Anregungen für die Didaktik des Geschichtsunterrichts und der politischen Bildung, seine Überlegungen zu nicht unterdrückten Formen der Erziehung überhaupt, seine Kritik an Halbbildung und Verdummung durch Medien, seine bildungstheoretischen Reflexionen in einem Punkt

27 Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, GS 10.2, S. 568. 28 Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, S. 144 29 A.a.O., S. 110.

200 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT zusammenstimmen, dann in dem, daß sie eine antifaschistische Pädagogik begründen wollen.«30

Wodurch bildet sich aber diese Kraft zum Widerstand, zur Entgegensetzung heraus? Wendet sich Adorno deshalb nicht an das moderne Bildungssystem, weil es lediglich die Fähigkeit zur Anpassung an gesellschaftliche Regeln oder die berufliche Qualifikation der einzelnen Menschen statt deren autonomen, kritischen Denkfähigkeit zur Entwicklung bringt? Es kann in der Tat, wie an der oben zitierten Stelle gesehen, weder durch die Menschenformung von außen her noch durch bloße Wissensübermittlung erreicht werden – die einzige Möglichkeit bleibt dann in der subjektiven Erfahrung. »Durch Erfahrung und Konsequenz ist das Individuum einer Wahrheit des Allgemeinen fähig, die dieses, als blind sich durchsetzende Macht, sich selbst und den anderen verhüllt.« (ND, 337) Ich schlage hierbei vor, dass Adornos Auffassung der Bildung als Prozess des Mündigwerdens mit seiner Emphase der immanenten Kritik zu einer gesellschaftskritischen Methode verbunden werden kann, was dann heißt, dass die Idee der immanenten Selbsttranszendenz auf die innere Entwicklung des Bewusstseins des Subjektes durch den \Kreuzungspunkt der subjektiven Erfahrung anzuwenden ist. Immanente Kritik als subjektive Erfahrung sollte daher der Ansatzpunkt der Bildung des Subjektes als sein Lernprozess sein. Wie wir im letzten Kapitel erfasst haben, ist die Gesellschaft als eine negative Substanz nicht imstande, die Einzelnen unter ihre Ordnung völlig zu integrieren. Es bleibt der Raum übrig, in dem das kritische Individuum entstehen kann. Dieses kritische Individuum als ein mündiger Mensch, als das »Nein sagende« Subjekt, entsteht aus seiner eigenen Erfahrung in der Welt. Das Subjekt entwickelt sein eigenständiges Bewusstsein durch die Wahrnehmung, dass sein erlerntes Normensystem mit der Wirklichkeit der Welt, wo es lebt, nicht gleich ist. Nicht die gesellschaftlichen, moralischen Normen selbst, sondern die Erfahrung des Widerspruchs, dass diese Normen mit der gesellschaftlichen Realität nicht übereinstimmen, bildet ein Individuum zum nein-sagenden, mündigen Subjekt. Bildung des Subjektes, sein Lernprozess zu seiner selbst (als Zu-Sich-Kommen des Subjektes) ist paradoxerweise als eine Art »Revolte gegen alles das, was unsere Bildung in uns hineingepumpt hat« (PT 1, 143) zu verstehen. In seiner Schrift zum Positivismusstreit schreibt Adorno, dass die immanente Kritik als Methode der dialektischen Kritik nie »rein logische allein, sondern

30 Rath, Norbert: Adornos Kritische Theorie. Vermittlungen und Vermittlungsschwierigkeiten, Paderborn/München/Wien/Zürich, 1982, S. 132.

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stets auch inhaltliche, Konfrontation von Begriff und Sache«31 ist. Im Prozess der Subjektivierung führt diese Konfrontation die subjektive Erfahrung durch, indem durch sie der Widerspruch der Normen und der Realität der Gesellschaft sichtbar wird. Ein Individuum lernt im offiziellen Bildungssystem, dass die moderne Gesellschaft auf bestimmten Normen gegründet worden ist, nämlich auf den Normen der Freiheit, Gleichheit sowie Menschenrechte, doch nimmt es in seinem Alltagsleben wahr, dass diese Normen beschädigt werden, z. B., wenn es im Jobinterview hört, dass es nicht mehr seine langen Haare behalten kann, falls es im entsprechenden Unternehmen arbeiten will, oder wenn es die Nachrichten in der Zeitung liest, dass ein Asylbewerber vom Personal der Behörde missachtet und misshandelt wurde, dann hegt es Argwohn gegen diese Situationen, die mit den Normen, die es im offiziellen Bildungssystem gelernt hat, nicht konform sind. Die Bildung des Subjektes weist auf die Vermehrung des Vermögens des Zweifels hin. Sie muss die Einsicht des Subjektes entwickeln, nämlich die »Einsicht in das, was ist, aber in einem solchen Sinn, dass diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was gesellschaftlich ›der Fall‹ ist [...], an dem misst, was es selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch zugleich die Potenziale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuknüpfen« (ES, 31). Die Kraft zur Bezweiflung, zur Distanzierung von der Sache ist ein Effekt der Bildung des Subjektes durch die immanente Kritik, die durch seine Erfahrung hindurch ausgeführt wird. Die Potenziale der Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung können ohne diese Bildung der kritischen Denkfähigkeit jedes Subjektes nicht bestehen. Bildung des Subjektes bedeutet daher nicht nur das Lernen der bestimmten Werte und Normen, sondern den Lernprozess zur Bezweiflung, zum Misstrauen und zur kritischen Besinnung auf die Realität, nämlich zum Nein-Sagen. Nunmehr wird deutlich, wie das Erkennen der Widersprüche der Gesellschaft zum Zwischenglied der sozialen Kämpfe wird. Hierbei ist in Bezug darauf die Idee der immanenten Kritik der Normen der Moderne, die wir im zweiten Kapitel aufgefasst haben, noch zu konkretisieren. Dass der Widerspruch der gesellschaftlichen Normen und ihrer Realität der Ausgangspunkt für die immanente Kritik der Gesellschaft werden kann, impliziert, dass die Normen der modernen bürgerlichen Gesellschaft, die zwar den traditionellen Marxisten als bürgerliche Ideologien, als falsches Bewusstsein gelten, in der Tat aber ihren eigenständigen Wahrheitsgehalt besitzen. Die gesellschaftlichen Normen wie Autonomie, Freiheit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenwürde usw. dürfen im Sinne des Marxismus, dem kri-

31 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 304.

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tisch zu folgen Adorno für die Aufgabe seiner Theorie hielt, in die Kategorie der Ideologien sortiert werden, insofern sie in der Realität, in der bürgerlichen Gesellschaft selbst nicht völlig verwirklicht werden können, sondern die Gefahr in sich bergen, den jetzigen Zustand der Gesellschaft als frei, gleich und gerecht zu verkündigen und damit zu verteidigen – sie können aber als der Ausgangspunkt für die Kritik der Realität funktionieren, zumal sie ihre rationalen Beschaffenheiten enthalten. Für Adorno ist die Ideologie kein bloß falsches Bewusstsein. Sie ist ein gesellschaftlich notwendiger Schein und keineswegs bloß falsch, sondern enthält in ihrem eigentümlichen Mechanismus ihre eigene Rationalität. »Sie [die Ideologie – S. H.] erheischt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes, den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde, und die ihr Modell am Tausch von Vergleichbarem hat.«32

Obwohl die Idee der Gerechtigkeit ihr Modell am Tauschprinzip hat, verschwindet ihr Wahrheitsgehalt nicht, wenn in ihr ein rationales Element enthalten ist: »Demgemäß ist auch Ideologiekritik, als Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit, nur soweit möglich, wie jene ein rationales Element enthält, an dem die Kritik sich abarbeiten kann.«33 Auf gleiche Art enthalten ist in der Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft die Idee einer Assoziation freier und selbstständiger Individuen, die eigentlich das normative Ziel der Kritischen Theorie Adornos kennzeichnet. »Der Begriff von Gesellschaft, spezifisch bürgerlich und antifeudal, impliziert die Vorstellung einer Assoziation freier und selbstständiger Subjekte um der Möglichkeit eines besseren Lebens willen, und damit Kritik an naturwüchsigen gesellschaftlichen Verhältnissen.«34 In dieser Perspektive von Adorno ist inhaltlich impliziert, dass die herrschende Ideologie in der Form von sozialen Normen nicht nur die Ideologie der herrschenden Klasse, sondern auch der Beherrschten ist – dies ist eine über die Kritik von Marx und Engels an der bürgerlichen Ideologie in der Deutschen Ideologie hinausgehende Perspektive, in welcher sie ausdrücklich wie folgt formulierten: »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.« (MEW 3, 46)

32 Beitrag zur Ideologienlehre, S. 465. 33 Ebd. 34 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 306.

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In dieser Voraussetzung haben Marx und Engels ihre Ablehnung der bürgerlichen Normen an mehreren Stellen ausgedrückt.35 Gegenüber dieser These von Marx und Engels, bzw. über diese These hinaus, lässt sich dennoch behaupten, dass in herrschenden Gedanken auch die geistigen und normativen Ergebnisse, die von den Beherrschten erkämpft worden sind, ausgefüllt sind, und dass es darum die Aufgabe der Kritischen Theorie in den sozialen Kämpfen von unten ist, in die Öffentlichkeit zu bringen, dass die allgemein anerkannten sozialen Normen partiell auch von den Beherrschten selber sind, und dadurch die Möglichkeit des ›ideologischen Verrats‹ deutlich zu theoretisieren. Die subversiven Kämpfe der Beherrschten ereignen sich nicht dadurch, außerhalb der herrschenden ihre eigene Ideologie (in der Form von sozialen Normen) herzustellen, sondern durch den kollektiven Versuch, die idealen Botschaften in der bürgerlichen Ideologie (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Würdigkeit, Glückseligkeit etc.), die anscheinend von oben her vernommen werden, die aber eigentlich sie selbst gesendet haben, hier und jetzt zu verwirklichen. Soziale Kämpfe ereignen sich nicht anders als in demselben Raum, wo die bürgerlichen Normen, die eigentlich nicht nur durch die bürgerliche Klasse gesetzt worden sind, nicht erfüllt werden. Die Kämpfe des (sowohl einzelnen als auch kollektiven) Subjektes sind in diesem Sinne durch die sozialen Normen, die ihm gegebenen gesellschaftlichen Kategorien vermittelt. »Noch der Widerstand des Subjekts gegen die ihm vorgegebenen Kategorien ist in sich durch diese Kategorien, die ihm vorgegeben sind, in die es eingespannt ist, vermittelt.« (LGF, 37) Hierbei ist paradoxerweise impliziert, dass ein sozialer Kampf immer wieder eben an den Orten auftaucht, wo ein bestimmter etablierter, offizieller Diskurs als der hegemoniale erscheint und die sozialen Normen der herrschenden Klasse bestehen, in welchen die Existenz dieses Kampfs, nämlich des antagonistischen Charakters der Gesellschaft eigentlich geleugnet wird. Diese in den traditionell marxistischen Diskussionen ignorierten Eigenschaften der Normativität der modernen bürgerlichen Gesellschaft sind ein Kennzeichen für die normativen Potentiale der Moderne in Hinsicht auf gesellschaftlichen Widerstand. In der modernen Gesellschaft entsteht die Notwendigkeit, Normen – die den Zusammenhalt des gesellschaftlichen Ganzen gewährleisten und die von den einzelnen Menschen verinnerlicht werden müssen – nicht mehr bloß gewaltsam zu dekretieren, sondern für ihre Geltung eine Legitimationsgrundlage zu schaffen. Aus dieser Notwendigkeit, den sittlichen Kodex der bürgerlichen Gesellschaft ratio-

35 Vor allem im ersten Band des Kapital heißt es: »Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham.« (MEW 23, 189) An dieser Stelle kommen die Normen der bürgerlichen Gesellschaft nur als Objekt des Spotts zum Vorschein.

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nal zu rechtfertigen, erwächst auf der anderen Seite die kritische Kraft normativer Reflexion.36 Die Aufgabe der Bildung besteht darin, ein mündiges Individuum als Subjekt freizulegen, was nicht dadurch abgeschlossen wird, dass ein Individuum die sozialen Normen erlernt, sondern dazu führt, dass es durch seine eigene Erfahrung die Diskrepanz zwischen diesen Normen und der gesellschaftlichen Realität bemerkt. Eben durch diese Erfahrung erhebt sich das Individuum über ein die Normen erkennendes hinaus zum gegenüber dem Widerspruch der gesellschaftlichen Realität nein-sagende Subjekt. Die Bildung als der Prozess der Subjektivierung, als Lernprozess zum mündigen Subjekt bedeutet aber nicht bloß das Mündigwerden des Selbstbewusstseins eines Menschen. Das selbstbewusste Individuum, das den Widerspruch der Gesellschaft, in der es lebt, erkennt, erhält zugleich Aufschluss darüber, dass die Überwindung dieses Widerspruchs vermöge seiner eigenen Kraft nicht möglich ist. »Das Individuum ragt über den blinden Zusammenhang der Gesellschaft temporär hinaus, hilft aber in seiner fensterlosen Isoliertheit jenen Zusammenhang erst recht reproduzieren.« (ND, 219) Dies führt dann entweder zur Verzweiflung des Bewusstseins, dass die überindividuelle Gesamtstruktur der Gesellschaft nicht veränderbar ist, oder zum Versuch der reziproken Solidarität, um die Isoliertheit des Individuums zu übersteigen. In der Idee der Bildung seit Kant ist immer wieder impliziert, dass das Individuum seine Isoliertheit überwinden und die empathische Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen, erreichen soll. Unter anderem wird sie bei Hegel als die Aufgabe ausgedrückt, »das allgemeine Individuum, de[n] selbstbewußte[n] Geist, in seiner Bildung zu betrachten« (PG, 31). Hegel zufolge bezeichnet sich die Bildung als die Verwirklichung der Allgemeinheit des Individuums im gesellschaftlichen Horizont. Die Individualität entwickelt sich nämlich durch die Allgemeinheit vermittelt und nimmt ihre eigene Bedeutung in der Allgemeinheit in Besitz. Die Idee der Bildung, dass ein Individuum durch die innere Entwicklung zu einer selbstständigen Person heranwächst und damit in einer Gesellschaft seine wahre Selbstverwirklichung abschließt, wird nur eben durch die Reflexion über das allgemeine Verhältnis des Individuums, was Hegel den »Geist« nannte, begründet: »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« (PG, 145)

36 Vgl. Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik nach Auschwitz, S. 26.

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Den Prozess der Herausbildung der reziproken Solidarität und ihre Bedeutung in der Debatte um das politische Subjekt nun bei Adorno theoretisch zu erklären wird die Aufgabe des nächsten Abschnitts.

4.3 M IMESIS , M IT -L EIDEN

UND

S OLIDARITÄT

Eines der Kernprobleme der Politik ist die Herstellung der Vereinigung des Willens der Einzelnen und des Zusammenwirkens. Dabei ist die Vereinigung und das dadurch gebildete »Wir« in Abgrenzung zur bloßen Gesamtsumme der Einzelnen keine schon gegebene Kategorie; deren Konstituieren macht vielmehr die Frage der Politik aus.37 Indem die Politik als die souveräne Assoziation bestimmt wird, wird klargestellt, dass die Frage nach dem Konstituieren des »Wir« die Quintessenz der politischen Diskurse ist. Die Problematik der allgemeinen Subjektivität theoretisiert Adorno hauptsächlich in seinen ästhetischen Werken, die normalerweise als nur in geringem Maße mit den politisch-philosophischen Debatten verbunden gelten. Meines Erachtens aber zielen seine ästhetischen und musikphilosophischen Beiträge ohne Zweifel auf die politischen Potentiale der ästhetischen Kategorien ab. Beispielsweise hat Adorno in seiner Philosophie der neuen Musik eine Skizze der überindividuellen Subjektivität und ihrer nicht repressiven Konstellation formuliert: »Polyphone Musik sagt ›wir‹, selbst wo sie einzig in der Vorstellung des Komponisten lebt und keinen Lebenden sonst erreicht.«38 In der polyphonen Musik, die sich als Mehrstimmigkeit charakterisiert, und in der jeder Stimme ohne hierarchische Gliederung gleichwertig ist, während ihre Eigenständigkeit nicht verhindert wird, erblickt Adorno eine »ideale Kollektivität«39, die auch politisch von Bedeutung bezüglich dessen ist, was ich im Unterschied zur kollektivistischen Vorstellung der allgemeinen Subjektivität hier die gemeinsame Subjektivität nenne.

37 Dass die Politik nicht individuell, sondern nur in der Form eines Miteinander entstehen kann, stellte Hannah Arendt kurz wie folgt dar: »Wer, aus welchen Gründen im mer, die Isolierung sucht und an diesem Zusammen nicht teilhat, muß zumindest wissen, daß er auf Macht verzichtet und die Ohnmacht gewählt hat, ungeachtet dessen, wie groß seine individuelle Stärke und wie gut seine Gründe sein mögen.« (Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, 1982, S. 195.) 38 Philosophie der neuen Musik, GS 12, S. 26. 39 Ebd.

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Ob bei Adorno eine politische Theorie der gemeinsamen Subjektivität (»Wir«) konstituiert werden kann, ist aber seit jeher fraglich geblieben. Denn bei ihm ist sowohl das Subjekt des Leidens als auch noch das Subjekt der Mündigkeit, das gegenüber dem negativen Zustand »Nein« sagen kann, immer das Individuum oder der Einzelne. Eine emanzipatorische Gesellschaft bedeutet für ihn einen allgemeinen Raum dafür, dass der Einzelne seine Eigentümlichkeit verwirklichen kann. Er leistet also seine eigene Verwirklichung nur, indem dieses emanzipierte, versöhnte Verhältnis geschaffen wird. Dabei stellt sich die Frage, ob Adorno ein theoretisches Modell für die Assoziation und Bindung der einzelnen Subjekte besitzt. Als Voraussetzung für die Antwort auf diese Frage soll zuerst berücksichtigt werden, dass er sein philosophisches Interesse an der Intersubjektivität bereits in seiner Kritik an der phänomenologischen Subjektauffassung von und nach Husserl ausgedrückt hat, wobei »meine« eigene Welterfahrung und »mein« Ich als solipsistisch kritisiert wird. »In ihm [›meinem‹ Ich – S. H.] ist ›Intersubjektivität‹ mitgesetzt, nur nicht als beliebige reine Möglichkeit, sondern als die reale Bedingung von Ichsein, ohne welche die Einschränkung auf ›mein‹ Ich nicht kann verstanden werden.«40

Meine These zu der Problematik der gemeinsamen Subjektivität läuft nunmehr darauf hinaus, dass Adornos Begriff der Mimesis, die meistens allein vor dem Hintergrund der ästhetischen Theorie ohne politische Bezugnahme diskutiert wird, als ein begriffliches Mittel, seiner Theorie den Charakter eines Modells der gemeinsamen Subjektivität zu verleihen, erweiternd zu deuten ist. Demzufolge lassen sich aus den anthropologischen, ästhetischen und moralphilosophischen Implikationen des Begriffs der Mimesis die entsprechenden politisch-philosophischen Konsequenzen ableiten. Für »die Idee einer die divergenten Einzelinteressen übersteigenden Solidarität« (ND, 278) ist der Begriff der Mimesis von maßgeblicher Bedeutung. Die Subjekte leisten ihre Solidarität durch ihr Mitleiden – hierbei bleibt diskussionsbedürftig, worauf sich der Begriff des Mitleidens in diesem Kontext bezieht. Noch zu amplifizieren ist nämlich, welche Bedeutung dieses Wort in unserer Betrachtung in Besitz nimmt, weil es eigentlich in Adornos Philosophie umstritten ist. Mitleid wird im Allgemeinen als eine herabbeugende Haltung verstanden, die die anderen Bemitleideten als armselig ansieht. In diesem Sinne wird dieser Begriff in der Dialektik der Aufklärung als das Komplement für die »bürgerliche

40 Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, GS 5, S. 231.

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Kälte«, als im direkten Gegensatz zum negativen, subversiven Verhalten stehend kritisiert. »Wie die stoische Apathie, an der die bürgerliche Kälte, das Widerspiel des Mitleids, sich schult, dem Allgemeinen, von dem sie sich zurückzog, noch eher die armselige Treue hielt, als die teilnehmende Gemeinheit, die dem All sich adaptierte, so bekannten, die das Mit leid bloßstellen, negativ sich zur Revolution.« (DA, 123)

Weitläufig hat Adorno seine Kritik an dem Begriff des Mitleids in seiner Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie wie folgt ausgedrückt, »daß in dem Mitleid, das man einem Menschen entgegenbringt, immer auch ein Stück Un recht gegen diesen Menschen enthalten ist, weil er nämlich an dem Mitleid immer zugleich auch die Ohnmacht und die Scheinhaftigkeit gerade der mitleidigen Handlung erfährt.« (PM, 258)

Das Mitleid in diesem Sinne ist eine solche Verhaltensweise, der zufolge einer den anderen für niedrig hält und sich dadurch an einem überlegenen Platz verortet, was so Adornos Kritik am Mitleid und der Mitleidsethik legitimiert. Es ist eine herabbeugende Verhaltensweise, die aus diesem Grund mit der Solidarität im Grunde genommen nicht gleichgesetzt werden darf. Um nun die Solidarität mit den Leidenden, die Adorno unter anderem in seiner Negativen Dialektik entwickelte, zu begreifen, werde ich die buchstäbliche Bedeutung vom Mit+Leiden neu beleben. Das Mit-Leiden ist eine emotionale Affinität, in deren Zuge einer das Leiden der Anderen als sein eigenes aufnimmt, dadurch die affektive Gemeinsamkeit bildet und sich in die Gequälten einfühlt. Es ist die Fähigkeit der Empathie, das Leiden anderer gemeinsam zu teilen. Der mimetische Impuls, das Leiden der Anderen als sein eigenes zu fühlen, entwickelt sich zum emotionalen Vermögen, das Leiden der Anderen mitzuleiden, wodurch sich das Moment der Solidarität der Einzelnen gegen ihre gemeinsame Wurzel herausbildet. Das MitLeiden in diesem Sinne ist eben die Bedingung der Solidarität im Gegensatz zur »bürgerlichen Kälte«, die durch die verdinglichte Beziehung des Menschen im alles kommensurabel machenden Tauschprinzip hervorgebracht wird – damit wird die Solidarität durch Negativität konzipiert, nämlich als: Solidarität der leidenden Menschen. Die Solidarität der politischen Subjekte, die durch die Mimesis konstituiert wird, unterscheidet sich von der kollektivistischen Weise, also von der durch den Verlust der Individualität hergestellten kollektiven Subjektivität, indem diese im Mechanismus der kollektiven Identifizierung die Einheit des Ganzen in den Vor-

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dergrund stellt, während die gemeinsame Subjektivität, die durch die Mimesis konstituiert wird, in der Vielfalt der Individuen auf Basis der Affinität Solidarität herstellt. Dieses neue Subjektmodell in der Lehre der Mimesis bei Adorno herauszufinden führt dazu, über die dualistische Vorstellung der Gegenüberstellung des Kollektivismus und Individualismus hinaus die Solidarität in der Besonderheit zu begründen.

4.3.1 Mimesis als politische Kategorie Mimesis (μίμησις) ist ein Begriff, der seit Platon und Aristoteles einen entscheidenden Raum in Debatten über Kunst und Literatur in Besitz nimmt, bei Adorno aber ist eine grundsätzliche Erweiterung von dessen Bedeutung anzusehen. In den traditionellen Kunstheorien bezieht sich die Mimesis allein auf die Schöpfungshandlung des Künstlers, so wird die mimetische Schöpfung des Kunstwerks durch den Künstler im Unterschied zur göttlichen Weltschöpfung nicht als aus Nichts (ex nihilo) entstanden verstanden, sondern als die Nachahmung der Natur oder eines Gegenstandes. Dabei handelt sich es nur um den Verlauf der Kunstschöpfung, aber keinesfalls um das Moment der Selbstreflexion des (schöpfenden) Subjektes. Während die Mimesis in den traditionellen Kunsttheorien »Nachahmung des Objektes« ist, so bedeutet sie bei Adorno die »Angleichung an das Objekt« – eine Verhaltenswendung des Subjektes ist damit impliziert. Nun beschränkt sich Adornos Begriff der Mimesis nicht auf die Kunsttheorie, sondern wird auf die umfassende Verhaltensweise zwischen Menschen und Natur, zwischen Subjekt und Objekt erweitert. Mimesis bedeutet bei ihm, wie er in seiner Vorlesung über Negative Dialektik zeigt, »das Moment des unmittelbaren Sichgleichmachens der Lebewesen und des Bewußtseins an das, was anders ist als sie« (VND, 135). Sie wird in der Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit derart definiert: »mimetisches Verhalten ist ja auch nicht ein Verhalten, das sich kausal nach gegenständlichen und als gegenständlich erkannten Momenten richtet, sondern eine unwillkürliche Anpassung an irgendwelches Extramentales« (LGF, 294). Die mimetische Verhaltensweise wird damit als das Modell einer allseitigen Selbstreflexion der (instrumentell) rationalisierten, das Objekt mit sich identifizierenden Verhaltensweise des Subjektes aufgezeigt. In der Dialektik der Aufklärung zeigten Horkheimer und Adorno die Mimesis als eine archaische, urspüngliche Form der »Rationalität«. Mimesis in diesem Sinne impliziert, dass das Verhältnis zum Objekt als »Verwandtschaft« (DA, 27)

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herausgebildet wird, indem das Objekt nicht vom Subjekt beherrscht wird, sondern das Subjekt sich an das Objekt angleicht. Das archaische Mimesisvermögen ist aber, so lautet die These weiter, im Laufe der Zeit und, indem der Mensch seine reflexive und rationale Denkfähigkeit entwickelte, immer mehr verkümmert, doch bleibt es noch als eine Form des unbewussten Impulses. Bereits aus dieser geschichtsphilosophischen Annahme der mimetischen Verhaltensweise auf der archaischen, ursprünglichen Stufe entsteht, wenn auch ansatzweise, eine Möglichkeit, den Mimesisbegriff, wie Albrecht Wellmer zeigt, als eine über das Identifikationsverhältnis hinausgehende kommunikative Verhaltensweise zu interpretieren. »Mimesis ist der Name für die sinnlich rezeptiven, expressiven und kommunikativen Verhaltensweisen des Lebendigen.« 41 Überdies wird in der Analyse des Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung nochmals der mimetische Impuls als eine Kategorie impliziert, die politisch-philosophisch angewendet werden kann. Der mimetische Impuls wird demzufolge als die Erinnerung des Körpers an den herrschaftslosen Zustand »der rationalisierten Idiosynkrasie« entgegengesetzt, die gegen das Realitätsprinzip nicht verstoßen will und aus diesem Grund den körperlichen Impuls auf dieses beschränkt. Aus diesem nach dem Realitätsprinzip regulierten, unterdrückten Impuls resultiert nun die »falsche Projektion«, eine deformierte Vergegenständlichungsweise, die sich ins Objekt projiziert und damit versucht, es sich gewaltsam anzueignen. »Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich.« (DA, 212) Der kollektive Narzissmus ist auch eine Form der falschen Projektion. Darin wird der Gegenstand der Projektion des kollektiv narzisstischen Egos immer in der Minoritätsgruppe gefunden, deren Nichtidentität gewaltsam zu identifizieren und damit auszugrenzen die Logik der Herrschaft bildet. Durch diese falsche Projektion und den kollektiven Narzissmus erklärt sich die totalitaristische Herrschaft im 20. Jahrhundert und der Antisemitismus massenpsychologisch. Bei der Analyse der politischen Bezugnahme des Impulses ist hier als bedeutsam anzusehen, dass der mimetische Impuls als Gegenbegriff der falschen Projektion seine politisch-philosophische Bedeutung aufbewahrt. Hierbei ist Adornos Übernahme der Analyse der Massenpsychologie, und insbesondere des Begriffs der kollektiven Identifizierung von Freud von großer Bedeutung. »Wenn, einer Lehre aus Freuds ›Massenpsychologie‹ zufolge, Panik der Zustand ist, in welchem mächtige kollektive Identifikationen zerfallen und die freigesetzte Triebenergie

41 Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M, 1993, S. 153.

210 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT sich in jähe Angst verwandelt, dann vermag der von Panik Ergriffene das Finstere zu innervieren, das auf dem Grunde der kollektiven Identifikation selber liegt, das falsche Bewußtsein der Einzelnen, die ohne durchsichtige Solidarität, in blinder Gebundenheit an Bilder der Macht, sich eines Sinnes mit einem Ganzen meinen, dessen Ubiquität sie erstickt.«42

Die kollektive Identifikation bedeutet für Adorno die Abhängigkeit vom Ganzen ohne die mimetische Solidarität, nämlich die Angleichung an die Macht und die Mächtigen, während die Mimesis sich auf die Angleichung an die leidenden Anderen bezieht. Wenn also die kollektive Identifizierung der Ursprung für den psychologischen Mechanismus der Herrschaft ist, indem sie den psychischen Zustand des Realitätsprinzips charakterisiert, in welchem die Einzelnen um ihrer Selbsterhaltung willen ihre Einzelheit von sich aus unterdrücken und sich ins Bild des Mächtigen verwandeln, so drückt die Mimesis als etwas, was von jener Identifizierung abgelehnt wird, den Modus Vivendi des Widerstandes aus, solange sie impulshaft durch das Mit-Leiden darauf hinausläuft, den allgemeinen Grund des Leidens unter Anklage zu stellen. Diese Eigenschaft der Mimesis wird vor allem in der Negativen Dialektik eindeutig, Adorno schließt hier den mimetischen Impuls an den »Ausdrucksdrang des Subjektes« (ND, 29), nämlich an den subjektiven Ausdrucksdrang des erfahrenen Leidens, an. »Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen« (ND, 355). Der mimetische Impuls wird nun als eine unverzügliche Reaktionsweise auf jenen Ausdruck des Leidens, Schrei, aufgezeigt. Das Motiv, den Mimesisbegriff als eine politische Kategorie anzuwenden, wird damit präziser. Hierbei stellt Adorno dar, dass die (vollbrachte oder rationale) Identität, die im zweiten Kapitel festgestellt worden ist, als ein Moment des Widerstandes eingeschlossen werden soll – wir haben bereits gesehen, dass die Identitätskategorie nicht als solche von Adorno abgelehnt wird, sondern das Moment der Identität als Mimesis gegenüber dem Identitätszwang, dem abstrahierenden Identifikationsprinzip, das den Verlust der wahren Identität als Mimesis verursacht, seinen Wahrheitsgehalt behält. Adorno wollte meiner Auffassung nach durch diesen Mimesisbegriff zeigen, dass eine auf emotionaler Affinität ohne Identitätszwang basierende »Solidarität« (ND, 278) verwirklicht werden kann. »Das Bewußtsein weiß von seinem Anderen soviel, wie es ihm ähnlich ist, nicht indem es sich samt der Ähnlichkeit ausstreicht.« (ND, 267) Das Mimesisvermögen, die emotionale Affinität mit Anderen ist danach über die anthropologische Implikation hinaus die Voraussetzung politischer Solidarität.

42 Aldous Huxley und die Utopie, GS 10.1, S. 99.

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»Es soll nicht gefoltert werden; es sollen keine Konzentrationslager sein, [...] Wahr sind solche Sätze als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden.« (ND, 281) Wenn dieser Impuls das Leiden des Subjektes ausdrückt, kann daraus die praktische Solidarität mitleidender Subjekte mit den quälbaren Körpern resultieren. Darin besteht der moralphilosophische Wert des Impulsbegriffs. »Der Impuls, die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mit den, nach Brechts Wort, quälbaren Körpern« ist »dem moralischen Verhalten immanent« (ebd.). Eine moralische Handlung beruht Adorno zufolge nicht, wie bei Kant, auf dem reinen Sittengesetz aus dem Subjekt heraus, sondern auf dem Gefühl der Solidarität. Die Freiheit des Subjektes resultiert demzufolge nicht aus der das emotionale und körperliche Element abstrahierenden Gesetzgebung des Subjektes, sondern aus der politischen Praxis, die den Impuls ausdrückt, den das Solidaritätsgefühl bewirkt. Die mimetische Verhaltensweise als »Solidarität mit den quälbaren Körpern« steht unmittelbar quer zur »bürgerlichen Kälte« als Gleich-Gültigkeit im buchstäblichen Sinne. In einer Gesellschaft, in welcher der Äquivalententausch das dominante Prinzip ist und daher die Waren sowie die darin verausgabten menschlichen Arbeitskräfte als qualitativ gleich gelten43, werden diese gleiche Gültigkeit und damit die Austauschbarkeit umfassende Prinzipien menschlicher Beziehungen über die Warenwelt hinaus. Die Gleich-Gültigkeit als In-Differenz vertritt als das kalkulierende Verhalten von Menschen zu anderen Menschen und der Welt um sie die instrumentelle Verhaltensweise moderner Individuen, die, wie bereits Kant erkannte44, derart charakterisiert wird, dass die Menschen lediglich zum Mittel, nämlich zum »Preis« im Verlust ihrer »Würde« herabgesetzt werden. In dieser gleichgültigen Welt das Vermögen zum Mit-Gefühl und MitLeiden haben zu können, wirkt eben darum über die individuelle moralische Ebene hinaus subversiv. Die Mimesis und die Absage an isolierte Freude ist der Anfang für die Subversion. »Während in der integralen Welt, welche Trauer nicht duldet, das Gebot des Römerbriefs ›Weinet mit den Weinenden‹ mehr gilt als je, ist das ›Freuet euch mit den Fröhlichen‹ zum blutigen Hohn geworden: was die Ordnung den Geordneten an Freude läßt, zehrt von der

43 »Die Leinwandware bringt ihr eignes Wertsein dadurch zum Vorschein, daß ihr der Rock, ohne Annahme einer von seiner Körperform verschiednen Wertform, gleichgilt.« (MEW 23, 70) 44 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe VII, Frankfurt/M, 1974, S. 68.

212 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT Verewigung des Jammers. Daher wirkt die bloße Absage ans falsche Glück heute bereits subversiv.«45

Unsere bisherige Anstrengung, die Mimesis als eine politische Kategorie darzustellen, benötigt nunmehr eine bedeutsam hinzugefügte Bemerkung. Die naturalistischen, anthropologischen Implikationen dieses Mimesisbegriffs und die Analyse der archaischen Form der Mimesis, wie sie vor allem in der Dialektik der Aufklärung impliziert worden sind, reichen als solche nicht hin, als eine politisch philosophische Kategorie angewendet zu werden. Es kann in erster Linie gefährlich sein, den archaischen Rest des vorreflexiven Impulses, wie Idiosynkrasie an sich als eine Motivation der politischen Handlung zu rechtfertigen, weil dieser Impuls dem begrifflichen Urteil entkommen ist. Adorno selber wollte die Mimesis als den archaischen Impuls vor der Rationalisierung nicht unmittelbar als zutreffend bezeichnen. Ein politischer Wille oder eine politische Handlung braucht ihr Rechtfertigungsverfahren und zwar mit dem diskursiven, also begrifflichen Medium, weil sonst dieser Wille oder die Handlung zum Fanatismus führen kann. »Daß diese [mimetische Impulse wie Idiosynkrasie] nicht zur Regression treiben, darüber wacht die kritische Reflexion des wie immer auch isolierten Subjekts.« (ÄT, 69)46 Wenn wir den Mimesisbegriff als politisch philosophische Kategorie bezeichnen wollen und können, so ist dies darum nach der Bestimmung dessen in der Negativen Dialektik erst möglich, in der Adorno die Mimesis als Impuls mit dem reflexiven und diskursiven Denken zu versöhnen versucht. Der mimetische Impuls ist demzufolge zwar nicht rein logisch begründbar, aber trotzdem auch nicht unvermittelt und unreflexiv. In der Negativen Dialektik schreibt Adorno, dass nur durch die »Teilhabe am diskursiven Medium« (ND, 56) die subjektive Erfahrung überindividuelle Allgemeinheit erhält, sonst wird sie partikular und verliert damit ihre Kontinuität. »Sie [individuelle Erfahrung – S. H.] hätte keine Kontinuität ohne die Begriffe. Durch ihre Teilhabe am diskursiven Medium ist sie der eigenen Bestimmung nach immer zugleich

45 Aldous Huxley und die Utopie, GS 10.1, S. 114. 46 In der Kritik Hegels an Jacobi und der intuitionistisch motivierten politischen Romantik kann man eine ähnliche Warnung vor dem politischen Fanatismus finden. Ein politisches Denken, das das begriffliche Denken ausschließen will und allein auf dem Gefühl und der Begeisterung basiert, wie Hegel schon davon warnte, ist gefährlich, weil es »die Barbarei und das Gedankenlose sich zum Prinzip macht und [...] dem Menschen alle Wahrheit, Wert und Würde raubte.« (PR, 72)

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mehr als nur individuell. Zum Subjekt wird das Individuum, insofern es kraft seines individuellen Bewußtseins sich objektiviert, in der Einheit seiner selbst wie in der seiner Erfahrungen.« (ND, 56)

Die individuelle, subjektive Erfahrung muss durch das begriffliche, diskursive Medium ausgedrückt werden. Wichtig ist »der Ausdruck des Unausdrücklichen« (ND, 115), weil nur dadurch die individuelle Erfahrung ebenso mit anderen kommunizierbar wird und auf der individuellen Dimension sodann auch ihre Kontinuität und damit Einheit erhält. Durch diesen Ausdruck wird die individuelle Erfahrung überindividuell und damit allgemein. Dies gilt so deutlich auch für den Mimesisbegriff, weil der mimetische Impuls auch zu einer besonderen Art des Ausdrucks der subjektiven Erfahrung gehört. Während im falschen, unwesentlichen Zustand der Welt die subjektive Erfahrung in der Form des Leidens erscheint, so ist die Mimesis in dem Sinne ein anderer Aspekt der subjektiven Erfahrung, dass sie das Gefühl des Mit-Leidens ist. Sie ist demnach der Gemeinsinn (sensus communis), der sich durch den Ausdruck des Leidens auf das Gefühl der mitexistierenden Anderen auswirkt und ferner dadurch zu einem Allgemeinen erhöht. In der Ästhetischen Theorie fand Adorno den Ort, wo dieser verborgene Impuls ausgedrückt wird, in Kunstwerken, und entwickelte demzufolge den Mimesisbegriff in Bezug auf jene mimetische Verhaltensweise in Kunstwerken, die als »Statthalter unbeschädigten Lebens mitten im beschädigten« (ÄT, 179) verstanden wird. Mimesis wird damit als Ausdruck einer vorreflexiven Idiosynkrasie aufgefasst, und das rationale Subjekt kann nur durch die Kunst seinen restlichen Impuls der Vorstufe der Rationalisierung und die Erinnerung (Anamesis) daran ausdrücken. »Wohl ist das der Kunst unabdingbare mimetische Moment seiner Substanz nach ein Allgemeines, nicht anders zu erlangen jedoch als durchs unauflöslich Idiosynkratische der Einzelsubjekte hindurch.« (ÄT, 68. Kursiv von mir, S. H) In diesem Verlauf werden die über das einzelne Subjekt hinausgehenden kollektiven Kräfte dargestellt. »Jede Idiosynkrasie lebt, vermöge ihres mimetisch-vorindividuellen Moments, von ihrer selbst unbewußten kollektiven Kräften.« (ÄT, 69, Kursiv von mir, S. H) Die zitierten Bezeichnungen zum Mimesisbegriff wie »ein Allgemeines«, die »ihrer selbst unbewußten kollektiven Kräften« in der Ästhetischen Theorie werden nunmehr über ihre anthropologischen Voraussetzungen hinaus verstehbar. Der Gedanke, dass die individuelle Erfahrung durch das diskursive Medium allgemeine Elemente enthält, impliziert, dass dem Leiden ein allgemeines Element zugrunde liegt, dessen Ursache soziale Herrschaft, also der dem Leiden immanente Zusammenhang der Herrschaft ist. »Dazu treibt es die Qual, daß jene Allgemeinheit die Tendenz hat, in der individuellen Erfahrung die Vorherrschaft zu erlangen.« (ND, 56)

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Das theoretische Modell dafür, dass die gemeinsame affektive Affinität und die daraus bestehende Eintracht des Menschen zu der Herausbildung vom Gemeinsinn (Sensus communis) führt, der als die allgemeine Bedingung für die freie und gemeinschaftliche menschliche Beziehung wirkt, wurde vor allem von Kant in seiner Kritik der Urteilskraft formuliert. Er leitet daraus eine Konsequenz für seine auf der ästhetischen Urteilskraft begründete moralphilosophische Hinsicht ab. Der Gemeinsinn bedeutet zuerst in Bezug auf das Geschmacksurteil eine gemeinsame emotionale Urteilskraft. Er betrifft keinen Begriff, sondern sein Dasein ist ein Resultat aus dem freien Spiel unseres Erkenntnisvermögens. Er ist ein subjektives Prinzip, das aber auch allgemein gültig bestimmt wird, weil er kein privates, sondern ein gemeinschaftliches Gefühl ist. Daraus resultiert die »Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes«47, die Idee der Beurteilungskraft, in der Reflexion über sich selbst die Vorstellungsweise anderer Menschen zu berücksichtigen, damit jeder sein Urteil der gesamten Menschenvernunft überlassen und dadurch aus der Illusion heraustreten kann, die unter privaten Bedingungen schlechten Einfluss auf das Urteil ausüben könnte. Im Anschluss daran stellt Kant drei Elemente der »Maximen des gemeinen Menschenverstandes«48 dar: 1. Selbstdenken 2. An der Stelle jedes andern denken 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken Diese Maximen des gemeinen Menschenverstandes, der mit dem Gemeinsinn verbunden ist, setzt erstens ein Vermögen der Mündigkeit, von sich aus zu denken, voraus, und dies impliziert die Idee der Aufklärung, dass das Individuum als Subjekt sich von seinem Zustand der Unmündigkeit loslösen muss. Indem nun zweitens das selbstdenkende Subjekt auch auf dem Standpunkt der Anderen denkt, besitzt es drittens das aus der Heteronomie der Isoliertheit des solipsistischen Subjektes befreite konsequent freie Bewusstsein, insofern diese Isoliertheit zuvor durch die Unmündigkeit und damit Unfähigkeit, sich in das Denken der anderen hineinzuversetzen, erzwungen war. Dieser kantischen Lehre des Gemeinsinns ist unser Deutungsversuch über Adornos Theorie des Subjektes geschuldet: Mündige Individuen besitzen durch das Vermögen des reflexiven Denkens ihr gemeinsames Gefühl des Mit-Leidens aus dem mimetischen Impuls zum Leiden der Anderen hin. Dieses Mitgefühl wird dann zum Grund für die Soli-

47 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Bd. X, Frankfurt/M, 1974, S. 225. 48 A.a.O., S. 226.

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darität der Leidenden, die der Ausgang der freien Praxis gegen die erzwungene Isoliertheit, die Atomisierung des Individuums als Heteronomie ist.

4.3.2 Mimesis als Reflex mit Reflexion Wir haben oben gesehen, dass Adornos Begriff der subjektiven Erfahrung eine geistige, und das körperliche Leiden der Ausdruck der inneren Zerrissenheit des Subjektes in einem falschen Zustand der Welt ist, der als Unwesen erscheint. Es ist gleichwohl sehr schwierig, die Frage zu beantworten, wie die Vermittlung der Mimesis als körperlicher Impuls mit der rationalen und diskursiven Reflexion ermöglicht wird. Adorno bestimmte die Mimesis als jenen körperlichen Impuls, der durch die logischen Begründungsversuche in der traditionellen Moralphilosophie und der Erkenntnistheorie abstrahiert wird und darum nicht erreichbar ist. Seine praktisch philosophische Begründung macht eine Impulsethik aus, die den (mimetischen) Impuls als eine moralische sowie politische, also praktische Motivation bestimmt. Dessen ungeachtet will er den Mimesisbegriff mit dem reflexiven Denken versöhnen, aber eine konkrete Art und Weise dazu ist nicht klar aufgezeichnet. Um nun diese Lücke in Adornos Argumentation zu ergänzen, stelle ich die These auf, dass die Mimesis als ein Reflex mit Reflexion zu verstehen ist. »Reflex« bedeutet im Allgemeinen eine körperliche Reaktion auf eine äußerliche Anregung, ohne eine bewusste Reflexion. Dabei gibt es zwei Arten von Reflex, den bedingten und den unbedingten. Adornos Begriff der Mimesis als (menschliches) Vermögen und Impuls bezöge sich auf den unbedingten Reflex, wenn man ihn als naturalistisch und anthropologisch versteht. Dennoch ist die Mimesis bei Adorno meiner Ansicht nach in der Tat eher als ein bedingter Reflex zu verstehen, wenn er sie als ein Vermögen zum Mit-Leiden bezüglich der körperlichen Qual in einem falschen gesellschaftlichen Zustand zu bestimmen versucht. Dieser bedingte Reflex ist dabei als solcher buchstäblich bereits durch eine gesellschaftliche Vermittlung »bedingt« worden und ist in diesem Sinne keineswegs ohne bewusste Reflexion, sondern hängt mit dieser zusammen, denn ein Vermögen zum Mit-Leiden der Mitglieder einer Gesellschaft gegen ihren repressiven Zustand setzt reflexives Bewusstsein darüber voraus, ob ihre Gesellschaft unwahr und in diesem Sinne negativ sei. In diesem Zusammenhang reformuliere ich den Begriff des mimetischen Impulses: Er ist kein unbedingter, sondern ein bedingter Reflex und setzt eine bewusste Reflexion mit dem rationalen und diskursiven Medium über den falschen Zustand voraus; die Mimesis ist ein Reflex mit Reflexion.

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Dieses »Zusammenspiel von körperlich-impulshaften und rationalen Momenten«, wie Schweppenhäuser behauptet, »[macht] erst den Willen spezifisch aus[...]«49 , und damit erhält die Mimesis meiner Auffassung nach ihre handlungstheoretische Begründungsfähigkeit. Der mimetische Impuls als der moralisch inspirierte Einspruch gegen Unrecht und Leiden lässt sich zwar in den Fundus der Praxis aufnehmen, doch gleichzeitig ist die reflexive und rationale Einsicht, die »durchschaut, warum es gleichwohl unabsehbar weitergeht« (ND, 282), ebenfalls als eine wesentliche Instanz aufzufassen. Damit der mimetische Impuls auch seine handlungstheoretische Begründungsmöglichkeit erhält, damit nämlich die durch den Impuls motivierte Praxis über eine nur die gegenwärtige Struktur reproduzierende hinaus zu einer zur Freiheit sich treibenden wird, muss die bewusste Reflexion vorausgesetzt werden. Der theoretische Ansatz der Mündigkeit aller Individuen als Subjekte lässt sich eben darum mit der Mimesistheorie verbinden und damit als politisch philosophischer Begründungspunkt anwenden. Das tief besonnene Bewusstsein, das auf der Diskrepanz zwischen der offiziell erzogenen Normativität einer Gesellschaft und ihrer Realität beruht und immanent-kritisch diesen Widerspruch anficht, ist die Voraussetzung dafür, dass der mimetische Impuls seine Handlungsfähigkeit und damit Begründungsmöglichkeit erhält, um die falsche Einrichtung der Welt zu erkennen und zu verändern. Erst das durch dieses Bewusstsein herausgebildete, das Vermögen »Nein« zu sagen besitzende Subjekt kann das Vermögen von Mimesis als Mit-Leiden haben und entwickeln. Christoph Menke hat das Verhältnis zwischen dem nein-sagenden Subjekt und seinem Solidaritätsgefühl als Mimesis wie folgt dargestellt: »Durch seinen leibhaften Charakter ist das Solidaritätsgefühl mimetisch verfasst. [...] Solidarität ist bei Adorno ein Ja-sagender Bezug zum anderen – aber ein leibhaft-affektives JaSagen zum leibhaft-affektiven Nein-sagen des anderen zu seinem Leiden und seinen Qualen. Solidarität ist daher Mitleiden im wörtlichen Sinn: mein Nachvollziehen des Leidens des anderen.«50

Dieses Solidaritätsgefühl ist eben die Quelle des ethischen Universalismus und damit der Möglichkeit, die ethische Problematik in die politische zu verwandeln.

49 Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik nach Adorno, S. 86. 50 Menke, Christoph: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M, 2004, S. 106.

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4.3.3 Mimesis und negativer ethischer Universalismus: Der neue kategorische Imperativ Der Mimesisbegriff Adornos eröffnet in unserer Betrachtung der negativ dialektisch konstruierten Politik der Negativität eine grundlegend eigenständige politisch philosophische Hinsicht, nämlich, was Thomas Rentsch »einen negativen ethischen Universalismus«51 genannt hat. Er geht dabei von der theoretischen Annahme aus, dass die Negativität begrifflich ein wesentliches und wichtiges Element für den ethischen und damit politischen Aspekt des Universalismus sei. »Die negativen Aspekte, die unserer verständigungsorientierten Kommunikation anhaften, sind nicht zufällige Störungen unserer Redepraxis, sondern sie selbst enthalten das kritische Potential«, solange sie es ermöglichen, den monologen Dogmatismus und Solipsismus zu durchbrechen, der unsere »interexistentiellen« Kommunikationen absperrt.52 Der Begriff der Negativität macht in diesem Sinne »die praktischen Möglichkeitsbedingungen der interexistentiellen Transparenz, Autonomie und Solidarität« 53 aus und ist, anders ausgedrückt, als »negative Konstitutionsbedingungen menschlichen Handels«54 aufzufassen. In einer ähnlichen Hinsicht zeigt Schweppenhäuser auch das Ziel seiner moralphilosophischen Adorno-Interpretation, dem zufolge seine Aufgabe nämlich darin besteht, »Adornos negative Moralphilosophie auch als eine Theorie des negativen Universalismus in der Moralphilosophie zu interpretieren«. 55 Der von Ador-no in seiner Negativen Dialektik gestellte, neue kategorische Imperativ nach Auschwitz zeigt ein Beispiel dieses negativen Universalismus. Diesen hat er wie folgt formuliert: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen.« (ND, 358)

51 Rentsch, Thomas: Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt/M, 2000, S. 15. 52 A.a.O., S. 93. 53 A.a.O., S. 92. 54 A.a.O., S. 94. 55 Schweppenhäuser, Gerhard: Kritische Moralphilosophie als negativer Universalismus. Zum Problem der Normativität bei Adorno, in: der. (Hg.): Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt, 1995, S. 246.

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Bei diesem neuen kategorischen Imperativ zeigt sich eine Verbindung des Universalismus und Partikularismus in der praktischen Hinsicht: der Universalismus in dem Sinne, dass dieser Imperativ »kategorisch«, gleichgültig, welche Situation vorherrscht, von jedem allgemein gültig angewendet wird, der Partikularismus in dem Sinne, dass er aus einem bestimmten historischen Kontext und dessen Erfahrung resultiert. Dies bedeutet, dass der Universalismus in praktischer Hinsicht nur von einer bestimmten historischen negativen Situation aus begründet werden kann. Das Vormodell dieser gesellschaftkritisch anvisierten Anwendung des kategorischen Imperativs zeigt Marx an einer berühmten Stelle wie folgt: »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« (MEW 1, 385) Dieser kategorische Imperativ bei Marx ist, wie auch bei Adorno, ein »negativer« Imperativ, dessen kategorischer, universalistischer Charakter aus dem negativen, »erniedrigten, geknechteten, verlassenen und verächtlichen« Zustand des Menschen stammt, der eigentlich »das höchste Wesen für den Menschen« ist. Hier wird er nicht rein logisch, diskursiv begründet, sondern erscheint als ein durch den ethischen Impuls gegen den unmenschlichen, erniedrigten Zustand des Menschen auferlegter Imperativ zur Praxis. Marx begründet ferner in derselben Schrift das Pathos der Kritik als die negative Emotion zur Gesellschaft, was sich darum wiederum von der reinen diskursiven Legitimation gründlich unterscheidet: »Ihr wesentliches Pathos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation.« (MEW 1, 380) Dieser Charakterzug der Begründung des (gesellschaftskritischen) Imperativs gilt nun auch bei Adorno. Adorno nimmt also, ebenso wie Marx, den Begriff des kategorischen Imperativs bei Kant auf, dennoch wird er hierbei nicht, wie bei Kant, als das rationale Sittengesetz, sondern als Impuls begründet. Der kategorische Imperativ kann existieren oder muss um der praktischen Hinsicht willen, nämlich als regulative Idee, angenommen werden, so wie der praktische Impuls als »die motorische Reaktionsform« (ND, 229) der Anbieter dieser regulativen Idee ist. In diesem Betreff ist aber die Begründung dieses Imperativs als solche tatsächlich, wie in oben zitierten Sätzen, »widerspenstig«. Es scheint auch, dass Adorno die Begründung seiner Impulsethik absichtlich ablehnt, wofür tatsächlich einige Gründe sprechen. Hauptsächlich ist zu berücksichtigen, dass er die rein rationalistische Behandlung der praktischen Normativität kritisieren und damit überwinden wollte. Der Grund, dass es ein »Frevel« wird, den Begründungsversuch des Imperativs »diskursiv zu behandeln«, besteht darin, dass der sittliche kategorische

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Imperativ dabei mit keinem Bezug auf die konkrete Situation lediglich auf das diskursive Verfahren reduziert wird. Adorno unterscheidet sich in diesem Sinne von der Diskursethik als der Hauptströmung der Frankfurter Schule nach ihm, die alle Fragestellungen der Normativität durch die Frage nach dem Grund der diskursiven Legitimation ersetzt. Für Adorno hingegen bildet der Impuls zum Ausdruck der unsagbaren Erfahrung des Leidens vor dem diskursiven Legitimationsverfahren den Grund der praktischen normativen Fragestellungen. Seine Kritik an der abstrakten Moralphilosophie anhand der Position der Impulsethik, dass das »reine Ich denke [...] keines Impulses fähig« (ND, 213) sei, weist virtuell ebenfalls auf die Kritik an der Diskursethik hin, indem aus seiner Sicht nicht das Formalprinzip des diskursiven Verfahrens, sondern »der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz« die Triebkraft der Moral werden soll: »Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral.« (ND, 358) Nun wird die Zurückführung der normativen Fragen sowohl auf das subjektive Formgesetz, als auch auf das diskursive Verfahren durch das Motiv des körperlichen Impulses absichtlich abgelehnt. Weil das Leiden, wie wir bereits oben sahen, die negative Form der geistigen Erfahrung, die auf einem bestimmten gesellschaftlichen Zustand beruht, ist, behält der Impuls zum Ausdruck des Leidens den normativen Wert, indem er die Gelegenheit für die Reflexion über die Ursache des Leidens verleiht. Adornos theoretische Anstrengung des ethischen Impulses und des neuen kategorischen Imperativs zeigt das, was Espen Hammer »eine Ethik des Widerstands (an ethics of Resistance)« nannte: »At the core of his vision of politics lies what I have called an ethics of resistance – a readiness to think and act such that the space of the political is liberated from the grasp of identity.«56 Die Perspektive des ethischen Universalismus veranlasst nun zur theoretischen Frage nach der Beziehung zwischen der Ethik (bzw. Moral) und der Politik. Stellen beide eigentlich verschiedene Ebenen dar? Oder ist die eine auf die andere reduzierbar? Insofern die Praxis nicht allein die Anpassungsfähigkeit oder Geschicklichkeit, nämlich mehr als die Herstellung der Nützlichkeit für die gesellschaftliche Reproduktion bedeutet, ist die Moral der Ausgangspunkt für die richtige Praxis. Die kritische Theorie der Moral stellt aber nicht eine abstrakte Norm im Voraus auf. Eine Gemeinschaft, die, um es mit dem hegelschen Ausdruck anzuführen, in einer Form des objektiven Geistes existiert, setzt schon einige bestimmte moralische Normen voraus, die die notwendige Bedingung für jene Gemeinschaft sind.

56 Hammer, Espen: Adorno & the Political, New York, 2006, S. 179.

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Die kritische Theorie der Moral fragt deswegen nicht, was für eine Norm für die Gemeinschaft nötig sei, sondern, ob die vorgegebenen Normen ihre eigene Legitimität (Möglichkeit des richtigen Lebens) erfüllen. Über die Normen und das absolut Gute eine positive Definition zu geben, ist darum leer, weil dieser Versuch unvermeidlich auf der Abstraktion von der konkreten Realität, die die Verwirklichung der Normen verhindern bzw. ermöglichen kann, basieren muss. Deshalb fragt die kritische Theorie der Moral nicht, was die Normen oder das Gute seien, sondern erhebt Anklage gegen den Selbstwiderspruch der gegebenen Normen. Gefragt wird also nicht danach, was sein soll, sondern, was ist, aber nicht sein soll: »Wir mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau.« (PM, 261) Der konkrete Ausgangspunkt der Moral ist nicht der Inbegriff der positiven Sätze darüber, was das Sollen ist, sondern ist vielmehr »der ganz entschlossene und der ganz kompromißlose Widerstand gegen alle Manifestationen« des objektiven Geistes, in dem wir leben (PM, 253). Wie Judith Butler erkannt, wird die Moral bzw. die Ethik bei Adorno »nur in Begriffen eines kritischen Prozesses«57 gedacht. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« (MM, 43) Wenn der objektive Geist als die zweite Natur, woran wir uns unausweichlich beteiligen, im falschen Zustand verbleibt, verliert das richtige Leben seine Möglichkeit. »Der Funktionszusammenhang der Gesellschaft und das Prinzip der Moralphilosophie hängen zusammen. Der absolut für sich seiende einzelne ist Funktion. Um existieren zu können, sind die Menschen zusammengeschlossen durch den Prozeß der Vergesellschaftung. Freiheit ist nicht isoliert fürs Individuum, sondern mit Rücksicht auf das gesellschaftliche Ganze, in dem die Menschen leben, gegeben.« (PM, 182)

In der verwalteten Welt ist daher keine Möglichkeit des richtigen Lebens zu sehen, und »deshalb ist die Vorausetzung der Ethik die Kritik an der verwalteten Welt« (PM, 261). Auf die Frage nach dem Ethischen oder dem Moralischen kann nur im Bereich des Politischen, der kritischen Praxis geantwortet werden, weil die Frage der Moral nach den individuellen Handlungen in die abstrakte Aporie verfällt, wenn die Frage nach dem allgemeinen Netzwerk der Individuen, in dem ihre Handlungen stattfinden, nicht vorausgesetzt wird. Die Frage nach den individuellen moralischen Handlungen hat ihrerseits bereits allgemeinen Charakter.

57 Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt/M, 2003, S. 146.

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»Kurz, also was Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt – man könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute um Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre. « (PM, 262)

Die ethische Frage, die Frage nach der Moral wird nur durch die politische Methode gelöst. Die Politik ist die einzige, reale Macht, die die Moralität (das richtige Leben) durchzusetzen vermag – in der Form der Gegen-Macht, der GegenHegemonie zur falschen Einrichtung der Welt, des Widerstandes.

4.3.4 Mimesis und Widerstand Wir haben oben gesehen, dass der Mimesisbegriff bei Adorno mit Kant als die Befreiung des Subjektes aus der Heteronomie der Isoliertheit des solipsistischen Subjektes aufgefasst werden kann. In der Annahme, dass die Isoliertheit des Individuums erzwungen ist, hat Adorno in der »Paralipomena« in der Ästhetischen Theorie in Bezug auf die ästhetische Erfahrung einen solchen Vorgang dargestellt, nämlich wie das solipsistische Subjekt (solus ipse), seine Isoliertheit überwindend, der Spur des in Kunstwerken verkörperten allgemeinen Subjektes nachgeht. »Ästhetisch wird der solus ipse der Welt inne, welche die seine ist und die ihn zum solus ipse isoliert: im gleichen Augenblick, da er die Konventionen der Welt abwirft.« (ÄT, 434) Dabei geht es vor allem um einen Tatbestand – das Moment, in dem das solipsistische Subjekt zur Erkenntnis gelangt, dass die Welt es solipsistisch isoliert hat, stimmt mit dem Moment überein, in dem das Subjekt sich gemäß dem der Gewohnheit abweichenden Verhalten der Kunstwerke die Konventionen der Welt abzulehnen vornimmt. Abgesehen von dem ästhetischen Gehalt dieser Stelle ziehe ich aus dieser Diskussionsstruktur eine praktisch-philosophische Konklusion: Die Herausbildung des aus der Isoliertheit entkommenden Subjektes und die des der Konventionen der Welt widerstehenden fällt zusammen. Diese Darstellung Adornos gibt uns auch einen Hinweis auf die Theorie der (politischen) Mimesis: Das Zum-Durchbruch-Kommen der Solidarität durch das Mit-Leiden und damit der Assoziation der Subjekte fällt mit dem des Widerstandes gegen die gemeinsame Ursache für das Leiden zusammen. Nun versuche ich, Adornos Mimesisbegriff mit der Kategorie des Widerstandes zu verbinden. Dafür ist aber zuerst ein dialektischer Zusammenhang zwischen Leiden und Selbstbewusstsein zu betrachten. In seiner unter dem großen Einfluss von Feuerbach geübten Kritik an Hegel in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844 hat der

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junge Marx die konkrete und sinnliche Tätigkeit des Menschenwesens unter der Prämisse des naturalistischen Humanismus und des Anthropologismus der abstrakten und spekulativen Bewegung des Begriffs in Hegels Logik gegenüberstellt. Im ersten Kapitel haben wir die Schwäche dieser theoretischen Voraussetzungen beim jungen Marx gesehen. Ungeachtet dessen, dass Marx theoriegeschichtlich mit dieser Perspektive des naturalistischen und anthropologischen Materialismus seit den Thesen über Feuerbach von 1845 abrechnete, dass er danach wiederum auf die »abstrakte und spekulative« Logik Hegels angewiesen war, um sich mit der Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie zu beschäftigen, und dass Adorno die dialektische Kritik in späteren Werken von Marx gegenüber dem positiven anthropologischen Materialismus in seinen Frühschriften verteidigt hat, der den ganzen, vollständigen Menschen als Gattungswesen assumiert, ist aber in folgender Aussage von Marx eine wichtige philosophische Konnotation enthalten. »Der Mensch als ein gegenständliches sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und weil sein Leiden empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft d[es] Menschen.« (MEGA I.2, 409)

In dieser Stelle ist impliziert, dass der Mensch aufgrund dessen ein leidenschaftliches Wesen ist, dass er ein leidendes Wesen ist. Die energisch strebende Wesenskraft, den Gegenstand zu verändern, impliziert dann, dass diese leidenschaftliche, energische Kraft des Menschen gegen den Ursprung seines Leidens eigentlich die Bedingung des Menschenwesens selbst ist. Marx hat diese Tätigkeit des Menschen als des konkreten und sinnlichen Wesens der hegelschen Spekulation entgegengestellt. Wenn wir aber von der sensualistischen und naturalitischen Voraussetzung Feuerbachs abweichen, die das Leiden des Menschen allein auf den sinnlichen Reiz reduziert, so können wir feststellen, dass mit Marx auch Hegel die Einsicht darin hatte, dass das Leiden – nicht nur im Sinne der körperlichen Empfindung, sondern einschließlich der Erfahrung der inneren Zerrissenheit, die in bestimmten menschlichen Verhältnissen in der Form von Angst und Unruhe erfahrbar wird – wesentlich für die Herausbildung des Selbstbewusstseins des Menschen ist. Dies lässt sich nun in Analogie zur hegelschen Darstellung der Entwicklung des Selbstbewusstseins präziser verstehen. In der Phänomenologie des Geistes zeigt Hegel die dialektische Bewegung des Selbstbewusstseins in der Dialektik von Herr und Knecht. Wie weithin bekannt ist, erreicht der Knecht in seinem asymmetrischen Anerkennungsverhältnis zum Herrn letzten Endes sein eigenes,

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selbstständiges Selbstbewusstsein durch seine Arbeitstätigkeit und Bearbeitung der Naturstoffe. Weniger bekannt in dieser Dialektik ist aber, dass die »Furcht des Todes, des absoluten Herrn« (PG, 153), das Erzittern und die Unruhe die Anlässe zum Umsturz des Herr-Knecht-Verhältnisses waren. Dies bedeutet dann, dass das Selbstbewusstsein des Menschen nur durch die Unruhe und Furcht hindurch gebildet werden kann, die sein Dasein überhaupt umfasst und durchdringt. Diese Diskurse geben uns einen Leitfaden, um den mimetischen Impuls bei Adorno zu verstehen. Für ihn ist das, was den durch den bestehenden Zustand ohnmächtig ergriffenen Einzelnen zum Erwachen bringt, die Reflexion des Subjektes selbst über sein eigenes Leiden und der mimetische Impuls, der ihm die Solidarität mit den das Leiden klagenden Anderen befehlt. Das Leiden wird demzufolge zum notwendigen Moment dafür, dass nicht nur das einzelne Subjekt, sondern auch die gemeinsame Subjektivität das selbstständige Bewusstsein gewinnt und des Bedarfs nach der verändernden Praxis inne wird. Der impulsethische Standpunkt über die praktischen Normen bezieht über die Abstraktheit der formalistischen, normativistischen Moralphilosophie hinaus, die den physischen sowie geistigen Erfahrungsgehalt des Leidens in ihrer Betrachtung abstrahiert, den konkreten Inhalt der Realität mit ein. Wegen der Abstraktheit verliert die formalistische, normativistische Moralphilosophie eher ihre Begründungsfähigkeit bezüglich der Praxis. »Aber Praxis bedarf auch eines Anderen, in Bewußtsein nicht sich Erschöpfenden, Leibhaften, vermittelt zur Vernunft und qualitativ von ihr verschieden.« (ND, 228) Insbesondere ist der Impuls als die Triebkraft zur Praxis nun in die theoretische Betrachtung der ethischen, politischen Praxis mit einzuschließen. »Alles Geistige ist modifiziert leibhafter Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist. Drang ist, nach Schellings Einsicht, die Vorform von Geist.« (ND, 202) Während bei Schelling der Drang als die Vorform von Geist den Geist selbst forttreibt, wird der Impuls bei Adorno dranghaft zum qualitativen Umschlag zur Veränderung des bestehenden Zustandes der Welt. Der Impuls erhält nur in dieser praktischen Hinsicht seine Legitimationsfähigkeit. Nicht die Reduktion auf das subjektive Formgesetz, sondern die »Anamnesis an den ungebändigten, vorichlichem Impuls« (ND, 221) ist die Voraussetzung der Freiheit, insofern versteht Adorno die »Freiheit als polemisches Gegenbild zum Leiden unterm gesellschaftlichen Zwang« (ND, 222). »Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ›Weh spricht: vergeh.‹ Darum konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis.« (ND, 203)

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Die Mimesis als Impuls zum Mit-Leiden ist nun bei Adorno die Begründungsgrundlage der politischen Praxis. Damit kann man sagen, dass er eine praktische Philosophie aus dem impulshaften, körperlichen Moment her begründet hat. Dies bedeutet aber nicht, dass Adorno eine irrationale, intuitionistische praktische Philosophie, die sich diskursive Debatten an sich versagt, etablieren wollte. Wie wir oben sahen, bezieht sich die Erfahrung bei Adorno auf die körperlich ausgedrückte, auf dem gesellschaftlichen Zustand beruhende geistige Erfahrung. In dieser Fassung des Impulsbegriffs lässt sich so der moralische Impuls als Ansatzpunkt der Praxis mit dem reflexiven Denkvermögen verbinden. Aus diesem Grund hat Adorno darauf insistiert, »daß beide Momente, also das Vernunftmoment und das Impulsmoment, wenn so etwas wie Freiheit überhaupt erscheinen soll, aufeinander verwiesen sind« (LGF, 331). Was Adorno an der oben zitierten Stelle als »Frevel« denunzierte, betrifft die Reduktion der praktischen Frage auf das formalistische Verfahren der Begründung und damit deren Abstraktheit, aber nicht auf das reflexive Denken selbst. Ein Pathos des impulshaften Mitgefühls darüber, dass jemand einer Tortur unterworfen ist, setzt die reflexive Besinnungsfähigkeit darüber voraus, dass die Tortur widersinnig ist. »Wahre Praxis, der Inbegriff von Handlungen, welche der Idee von Freiheit genügten, bedarf zwar des vollen theoretischen Bewußtseins.« (ND, 228) Wenn der vor dem Unrecht auftretende Impuls durch die subjektive Reflexion hindurch dem Subjekt innerlich vorkommt, so wird er zum Gewissen. Es ist zwar noch keine vollständige Form des reflexiven Bewusstseins, doch bereits in der Gestalt des Gewissens werden der Impuls und die Reflexion mit einander verbunden. »Das Gewissen ist das Schandmal der unfreien Gesellschaft« (ND, 272), insofern darin nicht nur der Schmitz des gesellschaftlichen Leidens geprägt worden ist, sondern auch aufgrund des Gewissens das reflektierte Bewusstsein des Einzelnen vor dem gesellschaftlich strukturierten Unrecht und der Unfreiheit erweckt wird. »Das Gewissen wird«, wie Schweppenhäuser zeigt, »so zur Instanz subjektiven Widerstands gegen gesellschaftlich erzwungene Unfreiheit und damit Träger eines Freiheitspotentials.«58 Das Gewissen behält als Träger des Widerstandes seine Bedeutung. In diesem Moment des Widerstandes wird das durch den Impuls getriebene Bewusstsein des Gewissens über die subjektive Besinnung im Inneren hinaus im objektiven Bereich ausgedrückt. Nun werden beide Momente, also das Vernunftmoment und das Impulsmoment auf der realen Ebene in Verbindung gebracht. In seiner Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie hat Adorno als Beispiel einer Widerstandsaktion das Attentat vom 20. Juli vorgestellt. Er lernte

58 Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik nach Adorno, S. 99.

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einmal einen Offizier kennen, der sich maßgebend in diesem Widerstand engagiert hatte, kurz nachdem er aus dem Exil in Amerika nach Deutschland zurückgekehrt war. Er fragte diesen Offizier, wie er sich an dieser Aktion beteiligen konnte, obwohl er wusste, dass die Möglichkeit des Gelingens ziemlich gering war und das Resultat dann noch schrecklicher als Tod sein könnte. Nach Adorno war seine Antwort wie folgt: »Es gibt aber Situationen, die so unerträglich sind, daß man sie einfach nicht weiter mitmachen kann, ganz gleich, was dann geschieht, und auch ganz gleich, was bei dem Versuch, es anders zu machen, dann aus einem selber wird.« (PM. 19)

Es stellt eine Art der Irrationalität dar, wenn man sich dazu entschließt, sich unabhängig vom Resultat unter Einsatz seines Lebens an einer Widerstandsaktion zu beteiligen. Das Motiv dieser Aktion ist daher als »das irrationale Moment des moralischen Handelns« (ebd.) zu verstehen; »irrational«, eben weil es impulshaft konstruiert worden ist. Aber der Grund, dass sich diese Irrationalität als Resistenz ausdrücken konnte, liegt darin, dass die reflexive Einsicht darin vorausgesetzt war, dass die Propaganda des Faschismus falsch und darum seine Herrschaft nicht richtig war. Adorno hebt in diesem Zusammenhang hervor, »daß diese Irrationalität deshalb nur ein Moment ist, weil dieser Offizier ja zugleich auch theoretisch sehr genau wußte, wie schlecht, wie grauenhaft dieses Dritte Reich ist und auf Grund der kritischen und theoretischen Einsicht in die Lüge und das Verbrechen, mit denen er es zu tun hatte, dann dazu gebracht worden ist zu handeln.« (PM, 19 f.)

Gehen wir nun auf Adornos Begriff des Widerstandes detaillierter ein. Der Widerstand ist bei Adorno auf der einen Seite als eine Verhaltensweise zu verstehen, die realen Verhältnisse zu verändern, auf der anderen Seite wird diese Veränderung durch die negative Verhaltensweise der Nicht-Teilnahme an der falschen Praxis betrieben, die die bisherige Ordnung der Realität allein wiederholt und reproduziert. Dieses »Modell des Nicht-Mitmachens« 59 hat Adorno derart formuliert: »Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen«60. Dieses »Moment des Nicht-Mitmachens bei dem herrschenden Unwesen« (PM, 18) findet aus meiner Sicht sein geschichtliches Modell in zivilem Ungehorsam.

59 A.a.O., S. 60. 60 Erziehung nach Auschwitz, GS 10.2, S. 679.

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Ziviler Ungehorsam ist eine Art der politischen Beteiligung, durch die versucht wird, gegen die gesellschaftlich oder staatlich auferlegten Gesetze, Gewohnheiten, Pflichten und Befehle bewusst und symbolisch zu verstoßen, nämlich die Teilnahme an einer falschen Praxis abzulehnen. Er ist in diesem Sinne die Beteiligung durch die Nicht-Teilnahme, eine paradoxe Art der politischen Aktion (positiv durch negativ). Zwar ist er eine aufgrund des Gewissens ausgeübte, individuelle Handlung, weil er auf der individuellen Dezision basiert, der Aufruf zu zivilem Ungehorsam bleibt aber nicht nur als das Kennzeichen für das isolierte individuelle Gewissen, sondern eröffnet die Möglichkeit der Veränderung der Sache selbst. Dass nun ein Individuum in seiner Alltagssphäre, und zwar in breitem Spektrum zivilen Ungehorsam entwickelt, bedeutet dann, dass es schon im seinem Alltag bereit ist, die Reproduktion der falschen gesellschaftlichen Praxis abzulehnen. Ziviler Ungehorsam ist ein Ausdruck dieser Bereitschaft und bleibt daher aus diesem Grund nicht eine isolierte, statistische Handlung, sondern seine Verallgemeinerung führt zur Dynamik der makroskopischen Veränderungen. Er ist in diesem Sinne ein Medium dafür, dass sich das individuelle Gewissen zu gemeinsamen Aktionen entwickeln kann. Die negative Deklaration der Ablehnung enthält in dieser Weise ein Potential der politischen Veränderung – die Bereitschaft der Individuen muss vorausgesetzt werden, damit die souveräne Assoziation dafür, die verselbstständigte Macht des Sozialen zu überwältigen, in der Form der Gegenhegemonie auftaucht. Das Modell des Widerstandes als Nicht-Mitmachen scheint also zwar eine passive Haltung zu sein, stellt aber zugleich eine (aktive) Wirkung für die Unterbrechung der Reproduktion der repressiven Verhältnisse und der endlosen Wiederholung der falschen Praxis her. Aus diesem Moment der Unterbrechung tritt der stillstehende Augenblick zur Reflexion auf, den Walter Benjamin »Dialektik im Stillstand« nannte. Nur durch den Widerstand, nur in der Verhaltensweise gegen die herrschaftlichen Verhältnisse generiert der praktische Impuls den Augenblick der reflexiven Besinnung, die ihn selbst begründen kann. »Widerstand ist ja zunächst eine Kategorie des Impulses, eine Kategorie der unmittelbaren Verhaltensweise« (VND, 149), aber der den »Widerstand gegen das Geblök« (VND, 157) treibende praktische Impuls vor dem Unrecht der Welt löst als solcher den Augenblick des reflexiven Denkens aus. Adornos Hervorhebung der mimetischen Verhaltensweise und der damit verbundenen Impulsethik muss man in Verbindung mit seinem anderen emphatischen Punkt – die Wichtigkeit der theoretischen Reflexion und Kontemplation – denken: »Ohne kontemplatives Moment artet die Praxis in begriffslosen Betrieb aus; Meditation als gehegte Sondersphäre jedoch, von möglicher Praxis abgeschnitten, führe schwer-

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lich besser«61; »Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert.«62 Die Müdigkeit eines Subjektes und damit die Fähigkeit des autonomen Denkens ist die Voraussetzung für den praktischen Impuls, aber dieser kann nur nachträglich in dem Augenblick des Widerstandes, wo die endlose, immergleiche Wiederholung der Realität durch die falsche Praxis unterbrochen wird, begründet werden. Diese paradoxe Konstruktion des praktischen Impulses und seiner reflexiven Begründung zeigt meines Erachtens aber keine Aporie, sondern die dynamische Struktur in der begrifflichen Konstruktion der politischen Praxis.

4.3.5 Mimesis als Methexis Der Begriff von Methexis (μέθεξις), der in der deutschen Sprache meistens mit »Teilhabe« übersetzt wird, stammt aus der Zusammensetzung von meta (mit) und hexis (haben). Platon benutzt ihn in seiner Erklärung des Verhältnisses zwischen der Idee und den sinnlichen Einzeldingen gleichbedeutend mit Mimesis. So stellt er z. B. in Phaidon dar, dass die Idee des Schönen die Grundlage des einzelnen Schönen ist, und umgekehrt das einzelne Schöne durch seine Teilhabe (Methexis) an der Idee des Schönen selbst schön wird. »Mir scheint nämlich, wenn irgend etwas anderes schön ist außer jenem Selbstschönen, es wegen gar nichts anderem schön sei, als weil es teil habe an jenem Schönen, und ebenso sage ich von allem.«63

In dieser Darstellung der Mimesis als Methexis behält die Mimesis einen anderen ontologischen Rang als in Politeia, wo sie sich in der Debatte um die Verbannung der Dichter als die erniedrigte Methode der Erkenntnis bezeichnet: Mimesis erzeugt immer etwas Niedrigeres als das Original. Aber im oben zitierten Satz gewinnt sie als die Teilhabe an der Idee ihre legitime Stelle im Verhältnis zur Idee: Mimesis als Methexis ist der Zugang der partikularen zur allgemeinen Wahrheit. Die Einzelheit der einzelnen Dinge und ihre einzelnen Eigenschaften erhalten die Dinge, indem sie an der allgemeinen Idee teilhat. Ein schönes Ding ist als ihre Einzelheit schön; es ist schön aber nicht ursprünglich aufgrund seiner

61 Anmerkungen zum philosophischen Denken, GS 10.2, 603 62 Resignation, GS 10.2, S. 798 63 Platon: Phaidon, Werke in acht Bänden Bd. 3, Deutsche Übersetzung von F. Schleiermacher, Darmstadt, 1990, S. 147.

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eigenen Eigenschaft, sondern durch seine Teilhabe an der Idee des Schönen. Die Einzelheit wird lediglich durch die Teilhabe an der Allgemeinheit vollständig bewahrt. Wenn die Einzelheit aber bloß als Einzelheit bleibt, dann verliert sie ihre einzelne Eigenschaft. Um der Einzelheit willen ist darum die Teilhabe an der Allgemeinheit erforderlich. Platon wurde von Walter Benjamin in dieser Weise gelesen. Was nun Benjamin in seiner Frühschrift die Konstellation der Ideen nannte, nämlich, die Welt der Ideen, in der die einzelnen Erscheinungen aufgeteilt und zugleich durch die Teilhabe an der gänzlichen Gestalt erlöst werden, verdankt sich meines Erachtens dem Begriff der Methexis bei Platon, was Benjamin die »platonische ›Rettung‹« des Einzelnen in der Idee nennt. »Nicht um Einheit aus ihnen konstruieren, geschweige ein Gemeinsames aus ihnen abzuziehen, nimmt die Idee die Reihe historischer Ausprägungen auf. Zwischen dem Verhält nis des Einzelnen zur Idee und zum Begriff findet keine Analogie statt: hier fällt es unter den Begriff und bleibt was es war – Einzelheit; dort steht es in der Idee und wird was es nicht war – Totalität. Das ist seine platonische ›Rettung‹.«64

In dieser Darstellung hat Benjamin nicht, wie später Adorno, die Totalität von der Konstellation unterschieden, sie bedeutet hier von daher die ganze Konstellation der Ideenwelt. 65 Die Ideenwelt als das Ganze der einzelnen Teilchen ist die nicht repressive und nicht hierarchische Konstellation. Durch Adorno wird nun die Bedeutung der Konstellation politisiert, indem sie bei ihm eine neue Form der Subjektivität schafft. Die Konstellation, die die Einzelheit des nichtidentischen Subjektes ausmacht, bildet eine Allgemeinheit in dem Sinne, dass die Eigentlichkeit des einzelnen Subjektes nur in der Konstellation realisierbar ist. Die Aufgabe der Politik besteht nun darin, den Ort zu schaffen, wo diese Eigentlichkeit entfaltet wird, indem das alternative allgemeine Verhältnis verwirklicht wird. »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen.« (MM, 116) Die Verwirklichung des Allgemeinen in der

64 Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Walter Benjamin Gesammelte Schriften Bd. I.1, Frankfurt/M, 1974, S. 227. 65 Das Modell der Rettung des Einzelnen, das durch die Teilnahme an dem Ganzen als Idee die Gestalt der Allgemeinheit über die Einzelheit und damit die Majestät in Besitz nimmt, ohne dass dabei seine Singularität verloren wird, findet Benjamin im Mosaik (und in seinem späteren Denken des dialektischen Materialismus in der MontageTechnik). Vgl. a.a.O., S. 208.

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Bewahrung der Eigentlichkeit: Das Allgemeine hier bezieht sich auf die Idee der Methexis in dem Sinne, dass es eine durch die Teilhabe des Einzelnen zu erfüllende Allgemeinheit betrifft. Auf diese Weise schlage ich eine Lesart des Mimesisbegriffs von Adorno vor, ihn über seine Anwendung dessen hinaus in Bezug auf die politische Idee der Methexis zu erweitern. Er selber benutzt den Begriff von Methexis zwar in seiner Ästhetischen Theorie vielfältig66, rechnet ihm aber keine bestimmte politische Bedeutung zu. Es ist mein eigener Versuch, über Adornos Intention hinaus diesem Begriff politische Bedeutung zu verleihen; ich denke aber, dass dadurch die politisch-philosophischen Konsequenzen seiner Theorie überzeugend rekonstruiert werden. Wenn wir also die Mimesis im platonischen Sinne als Methexis, als die Teilhabe, und die Methexis dann im Sinne Benjamins als die Teilhabe an der Konstellation verstehen, tritt der Anknüpfungspunkt des Begriffs der Mimesis an das gesellschaftliche Gesamtsubjekt auf, woraus sich die Möglichkeit ergibt, dessen Idee noch konkreter zu verstehen. Methexis als Teilhabe bedeutet in diesem Bezug zweierlei: einerseits an der Allgemeinheit zu partizipieren, wobei es um die Inklusion in eine allgemeine Beziehung geht. Andererseits bedeutet es als Teil+Habe einen gemeinsamen Besitz des gesellschaftlichen materiellen Reichtums, und dies wird ermöglicht, wo jeder Einzelne in einer allgemeinen Konstellation sowohl die Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums partizipatorisch mitbestimmen, als auch seine Lebensform in Bezug darauf souverän selbstbestimmen kann. Den gesellschaftlichen Reichtum zu teilen ist in der Idee der Methexis enthalten, die jedes Subjekt in der mimetischen Konstellation bildet. Die Verwirklichung der Eigentlichkeit des Einzelnen ist ohne die gemeinsame Kontrolle des gesamtgesellschaftlichen Reichtums nicht möglich. Hieraus wird die Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes aufgestellt. In der Weise, dass die Mimesis als Methexis verstanden wird, lassen sich die Mimesis und die Solidarität als die Quelle der (Gegen-)Souveränität, nämlich als eine starke Hauptstütze der Herausbildung der gemeinsamen Subjektivität, begreifen. Adornos Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes kann meines Erachtens in diesem theoretischen Zusammenhang als Untermauerung des politischen Souveränitätsbegriffs durch die Vorstellung der gemeinsamen Subjektivität aufs Neue erkannt werden. Nun wird die Möglichkeit gefunden, das theoretische Projekt der politischen Solidarität und der souveränen Assoziation mit der Theoretisierung der gesell-

66 »Methexis an der Aufklärung« (ÄT, 134; 226), »Methexis an der Wahrheit« (ÄT, 166), »Methexis des Kunstwerks an Versöhnung« (ÄT, 180), »Methexis am Finsteren« (ÄT, 204).

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schaftlichen Emanzipation zu verbinden. Die Auslegung der Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes bei Adorno, die ich vorzuschlagen versuche, ist derart zu begreifen, dass, indem die souveräne Assoziation der Einzelnen die verselbstständigte Macht des Sozialen überwindet, die assoziierte gemeinsame Subjektivität das gesellschaftliche Gesamtsubjekt konstituiert und dadurch jene Verselbstständigung der Gesellschaft ersetzt. Wir werden diese Problematik im nächsten Abschnitt weiter betrachten.

4.4 G ESELLSCHAFTLICHES G ESAMTSUBJEKT : I MMANENTE S ELBSTTRANSZENDENZ DER SUBJEKTLOSEN T OTALITÄT Die spezifische Eigenschaft der Darstellung der emanzipatorischen Gesellschaft Adornos besteht darin, dass er ihre Gestaltung mit der realen Herstellung des Subjektes gleichsetzt: »[D]ie Emanzipation der Gesellschaft von der Vorherrschaft ihrer Produktionsverhältnisse hat zum Ziel die reale Herstellung des Subjektes, welche die Verhältnisse bislang verhindert haben« (ÄT, 178). Diese Darstellung grenzt sich allerdings von der Idee der harmonischen Gesellschaft ab, die von der positivistischen Denkweise assumiert wird, wobei die Rationalität des Subjektes allein auf die rationale Auswahl und Handlung zum individuellen Interesse zurückgeführt wird. In dieser Denkweise wird die Selbstsucht, die auf dem besonderen Interesse des Individuums beruht, mit der subjektiven Rationalität gleichsetzt, nur aufgrund dessen wird das harmonische Ganze vorgestellt. Demzufolge kann der vernünftige Zustand des richtigen gesellschaftlichen Ganzen lediglich aus den isolierten Bestrebungen der ihre partikularen Interessen verfolgenden Einzelnen entstehen. Es ist dennoch in der Tat nur ein Ornament des Gemeinwesens ohne das Gesamtsubjekt. »Geschichte hat bis heute kein wie immer konstruierbares Gesamtsubjekt«, vielmehr verhindert »der Funktionszusammenhang der realen Einzelsubjekte« (ND, 299) die Möglichkeit seiner Entstehung. »Kein gesellschaftliches Gesamtsubjekt existiert« 67 auch innerhalb der technologischen und organisatorischen Vereinheitlichung im Spätkapitalismus, wo anscheinend die Einzelnen im gesellschaftlichen Prozess einheitlich integriert worden sind. Die Totalität des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs in der kapitalistischen Produktionsweise, die

67 Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, GS 8, S. 369.

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durch das Tauschprinzip strukturiert worden ist, ist eine verselbstständigte, und ihre Gesamtheit macht daher kein reales, selbstständiges Gesamtsubjekt aus, sondern die verselbstständigte Produktionsweise selber konstituiert ihre eigene Gesamtheit, und damit das kapitalistische gesellschaftliche Gesamtsubjekt.

4.4.1 Ein verkehrtes gesellschaftliches Gesamtsubjekt Ich schlage hier eine Lesart des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes vor, der zufolge das Gesamtsubjekt bereits in der modernen bürgerlichen Gesellschaft, und zwar in einer verkehrten Gestalt vorhanden ist, so dass die Analyse dieses verkehrten gesellschaftlichen Gesamtsubjektes schon in der marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu finden ist. Marx hat in seinem Kapital dem verselbstständigten Prozess der Produktion und der Zirkulation der Waren den Namen »Selbstverwertung des Werts« gegeben und dies in anderen Worten »ein automatisches Subjekt« (MEW 23, 169) genannt. Damit läuft seine Analyse darauf hinaus, dass »der Wert hier das Subjekt eines Prozesses« (ebd.) wird, in dem er in seiner Selbstbewegung nicht verschwindet, sondern nur in verschiedenen Formen sich erhält, indem er ohne Unterbrechung in andere Formen übergeht. In der Erscheinungsform scheint diese Selbstverwertung eine vollständige Selbstbewegung des Wertes ohne eine andere Ursache zu sein. Aus diesem Grund besitzt der Wert als ein Subjekt seiner Selbstverwertung, als eine von sich aus bewegende Substanz »okkulte Qualität« (ebd.). Dass Marx die verselbstständigte Form des kapitalistischen Produktionsprozesses als Subjekt charakterisiert hat, findet sich auch in Grundrisse, wo er den von sich aus prozessierenden gesellschaftlichen Zusammenhang »ein gesellschaftliches Subject« (MEGA II.1.1, 23) nannte. Diese Selbstbewegung der kapitalistischen Produktion als Subjekt steht aber den realen Einzelsubjekten gegenüber, ist von ihnen verselbstständigt und beherrscht ihr Denken und ihre Handlungen. Als »Gesellschaftskräfte« vergegenständlicht sie sogar die »Wissenskraft« der Einzelsubjekte und konstruiert sie zum »general intellect« (MEGA II.1.2, 582), damit die Eigentümlichkeiten der Einzelnen und ihre eigenen intellektuellen Vermögen zu einer Art der Produktionskräfte des Gesamtkapitals konvertiert und ausgenutzt werden. Es gibt außerdem noch einen Ausdruck von Marx, die Bewegung des Gesamtkapitals zu erfassen. In seinem Brief an Engels am 30. 4. 1868 schrieb er, dass die Konsequenz der Konkurrenz zwischen verschiedenen Kapitalmassen in verschiedenen Produktionszweigen als »der kapitalistische Kommunismus« (MEW 32, 73) erscheint, d. h., dass durch die Bil-

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dung der allgemeinen Profitrate die Zusammensetzung des Gesamtkapitals den Gesamtmehrwert ausmacht, worin den Einzelkapitalen die Anteile dessen (quasikommunistisch) verteilt werden. Einzelkapitale können trotz ihrer vehementen Konkurrenz harmonisch den Gesamtmehrwert verteilen, indem sie das Gesamtkapitel bilden. Der kapitalistische Kommunismus ist in dieser Hinsicht ein anderer Name des kapitalistisch strukturierten gesellschaftlichen Gesamtsubjektes. Diese Erörterungen von Marx deuten ohne Zweifel auf die zum »Gesamtsubjekt« organisierte Struktur der bürgerlichen Gesellschaft hin. Auf diese Weise stellte Marx die Entstehungsbewegung des Gesamtkapitals als Selbstbewegung des verkehrten Gesamtsubjektes dar, das, gegenüber den realen Einzelsubjekten verselbstständigt, diese beherrscht. »›Subjekt‹ des Gesellschaftsprozesses ist«, wie Jepsen zutreffend ausdrückte, »umgekehrt das zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Selbstzweck entwickelte Kapitalverhältnis bzw. das Prinzip der Verwertung des Werts.«68 In seiner Analyse des Warentausches und des Warenfetischismus hat Marx die »unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden« (MEW 23, 89) verlaufende Selbstbewegung des Werts derart dargestellt, dass die Wertgröße »durch einen gesellschaftlichen Prozeß hinter dem Rücken der Produzenten festgesetzt« (MEW 23, 59) wird, d. h., dass der Wert und seine Erscheinungsform, der Tauschwert, eine »phantasmagorische Form« (MEW 23, 86) annehmen, die die Erkenntnis der Einzelsubjekte über den gesellschaftlichen Realprozess verhindert, so dass sie nicht innewerden können, in welchem Verhältnis der Wert der Ware sich durchsetzt und verwertet: »Sie wissen das nicht, aber sie tun es.« (MEW 23, 88) Im Anschluss an diese Analyse der Verhinderung der subjektiven Erkenntnis und der Subjektlosigkeit im kapitalistischen Produktionsprozess bei Marx führen Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung an, dass der verselbstständigte Prozess der bürgerlichen Gesellschaft »der subjektlose Kapitalismus« (DA, 134) heißen soll. Aus meiner Sicht wird nunmehr deutlich, dass das »automatische Subjekt« von Marx eigentlich synonym mit dem »subjektlosen Kapitalismus« von Horkheimer und Adorno ist. Wo sich die Selbstbewegung des kapitalistischen Produktionsprozesses zur Bildung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals entwickelt und dadurch ein verkehrtes gesellschaftliches Gesamtsubjekt auftaucht, das die realen Einzelsubjekte verstümmelt, erscheint sie zugleich als subjektloser Prozess. In demselben Kontext hat Adorno in der Negativen Dialektik zum Ausdruck gebracht: »Geschichte

68 Jepsen, Per: Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung, Würzburg, 2012, S. 154.

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hat bis heute kein wie immer konstruierbares Gesamtsubjekt. Ihr Substrat ist der Funktionszusammenhang der realen Einzelsubjekte« (ND, 299) Sein Konzept des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes lässt sich in diesem Kontext genauer verstehen. Wenn, wie wir feststellen konnten, indem wir die marxschen Debatten um die Selbstbewegung des kapitalistischen Produktionsprozesses erweiternd rezipierten, die gesellschaftliche Totalität als die verselbstständigte Macht in ihrer Selbstbewegung im Produktionsprozess das kapitalistisch strukturierte gesellschaftliche Gesamtsubjekt formt, so ist die Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes so zu begreifen, dass es kein abstraktes Ideal, sondern eine Konsequenz ist, die durch die immanente Kritik der kapitalistischen Selbstbewegung gewonnen werden kann.69 Das herzustellende, reale gesellschaftliche Gesamtsubjekt wird dementsprechend dadurch erreicht, indem es grundsätzlich durch die souveräne Assoziation der Einzelsubjekte ersetzt wird. In einer Gesellschaft, in deren verselbstständigten Selbstbewegung ihre Reproduktion an sich zum Zweck wird und die Einzelsubjekte bloß zum Mittel dafür, oder anders gesagt, zur »Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus« (MEW 23, 618) werden, erhält das gesellschaftliche Gesamtsubjekt eine seiner Idee entsprechende Existenz nur, wenn die gesellschaftliche Veränderung auf jene Weise, worin die Selbsterhaltung der Einzelnen eine Voraussetzung der Gesamtgesellschaft wird, erreicht wird. »Ein gesellschaftliches Gesamtsubjekt existierte dann«, wie Jan Weyand erwähnt, »wenn die gesellschaftliche Organisation der Selbsterhaltung der Individuen deren Selbsterhaltung zum Zweck hätte.«70 Weil das Subjekt im System der verallgemeinerten Warenproduktion zum heteronomen und unmündigen herabgesetzt wird, wird die Befreiung des Subjektes immer mit dem Heraustreten aus der Logik der Ersetzbarkeit im Tauschprinzip verschwistert gedacht. »Um der universalen Äquivalenz und Vergleichbarkeit willen setzt es [das Prinzip des Warencharakters – S. H.] qualitative Bestimmungen allerorten herab, nivelliert tendenziell.

69 Eine sehr ähnliche Perspektive zeigt Jepsen durch die Worte, dass das gesellschaftliche Gesamtsubjekt »Erfolg einer immanenten Kritik« der bürgerlichen Gesellschaft ist, die durch das automatische Subjekt als Gesamtsubjekt aufgefasst werden kann. Er entwickelt jedoch seine These nicht in Verbindung mit der marxschen Analyse des Gesamtkapitals. Vgl. Jepsen, Per: Aporien negativer Politik? Gesellschaftsutopie und Askese der politischen Theorie im Spätwerk Horkheimers und Adornos, in: Ruschig, Ulrich/Schiller, Hans-Ernst (Hg.): Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno, Ba den-Baden, 2014, S. 219. 70 Weyand, Adornos kritische Theorie des Subjekts, S. 29.

234 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT Derselbe Warencharakter aber, vermittelte Herrschaft von Menschen über Menschen, fixiert die Subjekte in ihrer Unmündigkeit; ihre Mündigkeit und die Freiheit zum Qualitativen würden zusammengehen.« (ND, 101)

Adornos Unterstreichung des normativen Bezugspunkts der individuellen Freiheit trifft auf die marxsche Perspektive der befreiten Individuen vor allem in Grundrisse zu, wo er präzisierte, dass »der wirkliche Reichthum [...] die entwickelte Productivkraft aller Individuen« (MEGA II.1.2, 584), und die »freie Entwicklung der Individualitäten« (MEGA II.1.2, 582) die Voraussetzung der gesamtgesellschaftlichen Emanzipation ist.

4.4.2 Ein reales, emanzipatorisches gesellschaftliches Gesamtsubjekt Unter Berücksichtigung dessen, dass das gesellschaftliche Produktionsverhältnis verselbstständigt wird und als die Einzelsubjekte beherrschende Macht erscheint, muss das Konzept der emanzipierten Gesellschaft vor allem die Rehabilitation des realen Subjektes und dadurch die Herstellung der assoziativen Kraft zwischen Subjekten zum Ziel haben. Dieser Zustand lässt sich dann als Methexis, als Verflechtung von Partizipation und Gemeinbesitz definieren. Die Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes reduziert sich dennoch nicht allein auf Diskussionen über die Planwirtschaft.71 Aus meiner Sicht stellen die traditionell marxistischen Debatten um sie nur technische Fragen nach der wirtschaftlichen Organisation der postkapitalistischen Gesellschaft, während inzwischen die Fragen nach der Selbstbestimmung des Subjektes und der Souveränität bezüglich der politischen Form ausgelassen werden. Wir stellen hier zuerst die Idee der Wiederherstellung des Subjektes bei Adorno fest, was dem Verlust der Subjektivität in der zum automatischen Subjekt strukturierten gesellschaftlichen Totalität entgegengesetzt wird. Danach gehen wir dann auf das Problem der politisch philosophischen Bedeutung der Selbstbestimmung in Bezug auf die gemeinsame Subjektivität noch näher ein.

71 Vgl. Brakemeier, Heinz: Eine Assoziation freier Individuen als gesellschaftliches Gesamtsubjekt und Elemente einer gesamtgesellschaftliches Gesamtsubjekt und Elemente einer gesamtwirtschaftlichen Planung in der »Marktwirtschaft«, in: Becker, Jens/ders. (Hg.): Vereinigung freier Individuen. Kritik der Tauschgesellschaft und gesellschaftliches Gesamtsubjekt bei Theodor W. Adorno, Hamburg, 2004, S. 184 f.

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Eine emanzipatorische Gesellschaft kann als ein Zustand definiert werden, in welchem ihr Moment der Entsubjektivierung eliminiert wird. Dies heißt dann eine »Gesellschaft als Subjekt« darzustellen: »[K]ritische Theorie orientiert sich trotz aller Erfahrung von der Verdinglichung, und gerade indem sie diese Erfahrung ausspricht, an der Idee der Gesellschaft als Subjekt«.72 Nur unter dieser Bedingung tritt »ein seiner selbst bewußtes Gesamtsubjekt«73, nämlich »ein solches reales, nicht bloß formales, gesellschaftliches Gesamtsubjekt« und dadurch »eine vernünftige Einrichtung der Gesamtgesellschaft als Menschheit« (LGF, 203) auf. Dabei ist mit »Menschheit« keine anthropologische Voraussetzung des ursprünglichen menschlichen Wesens gemeint. »Der Begriff der Menschheit ist bei Adorno wesentlich ein politischer Begriff«74, d. h., er bezieht sich nicht auf die Natur des Menschen, sondern eher grundsätzlich auf bestimmte Verhältnisse des Menschen, innerhalb derer sich die Menschheit erst entwickeln könnte – hierbei findet sich keine naturteleologische, anthropologische Vorstellung »des« Menschen. »Gelingende Menschheit« bei Adorno meint vielmehr, wie Demirović erwähnt, »dass Gesellschaft das ermöglicht, wofür Menschen sie bilden, nämlich durch gemeinsames, freies Handeln der Einzelnen die Selbsterhaltung aller Einzelnen nach allen ihren Möglichkeiten zu gewährleisten.« 75 Das vorhandene, verkehrte gesellschaftliche Gesamtsubjekt ereignet sich durch die Arbeitsteilung für die Herstellung des Mehrwerts und als Mittel dafür existieren die Einzelsubjekte. Es ist eine Paradoxie der Gesellschaft, dass die Selbsterhaltung des Einzelnen für die des Gattungssubjektes der gesellschaftlichen Totalität geopfert wird. Das verkehrte gesellschaftliche Gesamtsubjekt ist in diesem Sinne eine antagonistische Totalität, als verselbstständigte gesellschaftliche Totalität nicht mehr »Subjekt als Feind des Subjekts« (ND, 22). Es lässt sich dagegen zu einem neuen gesellschaftlichen Gesamtsubjekt als Assoziationsform konstituieren, das die Selbstverwirklichung aller Einzelsubjekte als Zweck verkörpert: Eine allgemeine Konstellation der emanzipatorischen Selbstverwirklichung. »Der Zweck der gesellschaftlichen Organisation der Selbsterhaltung wäre«, wie Weyand anmerkt, »die individuelle Selbsterhaltung, das Leben nicht um der Produktion wil-

72 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 317. 73 Fortschritt, GS 10.2, S. 618. 74 Jepsen, Per: Aporien negativer Politik? Gesellschaftsutopie und Askese der politischen Theorie im Spätwerk Horkheimers und Adornos, S. 214. 75 Demirović, Alex: Freiheit und Menschheit, in: Becker, Jens/Brakemeier, Heinz (Hg.): Vereinigung freier Individuen. Kritik der Tauschgesellschaft und gesellschaftliches Gesamtsubjekt bei Theodor W. Adorno, Hamburg, 2004, S. 31.

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len, sondern die Produktion um des Lebens willen da.«76 Er legt außerdem dies als einen Einfluss der kantischen Moralphilosophie auf Adorno, als »das Resultat einer materialistischen Interpretation von Kants Moralphilosophie«77, aus. Obwohl Adorno alle Formen der philosophischen Anthropologie und der naturteleologischen Vorstellung des Menschen, einschließlich sowohl der anthropologischen Interpretation des marxschen Begriffs des Gattungswesens als auch der kantischen Naturteleologie, zurückwies, obwohl er außerdem auf der anderen Seite die kantische Abstraktion des Freiheitsgesetzes von Impuls und Neigung als inhaltlos kritisiert, so wie es in unserer Debatte um seinen Begriff des mimetischen Impulses betrachtet wurde, lehnte er aber an den Begriff der Menschheit bei Kant insofern an, als er daraus die Bedeutsamkeit der Idee der Menschenwürde der Neuzeit findet, die aber ihm zufolge in der Tat in der bürgerlichen Gesellschaft historisch nicht vollständig realisiert wurde, denn in ihrem Innern herrscht stattdessen grundsätzlich der Funktionszusammenhang der verselbstständigten Totalität. Adorno sieht nämlich im Begriff der Menschheit bei Kant, dass »jeder Einzelne [...] als Repräsentant der vergesellschafteten Gattung Mensch zu achten, keine bloße Funktion des Tauschvorgangs [sei]« (ND, 254). Diese Idee der Menschenwürde jenseits des Tauschprinzips taucht bei Kant auf, als er in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten dem »Preis« die »Würde« entgegengesetzt und dadurch die Würde des Menschen als Zweck an sich selbst hervorgehoben hat. »Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. «78

Die hier eingeführte Entgegensetzung von Preis und Würde rund um den Begriff des Äquivalentes, und die damit sich ausdrückende kritische Betrachtung dazu, dass der Mensch in der Tat zum Preis, zum Mittel für ein anderes Äquivalent, herabgesetzt wird, nimmt die marxsche Analyse der Subsumtionsfuktion der Einzelsubjekte im Warenaustausch, nämlich im Äquivalententausch, und die dadurch implizierte Kritik der kapitalistischen Identitätslogik vorweg, in der nicht nur jede Ware, sondern auch jede Arbeitskraft, die in jener verausgabt worden ist,

76 Weyand, Adornos kritische Theorie des Subjekts, S. 59. 77 Ebd. 78 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe VII, Frankfurt/M, 1974, S. 68.

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qualitativ gleichgesetzt und damit auf eine bloß quantitative Beziehung reduziert wird.79 Der Einfluss von Kant ist auch in jener Perspektive von Adorno zu bestätigen, dass der Fortschritt nicht am Ausmaß des quantitativen Wachstums, sondern der Mündigkeit des Subjektes bewertet werden soll. Dabei wird auch die Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes bezüglich der Kraft der Mündigkeit verstanden, nicht von der verselbstständigten sozialen Macht überwältigt zu werden, sondern der Blindheit des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs entrinnen zu können, wie Adorno in einem 1965 gesendeten Fernsehgespräch mit dem Soziologen Arnold Gehlen ausgesprochen hat: »Und der Fortschritt würde erst an der Stelle anfangen, wo diese Mündigkeit, wo die Menschheit, könnte man sagen, als ein Gesamtsubjekt sich konstituiert, anstatt nach wie vor – trotz des Anwachsens dieser Künste und Fertigkeiten – in einem Zustand, ja, der Blindheit zu verharren, das heißt blinden, anonymen, nicht ihrer selbst bewußten Prozessen überliefert zu sein. «80

Horkheimer und Adorno sahen bereits in der Dialektik der Aufklärung in demselben Zusammenhang im kantischen Vernunftbegriff, und zwar am öffentlichen Gebrauch der Vernunft ein utopisches Moment der überindividuellen, allgemeinen Subjektivität. »Kants Begriffe sind doppelsinnig. Vernunft als das transzendentale überindividuelle Ich enthält die Idee eines freien Zusammenlebens der Menschen, in dem sie zum allgemeinen Subjekt sich organisieren und den Widerstreit zwischen der reinen und empirischen Vernunft in der bewußten Solidarität des Ganzen aufheben. Es stellt die Idee der wahren Allgemeinheit dar, die Utopie. « (DA, 102)

Hans-Jürgen Krahl, ehemaliger Doktorand bei Adorno, versteht die Fetischismus- und Verdinglichungskritik bei Marx unter dem Einfluss auf diesen Aspekt

79 Zur Rekonstruktion dieses interaktiven Verhältnisses zwischen Kant und Marx hat vor allem Oskar Negt beigetragen: »Kant hat immer wieder gegen die Vermarktung der Menschen protestiert; er hat sehr gut begriffen, was die heraufziehende kapitalistische Warenproduktion mit den Menschen anstellt« (Negt, Oskar: Kant und Marx. Ein Epochengespräch, Göttingen, 2010, S. 40.). 80 Adorno, Theodor W./Gehlen, Arnold: Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Ein Streitgespräch, in: Grenz, Friedmann: Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt/M, 1974, S. 234.

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von Horkheimer und Adorno als »Nachfolge der kantischen Vernunftkritik«, und sieht insofern darin den anstrengenden Versuch von Marx, »die Autonomie des transzendentalen Subjekts zu restituieren«. 81 Allerdings hat Marx ihm zufolge seine Kritik materialistisch umgewandelt und klargestellt, dass »die Kritik der verselbständigten und verknöcherten Produktionsverhältnisse, des objektiven Geistes eines allgemeingesellschaftlichen Subjekts der Arbeit«82 die Vorbedingung für die Autonomie des Subjektes ist. In dieser Kritik der verselbstständigten Produktionsverhältnisse von Marx erblickt Krahl, dass der kritische Punkt von Marx darin besteht, »den gesamtgesellschaftlichen Mechanismus kollektiver Projektion«83 zu überwinden, der dadurch verursacht wird, dass die bürgerliche Vernunft unterm Tauschprinzip ihre Autonomie verlor, was uns dann an Horkheimers und Adornos Kritik der falschen Projektion und des kollektiven Narzissmus in der Dialektik der Aufklärung erinnert, die wir im letzten Abschnitt im Kontrast zum Mimesisbegriff analysiert haben. Als »doppelsinnig« bestimmten aus diesem Grund Horkheimer und Adorno die kantische Philosophie, wie in oben zitierten Stelle nachdrücklich zu sehen ist: Das Moment der Schematisierung der Vernunft erweist sich ihnen zufolge als ein Ausdruck der Begrenztheit und der Heteronomie der Vernunft, die sich gleichzeitig auch in der Industriegesellschaft findet. Diese Kritik an Kant ist aber in der Tat zugleich eine Kritik an den materiellen Bedingungen, die die praktische Verwirklichung des normativen Inhalts im Vernunftbegriff Kants verhindern. Die Idee der Autonomie und der Menschenwürde, auf die Kant insistiert, kann sich in der Tat nur in ihrer Verschränkung mit der Veränderung der konkreten realen Bedingungen, die Kant infolge seiner Trennung des Sollens von der Realität nicht theoretisiert, verwirklichen. Eine ideale Idee wie Menschenwürde oder Freiheit, die nicht mit deren konkreten Bedingungen verbunden ist, also »eine Abstraktion von den Zusammenhängen ist, in denen wir als lebendige und gesellschaftliche Individuen stehen« (LGF, 245), bleibt von daher »als eine bloß abstrakte allgemeine Idee« (LGF, 249). Die Menschenwürde, die Autonomie des Individuums, Freiheit, Gleichheit und Fraternität usw. sind Ideen der Moderne, die aber in der modernen Gesellschaft nicht in ihrer Gesamtheit realisiert wurden, sondern nur als Potentiale bleiben. Sie sind widersprüchliche politische Werte, die in der Tat sehr oft vor der Realität ohnmächtig und leer verstummen, sie lassen sich dennoch insofern nicht ein-

81 Krahl, Hans-Jürgen: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/M, 2008, S. 50. 82 Ebd. 83 Ebd.

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fach als illusorisch denunzieren und beiseite legen, als eine Veränderung der Gesellschaft immer von der Forderung nach der Erfüllung der von ihr selbst aufgestellten normativen Werte ausgeht – das ist auch bei der Problematik des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes und der damit verbundenen Assoziation freier Individuen der Fall. »Der Begriff von Gesellschaft, spezifisch bürgerlich und antifeudal, impliziert die Vorstellung einer Assoziation freier und selbständiger Subjekte um der Möglichkeit eines besseren Lebens willen, und damit Kritik an naturwüchsigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Verhärtung der bürgerlichen Gesellschaft zu einem undurchdringlich Naturwüchsigen ist ihre immanente Rückbildung.«84

Eine Gesellschaft jenseits der bestehenden zu konzipieren enthält paradoxerweise zugleich die Forderung danach, dass die bestehende Gesellschaft aus eigenem Antrieb ihre Wahrheit verwirklicht und damit zu sich selbst kommt. Kritik ist immer eine immanente, und ihre Konsequenz die Transzendenz des gegenwärtigen Zustandes. In dieser Idee der immanenten Selbsttranszendenz taucht nun der Kern der Lehre von der alternativen Gesellschaft von Adorno als dem linken Hegelianer auf: Das Bestehende verwirklicht seine Wahrheit nachträglich, indem es vergeht. Die Selbsttranszendenz der bestehenden Gesellschaft gleicht ihrer Selbstverwirklichung.85

84 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 306 f. 85 »Die Assoziation der freien Individuen ist also, so scheint es, die zu sich selbst kom mende bürgerliche Gesellschaft, während diese selbst ihrem eigenen Begriff nicht mehr zu entsprechen vermag« (Demirović, Alex: Freiheit und Menschheit, S. 28.). In einem Aufsatz über die sozialwissenschaftliche Bedeutung des Begriffs der Emanzipation bei Adorno formulierten Heinz Brakemeier, Jens Becker und Thomas Zöllner einen mir ähnlichen Gedanken derart: »Was im deutschen Idealismus bei Hegel als ›substantielle Sittlichkeit‹ gedacht wurde, könnte materialiter in der staatsfernen Praxis einer solidarischen Produktionsweise aufgehoben werden.« (Brakemeier, Heinz/Becker, Jens/Zöllner, Thomas: Zu Adornos »gesellschaftlichem Gesamtsubjekt«. Kooperativ-genossenschaftliche Planung jenseits von Markt- und Zentralverwaltungswirtschaft, in: Fetscher, Iring/Schmidt, Alfred (Hg.): Emanzipation als Versöhnung. Zu Adornos Kritik der »Warentausch«-Gesellschaft und Perspektiven der Transformation, Frankfurt/M, 2002, S. 209.) Als Teil dieser Diskussion verbinden die Autoren »Schillers Zweck einer ästhetischen Erziehung der Menschheit, Humanität und Versöhnung« mit der Idee vom »Subjekt des Wirtschaftens«, und versuchen, eine kooperativ-genossenschaftliche Produktionsweise der mit ihrer inneren sowie äußeren

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4.5 Z UR ASSOZIIERTEN , GEMEINSAMEN S UBJEKTIVITÄT : S ELBSTBESTIMMUNG UND M ITBESTIMMUNG Einer der größten Gedanken in der ästhetischen Theorie Adornos liegt in seiner Antwort auf die Frage, inwiefern ästhetische Kategorien politisch sind, ohne sie allerdings dabei bloß auf ihre Funktion als Mittel zur unmittelbaren politischen Praxis zurückzuführen. In den verzerrten und deformierten Gestalten der modernen Kunstwerke, die weder zu Sinnenlust noch zu Trost veranlassen, findet er paradoxerweise das utopische Potential, weil sie den Ausdruck der Abweichung von der bestehenden gesellschaftlichen Totalität enthalten. »Manchen Kunstwerke wohnt die Kraft inne, die gesellschaftliche Schranke zu durchbrechen.« (ÄT, 291) Indem sich in authentischen Kunstwerken nämlich die Gestalt der »Kommunikation des Unkommunizierbaren« finden lässt, werden darin Elemente der »Durchbrechung des verdinglichen Bewußtseins« (ÄT, 292) behalten. In seiner musikphilosophischen Betrachtung liest Adorno, wie wir oben feststellten, aus der polyphonen Musik ein Muster für die »ideale Kollektivität«, deren Name ich gemeinsame Subjektivität nannte, heraus. Als Beispiel der Polyphonie ist dabei die Fuge anzuführen. »Fuge ist die Organisationsform der tonal gewordenen und durchrationalisierten Polyphonie; insofern reicht sie weiter als ihre einzelnen Realisierungen und ist doch nicht ohne sie. Darum ist auch die Emanzipation vom Schema, in diesem, allgemein vorgezeichnet.« (ÄT, 298)

In der barocken Fugenkomposition und ferner im Kontrapunkt der atonalen neuen Musik wird die gesamte Polyphonie erst dadurch konstruiert, dass einzelne Themen in ihrer Eigenständigkeit nach ihren einzelnen und nichtidentischen Stimmen verlaufen und dadurch die Mehrstimmigkeit ausmachen, ohne dass dabei die organische Harmonie die Nichtidentität jeder Stimme um deren Einheit willen banalisiert. Hierbei stellt sich die Frage, inwiefern sich die musikalische Idee der idealen Kollektivität, die in der polyphonen Musik verkörpert wird, zu einem Muster der gemeinsamen Subjektivität im politischen Sinne entwickeln kann, nämlich wie die in der Kunst virtuell vorweggenommene Versöhnung des Allgemeinen und des Besonderen in der gesellschaftlichen Realität, wo stattdessen der Antagonismus dazwischen dominant ist, zu verwirklichen ist.

Natur versöhnten Subjekte in der Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes zu finden (a.a.O., S. 208.).

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4.5.1 Selbstbestimmung und individuelle Freiheit Mit der »Assoziation freier und selbständiger Subjekte«86, die erstmals in der bürgerlichen Gesellschaft als deren Idee aufgestellt aber in ihr de facto noch nicht realisiert worden ist, versucht Adorno, sich an die Vorstellung der alternativen Gesellschaft bei Marx anzuschließen und gleichzeitig die unreduzierbare Nichtidentität des Einzelnen hervorzuheben. 87 Erst durch die »Kommunikation des Unterschiedenen«, die im Tauschprinzip, in dem die qualitative Gleichheit und damit die Äquivalenz vorausgesetzt worden ist, als vergänglich und beiläufig gilt, wird »der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft«88 ermöglicht. Es wäre eine »Utopie des Qualitativen« (MM, 136). An diese Besinnung über die Nichtidentität des Einzelnen schließt sich die Selbstreflexion der Gleichheit als politische Idee an, die Adorno in der Minima Moralia gefordert hat. Wenn an der Idee der Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft auf die Nichtidentität des Einzelnen nicht Rücksicht genommen wird und sie darum abstrakt bleibt, so läuft die Gesellschaft auf die »abstrakte Utopie«, einen »melting pot« (MM, 116) hinaus, worin die Individualität vor der kollektiven Einheit abstrahiert wird. »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren.« (Ebd.)

Wenn auch die Idee der Gleichheit gemäß dem abstrakten Tauschprinzip die qualitative Vielfalt abstrahiert, darf die Kritik allerdings keinerlei ihr normatives Potential aufgeben, insofern sie als ein negativer Gegenzug der sozialen Ungleichheit ihr Wahrheitsmoment nicht verliert. Dagegen erfordert die Selbstreflexion der Gleichheit eine neue Zielsetzung: Die Gleichheit ist dementsprechend ein Recht darauf, dass jedes Individuum im gesellschaftlichen Zusammenhang seine Würde der Individualität zum Zweck aufbewahrt; dass niemand in der Gesellschaft ausgegrenzt werden darf. Sie ist in diesem Sinne ein Recht auf die Solidarität, die sich aufgrund der individuellen Differenz herausbildet, die

86 Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«, GS 8, S. 306. 87 Vgl. Hirsch, Michael: Utopie der Nichtidentität, in: Hirsch, Michael/Müller, Vanessa J./Schafhausen, Nicolaus (Hg.): Adorno. Möglichkeit des Unmöglichen. Vol. 2, Frankfurt/M, 2003, S 55. 88 Zu Subjekt und Objekt, GS 10.2, S. 743.

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allerdings auch die eigentlichen Situationen des Leidens jedes Individuums einschließt. Sie wird nun dadurch legitimiert, grundsätzlich auf ihr Gegenteil, die nichtidentische Eigentümlichkeit des Individuums, hingewiesen zu werden. 89 Allein in dieser starken Orientierung an dem Recht auf die qualitative Vielfalt der Individualität findet Adorno »das Potential einer besseren Einrichtung der Gesellschaft, die eine wäre, in der das Viele ungefährdet und friedlich miteinander existieren könnte«.90 Mit anderen Worten schafft die »Utopie des Besonderen« (ND, 312) den Inhalt der besseren Einrichtung der Gesellschaft. Die bisherige Debatte um die Utopie des Besonderen weist schließlich auf die von Kant beeinflusste Idee der Autonomie und Selbstbestimmung der Menschheit hin, die, wie wir vor kurzem gesehen haben, ein wesentlicher Teil der Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes ist. Adornos Grundintention kann man laut Jepsen daher derart definieren, dass »eine bestimmte politische Organisationsform der empirisch existierenden Individuen, eben die Konstitution derselben als einheitliches Subjekt ihrer Geschichte, als sich selbst bestimmende Menschheit« 91 entwickelt werden soll. Die Selbstbestimmung ist nämlich ein Recht des Einzelnen darauf, von sich auf seine eigenen Lebensformen zu entscheiden und dadurch nicht unter den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang subsumiert zu werden. Sie wird durch eine ökonomische Form unterstützt, die den Raum für die Eigentümlichkeit der Lebensformen der Einzelnen schafft.92 Eine ökonomische Form, in der die Individualität aller Menschen vom gesellschaftlichen Funktionszusammenhang befreit und dadurch »die volle und

89 Christoph Menke führt mit Hegel und Adorno dieses Konzept der Selbstreflexion der Gleichheit in die Debatte um den Egalitarismus ein. »Die Orientierung an Gleichheit ist so verfasst, dass sie bereits in sich enthält, was ihr sodann, sie befragend und begrenzend, von außen entgegentritt. Die moderne Idee der Gleichheit enthält ihren Gegensatz als ihre Voraussetzung. Gegenstände, die so verfasst sind, können nach Hegels Sprachgebrauch ›dialektisch‹ heißen.« (Menke, Christoph: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, S. 28.) 90 Diskussionsbeitrag zu »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«, GS 8, S. 587. 91 Jepsen, Per: Aporien negativer Politik? Gesellschaftsutopie und Askese der politischen Theorie im Spätwerk Horkheimers und Adornos, 2014, S. 214. 92 »Die wirtschaftliche Selbstbestimmung wäre der entscheidende Aspekt einer realen Autonomie der Individuen. Solange diese ihr wirtschaftliches Schicksal nicht selber bestimmen können, ist auch jeder weitere Anspruch der Subjekte auf Autonomie zum Scheitern verurteilt.« (Jepsen, Per: Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung, Würzburg, 2012, S. 92.)

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freie Entwicklung jedes Individuums« (MEW 23, 618) gewährleistet wird, bestimmte Marx im Kapital als »das individuelle Eigentum« (MEW 23, 791), das er dem Privateigentum gegenüberstellte. Dass Marx eine ökonomische Form jenseits des Privateigentums als das individuelle Eigentum betrachtete, könnte kontrovers bzw. umstritten sein und dafür ist eine weitere Erklärung erforderlich. Wie sich in Grundrissen deutlich herausstellt, läuft die marxsche Kritik des Privateigentums nicht auf die des Eigentums überhaupt hinaus, sondern eher auf die des Zustandes der »Eigentumslosigkeit« der Proletarier. Indem das Eigentum eigentlich die Eigentümlichkeit des Individuums betrifft, ist es eine nicht verzichtbare gesellschaftliche Form, während das Privateigentum als eine gewaltsame Form des Eigentums, die die Entfaltung der Eigentümlichkeit des Individuums verhindert, beschrieben wird. Wie sich etwa zum Beispiel in seiner Analyse des »general intellect« (MEGA II.1.2, 582) zum Ausdruck bringen lässt, werden im Privateigentum die »Wissenskraft« und die intellektuellen Tätigkeiten aller Individuen zu einer Quelle der Produktivkräfte des Gesamtkapitals herabgesetzt, anstatt dass sie als solche als ihre unreduzierbaren Eigentümlichkeiten hochgeschätzt werden. Noch haben wir auch seine Kritik der kapitalistischen Identitätslogik im Tauschprinzip festgehalten und verstehen von daher, dass seine Kritik dazu führt, dass die Einzelsubjekte ihre qualitative Vielfalt verlieren und zum Mittel vom »automatischen Subjekt« erniedrigt werden. Die Aufgabe der herzustellenden neuen Gesellschaft liegt in diesem Zusammenhang darin, durch die »wirkliche Aneignung« (MEGA II.1.2, 397) das Unwesen des Privateigentums zu ersetzen und dadurch die neuen, wirklichen Produktivkräfte als Herausbildung der menschlichen, individuellen Kräfte zu entwickeln. Das Eigentum in seinem ursprünglichen Sinne bedeutet keine exklusive Aneignung des isolierten Individuums, sondern ist ein Ausdruck für eine Existenzweise des Individuums in seinem engen Zusammenhang mit dem Gemeinwesen. »Eigenthum meint also ursprünglich – und so in seiner asiatischen, slawischen, antiken, germanischen Form – Verhalten des arbeitenden (producierenden) Subjekts (oder sich reproducierenden) zu den Bedingungen seiner Production oder Reproduction als den seinen. [...] Die Production selbst bezweckt die Reproduction des Producenten in und mit diesen seinen objektiven Daseinsbedingungen. « (MEGA II.1.2, 399)

Die ursprüngliche Bedeutung des Eigentums besteht nämlich in der Produktion der Bedingung der Reproduktion des Subjektes selbst, in der »Reproduction des Individuums« (MEGA II.1.2, 389). Das individuelle Eigentum, das sich aber nicht aufgrund der vormodernen Stufe der Produktivkräfte entfaltet, sondern sich auf die moderne Errungenschaft stützt, ist eben vor diesem Hintergrund als eine alternative ökonomische Form bei Marx zu verstehen, in der der Zweck der ge-

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samtgesellschaftlichen Produktion sowie Reproduktion in nichts Anderes als in die eigene Selbstverwirklichung der Einzelsubjekte eingepasst ist, wobei es sich daher vor allem um die individuelle Freiheit handelt. Nun kann man meines Erachtens im Anschluss daran ausdrücklich bemerken, dass Adornos Grundintention in der Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes auch darin liegt, die Freiheit des Individuum zu gewährleisten, und er insofern im Grunde genommen in Einklang mit dem marxschen Konzept des individuellen Eigentums als ökonomische Form der individuellen Freiheit steht. Für Adorno bedeutet die Freiheit des Individuums eine Art der Individuation, in der die Individuen ihre eigenständigen Selbstzwecke entwickeln können: Es ist die Forderung nach der Selbstbestimmung und Autonomie der Einzelsubjekte als Individuen, die sich der gesellschaftlich gezwungenen Heteronomie entgegenstellt und die Willensfreiheit der Individuen von dieser Heteronomie vertritt. Die über die durchs Tauschprinzip strukturierte, verselbstständigte Totalität hinausgehende »Assoziation freier und selbstständiger Subjekte« wird erst auf der Grundlage ermöglicht, dass die individuelle Eigentümlichkeit und Besonderheit durch die Selbstbestimmung als individuelle Freiheit respektiert wird.

4.5.2 Mitbestimmung und souveräne Assoziation Das Recht auf die Selbstbestimmung als individuelle Freiheit wird aber lediglich durch die überindividuelle Assoziation, durch eine gemeinsame Subjektivität, bekräftigt, die aufgrund der mimetischen Verhaltensweise zu einer solidarischen Gegenhegemonie zur verselbstständigten Macht des Sozialen führen würde und letzten Endes diese Macht selber zu ersetzten abzielt. Dabei wird das Problem der Souveränität und der damit zusammenhängenden Mitbestimmung vorgelegt, die als das Recht auf die gemeinsame Beteiligung, Methexis aufgefasst wird – die Selbstbestimmung ist nur durch die Mitbestimmung möglich. Hierbei wird darauf hingewiesen, was Adorno selber als eine »freie und solidarische Zusammenarbeit unter gemeinsamer Verantwortung« (MM, 147) verstanden hat, durch die er zugleich das Problem der Vertretbarkeit des Inkommensurablen im modernen Repräsentativsystem aufwarf. In seinem Vortrag von 1959, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, stellte Adorno sein Demokratie-Verständnis wie folgt dar, wobei es vor allem um die Identität der Gesellschaft mit dem Volk selber geht, die eigentlich der Ausdruck seiner Mündigkeit ist:

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»Soviel wird man sagen können, daß das System politischer Demokratie zwar in Deutsch land als das akzeptiert wird, was in Amerika a working proposition heißt, als ein Funktionierendes, das bis jetzt Prosperität gestattete oder gar förderte. Aber Demokratie hat nicht derart sich eingebürgert, daß sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen. Sie wird als ein System unter anderen empfunden, so wie wenn man auf einer Musterkarte die Wahl hätte zwischen Kommunismus, Demokratie, Faschismus, Monarchie; nicht aber als identisch mit dem Volk selber, als Ausdruck seiner Mündigkeit.«93

Diese von Rousseau (Übereinstimmung der Gesellschaft mit dem Volk) und Kant (Mündigkeit des Volks) beeinflusste, aber im Vergleich zu beiden bei weitem radikalere, erweiterte Auffassung der Demokratie von Adorno, dass sich darin die Menschen als Subjekte der politischen Prozesse wissen und sich nämlich dadurch als Subjekte konstituieren, lässt sich aus meiner Sicht mit seinem Konzept des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes als Fragestellung der souveränen Assoziation verbinden, die letzten Endes darauf abzielt, die verselbstständigte, als das automatische Subjekt strukturierte Macht des Sozialen zu überwinden und zu ersetzen. Als besonders signifikant an dieser Textstelle erweist sich, dass Adorno die Demokratie als den Prozess der Subjektivierung der Subjekte selbst darstellte. Damit können wir diesen Gedanken Adornos im Hinblick auf die Idee der Assoziation noch einen Schritt weitergehend auslegen: Indem es festgehalten wird, dass die Subjekte nicht passiv Beherrschte bleiben, die der gesellschaftlichen Macht unterworfen sind, sondern von sich aus sich zur diese bewältigenden souveränen Macht konstituieren sollen, bringt die Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes Elemente der radikalen Demokratie mit sich, die über die formale Demokratie hinaus auf der direkten Beteiligung aller Menschen an den öffentlichen Angelegenheiten einschließlich des gesellschaftlichen Reichtums basiert und daraus die Idee der Volkssouveränität radikal vervollständigen könnte. Dieser Gedanke läuft auf der anderen Seite fernerhin auf die Idee einer vollbrachten Menschheit als, wenn man sagen darf, der vollbrachten Totalität hinaus, die dann nicht mehr Totalität heißen dürfte, was in seiner kleinen Schrift Fortschritt ausgedrückt wurde.

93 Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, GS 10.2, S. 559.

246 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT »Würde sie [Menschheit – S. H.] eine Totalität, die in sich selbst kein begrenzendes Prin zip mehr enthält, so wäre sie zugleich ledig Zwangs, der alle ihre Glieder einem solchen Prinzip unterwirft, und wäre damit Totalität nicht länger: keine erzwungene Einheit.«94

Hier wird eine Reihe der begrifflichen Konstruktion des Zustandes der fortgeschritteneren Gesellschaft mitgebracht, deren Ausmaß sich vor allem in der Mündigkeit der Subjekte als Menschheit, nämlich der gemeinsamen Subjektivität, finden lässt. Die vollbrachte Menschheit ist gleich der vollbrachten Totalität, die als nicht mehr repressive Einheit zu verstehen ist, die darum eine über die Totalität selbst hinausgehende allgemeine Konstellation des nicht mehr verselbstständigten gesellschaftlichen Zusammenhangs darstellt. Darin zeigt sich die paradoxe Logik der Totalität, welche als die Dialektik der Totalität bezeichnet werden könnte. Hierbei könnte man sehr schnell gewahr werden, dass dieses Konzept der Menschheit mit dem eng verbunden ist, was Adorno als die »vollbrachte«, bzw. »rationale Identität« zum Ausdruck brachte, wie wir im zweiten Kapitel ausfindig gemacht haben. In diesem gesamten Zusammenhang ist zu bemerken, dass Adornos Konzept der alternativen Gesellschaft, das in seinen Begriffen wie »gesellschaftliches Gesamtsubjekt«, »Utopie des Besonderen«, »vollbrachte Menschheit«, »Identität der Gesellschaft mit dem Volk« usw. insgesamt darauf versweist, dass die gelingende Verwirklichung der Menschheit, in deren Idee die individuelle Freiheit und auf deren Grundlage die Entstehung der gemeinsamen Subjektivität als wesentliche Teile eingeschlossen sind, der Maßstab für die emanzipierte Gesellschaft ist. Das Ziel der emanzipierten Gesellschaft besteht nämlich – Adorno führt hierbei den berühmten Ausdruck von Aristoteles ein – in der »Realisierung des zoon politikon«95, und dies weist zugleich auf einen Zustand »eines sozialen und geistigen Kosmos, der, nach Hegels Sprachgebrauch, ›substantiell‹, ohne Gewaltsamkeit, fürs Individuum fraglos verbindlich wäre« d.h., »eines richtigen, mit den Einzelnen versöhnten Ganzen«96 hin. Die von Aristoteles (zoon politikon) und Hegel (sittliche Substanz des politischen Gemeinwesens) beeinflusste, aber, nochmals in diesem Fall, die beiden noch radikaler akzeptierende Idee der emanzipierten Gesellschaft von Adorno hat aus meiner Sicht ihren Kern im Grunde genommen im Begriff der Mitbestimmung – die gemeinsamen Handlungen und Entscheidungen ohne Ausgrenzung. »Darin gerade überwintert das Potential einer besseren Einrichtung der

94 Fortschritt, GS 10.2., S. 619 f, 95 Postscriptum, GS 8, S. 91. 96 Theorie der Halbbildung, GS 8, S. 104.

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Gesellschaft, die eine wäre, in der das Viele ungefährdet und friedlich miteinander existieren könnte.« 97 Der Menschheitsbegriff bei Adorno bezieht sich in diesem Punkt nicht auf die anthropologische und damit zusammenhängende romantische, sondern auf die politische Kategorie der Entstehung der gemeinsamen Subjektivität und ihrer bedingungslosen Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten – die politische Kraft des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes. Ein allgemeines Netzwerk, in dem jedes Individuum eben um seiner originellen Selbstverwirklichung willen einen Teil an der gemeinsamen Subjektivität hat, nennen Marx und Engels im Manifest der kommunistischen Partei »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4, 482). Durch diese Idee der Assoziation, die sich auf die französischen Frühsozialisten zurückführt, wollten sie den Begriff der Emanzipation von der bürgerlichen Produktionsweise begründen, in der die Möglichkeit der eigentümlichen Entwicklung der Individuen wegen ihrer Subsumtion unter die Produktion um der Produktion willen grundsätzlich zunichte gemacht wird. Diese Idee bleibt im Kapital von Marx, wo er die Emanzipation von der Verkehrung des verselbstständigten Produktionsprozesses im Ausdruck »Verein freier Menschen« (MEW 23, 92) intensiv darstellte. Hier hat Marx verdeutlicht, dass die Assoziation, nämlich der Verein freier Menschen die verselbstständigte Produktionsweise der verallgemeinerten Warenaustausch-Ökonomie durch die gemeinsame Kontrolle der frei vergesellschafteten Menschen niederringen und beherrschen soll. »Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d. h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mytischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht.« (MEW 23, 94)

Das Konzept der Emanzipation besteht im dritten Band des Kapital in konkretisierter Weise fort, wo Marx das Reich der Notwendigkeit und das der Freiheit begrifflich unterschieden und dem ersten die bewusste Kontrolle der blinden Macht des verselbstständigten gesellschaftlichen Produktionsprozesses durch die Kraft der frei vergesellschafteten, also assoziierten Menschen zugesprochen hat. »Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln,

97 Diskussionsbeitrag zu »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«, GS 8, S. 587.

248 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden« (MEW 25, 828).

Das dadurch etablierte Reich der Notwendigkeit realisiert zwar eine begrenzte Freiheit in dem Sinne, dass die Menschen hier nur den Stoffwechsel mit der Natur rationell kontrollieren, aber es ist eine Grundlage, auf der das Reich der Freiheit erst aufgeht, in dem »die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt« (ebd.), beginnen kann. In dieser Reihe der marxschen Debatten um die emanzipierte Gesellschaft, in seinen Begriffen wie »Assoziation«, »Verein«, »gemeinschaftliche Kontrolle« usw. ist in erster Linie zu bemerken, dass sein Konzept von »Assoziation« und »Verein« der freien Menschen ein politischer Begriff ist, bei dem es um die »gemeinschaftliche Kontrolle« der verselbstständigten Macht des Sozialen (mit marxschem Ausdruck: Produktionsverhältnisses) geht – andererseits kann man sagen, dass sich sein Konzept des individuellen Eigentums auf eine ökonomische Form bezieht. Darum werden die marxschen Skizzen der alternativen Gesellschaft nicht bloß auf die Planwirtschaft zurückgeführt. Alle Debatten um die Planwirtschaft zeigen eine Tendenz, die Frage nach der gemeinschaftlichen Kontrolle und der Assoziation freier Menschen allein auf die technokratische Fragestellung der Produktion und Verteilung, und zwar in Bezug auf das Zentralkomitee, die technokratische Expertengruppe zu reduzieren. Hingegen muss bei der Diskussion über die emanzipierte Gesellschaft die bei weitem wichtigere Frage aufgeworfen werden, ob die Entstehung der assoziierten, gemeinsamen Subjektivität, die allgemeine, demokratische Partizipation aller an dem gesellschaftlichen Prozess ohne Ausgrenzung und schließlich die Selbstverwirklichung der Individuen voraussetzende menschliche Kraftentwicklung dadurch möglich ist. Adornos Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes ist ein Ergebnis dieser theoretischen Bedrängnis, dass ein emanzipierter gesellschaftlicher Zustand bisher fast weder als ein politisches Projekt der Souveränität noch als ein Projekt der Entwicklung des Subjektes und der Menschheit behandelt wurde. Obwohl Adorno selber die Umrisse seines Gedankens nicht konkretisierte, weisen die Fragmente seines Konzeptes der alternativen Gesellschaft darauf hin, dass die Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes ein wesentlicher Richtungswechsel der bisherigen Debatten um das alternative Gesellschaftskonzept hervorbringen könnte. Wir können nunmehr die Idee des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes über seine begrenzten, fragmentarischen Aussagen hinaus in einem breiteren Horizont der politisch philosophischen Fragestellungen von Einzel- und gemeinsamer Subjektivität, individueller Freiheit und Souveränität, Selbstbestimmung und Mitbestimmung verstehen.

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Unsere Analyse über das theoretische Konzept des politischen Subjektes ist auf diese Weise von der Bedeutsamkeit des nein-sagenden Einzelsubjektes ausgehend über die mimetische Verhaltensweise und Solidarität der mitleidenden Einzelsubjekte zur Konstruktion der gemeinsamen Subjektivität als des gesellschaftlichen Gesamtsubjektes gelangt. Mit Adorno und zugleich über ihn hinaus ist nunmehr ein Aspekt über das politische Subjekt festzustellen, der sich nicht nur auf die Widerstandspolitik, sondern auch auf die Idee der alternativen Gesellschaft auswirkt.

4.5.3 Adornos Freiheitsgedanke In der klassischen Moderne lassen sich zwei entgegengestellte Richtungen der Auffassung des Freiheitsbegriffs feststellen. Erstens vertritt die atomistische Vorstellung der Freiheit seit Locke und Kant das, was sich heute als negative Freiheit bestimmen lässt. Demzufolge bezieht sich die Freiheit auf eine rein individualistische Perspektive und auf einen bloßen negativen Gegenzug zur Unterdrückung, die den Individuen von außen her bestimmte Handlungen und Verhalten heteronom aufzwingt. Zweitens bedeutet Freiheit für einige Philosophen, dies vor allem für Hegel, der sich bewusst an die Tradition von Aristoteles anzuschließen versucht, etwas, das die Individuen nur in ihren wechselseitigen Beziehungen, in einem Gemeinwesen, und zwar eines Rechtszustandes gewinnen können und damit mit konkreten Inhalten verbunden ist – die positive Freiheit. Die Gegenüberstellung von negativer und positiver Freiheit setzt sich weiter fort bis zu den heftigen Debatten in den politischen Philosophien des späten 20. Jahrhunderts, die meistens im angelsächsischen Sprachraum entfaltet worden sind. Der moderne Liberalismus definiert die Freiheit als ein Recht darauf, dass sich jeder unter dem Schutz des Rechtssystems mit seinen eigenen Angelegenheiten befassen kann, ohne dass dabei ein Übergriff von anderen in die eigenen Rechte stattfindet. Im Gegensatz dazu wird die kommunitaristische und republikanische Freiheit mit einem Menschenbild verknüpft, nach dem der Mensch als politisches Tier (zoon politikon) nur durch die Kommunikation und die Handlungen in der öffentlichen Sphäre seine Natur verwirklichen kann – oder noch genauer: Die Freiheit des Menschen kann darum nur im öffentlichen Bereich verkörpert werden, und dies soll zum Zweck des Rechtsystems werden. Freiheit wird nun bei Adorno in erster Linie negativ bestimmt, als bestimmte Negation des unfreien Zustandes. Freiheit ist immer Freiheit von oder gegen etwas, der positive Inhalt wird nicht a priori gegeben: »Freiheit ist einzig in bestimmter Negation zu fassen, gemäß der konkreten Gestalt von Unfreiheit.«

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(ND, 230) Darum ist die »Freiheit als polemisches Gegenbild zum Leiden unterm gesellschaftlichen Zwang« (ND, 222) darzustellen. In seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit 1965/65 definiert er sie »als das aus dem Bann Heraustreten oder sich Herausarbeiten« (LGF, 244), und fügt hinzu, dass sie daher eher eine Kategorie der Tendenz als die der Gegebenheit, d. h. »ein erst Herzustellendes oder ein sich erst Herstellendes« (ebd.) ist. Sie wird in diesem Sinne vor allem als Freiheit des Individuums gegen seine heteronome Situation verstanden. Folglich lässt sich sagen, dass Adorno sich an dieser Argumentationslinie an die Tradition der negativen Freiheit seit Kant anschließt. Auf der anderen Seite aber wendet sich er gegen die individualistische Vorstellung der Freiheit bei Kant, indem er feststellt, »daß Freiheit nicht zu fassen ist als ein bloß Individuelles« (LGF, 245). Obwohl die Freiheit immer als eine individuelle definiert wird, hängt ihre Verwirklichung und Entfaltung grundsätzlich vom gesellschaftlichen und geschichtlichen, nämlich überindividuellen Kontext ab: Sie wird »allein in der Einrichtung einer freien Gesellschaft« (ND, 272) realisiert und ist von daher »eine durch und durch geschichtliche Kategorie« (LGF, 248). Hier akzeptiert Adorno wieder die hegelsche Argumentation, dass die subjektive Freiheit »von dem Objektiven abhängt« und daraus »die übermächtig strukturierte institutionelle Wirklichkeit« zu attestieren ist (LGF, 282). »Freiheit ist dann nichts anderes als der Inbegriff des Widerstands gegen eben jenen Bann« (LGF, 243).98 Er fasst die Freiheit dabei weder als ein positives Bild im Bestehenden noch jenseits dessen auf, sondern auf eine negative Weise, als die negative Freiheit, d. h., sein Freiheitsbegriff bezieht sich immer auf den Gegensatz zur unfreien Ordnung. Freiheit als ein Negatives, als ein Gegensatz zum gesellschaftlichen Bann, hat ihr positives Element eben in dieser negativen Wirkung selbst. Sie ist »konstruiert als das positive Gegenbild der Erfahrung zum gesellschaftlichen Zwang«, das dann den Einzelnen ermöglicht, sich in ihrem heteronomen gesellschaftlichen Zustand vorzustellen, »daß es besser wäre, anders zu sein, daß es besser wäre, frei zu sein« (LGF, 306), wodurch die Einzelnen hoffen können, den unfreien gesellschaftlichen Zustand in einen anderen umzuorganisieren. In der Fragestellung nach der Möglichkeit der Freiheit bei Adorno behält das Prinzip der konstitutiven Negativität seine Rele-

98 Als Johannes Agnoli in einem Interview über das Potential der Negation zur subversiven Theorie und Praxis geredet hat, näherte sich seine Idee allmählich Adorno an, insofern Agnoli die konstitutive Kraft der Negation auf dem Weg zur Freiheit anerkennt: »Die Negation ist also der einzige Weg zur Freiheit.« (Burgmer, Christoph: Das Negative Potential. Gespräche mit Johannes Agnoli, Freiburg, 2002, S. 13.)

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vanz. Die positive Freiheit ist nicht gegeben, sondern muss durch die negative Wirkung der Dialektik der Freiheit erfüllt werden. Soweit ich aufgefasst habe, lässt sich der Freiheitsbegriff in der Politik der Negativität, die in unseren bisherigen Diskussionen entwickelt wurde, als die Verbindung eines jeden Wahrheitsmoments jener beiden Richtungen (negative und positive, liberalistische und republikanische Freiheit) charakterisieren. Mit Adorno und gleichzeitig über Adorno hinausgehend, und die anderen theoretischen Traditionen vor und nach Adorno überquerend können wir nun den Begriff der Freiheit als eine Zusammenfügung der Selbst- und Mitbestimmung, der individuellen und politischen Freiheit sowie der Willens- und Handlungsfreiheit verstehen. In der Tradition von Kant ist festzustellen, dass die Freiheit in erster Linie als eine Idee der Selbstbestimmung und Autonomie des Individuums darzustellen ist, wobei die Willensfreiheit des Individuums ihren zentralen Platz hat, und sie steht in diesem Sinne im Gegensatz zur (gesellschaftlichen) Heteronomie. Sie ist außerdem nicht vorhanden, sondern negativ gegen den Zwang gegründet. Mit der Tradition von Aristoteles und Hegel wird klar, dass sie als eine Idee der Mitbestimmung, wodurch die Selbstbestimmung erst möglich wird, aufzufassen ist, wobei es dann um die Handlungsfreiheit, ein gemeinsames Leben geht, was nun auf einen Zustand ohne Ausgrenzung hinweist. Unsere bisherige Diskussion hat bereits gezeigt, dass Adorno beide Richtungen in seiner eigenständigen Auffassung zu verbinden versuchte, dass Freiheit eine individuelle, aber zugleich eine gesellschaftskritische Kategorie ist, sowie, dass sie in diesem Sinne auch in der modernen Gesellschaft nicht gegeben, sondern noch herzustellen ist. Mit Marx erachtet Adorno es dabei als wesentlich, dass die bestehende Unfreiheit praktisch verändert werden soll – darin findet sich das positive Element der Freiheit. Auch in diesem Sinne ist die Freiheit ein Herzustellendes, »ein Werdendes«, insofern »die Möglichkeit der Freiheit innerhalb der Unfreiheit selber heranwächst« (LGF, 250).

Schluss

Relevant für Adornos Gedanken, dass das Positive nicht vorgegeben ist, ist sein philosophisches Theorem vom Bilderverbot, das er von der jüdischen Theologie übernommen und als das Prinzip der Askese des unmittelbaren Ausdrucks eines transzendenten Zustandes gesetzt hat, wobei sich das theologische und materialistische Element deckt. »Solche Bilderlosigkeit konvergiert mit dem theologischen Bilderverbot. Der Materialismus säkularisierte es, indem er nicht gestattete, die Utopie positiv auszumalen; das ist der Gehalt seiner Negativität. Mit der Theologie kommt er dort überein, wo er am materialistischesten ist.« (ND, 207)

Wie im zweiten Kapitel zum Vorschein kam, ist das Bilderverbot mit der philosophischen Methode der bestimmten Negation und der immanenten Kritik zu verbinden. Hierbei gilt es, nicht der Gefahr des Irrtums zu unterliegen, anzunehmen, dass dieses Prinzip des Bilderverbotes die Diskussionen und die Praxis über die fundamentale Transzendierung des Bestehenden ablehnt. Die Dogmatisierung des Verbotes der Skizze eines anderen Zustandes im Ostblock diente allein der Unterdrückung des Potentials der emanzipatorischen Einbildungskraft. Im Gegensatz dazu verteidigte Adorno das Erbe des utopistischen Denkens unter anderem von Fourier im Vorwort zur deutschen Veröffentlichung von seinem Werk Quatre Mouvements. »Unter den Utopisten nimmt der unrevolutionäre Fourier eine extreme Position ein. Keiner bietet dem Vorwurf des Utopismus schutzloser sich dar als er; bei keinem aber auch ist die Anfälligkeit der Doktrin so sehr gezeigt vom Willen, die Vorstellung des besseren Zustands zu konkretisieren. [...] Das Verdikt über Phantasie als Phantasterei fügte sich einer Praxis ein, die sich Selbstzweck war und mehr stets im Bestehenden verstrickte, über das

254 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT sie einmal hinaus wollte. Vor ihr hat Fourier die rücksichtslose Kritik an Versagung voraus.«1

Allerdings ist es auch in der negativen Dialektik Adornos deutlich zu erkennen, dass er die naive Erwartung der Utopisten, die die sofortige Realisierung des utopischen Zustandes für möglich hielten, als unrealistische, passive Anschauung betrachtete, die die wirkliche Bewegung dessen, was ist, nicht aufzugreifen vermag. Auf der Folie dieses ambivalenten Standpunktes beschrieb Adorno den utopischen, versöhnten Zustand jenseits des jetzigen immer in der sprachlichen Form von Konjunktiv II, wie beispielsweise: »Utopie wäre die opferlose Nichtidentität des Subjekts« (ND, 277).2 Konjunktiv II verwendet man in der Hauptsache, wenn man sich etwas vorstellt oder wünscht, das zurzeit eigentlich nicht möglich ist. Gleichzeitig ist hierin aber auch eine große Hoffnung impliziert. Diese sprachliche Wendung zeigt darum die doppelten, zueinander gegensätzlichen Bedeutungslinien auf: Einerseits wird eine starke Sehnsucht nach dem utopischen Zustand, andererseits die Unmöglichkeit dessen dargestellt. Dadurch erfüllt Adorno das Verbot, die Utopie positiv auszumalen, und drückt zugleich die große Hoffnung darauf aus. Dies weist wenngleich eine paradoxe Logik, so doch keine Aporie auf. Was sich hier feststellen lässt, ist eher eine dynamische Konstruktion des praktischen Impulses des philosophischen Denkens. Adornos Grundgedanke, den ich bislang rekonstruierend zu deuten versuchte, lässt sich nun folgendermaßen präzisieren: Die Möglichkeit eines neuen, über den bestehenden hinausgehenden Zustandes ist ein nicht von selbst Gegebenes, sondern ein einzig in der unaufhörlichen Bewegung der Negation zu Konstituierendes. Die Negation als philosophische Methode zur Wahrheit exponiert den praktischen Impuls einer dialektischen Philosophie, der das emanzipatorische Interesse an der Transformation der Realität zugrunde liegt. Wir rufen die Bewegung der Negation zur Umgestaltung einer Gesellschaft zu einer anderen beim Namen: Politik. Die reflexive Vernunft, die durch ihr Verweilen beim Negativen die Falschheit der Gesellschaft in den Blick nehmen will, theoretisiert die Politik als die Negation des Negativen. Dadurch nähert sich die Philosophie mimetisch der Realität an – die bestimmte Negation

1

Vorwort zur deutschen Übertragung der Quatre Mouvements von Charles Fourier, GS 20.2, S. 699.

2

Oder man kann auch eine andere Textstelle nachschlagen, wo Adorno sich in einem Satz dreimal den Konjunktiv II zunutze machte: »Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus.« (ND, 150)

S CHLUSS

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als Bewegung des philosophischen Denkens wird zum Aufriss für die Kraft der Politik als die konstitutive Negativität, die die positive Veränderung der Realität antreibt. Welche spezifische Eigenheit stellt dann diese Bestimmung der Politik der Negativität zur Verfügung? Die bisherigen hauptsächlichen Diskussionen über die alternative Gesellschaft einschließlich des traditionellen Marxismus und seiner verschiedenen Varianten stimmen meistens in einem Punkt überein: Sie verstehen zwar die Negativität der dem gegenwärtigen System widerstehenden Bewegungen, behaupten jedoch, dass in einem Augenblick, also in dem Zeitpunkt, in dem die revolutionäre Veränderung stattfindet, das Pathos des Widerstandes sein negatives Merkmal aufheben und damit ins Positive übergehen muss. Wenn der Widerstand eine Hebamme zur Geburt der neuen Gesellschaft sei, dann lasse nicht mehr die Bewegung der Negation, sondern die des Positiven nach ihrer Geburt sie aufwachsen. Dieser argumentative Punkt bildet die Quintessenz in den Debatten um die Machtergreifung durch die Revolution, wobei der Begriff der Negativität und jener der Positivität dualistisch getrennt werden. Wenn man überschaut, was zur Rekonstruktion der politischen Perspektive in der negativen Dialektik Adornos bisher debattiert worden ist, so kann man sich der Überzeugung nicht erwehren, dass die mit und über Adorno hinaus entwickelte Politik der Negativität jenen Aspekt grundsätzlich ablehnt. Der Logik, dass die Negation in einem bestimmten Zeitpunkt zum Positiven übergehen muss, liegt die optimistische und gleichzeitig teleologische Voraussetzung zugrunde, dass die Rolle der Negation an einem bestimmten Zeitpunkt grundsätzlich beendet werde. Diese Perspektive enthält noch die einseitige Vorstellung des dialektischen Negativitätsbegriffs, dass die Negation allein die Destruktion des Bestehenden bedeutet: Wenn die Destruktion durch die gewaltsame Methode gewonnen würde, dann bliebe nichts weiter als die Aufgabe des positiven Aufbaus einer völlig neuen Gesellschaft. Diese auf der Aufhebungslogik der Negation der Negation basierende, ihrerseits geschichtsphilosophisch dramatisierte Aussicht steht beständig in der Gefahr, irgendeinen, noch falschen Zustand affirmativ zu rechtfertigen, wie es etwa in den Staaten des ehemaligen sog. Ostblocks der Fall war. Sie versteht nicht, dass die menschliche Welt so kompliziert ist, dass sie nicht mit einem Schlag zum Ziel der Geschichte zu springen vermag, auch nicht, dass die Macht nicht bloß durch Gewaltaktionen auf einmal zu erlangen, sondern durch die Methexis, durch die Herausbildung der allgemeinen Konstellation beharrlich und ununterbrochen herzustellen ist. Mit Adorno haben wir aber gesehen, dass das Positive dagegen in der Bewegung der Negation als Wirkung fortwährend konstituiert wird: Sie enthält bereits ihrer Logik nach die Konstitution des Positiven. Die Tätigkeiten des Widerstandes, die sich gegen das Bestehende

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auflehnen, sind konstitutive Negativität, die nicht ins Positive »übergehen« soll, sondern durch diese Tätigkeit an sich Elemente der positiven Veränderung enthält. Die Politik ist kein durch einmaliges Ereignis Ergreifbares, sondern ein durch die gemeinsame Tätigkeit der Subjekte via Negation Konstituierendes.

Anhang S IGLEN 1) Schriften Adornos DA: Dialektik der Aufklärung MM: Minima Moralia DSH: Drei Studien zu Hegel ND: Negative Dialektik ÄT: Ästhetische Theorie ED: Einführung in die Dialektik PM: Probleme der Moralphilosophie PET: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft LGF: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit ES: Einleitung in die Soziologie VND: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung PT 1, 2: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, Bd. 1, 2 Die sonstigen Schriften Adornos werden wie folgt zitiert: Titel, Nummer des Bandes in den Gesammelten Schriften (GS) oder den Nachgelassenen Schriften (NS), in den der Titel enthalten ist, sowie Seitenanzahl. Adornos Schriften außerhalb der GS und NS werden wie üblich zitiert. 2) Weitere Siglen PG: Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes WL I, II: Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik I, II PR: Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts MEW: Marx-Engels-Werke MEGA: Marx-Engels-Gesamtausgabe

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L ITERATURVERZEICHNIS 1) Erste Literatur Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt/M, 1997. Band 1. Philosophische Frühschriften Band 3. Dialektik der Aufklärung Band 4. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben Band 5. Zur Metakritik der Erkenntnistheorie; Drei Studien zu Hegel Band 6. Negative Dialektik; Jargon der Eigentlichkeit Band 7. Ästhetische Theorie Band 8. Soziologische Schriften I Band 10.1, 10.2. Kulturkritik und Gesellschaftskritik I, II Band 11. Noten zur Literatur Band 12: Philosophie der neuen Musik Band 20.1, 20.2. Vermischte Schriften I, II. Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, Bd. 1, 2, hg. v. Rudolf zur Lippe, Frankfurt/M, 1992. Adorno, Theodor W.: Einführung in die Dialektik, Nachgelassene Schriften IV.2, hg. v. Christoph Ziermann, Frankfurt/M, 2010. Adorno, Theodor W.: Ontologie und Dialektik, Nachgelassene Schriften IV.7, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M, 2002. Adorno, Theodor W.: Probleme der Moralphilosophie, Nachgelassene Schriften IV.10, hg. v. Thomas Schröder, Frankfurt/M, 1996. Adorno, Theodor W.: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft, Nachgelassene Schriften IV.12, hg. v. Tobias ten Brink u, Marc Phillip Nogueira, Frankfurt/M, 2008. Adorno, Theodor W.: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Nachgelassene Schriften IV.13, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M, 2006. Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Soziologie, Nachgelassene Schriften IV.15, hg. v. Christoph Gödde, Frankfurt/M, 1993. Adorno, Theodor W.: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung, Nachgelassene Schriften IV.16, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M, 2003. Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, hg. v. Gerd Kadelbach, Frankfurt/M, 1971.

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Adorno, Theodor W.: Adorno über Marx und die Grundbegriffe der soziologischen Theorie, in: Backhaus, Hans-Georg: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg, 1997. Adorno, Theodor W.: Notizen von einem Gespräch zwischen Th. W. Adorno und Alfred Sohn-Rethel am 26. 4. 1965, in: Sohn-Rethel, Alfred: Warenform und Denkform, Frankfurt/M, 1978. Adorno, Theodor W./Gehlen, Arnold: Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Ein Streitgespräch, in: Grenz, Friedmann: Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt/M, 1974. Adorno, Theodor W./Krenek, Ernst: Briefwechsel, hg. v. Wolfgang Rogge, Frankfurt/M, 1974. Adorno, Theodor W./Mann, Thomas: Briefwechsel 1943-1955, hg. v. Theodor Adorno Archiv, Frankfurt/M, 2002. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Briefwechsel, Bd. I: 1927-1937, hg. v. Theodor Adorno Archiv, Frankfurt/M, 2003. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Briefwechsel, Bd. II: 1938-1944, hg. v. Theodor Adorno Archiv, Frankfurt/M, 2004. Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Adorno. Eine Bildmonographie, Frankfurt/M, 2003. 2) Zweite Literatur Angehrn, Emil: Kritik und Versöhnung. Zur Konstellation Negativer Dialektik bei Adorno, in: Kohler, Georg/Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Wozu Adorno?: Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist, 2008, S. 267-291. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, 1982, S. 195. Arndt, Andreas: Karl Marx. Versuch über dem Zusammenhang seiner Theorie, Bochum, 1985. Arndt, Andreas: Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg, 1994. Arndt, Andreas: Was ist Dialektik? Anmerkungen zu Kant, Hegel und Marx, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Jg.50, Heft 1, 2008, S. 37-48. Arndt, Andreas: Unmittelbarkeit, Berlin, 2013. Arndt, Andreas: Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin, 2015. Backhaus, Hans-Georg: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg, 1997.

260 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT

Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Walter Benjamin Gesammelte Schriften Bd. I.1, Frankfurt/M, 1974. Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, Würzburg, 2011. Bernstein, Jay: Negative Dialektik. Begriff und Kategorien III: Adorno Zwischen Kant und Hegel, in: Honneth, Axel/Menke, Christoph (Hg.): Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, Klassiker Auslegen Bd. 23, Berlin, 2006. S. 89-118. Bonefeld, Werner: Praxis und Kritik. Bemerkung zu Adorno, in: ders./Heinrich, Michael (Hg.): Kapital & Kritik. Nach der »neuen« Marx-Lektüre, Hamburg, 2011, S. 328-351. Bonnet, Alberto R.: Antagonism and difference. Negative dialectics and poststructuralism in view of the critique of modern capitalism, in: Holloway, John/Matamoros, Fernando/Tischler, Sergio (Hg.): Negativity and Revolution. Adorno and political activism, London, 2009, S. 41-78. Brakemeier, Heinz: Eine Assoziation freier Individuen als gesellschaftliches Gesamtsubjekt und Elemente einer gesamtgesellschaftliches Gesamtsubjekt und Elemente einer gesamtwirtschaftlichen Planung in der »Marktwirtschaft«, in: Becker, Jens/ders. (Hg.): Vereinigung freier Individuen. Kritik der Tauschgesellschaft und gesellschaftliches Gesamtsubjekt bei Theodor W. Adorno, Hamburg, 2004, S. 122-199. Brakemeier, Heinz/Becker, Jens/Zöllner, Thomas: Zu Adornos »gesellschaftlichem Gesamtsubjekt«. Kooperativ-genossenschaftliche Planung jenseits von Markt- und Zentralverwaltungswirtschaft, in: Fetscher, Iring/Schmidt, Alfred (Hg.): Emanzipation als Versöhnung. Zu Adornos Kritik der »Warentausch«Gesellschaft und Perspektiven der Transformation, Frankfurt/M, 2002, S. 207-250. Braunstein, Dirk: Adornos Kritik der politischen Ökonomie, Bielefeld, 2011. Brecht, Bertolt: Der Jasager und Neinsager. Vorlagen, Fassungen und Materialien, Berlin, 1966. Brecht, Bertolt: An die Nachgeborenen, Gesammelte Werke Bd. 9, Frankfurt/M, 1967, S. 722-725. Brunkhorst, Hauke: Mehr als eine Flaschenpost. Kritische Theorie und Sozialwissenschaften, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): AdornoKonferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 314-326. Brunkhorst, Hauke: Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, München, 1990.

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Burgmer, Christoph: Das Negative Potential. Gespräche mit Johannes Agnoli, Freiburg, 2002 Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt/M, 2003. Claussen, Detlev: Konformistische Identität. Zur Rolle der Sozialpsychologie in der Kritischen Theorie, in: Schweppenhäuser, Gerthard (Hg.): Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt, 1995, S. 27-40. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München, 2007. Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, Hamburg, 2008. Demirović, Alex: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt/M, 1999. Demirović, Alex: Geist, der fliegen will. Adorno unterm Bann, in: Hirsch, Michael/Müller, Vanessa J./Schafhausen, Nicolaus (Hg.): Adorno. Möglichkeit des Unmöglichen. Vol. 2, Frankfurt/M, 2003, S. 13-24. Demirović, Alex: Freiheit und Menschheit, in: Becker, Jens/Brakemeier, Heinz (Hg.): Vereinigung freier Individuen. Kritik der Tauschgesellschaft und gesellschaftliches Gesamtsubjekt bei Theodor W. Adorno, Hamburg, 2004, S. 18-33. Demirović, Alex: Leidenschaft und Wahrheit. Für einen neuen Modus der Kritik, in: ders. (Hg.): Kritik und Materialität, Münster, 2008, S. 9-40. Dubiel, Helmut: Die Aktualität der Gesellschaftstheorie Adornos, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 293-313. Deutschmann, Christoph: Naturbeherrschung und Arbeitsgesellschaft, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 327-337. Engster, Frank: Die Neue Marx-Lektüre, ihr kritischer Gehalt und die nächste Generation, in: ders./Hoff, Jan: Die Neue Marx-Lektüre im internationalen Kontext, Philosophische Gespräche 28, Berlin, 2012, S. 29-51. Figal, Günter: Über das Nichtidentische zur Dialektik Theodor W. Adornos, in: ders./Ette, Wolfram/Klein, Richard/Peters, Günter (Hg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg/München, 2005, S. 13-23. Geuss, Raymond: Leiden und Erkennen (bei Adorno), in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M, 2005, S. 41-52. Geuss, Raymond: Bürgerliche Philosophie und der Begriff der »Kritik«, in: Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt/M, 2009, S. 165-190.

262 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT

Geuss, Raymond: Kritik der politischen Philosophie. Eine Streitschrift, Hamburg, 2011. Guzzoni, Ute: Identität oder nicht. Zur Kritischen Theorie der Ontologie, Freiburg/München, 1981. Guzzoni, Ute: Sieben Stücke zu Adorno, Freiburg/München, 2003. Hafner, Kornelia: ›Daß der Bann sich löse‹. Annäherungen an Adornos MarxRezeption in: Behrens, Diethard (Hg.): Materialistische Theorie und Praxis: Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Kritik der Politischen Ökonomie, Freiburg, 2005, S. 129-155. Hammer, Espen: Adorno & the Political, New York, 2006. Hawel, Marcus: Negative Kritik und bestimmte Negation. Zur praktischen Seite der kritischen Theorie, in: UTOPIE kreativ 184 (Februar 2006), 2006, S. 101-110. Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe I, Gesammelte Werke Bd. 6, hg. v. Klaus Düsing/Heinz Kimmerle, Hamburg, 1975. Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe III, Gesammelte Werke Bd. 8, hg. v. Rolf Peter Horstmann/Johann H. Trede, Hamburg, 1975. Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, Werke in 20 Bänden Bd. 3, Frankfurt/M, 1986. Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik I,II, Werke in 20 Bänden Bd. 5, 6, Frankfurt/M, 1986. Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in 20 Bänden Bd. 7, Frankfurt/M, 1986. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Werke in 20 Bänden Bd. 8,9,10, Frankfurt/M, 1986. Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart, 2004. Heinrich, Michael: Weltanschauung oder Strategie? Über Dialektik, Materialismus und Kritik in der Kritik der politischen Ökonomie, in: Demirović, Alex (Hg.): Kritik und Materialität, Münster, 2008, S. 60-72. Hirsch, Michael: Utopie der Nichtidentität, in: Hirsch, Michael/Müller, Vanessa J./Schafhausen, Nicolaus (Hg.): Adorno. Möglichkeit des Unmöglichen. Vol. 2, Frankfurt/M, 2003, S. 47-60. Honneth, Axel: Eine Physiognomie der kapitalistischen Lebensform. Skizze der Gesellschaftstheorie Adornos, in: ders. (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M, 2005, S. 165-187. Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M, 1985. Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt/M, 1988.

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Horkheimer, Max: Briefwechsel 1941-1948, Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 17, Frankfurt/M, 1996. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussionen über die Differenz zwischen Positivismus und materialistischer Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussion über Dialektik (1939), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Rettung der Aufklärung. Diskussionen über eine geplante Schrift zur Dialektik (1946), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 12, Frankfurt/M, 1985. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Diskussion über Theorie und Praxis (1956), Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 19, Frankfurt/M, 1996. Holloway, John/Matamoros, Fernando/Tischler, Sergio: Negativity and revolution: Adorno and political activism, in: dies. (Hg.): Negativity and Revolution. Adorno and political activism, London, 2009, S. 3-17. Iber, Christian: Begriff und Kategorien negativer Dialektik bei Adorno, in: Jubara, Annett/Benseler, David (Hg.): Dialektik und Differenz. Festschrift für Milan Prucha, Wiesbaden, 2001, S. 73-89. Jameson, Fredric: Spätmarxismus, Adorno oder die Beharrlichkeit der Dialektik, Hamburg/Berlin, 1992. Jaeggi, Rahel: »Kein Einzelner vermag etwas dagegen«. Adornos Minima Moralia als Kritik von Lebensformen, in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M, 2005, S. 115-140. Jaeggi, Rahel: Was ist Ideologiekritik?, in: dies./Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt/M, 2009, S. 266-298. Jepsen, Per: Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung, Würzburg, 2012. Jepsen, Per: Aporien negativer Politik? Gesellschaftsutopie und Askese der politischen Theorie im Spätwerk Horkheimers und Adornos, in: Ruschig, Ulrich/Schiller, Hans-Ernst (Hg.): Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno, Baden-Baden, 2014, S. 209-226. Krahl, Hans-Jürgen: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/M, 2008. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg, 1990. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VII, Frankfurt/M, 1974. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Bd. X, Frankfurt/M, 1974. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung, Werkausgabe Bd. XI, Frankfurt/M, 1977.

264 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT

Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt/M, 2010. Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M, 2013. Marx, Karl: 1839 bis 1844, Marx-Engels-Werke Bd. 1, Berlin, 1987. Marx, Karl: Juli 1857 bis November 1860, Marx-Engels-Werke Bd. 14, Berlin, 1987. Marx, Karl: März 1875 bis Mai 1883, Marx-Engels-Werke Bd. 19, Berlin, 1973. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, MarxEngels-Werke Bd. 23, Berlin, 2008. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, MarxEngels-Werke Bd. 25, Berlin, 1988. Marx, Karl: Briefe Januar 1856 bis Dezember 1859, Marx-Engels-Werke Bd. 29, Berlin, 1967. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844, MarxEngels-Gesamtausgabe I.1, Berlin, 1974. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Gesamtausgabe II.1.1, 1.2, Berlin, 1974. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (Erste Auflage), Marx-Engels-Gesamtausgabe II.5, Berlin, 1974. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke Bd. 3, Berlin, 1969. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, MarxEngels-Werke Bd. 4, Berlin, 1977. Menke, Christoph: Über eine Weise Nein zu sagen, in: Hirsch, Michael/Müller, Vanessa J./Schafhausen, Nicolaus (Hg.): Adorno. Möglichkeit des Unmöglichen. Vol. 2, Frankfurt/M, 2003, S. 63-69. Menke, Christoph: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M, 2004. Müller, Ulrich: Theodor W. Adornos Negative Dialektik, Darmstadt, 2006. Negt, Oskar: Zum Problem der Aktualität Hegels, in: ders. (Hg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt/M, 1970, S. 7-16. Negt, Oskar: Adornos Begriff der Erfahrung, in: Schweppenhäuser, Gerhard /Wischke, Mirko (Hg.): Impuls und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno, Berlin, 1995, S. 169-180. Negt, Oskar: Adorno als Marxist, in: Perels, Joachim (Hg.): Leiden beredt werden lassen. Beiträge über das Denken Theodor W. Adornos, Hannover, 2006, S. 9-26.

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266 | K ONSTITUTIVE NEGATIVITÄT

Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg, 1993. Schweppenhäuser, Gerhard: Kritische Moralphilosophie als negativer Universalismus. Zum Problem der Normativität bei Adorno, in: ders. (Hg.): Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt, 1995, S. 244-258. Schweppenhäuser, Gerhard: Theodor W. Adorno. Zur Einführung, Hamburg, 2009. Schweppenhäuser, Hermann: Spekulative und negative Dialektik, in: Negt, Oskar (Hg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, Frankfurt/M, 1970, S. 81-93. Seel, Martin: Negative Dialektik. Begriff und Kategorien II: Adornos Analyse des Gebrauchs von Begriffen, in: Honneth, Axel/Menke, Christoph (Hg.): Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, Klassiker Auslegen Bd. 23, Berlin, 2006, S. 71-87. Sohn-Rethel, Alfred: Warenform und Denkform, Frankfurt/M, 1978. Sohn-Rethel, Alfred: Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt/M, 1972. Söllner, Alfons: Angst und Politik. Zur Aktualität Adornos im Spannungsfeld von Politikwissenschaft und Sozialpsychologie, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 338-349. Sommer, Marc N.: Die Differenz in der Vermittlung. Adorno und die Hegel’sche Dialektik, in: Zeitschrift für kritische Theorie Heft 32/33, Lüneburg, 2011, S. 136-154. Theunissen, Michael: Krise der Macht. Thesen zur Theorie des dialektischen Widerspruchs, in: W. R. Beyer (Hg.): Hegel-Jahrbuch 1974, Köln, 1975, S. 318-329. Theunissen, Michael: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt/M, 1980. Theunissen, Michael: Negativität bei Adorno, in: Friedeburg, Ludwig v./Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M, 1983, S. 41-65. Thyen, Anke: Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt/M, 1989. Van Reijen, Willem/Bransen, Jan: Das Verschwinden der Klassengeschichte in der ›Dialektik der Aufklärung‹. Ein Kommentar zu den Textvarianten der Buchausgabe von 1947 gegenüber der Erstveröffentlichung von 1944, in: Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt/M, 1987.

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Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M, 1993. Weyand, Jan: Adornos kritische Theorie des Subjekts, Lüneburg, 2001. Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München, 2001. Wiggershaus, Rolf: Theodor W. Adorno, München, 2006. Wolf, Frieder O.: Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit, Münster, 2009. Wolff, Michael: Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels, Frankfurt/M, 2010. Žižek, Slavoj: The sublime object of ideology, London/New York, 1989.

Edition Moderne Postmoderne Ann-Cathrin Drews, Katharina D. Martin (Hg.) Innen – Außen – Anders Körper im Werk von Gilles Deleuze und Michel Foucault Dezember 2016, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3575-1

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Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.) Ethik – wozu und wie weiter? 2015, 236 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2916-3

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