Verlust des Rettenden oder letzte Rettung: Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung 9783495997383, 9783495483503

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Verlust des Rettenden oder letzte Rettung: Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung
 9783495997383, 9783495483503

Table of contents :
Cover
Vorwort
I. Einleitende Untersuchung
1. Entwicklung der Frage
2. Weg und Methode
3. Wie ist es, suizidal zu sein?
II. Auf dem Weg zu einem Verständnis der suizidalen Erfahrung
1. Geworfenheit und In-der-Welt-sein
2. Selbstwerden und Transzendenz
3. Die Stimmung des Absurden
4. Die Erfahrung der Verzweiflung
5. Die Paradoxie der suizidalen Erfahrung
6. Suizidale Erfahrung und Transzendenz
III. Kleine Geschichte der Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung
1. Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung in der Antike
1.1. Homer und Pindar
1.2. Euripides
1.3. Platon
1.4. Aristoteles
1.5. »Hellenismus« (Stoa, Epikureismus)
1.6. Rom (Cicero, Seneca)
2. Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung im Christentum
2.1. Paulus
2.2. Augustin
2.3. Postaugustinische Verständnisse der suizidalen Erfahrung
3. Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung in der Neuzeit, Aufklärung und Moderne
3.1. Frühe Neuzeit (Shakespeare, More)
3.2. Michel de Montaigne
3.3. Späte Neuzeit und Frühaufklärung
3.4. Aufklärung (Hobbes, Kant)
3.5. David Hume
3.6. Das medizinische Verständnis und die »Nachtseite« des Menschen
3.7. Suizid aus »Schwärmerei«
3.8. Die Entstehung der Psychiatrie und ihr Verständnis der Suizidalen Erfahrung (Reil)
3.9. Psychiatrische Verständnisse der suizidalen Erfahrung im 19. Jahrhundert (Griesinger, Kraepelin)
3.10. Suizid und die Frage nach dem Sinn
3.11. Arthur Schopenhauer
3.12. Psychodynamische Verständnisse im 19. Jahrhundert
3.13. Émile Durkheim
3.14. Sigmund Freud
3.15. Karl Menninger
4. Retrospektive
IV. Der »Fall«Werther
1. Das »Wertherfieber«
2. Die Selbststrukturen bei Werther
3. Wiederkehr der innerenWidersprüchlichkeit
4. Suizidale Erfahrung, innere Widersprüchlichkeit und das Rettende
5. Das Verständnis der suizidalen Erfahrung bei JohannWolfgang Goethe
V. Der »Fall« Heinrich von Kleist
1. Kleists »Soldatenkrise«
2. Kleists »Kant-Krise«
3. Paradoxie des Rettenden und des Sich-töten-könnens
4. Aspekte des Doppelsuizids mit Henriette Vogel
5. Das Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Heinrich von Kleist
VI. Suizidologie I: Verschlossenheit, Unerträglichkeit, Selbstspaltung
1. Der empirischeWeg zur suizidalen Erfahrung
2. Erwachen in die Möglichkeit, sich töten zu können
3. Das präsuizidale Syndrom und die Verschmelzungsphantasien bei Erwin Ringel
4. Suizidale Verschlossenheit und die Problemlösefähigkeiten
5. Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit
6. Die Unerträglichkeit des Selbst und der psychische Schmerz: Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Edwin S. Shneidman
7. Exkurs: Suizidale Selbstspaltung und suizidale Interaktion bei Jürgen Kind
8. Suizidale Erfahrung, Beziehungen und die interpersonale Dimension
9. Suizidentscheidung und Impulsregulationsfähigkeiten
10. Risikofaktoren eines suizidalenWesens
11. Zwischenfazit I
VII. »Der Fall Franza«
1. Das »Todesarten-Projekt«
2. Die autobiographische Dimension des »Falls Franza«
3. Der »Fall« Franza
4. Transzendenz, Trauma und die Möglichkeit, sich töten zu können
5. Suizidale Erfahrung bei Franza
VIII. Der »Fall« Jean Améry
1. Tabuisierung des Suizids?
2. Das Leben und die Tortur
3. Freiheit im letzten Moment?
4. Der eigene Suizid
5. Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Jean Améry
IX. Suizidologie II: Die Krise und das Rettende
1. Kritik der Suizidologie I
2. Karl Jaspers
3. Die suizidologische Rekonstruktion des Zusammenhangs von suizidaler Erfahrung und Rettendem
4. Suizid als Problemlösung?
5. Der überlebte Suizid als Transzendenzerfahrung
6. Zwischenfazit II
X. Eine Phänomenologie der suizidalen Erfahrung
1. Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung I
2. Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung II
3. Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung III
4. Die suizidale Erfahrung und die Frage »Wozu«
5. Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung
6. Sterben zur rechten Zeit?
7. … und alles hat seine Zeit
Nachwort
Literatur

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Jann E. Schlimme

Verlust des Rettenden oder letzte Rettung

KONTEXTE

Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung

ALBER PHNOMENOLOGIE https://doi.org/10.5771/9783495997383

.

B

ALBER PHNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Über dieses Buch: In zehn Untersuchungen wird der suizidalen Erfahrung mit einer phänomenologischen Methode nachgegangen. Wie ist es, suizidal zu sein? Die ineinander greifenden, aber einzeln lesbaren Untersuchungen befragen die suizidale Erfahrung mit der für dieses Phänomen erforderlichen Tiefe, die auch der suizidale Mensch erreicht: Wozu lebe ich? Wem das Leben hierauf keine sinnstiftende Antwort mehr zu geben vermag, wem das Leben unerträglich geworden ist, wem alles Rettende im Leben verloren ist, dem bliebe zumindest noch der Tod als das radikal Andere des Lebens. Umfassend verzweifelt zeigt sich dem Menschen – ganz unbenommen dessen, wie er sich selbst versteht – sein eigener Tod als ein letztes Rettendes. Die Frage, ob sich der Mensch tatsächlich den Tod geben soll, bleibt hingegen ein Leben lang unentschieden und verweist auf die radikale Offenheit des Lebens. Die Untersuchung stellt diese radikale Offenheit des Lebens in den Mittelpunkt der Überlegungen. Neben verschiedenen philosophiegeschichtlichen Ansätzen werden aktuelle humanwissenschaftliche Positionen diskutiert. Außerdem analysieren vier Kapitel »Fälle« aus der Literatur (J. W. Goethes »Die Leiden des jungen Werther«, I. Bachmanns »Der Fall Franza«, H. v. Kleist, J. Améry).

Der Autor: Jann E. Schlimme, Jahrgang 1971, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Studium der Medizin in Lübeck, Wien, Hannover und der Soziologie, Sozialpsychologie und Philosophie in Hannover. Promotion in Medizin 1998, Magister in Soziologie und Sozialpsychologie 2004, Promotion in Philosophie 2010, Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie 2000–2004, Habilitation für Psychiatrie und Psychotherapie 2007 an der Medizinischen Hochschule Hannover, zuletzt dort als Oberarzt tätig. Oberarzt an den Salzburger Universitätskliniken für Psychiatrie 2009/2010. Seit 2010 Marie-Curie-Stipendiat am Institut für Philosophie der Karl-Franzens-Universität Graz. Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde für Philosophie in der Psychiatrie 2005.

https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Jann E. Schlimme Verlust des Rettenden oder letzte Rettung

https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler

KONTEXTE Band 18

https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Jann E. Schlimme

Verlust des Rettenden oder letzte Rettung Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung

Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48350-3

https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Für Lucie

https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

I.

Einleitende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . .

1. 2. 3.

Entwicklung der Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weg und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie ist es, suizidal zu sein? . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 17 24

II.

Auf dem Weg zu einem Verständnis der suizidalen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geworfenheit und In-der-Welt-sein . . . . . . . . . Selbstwerden und Transzendenz . . . . . . . . . . . Die Stimmung des Absurden . . . . . . . . . . . . Die Erfahrung der Verzweiflung . . . . . . . . . . . Die Paradoxie der suizidalen Erfahrung . . . . . . . Suizidale Erfahrung und Transzendenz . . . . . . .

34 36 40 50 56 60 65

1. 2. 3. 4. 5. 6.

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

III. Kleine Geschichte der Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 72 1. Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung in der Antike . 73 1.1. Homer und Pindar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1.2. Euripides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1.3. Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1.4. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. »Hellenismus« (Stoa, Epikureismus) . . . . . . . . 100 1.6. Rom (Cicero, Seneca) . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2.

Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung im Christentum 2.1. Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Augustin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131 136 146

9 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Inhalt

3.

4.

2.3. Postaugustinische Verständnisse der suizidalen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung in der Neuzeit, Aufklärung und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Frühe Neuzeit (Shakespeare, More) . . . . . . . . . 3.2. Michel de Montaigne . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Späte Neuzeit und Frühaufklärung . . . . . . . . . 3.4. Aufklärung (Hobbes, Kant) . . . . . . . . . . . . . 3.5. David Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Das medizinische Verständnis und die »Nachtseite« des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Suizid aus »Schwärmerei« . . . . . . . . . . . . . . 3.8. Die Entstehung der Psychiatrie und ihr Verständnis der Suizidalen Erfahrung (Reil) . . . . . . . . . . . 3.9. Psychiatrische Verständnisse der suizidalen Erfahrung im 19. Jahrhundert (Griesinger, Kraepelin) . . . . . 3.10. Suizid und die Frage nach dem Sinn . . . . . . . . . 3.11. Arthur Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . 3.12. Psychodynamische Verständnisse im 19. Jahrhundert 3.13. Émile Durkheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.14. Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.15. Karl Menninger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Retrospektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV. Der »Fall« Werther 1. 2. 3. 4. 5.

V. 1. 2. 3. 4.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155 164 168 176 194 201 213 233 239 247 261 290 296 310 319 331 344 350 355 357 362 367

Das »Wertherfieber« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Selbststrukturen bei Werther . . . . . . . . . . . . Wiederkehr der inneren Widersprüchlichkeit . . . . . . Suizidale Erfahrung, innere Widersprüchlichkeit und das Rettende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Johann Wolfgang Goethe . . . . . . . . . . . . . . . .

. 373

Der »Fall« Heinrich von Kleist . . . . . . . . . . . . Kleists »Soldatenkrise« . . . . . . . . . . . . . . . . Kleists »Kant-Krise« . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradoxie des Rettenden und des Sich-töten-könnens . Aspekte des Doppelsuizids mit Henriette Vogel . . . .

. . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

. . . . .

. 370

383 385 389 398 403

Inhalt

5.

Das Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Heinrich von Kleist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

406

VI. Suizidologie I: Verschlossenheit, Unerträglichkeit, Selbstspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 1. Der empirische Weg zur suizidalen Erfahrung . . . . . . . 415 2. Erwachen in die Möglichkeit, sich töten zu können . . . . 421 3.

Das präsuizidale Syndrom und die Verschmelzungsphantasien bei Erwin Ringel . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Suizidale Verschlossenheit und die Problemlösefähigkeiten 5. Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Unerträglichkeit des Selbst und der psychische Schmerz: Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Edwin S. Shneidman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Exkurs: Suizidale Selbstspaltung und suizidale Interaktion bei Jürgen Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Suizidale Erfahrung, Beziehungen und die interpersonale Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Suizidentscheidung und Impulsregulationsfähigkeiten . . 10. Risikofaktoren eines suizidalen Wesens . . . . . . . . . . 11. Zwischenfazit I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII. »Der Fall Franza« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das »Todesarten-Projekt« . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die autobiographische Dimension des »Falls Franza« . 3. Der »Fall« Franza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 5.

5.

449

462 468 482 493 500 511

. . . .

516 517 519 521

Transzendenz, Trauma und die Möglichkeit, sich töten zu können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suizidale Erfahrung bei Franza . . . . . . . . . . . . . .

527 532

VIII. Der »Fall« Jean Améry . . . . . 1. Tabuisierung des Suizids? . . . . 2. Das Leben und die Tortur . . . . 3. Freiheit im letzten Moment? . . 4. Der eigene Suizid . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . .

428 441

. . . . .

. . . . . Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Jean Améry.

538 539 547 552 558 560

11 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Inhalt

IX. Suizidologie II: Die Krise und das Rettende . . . . . . . 564 1. Kritik der Suizidologie I . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 2. Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 3. 4. 5. 6.

Die suizidologische Rekonstruktion des Zusammenhangs von suizidaler Erfahrung und Rettendem . . . . . . . . Suizid als Problemlösung? . . . . . . . . . . . . . . . . Der überlebte Suizid als Transzendenzerfahrung . . . . Zwischenfazit II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

X. Eine Phänomenologie der suizidalen Erfahrung 1. Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung I . . 2. Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung II . 3. Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung III . 4. Die suizidale Erfahrung und die Frage »Wozu« . 5. Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung . . . 6. Sterben zur rechten Zeit? . . . . . . . . . . . . 7. … und alles hat seine Zeit . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . .

592 598 601 604

. . . . . . . .

608 609 615 619 626 630 645 658

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665

12 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Vorwort

Über die suizidale Erfahrung in phänomenologischer Einstellung zu schreiben erfordert, sich mit der suizidalen Erfahrung auf innigste Weise auseinanderzusetzen. Dies bedeutet tatsächlich, selbst suizidal zu werden und dann diese eigene Erfahrung in den phänomenologischen Blick zu nehmen. Ein solches Unterfangen ist zuweilen gefährlich, jedenfalls aber herausfordernd. Dennoch lohnt es, sich dieser Herausforderung zu stellen, denn die suizidale Erfahrung ist ein Privileg des Humanen. In ihr wird einem unmissverständlich klar, dass es im eigenen Leben um einen selbst geht und dass einem hiermit die Aufgabe gestellt ist, dieses Leben zu führen. Es ist insofern eine tiefstgreifende Vergewisserung darüber, wie man das eigene Leben zu führen hat, um es als sinnvoll zu erleben. Der Text ist über einen Zeitraum von vielen Jahren in ständiger Befragung der suizidalen Erfahrung entstanden. Dabei handelt es sich dennoch durchweg um frische Texte – und sei es nur intensiv über- und durchgearbeitet. Vorlage waren zum Teil Ausschnitte aus meiner Schrift »Der Verlust des Rettenden oder die letzte Rettung. Zur Phänomenologie der Suizidalität«, welche am 14. März 2007 von der Medizinischen Hochschule Hannover als Habilitationsschrift angenommen wurde. Des Weiteren ist zu erwähnen, dass der »Abschnitt III« Hauptbestandteil meiner Schrift »Eine Untersuchung der philosophischen Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung in der europäischen Kulturgeschichte« war, die am 19. 02. 2010 von der Leibniz-Universität Hannover als philosophische Dissertation angenommen wurde. Auch wenn Schreiben oftmals ein einsames Geschäft ist, entstand das Buch in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Dies meint nicht nur Menschen, die aufgrund ihrer suizidalen Erfahrung mit mir als Ihrem Behandler zu tun hatten, auch wenn Ihnen mein ganz besonderer Dank gilt. Sondern es meint auch Diskutanten von Vorträgen, die ich auf Einzelveranstaltungen und Kongressen zu 13 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Vorwort

diesem Thema halten durfte. Und es meint nicht zuletzt alle Kolleginnen und Kollegen, welche mich von philosophischer und psychiatrischer Seite kritisch und wohlwollend begleitet haben. Hervorheben möchte ich Uwe Blanke, Stefan Bleich, Catharina Bonnemann, Burkhart Brückner, Hinderk M. Emrich, Thomas Fuchs, Uwe Gonther, Martin Heinze, Aileen Könitz, Rolf Kühn, Christian Kupke, Aaron L. Mishara, Michael Musalek, Peter Nickl, Sonja Rinofner-Kreidl, Thomas Schramme, Michael A. Schwartz, Borut Škodlar, Hans Wedler, Bert te Wildt, Manfred Wolfersdorf, Erich Wulff und Friedrich M. Wurst. Nicht zuletzt gilt mein Dank denen, die mich einfach nur persönlich unterstützt haben – was zugegebenermaßen viel schwieriger und langwieriger und deshalb umso wertvoller ist. Jann E. Schlimme, Hannover und Salzburg, Karfreitag 2010

14 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

I. Einleitende Untersuchung

1.

Entwicklung der Frage

Diese Untersuchung der suizidalen Erfahrung fragt nach dem suizidalen Menschen in seiner Welt. Sie nimmt für sich in Anspruch, unabdingbare Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung in einem umfassenden humanen Verständnis aufzuweisen. Dies kann gelingen, wenn sie sich der Erfahrung behutsam nähert, um sie gleichsam von Innen her in den Blick zu bekommen. Hierzu bedarf es einer entsprechenden Ausgangsfrage, die es zunächst zu entwickeln gilt. Nähern wir uns der suizidalen Erfahrung, so zeigt sie sich als ein vielfältiges Phänomen. Es ist aber zugleich ein typisch menschliches Phänomen, da offenbar nur der Mensch in der Lage ist, suizidal zu werden. Sicherlich ist der Mensch aber in den verschiedensten Lebensaltern und den unterschiedlichsten Lebenslagen suizidal. Und die suizidale Erfahrung des unglücklich verliebten, »schwärmerischen« Jugendlichen kann nur schwer mit der entschiedenen, langjährig präsenten suizidalen Erfahrung des sehr alten Mannes im lebenslangen Wissen, sich töten zu können, verglichen werden. Dennoch spüren wir sofort und ohne Nachdenken zu müssen, dass es sich um eine suizidale Erfahrung handelt. Wie können wir hier klarer sehen? Die suizidale Erfahrung ist uns nur als eigene suizidale Erfahrung und als suizidale Erfahrung des anderen Menschen gegeben, aber zugleich jedem Menschen als menschenmögliches Phänomen bekannt. Jedwede suizidale Erfahrung ist dabei immer auch die Verkörperung einer Erfahrungsstruktur, welche als »die suizidale Erfahrung« (insbesondere bei entsprechender nachdenklicher Rückwendung auf die Erfahrung) beinahe wie losgelöst vom einzelnen suizidalen Menschen »über« diesem und allen anderen Menschen zu stehen kommt (obwohl doch der Mensch nur »in« dieser Erfahrung als suizidaler Mensch vorkommen kann). Hinsichtlich der Erfahrungsstruktur könnte also auch 15 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Einleitende Untersuchung

von einem »Konzept« oder »Verständnis« gesprochen werden. Diese Überlegung reflektiert die bekannte Eigenart, dass menschliche Phänomene zum einen etwas Allgemeines, scheinbar unabhängig vom Menschen Existierendes, und zum anderen etwas Einzelnes, nur abhängig vom einzelnen Menschen Existierendes, aufweisen. Entscheidend ist jedoch, dass jedes Verständnis der suizidalen Erfahrung immer einen Bezug auf die wirklich gemachte Erfahrung nimmt. Dabei müssen wir jedoch zugeben, dass es uns keineswegs »mal so eben« gelingt, die suizidale Erfahrung in ihrer Erfahrungsstruktur zu beschreiben. Sicherlich haben wir sofort eine bestimmte Erfahrung vor Augen und spüren vielleicht auch sogar in diese Erfahrung hinein, wenn der Begriff »suizidale Erfahrung« fällt. Was aber genau diese Erfahrung als suizidale ausmacht, sei es für uns oder andere, haben wir damit noch lange nicht erfasst. Genau dies will diese Untersuchung leisten. Sie versteht die suizidale Erfahrung nicht als ein moralisches, philosophisches oder psychiatrisch-psychotherapeutisches Problem, sondern als eine Verständnisherausforderung. Dass diese Erfahrung sich in dieser Herausforderung offenbar immer auch als ein »Problem« zu zeigen vermag, wäre dann als ein inhärenter Aspekt der suizidalen Erfahrung zu beschreiben. Die nur zurückhaltend, unvoreingenommen und ohne vorhergehende Wertungen auffindbare Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung könnte sich demnach zugleich als wesentlicher Gewinn für die an dieser Erfahrung ansetzenden Debatten zeigen, da die (Be-)Gründungen ihrer jeweiligen Ansatzpunkte in der suizidalen Erfahrung erkennbar würden. Gewissermaßen eine Umkehr der sonst üblicherweise angenommenen Begründungsverhältnisse. Wenn wir derart nach der Struktur der suizidalen Erfahrung fragen, fragen wir nach dem »Wie« dieser Erfahrung. Wir fragen also: Wie ist es, suizidal zu sein? Diese Frage scheint für unsere Untersuchung tatsächlich bestens geeignet zu sein, nähert sie sich doch, wie gewünscht, dem Phänomen von Innen bzw. von der natürlicherweise gemachten Erfahrung her. Um jedoch mit dieser Frage als leitende Frage unserer Untersuchung arbeiten zu können, müssen wir uns der Methode versichern, die uns mit dieser Frage mitgeliefert wird. Denn in gewisser Hinsicht kann eine Methode als die auf Dauer gestellte Frage gelten. Sie ist die Technik, mit der in der Untersuchung das Frage-undAntwort-Spiel am Leben erhalten und stetig erneuert wird. Nur mit ihr lässt sich eine Konsequenz und Kohärenz der Untersuchung gewinnen. Es ist also letztlich die Methode, die uns auf dem Untersuchungs16 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Weg und Methode

weg zu einer Antwort führt und uns den Aufweis unabdingbarer Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung in einem umfassenden humanen Verständnis ermöglicht.

2.

Weg und Methode

Mit der Frage nach dem »Wie« haben wir in methodischer Hinsicht bereits wichtige Vorentscheidungen getroffen. Schließlich benötigen wir nicht nur eine Methode, die uns auf eine äußerliche Weise repetitiv daran erinnert, angelegentlich eine bestimmte Frage zu stellen. Sondern unsere Frage nach der Struktur der suizidalen Erfahrung ist bereits in sich vorentscheidend, da hierin die Gretchenfrage wissenschaftlicher Erkenntnis enthalten ist: Wie versteht (oder beschreibt) sich das (methodisch geleitete) fragende Subjekt (der Erkenntnis) in seinem (methodisch geleiteten) Fragen (als Objekt der Erkenntnis) seiner eigenen Methode gemäß? Wir werden nämlich in unserer Frage nach dem »Wie« der Erfahrung auf unsere Erfahrung als Fragender aufmerksam. Gehen wir so an die Sache (die Erfahrung) heran, betreiben wir also eine Selbstaufklärung darüber, wie uns die suizidale Erfahrung als Erfahrung gegeben sein kann. Wir nehmen einen Einstellungswechsel vor, in welchem wir unsere »natürliche Erfahrung« – die suizidale Erfahrung – als Gegenstand betrachten. In dieser reflektierenden Analyse unserer suizidalen Erfahrung ist uns zwar niemals die suizidale Erfahrung als Ganze beschreibbar, da dieses Ganze dieser speziellen Erfahrung eben tatsächlich (und zugleich: unausweichlich) immer nur in der gemachten (»natürlichen«) suizidalen Erfahrung gegeben sein kann. Jedoch ist beschreibbar, wie uns diese Erfahrung als Erfahrung gegeben ist, so dass die Merkmale dieser speziellen Erfahrungsstruktur (sprich: der Struktur der suizidalen Erfahrung) erkennbar werden. Ganz offenbar betreiben wir so etwas wie Phänomenologie, ist doch auch in ihr der soeben beschriebene Einstellungswechsel von fundamentaler methodischer Bedeutung. So jedenfalls versteht Klaus Held die von Edmund Husserl (1859– 1938) aufgefundene Lösung des philosophischen Streits um sichere Erkenntnisse, welcher sich wesentlich auf zwei Anforderungen stützt: a) Erkenntnisse sollen objektiv sein, d. h. von den subjektiven Umständen, unter denen die Erkenntnisse zustande kommen, unabhängig sein; b) Erkenntnisse können uns von ihrer Gültigkeit nur überzeugen, 17 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Einleitende Untersuchung

wenn wir sie subjektiv in einer konkreten Situation nachvollziehen können. Wie sofort ersichtlich, sind diese Anforderungen jedoch nur schwer miteinander in Einklang zu bringen. Husserl zieht daraus, so Heldt, die logische Konsequenz, dass sichere Erkenntnis nur darüber erlangt werden kann, wie die Dinge dem jeweiligen Bewusstsein erscheinen. Seine Maxime »Zu den Sachen selbst!« bezieht sich also darauf, vorurteilslos das »Bewusstsein-von-den-Sachen« zum expliziten Thema zu machen (Held 1995, S. 275 ff.). Mit diesem Einstellungswechsel enthält sich der Phänomenologe nun zugleich einer Beurteilung darüber, ob das, was hier gerade erscheint – dieses Buch beispielsweise – wirklich da ist oder nicht. Eine solche Beurteilung entspräche nämlich der »natürlichen Erfahrung«, in welcher wir gewöhnlicherweise davon ausgehen, dass dieses Buch wirklich als Gegenstand an sich vorhanden ist und dass eine entsprechende Repräsentation im jeweiligen Bewusstsein gegeben ist, insofern wir es wahrnehmen (z. B. lesen) können. Aber gerade diese, der »natürlichen Erfahrung« entsprechende Einstellung müssen wir für eine phänomenologische Analyse aufgeben. Und zwar nicht deshalb, weil skeptisch bezweifelt würde, ob es das Buch nun gibt oder nicht. Im Gegenteil, die Gegebenheit des Buches in der jeweiligen Erfahrung (des Lesens) wird überhaupt gar nicht bezweifelt. Vielmehr ist es gerade diese Gegebenheit selbst, diese (im Lesen sich vollziehende) Relation von wahrgenommenem (gelesenem) Buch und wahrnehmendem (lesendem) Phänomenologen, die in den Blick kommen soll. Dies geht aber nur, wenn wir die »natürliche Einstellung« (des Lesens) außer Kraft setzen, sie aktiv einklammern, uns im fundamentalen Sinne des Urteils über die »Generalthesis« eines naiven Realismus oder eines ebenso naiven Idealismus enthalten. Nur dann können wir die Art und Weise, in der das Buch uns (im Lesen) erscheint, überhaupt in den Blick nehmen. Dieser grundlegende Einstellungswechsel wird gemeinhin als »phänomenologische epoché« oder auch schlicht als epoché bezeichnet (Rinofner-Kreidl 2003, S. 90 ff.; Sepp 2004). Die phänomenologische Methode kann also aufgrund ihres (realiter vollzogenen) Einstellungswechsels die Erfahrung als Erfahrung beschreiben. Dabei gelingt eine solche Beschreibung nicht momenthaft, sondern ist Ergebnis eines (mehr oder weniger) mühsamen und anhaltenden Vollzugs dieses Einstellungswechsels, in welchem schrittweise ein immer präziseres Beschreiben der Strukturmerkmale der jeweiligen Erfahrung gelingt. In freier Variation korrigiert sich diese Beschrei18 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Weg und Methode

bung im Durchspielen aller denkbaren, beispielsweise auch historisch bekannten, spezifischen (beispielsweise suizidalen) Erfahrungen an entsprechend falsifizierenden Einzelbeispielen (vgl. zur Idee der Falsifikation in der Phänomenologie, Sowa 2007). Die phänomenologische Methode kann sich folglich auch selbst in ihrer (philosophischen) Praxis beschreiben. Sie ist insofern nicht nur eine Interpretation im Sinne einer reflexiven Bezugnahme auf eine gegebene Erfahrung (beispielsweise die suizidale Erfahrung), sondern ihrerseits ein Interpretieren bzw. eine eigene Erfahrung (die »phänomenologische Erfahrung« bzw. die des phänomenologischen Philosophierens). Damit macht sie den Widerspruch, sowohl das Subjekt als auch das Objekt der Methode zu sein, beschreibbar und gewinnt hierdurch ein methodenkritisches Potential. Dieser Umstand macht zugleich verständlich, inwiefern die phänomenologische Beschreibung der Erfahrung die »natürliche Erfahrung« weder ersetzen kann, noch diesem Anspruch folgt. Vielmehr erweist sich diese letzte Entzogenheit der »natürlichen Erfahrung« gerade als ein Merkmal aller gemachten (Subjekt-)Erfahrungen und die Erfahrung der Reflexion (und sei es nur als Kontextualisierung) als (üblicherweise vorkommendes) Merkmal der »natürlichen Erfahrung«. Auch in der elaboriertesten Selbstbeschreibung bleibt eben noch wie selbstverständlich etwas Unbeschreibliches (aber präepistemisch Gewisses) übrig, auf welches sich die Erfahrung des Beschreibens präreflexiv zu stützen scheint. (Nur nebenbei: Dies gilt auch für die Erfahrungen, in denen sogar die Kontextualisierung verloren geht. So beispielsweise in einer (rückblickend unbeschreiblichen) traumatischen Erfahrung, welche vollkommen auf den (darin übermächtig werdenden) Anderen in präepistemischer Gewissheit gestützt ist.) Im Begriffszusammenhang der »Reduktion«, verstanden hier als die aktive Einklammerung bzw. das Außer-Kraft-setzen des sonst für selbstverständlich Genommenen, schreibt deshalb Maurice Merleau-Ponty (1908–1961): »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist so die der Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion« (Merleau-Ponty 1966, S. 11). Diese Einsicht beschreibt die »natürliche Erfahrung«, dass es kein Zusammenfallen von »natürlicher Erfahrung« und der Beschreibung dieser »natürlichen Erfahrung« gibt. Dennoch aber gelingt es dem Phänomenologen – im durchgehaltenen Einstellungswechsel –, sonst gewöhnliche Selbstverständlichkeiten der Erfahrung zu benennen (als welche sich beispielsweise auch diese Unmöglichkeit der »voll19 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Einleitende Untersuchung

ständigen Reduktion« verstehen ließe). Es zeigt sich also letztlich, wie wir mit Heinrich Rombach (1923–2004) sagen können, dass es die Erfahrung bzw. das Erleben selbst ist, »das in sich sowohl das Erlebende wie das Erlebte wie das Erlebnis enthält, und zwar so, dass das Erlebende als ›das Erlebnis beinhaltend‹ und das Erlebte als ›in die Welt des Erlebens gehörig‹ erlebt wird« (Rombach 1980, S. 65). Was ist damit gewonnen? In der phänomenologischen Praxis, also im Fortgang der hier vollzogenen Untersuchung, gewinnt sich eine Einsicht in die Strukturmerkmale, welche die suizidale Erfahrung als suizidale Erfahrung charakterisieren und, damit zugleich, in die präreflexiven Gegebenheiten, in welche der Mensch in der suizidalen Erfahrung unweigerlich eingebunden ist. Dabei wird sich auch zeigen, in welcher Weise diese leiblichen, situativen, interpersonalen und lebensgeschichtlichen Einbettungen welche der aufgefundenen Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung vorzeichnen. Es geht somit letztlich auch um die Frage nach denjenigen präreflexiven »Gewohnheiten«, gegen welche reflexiv angearbeitet werden kann. Hierin zeigt sich die phänomenologische Praxis als Besinnung und Erhellung des eigenen Lebensvollzugs im Interesse vertiefter Selbstbestimmung (Schlimme 2010). Denn schließlich werden in der phänomenologischen Praxis auch Änderungspotentiale – bis hin zur prinzipiellen (nicht verschließbaren) Offenheit des Lebens – erkennbar. All diese genannten Punkte machen die phänomenologische Methode für die Psychiatrie fruchtbar. Dies meint zunächst (und traditionell) das Verständnis von (initial fremd bleibenden) Erfahrungsstrukturen eines (psychisch erkrankten) Erfahrungssubjekts (vgl. allgemein hierzu Fuchs 2002; Schwartz & Wiggins 2004, S. 356 ff.; Schlimme 2009a). Es meint aber auch die psychiatrische Praxis selbst, da die oftmals normierend-einengende Praxis des psychiatrisch-psychotherapeutischen Feldes vom spielerischen Außer-Kraft-setzen selbstverständlich erscheinender Gewohnheiten an Humanität gewinnen kann (beispielsweise hinsichtlich notwendiger, da humanisierender »Schlupflöcher« im institutionalisierten Praxisalltag). Insgesamt gewinnen sich also konkrete Änderungspotentiale der eigenen Gewohnheiten, wobei zugleich die Spannungen zwischen den Gewohnheiten und den Möglichkeiten sichtbar werden, auch wenn zugegebenermaßen gilt, dass nicht alle präreflexiven Einbettungen veränderbare Gewohnheiten sind. Der Mensch kann sich also gerade mit der phänomenologischen Methode des »Wie« der Selbstexplikation seines Lebens vergewissern, 20 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Weg und Methode

so wie er es sich selbst als Mensch zur Erscheinung bringt. Jedoch kann er damit nicht mehr über »das Leben« aussagen, als er im Einstellungswechsel beispielsweise auch über die Gegebenheit »des Buches« sagen könnte (Drummond 2007). So können wir die phänomenologische Methode tatsächlich als eine Selbstinterpretation der Erfahrung verstehen (Rombach 1988, S. 138 ff.). Damit stellt sich jedoch notwendigerweise die Frage, was wir mit Hilfe dieser Methode hinsichtlich anderweitiger, eben gerade nicht phänomenologischer Verständnisse der suizidalen Erfahrung aussagen können? Werden wir doch schließlich im Verlauf dieser Untersuchung die mit unterschiedlichsten Methoden gewonnenen Verständnisse der suizidalen Erfahrung – so wie sie nun einmal im »Methodenchamäleon« des Faches Psychiatrie/Psychotherapie vorzufinden sind – detailliert und differenziert analysieren müssen. Üblicherweise werden solche Analysen anderweitiger Verständnisse mit Hilfe der hermeneutischen Methode angegangen (zur sog. »Hermeneutik«, vgl. auch Vetter 2005). Dies hat gute Gründe, erfordert angesichts unseres phänomenologischen Angangs jedoch eine Vergewisserung über die Überschneidungen und Unterschiede hinsichtlich der methodischen Herangehensweisen. Ohne hier auf die historische Entwicklung der hermeneutischen Methode einzugehen, welche im Prinzip bis in die Antike zurückreicht, kann gesagt werden, dass vor allem Friedrich Schleiermacher (1768– 1834) und Wilhelm Dilthey (1833–1911) für die methodische Entwicklung bedeutsam waren. Dilthey bestimmt dabei die Hermeneutik übergreifend als die Methode der Geisteswissenschaften (Riedel 1978). Hans-Georg Gadamer (1900–2002) wiederum bestimmt die Hermeneutik vor allem als eine Kunstlehre des Verstehens, wobei er durchaus die Verständnisaufklärung auch über das »vortheoretische« Leben mit aufnimmt: »Hermeneutik ist die Kunst der Verständigung.« (Gadamer 1993, GW 2, S. 251) Gadamer folgend ermöglicht die hermeneutische Methode auch ein umfangreiches, über die reine Textexegese hinausgehendes Verstehen von Texten. Die hermeneutische Methode zielt letztlich immer auf die Verständigung zwischen unterschiedlichen Gesprächspartnern. Dies gilt im methodischen Sinn auch für das Verständnis von Texten. Dabei zeichnet sich die hermeneutische Methode zunächst durch die folgenden drei Charakteristika aus: a) Die durch die hermeneutische Methode gewonnenen Begriffe und Verständnisse sind situationsbezogen und demnach auch immer 21 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Einleitende Untersuchung

jeweils neu aus ihrer situativen Einbettung zu explizieren. In diesem sprachlichen Artikulationsprozess wird damit zugleich die konkrete Situation im Erkennen und Bestimmen von Etwas als Etwas erschlossen. Ein wesentliches Element der hermeneutischen Logik ist demnach, dass die zur sprachlichen Verständigung herausgearbeiteten Begriffe auf ihre situative Herkunft bezogen bleiben. b) Die hermeneutische Methode funktioniert wie ein »hermeneutischer Zirkel«, in welchem das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne wiederum aus dem Ganzen verstanden werden. Entgegen dem ersten Eindruck, dass es sich damit um einen logischen Fehlschluss handelt, der gewissermaßen anfangslos nur um sich selbst kreist, ist darauf zu verweisen, dass der Hermeneut schon immer in einer präreflexiven »Vorstruktur des Verstehens« steht, von der her er mit seinem »hermeneutischen Zirkel« ansetzt. Gerade hierdurch erweist sich die hermeneutische Methode als »Kunst der Verständigung«, die überhaupt nur im fortschreitenden Gewinn eines bewussten Verständnisses in der gegenseitigen Verständigung anzukommen vermag (Gadamer 1960). c) Das hermeneutisch erschlossene Einzelne wird demnach immer schon als ein Etwas erschlossen, welches sich als in einer Tradition stehend zeigt. Dies gilt ebenso sehr für die »Vorstruktur des Verstehens« als auch für eine explizit artikulierte Begrifflichkeit in ihrem situativen Bezug. Indem der Hermeneut derart die Verständigung mit sich selbst bzw. anderen sucht, eignet er sich nicht nur die jeweilige Tradition an, sondern modifiziert sie zugleich. Er legt dabei auch Rechenschaft über die jeweilige »Vorstruktur des Verstehens« ab, da er die implizierten Grundannahmen sprachlich ausformuliert. Wie sofort erkennbar, ist insbesondere die explizite Beschreibung der »Vorstruktur des Verstehens«, welche ein bestimmtes Verständnis überhaupt erst adäquat ermöglicht, der phänomenologischen Vorgehensweise eng verwandt. Denn auch hier gilt es, sich der präreflexiven Gegebenheiten einer bestimmten Gegebenheit zu vergewissern. Wie aber verhält es sich mit dem Status des vermittels der hermeneutischen Methode gewonnenen Verständnisses? Handelt es sich um ein vollgültiges Verständnis, oder verbleibt es auf der Ebene eines vermittelten Verständnisses? Dem Gedanken des hermeneutischen Zirkels folgend, kann letztlich auch mit der ausgefeiltesten Hermeneutik nichts anderes als ein »Verständnis von einem anderen Verständnis« (beispielsweise der suizidalen Erfahrung) gewonnen werden. Bleibt 22 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Weg und Methode

doch die Differenz zwischen dem (eigenen) Verständnis und dem (anderen) Verständnis trotz aller Verständigungskunst unüberbrückbar bestehen. Dies ist einerseits nachvollziehbar, da der um Verständnis Bemühte auch beim tiefsten Eintauchen in das Verständnis eines anderen Menschen immer noch der Verständnisbemühte bleibt und nicht wirklich der andere Mensch wird. Andererseits erstaunt es, da es uns durchaus immer wieder gelingt, so in ein anderes Verständnis hineinzukommen, dass es (im Sinne des Wortes) das eigene wird. Es ist dann nicht nur ein vollgültiges Verständnis, sondern es ist dann das eigene Verständnis, welches alles weitere Verstehen präreflexiv vorzeichnet. Wenn ein Mensch so in das Verständnis (beispielsweise der suizidalen Erfahrung) eines anderen Menschen hineingerät, so geschieht üblicherweise etwas, was als eine »Differentialinterpretation« (Rombach) bezeichnet werden kann. Der Betreffende findet nämlich in seinem Bemühen um Verständnis, ohne dies primär zu beabsichtigen, Mängel, Widersprüche und Unausgesprochenes im Verständnis des anderen Menschen auf, deren Aufweis, Ausarbeiten und Ausformulieren das besagte Verständnis für ihn (und oftmals auch für andere) in erheblicher Weise besser verständlich macht. Er hat sich dann nicht nur die »Vorstruktur des Verstehens« angeeignet, sondern sie explizit als eine »Vorstruktur des Verstehens« ausformuliert und hiermit zugleich modifiziert. Auf das eigene Verständnis der betreffenden Erfahrung gewendet, bedeutet dies, dass er die Art und Weise, wie ihm diese Erfahrung in diesem anderen Verständnis gegeben ist, zu beschreiben vermag. Insofern ist Rombach zuzustimmen, wenn er die Ansicht formuliert, dass der Betreffende hierbei die im jeweiligen (anderen) Verständnis »intendierte Grundstruktur in größtmöglicher Klarheit aufsucht und hypothetisch nachzeichnet« (Rombach 1993, S. 413). Aufs Äußerste zugespitzt versteht er nun die Erfahrung im Verständnis des anderen Menschen sogar besser, als dieser die Erfahrung selbst verstanden hat. Offensichtlich bedeutet »besser« in diesem Zusammenhang jedoch nicht, dass der andere irgendetwas falsch (oder schlecht) verstanden hätte. Sondern es bezieht sich darauf, dass eben gerade die »Vorstruktur des Verstehens«, die präreflexiven Einbettungen und Gewohnheiten, die im Verständnis des anderen Menschen mitgegeben sind, erkennbar geworden sind (womit zugleich gesagt ist, dass der »Besserversteher« seine eigenen »blinden Flecken« hat). Wenn dieser Interpretation der hermeneutischen Methode zugestimmt wird, so zeigt sich, auf welche Weise historische Verständnisse ein »freies Vari23 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Einleitende Untersuchung

ieren« im Fortgang eines phänomenologischen Beschreibens der Erfahrungsstruktur darstellen, so dass sie – über das einzelne (und in jedem Fall zu leistende) hermeneutische Bemühen hinaus – zugleich in den Dienst der (übergeordneten) phänomenologischen Untersuchung gestellt werden können. Das sich im Fortgang der Untersuchung schrittweise präzisierende Verständnis durchläuft in diesem Sinne also einen vielfältigsten Korrekturprozess. Die Frage »Wie ist es, suizidal zu sein?« beleuchtet dabei aus den verschiedensten Blickwinkeln die unterschiedlichsten suizidalen Erfahrungen und Verständnisse dieser Erfahrungen, wobei es darauf ankommt, ein durchreichendes (stimmiges und konsequentes) Verständnis der Erfahrungsstruktur aufzuweisen. Dann nämlich könnte das gewonnene Verständnis zugleich als »Perspektiventransformator« zwischen den unterschiedlichsten, den Fachdisziplinen verpflichteten Modellen, Konzepten und Verständnissen und den einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen funktionieren. Allerdings muss dazu einschränkend bemerkt werden, dass sich allenfalls ein durchreichendes Verständnis der Frage nach dem »Wie« finden lässt. Es wird also ein phänomenologisches Verständnis der suizidalen Erfahrung gewonnen und kein weiteres empirisches, psychodynamisches oder ethisches Konzept. Denn schließlich ist das Ziel der Untersuchung, die Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung in einem umfassenden humanen Verständnis aufzuweisen.

3.

Wie ist es, suizidal zu sein?

Wie ist es, suizidal zu sein? Diese Frage ist der Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung und sagt offenbar bereits viel darüber aus, wie die Methode sich vollziehen muss, um eine Antwort zu finden. Sowohl die Frage als auch die Methode präformieren die Art und Weise der Antwort. Auch wenn dies nicht weiter verwunderlich ist, erscheint es geboten, im Interesse der »Perspektiventransformation«, sich nochmals darüber Rechenschaft abzulegen, was ein phänomenologisches Verständnis einer bestimmten Erfahrung im Hinblick auf die anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich ebenfalls mit dieser bestimmten Erfahrung beschäftigen, bedeuten kann und was es eben gerade nicht anzubieten vermag. Zunächst ist anzuerkennen, dass es um ein »Wie« geht. In der 24 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Wie ist es, suizidal zu sein?

Frage nach dem »Wie« wird nicht nach möglichen Erklärungen, Risikofaktoren oder Gründen gefragt, sondern nach einem Verständnis. Dieses »Wie« nimmt allerdings an, dass es ein Verständnis gibt, welches auch der Erfahrung des suizidalen Menschen gerecht wird. Es bietet dem Menschen, der aktuell nicht suizidal ist, eine Möglichkeit, den suizidalen Menschen in dessen eigener Perspektive zu verstehen. Aber die Frage geht noch weiter, denn sie fragt zugleich: Wie ist es, als Mensch suizidal zu sein? In diesem Sinne ist es folglich eine »anthropologische« Frage, die nach Strukturmerkmalen der suizidalen Erfahrung des Menschen fragt, so dass sie auch dem aktuell nicht-suizidalen Menschen verständlich werden. Es geht hier zwar nicht primär darum, den Leser in die suizidale Erfahrung hineinzuziehen, auch wenn dies zum Verständnis der Erfahrung streckenweise erforderlich sein wird. Sondern es geht um eine Perspektive, die sowohl die Innenperspektive des suizidalen Menschen »beinhaltet« als auch Einsichten »klassischer Außenperspektiven« »einbehält«. Mit »klassischen Außenperspektiven« sind hier auch empirische bzw. am Naturwissenschaftlichen orientierte Perspektiven gemeint, die den suizidalen Menschen als Gegenstand ihrer Forschung untersuchen. Die methodische Möglichkeit, ein solches Verständnis zu entwickeln, bietet die phänomenologische Methode. Diese ermöglicht uns, wie bereits ausgeführt, diese Frage nach dem »Wie« der suizidalen Erfahrung in der Pluralität der Interpretationen zu bearbeiten. Das Verständnis des »Wie« bietet uns demnach keine einfachen Erklärungen und keine eindeutigen Handlungsleitlinien für die tägliche Praxis. Solche Erklärungen und Handlungsleitlinien mögen hingegen zuweilen wünschenswert erscheinen. Denn die Frage nach der suizidalen Erfahrung ist in den letzten Jahrzehnten vor allem auch unter Hinsicht therapeutischer und humanistischer Bemühungen verstärkt in den Blick gerückt. Die Hoffnung auf Handlungsleitlinien im Umgang mit suizidalen Menschen betrifft Angehörige und Sozialprofis (Psychotherapeuten, Psychiater, Pfleger, Ärzte, Seelsorger, Sozialarbeiter sowie alle anderen sozialen Berufe), die suizidalen Menschen (auf welche Weise auch immer) helfen möchten. Sie berührt damit letztlich alle Menschen. Diese enorme Reichweite erschließt sich nicht aus dem Anspruch einer Suizidverhütung oder Suizidgewährung, sondern daraus, dass der Suizid eine jedem Menschen mögliche Weise von Wirklichkeit ist.

25 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Einleitende Untersuchung

Da wir aber nach dem »Wie« fragen und ein der Frage entsprechendes phänomenologisches Verständnis herausarbeiten werden, können wir mit dieser Untersuchung weder Erklärungen noch Gründe für den Suizid eines einzelnen Menschen anbieten. Insofern können aus dem Verständnis auch keine spezifischen Handlungsleitlinien für die therapeutische, prophylaktische oder gewährende Tätigkeit gewonnen werden. Vielmehr ist das Gewinnen eines Verständnisses selbst eine Praxis (und damit auch Ausdruck einer Handlungsleitlinie). In dieser gilt, dass die Hilfe und der Umgang miteinander im gemeinsamen Verständnis besser gelingen. Aber, auch in dieser Praxis kann, bei aller Gemeinsamkeit, die Unterschiedlichkeit und Eigenheit der Perspektiven weder verwischt noch nivelliert werden. Die Anerkennung der Perspektive des jeweils Anderen ist sowohl Basis als auch Ziel der Gemeinsamkeit, worin sich der Andere im Gemeinsamen verstanden und aufgehoben fühlt. Dieses ist insbesondere beim suizidalen Menschen wichtig. Allerdings ist dessen Innenperspektive schwer zugänglich und zugleich lebensgefährlich. Jedoch, wie sich zeigen wird, schwindet beim suizidalen Menschen die Lebensgefährlichkeit im zunehmenden Verstandenwerden durch den Anderen. Obwohl andererseits der zunächst einsame Entschluss auch ein gemeinsamer werden kann, so dass dann die Lebensgefährlichkeit (mindestens für einen der Beteiligten) erheblich zunimmt. Gerade bezüglich dieser Zusammenhänge wird zu beachten sein, dass wir uns zwar mit dem hier erarbeiteten Verständnis besser in die Perspektive des suizidalen Menschen hineinfühlen und hineindenken können, es aber ein Verständnis der Erfahrungsstruktur bleibt. So kann das phänomenologische Verständnis zwar zeigen, auf welche Weise sich ein handlungsleitendes Verständnis in der suizidalen Erfahrung begründet; ob aber die jeweilige Praxis von dieser Erweiterung ihres eigenen Verständnishorizonts zu profitieren vermag, liegt letztlich in der Hand derjenigen, die in genannter Weise praktisch tätig sind. Mit der Frage nach den Strukturmerkmalen der suizidalen Erfahrung machen wir für uns die Innenperspektive des suizidalen Menschen (als den zunächst Außenstehenden) erschließbar. Im Versuch, Antworten zu finden, gerät also das ganze alltägliche Dasein des suizidalen Menschen in unseren Blick und muss in den aufgefundenen Strukturmerkmalen (für uns und für suizidale Menschen) nachvollziehbar werden. Dabei ist es wichtig zu bemerken, dass wir eben nicht nach dem Suizid fragen, sondern nach der suizidalen Erfahrung. Zwar 26 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Wie ist es, suizidal zu sein?

kann gefragt werden, warum sich ein Mensch getötet hat, aber die Frage nach dem »Wie« richtet sich an den lebenden Menschen in seiner Welt, an sein Erleben. Damit ist der suizidale Mensch (genauer: die suizidale Erfahrung) und nicht der durch einen Suizid verstorbene Mensch im Blickfeld. Es geht also nicht primär darum, ob sich der Mensch letztlich das Leben nimmt oder nicht (auch wenn dies natürlich für den Betreffenden von herausragender Bedeutung ist). Als innenperspektivisches Verständnis der suizidalen Verfassung unterscheidet es sich demnach von den gängigen und konsensfähigen Definitionen aus der psychiatrischen Literatur (Suizidologie), in welchen eher die Frage nach dem »Warum« der suizidalen Verfassung in den Vordergrund rückt. Ist dies durch das Interesse angetrieben, mit Hilfe der Verständnisse zugleich auch Handlungsleitlinien für die eigene Praxis zu finden? Betrachten wir die in der Suizidologie konsensfähigen Definitionen der suizidalen Verfassung. Dabei scheint es zwei Extreme der Bestimmung zu geben. Zum einen gibt es Bestimmungen, die erkennbar um eine »weltanschauliche Urteilsenthaltung« bemüht sind. So schreibt beispielsweise Manfred Wolfersdorf: »Definiert man ›Suizidalität‹, so kann man diese als die Summe aller Erlebens- und Verhaltensweisen von Menschen bezeichnen, die in Gedanken, durch aktives Handeln oder auch durch Handelnlassen von anderen Menschen oder durch eigenes passives Unterlassen von lebenserhaltenden beziehungsweise lebensrettenden Maßnahmen den eigenen Tod anstreben oder als möglichen Ausgang einer Handlung in Kauf nehmen.« (Wolfersdorf 2007, S. 18) Diese Definition bemüht sich um Formalität, was in vielen Zusammenhängen notwendig und sinnvoll ist, darin aber der Frage nach dem »Wie« zielsicher ausweicht. So können wir uns der Definition zwar letztlich anschließen, wissen aber dadurch noch nicht wirklich besser, wie es wohl ist, wenn man suizidal ist. Diese Begriffsbestimmung ist darüber hinaus derart umfassend aus allen konkreten Interpersonalsituationen herausgelöst, dass überdies mit ihrer Hilfe keinerlei Handlungsaussagen möglich sind. In dieser rein formalen Definition gelingt die Enthaltung von weltanschaulichen Fragen nur um den Preis, weder zum Verständnis der suizidalen Verfassung noch zur eigenen Praxis beizutragen. Auf der anderen Seite gibt es (ebenfalls konsensfähige) Definitionen, die auch die Frage nach dem »Wie« (wenn auch zumeist in psychologischer Manier) in den Blick nehmen. In dieser Hinsicht ist die Definition von Thomas Haenel und Walter 27 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Einleitende Untersuchung

Pöldinger aufschlussreich: »Man geht heute davon aus, dass psychosoziale Krisen häufig Vorläufer von Suizidhandlungen sind und dass daher Suizidhandlungen oft eine vermeintliche Lösungsstrategie darstellen. Als Krisen sind Ereignisse und Erlebnisse aufzufassen, die von den Betroffenen nicht mehr sinnvoll verarbeitet und bewältigt werden können und damit die Gefahr einer pathologischen Entwicklung in sich tragen.« (Haenel/Pöldinger 1986, S. 108) Hier geht es, wie wir zugeben müssen, letztlich doch weniger um die Frage nach dem »Wie«, sondern vielmehr um die Frage der Suizidprophylaxe. Diese Frage, mit der wir dann wieder beim »Warum« angekommen sind, lautet: Welches sind die Bedingungen der Möglichkeiten von suizidalen Verfassungen, welches sind die konkreten Ursachen der einzelnen suizidalen Erfahrung? Antworten auf dieses »Warum« nähren die Hoffnung, Suizidalität erklärbar und damit handhabbar zu machen, um Suizide – hier als Ausdruck bzw. Abschluss einer krankhaften Entwicklung verstanden – zu verhindern. Es geht in dieser Praxis vor allem darum, die Menschen in ihren Krisen zu erreichen und ihnen eine andere »Lösungsmöglichkeit« als den Suizid aufzuzeigen. Wir können also festhalten, dass es tatsächlich das Interesse an Handlungsleitlinien für die eigene Praxis ist, welches die Frage nach dem »Warum« aufwirft und die Frage nach der Struktur der suizidalen Erfahrung in den Hintergrund drängt. Wenn suizidale Erfahrungen tatsächlich auf diesem Weg vollständig handhabbar gemacht werden könnten, so könnte zugleich die Vision einer suizidfreien Gesellschaft aufkommen, in der letztlich jeder Suizid verhindert würde. Diese Vision einer suizidfreien Gesellschaft ist aber nur dann verlässlich erreichbar, wenn die Suizidprophylaxe so tief in menschliche Lebenswirklichkeiten eingreifen würde, dass ein gesellschaftlicher Protest gegen die dadurch entstehende Repression und Durchleuchtung des Einzelnen erwartbar würde. Vielleicht würde dies einen suizidalen Protest, eine suizidale Geiselnahme der NichtSuizidalen beispielsweise im Namen der Selbstbestimmung, provozieren. Eventuell haben wir genau diese Situation bereits in der transatlantischen Kultur, wenn man die öffentlichkeitswirksame Strategie der »Right-to-die«-Bewegung aus den letzten Jahren betrachtet (Gehring 2007; Schlimme et al. 2010). Es stellt sich allerdings die Frage, ob ein solches suizidprophylaktisches Hilfsgebot der initial zugrunde liegenden Definition von suizidalen Verfassungen noch folgt? Die Antwort auf diese Frage ist ›Nein‹ : »Die Fachleute sind sich freilich weitgehend einig, dass Suizidprävention niemals eine Verhinderung um 28 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Wie ist es, suizidal zu sein?

jeden Preis ist, noch sein kann. Die gebotene Hilfe muss immer ein Angebot bleiben. Allenfalls zur Überbrückung von Phasen krankheitsbedingter Unzurechnungsfähigkeit sind Zwangsmaßnahmen geboten.« (Wedler et al. 1995, S. 405) In der Hilfe geht es eben darum, wie Hans Wedler betont, die »Zwänge«, die zum Suizid drängen, aufzuheben (Wedler et al. 1995, S. 405). Suizidprophylaxe meint also ihrem Selbstverständnis nach keine gewaltsame »Anti-Suizid-Polizei«, sondern eine Hilfe zur Selbsthilfe, ein offenes Hilfsangebot. Der von suizidprophylaktischer Seite bestehende Wunsch, jedem suizidalen Menschen ein persönliches und auf sie zugehendes und dabei offenes Angebot zu machen, geht allerdings dann doch in der Praxis oft über den Charakter des strengen Hilfsangebots hinaus, als das suizidprophylaktische Handeln in Notfällen als »sichernde Fürsorge« (Wolfersdorf) den Betreffenden zur Hilfe zwingen kann bzw. juristischerseits (beispielsweise in Folge der rechtlichen Stellung des in der institutionalisierten Suizidprophylaxe letztverantwortlichen Arztes in Deutschland und Österreich) zwingen muss (Wedler 2008). Um dies tatsächlich in alltäglichen Interpersonalsituationen tun zu können, ist es freilich – abgesehen von rechtlichen Voraussetzungen – insbesondere erforderlich, suizidale Menschen auch als suizidal zu erkennen. Dies ist keineswegs selbstverständlich, verhalten sich doch etwa 10 % aller suizidalen Menschen im Monat vor ihrem Suizid/Suizidversuch so »normal«, dass sogar rückblickend keinerlei Hinweis auf ihr erwogenes Vorhaben detektiert werden kann (Shneidman 1994). So bietet auch eine Suizidprophylaxe, die in Notfallsituationen zu suizidverhütenden Zwangsmaßnahmen greifen darf, keine totale Prophylaxe. Und vielleicht ist sogar Erwin Ringels (1921–1994) Ansicht zutreffend, dass die erfolgreichste Suizidprophylaxe darin bestünde, »lebensfrohe Menschen« zu erziehen, denen die suizidale Erfahrung nur noch schwer zugänglich ist (Ringel 1999b, S. 42). Dennoch ist gerade beim Bedenken dieser Vision lebensfroher Menschen zu fragen, ob wir als Menschen überhaupt bereit wären, wirklich auf die Möglichkeit des Sich-töten-könnens zu verzichten. Unbenommen davon, wie wir als Einzelne diese Frage beantworten, ist aber offenbar zuzugeben, dass die Hoffnung einer suizidfreien Gesellschaft allenfalls eine Vision bleiben kann. Der Abschied von dieser Vision hat hingegen nur teilweise zu einer veränderten Frage in der Suizidologie geführt, in welcher das »Warum« und das »Wie« (sei es nun in psychologischer oder, wie hier vorgenommen, phänomenologischer Manier) gleichberechtigt bei29 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Einleitende Untersuchung

einander stehen. Vielmehr hat dies zu immer differenzierteren und, zumindest streckenweise, auch komplizierteren Erklärungen geführt, welche zunehmend die Entscheidungsfähigkeit des suizidalen Menschen befragen. Die in der Suizidprophylaxe anerkannte Maßgabe, dass Hilfe nur mit der Entscheidungsfähigkeit des suizidalen Menschen eine Hilfe sein kann, hat so beispielsweise auch zur Verbreitung des Begriffs der »Bilanzierung« geführt. Diese bereits von Alfred Hoche (1865–1943) in seinem am 06. November 1918, also in den letzten Kriegswochen gehaltenen Vortrag »Vom Sterben« eingeführte Konzeption eröffnet ein Sammelbecken für alle anderweitig nicht verständlichen Suizide (Hoche 1919). Denn »Bilanzierung«, so scheint es zunächst, entzieht sich der Frage nach dem »Warum« und könnte so den letzten Rest der Unerklärbarkeit auffangen. Unter dieser Annahme kommt Pöldinger zum folgenden Satz: »Der Suizid ist ein Krankheitssymptom, bei dem Bilanzierungsaspekte eine Rolle spielen.« (Pöldinger 1996) »Bilanzierung« scheint dabei durchaus ein wichtiger Aspekt der suizidalen Erfahrung zu sein. Beispielsweise töten sich verheiratete Männer überproportional häufig im 40. und 65. Lebensjahr, in welchen im eigenen Lebenslauf ganz automatisch Bilanz über das bisher Erreichte und das noch zu Erreichende gezogen wird (Phillips/Smith 1991). Dennoch bleibt irgendwie unklar, was mit »Bilanzierung« wirklich gemeint sein soll. Vielleicht ist es ja auch gerade diese konzeptuelle Unklarheit, die dieses Konzept überhaupt spannend macht. Denn eindeutig nicht gemeint ist eine Bilanzierung, die nach festen Kriterien vorzugehen vermag. Eine solche konzeptuell klar festgelegte Form der Bilanzierung könnte nämlich dann sogar von Außenstehenden vorgenommen werden. Dieser Umbruch des Konzepts, den Hoche selbst in seiner mit Karl Binding verfassten Schrift »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« (1920) vornimmt und der kulturgeschichtlich schreckliche Folgen haben wird, leugnet jedoch das spezifische Merkmal des Suizids, dass es eben gerade um das Sich-töten und nicht um das Getötet-werden geht. Mit der »Bilanzierung« ist also ein spezifisches, selbstbezogenes Verhalten gemeint, welches kein Mensch für einen anderen über- oder abnehmen kann. Es ist aus Sicht des suizidalen Menschen festzuhalten, dass er die ganze Zeit »bilanziert«, indem er sich die Frage stellt: Weiterleben oder Sterben? Hierbei kann freilich das Leben kaum sinnvoll mit dem Tod in der Weise einer »Bonus-Malus-Bilanz« verglichen werden (Schramme 2007). Unzweifelhaft handelt es sich aber um ein »Erwägen«, wie Pöl30 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Wie ist es, suizidal zu sein?

dinger dieses Überlegen in seinem Drei-Stadien-Verlaufsmodell bezeichnet, womit er m. E. den viel besseren Begriff gefunden hat (Pöldinger 1982, S. 13). In seinem Drei-Stadien-Verlaufsmodell wird im »Stadium der Erwägung« der Suizid als Möglichkeit der derzeitigen Lebenssituation erwogen. Im folgenden »Stadium der Ambivalenz« befindet sich dann der suizidale Mensch in einer Hin- und Hergerissenheit zwischen dem Suizid als Möglichkeit und anderen Möglichkeiten, sein Leben weiterhin zu führen. Der suizidale Mensch ist in dieser Verfassung »unentschieden« und sucht besonders häufig Hilfe bei anderen Menschen, macht Ankündigungen oder Andeutungen oder droht sogar mit seinem Suizid. Er wirkt für uns Außenstehende in diesem Stadium in besonderer Weise suizidal. Im dritten und abschließenden »Stadium des Entschlusses« ist dann die Entscheidung für den Suizid gefallen, es herrscht oftmals eine eigenartig anmutende »Ruhe vor dem Sturm«, die letztlich in den Suizid/Suizidversuch mündet (Pöldinger 1996). Es stellt sich hingegen die Frage, ob dieses »Bilanzieren« bzw. Erwägen in der suizidalen Erfahrung wirklich in einer nüchternen und unemotionalen Weise geschieht, wie es für eine derart wichtige Frage empfehlenswert erscheint, oder aber ob es im Gewand der Verzweiflung erfolgt? Wir werden dieser Frage in unserer phänomenologischen Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung, insbesondere im letzten Abschnitt dieser Untersuchung, dezidiert wieder begegnen. Mit dieser Frage ist überdies die vielleicht noch viel wichtigere Frage verbunden, ob denn die dann vom Betreffenden selbst getroffene Entscheidung überhaupt eine selbstbestimmte Entscheidung ist? Die Antwort auf diese Frage hängt selbstverständlich zunächst damit zusammen, was als selbstbestimmte Entscheidung angesehen wird. Darf beispielsweise eine Entscheidung nur dann als selbstbestimmt gelten, wenn sie nach einem »vernünftigen Abwägen aller Optionen« aus einer »exzentrischen Position« erfolgt? Dann wäre es, nach dem bisher Gesagten, zumindest zu bezweifeln, ob sich ein suizidaler Mensch überhaupt (vernünftig) selbstbestimmt entscheiden kann. Schließlich wird jede persönliche Entscheidung aus der jeweiligen Lebenssituation und der aktuellen eigenen Verfassung getroffen. Insofern ist es zwar eine selbst getroffene Entscheidung, es stellt sich aber die Frage nach der Selbstbestimmung in dieser selbst getroffenen Entscheidung und damit nach der Selbstbestimmung in der suizidalen Erfahrung. Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst eine genaue Aufklä31 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Einleitende Untersuchung

rung über die Merkmale der suizidalen Erfahrungsstruktur und der Erfahrungsstruktur der Selbstbestimmung erforderlich. Denn unzweifelhaft trifft der suizidale Mensch seine Entscheidung selbst, mag sie auch noch so spontan und plötzlich oder gar unter »falschen Voraussetzungen« von ihm getroffen werden. Er trifft sie jedoch – und dies ist ebenso unzweifelhaft – aus einer suizidalen Verfassung heraus. Wenn wir also die Struktur dieser Entscheidung verstehen wollen, gilt es, die Struktur der suizidalen Erfahrung (insbesondere in ihren präreflexiven Vorzeichnungen) und der Selbstbestimmung, wie sie in dieser Erfahrung gegeben ist, zu verstehen. In der Kenntnis der Struktur der suizidalen Erfahrung wird also zugleich deutlich werden, ob es sich bei dem Weg zum Suizid um einen Weg handelt, der vom suizidalen Menschen selbst (mehr oder weniger mit-)bestimmt wird oder aber ob er (ausschließlich) durch etwas ihm Außenstehendes bestimmt wird. Wir nehmen also ganz offenbar berechtigterweise an, dass wir mit unserer Untersuchung die Frage beantworten können: Ist der Suizid eines Menschen generell determiniert, oder ist dem Menschen üblicherweise eine Freiheit der Entscheidung möglich? Die Bedeutung eines Verständnisses der suizidalen Erfahrung ist selbstverständlich in den entsprechenden (suizidologischen) Diskursen bekannt. Edwin Shneidman (1918–2009), der als einer der bedeutendsten Suizidologen der letzten Jahrzehnte angesehen werden kann, hat 1993 ein (an einem psychologischen »Wie« orientiertes) Verständnis der suizidalen Erfahrung formuliert. Letztlich steht sein Verständnis am Ende einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Suizidalität und greift damit auch Einsichten auf, die hier erst noch im Fortgang der Untersuchung entwickelt werden müssen. Es kann als ein Minimalkonsens zur Frage nach der suizidalen Erfahrung angesehen werden. Der zentrale Satz seines Verständnisses lautet: »Currently in the Western world, suicide is a conscious act of self-induced annihilation, best understood as a multidimensional malaise in a needful individual who defines an issue for which the suicide is perceived as the best solution.« (Shneidman 1993, S. 4) Shneidman hat sich damit von der Vision einer suizidfreien Gesellschaft insoweit verabschiedet, als er auch für sich selbst die Option des Suizids bewahren möchte: »With some clear exceptions, I am against suicide committed by other people, but I want to reserve that option for myself.« (S. 23) Aber dieser Minimalkonsens reicht, abgesehen von methodischen Beschränkungen einer psychologischen Herangehensweise, nicht aus, um unsere Frage 32 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Wie ist es, suizidal zu sein?

nach der Struktur der suizidalen Erfahrung zu beantworten. Dies wird deutlich, wenn wir ihm die Aussage des wiederholt suizidalen Schriftstellers Hermann Burger (1942–1989) aus seinem »Tractatus logicosuicidalis« gegenüberstellen: »Des Rätsels Lösung will der Suizidant nicht, er will, dass die Lichter auslöschen und alles ein Ende hat.« (Burger 1988, § 497) Die Diskrepanz macht sich selbstredend zunächst an der Sprache fest. Burgers Satz ist vieldeutig und erschreckend, bringt zum Nachdenken und bleibt seltsam unentschieden. Die suizidale Erfahrung scheint offenbar alle Versuche, »die« suizidale Erfahrung zu erklären und endlich zu verstehen, zu übersteigen und in ein Rätsel hineinzutreiben. Darin bestätigt sich erneut der Sinn, ein Verständnis des suizidalen Menschen zu gewinnen, welches sich entlang der Frage nach der Erfahrungsstruktur bewegt: Wie ist es, suizidal zu sein?

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II. Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

In einer ersten Annäherung scheint sich der Suizid als ein Geschehen zu verstehen, in welchem sich ein Mensch selbst das Leben nimmt, ohne den Weg seines Lebens weiter durchzustehen und vielleicht doch noch einen Zugang zum Rettenden im Leben und damit zum Überwinden seiner Verzweiflung zu finden. Die Frage drängt sich auf: Ist der Suizid aber nicht darin, dass er in den Tod führt, zugleich auch ein spezifischer Zugang zu einem Rettenden? Dies erscheint jedoch widersinnig und wirkt absurd. Wäre dies nicht so ernsthaft und lebensbedrohlich, könnte man versucht sein, über diese Absurdität den Kopf zu schütteln. Aber müssen wir den Suizid nicht doch als den in letzter Konsequenz misslungenen Versuch verstehen, das eigene Dasein zu retten? Dieser Versuch misslingt, da er paradoxerweise im eigenen Sterben geschieht und der existentiell unhintergehbaren Vernichtung des eigenen Daseins, dem Tod, endet. Dies erscheint zwar irgendwie sinnlos, ist aber dennoch – und jeder suizidale Mensch könnte wie ein Beweis dieses zweiten Sinns verstanden werden – zuweilen offenbar überaus sinnvoll. Jeder Mensch, gerade wenn er sich in einer unausweichlichen Situation befindet und vorfindet, kann die menschliche Wirklichkeit, sich töten zu können, entdecken. Und wenn alle anderen Möglichkeiten, die eine Verwandlung der unausweichlichen Situation und der unerträglichen Selbststruktur eröffnen könnten, versperrt erscheinen – bzw. aus der Sicht des Betroffenen formuliert: versperrt sind –, erscheint der Sprung in den Abgrund vielleicht tatsächlich sinnvoll, da er die eigene Verzweiflung beendet. Schauen wir uns diese unausweichliche Situation in ihrer Struktur an, so wird deutlich, dass der Suizid keine lebbare Lösung ist – er führt ja in den Tod. Das Wissen um die Möglichkeit, sich töten zu können, führt dennoch den Nachweis, dass die Unausweichlichkeit des Lebens – wenn auch in einer nicht lebbaren Weise – durchbrochen werden kann. Dieses Durchbrechen der Unausweichlichkeit des (irdi34 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

schen) Lebens im eigenen Tod kann wiederum auf vielerlei Weise vorgestellt werden: als schlichte Erleichterung, dass das Leiden endlich ein Ende hat; als vage Sehnsucht, dass es vielleicht doch eine rettende Macht gibt, die sowohl die Verzweiflung als auch den Tod verklärt oder gar als heiße Hoffnung, dass im paradiesischen Jenseits ein personaler Fortbestand in alle Ewigkeit geschieht. Als sicher gilt aber in unserer Kultur jedenfalls, dass aus dem Tod nicht in derselben Personalität ins hiesige Leben zurückgekehrt wird. Wäre es so, könnte schließlich auch der Tod in keiner Weise aus der unausweichlich scheinenden Situation herausführen. Eine als unausweichlich erscheinende Situation kann dabei in vielerlei Hinsicht auftreten. Beispiele finden sich genug: wenn der Mensch sich ganz unten wähnt und keinen Ausweg mehr weiß; wenn er ohne positive Zukunftsperspektive und voller selbstbezüglicher Schlechtig- und Nichtigkeit vor lauter Angst keine Lösung und keine Erleichterung mehr sieht; wenn er sich von anderen fundamental verstoßen erlebt, sich in unerträglicher Sozialität stecken geblieben vorfindet; wenn er eine innerliche Leere auffindet, die direkt zur radikalen »Lösung« aller Schwierigkeiten hinleitet. Ordnen wir diese Beschreibungen auf die sich darin durchhaltende Beschreibung der suizidalen Erfahrung, so zeigt sich: die unausweichliche Situation ängstigt und lässt verzweifeln, so kann man nicht mehr leben – nicht so, nicht in dieser Weise. Mit einem Wort: die betreffende Situation ist unausweichlich und der Betroffene sich selbst unerträglich. Die Frage stellt sich, worauf diese Unausweichlichkeit und Unerträglichkeit hinweist. Sie weist ja nicht nur auf konkrete Merkmale der Situation bzw. des Selbst hin, sondern verweist auch darauf, dass im Leben stehend dem eigenen Leben nicht ausgewichen werden kann. In der Erfahrung der Verzweiflung zeigt sich also, dass der Mensch schon immer in seine interpersonale Welt leiblich eingelassen ist und dass er sich schon immer als derjenige gegeben ist, der er geworden ist. Streng genommen geht es also um zwei zu unterscheidende Aspekte: zum einen die Verfassung des eigenen Daseins als In-der-Welt-sein und zum anderen um die Bewegung des Daseins als Selbstwerden. Dabei verweist die Verzweiflung über diese Unausweichlichkeit des eigenen Lebens darauf, dass dies dem Menschen klar sein kann bzw. dass er sich seiner selbst gewiss werden kann und bei all dem um seine eigene Sterblichkeit weiß.

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Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

1.

Geworfenheit und In-der-Welt-sein

Betrachten wir zunächst das In-der-Welt-sein. Das In-der-Welt-sein des menschlichen Daseins wird von Martin Heidegger 1927 als fundamentale Verfassung beschrieben (Heidegger 1993, S. 52 ff.). Dabei benennt er damit das unhintergehbare und vorgängige Zueinander von Mensch und Welt. Nicht nur alles, was gedacht, gesagt und wahrgenommen werden könne, ist überhaupt nur in diesem Zueinander möglich. Es ermöglicht auch, dass wir Gegenstände schon immer als »von uns unabhängig« wahrnehmen und entsprechend verstehen können. Dieses »unabhängig von uns« kann dem Gedanken des In-derWelt-seins folgend als eine Erfahrungsqualität verstanden werden, die sich im Erfahren – d. h. im Zueinander des Erfahrens – konstituiert und worin ein Gegenstand als Gegenstand – und damit zugleich als »unabhängig von uns« – erfahrbar wird. Heidegger hingegen versteht dieses vorgängige Zueinander nochmals fundamentaler. Das Vorgängige versteht sich ihm als das In-der-Welt-sein, in dem sich sowohl die Welt dem Menschen als seine Welt gibt als auch der Mensch in seiner Welt als er selbst sich gegeben wird. Damit gelangt bei Heidegger das ganze alltägliche Dasein des Menschen in den Blick, als dessen ontologische Verfasstheit er das In-der-Welt-sein benennt: »Das In-der-Welt-sein des Daseins hat sich mit dessen Faktizität je schon in bestimmte Weisen des In-seins zerstreut oder gar zersplittert. Die Mannigfaltigkeit solcher Weisen des In-seins lässt sich exemplarisch durch folgende Aufzählung anzeigen: zutunhaben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen von etwas, verwenden von etwas, aufgeben und in Verlust geraten lassen von etwas, unternehmen, durchsetzen, erkunden, befragen, betrachten, besprechen, bestimmen […] Das In-sein ist nach dem Gesagten keine ›Eigenschaft‹, die das Dasein zuweilen hat, zuweilen auch nicht, ohne die es sein könnte so gut wie mit ihr. Der Mensch ›ist‹ nicht und hat überdies noch ein Seinsverhältnis zur ›Welt‹, die er sich gelegentlich zulegt. Dasein ist nie ›zunächst‹ ein gleichsam in-sein-freies Seiendes, das zuweilen die Laune hat, eine ›Beziehung‹ zur Welt aufzunehmen. Solches Aufnehmen von Beziehungen zur Welt ist nur möglich, weil Dasein als In-der-Welt-sein ist, wie es ist.« (S. 56 f.) Heideggers Daseinsanalyse macht damit die Unausweichlichkeit des In-der-Welt-seins als die Geworfenheit verstehbar, welche sich schon immer in der Befindlichkeit des Menschen aufweist. »Und gerade 36 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Geworfenheit und In-der-Welt-sein

in der gleichgültigsten und harmlosesten Alltäglichkeit kann das Sein des Daseins als nacktes ›Daß es ist und zu sein hat‹ aufbrechen. Das pure »daß es ist« zeigt sich, sein Woher und Wohin bleibt im Dunkel […] Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ›Daß es ist‹ nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-der-Welt-sein das Da ist. Der Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der Überantwortung andeuten. Das in der Befindlichkeit des Daseins erschlossene ›Daß es ist und zu sein hat‹ ist nicht jenes ›Daß‹, das ontologisch-kategorial die der Vorhandenheit zugehörige Tatsächlichkeit ausdrückt. Diese wird nur in einem hinsehenden Feststellen zugänglich.« (S. 134 f.) Die Befindlichkeit, in welcher die Geworfenheit unausweichlich deutlich wird, ist für Heidegger die Angst. »Im Wovor der Angst wird das ›Nichts ist es und nirgends‹ offenbar. Die Aufsässigkeit des innerweltlichen Nichts und Nirgends besagt phänomenal: das Wovor der Angst ist die Welt als solche […] Was beengt, ist nicht dieses oder jenes, aber auch nicht alles Vorhandene zusammen als Summe, sondern die Möglichkeit von Zuhandenem überhaupt, das heißt die Welt selbst. Wenn die Angst sich gelegt hat, dann pflegt die alltägliche Rede zu sagen: ›es war eigentlich nichts‹. Diese Rede trifft in der Tat ontisch das, was es war. Die alltägliche Rede geht auf ein Besorgen und Bereden des Zuhandenen. Wovor die Angst sich ängstigt, ist nichts von dem innerweltlich Zuhandenen. Allein dieses Nichts von Zuhandenem, das die alltägliche umsichtige Rede einzig versteht, ist kein totales Nichts. Das Nichts von Zuhandenheit gründet im ursprünglichen ›Etwas‹, in der Welt. Diese jedoch gehört ontologisch wesenhaft zum Sein des Daseins als In-der-Welt-sein. Wenn sich demnach als das Wovor der Angst das Nichts, das heißt die Welt als solche herausstellt, dann besagt das: wovor die Angst sich ängstigt, ist das In-der-Welt-sein selbst. Das Sichängstigen erschließt ursprünglich und direkt die Welt als Welt. Nicht wird etwa zunächst durch Überlegung von innerweltlich Seiendem abgesehen und nur noch die Welt gedacht, vor der dann die Angst entsteht, sondern die Angst erschließt als Modus der Befindlichkeit allererst die Welt als Welt. Das bedeutet jedoch nicht, daß in der Angst die Weltlichkeit der Welt begriffen wird.« (S. 186 f.)

Gehen wir dem hier von Heidegger aufgewiesenen Charakter der Geworfenheit und der Befindlichkeit der Angst nach, so könnte vermutet werden, dass die Antwort auf die Angst die Entdeckung der eigenen Möglichkeit, sich töten zu können, sei. Dies wäre insofern naheliegend, da es im Suizid um das Beenden des In-der-Welt-seins geht. Fragen wir also nach Heideggers Einstellung zum Suizid, die – so wäre zu ver37 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

muten – sich auf dem Boden seiner Daseinsanalyse verstehen lassen müsste. Der Tod, so betont Heidegger in seinen herausragenden Analysen hierzu, ist dem Menschen in seinem Dasein schon immer zugehörig. »Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.« (S. 245) Er verweist in dieser Hinsicht auf den berühmten Ausspruch von Johannes von Tepl (1342/50–1414/15) in seinem »Ackermann aus Böhmen« (1401): »Sobald ein Mensch lebend wird, so bald ist er alt genug zu sterben.« (Tepl 1972, S. 41) Dabei bleibt das »Wann« des Todes im Dunkeln, ohne dass darin seine Gewissheit abstreitbar würde. Zugleich jedoch, so Heidegger, eröffnet die Gewissheit der eigenen Sterblichkeit die Einsicht in die eigene Geworfenheit und damit in das In-der-Welt-sein, in welchem sich der Mensch um sich sorgt. »Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins.« (Heidegger 1993, S. 258) Der Mensch muss sich insofern seinem Dasein zum Tode unverdeckt stellen. Dieses bedeutet jedoch nicht ein umsichtiges Besorgen der Verwirklichung des Todes, denn im Suizid »entzöge sich aber das Dasein gerade den Boden für ein existierendes Sein zum Tode.« (S. 261) Vielmehr geht es darum, das stete Sein zum Tod als die eigenste und stets präsente Möglichkeit zu verstehen. Dies führt den Menschen, so Heidegger, in die Angst, denn »in ihr befindet sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz.« (S. 266) Nur hierdurch nun findet der Mensch darein, er selbst zu sein und ängstigt sich in seiner »Freiheit zum Tode«. Unsere Sterblichkeit ist für ein Verständnis der suizidalen Erfahrung von herausragender Bedeutung. Insofern gilt es, sich der wesentlichen Strukturmerkmale des Todesverständnisses klar zu werden, die hier von Heidegger beschrieben werden. Als diese sind zu nennen: a) der Tod ist unausweichlich, allerdings ist der Zeitpunkt seines Eintretens ungewiss; b) der Tod selbst ist unbegreiflich (»unvorstellbar«, »undenkbar«), jegliche Innenperspektive des Todes ist dem Menschen unmöglich, da eine Innenperspektive immer voraussetzt, am Leben zu sein; c) der Tod ist unumkehrbar, aus dem »Todesschlaf« erwacht der Mensch nicht mehr ins diesseitige Leben. Diese Analyse unserer Sterblichkeit wird bereits 1919 von Karl Jaspers (1883–1969) in seiner »Psychologie der Weltanschauungen« als Grenzsituation vorformuliert (Jaspers 1919, S. 229 ff.). Er nimmt sie 1932 in seiner Philosophie er38 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Geworfenheit und In-der-Welt-sein

neut auf und reformuliert sie in differenzierterer Form (Jaspers 1932/ 1994, II S. 220 ff.). Da der Tod als »Tod des Nächsten« und als »mein Tod« erfahren wird, zugleich aber letztlich als »mein Tod« unerfahrbar bleibt, vermag sich das schlichte »Dasein« im Angesicht des Todes zur geführten Existenz aufzuschwingen, ohne jedoch eine eindeutige Haltung zum Tod einnehmen zu können (wie beispielsweise die Angst für Heidegger) (S. 222 ff.). »So erzwingt die Gegenwart der Grenzsituation des Todes für Existenz die Doppeltheit aller Daseinserfahrung im Handeln: was angesichts des Todes wesentlich bleibt, ist existierend getan; was hinfällig wird, ist bloß Dasein.« (S. 223) Da Heidegger die Angst in der »vorlaufenden« Beziehung zum eigenen Tod ausmacht, könnte die Angst im jaspersschen Sinne auch als Grenzsituation bezeichnet werden. Jedoch ist zu fragen, ob die Existenz dann nicht vor lauter Angst erstarren müsste. Jaspers zielt insofern auch vor allem darauf, dass der Mensch, wenn er sich im Angesicht des Todes seiner selbst als Existenz klar wird und diese zu ergreifen vermag, den Tod nicht nur als ängstigendes »Nichtsein«, sondern zugleich auch als »Vollendung unbegreiflicher Art« aufnimmt (S. 229). Gerade dies ist die vertiefte Einsicht in die eigene Grenzsituation der Sterblichkeit, dass die Vergewisserung meiner selbst als »Erscheinung in der Zeit« erst und nur angesichts meiner Sterblichkeit gelingen kann und dass ich als Existenz im jaspersschen Sinne meinen Tod mitgestalte, ihn mir selbst zur Erscheinung bringe. Anders gesagt: so wie der Tod mir begegnet, so wie er mir erscheint, hängt wesentlich davon ab, wie ich mir selbst erscheine und mich selbst verstehe. Aber kehren wir zu Heidegger zurück. Heidegger redet dem Suizid nicht das Wort. Vielmehr verweist er darauf, dass der Mensch stets in einer Freiheit zum Tode lebt (»Vorlaufen in den Tod«, S. 262). Dies bedeutet auch, dass ihm der Suizid eine stete Daseinswirklichkeit ist. Nur in der Angst vor dieser Freiheit zum Tode aber, so das Heideggersche Verständnis, kann der Mensch sein In-der-Welt-sein als er selbst leben (Rentsch 2003, S. 71). Nun legt dieses Verständnis allerdings das menschliche Dasein auf eine bestimmte Verfassung fest, die nicht nur in ihrer Unausweichlichkeit schon immer erreicht ist, sondern nicht selbst in einem Vorgängigen verstanden werden könne. Heidegger folgend versteht sich dies zunächst so, dass der Mensch sich als »der, der in seiner Welt ist«, gegeben wird. Diese Verfassung als die eigene zu erkennen und als die Weise zu leben, die das eigene Dasein erschließt, scheint die »Lösung« bei Heidegger zu sein. Der Mensch scheint bei 39 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

Heidegger in dieser Entschlossenheit also so mit sich ins Reine kommen zu können, dass er eine ein für alle Mal zutreffende Weise von Erschlossenheit von Welt findet, die als die eigentliche gelten könnte. Diese These ist jedoch schwer zu halten (Rombach 1993, S. 344). Denn das In-der-Welt-sein verschafft sich, bei aller Reflexion auf sich selbst, keinen anderen Zugang zu sich, als es ihn bereits hat. Es erschließt sich sich selbst als In-der-Welt-sein und bleibt auch in diesem Erschließen als ein solches verfasst. So kann es sich in seiner präreflexiven Gegebenheit nicht nur niemals vollständig erschließen, sondern erfährt sich als in die Frage nach dem Ursprung seines In-der-Welt-seins gestellt. Es geht folglich für uns in dieser Untersuchung auch um die Frage nach dem Ursprung unseres In-der-Welt-seins, als welches wir uns als Mensch vorfinden müssen. Fragen wir also nach einem ursprünglichen Geschehen, in welchem uns das In-der-Welt-sein als unsere (dann wiederum beschreibbare) Verfassung hervorgeht.

2.

Selbstwerden und Transzendenz

Die Frage nach einem Geschehen, welches sich selbst Raum gibt und aus sich selbst hervorgehend ein In-der-Welt-sein hervorbringt, hat Heinrich Rombach 1971 in seiner »Strukturontologie« mit dem Gedanken der »Autogenese« aufgenommen und einem möglichen Verständnis zugeführt (Rombach 1988). Wollen wir der Frage weiter nachgehen (auch wenn dies nicht das zentrale Ziel dieser Untersuchung ist, so scheint es ja dennoch von Bedeutung), so gilt es also, das rombachsche Denken weiter zu verfolgen. Dabei gilt sein Denken, wie Stenger die gängigen (Vor-)urteile zusammenfasst, als »nicht fassbar«, »utopisch« oder »hybrid«, jedenfalls aber als schwer verständlich (Stenger 2001, S. 42). Wenn also im Folgenden versucht wird, das rombachsche »Strukturdenken« darzustellen, so erfordert dies im Sinne unserer phänomenologischen Methode bei aller methodenkritischen Einstellung, dass wir selbst versuchen, mit und in dem Strukturdenken zu denken. Die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens ist naheliegend und ist auch Rombach bekannt, wie er in der Einleitung seiner »Strukturontologie« ausführt (Rombach 1988, S. 21 ff.). »Das bringt es mit sich, dass das vorliegende Buch eigentlich von hinten gelesen werden muss.« (S. 22) Dies ist allerdings aus verständlichen Gründen nicht gut möglich. Hingegen: »Wer jedoch in den Gedanken hineingekommen 40 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstwerden und Transzendenz

ist, geht darin die verschiedensten Straßen. Er wird von immer wieder anderer Seite an die Knotenpunkte kommen; die Identität des Gedankens wird dadurch so wenig gestört, dass sie vielleicht erst mit dieser Mobilität erreicht ist.« (S. 22) Versuchen wir es also! Was soll der Gedanke der Autogenese beschreiben? Autogenese beschreibt, dass sich alles aus sich hervorbringt. Konsequent verstanden bedeutet dies, dass nicht ein »Sein selbst« dem Seienden Raum gibt, sondern dass sich das Seiende selbst Raum gibt. Dies klingt zunächst unverständlich. Andererseits erscheint es durchaus schlüssig, da nach einem solchen »Sein selbst« gefragt werden kann (Ontologie). Rombachs Antwort auf diese Frage – seine »Ontologie«, wenn wir in diesem Sprachgebrauch bleiben – wäre dann die »Autogenese« bzw. die Eigenbewegung der Struktur. Zunächst kann dieser Gedanke Rombachs so verstanden werden, dass alles in seiner momentanen Verfasstheit (Struktur) zu sehen ist und dass sich diese in einer Bewegung befindet, in der sich die Struktur »fundamental« aus sich selbst hervorbringt. Ein solches Werden in sich bzw. aus sich heraus vollzieht sich in einer »strukturimmanenten Dialektik«, einer permanenten »Selbstkorrektur« (S. 80 ff., S. 141 ff.). Dabei können wir im Sinne Rombachs sagen: nur weil die momentane Struktur in sich einen Gegenhalt hat, kann sie sich aus sich weiter und anders hervorbringen. Diese immanente Dialektik der Autogenese entspricht der »Spiegelung« der momentanen Verfasstheit der Struktur in sich selbst. Sie unterscheidet in sich zwei »Perspektiven«, wobei jede »Perspektive« die Struktur im Ganzen jeweils anders sieht. Diese »Doppelung« legt die Struktur in ein »von Innen her« (Selbst) und ein »von Außen her« (Welt) auseinander, die schon immer zueinander bezogen sind (In-der-Welt-sein) (S. 117 ff.). Diese strukturimmanente Dialektik erinnert an die hegelsche Dialektik, wonach ebenfalls alles an sich selbst sein Gegenteil hat. Dabei geht es bei Rombach jedoch nicht – wie bei Hegel – um logische Gegensätze, sondern um gelebte Gegensätze der aktuellen Struktur. Diese strukturimmanenten Gegensätze verweisen zugleich auf die bereits gewordene Selbigkeit – oder auch Identität – der Struktur (S. 89 ff., S. 102 ff.). Zugleich aber kann sich Korrektur nicht nur im Bestehenden erschöpfen. »Das Korrekturgeschehen erreicht zwar kein letztes Ziel, es legt es gar nicht darauf an, dennoch bedeutet es Hebung, Besserung, Steigerung.« (S. 89) Wie Rombach argumentiert, zielt die Selbstkorrektur der Struktur auf das Gemeinte, ohne dass das jeweils Anvisierte hierdurch ausgeschöpft werden könnte. Dieser Gedanke wird 41 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

verständlicher, wenn wir die Interpretation umkehren. Denn das Gemeinte kann Rombach folgend nicht als ein bereits im Vorfeld (ein für alle Mal) festliegendes Ziel einer Struktur verstanden werden, sondern kann nur als die »Konsequenz« der steten Korrektur verstanden werden (S. 87 ff.). Genauer wäre also nicht von »dem Anvisierten« zu sprechen, sondern vom »Anvisieren« bzw. vom »Meinen«. Verstehen wir, in diesem Punkt Rombach folgend, das Gemeinte als die Konsequenz des strukturimmanenten Korrekturgeschehens, wird direkt einsichtig, inwiefern das Gemeinte einer Struktur zu keinem Zeitpunkt vollständig erschöpft sein kann. Trotz aller Konsequenz und gewordenen Selbigkeit und Unverwechselbarkeit der Struktur bleibt somit das Unausschöpfbare in diesem Geschehen bestehen. Das Werden der Struktur versteht sich so nach Rombach als ein schrittweises Aufklaren der Struktur selbst, in der sich eine Eigenheit des Gewordenen findet, die »weder eine Vorwegnahme noch ein Resultat« (Rombach 1993, S. 108) ist. Eigenheit meint, dass das gefundene »Innere« unverwechselbar – oder wie Rombach an anderer Stelle sagt: eindeutig – ist. Allerdings ist diese Unverwechselbarkeit nur in sich selbst klar. Es ist diese Eigenart von Strukturen, dass sie nur von Innen heraus verständlich (interpretiert) werden können, die es demnach tatsächlich erforderlich macht, aus der Innenperspektive zu blicken. Im Hinblick auf das hier zu untersuchende Phänomen der suizidalen Erfahrung bedeutet dies, dass wir in der Perspektive des suizidalen Menschen blicken müssen, wenn wir die suizidale Erfahrung als Erfahrung verstehen wollen. Diese methodische Konsequenz ist unausweichlich und verweist zudem darauf, dass sich eine Struktur nicht selbst ausweichen kann. Sie kommt ganz unausweichlich auf sich selbst zurück und findet sich als diejenige (selbst) vor, die sie unverwechselbar zu sein hat. In diesem Sinne versteht sich dem rombachschen Gedanken folgend auch das, was Selbst oder Selbstheit genannt werden kann (Rombach 1988, S. 117 ff., bes. 130 ff.). »Selbstheit ist Innerlichkeit auf einer bestimmten Stufe der Reduplikation […] In der Selbstheit kommt Struktur vor sich. Dies freilich nicht als »objektive« Gegebenheit. Vielmehr geschieht das Vor-sich-kommen in einem eigenen Grundzug der Artikulationsbewegung, den wir »Eindrehung« nennen. Eindrehung ergibt sich aus der immer strenger werdenden Vernetzung des Bedeutungsgefüges, das die Struktur in sich ausarbeitet. Je mehr sich die Bedeutungen aufeinander einspielen, desto stringenter werden die Beziehungen, desto weniger können sie ihrer eigenen Konsequenz entfliehen. In die42 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstwerden und Transzendenz

sem Steigerungsgeschehen liegt Unausweichlichkeit. Die Unausweichlichkeit ist der negative Ausdruck des Vor-sich-kommens in einer Selbstbegegnung, die in den Sachen selbst liegt, in der erlebten Welt, im ausgearbeiteten Lebensgefüge. Dabei braucht sich die Struktur nicht zu »erblicken«, nicht an sich zu »denken«; sie läuft lebensmäßig in sich selber auf und ist damit vor die Notwendigkeit ihrer selbst – d. h. vor sich als Notwendigkeit – gebracht. Es handelt sich hier um einen Vorgang, der sich dergestalt in sich redupliziert, dass sich ungefähre Bedeutungsfixierungen im Zurückkommen auf schärfere Bedeutungsfixierungen zu immer größerer Eindeutigkeit bringen. Eindeutigkeit und Unausweichlichkeit sind Momente der Situation, in der ein Selbst »vor sich« kommt.« (S. 118) Unausweichlichkeit ist demnach auch so zu verstehen, dass sich das gewordene Selbst stets wiederkehrt. Eine Wiederkehr, aus der es – zumindest in seinem Leben – nicht einfach so heraus kann und die ihm selbst reflexiv klar werden kann. Das Selbst zeichnet sich demnach sowohl durch Unverwechselbarkeit als auch durch innenperspektivische Unausweichlichkeit aus: Ich kann mich selbst nicht verlassen und nur auf eine Weise verwechseln, in der eine präreflexive Nichtverwechselung bereits vollzogen sein muss. Diese gefundene Unausweichlichkeit erinnert an die »ewige Wiederkehr des Gleichen«, welche zunächst der Beschreibung der letztlichen Unausschöpfbarkeit des Strukturgeschehens zu widersprechen scheint. Dieser Widerspruch ist jedoch nur ein scheinbarer. Denn als »unerschöpflich« versteht sich die Struktur ja in dem Sinne, als sich das strukturimmanente Korrekturgeschehen in seiner Konsequenz nicht erschöpfend bis zu einem endgültig unkorrigierbaren Punkt durchfinden kann. Anders gesagt, und mit Blick auf unsere methodische Einführung formuliert: die »natürliche Erfahrung« kann reflexiv zu keinem Zeitpunkt vollständig »eingeholt« bzw. erschöpfend erkannt und beschrieben werden. In einem wieder anderen Sprachgebrauch kann gesagt werden, dass dieses Unerschöpfliche nur ein anderes Wort für Transzendenz ist (vgl. Schlimme/Emrich 2002). So verweist beispielsweise auch Jean-Luc Marion in seinen Untersuchungen wiederholt darauf, dass es auch das Geben eines »Unendlich mehr« gibt, welches alle Konzepte, Intentionen und modellhaften Vorstellungen sättigt und saturiert (Marion 2002, S. 225 ff.). Transzendenz versteht sich bei ihm als ein »gesättigtes Phänomen«, womit er meint, dass demjenigen hinsichtlich Vergewisserung und Lebensvollzug mehr gegeben ist, als er aktuell reflexiv zu vergewissern und zu vollziehen vermag (obwohl 43 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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diese Unmöglichkeit einer vollständigen reflexiven Beschreibung ja, kritisch gesprochen, bei allen Erfahrungen gegeben ist) (S. 226). Auch Heinrich Rombach nutzt unterschiedlichste Begriffe, um diese wichtige Eigenart von Strukturen zu benennen und verständlich zu machen. So spricht er im Rahmen seiner philosophischen Anthropologie u. a. auch vom »innersten Abgrund« und vom »Nichts« im zenbuddhistischen Sinne (Rombach 1993, S. 283 ff.). Er meint damit die Transzendenz, welche im christlichen Sprachgebrauch am besten mit »Gott« benannt werden kann. Die Konsequenz des Strukturgedankens findet sich in diesem Sinne auch im Hinblick auf unser Selbstverständnis. Radikal gesprochen: auch der Mensch kann sich selbst nur als eine Interpretation seiner selbst verstehen. »Das erstaunlichste am Menschen, wenigstens am abendländischen, ist die Selbstsicherheit des Ich. Nichts scheint ihm so deutlich zu sein, wie dies, dass er dieses Ich ist, als das er sich erfasst. Mit nichts glaubt er so unmittelbar verbunden zu sein wie mit seinem Ich, und nichts scheint ihm so bekannt wie dieses Ich, mit dem er überall herumgeht, ständig befasst ist, einen Selbstbesitz sicherster Form hat (Descartes). In Wahrheit aber ist dieses Ich ein Schacht von Wirklichkeiten, in den noch niemand hinuntergestiegen und aus dem noch niemand heraufgekommen ist. Nur die allerobersten Erscheinungen sind uns bekannt, aber wir wissen nicht, was uns im Grunde bestimmt und selbst die Spanne eines langen Lebens reicht nicht aus, das, was wir in Wahrheit sind, in Erfahrung zu bringen. Den inneren Abgrund entdecken wir vielleicht eines Tages inmitten unseres Selbstseins. Da ist dann nichts mehr, was man fassen könnte, nichts, worauf man sich beziehen und gründen dürfte. Im Letzten gibt es keine Identität. Wir sind nur Interpretationen unserer selbst.« (S. 285 f.)

Selbstverständlich muss diese Aussage Rombachs ihrerseits als Interpretation verstanden werden, aber sie zielt auf das Gemeinte. Das Gemeinte ist die Verpflichtung des Menschen auf die »Lebendigkeit des Gedankens«, im Innersten unerschöpflich zu sein (S. 287). Rombach versteht dies als den ursprünglichen Erweis, dass sich uns unser Leben immer wieder als unerschöpflich erweist. Dieser Gedanke ist zunächst schwer verständlich, auch da er eigentümlich »mystisch-religiös« wirkt. Diesem Eindruck kann jedoch mit dem methodenkritischen Hinweis abgeholfen werden, dass diese Beschreibung unserer Erfahrungsstruktur eine Beschreibung in phänomenologischer Einstellung ist, und es sich folglich nicht um die wirklich gegebene Erfahrung in »natürlicher Einstellung« handelt, sondern sie eben nur zu beschreiben sich bemüht. Vielleicht ist ein solcher Eindruck aber auch Ausdruck 44 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstwerden und Transzendenz

dessen, dass dieses Denken wirklich aufs Ganze zielt. Jedenfalls gilt es, dieses »Unerschöpfliche« nicht abseits der Erfahrung als eine wie auch immer geartete Entität anzusiedeln. Denn es ist ja gerade dieses Unerschöpfliche in der Erfahrung gemeint. Die rombachsche Beschreibung des Lebens als Autogenese bietet folglich ein fruchtbares Verständnis für die Eigenart des Lebens, dass es wahrhaft Neues geben kann. Neues zu verstehen erfordert, und Rombach betont diesen Zusammenhang wiederholt, dass verstanden wird, wie sich das bereits Gewordene – entgegen aller Unausweichlichkeit und Unverwechselbarkeit – wirklich übersteigt bzw. überwindet. Denn schließlich wird erst in einem Durchbrechen zu einem neuen Selbstwerden das unausweichlich Gewordene transzendiert. Der Ursprung eines jeden Selbstwerdens versteht sich folglich ein schlagartiger, qualitativer Sprung in sich selbst (also dieses Selbstwerden) hinein. In diesem Sprung eröffnen sich bestimmte Strukturmerkmale, die sich dann in der »immanenten Dialektik« entfalten. Diesen Sprung nennt Rombach »Durchbruch« (Rombach 1988, S. 224 ff.). Der »Durchbruch« transzendiert gewissermaßen die vorlaufende Struktur, die darin zugleich zurückgelassen wird. In diesem Sprung wird der »Bruch« zwischen der vorlaufenden und der schlagartig beginnenden Struktur deutlich, der jedoch in letzter Konsequenz, und trotz aller rückblickenden Beschreibungsbemühungen, unbestimmbar bleibt. Insofern kann der Bruch auch als transzendent bezeichnet werden. Dem Strukturgedanken folgend steht dieser Bruch aber nicht neben oder über der jeweiligen Struktur, sondern ist konkret deren fruchtbarer »Nullpunkt« und Ursprung: »Es gibt keine Überleitungen, es gibt nur den ›Sprung‹, der über das Non hinweg in einen erst danach sichtbaren Bereich führt.« (Rombach 1988, S. 229) In diesem Sinne können wir Rombachs Sprachstil aufgreifend sagen: Nichts ist und bleibt der ursprüngliche Anfang eines jeden Selbstwerdens. Es gibt kein Sein als Fundament, sondern immer nur Nichts als »Fundament«: kein Sein, kein Ist, keine Struktur. Nichts bleibt somit auch stets das Letzte in unseren Beschreibungsbemühungen unseres Lebens als Autogenese. Damit drängt sich die Frage auf: Wäre dann nicht alles einfach und klar, wenn sich der Mensch immer wieder auf diese innerste »Leere« zurückziehen könnte? Die These der fundamentalen Zugänglichkeit des »Nullpunkts« ist jedoch eine Beschreibung in phänomenologischer Einstellung – also eine Selbstinterpretation im Hinblick auf das Gegebene –, nicht aber eine konkret immer und überall gegebene Erfah45 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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rung. Insofern gilt: Auch wenn jedes Selbstwerden ursprünglich beginnt, bedeutet dies (wie die Erfahrung uns lehrt) eben nicht, dass im Verlauf des Selbstwerdens dieser »Nullpunkt« nun jederzeit offen stünde und die Möglichkeit des Übersteigens der aktuellen eigenen Verfassung wie ein Instrument zu allen Zeiten verfügbar wäre. Wie also kann nun dieser »Nullpunkt« verstanden werden, wenn er im Selbstwerden als Anvisiertes präsent bleibt? Die ersten beiden Schritte zum Verständnis haben wir Rombach folgend bereits vollzogen. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass wir eine Ontologie nicht mehr im Hinblick auf das Eine betreiben, sondern eine Mannigfaltigkeit der Ontologien annehmen. Damit war zunächst nicht mehr gesagt worden, als dass die Interpretation der Verwunderung darüber, dass überhaupt etwas da ist und nicht vielmehr nichts, nicht in einer einzigen und ausschließlich wahren Antwort gegeben werden kann. Vielmehr – und dies scheint als eine Konsequenz des Strukturdenkens verstanden werden zu müssen – kann Rombach jede ursprüngliche Selbstinterpretation eines Menschen als eine Ontologie verstehen. Ein solches Verständnis führt dann notwendigerweise zu einer Mannigfaltigkeit der Ontologien. Schließlich kann die originäre Erfahrung des einzelnen Menschen, von der ausgehend er dieser oder jener wird und ist, nicht einfach von einem anderen Menschen kopiert oder in Analogie verstanden werden. »Die originäre Erfahrung ist eine Weise der Identität mit der Dimension, in der sie ›gilt‹, sie ist der ontologische Zugehörigkeitscharakter, ohne den man gar nicht in diese Dimension zu gelangen vermag.« (Rombach 1987) Wir kommen damit in der »Ontologie der Einzigkeit« an: »Dies besagt, dass einzelnes Wirkliches je als das Einzige begriffen werden kann, als die Setzung eines Weltsinnes, innerhalb dessen es die höchste Bedeutung und die größtmögliche Entfaltung besitzt. Im Grunde und in der Wurzel kann sich ein jedes Seiende als den Sinn des Ganzen begreifen, wobei es allerdings […] das Ganze so versteht, dass darin jedes andere Wirkliche ebenfalls als die Bedingung seiner selbst die größtmögliche Entwicklungsmöglichkeit erhält. Wenn der Seinssinn des Seienden die Einzigkeit ist, ist jedes Wirkliche in seine höchste Vollendung freigesetzt, und in dieser Weise gewinnt das Sein denjenigen Gesamtcharakter, der im religiösen Bereich als Heil, im ästhetischen Bereich als Vollendung, im sittlichen Bereich als das Gute, im menschlichen Bereich als das Menschliche usw. erscheint.« (ebd.)

Folgen wir Rombach in dieser Beschreibung unserer Wirklichkeit, müssen wir zugeben: das »Einzige« steht weder im Vergleich noch ist 46 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstwerden und Transzendenz

es ein Anderes. Es zeigt sich als Transzendenz, als das Unausschöpfbare, das stete »Unendlich mehr« der jeweiligen Struktur und bleibt im aktuellen Selbstwerden in letzter Konsequenz unverstehbar. Es ist sowohl als Anvisiertes als auch als Ausgangspunkt des jeweiligen Selbstwerdens erfahrbar, kann aber auch (jederzeit) abseits solcher Zuschreibungen erfahren werden. Insofern nennt Rombach die Transzendenz auch das »Nicht-Andere« (non-aliud) (ebd.). Damit will er eine unauflösliche Doppelbödigkeit dessen benennen, was seinem Denken folgend als Transzendenz verstanden werden kann. Wir können diesen Begriff, den Rombach von Cusanus übernommen hat, in zwei Hinsichten auf begrifflicher Ebene beschreiben: Einerseits ist Transzendenz das »Andere«, da es eben für jeden Anderen (in jeder anderen Struktur) auch jeweils das Ganze ist; es ist aber andererseits wiederum gerade nicht das »Andere«, da es ja wiederum immer das Ganze für denjenigen ist. Beide Interpretationen der Transzendenz einerseits als unterschiedlich zu differenzieren, sie aber andererseits als Interpretationen ein und desselben zu interpretieren, ohne dies als die Beschreibung einer Entität misszuverstehen – genau dieses ist mit dem Begriff »Nicht-Andere« gemeint. Diese unauflösliche Doppelbödigkeit gilt bei Rombach auch im Hinblick auf sein Verständnis des »Nullpunkts«, wenn er ihn als das unaufschließbare »Non« im Leben aufbrechend versteht. Denn er schließt sich uns ja gerade als Unaufschließbares auf. Das sich als unaufschließbar Aufschließende ist notwendigerweise in sich selbst widersprüchlich und paradox. »Nicht die ursprüngliche Einheit, die unabhängig von aller Vielheit ist und als das Eine über dem Vielen thront, ist das Göttliche, sondern jenes Verbindende und Vereinigende, das zwischen dem Getrennten lebt und einzig in ihm lebendig wird. Jenes Einzige, das Nicht-Anderes ist als das Andere, wenn sich dieses Andere je und je als der Brennpunkt einer Welt enthüllt.« (Rombach 1987) Versuchen wir abschließend, das Nachverfolgen des rombachschen Denkens nochmals im Hinblick auf das Zueinander von Selbst und Transzendenz zu fassen. Hier ist für ein Verständnis der suizidalen Erfahrung insbesondere die Erfahrung des Rettenden von entscheidender Bedeutung. Dabei lassen sich drei Strukturmerkmale unterscheiden: a) Transzendenz ist nicht vorhersehbar oder vorwegnehmbar, sondern erscheint so, wie sie sich gibt. Dies gilt insbesondere auch für das Rettende, welches in keinster Weise vorweggenommen werden kann, sondern kommt, wann es will. Allerdings kommt Rettendes, wie schon Friedrich Hölderlin (1776–1843) in »Patmos« sagt, insbesondere dann, 47 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wenn es besonders benötigt wird und zugleich besonders unwahrscheinlich erscheint: »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.« (Hölderlin 1998, Bd. I, S. 463); b) Transzendenz ist »unendlich mehr«, als in der Situation ihres Gebens vollzogen oder auch vergewissert werden könnte (»Keiner aber fasset / Allein Gott.«, S. 463). Dies gilt insbesondere auch für das Rettende, welches eben gerade deshalb rettend ist, da es von sich her (unfassbar) weit über das hinausgeht, was die aktuelle Situation so bedrängend, einengend oder auch verzweifelnd macht; c) Transzendenz erzwingt einen tiefgreifenden, dramatischplötzlichen und insofern bruchhaften Wandel der aktuellen Struktur (»Wie Feuer, in Städten, tödlichliebend / Sind Gottes Stimmen.«, S. 465). Damit geht nicht nur das Zurücklassen der alten Struktur, sondern insbesondere das Einfinden in einer neuen Struktur einher. Letztlich ist es gerade dieses Merkmal, welches das Rettende erst als rettend zu beschreiben vermag. Dem entspricht, dass erst der Rückblick auf die Rettung feststellen kann, dass auch wirklich eine Rettung geschah. Diese drei Strukturmerkmale dessen, was als Transzendenz erfahren wird und als Nicht-Anderes beschrieben werden kann, aber – wenn es denn gewünscht wäre – auch als »Gott« bezeichnet werden könnte, finden sich auch in den Untersuchungen von Marion zum gesättigten Phänomen (Marion 2002, S. 227). Diese können geradezu als gegensätzliche Phänomene zu den von Karl Jaspers beschriebenen Grenzphänomenen verstanden werden. Dabei geht es Marion darum, dass die eigentümliche Qualität der Selbstgegebenheit dieser gesättigten Phänomene nachweist, dass diese die Bedingungen ihres Erscheinens selbst mitliefern. »In this case, phenomenality is calibrated first in terms of givenness, such that the phenomenon no longer gives itself in the measure to which it shows itself, but shows itself in the measure (or, eventually, lack of measure) to which it gives itself.« (S. 226) So versteht er diese Selbstgegebenheit in einem weiteren Schritt als Verständnis von Gegebenheit überhaupt (S. 234). Dem Strukturgedanken Rombachs vergleichbar wird darin für Marion die Grundstruktur jeden Phänomens, auch der nicht-gesättigten Phänomene, entsprechend der Selbstgegebenheit des Gegebenen verständlich (S. 246 f.). Dies können wir nun aber nicht so verstehen, als wenn sich fundamental eine gewissermaßen amorphe Masse gegeben wäre, sondern muss vielmehr als der radikale Nachweis genommen werden, dass sich der Mensch schon immer in bestimmter Weise gegeben ist und in dieser Gegebenheit zugleich in zuletzt unerschöpflicher Weise gegeben ist. Sogar dann, 48 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wenn er diese Unerschöpflichkeit gar nicht mehr erfahren oder reflexiv vergewissern kann. Diese doppelbödige Beschreibung des menschlichen Lebens ist Ausweis des phänomenologisch radikalen Verständnisses unserer selbst. Jedoch bleibt: Auch die als Autogenese beschreibbare Geschehensstruktur menschlichen Daseins kann in eine Verfassung (ein Selbstsein) hineinführen, in dem sich das unausweichliche In-der-Weltsein unerträglich wird. Damit ist im Näheren diejenige Unausweichlichkeit gemeint, dass dieses Selbst seine gegebene Erfahrungsweise nicht überwinden kann. In dieser Verfassung einer unausweichlichen Unerträglichkeit kann der Betreffende kaum mehr von einer rettenden Transzendenz sprechen. Vielmehr scheint es so, als wäre seine Art und Weise, wie er geworden ist, bis zur letzten Konsequenz abgeschlossen. Bleiben wir innerhalb dieser (in sich) verschlossenen Erfahrungsweise, so kann die Frage gestellt werden: Wird sich dieses Selbst, welches sich in seiner Unerträglichkeit in keiner lebbaren Weise ausweichen und diese Unerträglichkeit auf keine rettende Weise überwinden kann, nicht selbst absurd? Der Gedanke der Absurdität drängt sich auf, da die Unerträglichkeit des aktuellen Daseins nicht nur undurchdringlich und unverständlich bleibt, sondern ganz offenbar dem Wunsch des Menschen nach Klarheit und rettender Transzendenz in seinem Leben widerspricht. Diese Widersprüchlichkeit des Wunsches nach Klarheit und rettender Transzendenz und der unauflöslichen Unerträglichkeit des Lebens kann mit einigem Recht als absurd bezeichnet werden. Und dies, obwohl die Fixierung des Rettenden als eine Art von umfassendem Verständnis des Gegebenen aus phänomenologischer Sicht nicht haltbar ist, da sie methodenunkritisch die gegebene Erfahrung der Absurdität und die Beschreibung dieser Erfahrungsstruktur verwechselt. Dennoch aber bleibt unzweifelhaft, dass sich der Mensch in einer absurden Stimmung zu befinden vermag. Fragen wir also danach, wie sich das absurde Dasein versteht. Insbesondere wichtig ist hierbei die Frage, ob der Mensch, der sich in dieser Stimmung des Absurden befindet, überhaupt suizidal ist? Fragen wir also einen Philosophen, der sein als absurd verstandenes Dasein daraufhin befragt hat.

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3.

Die Stimmung des Absurden

Albert Camus (1913–1960) thematisiert 1943 in seinem »Versuch über das Absurde« (Camus 1961) die für das Leben entscheidende Frage, die wichtigste Entscheidung des eigenen Lebens: Muss ich mich selbst töten, da das Leben absurd ist, oder muss ich das absurde Leben weiterleben? Die »philosophische« Entscheidung für oder gegen den Suizid, für oder gegen das Leben, ist für Camus zunächst die Frage, ob sich der Mensch für oder gegen die Absurdität des eigenen Daseins entscheiden muss. Für Camus besteht jedoch, wie wir sehen werden, kein Zweifel daran, dass das Leben absurd ist. Die Absurdität des Lebens ist insofern der Raum, in dem sich für Camus die Frage stellt: Suizid oder Weiterleben? Auch wenn für Camus die These der fundamentalen Absurdität des Lebens eine Feststellung ist, so ist gerade dieses Absurde – so wie Camus es aufzeigt – für die hier gestellte Frage nach dem Verständnis der suizidalen Erfahrung interessant. Und dies, obwohl für Camus aus der Absurdität des Lebens gerade nicht die Konsequenz des Suizids folgt. Denn das Absurde gilt es nach Camus in einem selbstmächtigen Akt – absurd revoltierend gegen diese Absurdität des Daseins – zu ergreifen. So war Sisyphos, der immer und immer wieder den Fels den Berg hochwuchtet, wissend, dass er hinunter rollen wird, für Camus ein glücklicher Mensch. Denn, so Camus, es ist sein Fels, sein Abhang, sein ganzes absurdes Unterfangen ist einzig seine Welt, seine Menschlichkeit und sein Lebensweg, »seine ureigene Schöpfung«: »Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs – ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.« (S. 101) Diese Folgerung Camus’ ist absurd und insofern konsequent. Denn – wie Camus sagt – »es geht darum, in diesem Zustande des Absurden zu leben.« (S. 39) Wie können wir dieses Absurde bei Camus verstehen? Zunächst geht Camus davon aus, dass sich die Welt des Menschen aus einem stets vorlaufenden In-der-Welt-sein eröffnet und darin zugleich der Mensch als der, der er ist, hervorgeht. Er ist immer in seine Welt eingelassen, oder wie Camus sagen würde, in seiner Welt gefangen. Das Zueinander von Welt und Mensch, das lebendige und erlebte In-sein, ist für Camus das Absurde. Es ist weder im Menschen noch in der Welt verortbar, sondern »in ihrem gemeinsamen und gleichzeitigen Vorhandensein« (S. 31). »Absurd aber ist die Gegenüberstellung des Irrationalen (der Welt J. S.) und des glühenden Verlangens nach 50 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird. Das Absurde hängt ebensosehr vom Menschen ab wie von der Welt. Es ist zunächst das einzige Band zwischen ihnen.« (S. 23) So charakterisiert Camus die Sorge, die Heidegger als das fundamentale In-sein des menschlichen Daseins kennzeichnet, durch das Absurde. Nun sind an dieser Stelle auch einige Einwände gegen diese camussche Interpretation des heideggerschen Denkens möglich. Jedoch stellt sich zunächst die Frage nach einem in sich stimmigen Verständnis des camusschen Denkens. Insofern soll die These konsequent verfolgt werden, die Camus aufstellt: Die Sorge um sich ist absurd. Für Camus entsteht, wie gesagt, das Absurde durch die Gegenüberstellung von Mensch und Welt. Die unbegreifliche Welt und das menschliche Bedürfnis nach Klarheit sind die zwei Pole, die sich für ihn zum unauflöslichen Zwiespalt steigern. Im Hinblick auf die hier gestellte Frage nach einem phänomenologischen Verständnis der suizidalen Erfahrung ist es wünschenswert, diesen Zwiespalt genauer zu erhellen. Dieser Wunsch, den Zwiespalt zu erhellen, wäre seinerseits – so Camus – unser Bedürfnis nach Klarheit. Folgerichtig bricht Camus an diesem Punkt der Befragung ab und thematisiert stattdessen Wege, auf denen es – aus seiner Sicht eben allerdings nur scheinbar – gelingen könne, diesen Zwiespalt zu überwinden, ihn gewissermaßen zu transzendieren bzw. hermeneutisch zu unterfangen. Aus camusscher Sicht ist zu betonen, dass dies nur Ausflüchte und Fluchtbewegungen sind. Sie lassen den Stein am Abhang liegen, um sich weniger absurd wirkenden Aufgaben hinzugeben, was Camus folgend nicht gelingen kann. Denn, so Camus, wäre das Leben klar und durchsichtig, so würde uns keine Suche nach Stimmigkeit rastlos machen; wäre das Leben stimmig und transparent, so wäre das Leben eben stimmig und transparent und nicht absurd. Wie also versteht Camus die von ihm benannten (scheinbaren) Auswege? Erneut gilt es aus Camus’ Sicht festzuhalten, dass dieses »glühende Verlangen nach Klarheit« – welches für Camus die Basis der Absurdität des menschlichen Daseins ist – selbst Ausdruck des In-der-Weltseins ist und aus dem In-der-Welt-sein herrührt. Kurz gesagt: Nur wenn die Welt irrational erscheint, kann ein Verlangen nach Klarheit entgegenstehen; nur wenn ein Verlangen nach Klarheit entsteht, kann die Welt irrational entgegenstehen. Dieses klingt zunächst wie eine Tautologie. Jedoch liegt hierin das für Camus’ Denken so wichtige Moment der Steigerung der Absurdität. Denn erst die wiederkehrende 51 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Unmöglichkeit, die Welt transparent zu erhellen, verschließt diese Welt immer weiter und schließt damit auch diesen Zwiespalt immer weiter auf. In diesem Sinne ist die Absurdität unerschöpflich und könnte ihrerseits als unabschließbares Korrekturgeschehen verstanden werden. Die Korrektur zielt dabei auf größtmögliche Absurdität. So stellen sich zwei Fragen: 1. Können die von Camus thematisierten Auswege als Wege zu einer Transparenz des eigenen Daseins verstanden werden?; 2. Kann die Unerschöpflichkeit der Absurdität – im Sinne des: es geht noch absurder als bisher – nicht ihrerseits als eine das gesamte menschliche (sich absurd verstehende) Dasein erhellende Transzendenz verstanden werden? Alle Auswege, die Camus benennt, zeichnen sich – wie er betont – durch einen »qualitativen Sprung«, durch einen Durchbruch aus. Damit meint Camus letztlich, dass der Mensch eine andere Weise des Daseins gewinnt, in der das In-sein nicht mehr durch die vorherige Absurdität gekennzeichnet ist. Camus sieht zwei philosophische Sprünge, die dies zu leisten versuchen. Zum einen bei Søren Kierkegaard (1813–1855) als Sprung in den Glauben an einen, für Camus letztlich absurden Gott (S. 36 ff.), und zum anderen bei Edmund Husserl (1859–1938) als Sprung in die »ewige Vernunft« (S. 42 ff.). Jedoch erkennt Camus auch noch die Möglichkeit des tatkräftigen Sprungs: den Suizid, der das Band zwischen Mensch und Welt durchschneidet, indem sich der Mensch selbst aus der »absurden Gleichung« entfernt. Der Suizid ist jedoch für Camus eine Art »Notlösung« und seinerseits keineswegs absurd, denn der Suizid hält das Absurde nicht durch, sondern versucht es logisch – d. h. eben gerade nicht absurd – zu beenden. Betrachten wir die von Camus thematisierten »philosophischen Auswege« genauer, so zeigt sich, dass es bei beiden von Camus benannten Auswegen letztlich um das Eröffnen eines Zugangs zur Transzendenz, also um ein Rettendes geht. Dieses Rettende nun soll mitten im menschlichen Dasein aufbrechen und den Menschen aus der Absurdität retten. Dies gilt, so Camus, insbesondere für den kierkegaardschen »Ausweg«. Denn bei Kierkegaard springt der Mensch in den Glauben an das Transzendente und glaubt – durchaus im Stile eines Aurelius Augustinus (354–430) – an einen unbegreiflichen Gott, der uns in diese (absurde) Welt geschaffen hat. Bereits bei Augustin wird dieses »Rätsel« des transzendenten Gottes deutlich. Augustin versteht seinen unergründlichen Gott als unzerstörbar und unveränderlich und ist diesbezüglich konsequent: die göttliche Zusicherung der »wunder52 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die Stimmung des Absurden

samen Weise der Möglichkeit« (Augustinus 1989, IV 4,7) als Mensch durch diesen Gott errettbar zu sein, auch wenn dies für den Einzelnen nicht versicherbar ist, ist das einzig Sichere in den Wechselfällen des menschlich-irdischen Daseins, in welches das Geschöpf von seinem Gott gesetzt ist. Diese Einsicht ist für Augustin zweifelsfrei: Die Denkkraft seines »veränderlichen Geists« reckte »sich auf zur Einsicht ihrer selbst […], um das Licht zu entdecken, das sie überkam, als sie völlig frei von Zweifel ausrief, das Unveränderliche sei dem Veränderlichen vorzuziehen. In diesem Licht kannte sie das Unveränderliche […]« (VII 17,23) Diese »Ontologie des Ewigen« ist zentral für Augustins Lehre, in welcher das Ewige das Bessere ist. Allerdings ruht der Mensch bei Kierkegaard nicht mehr wie bei Augustin in der unverlierbaren Liebesund Rettungsintention Gottes, sondern er ist selbst zum Sprung in den Glauben an diesen Gott aufgefordert. Denn während bei Augustin Gott selbst dem Menschen die Möglichkeit zum Glauben an ihn verleiht und der (christliche; »innere«) Mensch so bei Augustin durch Gott aus dem (heidnischen; »äußeren«) Menschen hervorgetrieben wird, ist der Mensch bei Kierkegaard in dem Sinne autonom, als er sich selbst zum Glauben an diesen unbegreiflichen Gott entschließen muss. Beide »Auswege« hält Camus letztlich für Illusionen, welche nur über die fundamentale Absurdität des menschlichen Daseins hinwegzutäuschen versuchen. In einer geradezu trotzigen Gegenbewegung will Camus an der Absurdität festhalten. Seine Absicht ist, die illusionäre Hoffnung auf ein Rettendes, welches aus der Absurdität unseres Daseins einerseits genährt wird und andererseits aus dieser Absurdität herausführen würde, in einer klaren Bejahung der absurden Immanenz seines Daseins abzulegen. Bei genauer Betrachtung dieser camusschen Bewegung wird jedoch deutlich, dass gerade hierin die klare Konsequenz liegt, dass sich der camussche Mensch nicht töten braucht bzw. töten darf. Denn im klaren Bejahen der unausweichlichen, aber ins Unerschöpfliche zu steigernden Absurdität wird sein Leben – wenn auch auf absurde Weise – sinnvoll. Camus will dieses absurde Leben noch unzählige Male wie bisher und rollt so den Fels im Stile eines Sisyphos immer und immer wieder den Berg hinauf. Aber, und hierin liegt der absurde Sinn des Sisyphos, er würde den Stein nicht mehr hinaufrollen, wenn er wüsste, dass er oben liegen bliebe. In dieser absurden Wendung bejaht Camus (auf durchaus absurde Weise) Friedrich Nietzsches (1844–1900) schwerwiegende Einsicht der »ewigen Wiederkehr«: 53 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

»Das größte Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ›Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muss dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen – und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‹ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ›Du bist ein Gott, und nie hörte ich Göttlicheres!‹ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: ›Willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?‹ würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten Bestätigung und Besiegung?« (Nietzsche 1959, Abt. 269)

Camus zieht sich selbst der Ewigkeit vor (Camus 1961, S. 71), wobei er der »ewig Lebendige« ist, der in der Revolte und der absurden Anstrengung seinen Fels bejahen lernt. Dies ist eine durchaus eigenartige Weise von Immanenz. So verwundert es nicht, dass Camus’ eigener Tod eine durchaus undurchsichtige Begebenheit geblieben ist. Beendete Camus am 4. Januar 1960 in diesem eigenartigen Autounfall sein Leben selbst, oder aber war dies nur ein Unfall im traditionell-tragischen Sinne? Für Camus wäre unser Bemühen, diese Undurchsichtigkeit zu erhellen, wohl ein humorvoller Beweis seiner These, dass unser Dasein absurd ist. Der Zwiespalt, in dem sich der camussche Mensch also unausweichlich jederzeit wiederfindet, ist der Zwiespalt zwischen der innerlichen Suche nach einer rettenden Transzendenz und dem steten Auffinden der puren Immanenz seines Daseins. Diese eigenartige Absurdität ist eine stete (»ewige«) Wiederkehr des gleichförmigen Herausgefordertseins durch die letztlich reflexiv unauflösbare »Komplexität« des eigenen Daseins. Das Lebensmotto des camusschen Menschen scheint sich demnach wie folgt zu formulieren: Ob ich will oder nicht, diese Absurdität der reinen Immanenz ist mein Leben. Dieses Motto erinnert auf den ersten Blick durchaus an Heideggers Kennzeichnung der Geworfenheit. Aber: Versteht sich diese Geworfenheit für Heidegger als die unhintergehbare Faktizität, dass wir als Mensch 54 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die Stimmung des Absurden

unser jeweiliges In-der-Welt-sein zu sein haben bzw. dieses sind, wird bei Camus nicht die Sorge absurd, sondern die Absurdität wird zur Sorge. Insofern gilt es für ihn, das Leben in seiner Absurdität – welches ja strenggenommen nur die absurde Seite des Lebens meint – zu erhalten und zu steigern. Wie also steht es nun mit Camus, der über die Absurdität seines Daseins zwar zunächst verzweifelt und suizidal wird, sich aber letztlich (vermutlich) nicht tötet? Wir hatten bereits den Gedanken verfolgt, dass in der unerschöpflichen Steigerung der Absurdität ihrerseits ein solcher »Sprung« und »Ausweg« gefunden ist, der das Leben – wenn auch in absurder Weise – sinnvoll werden lässt. Obwohl Camus rein in der absurden Immanenz verbleiben will, können wir Camus nur so verstehen, dass er gerade in dieser Konsequenz sein absurdes Dasein rettet. Camus übersteigt – gewissermaßen unabsichtlich und unbemerkt – die Absurdität von »irrationaler Welt und menschlichem Verlangen nach Klarheit«. Denn, indem er die Notwendigkeit, den Fels immer wieder den Berg hinaufzuwuchten, um ihn abschließend hinabrollen zu sehen, zur selbstgewollten und selbst hervorgebrachten Weise des eigenen Daseins steigert, transzendiert er sein »Schicksal« und rettet sich darein, was alles innerhalb dieses Daseins des Sisyphos möglich ist. In dieser radikalen Steigerung des Absurden zum Grundphänomen des menschlichen Daseins eröffnet sich ein »Bild des Ganzen«, eine rettende Transzendenz. Es ist offenbar diese Erfahrung, die sich in der Bejahung des Absurden durch Camus ausdrückt und die ihn aus der anfänglichen Verzweiflung über die Absurdität seines Lebens rettet. Zusammenfassend sind wir bei Camus im Hinblick auf ein phänomenologisches Verständnis der Struktur der suizidalen Erfahrung also nur einen kleinen Schritt weiter gekommen. Und dies, obwohl Camus die Frage nach dem Suizid explizit stellt. Jedoch findet sich ein wichtiger Hinweis darin, dass Camus zwar anfänglich über die Absurdität seines Lebens verzweifelt, dann aber offenbar doch seine suizidale Erfahrung überwinden kann, da ihm die Absurdität selbst zum Sinn seines Lebens wird. Ansätze zu einem Verständnis der suizidalen Erfahrung zeigen sich bei Camus also im Hinblick auf die Verzweiflung. In dieser Richtung gilt es, weiter zu fragen.

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Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

4.

Die Erfahrung der Verzweiflung

Die Erfahrung der Verzweiflung wird von Camus zwar gemacht und als solche auch benannt, er interpretiert sie aber vor dem Hintergrund seiner These der Absurdität des menschlichen Daseins. Eine genauere Beschreibung der Verzweiflung als Erfahrung findet sich bei Michael Theunissen, der die Verzweiflung im wesentlichen durch einen »Verlust des Rettenden« charakterisiert (Theunissen 1993, S. 108). Dies erinnert durchaus an die camussche Darstellung, unterlässt aber (durchaus im Stile einer phänomenologischen epoché), diese Erfahrung existenzphilosophisch einzuordnen. Theunissen bezieht sich in seiner Analyse der Verzweiflungserfahrung wiederholt auf die kierkegaardsche Studie »Die Krankheit zum Tode« (Sygdommen til Døden, 1849). In dieser charakterisiert Kierkegaard die Verzweiflung als ein »Missverhältnis« im Verhalten des Menschen zu sich selbst: »Verzweiflung ist das Mißverhältnis im Verhältnis einer Synthesis, die sich zu sich selbst verhält« (Kierkegaard 1992, S. 11). Wie ist dies zu verstehen? Kierkegaard erörtert die Verzweiflung vor dem Hintergrund des menschlichen Selbst, welches er als das Zu-sich-verhalten des Menschen bestimmt. Seine Definition dieses Selbst lautet: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist dasjenige am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält« (Kierkegaard 1992, S. 9). In dieser Definition geht Kierkegaard zunächst von der Bestimmung des Menschen als vernunftbegabtes Wesen aus, welches ihn als Verhältnis bzw. Zwitterwesen von Natur und Geist definiert. Vermittels seines Verstandes hat der Mensch an der (ewigen, immateriellen) Vernunft teil, wohingegen er mit seinem (endlichen, materiellen) Körper dem Verfall allen Irdischen ausgesetzt ist. Erst in einem zweiten Schritt aber gewinnt sich das, was Kierkegaard dann Selbst nennt und welches den Menschen auszeichnet. Dieses Besondere ist, dass sich dieses Verhältnis Natur/Geist wiederum zu sich selber verhält. Kierkegaard erkennt, dass es zunächst das Selbstbewusstsein ist, welches den Menschen auszeichnet. Dabei beschränkt sich dieses Selbst-»Bewusstsein« aber nicht auf ein erkennendes Abschildern des Gegebenen. Vielmehr ist der Mensch auf sich selbst verwiesen, muss sich verhalten. Er bringt sich in diesem Zu-sich-verhalten überhaupt erst selbst hervor und kann sich folglich aus sich selbst heraus auch verändern. Das Selbst Kierkegaards meint also keine fest56 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die Erfahrung der Verzweiflung

gefügte Entität, welche wir wie einen Koffer mit uns herumtragen könnten, und es hat auch nichts mit einer innigen Innerlichkeit zu tun, die wir mit Schamgrenzen schützen und wütend verteidigen. Sondern es gewinnt sich aus der ständigen Bewegung, aus dem steten Zu-sichverhalten, und befindet sich folglich in permanentem Aufbau und Abbau. Mit anderen Worten: das kierkegaardsche Selbst lässt sich durchaus als Autogenese im rombachschen Sinn beschreiben. Kierkegaards Konzeption des Selbst beschreibt sehr präzise den an sich einfachen und geläufigen Umstand, dass wir uns weder frei erfinden können noch ein reiner Automat sind. Er verweist zudem darauf, dass der Mensch nur aus dem lebendigen Vollzug heraus er selbst sein kann, einem Vollzug, in dem es ihm um sich selbst geht. Und er beschreibt, dass wir uns präreflexiv schon immer in einer durchaus bestimmten (interpersonalen, situativen, leiblichen) Weise gegeben sind. Diese Beschreibung unserer selbst ist für aktuelle Verständnisse der Subjektivität von Bedeutung (Zahavi 2003, 71 f. u. 96 ff.; vgl. auch Rinofner-Kreidl 2003). Sie ist überdies von herausragender Bedeutung für ein phänomenologisches Verständnis der suizidalen Erfahrungsstruktur. Denn nur da sich der Mensch als Aufgabe gegeben ist und da er diese Aufgabe aus sich selbst heraus leisten und bewältigen muss, kann der Mensch überhaupt eine Erfahrung der Verzweiflung machen und zugleich um die Möglichkeit wissen, sich selbst töten zu können. Dies ist leicht einsichtig, wenn wir uns die folgenden zwei Extrempositionen vorstellen: a) Könnte sich der Mensch spontan und bewusst selbst geben, so könnte er sich auch so gestalten, wie er gerne sein möchte bzw. wie er idealerweise sein wollte. Dann könnte er im Grunde gar nicht verzweifeln, denn Verzweiflung ist nur möglich, da der Mensch so zu sein hat, wie er nicht sein will. Dies aber kann nur sein, da er sich bereits als der gegeben ist, der er ist. b) Wäre der Mensch ein vollständig determiniertes Wesen, so wäre sein Zu-sich-verhalten ein reines Abschildern des sowieso Gegebenen. Dann wäre die Erfahrung der Verzweiflung nur eine oberflächliche Angelegenheit ohne allen tieferen Sinn, da der Mensch sich jederzeit auf ein prästabilisiertes Geschick verlassen und zurückziehen könnte. Verzweiflung kann aber überhaupt nur dann erfahren werden, wenn sich der einzelne Mensch mitgestaltend zu sich verhalten kann. Denn nur wenn er wirksame Effekte seines Verhaltens gegenüber sich selbst erfährt und er sich selbst folglich durch sein eigenes Verhalten als verändert erfahren kann und sich dessen wiederum zu vergewissern vermag, kann er auch über 57 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

die Art und Weise, wie er sich selbst (trotz aller absichtlichen Bemühungen) erfährt, verzweifeln. Auch für Kierkegaard bedeutet Verzweifeln demnach sowohl ein Erleiden (»Schwachheit«) als auch ein eigenes Zutun (»Trotz«). Der verzweifelte Mensch befindet sich sowohl in Opposition zu dem, der er ist, als auch in Opposition zu seinen aktuell gegebenen Möglichkeiten hinsichtlich dem, der er sein könnte. Da, wie auch Theunissen ausführt, Verzweifeln sowohl ein Erleiden als auch ein eigenes Zutun bedeutet, kann jede Erfahrung der Verzweiflung sowohl im Sinne der kierkegaardschen »Schwachheit« als auch im Sinne des kierkegaardschen »Trotzes« beschrieben werden. Der verzweifelte Mensch will also sowohl verzweifelt er selbst sein, als auch darin zugleich verzweifelt nicht er selbst sein. Dieses erleidende Verzweifeln, in der über die eigene Unmöglichkeit, das zu sein, was man sein will, und dieses trotzige Verzweifeln, in der über die eigene Unmöglichkeit, das nicht sein zu wollen, was man ist, verzweifelt wird, schlagen darin zusammen, dass die »Verzweiflung über das Peinigende, an dem alles Experimentieren scheitert«, sowohl ein Erleiden an der fremdbestimmten Geschöpflichkeit als auch ein trotziges Fixieren auf dieses fremdbestimmte Geschaffensein ist (Theunissen 1993, S. 82). »Das leidende Selbst hingegen ist das des Menschen, der in dem strengen Sinne er selbst sein will, dass er sich durch die trotzige Fixierung auf sich gegen seinen Schöpfer auflehnt und sich ihm schließlich, in der Dämonie seiner Verzweiflung, aufnötigt« (S. 85). Es sind in der Erfahrung der Verzweiflung also immer zwei gegenläufige Bewegungen gegeben, ohne dass eine der beiden Bewegungen zum Ziel käme: die, sich selbst loswerden zu wollen und die, sich anders haben zu wollen. Der verzweifelte Mensch ist ein Mensch, der einerseits (verzweifelt) er selbst sein will, aber andererseits und zugleich (verzweifelt) nicht er selbst sein will. Letztlich will er in einem fundamentalen Sinn anders sein als der, der er gerade ist. Zentral ist dabei, dass eben gerade dasjenige fehlt, welches einen aus dieser Verzweiflung retten könnte, welches einen (grundlegend) verwandeln bzw. verändern könnte und damit von einem selbst (dem alten, verzweifelten Selbst) loszulösen vermöchte. Insofern kann gesagt werden, dass die Erfahrung der Verzweiflung die Erfahrung des Verlusts des Rettenden bedeutet (S. 110 ff.). Die Erfahrung, das Rettende verloren zu haben, ist jedoch keine rein reflexive Beschreibung durch den Betreffenden, sondern eine prä58 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die Erfahrung der Verzweiflung

reflexiv erfahrene Gegebenheit. Sie wird im Zu-sich-verhalten des Betreffenden virulent, unterliegt jedoch gerade nicht seiner selbstbewussten Kontrolle (S. 104). Denn schließlich erscheint uns jedes Rettende, welches die Möglichkeit zum Transzendieren des eigenen Daseins eröffnet, von sich her und gewissermaßen ohne unser Zutun (S. 110 ff.). So kann jedes Rettende als göttlich beschrieben werden (»In allem Rettenden west Gott an.« S. 112). Umgekehrt wird die Erfahrung der Verzweiflung auch als ein Verabsolutieren eines Aspekts des »Irdischen« verständlich, wie Theunissen darlegt: »Wer über etwas Irdisches verzweifelt, macht dieses Etwas, das auch stets etwas Einzelnes ist, zum Irdischen im Ganzen, und er könnte es nicht dazu machen, lebte er nicht in einer Verzweiflung am Ewigen.« (S. 89) Dieses »Ewige«, welches für Kierkegaard das Verlorene in der Verzweiflung ist (»Verzweiflung [ist] eine Bestimmung des Geistes, [welcher] sich zu dem Ewigen im Menschen verhält. Des Ewigen aber kann er nicht quitt werden, nein, in alle Ewigkeit nicht.« Kierkegaard 1992, S. 12) und letztlich bei ihm christlich zu denken ist, versteht sich nun bei Theunissen, wie wir bereits gesagt hatten, schlicht als das Rettende (Theunissen 1993, S. 101). Kierkegaard sieht nun selbst das Sich-töten als die am nächsten liegende Gefahr für den verzweifelten Menschen, der »schlechthin in jeder Richtung verschlossen« ist (Kierkegaard 1992, S. 66). Wie Almut Furchert in ihrer Untersuchung der verschiedenen Verständnisse der Selbsttötung in Kierkegaards Verzweiflungsanalyse zeigt, können mit Kierkegaard drei verschiedene Bedeutungen des Suizids unterschieden werden: a) als verzweifelte Selbstrettung, in welcher der Tod »die Möglichkeit als Handlungsraum« aufweist; b) als Selbstvernichtung, in welcher der Tod als schlichtes Ende des eigenen Lebens gesehen wird und aus der mit dem Leben verbundenen Aufgabe der Lebensführung »geflüchtet« wird; c) als Selbstbehauptung, in welcher »der Tod zum Sinnträger« wird (Furchert 2008). Auch wenn die Verzweiflung als der Verlust des Rettenden gekennzeichnet werden kann, bietet sich für Kierkegaard der Suizid letztlich doch nicht als ein Rettendes an. Vielmehr bleibt der Suizid ein Ausdruck der Verzweiflung. So wählt auch Kierkegaard nicht den Suizid, sondern springt in den Glauben, »daß alles möglich ist bei Gott« (Kierkegaard 1992, S. 71). In diesem Glauben aber, so Kierkegaard, vermag die Ewigkeit alle Qual von dem Menschen zu nehmen, da sich der Mensch »durchsichtig« in der Macht gründet, »die ihn selbst gesetzt hat« (S. 10 u. 70 f.). Diesen Sprung in 59 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

den Glauben an das Ewige, den Camus als einen »philosophischen Ausweg« aus der Absurdität des menschlichen Daseins kritisiert, macht also nicht nur den Suizid überflüssig, sondern beendet für Kierkegaard auch die Erfahrung der Verzweiflung. Aber dennoch können wir fragen: Ist das Wissen um den Suizid als Möglichkeit nicht vielleicht doch für den verzweifelten Menschen eine letzte Rettung, auch wenn er den Glauben an die Ewigkeit nicht wieder herzustellen vermag? Unbenommen aber können wir freilich festhalten, dass die suizidale Erfahrung eine große Verwandtschaft mit der Erfahrung der Verzweiflung aufweist. Nicht nur sind beide Erfahrungsweisen zentral darauf angewiesen, dass der Mensch um sich weiß und sich zu sich selbst verhält, sondern sie scheinen darüber hinaus in einem Bedingungsgefüge miteinander verwoben zu sein. Und während sich in der Verzweiflung das Sich-töten als eine letzte Rettung zeigen kann, kann offenbar die Möglichkeit, sich töten zu können, die verzweifelnde Erfahrung beenden. Im Rückgriff auf die camussche Beschreibung der Absurdität des Daseins verwundert es daher keineswegs, dass Camus den als verloren angenommenen Zugang zur Transzendenz unbemerkt (und unbeabsichtigt) zurückgewinnt. Und dies, obwohl er gerade die verzweifelnde Erfahrung der Absurdität des Daseins, welches sich als rein immanent versteht und dem es gerade deshalb an rettender Klarheit mangelt, auf Dauer stellen und sisyphotisch auf die Spitze treiben will. Dieser Umschlag kann angesichts unseres Verständnisses der Erfahrung der Verzweiflung in der Weise beschrieben werden, dass für Camus die Absurdität zur (kierkegaardschen) Ewigkeit wird und sich insofern immer wieder als (theunissensches) Rettendes zu zeigen vermag. Aber: Kann nicht die rettende Qualität des Sich-töten-könnens für den verzweifelten Menschen auf gleichartige Weise verstanden werden, da er sich ihm immer wieder als Rettendes zeigt? Was aber, so die verwirrende Frage, ist dann in der suizidalen Erfahrung das (kierkegaardsche) Ewige?

5.

Die Paradoxie der suizidalen Erfahrung

Jean Améry (1912–1978) veröffentlicht 1976 eine äußerst kontrovers diskutierte Perspektive der Suizidalität, die innenperspektivisches Erleben und philosophische Überlegungen amalgamiert (Améry 1999). Die Kontroverse bezog und bezieht sich vorwiegend darauf, dass Améry die 60 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die Paradoxie der suizidalen Erfahrung

Möglichkeit, sich töten zu können, zu positiv darstelle und hierdurch andere Menschen geradezu ermutige, sich zu töten. Diese Kritik sieht sich unter anderem dadurch gestützt, dass sich Améry 1978, zwei Jahre nach Verfassen seines Buches im Alter von 66 Jahren, selbst das Leben nimmt. Allerdings formuliert Améry eine Perspektive von Suizidalität, deren genauere Untersuchung zeigen wird, dass es ihm vor allem darum geht, die Möglichkeit, sich töten zu können, als eine Wirklichkeit menschlichen Daseins zu zeigen und die suizidale Erfahrung nicht nur psychologisch zu verstehen, sondern eben auch philosophisch zu interpretieren. Zuallererst versucht Améry jedoch in weitgehender Wertneutralität die Situation vor dem Sprung in den Suizid in ihren inneren Strukturmerkmalen zu beschreiben. Er geht davon aus, dass sich die suizidalen Menschen trotz aller »unverwechselbaren Einzigartigkeit« (S. 19) in einer grundlegend vergleichbaren Situation befinden, die er als »Situation vor dem Absprung« (S. 20) bezeichnet: »[D]er Moment vor dem Absprung macht alle Unterschiede irrelevant und stellt eine aberwitzige Egalität her« (S. 20). Dabei zeichnet sich diese »Situation vor dem Absprung« zum einen dadurch aus, dass die Enge des Daseins unerträglich und unausweichlich geworden ist. Améry umschreibt dies mit den Worten: »Die Mauern rückten näher.« (S. 24) Zum anderen aber betont Améry, dass der Suizid der Versuch ist, aus der »Logik des Lebens« auszubrechen: »Noch ehe er gefragt wurde, schreit der den Freitod Suchende gellend: Nein! Oder er sagt dumpf: Man muss vielleicht, ich aber will nicht und beuge mich nicht einem Zwange, der sich von außen als Gesetz der Gesellschaft und von innen als eine lex naturae drangvoll spürbar macht, die ich aber nicht länger anerkennen will.« (S. 24 f.) Neben der Unausweichlichkeit der Situation und der Unerträglichkeit des eigenen Daseins geht es Améry vor allem um die eigenartige Paradoxie der suizidalen Erfahrung, dass der Suizid aus der »Logik des Lebens« herkommend in den Tod führt, in dem diese Logik des Lebens nichts mehr zu bedeuten hat (S. 30 ff.). Der suizidale Mensch bleibt, wie Améry nicht müde wird zu betonen, bis zum letzten Atemzug in seiner Welt, in seinem Dasein, aus dem er doch gerade durch den Suizid herausspringen wird. Dieses Paradox, so Améry, macht jeglichen Suizid so schwer verständlich, da eben dass, was in den Suizid führt, im Tod nichts mehr zu bedeuten hat. Der Tod, so Améry, erscheint dem suizidalen Menschen dabei als ein nichtendes Nichts. 61 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Nun wäre hier zu fragen, ob denn aus der Sicht des suizidalen Menschen der Tod tatsächlich ein »nichtiges Nicht« ist, wie Améry sagt. Betrachten wir diesen Gedanken Amérys genauer, so wird klar, dass – ganz unabhängig von eventuellen »Todesphantasien« – der entscheidende Punkt der suizidalen Erfahrung für Améry eben genau der ist, dass dem suizidalen Menschen vollkommen klar ist: das, was mich in den Suizid treibt, hat nach dem Suizid nichts mehr für mich zu bedeuten. Diese Einsicht ist für Améry die eigentliche »Motivation« für den Suizid. »Denn die Zivilisation, in der wir leben, der Zeitgeist, wenn man so will, ist so beschaffen, dass nur in einer verschwindend geringen Minorität von Menschen der Glaube noch so tief ankert, dass er in solchen Stunden existentielle Gewissheit zu sein vermöchte. Wer nur den lieben Gott lässt walten. Aber der rechte Mann waltet selber als Lebender und als Suizidär und gibt göttlicher Macht und Herrlichkeit keine Chance.« (S. 32 f.) Folgen wir hier Améry, so erscheint dem suizidalen Menschen der Tod deshalb als das Rettende, da er das verzweifelte Leben vernichten wird. Er ist damit zugleich dasjenige, was ein weiteres Rettendes ein für allemal unnötig macht. Für Améry ist offenbar das »Nichten« im Suizid entscheidend. Mit diesem »Nichten« ist hier schlicht das Vernichten des eigenen Lebens, so wie es einem geworden ist und so wie es sich einem insgesamt zu zeigen vermag, gemeint. Dabei kann diesem Vernichten, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr ausgewichen werden. Die suizidale Handlung wird unausweichlich den Tod herbeiführen. Wer also Hand an sich legt, fügt sich selbst dieses eigentümliche Rettende zu, welches sich im Vernichten des eigenen Lebens ereignen wird. »Da blieb als Ausweg nur der Tod, ein Nicht-Weg, da er doch nirgendwohin führte.« (S. 36) Ganz offensichtlich erscheint Améry das Vernichten seines unerträglichen Lebens als Rettung, obwohl ihm andererseits auch klar ist, dass er darin nur das im Leben verlorene Rettende in seinem Verlust bejaht und zugleich für alle Zeit überflüssig machen wird. Dies ist also der eigentliche Widerspruch in der suizidalen Erfahrung; es ist ein Widerspruch, der sich am Rettenden im Zu-sich-verhalten entzündet. Da sich der eigene Tod als Rettendes in der suizidalen Erfahrung zu zeigen vermag, ohne demjenigen, dem er als Rettung erscheint, dann andererseits doch wiederum eine (im voraus gewisse) Rettung (im anschließenden Rückblick) sein zu können, so stellt sich die Frage: Wer wird denn hier eigentlich gerettet? Wem also erscheint der Tod als 62 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die Paradoxie der suizidalen Erfahrung

Rettendes? Mit unseren bisherigen Voruntersuchungen können wir sagen: Es ist der verzweifelte Mensch, der über sich, so wie er geworden ist und so wie ihm die weiteren Möglichkeiten erscheinen, verzweifelt, da er sich nicht auf die Weise zu verändern vermag, wie er möchte. Der suizidale Mensch ist, im améryschen Sprachgebrauch, der Zurückgebliebene. »Der Zurückgebliebene ist allein: ein Ich. Und dieses konstituiert sich unermüdlich bis zum letzten Augenblick, auch wenn es nicht mehr als intentionales Bewusstsein sich nach seinen eigenen Möglichkeiten hin überschreitet, es sieht ja eben solche Möglichkeiten nicht mehr und ist nur noch bei sich.« (S. 76) Diese Antwort ist zentral für Amérys Verständnis der suizidalen Erfahrung. Denn seine These, dass der Mensch im Suizid »ganz bei sich« ist, ist die Grundlage für sein Verständnis, dass sich der Mensch im Suizid »ganz selbst gehöre« (S. 99 ff.). Ohne bereits an dieser Stelle ausführlich auf diese Überlegungen Amérys einzugehen, gilt es festzuhalten, dass für Améry der Mensch im Suizid in nahestmöglicher Weise ein gewissermaßen rein geistiges Wesen wird, welches sich von den Notwendigkeiten seiner Welt und der »Logik des Lebens« zu trennen vermag. Sicherlich ist ein solch reines Ablösen des »Ich« nicht möglich, wie übrigens auch Améry weiß. Aber Améry geht es um die Annäherung an einen solchen Zustand. Insofern ist der Suizid zwar ein »Weg ins Freie«, obwohl dennoch dieses anvisierte »Freie« prinzipiell unmöglich ist und – wie wir wiederum mit einem etwas anderen Freiheitsbegriff anfügen könnten – obwohl wiederum die fehlende »Freiheit« den Menschen erst suizidal werden lässt. Améry: »So ist der Freitod zwar der atemgebende Weg ins Freie, nicht aber dieses Freie selbst.« (S. 144) Améry geht an diesem Punkt noch weiter und formuliert, dass der Suizid eben nicht nur für den suizidalen Menschen der »Weg ins Freie« ist, sondern dass angesichts der fundamentalen Absurdität unseres Daseins der Suizid der einzige Weg ins Freie ist (S. 151). Die menschliche Möglichkeit, sich töten zu können, steigert sich für Améry zur fundamentalen Freiheitsoption des Menschen (S. 154). Zusammenfassend zeigt sich, dass Améry eine suizidale Perspektive entwickelt, die in ihrer Konsequenz ebenso erschreckend wie lebensgefährlich ist. Insbesondere aber seine suizidale Steigerung des Suizids zur fundamentalen Freiheitsoption des Menschen wird ihm oftmals als eine »Rationalisierung seiner eigenen Todessehnsucht« vorgehalten. Genauer besehen aber kommt darin eine Konsequenz zur Aussage, in welcher er zu einer stimmigen Beschreibung seiner 63 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

eigenen suizidalen Erfahrung findet. Denn es stellt sich tatsächlich die Frage, ob Améry in seiner erschreckenden Konsequenz der Steigerung des Suizids als fundamentale Freiheitsoption für alle Menschen nicht nur schlicht die suizidale Erfahrung ausformuliert. Ist es nicht die schreckliche Wahrheit, dass der suizidale Mensch in seinem Tod nicht nur ein Rettendes für sich, sondern oftmals zugleich auch noch eine Befreiung für alle anderen sieht? Wie anders sollen wir es verstehen, wenn der suizidale Mensch in seinem Abschiedsbrief schreibt: Ich habe es aus Liebe getan; Ich bin nur noch eine Last für alle anderen. Offenbar sehen suizidale Menschen häufig in ihrem Tod zugleich auch eine Rettung für die Menschen, die sie umgeben und die ihnen wichtig sind. Amérys Zuspitzung, im Suizid eine Rettung für jeden Menschen sehen zu wollen, ist also offenbar eine suizidale Konsequenz. Folgen wir diesem Verständnis der améryschen Beschreibung der suizidalen Erfahrung, so scheint es wenig hilfreich, Améry als »rationalisierenden Philosophen« darzustellen. Vielmehr scheint es fruchtbar, diese Steigerung als konsequenten Ausdruck seiner suizidalen Erfahrung und seiner Verzweiflung zu verstehen. Sicherlich ist eine solche Steigerung und damit Vereinseitigung des Verständnisses des Menschen für uns nicht einfach mitzumachen. Wie bereits gesagt, erschöpft sich ein phänomenologisches Verständnis nicht nur im simplen Nachzeichnen einer Innenperspektive der suizidalen Erfahrung. Andererseits aber nötigt uns die Frage danach, wie es ist, suizidal zu sein, die suizidale Erfahrung gerade auch in ihren Vereinseitigungen und Widersprüchen zu beschreiben. Entgegen aller nicht-suizidalen Perspektiven sieht Améry einzig im »nichtenden Nichts« seine Rettung. Es ist nicht der fruchtbare Ursprung, in welchem das Vorherige zurückgelassen und zugleich in ein neues Selbstwerden hineingesprungen wird, der Améry als Rettendes noch zu erscheinen vermag. Sondern es ist das »nichtende Nichts«, welches ihm als Rettendes erfahrbar wird. Diese suizidale Erfahrung wirft allerdings einige Fragen auf. Denn schließlich war uns das Rettende als etwas erschienen, welches vor allem auch im Rückblick seine rettende Kraft nachwies bzw. nachzuweisen versprach. Deutet sich hier im Verständnis der suizidalen Erfahrung ein weiterer Widerspruch an?

64 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung und Transzendenz

6.

Suizidale Erfahrung und Transzendenz

Wenn wir dem bislang Gesagten folgen, so müssen wir die These formulieren, dass sich dem suizidalen Menschen sein Tod als das Rettende offenbart, oder genauer: dass dem suizidalen Menschen sein Sich-töten- bzw. Sterbenkönnen als seine Rettung erscheint. Dies wäre dann als die originäre Erfahrung des suizidalen Menschen zu verstehen: Mein Tod rettet mich, da im Leben nichts mehr zu retten ist. Der Verlust jeglicher Rettung, jeglichen Zugangs zur Transzendenz im Leben meint den Verlust des Einzigen, des Sinnausweisenden und damit des Ganzen, woraufhin im bisherigen jeweils gelebt wurde. Erstaunlicherweise führt aber auch das Bejahen einer Überflüssigkeit jeglicher Rettung im Leben in die Offenbarung des Todes als eine letzte Rettung. Denn der eigene Tod verspricht dem suizidalen Menschen nicht nur dann eine Rettung, wenn an irgendeine Form personaler Existenz im Jenseits geglaubt wird, sondern insbesondere auch dann, wenn der Tod rein als Erleichterung von den Beschwernissen des Lebens verstanden wird. Sogar wenn wir den Tod als Grenzsituation verstehen, zeigt er sich doch noch als »unendlich mehr«, verspricht tiefgreifend-fundamentale und plötzlich von ihm ausgehende Wandlung der aktuellen Verfassung. An dieser Formulierung entzündet sich erneut der bereits benannte Widerspruch hinsichtlich des Rettenden. Denn damit ist gesagt, dass der Tod in der suizidalen Erfahrung sowohl als Tod als auch – und gewissermaßen zugleich – als Rettendes verstanden wird. Eine strenge Gleichzeitigkeit dieser differenten Erfahrungen scheint kaum vorstellbar. Denn mein Tod entzieht sich einer letzten Bestimmung, indem er sich hinter eine Grenze des Verständlichen zurückzieht. Er kann dann nicht zugleich als derjenige gegeben sein, der über alle Bestimmungen des Aktuellen hinausgeht und deren jeweiligen Verständnishorizont mitliefert. Der suizidale Mensch scheint sich aber nun genau in einer solchen Form von Widersprüchlichkeit einzufinden. Wie aber können wir beschreiben, dass sich der suizidale Mensch offenbar in zwei unterscheidbaren Weisen seiner selbst befindet, die (auf bisher noch ungeklärte Weise) mehr oder weniger parallel oder aber alternierend gegeben sind? Denn streng verstanden scheint dieser etwas eigentümliche Widerspruch zu bedeuten, dass sich der Mensch in der suizidalen Erfahrung reflexiv auf unterscheidbare Weisen verstehen kann, da er sich präreflexiv in einer in sich widersprüchlicher Weise gegeben ist. Handelt es sich hier um eine Widersprüch65 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

lichkeit, die erst durch das Zu-sich-verhalten – im Wissen um die eigene Sterblichkeit und im Wissen, sich den Tod geben zu können – wiederum in die (präreflexive) Gegebenheit Einzug findet? Wie kann diese eigentümliche Erfahrungskonstellation beschrieben werden? Diese eigentümliche Erfahrungsstruktur kann, dem rombachschen Strukturgedanken folgend und ohne unserer phänomenologischen Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung vorgreifen zu wollen, als die Parallelität zweier gleichzeitig geschehender, (weitgehend) selbständig sich vollziehender Erfahrungsweisen beschrieben werden. Der Strukturgedanke eröffnet nämlich die Möglichkeit, diese Eigentümlichkeit des menschlichen Daseins als ein In-Welten-sein (Rombach) zu verstehen (Rombach 1993, S. 411 f.). Das Verständnis des menschlichen Daseins als ein In-Welten-sein beschreibt radikal andere Strukturen, welche aktuell nicht notwendig der reflexiven Beschreibung zugänglich sein müssen, aber dennoch in der eigenen natürlichen Erfahrung mitgegeben sind, als implizierte, aber ebenfalls selbstbezüglich sich korrigierende Struktur (als Erfahrungshintergrund). Das klassische Beispiel einer solchen Implikation ist das Zueinander von Leib und Geist (oder Seele), in welchem der Betreffende in seiner selbstbewussten Reflexion zuweilen einen Leib hat (sog. Leibhaben, vgl. Plessner: »Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allen, was darin ist) – auch wenn er von seiner irgendwie »darin« seienden unsterblichen Seele überzeugt ist – und hat diesen Leib als diesen Körper.« Plessner 1970, S. 43), aber dennoch präreflexiv und in präepistemischer Gewissheit jederzeit ein Leib ist (sog. Leib-sein, Plessner; vgl. auch die Unterscheidung von »I« und »me« bzw. »Körper-Schema«/»body-schema« und »Körperbild«/ »body-image«, Mishara 2007). Die Implikation radikal anderer Strukturen seiner selbst bedeutet, dass im aktuellen Selbst noch andere »Selbste« einbehalten sind. Entscheidend in diesem Sinne ist die Transparenz. Das Maß der Transparenz drückt aus, was der Strukturgedanke zu verstehen erlaubt: Gerade die Einzigkeit der aktuellen Autogenese macht die Vielheit der Strukturen letztlich unhintergehbar. Hierzu eine »Notiz« von Rombach: Notiz Transparenz: Das Durchscheinen als Grundmotiv des Lebens. Streit, Widrigkeit und Versagen ist nötig, muss aber transparent aufgehellt werden. »Eitel Glück« ist falsches Glück. Doch darf es sich keinesfalls um eine Mischung handeln,

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Suizidale Erfahrung und Transzendenz

sondern um Transparenz. Der Mensch übersteigt seine Bestimmtheit in Akten der Transparenz, Hoffnung, Ausgriff, Wärme, das kleine Mehr über der Nützlichkeit der Handlungen. Damit erhalten die Handlungen die Beweglichkeit, die sie zur Verfügbarkeit für das Ganze benötigen. Glas und Kristall als Sinnbild; Luzidität, Durchsichtigkeit auch im Praktischen. (Rombach 1993, S. 354)

In diesem Verständnis unserer Erfahrungen entdeckt sich uns auch das, was im Rückgriff auf psychoanalytische Konzepte als »Unbewusstes« bezeichnet werden könnte, auf neue Weise. Denn es wird nun verständlich, inwiefern diese tieferen Strukturen unserer selbst niemals vollständig auf eine einzige Struktur zurückgeführt werden können. Auch dies ist am klassischen Beispiel des Leib-seins und Leib-habens erfahrungsgemäß nachvollziehbar. Während in Narrationen der eigenen Person auf in sich stimmige Weise ein dritter Arm reale Wirklichkeit sein kann – in virtuellen Welten der Phantasie, sei es bildgestützt, wortgestützt oder filmgestützt –, fehlt der angeborene dritte Arm aus leiblich gelebter Perspektive dennoch. Auch eine Dritt-Arm-Prothese eines kommenden Cyborg-Zeitalters könnte nicht primär als angeborener Arm klassifiziert werden, aber vielleicht, wie bei Körperprothesen durchaus nicht unüblich, als »wie angeboren« erfahren werden (Chrisley 2008). Jedoch, und dies verweist erneut auf die Unabhängigkeit der in dieser Implikation zueinander transparenten Strukturen, auch diese Dritt-Arm-Prothese würde das bekannte Problem unseres Alltags nicht lösen, dass uns manchmal ein »dritter Arm« fehlt. Denn, wenn der dritte Arm schließlich wirklich wie angeboren erlebt wird, dann wird er auch gewohnheitsmäßig so in unseren Lebensalltag eingewoben sein, dass uns letztlich zuweilen wiederum ein vierter Arm Not täte, um die zusätzlich anfallenden Aufgaben zu lösen. Unsere leibliche Struktur folgt, wie dieses Beispiel zeigt, ebensowenig in simpler Abschilderung unseren narrrativen Möglichkeiten, wie unsere narrative Struktur schlicht unsere leiblichen Möglichkeiten repräsentiert. Vielmehr sind beide Strukturen in selbständig sich korrigierenden Veränderungen begriffen. Rombach spricht insofern nicht mehr vom »Unbewussten«, sondern von Tiefenstrukturen (Rombach 1993, S. 300 ff.; Stichwort: der Erfahrungshintergrund ist seinerseits eine Erfahrung). In vergleichbarer Weise gilt dies auch für das klassische Beispiel des freudianisch verstandenen »Unbewussten«, also für die Erfahrung, durch etwas in einem selbst, welches einem eigentümlich fremd erscheint, getrieben zu werden. Gerade eine solche innerliche Entfrem67 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Auf dem Weg zu einem Verstndnis der suizidalen Erfahrung

dungserfahrung kann als die Implikation einer tieferen (aspekthaft präreflexiv bleibenden Erfahrungs-)Struktur verstanden werden, die ihren eigenen Weg geht. Diese Beschreibung ist insbesondere hinsichtlich des Verständnisses der suizidalen Erfahrung hilfreich, da hier eine Parallelität zweier Erfahrungen gegeben scheint, die überraschend ineinander umbrechen können. Jede der beiden Weisen, sich seiner zu vergewissern – sei es als verzweifelt, sei es als erleichtert oder gar erlöst angesichts der Möglichkeit, sich töten zu können – impliziert zugleich die andere Sichtweise als untrennbar zugehörig. So verstanden zeichnet sich die suizidale Erfahrung durch eine in ihr sich ereignende »Spaltung« der Erfahrung in zwei widerstreitende und unvereinbar scheinende Weisen des Zu-sich-verhaltens aus. Folgen wir diesem Verständnis, so wird klarer, in welcher Weise der suizidale Mensch in sich widersprüchlich hinsichtlich des Rettenden ist. Denn auf der einen Seite zeigt sich das Rettende, welches sich im Leben sehr gut vorstellbar als ein Rettendes aufdrängen würde, als verloren. Und auf der anderen Seite zeigt sich das Rettende in der Gestalt des radikal Anderen des Lebens, nämlich des eigenen Todes. Dabei ist dem suizidalen Menschen durchaus bewusst, dass im Tod alles irdisch Rettende überflüssig wird. Im Leben hingegen ist dem suizidalen Menschen bereits alles irdisch Rettende verloren gegangen. Das weitere Leben erscheint negativ bestimmt, positive Überraschungen scheinen unmöglich. Aus dieser verzweifelten Sicht auf das eigene Leben gibt es keinen letzten Rest an Unbestimmbarkeit mehr, der die negative Festschreibung des Lebens noch aufbrechen könnte. In diesem Moment der tiefsten Verzweiflung aber bringt die erkennbare Unbestimmbarkeit des Todes den Tod als Rettendes ins Spiel. Der Suizid zeigt sich als der aktive Sprung, der in diese radikale Alterität des Lebens, in dieses letzte verbliebene Ungewisse des Lebens führt und damit die einengenden, quälenden und unerträglichen Notwendigkeiten des Lebens in einem letzten Akt durchbricht. Der Widerspruch, dass es die Vernichtung des Lebens sein soll, die die Rettung des Lebenden zu gewähren scheint, bricht als Zweifel immer wieder auf. Ganz offenbar ist die suizidale Erfahrung dadurch charakterisiert, dass dem Menschen im eigenen Sterbenkönnen das letzte Rettende aus der unausweichlichen Verzweiflung des eigenen Lebens im Angesicht des verlorenen Rettenden erscheint.

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III. Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

Die Anfänge menschlich kulturgeschichtlicher Kenntnis der suizidalen Erfahrung bzw. des Suizids sind schwer zu bestimmen. Bestattungsrituale, Menschenopfer oder auch Todesstrafen sind für sich noch kein strenger Hinweis für die Kenntnis, sich auch selbst den Tod geben zu können, auch wenn sie als strenger Hinweis verstanden werden können, dass der Mensch um seine Sterblichkeit weiß bzw. dass er aus dem Todesschlaf nicht mehr ins hiesige Leben erwachen wird und dass er weiß, wie man das Leben zu verlieren vermag bzw. wie man diesen Todesschlaf erreichen kann. Aber auch wenn Bestattungsrituale und Menschenopfer keine strengen Hinweise sind, so können sie wohl doch als ein zumindest »weicher« Hinweis für eine solche Kenntnis genommen werden. Dann aber wäre diese Kenntnis sehr früh anzusetzen und beispielsweise mit dem Nachweis erster Bestattungsrituale vor ca. 50.000 Jahren anzunehmen (Müller-Beck 2004, S. 60 f.), auch wenn dies noch nichts über das Verständnis des Suizids als Möglichkeit in der Sicht der damaligen Menschen aussagt. Strengere Hinweise bieten schriftliche Äußerungen aus der Frühgeschichte, auch wenn diese bereits eine elaborierte Kultur voraussetzen. Das älteste Schriftstück, welches sich mit dem Tod des einzelnen Menschen auseinandersetzt und hierbei auch das Thema des Suizids ins Auge fasst, ist der berühmte »Disput eines Mannes mit seinem Ba« – auch »Der Lebensmüde« genannt. Er stammt etwa aus dem 18. Jahrhundert vor Christus und ist in der Zeit des Mittleren Reiches (2040– 1650 v. Chr.) Ägyptens anzusiedeln (Assmann 2005, S. 196 ff.). Im Unterschied dazu geht es im vergleichbar alten Gilgamesch-Epos, welches aus Mesopotamien und damit der anderen großen Wiege unserer Zivilisation stammt und dessen Entstehung ebenfalls in der Zeit nach 2000 vor Christus angesiedelt werden kann, an keiner Stelle explizit um den Suizid, auch wenn Gilgamesch über den Tod seines Freundes und Kampf-/Reisegefährten Enkidu verzweifelt (Schmökel 1966, S. 76 ff.; 69 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

Röllig 2009, S. 90 ff.). Sicherlich fehlen in der Überlieferung des Gilgamesch-Epos kleinere Abschnitte, in denen vielleicht das Thema verborgen sein mag. Aber letztlich geht es Gilgamesch um etwas ganz anderes, als dem »Lebensmüden« aus Ägypten. Gilgamesch nimmt gefährliche Abenteuer in Kauf, die er nur dank seiner teilweise göttlichen Natur zu bestehen vermag, um das Geheimnis des ewigen Lebens zu entschlüsseln, da er Angst vor dem Tod in seiner Endgültigkeit hat: »In Todesangst durchirrt’ ich die Steppe, des Freundes Los lag schwer auf meinem Herzen. […] Wie kann ich schweigen, wie kann ich stille sein? Mein Freund, den so ich liebte, ward zu Erde, zu Erde wurde Enkidu, mein Freund! Und ich – muß ich gleich ihm mich niederlegen, daß nie ich wieder mich erheben kann?« (Schmökel 1966, S. 87 f.). Zwar gelangt Gilgamesch an das Ziel seiner Fahrt und trifft Utnapischtim und dessen Ehefrau, die Überlebenden der Sintflut, denen von den Göttern Unsterblichkeit verliehen wurde, der ihm aber das Geheimnis des ewigen Lebens nicht mitteilen kann. So kommt er auf seiner Fahrt zu der Erkenntnis, dass das Leben zwar in steter Erneuerung begriffen ist, dass aber einzig die Taten den Menschen überdauern können. Gilgamesch sucht also in seiner Verzweiflung nicht den eigenen Tod, sondern im Gegenteil, er sucht die endgültige Erlösung vom Tod und die Dauer des hiesigen Lebens. Da ist ihm der »Lebensmüde« aus Ägypten bereits voraus, gilt ihm doch das Diesseits und das Jenseits als ein Gemeinsames, wobei der Tod nur den irreversiblen Übergang ins Jenseits darstellt. Der Disput zwischen dem Mann (»Ich«) und seinem »Ba« stellt eine besonders prekäre Situation für das damalige ägyptische Verständnis des Kosmos dar. Denn im fundamentalen Sinne geht es um die Frage, wie die Ordnung des Kosmos erhalten werden kann, da die angedrohte Aufkündigung der Lebensgemeinschaft durch den »Ba« die maximal brutale Negierung der höchsten Werte darstellt (Assmann 2005, S. 201). Im ägyptischen Verständnis ist der »Ba« eigenständig aktiv und vom ortsgebundenen Körper potentiell frei, so dass er – wie ein Vogel – frei durch alle Räume schweifen kann. Seine Gemeinschaft mit dem Menschen ist zwar für ihn ebenfalls vorteilhaft, da der »Ba« nicht bedürfnislos ist, aber mit dem Tod – also dem Wechsel vom Diesseits ins Jenseits – jederzeit aufkündbar. »Damit ist klar, daß beide, das Ich und der Ba, den Tod anstreben. Kontrovers sind nur die Form und Vorstellung des Todes. Das Ich stellt sich den Tod als eine Fortdauer der Lebensgemeinschaft von Ich, Leib und Ba vor unter veränderten Bedingungen. Für den Ba bedeutet der Tod eine Aufkündigung dieser Ge70 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

meinschaft. Der Tod, wie das Ich ihn sich wünscht, braucht Vorbereitung und daher Zeit. Deshalb plädiert es für Zeit, Frist und Aufschub.« (S. 201) Denn die Fortdauer der Lebensgemeinschaft im Jenseits, wenn der Mensch vor die unmittelbare Gegenwart der Götter treten kann, erfordert magisch wirksame Vorleistungen im Diesseits: Es muss nicht nur die Fortdauer des mumifizierten Leibes im Geheimnis der Sargkammer gewährleistet werden, damit sich der »Ba« auf dem Steinhaus des Leibes niederlassen kann, sowie der »Anblick« des Sonnenlichts gelingen, sondern auch der Name des Menschen auf dem Grabdenkmal im Gedächtnis der Kultur fortdauern, um an den lebensspendenden Ritualen teilzuhaben. Der Suizid wäre also dann kein Problem, wenn er nach den rechten Vorbereitungen begangen nur umso früher in die unmittelbare Gegenwart der Götter führen würde. Problematisch ist eher, ob der Mensch mit seinem Suizid nicht die Ma’at verletzen würde, also die Ordnung des Kosmos und damit die ordnungsstiftende Beziehung von Mensch und Göttern. Das Einhalten der Ma’at ist wesentliche Voraussetzung, damit der Ägypter das Totengericht – vergleichbar dem »Jüngsten Gericht« – übersteht, welches erst das ewige Leben in personaler Kontinuität bzw. als Lebensgemeinschaft von Ich, Leib und »Ba« garantiert (Assmann 2005, S. 181 ff.). Das ab dem 15. Jahrhundert vor Christus dann kanonisch gewordene »Totenbuch« führt das »Sündenbekenntnis« im 125. Spruch auf, stellt bildlich ein Wägen des »Herzens« dar, und ist in seinen Pflichten im Diesseits inhaltlich so komplex, dass der Suizid immer auch zu einer nicht im Totengericht reinigbaren Versündigung führen könnte (Hornung 1998, S. 233 ff.). Dennoch sind Beispiele für die Androhung von Suiziden aus der ägyptischen Überlieferung aus der Zeit des Mittleren Reiches bekannt (Assmann 2005, S. 199). In jedem Fall können wir festhalten, dass der Suizid im Alten Ägypten als einem der prägenden Kulturräume unserer eigenen Kultur seit der Zeit des Mittleren Reiches bekannt ist, wenn er auch offensichtlich nur selten überhaupt sinnausweisend erscheint. Nach diesen ersten Vorvergewisserungen der Verständnisse der suizidalen Erfahrung bzw. des Aufweises, dass jedenfalls die Möglichkeit, sich töten zu können, in den beiden ältesten kulturellen Herkunftsräumen der europäischen Kultur bekannt war, können wir uns nun der genaueren Untersuchung der Verständnisse der suizidalen Erfahrung und der Möglichkeit, sich töten zu können, im weiteren Verlauf der europäischen Kulturgeschichte widmen. 71 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

1.

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung in der Antike

Das antike Griechenland, dessen Blütezeit uns bei diesem Begriff vor Augen steht, entwickelt sich in weitgehender Siedlungskontinuität aus der mykenischen Palastkultur und steht insofern unter kulturellem Einfluss der damaligen Hochkulturen Äyptens, der Levante und Mesopotamiens. Auch wenn Handelskontakte, Wanderungen und Durchmischungen im Raum des östlichen Mittelmeers trotz eher kleinräumiger Siedlungsverhältnisse vielfältig bleiben, verliert sich im griechischen Siedlungsraum in den sogenannten »Dunklen Jahrhunderten« zwischen 1200 und 800 vor Christus die Kenntnis der Schrift, welche – Linear B genannt – im mykenischen Griechenland der Palastkultur genutzt worden war (Welwei 2002, S. 29). Erst um 800 vor Christus gewinnt die griechische Kulturentwicklung wieder an Fahrt, wobei neben dem Wiedererwerb einer Schriftsprache sicherlich auch Außensiedlungsaktivitäten im Mittelmeerraum entscheidend sind (S. 44). Die Außensiedlungsaktivitäten, welche von verschiedenen Mutterstädten wie Athen und insbesondere Chalkis, Korinth und Megara ausgehen, sind vielfältig motiviert und schaffen dank gemeinsamer Kulte, Sprache und Interessen einen weit über das Mittelmeer ausgedehnten, in verschiedene Gemeinschaften untergliederten, aber dennoch griechischen Kulturraum. Die an die »Dunklen Jahrhunderte« anschließende archaische Epoche gilt insofern als die Phase des kulturellen Aufbruchs der griechisch-antiken Kultur und der griechischen Polis (Hölscher 1998, S. 12 f.). Es bilden sich nicht nur gemeinsame Kulte und Feste heraus, dessen berühmtestes panhellenisches Fest zu Ehren des Zeus in Olympia stattfindet, sondern eben auch Stadtstaaten (poleis) mit konsolidierten öffentlichen Insitutionen mit allgemein anerkannten Kompetenzen. Die identitätsstiftenden Kulte stehen dabei oftmals quer bzw. parallel zur Polis (Welwei 2002, S. 39 ff.). Von besonderer Bedeutung für den griechischen Kulturraum ist zudem die militärische Entwicklung des »Hopliten« im 7. oder 8. Jahrhundert vor Christus, eines gleichartig ausgerüsteten, schwer mit Schild und Speer bzw. Lanze bewaffneten Fußsoldaten, der im Verband (»Phalanx«) einen schier undurchbrechbaren Schild- und Lanzenwall bildet. Zwar bleibt hier kein Platz für heroische Einzeltaten, aber die Phalangen ermöglichen den griechischen Poleis eine militärische Überlegenheit über ihre Nachbarn, welche insbesondere die persischen Großreiche durch Schlach72 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung in der Antike

tenniederlagen und Alexander der Große durch die Eroberung eines Weltreichs demonstrieren werden (vgl. Haywood 2005, S. 142 ff.). Dennoch erwähnt Homer in seinen Epen auch heroische Einzelkämfe herausragender Krieger, welche gewissermaßen eine Schlacht ersetzen konnten.

1.1.

Homer und Pindar

Das aus der phönikischen Konsonantenschrift entwickelte griechische Alphabet, welches Dank seiner hinzugefügten Schriftzeichen für Vokale außerordentlich flexibel ist, wird Aufzeichnungssprache der berühmten Epen Ilias und Odysee, in denen wir die nächsten schriftlich eindeutigen Zeugnisse der Kenntnis des Suizids finden. Bereits im 7. Jahrhundert vor Christus finden sich aber auch Abbildungen des Suizids des homerischen Helden Aias, der auf sein in der Erde aufgestecktes Schwert fällt (Aigner 1982, S. 50 f.). Der Telamonier Aias, der kriegerische Held und tragische Gegenspieler des Odysseus nach dem Tod des Achilles in der Schlacht um Troia (Homer 2000, Odyssee 11, 543 ff.), erlangt mit seinem Suizid nach verlorenem Streit um die Waffen des Achilles – und damit dem Verlust angestrebter Führerschaft gegen Odysseus – enorme Bekanntheit im antiken Griechenland. Dabei begeht Aias seinen Suizid in einer Verfassung, die dem Wahnsinn nahe ist. Dies findet sich bereits in der frühesten Darstellung von Aias’ Suizid, einem Siegel aus dem 7. Jahrhundert vor Christus, welches ihn auf sein Schwert fallend und damit in einer persönlichen Instabilität zeigt (Brown 2001, S. 26 f.). Zwar fehlt die Darstellung von Aias’ Suizid in der Odyssee von Homer, aber Stellen aus der Ilias können als weiterer Nachweis gelesen werden, dass in der archaischen Epoche (um 750–500 v. Chr.) die suizidale Erfahrung als menschliches Phänomen gelebt und verstanden wurde. Bekanntlich ist davon auszugehen, dass die von Homer im 8. Jahrhundert vor Christus im ionischen Dialekt verdichtete Überlieferung bis ins 2. Jahrtausend zurückreicht, zumal sie Ereignisse aus der mykenischen Palastkultur schildert. Die Epen Homers beschreiben zwar Ereignisse aus dieser mykenischen Zeit (der »trojanische Krieg«), doch die Kultur- und Sozialstrukturen in den Epen entsprechen seiner zeitgenössischen adligen Lebenswelt des 8. Jahrhunderts vor Christus: »[…] zumindest hinter der Ilias steht der deutliche Wille derjenigen 73 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

Gesellschaftsschicht, deren Wertewelt die Ilias abbildet und propagiert, sich selbst ein Monument zu setzen.« (Latacz 1989, S. 26, vgl. auch Welwei 2002, S. 53 ff.) Zwar ist für die Datierung des Verständnisses des Suizids, wie er in Homers Epen geschildert wird, auch zu bedenken, dass nicht nur die Lebensdaten Homers unbekannt sind, sondern dass auch die schriftliche Fixierung der Epen nicht durch Homer selbst, sondern erst nach seinem Tod erfolgt. Es kann aber durch den Nachweis bildlicher Darstellungen angenommen werden, dass der Suizid des Aias zumindest in der mündlichen Version zu Homers Zeiten bereits enthalten war bzw. dessen Kenntnis beim Zuhörer vorausgesetzt werden konnte. In welchem Ausmaß der Suizid des Aias in der mündlichen Überlieferung vor der erwähnten Zeit bildlicher Darstellungen und dichterischer Verdichtung eine Rolle spielt, bleibt hingegen unbekannt. Angesichts der kulturellen Nähe mit frühen Hochkulturen in Ägypten, der Levante und Mesopotamien ist es jedenfalls wahrscheinlich, die Kenntnis der suizidalen Erfahrung vor Homers Zeit anzusiedeln. Wie aber versteht sich nun die suizidale Erfahrung bei Homer? Die Welt des Helden, so wie sie uns in der Ilias begegnet, ist durchdrungen von ruhmreichen Taten, wie es beispielsweise auf Achill zutrifft: »Immer der erste zu sein und hervorzuleuchten vor andern.« (Homer 1946, Ilias XI, 84) Insgesamt zeichnet sich z. B. Achill durch eine streitbare Lebensweise aus, welche durch Ehre (time), Tugend (arete) und das Gute (Agathen) gekennzeichnet erscheint. Doch der ruhmreiche Mann hat seinen Lebensweg und damit seinen Tod nicht in den Händen, sondern es liegt in der Hand des Schicksals und damit auch in der Hand der Götter, wann der Mann sterben wird oder was ihm widerfährt. Achill erwägt den Suizid als er vom Tod seines Freundes Patroklos erfährt, der vom trojanischen Helden Hektor im Kampf getötet wird. Patroklos ist Achill der »Liebste der Gefährten« und damit nicht irgendein (Waffen-)Gefährte (hetairos), sondern durchaus ein inniger Freund im heutigen Sinne (Schinkel 2003, S. 166 f.). Im Moment der Mitteilung stürzt Achill vor Schmerz und Verzweiflung nieder, ist zugleich außerordentlich wütend, streut sich Asche auf sein Haupt und rauft sich die Haare – hierin völlig Gilgamesch vergleichbar, der ebenfalls verzweifelt ist, wegrennt, sich die Haare rauft und die Kleider vom Leib reißt, als er vom Tod Enkidus überzeugt ist (Schmökel 1966, S. 78). Achills Waffengefährte Antilochos fürchtet aber darüber hinaus, eine neue Qualität und Dimension der Verzweiflung benennend, dass Achill »die Kehle sich selbst mit dem Eisen durch74 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung in der Antike

schnitte« (Ilias XVI, 34). Und Achill sagt später zu seiner Mutter: »Nun aber muss auch dich unendlicher Jammer bedrücken um den gestorbenen Sohn; denn nie empfängst du ihn wieder, nimmer kehrt er dir heim, da auch mich mitnichten gelüstet, lebend umherzugehn auf der Erde, wenn Hektor mein Speer nicht vor den andern ereilt und ihn des Lebens beraubet, und er büßt für den Tod des Menötiaden Patroklos.« (XVI 77–82) »Möcht’ ich sofort hinsterben, da nicht mir gönnte das Schicksal, meinen erschlagenen Freund zu schützen.« (XVI 87) Er unterlässt jedoch den Suizid, aus Gründen, die er seiner Mutter nur Augenblicke später erläutert: »Hin nun geh’ ich, den Mörder des wertesten Haupts zu erreichen, Hektor; doch mein Los, das empfang’ ich, wann es auch immer Zeus zu vollenden beschließt und die andern unsterblichen Götter.« (XVI 103–105). Bei Homer wird folglich der ehrenhafte und tapfere Mann »in der Wut der Verzweiflung« aus unterschiedlichen situativen (Nieder-)Lagen heraus suizidal (Aigner 1982, S. 45 ff.). Allerdings stellt Homer die suizidale Erfahrung in völliger Wertneutralität dar. So verliert er auch in der Odyssee kein Wort über Aias’ Suizid, als Odysseus die Seele des Aias in der Unterwelt trifft, die immer noch wegen des verlorenen Streits um die Waffen des Achill grollt (Odyssee 11, 543 ff.). Und doch müssen wir aus dem Text heraus annehmen, dass der Zuhörer um Aias’ Suizid weiß. Offenbar widerspricht für Homer die suizidale Erfahrung und auch der Suizid nicht zwingend dem Ethos des griechischen Adligen der archaischen Epoche. Im Hinblick auf das Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Homer zeigt sich der Suizid folglich als eine Tat, die als ein Vollenden des Geschicks verstanden werden kann (Aias). Jedoch müssen wir festhalten, dass dieses Verständnis des Suizids – Suizid als Vollendung des eigenen Schicksals – vor der Frage steht, ob der Mensch seinem Schicksal mit dem Suizid nicht einfach nur ausweicht (Achill)? Jedoch versteht sich der Suizid eher als das ruhmreiche Befolgen des eigenen Schicksals oder auch als Ausdruck einer Todessehnsucht angesichts unerträglicher Lebensumstände, wobei der Tod zumeist im ruhmreichen Kampf gesucht wird (Aigner 1982, S. 170; Brown 2001, 24 ff.). Dabei bleibt eine gewisse Unsicherheit, da es für den Menschen nicht eindeutig zu erkennen ist, ob es sein Schicksal ist, durch eigene Hand zu sterben. Sonst müsste ja letztlich jede suizidale Erfahrung als Schicksal und damit als Aufforderung zum Suizid verstanden werden. Dann aber hätte auch Achill nicht mit dem Hinweis auf das gottgeschickte Schicksal 75 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

verzichten dürfen. Die Frage wird bei Homer nicht sicher geklärt, offenbar ist beides möglich. Auch in den nachhomerischen Darstellungen des Aias bei Pindar (um 520–445 v. Chr.) ist diese Frage von besonderer Bedeutung. Entsprechend der bildlichen Darstellungen von Aias’ Suizid zeigt sich Aias auch bei Pindar in einer gewissen Instabilität: Er wird »zu Fall gebracht« (Pindar 1986, Isth IV, 34 f.) und ist »wegen der Waffen erzürnt« (Nem VII, 26) oder wird gar vom Neid »verdorben« und »ins Schwert« gestürzt (Nem VIII, 23). Aias ist wie jeder Mensch bei Pindar seinem Schicksal unentfliehbar ausgeliefert: »Das Geschick, mit dem wir geboren, entscheidet über alles, was wir tun.« (Nem VI, 40). Und es ist die vordringliche Aufgabe des Menschen, sein eigenes Schicksal zu erkennen und zu verwirklichen. Auch wenn Aias mit seinem Suizid alle Griechen beschämt und »eine Schmach« auf sie lädt, nutzt Pindar ihn wiederholt in seinen Siegesliedern, um den aktuellen Sieger der Wettkämpfe in einer Verbindung zu mythischen Gestalten zu verherrlichen (Isth IV, 33 ff.). Er lobt zudem Homer, der die heldenhafte Größe Aias’ zu Recht herausstellte und ihm mit seinen Erzählungen ewigen Ruhm sicherte (Isth IV, 37 ff.). Pindar greift dabei mit Aias ein homerisches Zentralthema des menschlichen Lebens in seiner Schicksalsunterworfenheit und seiner Unterschiedlichkeit zum Leben eines Gottes auf. Aias ist nun für Pindar, wie auch in dem Drama des Sophokles (496–406 v. Chr.), der Typus des Menschen, der gegen das Schicksal und die Götter revoltiert und opponiert. Er gibt sich mit seinem Schicksal nicht zufrieden. So lässt Pindar Herakles prophetisch sprechen, dass Telamon einen Sohn bekommen wird, der eine besondere Qualität aufweist: »Nicht zu brechen soll er sein, in seinem Wesen.« (Isth VI, 47) In dieser Zeile wird bereits die Hybris deutlich, die Aias zu Fall bringen wird und seine andere Instabilität im Leben begründet: Es ist nicht sein Schicksal, die Waffen des Achill zu erhalten, da die Griechen – fraglos unter dem Einfluss Athenes – den süßen Reden des Odysseus verfallen und so ihm die Waffen zusprechen (Nem VIII, 23 ff., Isth IV, 21 ff.). Aber Aias unterwirft sich dem Schicksal nicht, er begehrt auf – oder ist gerade dieses Aufbegehren sein Schicksal? Dies bleibt bei Pindar – wie zuvor auch bei Homer – unklar, jedenfalls gilt aber: »Das Joch auf den Nacken zu nehmen und leicht zu tragen frommt. Wider den Stachel zu löcken erweist sich als gefährlicher Weg.« (Pyth III, 93 f.) Diese Empfehlung Pindars ist auch das Leitthema im Drama von Sophokles, 76 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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der Aias als einen unbrechbaren Menschen schildert, der sogar durch das beschämendste Geschick nicht mehr umerzogen werden kann (Sophokles 1990, 584 ff.). In seiner Tragödie schlägt ihn Athene zwar zunächst mit Wahnsinn und setzt ihn so einer tiefen Beschämung aus, als er wieder zu sich kommt. Doch Aias ist nicht bereit, sich den Göttern und dem Schicksal zu beugen: »Weißt Du denn nicht, dass ich zu gehorchen den Göttern überhaupt nicht mehr verpflichtet bin?« (589 f.) Es ist diese Frage, die den Raum des Suizids in der griechischen Antike voll eröffnet: Der Suizid kann sowohl Ausdruck der Hybris eines Menschen sein, der gegen sein Schicksal aufbegehrt, als auch Ausdruck des Schicksals sein, in das sich der Mensch zu fügen hat.

1.2.

Euripides

Das griechische Theater wird allgemein als eine zentrale identitätsbildende Stätte der in einer Polis bzw. einem Kulturraum lebenden Menschen angesehen. Es entwickelt sich aus dem Kult des Dionysos, der wie so viele andere Kulte in Griechenland quer durch alle Poleis gepflegt wird. Die Entstehung des Theaters ist zudem streng an Athen gebunden, welches auch in den »Dunklen Jahrhunderten« eine konstante, wenn auch kleinräumigere Besiedelung aufwies und die wichtigste Stadt in Attika bleibt (Welwei 2002, S. 35). Der allgemeine Aufschwung verbunden mit einem Wachstum der Bevölkerung im 8. Jahrhundert vor Christus zeigt sich auch insbesondere in Athen und befördert wie in ganz Griechenland ausgehend von jahrhundertelang kleinräumigen und insofern vielfach sehr selbständigen sozialen Ministrukturen eine weitgehend differente Gesellschaftsstruktur mit einer Gemeinschaft der Freien, die sich nicht nur aus aristrokratischen, sondern eben auch bäuerlichen und handwerklichen Familienmitgliedern zusammensetzt (S. 59). Auch wenn Athen hier letztlich einen »Sonderweg« geht, der in die Erfindung und das Herausbilden der Demokratie mündet, bleibt die Entwicklung des griechischen Theaters nicht nur an diese freie Gesellschaftsstruktur der Demokratie, sondern auch an die Figur des tatkräftigen und fähigen Tyrannen Peisistratos (605–527 v. Chr.) gebunden (Haywood 2005, S. 132 ff.). Peisistratos ergreift 546 die Macht, als bereits eine oligokratischdemokratische Struktur durch die Reformen von Solon 594/593 in der in weiterem wirtschaftlichen Aufschwung befindlichen Polis Athen be77 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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steht, die aber die sozialen Spannungen insbesondere auch in den aristrokratischen Schichten der Polis nicht dauerhaft zu befrieden vermag Peisistratos betreibt eine den ärmeren Klassen nähere und sozial ausgleichende Politik (Welwei 2002, S. 94 ff.). Entscheidender Impuls für die weitere Entwicklung des attischen Theaters ist das von ihm initiierte Theaterfest für den Weingott Dionysos im Jahre 534, an welchem der Dichter Thespis in seinen Kulttänzen dem tanzenden und singenden tragischen Chor einen einzelnen Schauspieler gegenüberstellte (S. 87; Haywood 2005, S. 162). Jedoch ist anzunehmen, dass ohne die gewaltsame Überwindung der Tyrannis der unbeliebteren Söhne des Peisistratos mit Unterstützung spartanischer Truppen 510 vor Christus und die demokratischen Reformen des Kleisthenes im Jahr 508/507 vor Christus die hohe Kunst des attischen Theaters der »klassischen Epoche« nicht möglich geworden wäre. Denn erst infolge der kleisthenischen Reformen konnte die erlebte Ähnlichkeit eines jeden freien Mannes mit Bürgerrechten ihren höchsten demokratischen Ausdruck sowohl in der direkten (face-to-face) Politik auf dem Marktplatz (agora) als auch in der institutionalisierten Form finden, wie beispielsweise dem Scherbengericht (ostrakismos). All dies eröffnet die kulturelle Blüte Athens im 5. Jahrhundert vor Christus, während nach Außen heftige Kriege mit den Persern und später mit Sparta toben. Athen wird sogar nach der verlorenen Schlacht an den Thermopylen 480 vor Christus von den persischen Truppen geplündert, blüht aber dennoch als kulturelles Zentrum Griechenlands, schlägt mit vereinten griechischen Kräften letztlich doch die persischen Truppen, sichert die ionische Unabhängigkeit, treibt die Demokratie unter Ephialtes nochmals weiter, wird politisch unter Perikles geradezu imperial und geht letztlich in den endlos erscheinenden Peloponnesischen Kriegen (431– 421 v. Chr. sowie 412–404 v. Chr. mit reichlich »Zwischengeplänkel«) im Zweikampf mit Sparta unter. Hier endet die vielfältige, an eine demokratisch strukturierte Urbanität gebundene und experimentierfreudige Kultur der »klassischen Epoche« und prägt fortan als »gewesen« die hellenistische Kultur, auch hinsichtlich der Ausbreitung des attischen Theaters, findet tiefgreifenden Einfluss auf die römische Mittelmeerkultur und alle ihr nachfolgenden Kulturen, zu denen sich auch die unsrige zählen darf. In dieser Zeit der »klassischen Epoche« lebt Euripides (485–406 v. Chr.), der wohl als einer der bedeutendsten attischen Tragiker gelten kann. Das Theater der attischen Polis hat in seiner Zeit eine eigenstän78 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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dige Qualität gegenüber den Kulten gewonnen, wenn auch weiterhin zu den Festen des Dionysos Theaterfeste stattfinden. Theater ist nun identitätsstiftend für die Polis. Euripides’ einfühlsame Tragödien zeigen im Unterschied zu seinen Vorgängern Aischylos (525–456 v. Chr.) und Sophokles (496–406 v. Chr.), dem Autor der Tragödie über Aias’ Suizid (Sophokles 1990), nicht nur idealisierte Gestalten, sondern lebendige Menschen mit psychischem Innenleben, die gewissermaßen unter der Maske eines mythischen Namens auftreten. Dabei profitiert er von seinen beiden Vorgängern, denn Aischylos und Sophokles haben dadurch, dass sie dem Chor zwei bzw. drei Einzelschauspieler gegenüberstellen, überhaupt erst die Voraussetzungen für eine Theater-Darstellung der einzelnen Person geschaffen. Beispielhaft soll Euripides’ Verständnis der suizidalen Erfahrung betrachtet werden, wobei es zugegeben praktisch unmöglich ist, den »erzieherischen« Aspekt und den vorwiegend »darstellenden« Aspekt z. B. der suizidalen Iphigenie in der Tragödie zu unterscheiden. Vielmehr kann hier entsprechend unserer Methode – wie schon bei Achill – die aneignende Konstruktion einer historisch stimmigen Gestalt gesehen werden. In der überlieferten, erst posthum aufgeführten Tragödie »Iphigenie in Aulis« stellt Euripides den Suizid der Iphigenie dar. Iphigenie, die Tochter des Königs und hellenischen Heerführers Agamemnon, ist zur Opferung vor dem Altar der Artemis in Aulis bestimmt, damit der Wind aufkommt und die griechische Flotte nach Troia segeln kann. Unter der väterlichen List einer vermeintlichen Heirat mit Achill kommt sie nach Ailos. Achill bietet sich, nachdem er durch die Gemahlin des Agamemnon von der List erfahren hat, als Retter der Iphigenie an. Iphigenie erfährt ebenfalls vom geplanten Opfertod. Sie ist verzweifelt, weint und bittet flehentlich den Vater, sie nicht in den Tod zu schicken (Euripides 1950, S. 48 f.). Der Vater verweist auf die »stärkere Gewalt« des Schicksals (S. 50). Auch als Achill sich »allen Griechen« gegenübersieht, die den Tod der Iphigenie fordern, bleibt er in heroischer Weise bereit, sich für sie in den Kampf zu werfen (S. 52). Doch Iphigenie entschließt sich für alle überraschend zum Selbstopfer. Entschlossen und ruhig berichtet sie von dem Ruhm, den sie für Hellas in ihrem Tod erreicht und dass sie Hellas, wenn sie weiterleben würde, im Wege stehe. So sagt sie ihrer Mutter: »Allen hast du mich geboren, allem Volk, nicht dir allein […] Hellas geb’ ich meinen Leib zum Opfer hin.« (S. 54 f.) So wählt sie »das Schöne im Unabwendbaren«, erlebt sich als »meines Lands Erretterin« und handelt ruhmvoll. Diese ruhm79 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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volle und schöne Rettungstat für ihr Land Hellas übersteigert Euripides noch dadurch, dass er im Opferhain die Göttin Artemis selbst erscheinen lässt. Sie nimmt Iphigenie ungeopfert in den Olymp zu den Unsterblichen auf und tauscht stattdessen eine Hirschkuh als Opfer ein (S. 61 f.). Hier findet bei Euripides eine Frau zur »ruhmreichen Tat«, die sonst nur Männern vergönnt war, wie noch bei Homer dargestellt. Zugleich aber ist Iphigenie streng verstanden eigentlich gar nicht suizidal, auch wenn sie tiefgreifend verzweifelt ist. Sie begeht insofern auch keinen Suizid aus Verzweiflung wie Aias, sondern fügt sich freiwillig ins Schicksal ihres Todes und zelebriert ihren Suizid als Selbstopfer für Hellas. »Nicht mehr stumpfes Gehorchen gegenüber der Opfernotwendigkeit, sondern freie, abwägende, reflektierende Entscheidung zur Bereitstellung des eigenen Lebens ist es, was diese ›Selbstopferdramen‹ des Euripides preisen und als vorbildliches Handeln hinstellen.« (Aigner 1982, S. 153) So wird der Suizid als Selbstopfer eine ruhmvolle Tat und Iphigenie wird im Bejahen ihres Schicksals umfassend gerettet. Auch bei Euripides zeigt sich der Suizid als Vollendung des Geschicks, er verherrlicht aber zugleich das Opfer des Einzelnen für die Gemeinschaft, die Polis. Dieses Thema rückt in den Mittelpunkt des Theaterstücks, insofern Aigner durchaus zu Recht von »Selbstopferdramen« spricht. Während bei Homer der Held in einer gewissen Vereinzelung verzweifelt, wird in den Dramen der Einzelne an seine Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft erinnert. Eine Erinnerung, die der Held nicht benötigt, da er unter den anderen hervorsticht und gerade durch sein Hervorstechen für die Gemeinschaft wertvoll ist. Der gewissermaßen staatstragende, zumindest aber gemeinschaftssichernde Charakter des Selbstopfers ist ein neues und zuvor deutlich weniger thematisiertes Merkmal, mit dem bei Euripides der Suizid als Selbstopfer förmlich gerechtfertigt wird. Dennoch bleibt auch hier die Frage, ob die gemeinschaftliche Entscheidung, Iphigenie in den Tod zu schicken, zwingend als Schicksal anerkannt werden muss? Bei Euripides ist dies durch Orakelbefragung im Vorlauf gesichert und durch das Erscheinen der Artemis nochmals rückwirkend bestätigt, ob dies aber für andere Entscheidungen zu gelten hat, ist eine weitergreifende Frage. Eine gewisse Unsicherheit bleibt bestehen. Zwar sind der Suizid des Aias, die suizidale Krise Achills und das Selbstopfer von Iphigenie nicht an allen Punkten vergleichbar, jedoch fordern uns Homer, Pindar und Euripides auf, Suizide als eine all80 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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gemeingültige Tat zu verstehen, in denen der betreffende Einzelne sein Schicksal verwirklicht. Dies gilt in gewisser Weise sogar für Achill, dem das Schicksal des Suizids eben gerade nicht beschieden ist. Auch wenn also aus unserer Sicht eine gewisse Unsicherheit der schicksalhaften Verfügung verbleibt, zeigen sich alle drei Verhaltensweisen in tiefer Übereinstimmung mit dem Menschenbild der damaligen Epoche. Dieses versteht den Menschen fundamental als ein Wesen, welches Geist (logos) hat und damit am großen und allgemeinen, alles durchwaltenden Geist (nous) teilhat. Dieser tritt bei Homer, Pindar und Euripides als Geschick der Götter (Schicksal, moira) entgegen, in welches sich der Mensch in vorbildlicher Weise einzufügen hat. Die Aufgabe des mit individueller Vernunft ausgestatteten Menschen ist es demnach, in seiner Lebensführung (ethos) die Möglichkeit zur allgemeingültigen Tat zu schaffen. Um dies tun zu können, muss er sich der Welt zuwenden. Der griechisch-antike Mensch ist deshalb in seiner Teilhabe des Geistes aufgefordert, diesen lebendig in seiner Materialität und entgegen seiner leidenschaftlichen Leiblichkeit zu verwirklichen. Er kann sich demnach nicht auf diesen Geist als eine Art Selbstbesitz zurücknehmen. »Das griechische Menschenbild ist also dadurch gekennzeichnet, dass es nicht nur den Geist als allgemeinen und übergeordneten anerkennt, sondern ihn auch dem einzelnen Menschen zuspricht, wenn auch in der Form, dass er hier nicht im vollständigen Selbstbesitz ruht, was eigentlich dem Wesen des Geistes entsprechen würde, sondern sich nur als Möglichkeit und Forderung aufgegeben ist, so dass er sich selbst, mit seinem höchsten Interesse der Einheit, durch ständige Arbeit der Vereinigung und Vereinheitlichung im endlichen und sinnlichen Material verwirklichen und behaupten muss.« (Rombach 1993, S. 22)

1.3.

Platon

Die griechische Philosophie hat neben der griechischen Erfindung und Entwicklung des Theaters und der Demokratie vermutlich den größten Einfluss auf alle nachfolgenden Kulturräume genommen, auch wenn zur damaligen Zeit die weitaus größte Anzahl der Menschen den Mythen und Kulten verbunden bleibt (Haywood 2005, S. 168). Ihre Anfänge nimmt die griechische Philosophie auch unter dem Einfluss mesopotamischer und ägyptischer – u. a. mathematischer – Kenntnisse 81 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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als sogenannte »griechische Vorsokratik« insbesondere auch im ionischen Milet, wobei zumeist Thales von Milet (um 624–546 v. Chr.) als erster echter Philosoph angesehen wird (Snell 1995, S. 49; vgl. kritisch hierzu Gadamer 1996, S. 45 f.). Grundumsturz ist die Verwunderung darüber, dass – unter Absehung mythischer Erklärungsschemata – überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Urgrund und Anfang aller Dinge ist für Thales das Wasser in seinen Verwandlungen, für Anaximander (um 610–547 v. Chr.) hingegen das Unbegrenzte (apeiron) aus welchem das Einzelne und Begrenzte – wie auch das Wasser – ausgeschieden würden und für Anaximenes (um 585–525 v. Chr.) die Luft, die in ihren Wandlungen die anderen Elemente Feuer durch Verdünnung und Wasser bzw. Erde durch Verdickung bilde (S. 49 f.; Welwei 2002, S. 88 f.). Heraklit (um 540–480 v. Chr.) radikalisiert das philosophische Fragen, indem er den Wandel des Einen ins Andere als den Tod des Einen und die Geburt des Anderen formuliert: »Es lebt das Feuer der Erde Tod und die Luft lebt des Feuers Tod, das Wasser lebt der Luft Tod, die Erde den des Wassers.« (Heraklit 1995, S. 25) In dieser Gegensätzlichkeit radikalisiert sich auch das Geistig-Seelische im Unterschied zum Leiblichen. Letztlich entsteht damit das Problem, wie der Wandel als Grundprozess ineinander gebunden wird (Sánchez de Murillo 2002, S. 39 f.). Die im Wandel liegende Kontinuität wird bei Heraklit durch die Ursubstanz des ätherhaften Feuers gewährleistet, welches den Kosmos zusammenbindet. Dabei gilt: »Das Feuer ist vernunftbegabt.« (Heraklit 1995, S. 23) Parmenides (um 514–440 v. Chr.) erkennt dann hierin das abstrakte Ordnungsprinzip des »Es gibt« bzw. des Seins (to on) als eigenschaftslose »Eigenschaft« und absolute Voraussetzung alles Wandelbaren: »Es bezeichnet den tiefenphänomenologischen Ur-Sprung, den Seiendes, bei allem Werden, nie verlässt.« (Sánchez de Murillo 2002, S. 40) Dieses Prinzip ist sinnlich unwahrnehmbar, aber vernünftig erkennbar, da es sich, in allem was ist, äußert (Gadamer 1996, S. 166 ff.). Für die Ausbreitung des philosophischen Denkens ist neben aller Faszination des philosophischen Fragens auch die Demokratisierung der griechischen Poleis verantwortlich, da demokratische Institutionen den argumentativ gewandten Redner erfordern, der unterschiedliche Ansichten argumentativ überzeugend zu vertreten vermag (Haywood 2005, S. 166 ff.). Des Weiteren ist auch zu beachten, dass die »halbreligiöse« Schule des Pythagoras (um 570– 510 v. Chr.) durch ihre Schüler ebenfalls eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur befördert, wobei diese insbesondere 82 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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zur Entwicklung der Mathematik beiträgt und so wiederum die entstehende Philosophie herausfordert (Zhmud 1997, S. 93 ff.). Durch diese im heutigen Rückblick vielfältigen Bewegungen entsteht in Griechenland ein »geistiges Klima«, welches bei allen kämpferischen Auseinandersetzungen im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus zwischen den griechischen Poleis – insbesondere zwischen Sparta, Athen und Theben (s. o.) – und deren Unterwerfung durch das aufstrebende makedonische Königtum unter Philipp II. 338 vor Christus und dem damit verbundenen, schrittweisen Untergang der Poleis im »klassischen Sinne« die drei berühmtesten Philosophen des antiken Griechenland hervorbringt: Sokrates, Platon und Aristoteles. Sokrates (469–399 v. Chr.) hat selbst keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen, so dass seine Philosophie – und damit auch sein Verständnis des Suizids oder der suizidalen Erfahrung – nicht direkt, sondern nur indirekt über seinen Schüler Platon überliefert ist. Bei diesem finden sich dafür ausführliche Passagen zum hier behandelten Thema, wobei das Ausmaß der sokratischen Lehre in seinen Ausführungen nur schwer zu bestimmen ist. Für die hier gestellte Frage nach dem Verständnis der suizidalen Erfahrung bzw. des Suizids bei Platon ist die Bestimmung dieses Ausmaßes jedoch unerheblich. Platon (427–347 v. Chr.) gründet 387 vor Christus in Athen die Akademie (academia), die erste wirkliche philosophische Schule, welche bereits in der antiken Welt Weltruhm erlangt. Platon ist zudem der erste Philosoph, von dem vollständige Werke überliefert sind. Seine Dialoge sind ebenso dichterisch hochstehende Werke als auch logischdialektische Erörterungen der Erkenntnisse der Seele. Die Erkenntnisse des Guten, der Tugend und der Ideen weisen zugleich auf, wie ein gelingendes Leben zu führen ist, welches sich hierin wiederum durch die Sorge um die Seele auszeichnet. Einheitliche Verwirklichung des Geistes findet der Mensch bei Platon damit auch durch das Einordnen in den schicksalhaften Platz, der dem Einzelnen verpflichtend vom Göttlichen zugewiesen wird. Neben dem individuellen Schicksal ist hier aber auch die schicksalhafte Gemeinschaft (im engeren Sinne die polis) gemeint, die wiederum Ausdruck in Gesetzen findet. So verwundert es nicht, dass sich Platon in den Gesetzen, seinem umfangreichen Spätwerk, auch zum Thema des Suizids äußert. Dabei verwirft er den Suizid als gemeinhin unethisch und empfiehlt das Begraben des Selbstmörders an namenloser Stelle ohne Inschrift oder Säule, die den Menschen bezeichnet. Der Hintergrund des Verwerfens des Suizids 83 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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als unethisch ist die Schicksalhaftigkeit des Menschen, denn der einzelne Mensch hat streng genommen keine Verfügungsgewalt über das Beenden seines Lebens, da dieses eben allein den Göttern zusteht, die das Schicksal zu senden vermögen (Decher 1999, S. 16). Hierin wird aber zugleich klar, dass es gerade diese Schicksalhaftigkeit des Menschen ist, die auch die Ausnahmen des Suizids begründet. Denn Platon nennt selbst in seinen Gesetzen, neben dem krankhaften Wahnsinn, drei akzeptable Ausnahmen, wann der Suizid begangen werden dürfe: 1. weil »der Staat durch einen Rechtsanspruch es anordnet«; 2. weil »ein höchst schmerzliches und unentfliehbares Schicksal ihn betraf«; 3. weil »er einer unheilbaren, das Leben unerträglich machenden Schmach anheimfiel« (Platon 1991, Bd. 9, 873c). Alle drei Ausnahmen sind sich nun aber nicht nur darin einig, dass sie als gottgesandtes Schicksal zu verstehen sind, sondern sie weisen zugleich auf eine gewisse Einheitlichkeit der Verfassung des suizidalen Menschen. Der suizidale Mensch leidet nicht nur höchste Schmerzen bzw. unerträgliche Schmach, sondern er kann dieser Verfassung nicht ausweichen: dem schmerzhaften Schicksal kann nicht entflohen werden, die unerträgliche Schmach ist unheilbar, der staatliche Rechtsanspruch absolut. Rückblickend lassen sich infolge der drei genannten Ausnahmen sowohl der Suizid des Aias als auch der Suizid der Iphigenie in das platonische Verständnis einordnen: Während es bei Aias die schmerz- und schicksalhafte Schmach ist, ist es bei Iphigenie der schmerz- und schicksalhafte Rechtsanspruch. Wenn sich die göttliche Notwendigkeit in einer der drei benannten Weisen zeigt, wird der Suizid folglich zum göttlichen Schicksal dieses Menschen. Die Frage also stellt sich, wie der Mensch dies erkennen kann. War nicht Achill in seiner Verzweiflung über den Tod seines Freundes Patroklos in einer ebenso unentfliehbaren Situation, da er Patroklos ja nicht wieder lebendig machen konnte? Welche Haltung also empfiehlt uns Platon und welches Verständnis der suizidalen Erfahrung liegt dieser Empfehlung zugrunde, da es für den Menschen nicht einfach ist, sein Schicksal zu erkennen? Diesem Problem widmet sich Platon in seinem berühmten Dialog Phaidon, in dem es um das rechte Verständnis der Seele geht. Dabei entzündet sich die Frage nach dem rechten Verständnis der Seele an dem bevorstehenden Tod Sokrates’, letztlich ein literarischer Kunstgriff Platons. Genauer: sie entzündet sich an der Frage des Suizids. Gegen den Einwand, dass Sokrates keinen Suizid begehe, weil er letzt84 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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lich nur die Todesstrafe der Polis Athen zu dulden habe, muss eingewendet werden, dass Platon ausdrücklich die freiwillige Entscheidung Sokrates’ gegen das Exil und für den Tod herausstellt (Platon 2006, 99a). Darüber hinaus ist zu fragen, ob es nicht von entscheidender Bedeutung für den Dialog ist, dass Sokrates freiwillig in den Tod geht. Denn die Argumentation erhält erst hierdurch ihre letzte Konsequenz und gewinnt darin, bei aller verbleibenden Unsicherheit des als vernünftig angesehenen Nachweises der Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit der Seele, die entscheidende ethische Aussage, sich der Seele im Leben mit Sorgfalt anzunehmen (107b–c; vgl. auch Gadamer 1973, S. 29). Platons Dialog entsteht im Angesicht des Todes, von dem ein »vernünftiger Mann« nicht behaupten kann zu wissen, was in ihm geschieht (Platon 2006, 114d). Diese fundamentale Einschränkung dessen, was der Mensch erkennen kann, wird am Ende des Dialogs von Sokrates nochmals angeführt, so dass die Unsicherheiten seiner vorigen Beweise der Unsterblichkeit der Seele mehr als deutlich werden. Dies spricht dafür, dass Platon die fehlende Eindeutigkeit seines Nachweises bekannt ist, wie insbesondere Gadamer ausgeführt hat (Gadamer 1973, S. 10 ff. u. 20 ff.). Allerdings wirft das Thema des Todes zwingend die Frage danach auf, wie wir als Menschen zu verstehen sind. In dieser Frage ist Platon eindeutig: während der Mythos ein »schönes Wagnis« und im Bereich des Ungewissen bleibt, reichen die naturphilosophischen, gewissermaßen materialistischen Antworten seiner Zeit keineswegs, um Ursprung und Anfang dessen, was gegeben ist, zu begründen und zu verstehen (Platon 2006, 65b–67b u. 98c–99c). Dies gilt insbesondere von der Seele, um deren rechtes Verständnis es im »Phaidon« geht. Platons Erörterungen beginnen mit dem Hinweis, dass alle Wahrnehmungen, auch die von Auge und Ohr, Täuschungen enthalten und »dass wir seinetwegen (des Leibes J. S.) nicht das Wahre sehen können« (66d). Die Wahrheit kann nur mit der Seele erkannt werden und bedarf hierzu der weitgehenden Ungestörtheit durch den Leib. Diese Gegenüberstellung des Leibes als materiell-wahrnehmbares und der Seele als immateriell-erkennbares ist das Hauptthema des Dialogs, denn es geht darum, das rechte Verständnis dieser immateriellen Seele zu gewinnen. Streng verstanden geht es also um eine Art Selbstaufklärung der Seele. Mit dem Hauptthema sind wir auch beim Thema des Todes angekommen, denn die Seele wird im Tod »rein der Torheit des Leibes ent85 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ledigt«, so dass sie in den Zustand gerät, den man hinsichtlich Platons Ziel des Erkennens des Wahren, Schönen und Guten als geradezu ideal bezeichnen könnte (67a). Mit einem solchen Wissen ausgestattet stellt sich allerdings die Frage, warum Sokrates in irgendeiner Form Angst vor dem Tod haben sollte. Auch wenn seine Nachweise der Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit der Seele keine allerletzte und zweifelsfreie Gewissheit bieten, so sind sie doch die allersichersten Annahmen, die mit Hilfe seiner logisch-dialektischen Methode möglich sind (102b–e). Dabei versteht sich, so Gadamers nachvollziehbare Interpretation, die Seele im »Phaidon« sowohl als das Lebensprinzip im Sinne einer Idee als auch als Vernunftprinzip im Sinne der einzelnen Seele (105d–e). Eine Unterscheidung zwischen beiden gibt es im »Phaidon« nicht, so dass die Seele als sowohl unsterblich (Idee) als auch unzerstörbar bzw. unvergänglich angenommen und beschrieben wird (105c– 106d; vgl. Gadamer 1996, S. 78 ff.). Sicherlich ist der Nachweis der Unsterblichkeit hinsichtlich des Lebensprinzips für uns heutzutage zugänglicher. Die Idee des Lebens kann, wenn denn das Leben als Idee ernst genommen werden will, nicht in den Tod übergehen und ist insofern unsterblich. Dieses bereitet auch Sokrates’ Zuhörern weniger Probleme, wobei sie Schwierigkeiten haben, die Idee der Idee zu verstehen, wie die alle Zuhörer ergreifenden Einwände von Kebes und Simmias zeigen (84c–89c). Sokrates’ Ideenlehre (100a–102e) wird durch einen erneuten Einwand, der auf eine vorlaufende Ausführung des Sokrates zur vorsokratischen Lehre des Wandels der Dinge zurückgreift, nochmals deutlicher. Sokrates erwidert: »Das hast du wacker erinnert, nur bemerkst du nicht den Unterschied zwischen dem jetzt Gesagten und dem damaligen. Damals nämlich wurde gesagt, aus dem entgegengesetzten Dinge werde das entgegengesetzte Ding: jetzt aber, daß das Entgegengesetzte selbst sein Entgegengesetztes niemals werden will, weder das in uns noch das in der Natur. Damals nämlich, o Freund, redeten wir von den Dingen, die das Entgegengesetzte an sich haben, und benannten sie mit den Namen von jenen, jetzt aber von jenen selbst, durch deren Einwohnung die so genannten Dinge ihre Benennung erhalten.« (103b) Mehr Probleme bereitet uns heutzutage, dass Platon nicht zwischen dem Leben als Prinzip und dem konkreten (besonderen) Leben unterscheidet, sondern vielmehr immer beides zugleich im Blick hat. Gadamer hat darauf hingewiesen, dass gerade dieses als Stärke verstanden werden kann: »Die Psyche ist nicht nur ein allgemeiner Begriff, sondern sie ist die All86 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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gegenwärtigkeit des Lebens und im Besonderen im Lebewesen. Was als Schwäche der Argumentation des Sokrates sich darstellt, bestätigt in Wahrheit, daß eine Trennung zwischen den Ideen und dem Besonderen nicht möglich ist.« (Gadamer 1996, S. 79) Dieses löst allerdings die letzte Unsicherheit dieses allersichersten Satzes, »die Seele ist unsterblich und unvergänglich«, nicht auf (Platon 2006, 107b–c). Sie zieht aber dennoch die Konsequenz für den einzelnen Menschen nach sich, sich vernünftigerweise um seine Seele zu sorgen: »Und so ist denn dieses, ihr Männer, wohl wert bemerkt zu werden, daß, wenn die Seele unsterblich ist, sie auch der Sorgfalt bedarf nicht für diese Zeit allein, welche wir das Leben nennen, sondern für die ganze Zeit, und das Wagnis zeigt sich nun eben erst recht furchtbar, wenn jemand es vernachlässigen sollte. Denn wenn der Tod eine Erledigung von allem wäre: so wäre es ein Fund für die schlechten, wenn sie sterben, ihren Leib loszuwerden, aber auch ihre Schlechtigkeit mit der Seele zugleich. Nun aber diese sich als unsterblich zeigt, kann es ja für sie keine andere Sicherheit vor dem Übel geben und kein Heil als nur, wenn sie so gut und vernünftig geworden ist als möglich.« (107c)

Hiermit aber stellt sich nun ein Problem, welches der Erörterung bedarf. Denn wenn der Leib die wahre Erkenntnis behindert, welche die Seele in sich selbst zu erlangen vermag, und wenn weiterhin die Seele im Tod vom Leib frei wird und dann die Wahrheit am sichersten und ungestörtesten zu erkennen vermag, sollte dann der Tod nicht nur für Sokrates, sondern für alle Menschen das Ziel des Lebens sein? Sokrates: »Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne daß es freilich die andern merken, nach gar nichts anderm streben als nur zu sterben und tot zu sein.« (64a) Wäre es dann nicht naheliegend, sich selbst zu töten, nachdem man mit Platons Methode die Einsicht in die erörterte Beschaffenheit der Seele gewonnen hat? Eigentlich ja. Diesem Schluss aus dem Dialog versucht Platon von Beginn an vorzubeugen. Hierfür lässt er nicht nur den gesamten Dialog am Beispiel des Suizids Sokrates’ seinen Ausgang nehmen und sich entwickeln, sondern schickt dem Ganzen eine Erörterung des Suizids vorweg, deren zentrale Erkenntnis ist: »Auf diese Weise nun wäre es also wohl nicht unvernünftig, daß man nicht eher sich selbst töten dürfe, als bis der Gott irgendeine Notwendigkeit dazu verfügt hat, wie die jetzt uns gewordene. –« (62c) Das Suizidverbot gilt also weiterhin. Platon fasst dies in zwei Bilder, die er dieser Schlussfolgerung voranstellt: 87 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Das erste Bild beschreibt den Menschen als ein Wesen, das sich in einer Festung befindet. Das Entfernen aus dieser Festung ist ihm nicht erlaubt (62b). Das zweite Bild zeigt den Menschen als Wesen, welches zu einer von den Göttern gehüteten Herde gehört (62b). Das Entfernen aus der Herde ist ebenso wenig erlaubt wie das unaufgeforderte Entschwinden aus der Festung. Vielmehr legt Platon nahe, dass die Götter demjenigen zürnen, der sich unerlaubterweise entfernt: »Also auch du würdest gewiß, wenn ein Stück aus deiner Herde sich selbst tötete, ohne daß du angedeutet hättest, daß du wolltest, es solle sterben, diesem zürnen, und wenn du noch eine Strafe wüßtest, es bestrafen? – Ganz gewiß, sagte er.« (62b–c). Dies scheint eindeutig, löst allerdings das Problem nicht wirklich auf. Denn Platon deutet hier ein »göttliches Zeichen« an, welches dem Menschen zuteil wird, wenn er sich töten darf. Die sofort aufkommende Frage lautet: Wie soll dieses Zeichen beschaffen sein, woran kann es der Mensch erkennen? Kann nicht schon Platons logisch-dialektische Erkenntnis der Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit der Seele, trotz weiter bestehender Zweifel angesichts der menschlichen Unwissenheit vom Tod, als ein solches »göttliches Zeichen« verstanden werden? Platon will dies ausdrücklich nicht so verstanden wissen, die Frage ist allerdings naheliegend: Wenn der Tod wahre Erkenntnis und Teilhabe am Göttlichen verspricht, wieso dann nicht hier und jetzt sterben? Platon wendet sich im Abschluss des Phaidon erneut gegen diese Interpretation, indem er das mythische »Totengericht« – welches fürwahr an dessen ägyptische Version erinnert – aufmarschieren lässt, welches nur die philosophischen Seelen gleich ins Eulysium führt, die anderen jedoch wahre Seelenqualen bis zur eventuellen Reinigung erleiden lässt (113d). Und in dieser Gerichtsbarkeit über die fraglich bereits ausreichende Reinigung lässt er zudem die Zeitgenossen des betreffenden Menschen aufmarschieren, die darüber zu befinden haben, ob der Betreffende bereits genug gelitten habe (114b). Platon bemüht sich also um eine doppelte Absicherung am Anfang und am Ende des Dialogs, damit seine logisch-dialektische Erkenntnis der Seele in ein vernünftiges, um die Sorge für die Seele zentriertes Leben mündet und nicht in den spontanen und sofortigen Suizid führt. Platons Empfehlung ist folglich eindeutig: Es gilt, in der Herde zu verbleiben. Dies zeigt auch seine Kritik an dem allgegenwärtigen Ruf nach Freiheit in der Demokratie seiner Zeit. Diese Freiheit, ganz offenbar verstanden als eine Freiheit von allen Fesseln, führt, wie er in der 88 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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»Politeia« argumentiert, zur Auflösung des Staates: »Und so, sprach ich, o Freund, wird sie sich auch in die Häuser einschleichen und am Ende so weit gehen, daß auch dem Vieh die Ungebundenheit eingepflanzt wird.« (Platon 2006b, 562e) Was sich in dieser Zitierung außerhalb des Zusammenhangs zu lesen scheint, dass nämlich die Demokratie den Suizid befürworte oder zumindest befördere, steckt nicht im Zitat. Die Ungebundenheit des Viehs ist nicht auf das Bild der gottgehüteten Herde bezogen, sondern auf den vermenschelnden Umgang mit Haustieren. Aber der Grundgedanke ist in diesem Zitat ebenso zu erkennen wie in seiner Empfehlung, in der Herde zu verbleiben. Es ist der staatstragende Gedanke, aus dem heraus der Suizid zu unterlassen ist und inwiefern er nicht in der Freiheit des Menschen zu liegen scheint. So eindeutig diese Empfehlung Platons ist, so bedeutsam sind die Ausnahmen: Es gilt, in der Herde zu verbleiben, es sei denn, es besteht eine schicksalhafte Notwendigkeit, die Herde zu verlassen. Aus Platons Empfehlung kann der Mensch also keine strikte Verpflichtung ableiten, am Leben zu bleiben. Sokrates’ Tod im »Phaidon« kann als Nachweis und lebendiges Argument für eine philosophische Lebensführung angesehen werden, hält er doch bis zum Schluss an seinen Überzeugungen, an seiner Idee des Lebens und des Guten fest und bestätigt sie durch sein Sterben. Und, so müssen wir schließen, er wäre nicht freiwillig in Athen verblieben – und hätte dann den Giftbecher gar nicht zu trinken brauchen –, wenn er nicht im Tod die Verheißung gesehen hätte, sich als Seele vom erkenntnisbehindernden Leib trennen zu können. Er nimmt den Giftbecher also wahrhaft dankbar an – es soll dafür ja auch dem Asklepios als Heilgott geopfert werden, wie Sokrates mit seinen letzten Worten nochmals anmahnt (Platon 2006, 118a). Es ist wichtig zu erkennen, dass die erläuterten Schwierigkeiten bei Platon offenbar erst dadurch aufkommen, dass die Seele als das Vollkommene und Besondere dem vergänglichen und materiellen Leib als trennbar gegenübergestellt wird. Die Seele kann so erst im Tod ihrer eigenen Vollkommenheit in umfassendem Sinne entsprechen. Damit aber wird der Tod zutiefst sinnausweisend und erstrebenswert. Ein Problem, mit dem später auch Paulus in den Anfängen des Christentums zu tun haben wird: Wie sieht ein solches »göttliches Zeichen« aus? Woran kann der Mensch es erkennen? Wieso kann abgrundtiefe Verzweiflung nicht ein solches Zeichen sein? Platons staatstragende Lösung, die gewichtige Ausnahmen zulässt, wird letztlich erst durch 89 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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das »Totengericht« und die damit verbundene Verpflichtung, sich auch im hiesigen Leben in voller Sorge um die Seele zu kümmern, wirklich abgesichert. Denn ansonsten würden die Ausnahmen zur Regel: Wer wäre nicht verzweifelt, wenn … ? Wer sähe nicht die Unmöglichkeit, die Umstände zu ändern, weil … ? Wem erschiene es nicht als Schicksal, dass … ? Die suizidale Erfahrung allein kann für Platon den Suizid zwar nicht begründen, fordert aber zur Überprüfung der eigenen Situation auf: Ist der staatliche Rechtsanspruch absolut? Ist die unerträgliche Schmach unheilbar? Ist das schmerzhafte Schicksal unentfliehbar? Nur dann aber ist der Suizid in jedem Fall erlaubt, so Platon, wenn man wahnsinnig ist – also zur logisch-dialektischen Erörterung gar nicht fähig ist. Bei Platon geht es im Suizid also nicht primär um das heldenhafte und hervorstechende Schicksal wie bei Homer oder bei Euripides. Sicherlich, die Überlieferung ist ihm bekannt. So lässt er in der »Politeia« Aias als einen der berühmten Männer im Abschluss des Dialogs auftreten, der, bevor er den Trank des Vergessens trinkt, damit er aus der Unterwelt in das von ihm gewählte neue Leben eintreten darf, das Leben eines Löwen wählt, da er vernünftigerweise »wegen der Waffen vermeiden wollte, ein Mensch zu werden« (Platon 2006b, 620b). Aias zeigt sich hier besonnen und wohlüberlegt, sein Suizid hat ihm nichts von seiner Größe genommen, denn er fällt unter die berühmten Ausnahmen, denen ein »göttliches Zeichen« zum Suizid gesandt wurde. Dieses »göttlichen Zeichen« scheint zwar der unphilosophischen Seele nicht wirklich erkennbar, »großen Männern« wie Aias und Sokrates hingegen schon. Denn die philosophische Seele, die in ihrer Selbstaufklärung den Tod als das eher früher als später erstrebenswerte Ziel des Lebens erkannt hat, ist zugleich aufgefordert, diese zwar nicht völlig gewisse, jedoch logisch-dialektisch allersicherste Erkenntnis ihrer eigenen Vollkommenheit, die im Tod erst zur vollen Geltung gelangt, nicht als ein solches »göttliches Zeichen« zu verstehen. Fürwahr keine einfache Aufgabe. Es geht für Platon darum, im Leben die philosophische Erkenntnis der Seele als unzerstörbare, unsterbliche und unsichtbare, aber erkennbare Idee zu gewinnen. Denn dies ermöglicht eine der Natur der Seele angemessene Sorge um das Leben. Aus dieser allersichersten Einsicht, welche zugleich die logisch-dialektische Einsicht in das »Wozu« des Lebens gewährt, folgt für Platon, wie ausführlich gezeigt, jedoch nicht, dass nun der rasche Tod das Vernünftigste sei. Eine streng vernünftige 90 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Erörterung, warum diese Erkenntnis hingegen nicht als »göttliches Zeichen« fungieren darf, bietet Platon allerdings dennoch nicht. Er benötigt selbst den Mythos des »Totengerichts«, um die Schlussfolgerung zu entkräften und das Verbleiben in der Herde zu verfügen. In dieses Problem gerät Platon, da er basierend auf dem »Seinszusammenhang von Idee und Leben« (Gadamer 1973, S. 28) zu zeigen vermag, dass die jeweilige Seele sowohl als Vernunftprinzip des einzelnen Menschen als auch als Lebensprinzip des ganzen Kosmos verstanden werden kann. Und zwar ist es die jeweilige Seele selbst, die diese geradezu göttliche Erkenntnis gewinnt und sich so über sich selbst als vernünftig, unvergänglich und unsterblich aufklärt. Das Problem entsteht also, wie wir aus heutiger Sicht sagen könnten, im Angesicht der Unsicherheit der Kenntnis dessen, was dem Menschen im Tode wird. Dies macht verständlich, dass Unsicherheiten in diesen letzten Fragen bestehen bleiben.

1.4.

Aristoteles

Platons berühmtester Schüler ist Aristoteles (384–322 v. Chr.). Aristoteles, in Stageira geboren, entstammt einer traditionellen Arztfamilie und kommt erst siebzehnjährig nach Athen. Sein Vater war Leibarzt des makedonischen Königs Amyntas II., des Großvaters Philipps II., worüber sich die guten Kontakte zum makedonischen Königshaus verstehen. In philosophischer Sicht setzt Aristoteles zwar gewissermaßen die sokratische Linie fort, sich dabei aber zugleich mit Platon kritisch auseinander. Hierbei wirft er Platon oftmals einen zu mathematischen Stil vor, während er selbst immer wieder mit sehr alltagspraktischen Beispielen aufwartet, die vom handwerklichen bis zum ärztlichen Funktionsfeld reichen (Gadamer 1996, S. 72 f. u. 77 ff.). Während Platon in einer eher stabileren Phase der athenischen Polis seine Hochzeit hatte, lebt Aristoteles in eher unruhigen Zeiten. Diese Unruhe betrifft nicht nur das Leben des Einzelnen, welches in der Antike den Zufällen und Geschicken in positiver und negativer Hinsicht weitaus stärker unterworfen ist als unser Leben heutzutage in den modernen Kulturen. Sie betrifft auch die staatlichen Gebilde selbst. In den Auseinandersetzungen zwischen den Poleis und dem aufstrebenden makedonischen Königreich wechselt das Kriegsglück hin und her. Aristoteles ist entsprechend selbst einem wechselnden Geschick unterworfen, muss bei91 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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spielsweise 347 vor Christus nach dem Tod Platons Athen wegen lokaler antimakendonischer Strebungen der dortigen Bürger verlassen, kann dann aber 335 vor Christus wieder zurückkehren. Legendär ist auch seine dreijährige Lehrertätigkeit ab 343 vor Christus für den makedonischen Prinzen Alexander (356–323 v. Chr.), den späteren Welteroberer und Verbreiter des Hellenismus, wobei ein echter Einfluss auf Alexander nicht sicher zu erkennen ist (Trampedach 1994, S. 52 ff.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Aristoteles die äußeren Umstände noch wesentlich häufiger unvorhersehbar wechselten als für seinen Lehrer Platon. Wenn sich einer der »alten Griechen« zu ethischen Fragen geäußert hat, dann sicherlich Aristoteles. Insofern würden wir mit einigem Recht erwarten, dass sich bei ihm einiges zum Thema des Suizids finden ließe. Denn ist es nicht schon bei Platon ein ethisches Thema, ob und wann der Suizid erlaubt oder gar sinnvoll ist? In modernen Debatten wird zudem oft auf das staatstragende Suizidverbot des Aristoteles verwiesen, welches als der Vorläufer heutiger gesellschaftlicher Illegitimität des Suizids angesehen wird. Dabei ist es unzweifelhaft, dass jede Gesellschaft – wie eben auch die Polis – eine Ordnung aufweist, auf deren Erhalt sie sowohl angewiesen als auch orientiert ist. Von hierher ergibt sich eine Ablehnung des Suizids als gegen das soziale Gesetz gerichtet, da der freiwillige Tod die Souveränität des Gesetzes zumindest in Frage stellt (Ahrens 2001, S. 21 ff.). Bei Euripides und auch bei Platon – insbesondere in seiner »Politeia« (Platon 2006) – findet sich das Selbstopfer hingegen als eine staatstragende Form des Suizids. Bei Aristoteles findet sich der Suizid hingegen nur noch in der gegen das Gesetz gerichteten Form (Aristoteles 2006, NE 1138 a8–13). Dies heißt aber nicht, dass Aristoteles die anderen Formen des Selbstopfers – beispielsweise des tapferen Kriegers im Kampf – nicht kennen oder nicht achten würde, sondern dies heißt, dass diese für ihn nicht unter den Begriff des Suizids fallen (NE 1116 a12–14). In diesem Sinne könnte angenommen werden, dass Aristoteles eine klare und saubere Definition des Suizids anbietet, die – wenn sie uns schon keine weitere Erörterung des »göttlichen Zeichens« gewährt – insbesondere den Zusammenhang mit den Gesetzen der Polis aufzeigt. Dies ist allerdings keineswegs der Fall. Im Gegenteil beschäftigt sich Aristoteles eigentlich gar nicht mit dem Thema, er lässt in seiner Nikomachischen Ethik, die hier im Folgenden betrachtet werden soll, nur einige wenige Sätze hierzu fallen (NE 1116 a12–14; 1138 a8–13; 1166 b12–13). Genau92 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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genommen sind es neun Sätze, die sich in der Nikomachischen Ethik zum Thema finden. Rechnet man »Doch wem?« als einen eigenen Satz, sind es sogar zehn Sätze. Diese scheinbare Dürftigkeit der Aussage wird zuweilen bemängelt (Decher 1999, S. 18 ff.). Jedoch lohnt es sich, sich mit diesen wenigen Sätzen, den damit zusammenhängenden Gedanken und insbesondere dem Hintergrund dieser scheinbaren Dürftigkeit zu beschäftigen. Denn es geht hier nicht um die exakte Anzahl der geäußerten Sätze, sondern tatsächlich darum, warum sich Aristoteles, der sich doch immerhin ausführlichst mit ethischen Fragen beschäftigt, so wenig mit dem Thema der suizidalen Erfahrung befasst. Die Lösung ist denkbar einfach. Aristoteles zielt auf ein Wissen, welches dem Menschen das Führen eines guten Lebens gewährt. Dies meint in seinem Sprachgebrauch Ethik (Wolf 2007, S. 17 f.). Konkret geht es darum, gut zu leben und gut zu handeln (NE 1095 a14–19; 1098 b20–22). Dieses gute Leben versteht er zugleich als das höchste und beste Ziel des Lebens, und zwar des ganzen Lebens in seiner Dauer, welches durch die Tätigkeit des Menschen erreichbar ist, wenn es auch von äußeren Umständen nicht ganz unabhängig bleibt (1097 a20; 1098 a7–19; 1099 a32–b8). Damit ist klar, warum sowohl der Suizid als auch die Erörterungen des Suizids oder der suizidalen Erfahrung nicht zielführend sind. Aristoteles geht es a) um ein höchstes Ziel des Lebens und damit nicht um ein Ziel, welches erst im Tod erreichbar wäre, und b) um ein Ziel, welches der Mensch durch seine eigene Tätigkeit erreichen kann oder zumindest bei entsprechend neutral-günstigen Umständen erreichen kann, welches er aber zumindest nicht ohne eigene Tätigkeit erreichen kann, d. h. es fällt ihm nicht beispielsweise im Schlaf zu. Aus beiden Überlegungen heraus ist klar, dass der Suizid weder hilfreich für die ethische Lebensführung noch für abstrakte ethische Überlegungen sein kann. Denn mit dem Tod ist das Thema der Ethik, so wie Aristoteles es hier einführt, beendet. Dies heißt wiederum nicht, dass die Kenntnis der eigenen Sterblichkeit und des Todes nicht erforderlich wären, um ein gutes Leben führen zu können. Diese insbesondere von der Stoa, aber beispielsweise auch von Martin Heidegger (1889–1976) hervorgehobene Ansicht wird auch von Aristoteles diskutiert, zumal der Tod allgemein als furchterregend angesehen wird: »Was am meisten Furcht erregt, ist aber der Tod.« (1115 a26; vgl. auch Heidegger 1993, S. 245: »Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod ist eine Weise zu 93 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.«) Bereits hierin lässt sich der Wandel des Selbstverständnisses gegenüber Platon erkennen, da der Tod nicht mehr als höchste Vollendung erkannt wird. So fragt Aristoteles beispielsweise angesichts des späten Unglücks des Priamos in den trojanischen Sagen, dem der Sohn Hektor stirbt und die Stadt zerstört wird, ob man denn einen Menschen erst glücklich nennen könne, wenn er tot sei (1100 a10 ff.). »Oder ist das nicht gänzlich absurd, insbesondere für uns, die wir das Glück eine Art von Tätigkeit nennen?« (1100 a13) Es wäre allerdings absurd, da Aristoteles davon ausgeht, dass der Tod ein Ende ist und es »nach üblicher Auffassung […] für den Toten kein Gut oder Übel mehr« gibt (1115 a27–28). Vielmehr erläutert Aristoteles am Beispiel des Priamos, dass es hier um die Wechselfälle des Lebens geht, welche den Menschen erst im Tod nicht mehr zu treffen vermögen und belässt es – zumal keine endgültig verlässlichen Aussagen darüber möglich sind, was dem Toten wohl zustößt – bei der kompromisshaften Formel, dass das »Wohlergehen und Unglück der Freunde« aus einem glücklichen keinen unglücklichen und aus dem unglücklichen keinen glücklichen Toten machen können (1101 b1–9). Es ist wichtig, dass es für Aristoteles in der Hand des betreffenden Menschen liegt, ob er glücklich (eudaimon) oder nicht sein wird, auch wenn er beispielsweise nach schweren Unglücksfällen »erst nach Ablauf einer langen Zeitspanne, in der er große und edle Dinge erreicht« wieder glücklich sein kann (1101 a9–14). Dennoch kann ein gewisser elitärer Zug in seiner Ethik nicht geleugnet werden, da die Hintergrundvoraussetzungen einer guten Lebensweise nur den freien Bürgern einer Polis überhaupt zugänglich sind, auch wenn diese noch keine eudaimonia garantieren, sondern vielmehr hierzu erst herausfordern (Wolf 2007, S. 51 f.). Wenn also bemängelt wird, dass sich Aristoteles dem Suizid als ethischem Thema nicht stellt, dann drückt sich hierin auch ein Missverständnis über den Begriff der Ethik bei Aristoteles aus, der nicht Moral in unserem Sinne meint, sondern die Frage nach dem guten Leben. Der Tod kann für Aristoteles nicht als Vollendung des im Leben angestrebten höchsten Ziels ausgegeben werden, wie dies gewissermaßen bei Platon der Fall war, denn das Leben und der Tod können nicht direkt und sinnvoll miteinander verglichen werden. Er nimmt hier aus heutiger Sicht eine sog. »nicht-komparative Haltung« ein, welche wiederum für eine moderne Argumentation bezüglich einer fraglichen Rationalität einer Suizidentscheidung besonders bedeutsam 94 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ist (Schramme 2007, S. 44 ff.). Die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben kann also für Aristoteles nicht der Suizid sein, obwohl es vorstellbar ist, dass die Antwort in der Möglichkeit dazu liegen könnte – wie die Stoiker es formulieren werden. Für ihn aber ist der Suizid nur insofern ein ethisches Thema, als es eben gerade darum geht, nicht suizidal zu werden bzw. das Leben aktiv und vernünftig anzugehen. Dies zeigt sich vor allem in seinen Überlegungen zur Tapferkeit. Tapferkeit ist eine der eigentümlichen Leistungen des Menschen, die besonders tüchtiges Handeln erlaubt und von Aristoteles in besonderem Umfang gewürdigt wird. Dabei fürchtet sich der tapfere Mensch zwar auch – beispielsweise im Kampf vor dem Tod oder der Verletzung (NE 1117 b7 ff.) –, aber er hat Freude daran, das strahlend Schöne/ Werthafte (kalon) zu tun und läuft deshalb nicht davon (1117 b15 f.). Das kalon ist dabei nicht nur beständiger und insofern göttlicher, sondern »es bringt die Einheit der Person mit sich, die Selbstübereinstimmung über die Lebenszeit hinweg« (Wolf 2007, S. 86). Dieses tapfere Selbstopfer kann für Aristoteles in keinster Weise mit dem Suizid verglichen werden. »Sie (die Tapferkeit J. S.) wählt Dinge deswegen oder hält sie deswegen aus, weil so zu handeln werthaft (kalon) ist oder dies nicht zu tun niedrig (aischron) wäre. Zu sterben aber, um Armut, Liebeskummer oder sonst etwas Unangenehmem zu entgehen, ist nicht Kennzeichen des Tapferen, sondern vielmehr des Feigen. Denn vor Mühsamem zu fliehen bedeutet Weichlichkeit. Ein solcher Mensch erträgt den Tod nicht deshalb, weil es werthaft ist, sondern weil er einem Übel (kakon) entgehen will.« (NE 1116 a11–14) Aus heutiger Sicht scheint es zunächst so, als wenn Aristoteles damit den Suizid als die Flucht des feigen und schlechten Menschen darstelle. Jedoch geht es ihm vielmehr darum, dass der Suizid eine Art von »Kurzschluss« ist, der bei vernünftiger Überlegung nicht als zielführend angesehen werden könne. Schließlich versteht Aristoteles die Weichlichkeit analog zur Unbeherrschtheit. Hierbei gilt etwas vereinfachend und formalisierend, dass derjenige, der Unlust oder Schmerz nicht zu widerstehen vermag, obwohl er dies infolge der anvisierten höheren Freude des kalon beabsichtigt, als weichlich gilt (Wolf 2007, 178 ff.). Analog kann in vereinfachender Formalität die Unbeherrschtheit im Umgang mit der Lust verstanden werden. Die Sicht, dass Aristoteles im Suizid insbesondere einen »Kurzschluss« sieht, bestätigt sich auch aus der zweiten längeren Passage zum Thema des Suizids, in welcher er die Unbeherrschtheit im Zorn 95 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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als affektiven Hintergrund des Suizids benennt: »Wer sich nun im Zorn selbst ersticht, tut dies mit Wollen gegen die richtige Überlegung […].« (1138 a10) Auch wenn Aristoteles in der Nikomachischen Ethik bezüglich des Zorns keine vollkommen eindeutige Position bezieht, so ist doch immerhin der Zorn als berechtigter Affekt auf eine erfolgte Beleidigung durchaus auch der ungestüme und übereilige Diener und Verfechter der Vernunft (1149 a21 ff.; vgl. auch Wolf 2007, S. 86 f. u. 184). Er ist insofern positiv konnotiert und eine Unbeherrschtheit aus Zorn weniger schlecht als Unbeherrschtheiten aus anderen Anlässen. Es geht hier also ebenfalls nicht um eine moralische Verdammung des Suizids, sondern offenbar erneut darum, dass der Suizid eine Art »Kurzschluss« ist. Auch hier stellt Aristoteles den Suizid demnach als eine Aktivität dar, der eben gerade die vernünftige Überlegung des eigenen Lebens in seiner Gänze mit dem Ziel der eudaimonia fehlt. Wir finden noch einen dritten Hinweis für diese Interpretation des aristotelischen Verständnisses der suizidalen Erfahrung. Es findet sich in seinen Erörterungen zur Freundschaft, welche gemeinhin als vollendete Darlegungen des griechisch-antiken Verständnisses der Freundschaft verstanden werden (Schinkel 2003, S. 193). Vorbild seines Verständnisses der Freundschaftsbeziehung ist die Selbstbeziehung des Menschen: »Denn die Freundschaft ist eine Gemeinschaft (koinonia), und wie ein Mensch sich zu sich selbst verhält, so verhält er sich auch zum Freund.« (NE 1171 b32 f.). Vor diesem Hintergrund erörtert er, dass der gute Mensch in Übereinstimmung mit sich selbst lebt und von daher »wünscht, dass er selbst lebt und erhalten bleibt«, wohingegen die »schlechten Menschen« nicht in Übereinstimmung mit sich selbst leben und ihre »Seele in Aufruhr« ist (1166 a10 ff. und b25 ff.). »Diejenigen aber, die viele schreckliche Dinge getan haben und aufgrund ihrer Schlechtigkeit gehasst werden, fliehen sogar das Leben (to zen) und zerstören sich selbst.« (1166 b12 f.) Zum Verständnis dieser Zeilen ist zu beachten, dass Aristoteles an dieser Stelle eine Trennung zwischen Schlechtigkeit und Unbeherrschtheit vermissen lässt, die er in seinen Ausführungen zur Unbeherrschtheit explizit eingeführt hatte (Wolf 2007, S. 180 ff.). Demnach erscheint es naheliegend, Aristoteles an dieser Stelle so zu verstehen, dass er nicht annimmt, dass der »schlechte Mensch« im Tod etwas Gutes sähe, sondern dass er vielmehr annimmt, dass dieser Mensch vor dem Übel, welches sein Leben ist, flieht. »Fliehen« steht wie bereits erwähnt ausdrücklich im Zusammenhang mit Weichlichkeit. Wir erinnern uns an seine vorherigen 96 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Ausführungen zur suizidalen Verfassung: »Zu sterben aber, um Armut, Liebeskummer oder sonst etwas Unangenehmem zu entgehen, ist nicht Kennzeichen des Tapferen, sondern vielmehr des Feigen. Denn vor Mühsamem zu fliehen bedeutet Weichlichkeit. Ein solcher Mensch erträgt den Tod nicht deshalb, weil es werthaft ist, sondern weil er einem Übel (kakon) entgehen will.« (NE 1116 a11–14) Folgen wir diesen Überlegungen, so ergibt sich, dass sich auch hier offenbar die Darstellung des Suizids als eine Art »Kurzschluss« findet. Wie kann dies nun in Aristoteles’ ethischen Überlegungen eingeordnet werden? Aristoteles bringt zuallererst eine Reihenfolge in seine ethischen Überlegungen und räumt dabei der Frage, wie der Mensch gut leben und gut handeln kann, den eindeutigen Vorrang gegenüber der Frage ein, ob und wann der Mensch sterben solle. Damit spricht Aristoteles zugleich einen wichtigen Punkt aus: die Frage nach dem Sinn des Suizids ist nicht nur an das jeweilige Verständnis des Todes, sondern auch an das jeweilige Verständnis eines guten Lebens gekoppelt. Dieser Zusammenhang wird insbesondere dann deutlich, wenn die eigenen Vorstellungen von dem, was ein gutes Leben bedeutet, durch die Zufälle und Umstände des Lebens konterkariert werden. Genau auf dieses Problem will Aristoteles eine Antwort geben. Dabei wird ihm die techne, also das praktische Herstellungswissen wie z. B. handwerkliche Fähigkeiten, zum Grundmodell (Gadamer 1996, S. 102). Dies zeigt sich darin, dass er alles auf seine Zielhaftigkeit und Funktion, auf sein »Wozu« befragt. Diese Frage befähigt ihn wiederum dazu, auch Handlungsstrukturen des Menschen zu erkennen, die ihr »Wozu« in sich selbst tragen und insofern gar keine techne im strengen Sinn sind. Als solche sind insbesondere die praxis und die theoria zu nennen. Jedenfalls kommt mit dieser Zielorientierung des Handelns auch die Frage nach dem letzten und höchsten Ziel des menschlichen Lebens auf, welches eben nicht schlicht im Tod bestehen kann. Es muss also ein anderes höchstes und letztes Ziel des Lebens geben, welches die endlose Fortsetzung der Frage nach dem höheren Ziel des eigenen Handelns und Lebens auffängt und sättigt (Wolf 2007, S. 54 ff.). Aristoteles beginnt nicht von ungefähr seine Nikomachische Ethik genau mit diesem Thema (NE 1094 a–b). »Wird nun das Erkennen dieses Guts nicht auch großes Gewicht für die Lebensführung haben, und werden wir dadurch nicht wie Bogenschützen, die einen Zielpunkt (skopos) haben, eher das Richtige treffen?« (1094a 23–25). Aristoteles sagt »Ja« und bemüht sich, dieses Richtige aufzuweisen. Dabei gleicht seine Ethik eher einem 97 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Weg, auf dem der Mensch diesen skopos immer vor Augen hat, ohne dieses höchste Ziel – die eudaimonia – mehr als nur skizzieren zu können (1098 a20 ff.). Dennoch gibt er der Betrachtung – sei es als theoria, als (retrospektive) Betrachtung des eigenen guten Handelns oder der Lust, die in dieser Betrachtung der Dinge oder des eigenen Handelns entsteht – den höchsten Preis und vergleicht diese mit dem Göttlichen (1177 a11–b32). Wie Ursula Wolf ausführt, ist dies vor dem Hintergrund seiner Kosmologie zu verstehen, nach der der »unbewegte Beweger«, der nous, sich in steter und dauernder Selbstbetrachtung befindet und der menschliche logos als eine Art »Ableger« des nous an dieser eudaimonischen Selbstbetrachtung teilzuhaben vermag (Wolf 2007, S. 252 f.; Rombach 1993, S. 21 f.). Sicherlich kann aus Aristoteles’ Gedanken, dass sich die eudaimonia am sichersten durch die Tätigkeiten einstellt, die ihr »Wozu« in sich selbst ausweisen und eher dem sich zurücknehmenden Betrachten als dem sich aufdrängend zupackenden Machen gleichen, auch für unser heutiges Leben eine sinnstiftende Perspektive gewonnen werden (Baruzzi 1996, S. 173 ff.). Angesichts unseres kulturellen Bildes umfassender Machbarkeit, die zwar eine Herstellbarkeit von Glück und Zufriedenheit behauptet, aber erkennbar diese nicht herzustellen vermag, ist darauf zu verweisen, dass insbesondere im sich zurücknehmenden Sein-lassen des Gegebenen die eudaimonia gewonnen werden kann. Eudaimonia kann gar nicht hergestellt werden und auch Aristoteles’ Ethik ist kein Herstellungswissen (techne) für die eudaimonia des Menschen, sondern eher ein Strukturmodell eines Weges (Wolf). Für uns könnte die Konsequenz, wie Baruzzi argumentiert, im Sein-lassen liegen: »Zur Praxis des Seinlassens gehört auch, daß ein Tun verachtet wird, das uns und das Tun selbst nicht seinläßt.« (Baruzzi 1996, S. 205; vgl. auch Spaemann/Löw 1980, S. 287) Doch gilt es, trotz aller Begeisterung für die aristotelische Philosophie, auch die Schwachstellen des aristotelischen Verständnisses der suizidalen Erfahrung aufzuzeigen. Kehren wir also nochmal zu Aristoteles’ Verständnis der suizidalen Erfahrung zurück, welches auf den entscheidenden Punkt aufmerksam macht, dass das Verständnis der suizidalen Erfahrung bzw. der Möglichkeit, sich töten zu können, auch mit dem eigenen Verständnis des guten Lebens – dem »Wozu« des Lebens – zu tun hat. Damit ist allerdings der andere Zusammenhang, der Zusammenhang zwischen Suizid und Tod, keineswegs aufgelöst. Diese Schwierigkeit zeigt sich auch bei Aristoteles, der den Suizid vor allem als eine unver98 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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nünftige »Kurzschlusshandlung« versteht. Dieses Verständnis setzt unbedingt voraus, dass der suizidale Mensch seinen Tod eigentlich nicht als erstrebenswert ansieht, sondern bei der »vernünftigen« Ansicht bleibt, dass er seinen Tod nicht sinnvoll mit seinem Leben vergleichen könne, wobei er jedoch nach dieser Einsicht nicht zu handeln vermag und von seinen Affekten überwältigt geradezu unfreiwillig in den Tod geht. Aber wäre dies nicht ein extrem seltener Sonderfall? Die suizidale Einstellung, im Tod eine Rettung zu sehen, die das Leben nicht mehr zu gewähren vermag, ist für Aristoteles von vornherein unvernünftig und scheidet gewissermaßen aus. Aber – und alle heutigen Kenntnisse der suizidalen Erfahrung sprechen dafür – leidet der suizidale Mensch nicht (auch) unfreiwillig, so dass ihm auch auf lange Sicht der aristotelische Weg zur eudaimonia versperrt erscheint? Wir sehen erneut, dass es Aristoteles explizit nicht darum geht, den suizidalen Menschen zu verstehen, sondern dass es ihm darum geht, zum Führen eines guten Lebens einzuladen. Aristoteles kann infolge dieser Grundeinstellung, in welcher er den Tod unter keiner erfahrungsmäßigen Voraussetzung als Rettendes anzunehmen vermag, auch auf die Erörterungen eines »göttlichen Zeichens« verzichten. Sokrates’ Tod kann dennoch mit Aristoteles als tapferes Selbstopfer verstanden werden, in dem es um die lebenslange Übereinstimmung mit sich selbst ging. Der Staat, der Sokrates verurteilt, wird hierbei zum unausweichlichen Kampffeld des Philosophen stilisiert, der attische Volksbeschluss der Todesstrafe hinsichtlich seiner Vernünftigkeit befragt. In der Betonung der Konsequenz des sokratischen Handelns wird damit aber ein wichtiger Punkt unterschlagen, der noch bei Platon explizit betont wurde: die Freiwilligkeit Sokrates’, dieses Urteil anzunehmen und das Exil abzulehnen. Es ist dieser Punkt der Freiwilligkeit des Suizids, der für das aristotelische Verständnis der Ethik die größte Bedrohung darstellt. Damit nun endlich eröffnet sich uns auch der Sinn der aristotelischen Aussagen, warum der Staat den Suizid sinnvollerweise ächtet. »Wer sich nun im Zorn selbst ersticht (was die entschuldbarste Form der Unbeherrschtheit ist J. S.), tut dies mit Wollen gegen die richtige Überlegung, was das Gesetz nicht zulässt. Er tut also Unrecht. Doch wem? Tut er etwa dem Staat Unrecht, sich selbst aber nicht? Denn er erleidet die Handlung aus seinem eigenen Wollen, niemand aber erleidet aus seinem eigenen Wollen Unrecht. Daher erlegt auch der Staat eine Strafe auf, und es hängt der Person, die sich selbst getötet hat, eine gewisse Ehrlosigkeit (atimia) an, da sie dem Staat Unrecht tut.« (1138 99 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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a9–14) Das Gesetz ächtet also den Suizid, da es unvernünftige Tätigkeiten vernünftigerweise nicht befördert, sondern den Menschen zu einem guten Leben verhelfen will, was für Aristoteles die Grundaufgabe der Politik ist. Der Suizid ist nicht verboten, weil er als Suizid an sich schlecht wäre – auch wenn er für Aristoteles ja unvernünftig ist – oder ein Unrecht gegen die eigene Person ist – was er nach Aristoteles definitiv nicht ist. Sondern er ist verboten, weil er ein Unrecht am Staat ist, da dieser auf die vernünftige Lebensführung seiner Bürger achtet und zielt. Wer sich also dennoch selbst tötet, zieht das Gesetz des Staates in Zweifel und wird wegen dieser »Revolte« verachtet. Auch wenn Aristoteles hier kein simples staatliches Suizidverbot formuliert, wird der weitere Fortgang der Geschichte insbesondere ein solches daraus machen. Die Grundannahme für diese staatliche Ächtung des Suizids ist aber, und dies sei betont, bei Aristoteles nicht in einer moralischen Verurteilung des Suizids zu sehen – dies wird erst der hl. Augustin vollziehen –, sondern in der Konzentration auf die Frage, wie ein gutes Leben zu führen ist. Verständlicherweise kann sich aber genau an diesem Punkt der angeblichen Unbeherrschtheit des Suizidenten und der fehlenden Vergleichbarkeit von Leben und Tod auch ein ganz anderes Verständnis entwickeln, welches gerade in der Möglichkeit zum Suizid einen Ausweis der menschlichen Freiheit sieht. Diese Sichtweise würde insbesondere die Annahme in Zweifel ziehen, dass der Mensch, der sich das Leben nimmt, im eigenen Tod auf keinen Fall seine Rettung sehen könne und auch nicht in Übereinstimmung mit seinen eigenen Erkenntnissen handle. Genau diese Sichtweise aber wird die hellenistische Philosophie einnehmen.

1.5.

»Hellenismus« (Stoa, Epikureismus)

Die griechische Antike setzt sich in der Bewegung des »Hellenismus« fort, welche ihren Ausgang mit den Landeroberungen Alexanders des Großen, insbesondere der Eroberung des Persischen Reichs nimmt. Die Nachahmung des Griechischen kann als das gemeinsame Muster verstanden werden, welches sich im Überformen der vielen regionalen Kulturen mit der griechisch-antiken Kultur in Alexanders zusammenerobertem Großreich zeigt. Dabei stützte sich diese Bewegung neben dem griechischen Kernland insbesondere auch auf die oberen Herr100 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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schaftsschichten und die neugegründeten Kolonien (Haywood 2005, S. 172 ff.). Sie hielt in unterschiedlichem Ausmaß auch in den Nachfolgereichen der Diadochen an und prägte insbesondere die römische Kulturwelt. Die stoische Philosophie ist neben dem Epikureismus und der Skepsis eine der drei Hauptströmungen der hellenistischen Philosophie. Aus heutiger Sicht erscheint sie dabei als die wirkungsmächtigste Strömung, da sie insbesondere die römische Kulturwelt mitprägte und in der römischen Kaiserzeit mit Seneca (zw. 4/1 v. Chr.–65 n. Chr.), Epiktet (zw. 50/60–138) und Marc Aurel (121–180) zu einer erneuten Blüte fand. In deren schriftlich überlieferten Werken gewann die stoische Philosophie vielfältigen und direkten Einfluss in nachfolgender Zeit. Während sie im Mittelalter zuweilen auch in Verkennung als aristotelische Lehre aufgenommen wurde, feierte sie der RenaissanceHumanismus als wiederentdeckte Antike. In unserer Zeit begegnen wir ihr vor allem als Vorbild für eine persönliche Lebenskunst und Glückslehre. In ihrer kulturprägenden Zeit zwischen dem 4. Jahrhundert vor Christus bis ins 2. Jahrhundert nach Christus beeinflusste sie andere, insbesondere religiöse Strömungen im gesamten hellenistischen Kulturraum, zu denen letztlich auch das Christentum zu zählen ist. Dennoch ist der zeitgenössische Einfluss insbesondere des Epikureismus und auch der Skepsis nicht zu vernachlässigen, so dass zumindest aspekthaft auch auf die Einstellung der epikureischen Lehre zum Suizid eingegangen werden soll. Die stoische Philosophie setzt von den drei genannten Strömungen das »hellenistische Programm« am radikalsten um. Dies geht zu Lasten einer gewissen Plausibilität, wie wir noch sehen werden. Dabei können wir den einheitlichen Grundzug des »hellenistischen Programms« in der Kennzeichnung und Konzentration auf den Menschen als Einzelwesen sehen. In der Philosophie führt dies, vor dem Hintergrund der Frage nach einem »guten Leben«, zu einer Verinnerlichung der eudaimonia und der Frage nach den Möglichkeiten der Selbstbestimmung des Einzelnen (Hossenfelder 1985, S. 32 ff.). Dies meint nicht, dass sich der einzelne Mensch formal als Selbstzweck erkennt und beschreibt, sondern dass er erkennt, dass es um sein ganz persönliches »Wohlbefinden«, so wie er selbst es einschätzt, als »Endzweck« und »Wozu« in seinem Leben geht. Eine dauerhafte Sicherung der eudaimonia in einem solch privatisierten Sinn wirft demnach für die hellenistischen Philosophen schwierige Fragen auf: Inwiefern kann der 101 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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einzelne Mensch die Ziele seines Handelns und Lebens selbst setzen? Wie soll mit Zielen umgegangen werden, die entweder gar nicht erreicht werden können oder deren Erreichen nicht garantiert werden kann? Wie unabhängig ist das Erreichen dieser Ziele von äußeren, situativen und kosmischen Umständen? Bereits im aristotelischen Strukturmodell des ethischen Weges ging es um das »gut zu leben« des einzelnen Menschen. Der höchste Zielpunkt der eigenen ethischen Bewegung war hier die vernünftige Betrachtung des Gegebenen, das »Sein-lassen«, worin sich zugleich das aristotelische Verständnis des Kosmos wiederfand. Formal verstanden könnte also ein Bildhauer nicht so »glücklich« sein wie ein Philosoph, da ihm die vernünftige Einsicht in die kosmische Ordnung fehlt, obwohl sich der Bildhauer vielleicht sogar glücklicher fühlt und seine selbstgesetzten Projekte zu verfolgen vermag. Eudaimonia ist bei Aristoteles also eben gerade nicht vollständig mit der Selbstbeschreibung des Einzelnen gleichzusetzen. Dem entspricht letztlich auch, dass der einzelne Mensch in Kosmos und Gemeinschaft ein- und damit untergeordnet ist und dass die äußeren Umstände bestimmenden Einfluss auf die eudaimonia des einzelnen Menschen haben. Im Hellenismus wird eudaimonia hingegen so verstanden, dass jeder Mensch selbst entscheidet, ob er sich als eudaimon versteht oder nicht. Solche Entscheidungshoheit verwandelt freilich weder spontan den Kosmos in seiner materiellen Gegebenheit noch ändert es direkt etwas an den nicht immer einfachen Lebensumständen. Vielmehr zeigt es die Dringlichkeit der bereits genannten Fragen, wobei insbesondere die für den Einzelnen nicht erreichbaren Ziele und Zwecke ihre problematische Qualität in ihrer fehlenden Verfügbarkeit ausweisen. An vorderster Stelle der unverfügbaren Dinge steht dabei sicherlich der Tod, aber auch naheliegende Ziele des persönlichen Alltags können davon betroffen sein. Vor diesem Hintergrund formuliert Malte Hossenfelder als zentrale Frage der hellenistischen Ethik: »Auf welche Weise und bis zu welchem Grade ist die Entwertung des Unverfügbaren durchführbar?« (S. 39) In diesem Fragerahmen kann auch, wie sich zeigen wird, das stoische Verständnis der suizidalen Erfahrung bzw. der Möglichkeit, sich zu töten, verortet werden. Die stoische Philosophie nimmt ihren Anfang mit Zenon aus Kition/Zypern (335–262/1). Nachdem er 313 einen Schiffbruch in der Nähe von Piräus überlebt, hört er in Athen bei verschiedenen Philosophen und wird Schüler des Kynikers Krates (Weinkauf 2001, S. 18). 102 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Der Kynismus war jedoch nicht primär eine Philosophie, sondern eine bestimmte Lebensweise, die sich durch eine asketisch-naturnahe, fast schon animalische und jedenfalls antikonventionell-theoriefeindliche Qualität auszeichnete. Dabei gelangt der Mensch nach den Vorstellungen der Kyniker zur persönlichen eudaimonia infolge dieser »naturbelassenen« Lebensweise, wie sie auch in den überlieferten spöttischernsten Anekdoten des bis in unsere Tage berühmten Kynikers Diogenes zum Ausdruck kommt (Hossenfelder 1985, S. 183 f.). Zenon gründet um 300 seine eigene philosophische Schule und trifft sich mit seinen Schülern regelmäßig in der bunten Säulenhalle (Stoa Poikile, von daher der Name Stoa) direkt beim Marktplatz von Athen. Seine beiden Schüler Kleanthes von Assos (331/30–233/31) und Chrysippos von Soloi/Kilikien (281/77–208/04) setzen nach seinem Tod die Leitung der Schule fort, wobei insbesondere Chrysippos als der zweite Begründer der Stoa angesehen wird (Graeser 1994, S. 116 ff.). Die stoische Philosophie bemüht sich vordringlich um eine Klärung lebenspraktischer bzw. ethischer Fragen, beschäftigt sich aber zudem mit Fragen der Natur (Physik und Metaphysik) sowie der Logik (Erkenntnistheorie, Dialektik, Rhetorik). Auch wenn aus heutiger Sicht klar scheint, dass die Bereiche der Physik und Logik in den Dienst der ethischen Fragen gestellt wurden, bleibt unklar, in welchem Umfang dies genau geschah. So haben die Stoiker in der Logik beispielsweise wegweisende Erkenntnisse vorgebracht, die die heutige »formale Logik« wesentlich vorbereitet haben (S. 134 ff.; vgl. auch Hossenfelder 1995, S. 74 ff.). So führen sie die Unterscheidung zwischen dem Bezeichnenden (dem Wort) und dem Bezeichneten (der Bedeutung, dem Lekton) ein, was ohne Zweifel ganz unabhängig von ethischen Fragen gesehen werden kann. Zugleich hilft ihnen diese Unterscheidung in ihrem Bemühen um eine beweiskräftige und formale Argumentation gegenüber anderen philosophischen Schulen. In diese rationale Auseinandersetzung werden sie aber aus Gründen getrieben, die aus ihren ethischen Überzeugungen erwachsen, nämlich genauer aus ihrer Annahme, dass die Vernunft der bestimmende Faktor des menschlichen Verhaltens ist (S. 74). Spannenderweise wirft nun das Lekton als unkörperliche Gegebenheit zudem auch noch die Frage nach der Gegebenheit von Immateriellem auf, vertreten doch sonst die Stoiker einen sehr strengen, heraklitisch geprägten Materialismus. Neben dem Lekton sind sie letztlich zur Annahme von drei weiteren unkörperlichen Gegebenheiten gezwungen: der Zeit, dem Ort und der Leere (S. 80 f.). 103 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Letztlich verschieben sie aber dieses Problem auf eine »tiefere« Ebene ohne es zu lösen, indem sie neben dem körperlichen »Existieren« noch ein unkörperliches »Subsistieren« annehmen, welches nicht genauer gekennzeichnet zu sein scheint. Dieses kleine Beispiel zeigt sehr deutlich, wie eng die verschiedenen Bereiche der Philosophie (Ethik, Physik, Logik) im stoischen Denken miteinander verwoben sind. Die bereits erwähnte Überzeugung, dass es die Vernunft (logos) ist, die der bestimmende Faktor im menschlichen Verhalten ist, kann als wesentliche Grundüberzeugung des stoischen Philosophierens verstanden werden. Dabei gilt ihnen der logos als strukturgebendes aktives Prinzip, welches denkend von der Materie, dem Stoff (hyle) unterschieden werden könne, aber nicht realiter getrennt vorkommt. Traditionsgemäß unterscheiden sie dabei vier einfachste Körper als Grundbausteine der Materie mit jeweils eigenen Grundqualitäten, welche durch die Einwirkung des logos auf die hyle entstehen: Feuer – warm, Luft – kalt, Wasser – feucht, Erde – trocken. Bedeutend ist nun, dass der logos ebenfalls stofflich in der Welt aktiv formend wirkt. Dieses aktiv formgebende Prinzip heißt bei den Stoikern pneuma. Das pneuma ist eine Mischung aus Feuer und Luft, das – wie Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) Chrysipp zitierend schreibt –, »die ganze Welt zusammenhält und ihr Bestehen sichert. Es hat Bewusstsein und Vernunft.« (Cicero, zit. nach Weinkauf 2001, S. 118) Das pneuma als unvergänglicher Urkörper findet sich auch beim Menschen im einzelnen logos – und zwar genauer im hegemonikon – konzentriert, woraus sich begründet, dass der logos über die abhängigen Körperteile zu herrschen vermag (S. 118 ff.; Hossenfelder 1985, S. 82 ff.). Das hegemonikon ist das persönliche Zentrum des pneuma im Menschen, welches Chrysipp im Herzen lokalisiert – obwohl zuvor bereits der alexandrinische Arzt und Anatom Erasistratos (um 305–250 v. Chr.) die Bedeutung des Gehirns für das menschliche Bewusstsein nachweisen konnte. In diesem strengen Materialismus bindet das pneuma als unvergänglicher Urkörper den Kosmos zusammen, ordnet ihn, bewegt und belebt ihn als aktives Prinzip und verleiht in konzentrierter Ansammlung den Körpern Vernunft. Insofern erinnert das pneuma an Heraklits These einer Ursubstanz des ätherhaften Feuers, für welches ebenfalls galt: »Das Feuer ist vernunftbegabt.« (Heraklit 1995, S. 23) Die platonische Unterscheidung von Idee und Materie wird von den Stoikern folglich als eine erkenntnistheoretische Unterscheidung behandelt und hat somit keinen ontologischen Charakter mehr. In einem solchen 104 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Weltbild wird jedenfalls verständlich, inwiefern der logos des Menschen über die anderen Körperteile, insbesondere die animalischen Triebe, und damit das Verhalten herrschen können müsste – auch wenn der Alltag vielleicht oftmals dagegen zu sprechen scheint. Unklar bleibt allerdings, inwiefern der logos als Ableger des pneuma nun auch tatsächlich frei ist, sich seine Ziele, Zwecke und Absichten selbst zu setzen. Und zudem, entfernt nicht ein solcherart strenger Materialismus mit einem allesdurchwaltenden, vernünftigen pneuma die Dinge im Umfeld des Menschen wieder aus seinem Einflussbereich? Wer leitet nun die Geschicke des Einzelnen, er selbst oder aber der übergeordnete, vernunftbegabte Kosmos? Die Schwierigkeit, einen strengen Materialismus und die individuelle Freiheit zusammenzubinden, hat die stoische Philosophie intensiv beschäftigt (Hossenfelder 1985, S. 84 ff.). Die Antwort ist gewissermaßen zwiespältig und widersprüchlich. Zunächst gilt, dass der vernunftbegabte Kosmos die Geschicke leitet. In diesem Sinn erscheint der Kosmos wie eine Gottheit, die vorausschauend alles auf das Vernünftigste für die vernunftbegabten Wesen einrichtet. Dies wirft die Frage auf, wie das Böse in die Welt kommt? Chrysipps Antwort, dass es das Gute und das Böse in ihrer Entgegensetzung nur gemeinsam geben könne (Gellius, zit. nach Weinkauf 2001, S. 131 f.) deutet an, dass diese Vorsehung (pronoia) einen gewissermaßen gesetzesartigen Charakter aufweist, an den sie selbst gebunden ist (Hossenfelder 1995, S. 86 ff.). Die ordnende Aktivität des pneuma ist also zugleich förmlich »blind« wie das Schicksal (heimarmene). Da beides zutrifft – heimarmene und pronoia –, kann sich der Mensch »blind« auf die vernünftige Struktur seines Lebens verlassen, aber an dieser eigenen Lebensstruktur und seinen Situationen auch nichts ändern. Er kann den Zielen und Zwecken, wie sie ihm kommen, jedoch zustimmen und als eigene deklarieren. Chrysipp vergleicht deshalb den Menschen mit einem walzenförmigen Stein, der von Außen angestoßen infolge seiner runden Form die Bewegung beizubehalten vermag. »Genauso sind Ordnung, Natur und Notwendigkeit des Schicksals zwar die Ursachen für die ersten Bewegungen, aber die Ausführung unserer Gedanken, Pläne und Handlungen werden doch durch den eigenen Willen eines jeden und durch seine seelischen Kräfte gelenkt.« (Gellius, zit. nach Weinkauf 2001, S. 135). So gesehen liegt es an der besonderen Beschaffenheit des jeweils Einzelnen, wie er auf die Anstöße des Schicksals reagiert, was andererseits – diesem Modell gemäß – wiederum vorherbestimmt ist. 105 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Sicherlich löst dieses Modell das Problem nicht, da der Betreffende an dieser »vorherbestimmten Beschaffenheit« nicht wirklich etwas ändern kann und auch das Schicksal nicht in seiner Hand liegt. Selbstbestimmung bleibt auf diesem Weg jedenfalls unverständlich (Hossenfelder 1995, S. 91 f.). Im stoischen Denken ist aber dieses Modell in seiner zwiespältigen und widersprüchlichen Art das entscheidende Bild, welches sich auch in der Ethik allenthalben wiederfindet. Die Konsequenz eines solchen Verständnisses ist tatsächlich eine vollständige Verinnerlichung der eudaimonia, wobei allerdings zugleich alles Mögliche eine affektive und intellektuelle Entwertung durchlaufen kann und muss. Denn glücklich ist der Mensch in diesem Verständnis dann, wenn er sich einerseits ganz auf seine vorherbestimmten Triebe, Wünsche und Absichten einzulassen vermag, ohne aber andererseits das Angestrebte, Erwünschte oder Beabsichtigte für wichtiger, wertvoller oder erstrebenswerter zu halten als irgendetwas anderes. Denn schließlich kann es ja sein, dass das Angestrebte gar nicht eintritt oder erreicht wird, wobei sowohl der Eintritt als auch der Nicht-Eintritt eindeutig als vorherbestimmt angesehen werden müssen. Diese ins Innere zurücktretende Lebenseinstellung ermöglicht einen gewissen inneren Rückzug aus der Situation, an der nunmehr eher unenthusiastisch teilgenommen werden kann. Ein gewisser Fatalismus ist nicht zu leugnen. Dieser kann sich auch durchaus auf die eudaimonia des Einzelnen beziehen, wobei dem einen eben mehr Glück bestimmt ist – so wie es dem anderen nicht bestimmt ist, die affektive und intellektuelle Entwertung alles Unverfügbaren auch tatsächlich leisten zu können (S. 93). Ein Gedanke, an den das christliche Menschenbild anknüpfen wird und der sich bereits im Zeushymnus von Kleanthes findet: »Aus dem Herzen vertreib sie (die Torheit J. S.), Vater, und gib ihnen allen Einsicht.« (Kleanthes, zit. nach Weinkauf 2001, S. 116) Hier wird dann das philosophische Gespräch tatsächlich zum Gebet. Aber bereits im Vorfeld eines solchen Abbiegens in Richtung eines Glaubens droht die totale Beliebigkeit, da jeder seine eigenen Ziele als vorherbestimmt deklarieren könnte. Und droht nicht auf der anderen Seite wiederum eine komplette Handlungsunfähigkeit, da ja letztlich alles in gleicher Weise gewertet werden müsste? Die entscheidenden Fragen sind also: Welches ist das vernünftigste Ziel? Gibt es eine gestufte Ordnung von Zwecken, Zielen und Trieben, oder sind alle in gleicher Weise gültig? Das höchste Gut ist auch in der stoischen Philosophie die eudai106 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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monia, welches Zenon genauer in den zwei Sätzen bestimmt: »Einstimmig leben«; »Eudaimonia ist der Wohlfluß des Lebens« (Strobaeus, zit. nach Hossenfelder 1996, S. 76) Diese an sich einfach und griffig erscheinenden Formeln können vor dem erläuterten Hintergrund der stoischen Philosophie am ehesten in der Einstimmigkeit von Person und Situation/Kosmos gesehen werden (wobei dies insbesondere hinsichtlich des Handelns gilt), welche eine Ruhe der Seele bedeutet. Insofern kann Hossenfelder zugestimmt werden, der annimmt, »dass Zenon mit dem einstimmigen Leben die Übereinstimmung von Wollen und Können meint« (Hossenfelder 1996, S. 64). Dann aber ist es am vernünftigsten, sich nur solche Ziele zu gestatten, die erreicht werden können und nur solche Bedürfnisse zu entwickeln, die befriedigt werden können (S. XXIIff). Denn in einem solchen ausgeglichenen Zustand gewinnt der Betreffende eine innere Ruhe, die die Stoiker als einen Zustand verstanden, in dem die Affekte abwesend seien (S. 64 ff.). Genau diese »unaffektive« (»apathische«) Verfassung ist das Ziel der stoischen Ethik, sie kann durch vernünftige Einsicht gewonnen werden. Um diesen Zustand zu erreichen, gilt es also, diejenigen Ziele und Zwecke zu erkennen, die unverfügbar sind. Diesen unverfügbaren Dingen (adiaphora) gegenüber gilt es, sich gleichmütig zu verhalten. Die Einsicht, dass die adiaphora gleichmütig angesehen und angenommen werden können, versetzt den Stoiker demnach in die Möglichkeit, das Streben nach bzw. Begehren von diesen adiaphora gewissermaßen gleichmütig zu begleiten. So kann es ihn ebenso wenig aufregen, wenn sein Körper nach Nahrung verlangt und keine da ist, wie es ihn innerlich unberührt lässt, wenn er sich etwas zu Essen zu besorgen vermag. Denn die Affekte, so das stoische Affektmodell, entstehen nicht bereits als Begleitung eines Strebens, sondern erst dann, wenn das Angestrebte nicht erreicht wird. In diesem Modell gilt also, dass der Affekt erst durch die »falsche Zustimmung der Vernunft« entsteht, dass dieses Angestrebte auch begehrenswert sei. »Sie (die Stoiker J. S.) lehren ferner, daß alle Leidenschaften (Affekte) auf Grund eines Urteils und eines Meinens zustandekommen. So definieren sie sie genauer, damit man nicht nur erkennt, wie schlecht, sondern auch wie sehr sie in unserer Gewalt sind. […] Das Vermeinen aber […] bestimmen sie als eine schwache Zustimmung.« (Cicero 1998, 4,14) In diesem Affektmodell hat die Vernunft also die Möglichkeit, ihre Zustimmung zu verweigern und damit das Angestrebte vollständig zu entwerten. In diesem Sinn gilt es, die Verfügbarkeit des Angestrebten zu erfassen und nur das als 107 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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begehrenswert zuzulassen, was auch verfügbar ist. Verfügbar aber ist angesichts von heimarmene und pronoia einzig die Einsicht, dass nichts wirklich verfügbar ist, außer dieser Einsicht selbst. Diese Einsicht ist die höchste Tugend und insofern wiederum mit der »einstimmigen Einstellung« gleichzusetzen: »Die Tugend ist einstimmige Einstellung« (Diogenes Laertius, zit. nach Hossenfelder 1996, S. 96). Die vernünftige Einsicht ermöglicht die »richtige« Einstellung, wohingegen die Unwissenheit und Uneinsichtigkeit unausweichlich ins Laster führt. Dabei gilt: »Gut ist allein die Tugend, übel die Untugend, alles übrige ist gleichgültig.« (Hossenfelder 1995, S. 58) So innerlich gewappnet droht die Handlungsunfähigkeit in einer »Alles-egal«-Haltung, da der Mensch beispielsweise »vor Hunger ganz matt« nun weder seinem Hunger noch seiner körperlichen Mattheit folgen kann. Diese Handlungsunfähigkeit vermeiden die Stoiker, indem sie »bevorzugte« und »zurückgesetzte« adiaphora unterscheiden, wobei sie dennoch in gleicher Weise (un-)bedeutend bleiben (S. 59 ff.). In der stoischen Philosophie geht es folglich einzig um die innere Einstellung, die dem Einzelnen voll zu Gebote steht und den inneren Rückzug auf diese Einstellung ermöglicht, in der alles Unverfügbare – und es ist alles unverfügbar außer dieser Einstellung – umfassend entwertet wird. Insofern kann der stoische Mensch ein ganz normales äußeres Leben führen und unter allen möglichen äußeren Umständen eudaimon sein, was einen wesentlichen Unterschied zur aristotelischen Ethik darstellt und die stoische Philosophie für alle denkbaren Gesellschafts- und Gemeinschaftsmodelle – von der Familie bis zum Imperium – attraktiv werden lässt. Wie versteht sich nun in einer solchen Lebenseinstellung die suizidale Erfahrung und der Suizid? Äußerungen zu diesem Thema finden sich vor allem in der späten Stoa aus der römischen Kaiserzeit, wobei Plutarch (45–125 n. Chr.) und Cicero auch die Einstellung früherer Stoiker überliefern. So berichtet Cicero über die stoische Position: »Da von diesen ersten naturgemäßen Dingen alle angemessenen Handlungen ausgehen, heißt es nicht ohne Grund, daß sich darauf alle unsere Überlegungen beziehen, darunter auch das Ausscheiden aus dem Leben und das Verbleiben im Leben.« (Cicero 1989, 3,60) Während das »Ausscheiden aus dem Leben« mittels Unfall und Krankheit schicksalhafte Vorsehung ist, ist der Suizid eine eigene und freie Entscheidung des Betreffenden. Dabei ist er in der Entscheidung auch deshalb frei, da sowohl das Leben als auch der Tod adiaphora sind. Zwar 108 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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gehört das Leben zu den bevorzugten und der Tod zu den zurückgesetzten adiaphora, aber dies heißt nicht, dass der Tod in jedem Fall zu verhindern und dass unter allen Umständen am Leben zu bleiben ist. Vielmehr versetzt diese gleiche Gültigkeit von Leben und Tod den stoischen Menschen erst in die Lage, zwischen beiden vernünftig zu wählen. »Denn weder wird (der Tugendhafte) durch die Tugend im Leben zurückgehalten, noch müssen die, die ohne Tugend sind, den Tod suchen. Und oft ist es für den Weisen angemessen, dem Leben zu entsagen, obgleich er äußerst glücklich ist, wenn er es bei günstiger Gelegenheit tun kann, d. h. in Übereinstimmung mit der Natur. […] Deswegen, weil das Gewicht der Laster nicht ausreicht, einen Grund für den Freitod zu liefern, ist es auch klar, daß es für den Toren, obwohl sie obendrein unglücklich sind, angemessen ist, im Leben zu bleiben, wenn sie sich zum größeren Teil in solchen Umständen befinden, die wir naturgemäß nennen. Und da einer ja gleichermaßen unglücklich ist, ob er aus dem Leben scheidet oder bleibt, und da die lange Dauer ihm das Leben nicht meidenswerter macht, heißt es nicht ohne Grund, daß diejenigen, die sich überwiegend naturgemäßer Umstände erfreuen könnten, am Leben zu bleiben hätten.« (3,60) Von welchen »naturgemäßen Dingen« wird hier aber geredet? »Naturgemäß« meint hier dasjenige, was sich »folgerichtig aus der Natur« ergibt und insofern eine »vernünftige« Rechtfertigung erfahren kann (3,58). Ein Mensch, der sich »naturgemäß« verhält und dies zudem noch vernünftig rechtfertigen kann, begeht aus der Sicht der stoischen Philosophie eine »vernunftgemäße«, »vollkommene« oder »mittlere« Handlung. »Naturgemäßes« Verhalten kann in der stoischen Philosophie also auch aus einer falschen Einstellung erwachsen, ein »vollkommenes« Verhalten hingegen ist wesentlich an die richtige Einstellung gebunden (Hossenfelder 1995, S. 64 f.). »Vernunftgemäß« ist hinsichtlich der suizidalen Erfahrung dabei zunächst die Einsicht, dass der vernünftige Kosmos den Menschen »sogleich nach der Geburt sich selbst zugeeignet und anempfohlen (habe), um sich zu erhalten und um seine Verfassung und das, was der Erhaltung dieser Verfassung diene, zu lieben« (Cicero 1989, 3,16). Im Weiteren ist »vernunftgemäß« einstimmig zu leben, was die Einsicht in die Übereinstimmung zwischen dem eigenen (triebhaften) Wollen und dem eigenen Können (gemäß den Umständen, Fähigkeiten) erfordert (s. o.). Eine solche Übereinstimmung kann auch das Ausscheiden aus dem Leben einfordern. Dies wirft die Frage auf, wie denn der Tod in der stoischen 109 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Philosophie verstanden werden kann. Denn wenn es gleichgültig sein soll, ob man lebt oder tot ist, wie kann dann der Tod eine Hoffnung für den in naturwidrigen Umständen lebenden Menschen sein? Der Tod wird in der stoischen Philosophie als die Ablösung der eigenen Seele vom Leib verstanden. Der leibliche Tod wird also nicht mit dem Tod der Seele in eins gesetzt. »Wie alles Gewordene, so ist auch die Seele sterblich, aber sie löst sich nicht sofort bei der Trennung vom Körper auf. Da nicht der Körper ihr, sondern sie dem Körper Zusammenhalt gegeben hat, so kann sie sich allemal selbst erhalten. Nach dem Austritt aus dem Leib zieht sie sich zur Kugelgestalt zusammen und lebt als solche Pneumakugel unter dem Monde, bis ihre Spannkraft nachlässt und sie vergeht, wobei die starken Seelen länger als die schwachen Seelen leben, aber höchstens bis zum nächsten Weltbrand.« (Hossenfelder 1995, S. 84) Die Seele stirbt nicht im Moment des Ausscheidens aus dem Leben, sondern löst sich zunächst nur aus einem nicht-vernunftgemäßen Leben. Sie zieht sich auf sich selbst zurück und nimmt perfekte (Kugel-)Gestalt an. Als pneuma bleibt sie dabei weiterhin in den lebendigen Kosmos eingebunden. Insofern versteht sich der Tod wie eine Fortsetzung des Lebens mit anderen Mitteln, so dass sich hinsichtlich der Frage des vernunftgemäßen, naturgemäßen oder naturwidrigen »Lebens« nichts geändert hat. Denn diese Frage ist an die Einstellung der Seele zu ihren Umständen gebunden. Unter dieser Annahme werden auch die fünf kanonischen Fälle verständlich, in denen der Suizid in jedem Fall als »naturgemäß« verstanden werden kann. In diesen Fällen lehnen sich die Stoiker inhaltlich an die platonischen Ausnahmen an, auch wenn die Begründung wie gesehen eine andere ist. Der Suizid ist »naturgemäß«, wenn a) es eine dringende vernünftige Notwendigkeit gebietet (wobei sich sofort die Frage stellt, wie diese denn nach stoischem Verständnis hätte aussehen können); b) sich dadurch jemand naturwidrigen (z. B. »unsittlichen«) Handlungen entzieht, die ein Tyrann ihm aufnötigt; c) eine langwierige Krankheit den Leib daran hindert, der Seele als Werkzeug zu dienen; d) Armut und absoluter Mangel an Nahrung besteht; e) derjenige an einer Geisteskrankheit leidet (Decher 1999, S. 44 ff.). Eine wahrhaft »angemessene Haltung« wird der Suizid aber auch in diesen naturgemäßen Fällen erst dann, wenn er mit der richtigen inneren Einstellung vollzogen wird. Diese innere Einstellung meint eben gerade die apathia, in der es ausschließlich um das Aufrechterhalten der Einsicht geht, dass es keine letzten Zwecke und keine letzten Einsichten 110 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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gibt. Insofern kann der Stoiker auch behaupten, dass es wiederum vernunftgemäß sein könne, entgegen allem Unglücklichsein am Leben zu bleiben. Dies heißt nicht, dass ein »Tor« sein Unglücklichsein nicht richtig einzuschätzen vermöchte, sondern dass ihm das Entscheidende fehlt, nämlich die Einsicht in die »Torheit« seiner Wünsche, Ziele und Absichten, obwohl er in naturgemäßen Umständen lebt. »Chrysipp glaubt, heißt es, man dürfe keinesfalls das Verbleiben im Leben nach den Gütern und das Ausscheiden nach den Übeln bemessen, sondern nach den von Natur mittleren Dingen. Daher ist es zuweilen für die Glücklichen angemessen, sich umzubringen, und für die Unglücklichen umgekehrt, am Leben zu bleiben.« (Plutarch, zit. nach Hossenfelder 1996, S. 158) Die Möglichkeit, sich töten zu können, versteht sich in der stoischen Philosophie also grundlegend anders als bei Aristoteles, bei dem der Suizid eher als eine unvernünftige »Kurzschlussreaktion« erschien. Vielmehr kann in der stoischen Philosophie der Suizid als vollkommene Handlung vernünftig sein, auch wenn er deshalb nicht geboten ist. Die Entscheidung für oder gegen den Suizid bleibt letztlich in dem Sinne eine freie Entscheidung, da der Einzelne den drängenden Impulsen seine bewusste Vollmacht erteilen oder auch nicht erteilen kann. Wird der Suizid aus der richtigen Einstellung vollzogen und kann die Suizidentscheidung eine vernünftige Rechtfertigung erfahren, so ist er als »vollkommene Handlung« im stoischen Sinn zu verstehen. Dies heißt nicht, dass es nicht auch unvernünftige Suizide gibt oder dass manche Menschen Suizid aus der falschen Einstellung heraus begehen. Es heißt aber, dass es einen vernunftgemäßen Suizid in der stoischen Ethik gibt. Da nun der Suizid ein Verhalten ist, welches der Mensch jederzeit vollziehen kann, folgt auch dies dem fundamentalen stoischen Lebensmotto: »Damit wir können, was wir wollen, müssen wir wollen, was wir können.« (Hossenfelder 1995, S. 46) Der Suizid steht dem Menschen im stoischen Verständnis also unter bestimmten Lebensumständen »frei«, wobei er zugleich ebenfalls als Vorsehung und als Schicksal verstanden werden kann. Die Lebenseinstellung des Ins-Innere-zurücktreten ermöglicht dem stoischen Menschen einen inneren Rückzug aus der Situation, an der er apathisch teilnehmen kann. Hierdurch erreicht er einen »Wohlfluss seines Lebens«, eudaimonia, welches als das »Wozu« des Lebens verstanden wird. Dies gilt auch für die Situation des Suizids. Dieser innere Rückzug führt aber nicht primär zu einer Freiheit im Sinne fundamentaler 111 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Selbstbestimmung, sondern zu einer Freiheit der inneren Einstellung. Etwas pointiert könnte man sagen, dass es im stoischen Verständnis dem Menschen frei steht, wie er den vorherbestimmten und schicksalhaften Suizid innerlich begleitet: zustimmend oder ablehnend. Eine solche Freiheit bedeutet also nicht nur, dass sich ein Mensch mit der falschen Einstellung töten kann, sondern insbesondere auch, dass sich ein Mensch »schicksalswidrig« verhält, weil er sich nicht tötet. Beim stoischen Freitod handelt es sich also einerseits um eine »Freiheit aus dem Stand«, aber zugleich um eine »Freiheit«, die dennoch in heimarmene und pronoia des lebendigen Kosmos eingebunden bleibt und keineswegs darüber hinaus führt. Es ist folglich eine Freiheit gegenüber dem irdischen Leben, welche hier angesprochen wird und keine Freiheit gegenüber dem Ganzen. Sich zu töten meint im stoischen Sinn somit den maximal möglichen Rückzug aufs Innere, auf die Seele selbst. Die Möglichkeit des Sich-töten-könnens verweist im stoischen Sinn folglich auf die Möglichkeit, eine maximal distanzierte Einstellung zu den aktuellen Umständen gewinnen zu können. So verstanden zeigt sich der Freitod tatsächlich als der Gipfelpunkt der stoischen Lebenseinstellung, auch wenn er nicht als das »Wozu« des Lebens, als das höchste Ziel angesehen werden kann. Ein solches Verständnis des Suizids löst das platonische Problem des »göttlichen Zeichens«, da dies nun jeder Mensch selbst entscheiden kann. Damit aber führt es zugleich in die Schwierigkeit, ob man sich nun bei jeder Gelegenheit das Leben nehmen sollte. Eine Schwierigkeit, mit der die Stoiker der römischen Kaiserzeit durchaus zu tun hatten und welche im nächsten Kapitel zu betrachten ist. Übrigens ein Thema, welches sich auch dem zeitgenössischen Epikureismus trotz einiger anderweitiger Unterschiede stellte. So berichtet Cicero, dass im Epikureismus der Weise als »stets glückselig« gilt und wie folgt beschrieben werde: »Er hat begrenzte Begierden, er kümmert sich nicht um den Tod, über die unsterblichen Götter glaubt er ohne jede Furcht das Wahre, er zögert nicht, wenn es besser sein sollte, aus dem Leben zu scheiden.« (Cicero 1989, 1,62) Die Todesfurcht wird erstmals im Epikureismus zentral und hier – durchaus unterschiedlich zur stoischen Philosophie – dadurch gelöst, dass der Tod in seiner Empfindungslosigkeit mit dem Schlaf verglichen wird (Hossenfelder 1996, S. 167). Dies entspricht der geforderten Konzentration auf den Augenblick (carpe diem, Horaz) und führt so zu einer gewissen Freiheit des Menschen, sich das Leben zu nehmen, wenn es der eudaimonia zuwiderläuft. So zeigt sich im 112 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Epikureismus, dass auch die Annahme einer strengen Empfindungslosigkeit im Tod dennoch den Tod als eine »Verbesserung« gegenüber dem Leben darzustellen vermag. Letztlich aber bleibt auch der Epikureismus, trotz aller Nähe zu religiösen Strömungen seiner Zeit, in einer aristotelischen und damit letztlich nicht-komparativen Haltung hinsichtlich der Frage, ob man sich das Leben nehmen soll oder nicht. Auch die stoische Philosophie vergleicht nicht den Tod und das Leben miteinander, auch wenn die Vorstellung vom Tod als einer Fortsetzung des seelischen Daseins unter anderen Vorzeichen besteht und insofern immer der Vergleich zu drohen scheint. Vielmehr nimmt auch sie eine eher aristotelische und insofern nicht-komparative Haltung ein, welche darauf verweist, dass die Gründe weiterzuleben aus dem eigenen Leben selbst gewonnen werden müssen. In der stoischen Ethik droht damit allerdings tatsächlich eine gewisse Inflation der Begründung, da beispielsweise jede suizidale Erfahrung als ein Ruf des Schicksals verstanden werden könnte, dem man vernünftigerweise Folge leisten muss. Denn eine Begründung, warum das Leben das Erreichen des höchsten Ziels, der eudaimonia, nicht mehr erlaubt, könnte streng genommen entweder jederzeit oder zu keiner Zeit gegeben werden. Diese Schwierigkeit drückt sich sehr deutlich in der Anekdote über Zenon aus, die Diogenes Laertios überliefert. Zenon von Kition, der Gründungsvater der Stoa, sei angeblich im Alter von »98 Jahren« in voller Gesundheit beim Herausgehen aus der Schule gestolpert, habe sich dabei die Finger gebrochen, die Hand auf die Erde geschlagen mit den Worten der Niobe – »Schon komme ich, was rufst du mich?« – und sich anschließend erwürgt. Noch beiläufiger kann die Entscheidung zum Suizid kaum getroffen, noch spontaner der Suizid kaum vollzogen, noch eindeutiger der (vermeinte) Ruf des Schicksals nicht beantwortet werden.

1.6.

Rom (Cicero, Seneca)

Die Struktur Roms als Republik zum Ende des 6. Jahrhunderts vor Christus gleicht in gewisser Hinsicht der Struktur einer griechischen Polis, allerdings zeigt sich der wohl bedeutendste Unterschied in der Orientierung an den Vorfahren (maiores) als Vorbilder eines sittlichen Verhaltens. »Das einfache Leben, Sparsamkeit und vor allem des Festhalten an Überkommenem bis hin zum Starrsinn blieben Leitbilder 113 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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und prägten die Vorstellungen von Sitte und Anstand.« (Dahlheim 1997, Bd. 2, S. 77) Im Zentrum der römischen Aristokratie stehen das unaufhörliche Streben nach Ruhm und Ehre (gloria et dignitas). Schrittweise steigt Rom zur bedeutendsten Macht des Mittelmeers auf. Nachdem die römische Armee die bedeutende Mittelmeer- und Seemacht Karthago im 1. punischen Krieg (264–241) von Sizilien vertrieben hat und im 2. punischen Krieg (218–201) Hannibal vernichtend schlagen kann, gelingt Rom im 3. punischen Krieg die Eroberung und Zerstörung Karthagos 146 v. Chr. und damit die Sicherung der eigenen Vormachtstellung im Mittelmeer. Bereits in dieser Zeit vollzieht sich eine Hellenisierung der römischen Kultur, wobei neben dem Epikureismus insbesondere auch die stoische Philosophie Einfluss nimmt (Weinkauf 2001, S. 15 f.). Panaitios von Rhodos (ca. 180–98 v. Chr.) lehrt zwischen 150 und 129 v. Chr. die stoische Philosophie in Rom, insbesondere im Umfeld der Scipionen. Im Unterschied zur älteren stoischen Philosophie relativiert er die Unabhängigkeit der Vernunft gegenüber äußeren und inneren Einflüssen, betont den glücksbefördernden Charakter der »bevorzugten« adiaphora, erweitert folgerichtig den Umfang der Vorsehung auch auf die vernünftigen Bewertungen und verschärft damit zugleich den Individualismus (Hossenfelder 1995, S. 95 ff.). Hiermit nähert er sich der epikureischen Lehre an. Sein Schüler Poseidonios (ca. 135–50 v. Chr.) wird zu einem der berühmtesten zeitgenössischen Philosophen und gründet eine eigene Schule auf Rhodos, die von den verschiedensten Persönlichkeiten seiner Zeit besucht wird. Auch Cicero hört hier über die stoische Philosophie (Weinkauf 2001, S. 22). Poseidonios’ Gesamtleistung wird sehr unterschiedlich beurteilt, seine philosophische Originalität eher gering, seine zeitgenössische Wirkung auch infolge seiner Systematisierung der stoischen Philosophie aber hoch eingeschätzt (S. 23; vgl. auch Hossenfelder 1995, S. 97 f.). Im römischen Reich, und gerade auch in den höheren (Patrizier-)Schichten in Rom selbst, war die stoische Haltung hinsichtlich des Suizids prägend. Hiermit ist nicht nur gemeint, dass der Suizid als eine Möglichkeit des einzelnen Menschen toleriert und angesehen wurde, sondern dass eine Bewertung des Suizids von der Vernünftigkeit und Nachvollziehbarkeit der Rechtfertigung abhing (Minois 1996, S. 79). Häufige Rechtfertigungen waren: »Selbstmorde wegen eines Gottesurteils in der Frühzeit, wenn ein Schuldiger einer lebensgefährlichen Situation ausgesetzt wird; Selbstmorde im Spiel bei den frei114 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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willigen Gladiatoren; »verbrecherische« Selbstmorde derer, die eine andere Person getötet haben; Selbstmorde aus Rache und Erpressung; altruistische Selbstmorde, um andere Personen zu retten; Selbstmorde aus Trauer; Selbstmorde, um sich selbst zu bestrafen; Selbstmorde, um einer unerträglichen Lage zu entfliehen wie dem körperlichen Schmerz, der militärischen Niederlage, der drohenden Strafverfolgung; politische Selbstmorde aus Angst, Überdruss, Scham, Eigennutz; Selbstmorde aus Scham nach einer Vergewaltigung« (S. 80 f.). Insbesondere die Suizide von Pyramus und Thisbe, wie sie auch in den »Metamorphosen« von Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.) in ihrer unausweichlichen Schicksalhaftigkeit der gemeinsamen Liebe dargestellt werden (vgl. Ovid 1981, S. 83 ff.), finden in der republikanischen Zeit Beachtung, wie auch ein Fresko aus Pompeji zeigt (Brown 2001, S. 41 f.). Angesichts der Vielzahl möglicher und für die Zeitgenossen oftmals nachvollziehbarer Begründungen des Suizids entsteht der Eindruck, dass der römische Patrizier gar nicht anders als durch einen Suizid hätte versterben können. Auch Zeitgenossen wie beispielsweise der stoische Philosoph Seneca (zw. 4/1 v. Chr.–65 n. Chr.) kritisieren, dass sich die Menschen viel zu rasch und ohne ausreichende Begründung das Leben nähmen (Seneca 1992, Tranq. an., 2). Entsprechend vieldiskutiert ist die Frage, ob es in römischer Zeit – insbesondere in der Phase von 100 v. Chr. bis 100 n. Chr., in welcher große Umbrüche von der Republik zum Caesarentum stattfanden – eine »Suizidepidemie« gegeben habe oder ob zumindest eine deutliche Zunahme der Suizide zu verzeichnen war. Sicherlich ist diese Frage rückblickend kaum mit ausreichender Sicherheit beantwortbar. Fest steht aber, dass sich in römischer Zeit weitaus mehr berühmte Menschen das Leben genommen haben als jemals in unserer Geschichtsschreibung später. Eine wahre »Suizidepidemie« scheint es jedoch in der Hauptstadt des römischen Reichs dennoch nicht gegeben zu haben (Minois 1996, S. 78 ff.). Auch Cicero geht in seinen, im Jahr 45 vor Christus verfertigten »Gesprächen in Tusculum«, welche griechisches Denken im römischen Kulturraum und in den höheren römischen Schichten erheblich popularisierten, auf das Thema des Suizids sein. Dabei bewahrt sich Cicero in den Gesprächen stets eine gewisse Distanz zu den vorgetragenen »anerkannten Meinungen« berühmter Philosophen, die er schrittweise nach Widersprüchen befragt. In dieser an die aristotelische (»doxographische«) Dialektik erinnernden Methode ist er nicht immer überzeugend, zumal auch die Schrift zunehmend den Charakter einer Trost115 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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schrift annimmt, in der es mehr um die Vermittlung einer richtigen Lebenseinstellung als um den Gewinn zutreffender Erkenntnisse geht. Cicero berichtet auch von Suiziden aus der Überwältigung von Affekten heraus und nennt hier Aias, den »der Zorn geradezu in den Wahnsinn und den Tod getrieben« habe und auch Alexander, der »beinahe an sich selbst Hand gelegt hätte, als er seinen Freund Kleitos getötet hatte. So groß war die Gewalt seiner Reue.« (Cicero 1998, 3,52 u. 4,79) Entgegen diesem affektgetriebenen, »kurzschlüssigen« Suizid gibt es aber dennoch einen Suizid, der als »Hafen« und »Zufluchtsort der Unempfindlichkeit« für den vernünftigen Entschluss bereitliegt: »Ich jedenfalls finde, daß man im Leben jene Regel anwenden soll, die bei den Symposien der Griechen gilt: ›Entweder trinken oder weggehen.‹ Und mit Recht: denn entweder soll man gleich wie die Anderen sich am Genuß des Trinkens erfreuen oder vorher gehen, damit man nicht nüchtern in den Taumel der Trunkenen hineingerät. So soll man auch die Mißhandlungen des Schicksals, die man nicht tragen kann, durch Flucht hinter sich lassen.« (5, 118) Diese Empfehlung eines wohlüberlegten »Weggehens aus dem Leben« ist dabei an die im ersten Buch gewonnene Gelassenheit gegenüber dem Tod gebunden. Dabei argumentiert Cicero, den Tod entweder a) als das Ende aller Empfindungen oder aber b) als den Beginn des reinen seelischen Daseins anzunehmen. Denn wenn die Seele sterblich ist, so Cicero, ist der Tod kein Übel angesichts der umfassenden Empfindungslosigkeit (1, 88–90). Wenn aber die Seele unsterblich ist, wie er mit Verweis auf Platon und Aristoteles zu argumentieren sich bemüht, werde sie nach dem Tod durch den Körper in ihrer vollendeten Erkenntnis nicht mehr behindert, womit wiederum der Tod in einen Zustand der Glückseligkeit führen müsse (1, 47 u. 55 u. 95). Letztlich aber bleibt die Seele unerkennbar, kann jedoch in ihren Äußerungen (des Selbstbewegens, der Vernunft, der Erinnerung) erkannt werden (1, 71). Die an Aristoteles angelehnte Argumentation zielt vor allem darauf, dem Tod seinen Schrecken zu nehmen. Dies ist auch für Cicero das wesentliche Ziel seiner Argumentation, da nur ohne Angst vor dem Tod ein gutes Leben geführt werden könne (1, 93). So wird die ciceronische Alternative, den Tod bzw. die Seele zu verstehen, von dem Ziel bestimmt, ein gutes Leben führen zu können. Denn, wie er im vierten Buch ausführt: »Man muß die menschlichen Dinge verachten, den Tod für gleichgültig und Schmerzen und Mühen für erträglich halten.« (4, 51) Vor diesem – nun wiederum eher stoischen – Hintergrund ver116 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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stehen sich für Cicero auch alle Affekte und Leidenschaften als aus »dem Urteil des Meinens« entstanden (4,82). Um also von den Affekten und Leidenschaften unbedrängt zu leben, hilft die Vernunft. Denn sie ist »die einzige Heilung, nämlich die Einsicht, daß alles auf der Meinung und auf dem Willen beruht«, wobei die Philosophie den Irrtum als »die Wurzel allen Unheils vollkommen auszureißen« (4, 83) vermag. Trotz dieser stoischen Affektenlehre hat Cicero aber offenbar nicht das vollste Vertrauen in die Kraft der Vernunft. Dies mag auch der Einfluss Epikurs sein, der die unwillkürlich affektive Bewertung des Gegebenen und Erlebten gemäß der Pole Lust/Unlust gegen die stoische Affektenlehre herausstellte und betonte, dass diese spontane Bewertung nicht durch die Vernunft verhindert oder direkt beeinflusst werden könne (Hossenfelder 1995, S. 110 ff.). Sicherlich ist die Beschränkung der spontanen (affektiven) Bewertung entsprechend dieser zwei Pole aus heutiger Sicht unzulässig und wir würden das Spektrum der Gefühle umfassender ansetzen (vgl. Ekman 2003). Dennoch macht dieser Hinweis auf die im epikureischen Denken thematisierte Einschränkung der Macht der Vernunft deutlich, inwiefern Cicero den Suizid wie eine Erleichterung präsentiert, die sich dem schicksalsbeladenen und leidgeprüften Menschen anbietet. Dabei zeigt sich der Suizid zugleich als ein Akt, der nicht passiv erlitten, sondern aktiv vollzogen wird. Dies ist auch in der Formulierung »defugiendo relinquas« (»durch Flucht hinter sich lassen« 5, 118) zu erkennen, denn Cicero nutzt hier ein Verbalsubstantiv (defugiendo), um das Geschehen des Entfliehens und Vermeidens als Ereignis zu formulieren. Wenn nun Cicero den Tod als eine Erleichterung gegenüber dem Leben darlegt – sei der Tod nun umfassende Empfindungslosigkeit oder gar Glückseligkeit –, stellt sich das platonische Problem wieder ein: Warum sich dann nicht jetzt, in diesem Moment der Erkenntnis, töten? Zumal eine vernünftige Rechtfertigung der eigenen Suizidentscheidung streng verstanden jederzeit getroffen werden kann, wenn es in dieser Rechtfertigung nur darum geht, dass a) der Suizid aus der richtigen Einstellung vollzogen wird und dass b) das Leben im weiteren Verlauf ein naturgemäßes Leben (schicksalhaft) zu verhindern verspricht. Denn wie rasch erscheint dem einzelnen Menschen in einer spontanen Bewertung der Suizid als »lustvoller« als sein aktuell »unlustiges« Leben. So findet sich bei Cicero eine »komparative« Haltung von Leben und Tod wieder, die mit Aristoteles bereits überwunden schien. Sicherlich ist zu fragen, ob dies noch der »echte« stoische Frei117 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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tod ist, der in purer apathia gewählt und gerechtfertigt werden müsste, da bei Cicero der Tod eher als eine Erleichterung eingeführt wird. Jedoch drohte bereits in der frühen stoischen Ethik eine Inflation der Begründung, da jede suizidale Erfahrung als ein Ruf des Schicksals verstanden werden konnte, dem man dann auch apathisch und vernünftigerweise Folge leisten muss. Cicero transportiert also nicht nur das Problem, welches sich in der stoischen Philosophie hinsichtlich des Suizids stellt, in vollem Umfang in den römischen Kulturkreis. Sondern er verschärft es, indem er eine komparative Haltung zwischen Leben und Tod nahelegt, in der das Leben – zumindest hinsichtlich der ciceronischen Alternative, wie der Tod verstanden werden könne – eigentlich nur verlieren kann. Angesichts dessen, dass seine »Gespräche in Tusculum« auch als eine Trostschrift angelegt sind, ist es aber nun wiederum wenig wahrscheinlich, dass Cicero diese Konsequenz des raschen und mehr oder weniger sofortigen Suizids anvisiert hat. Freilich scheint er sich dieser Schwierigkeit im Unterschied zu Platon nicht bewusst geworden zu sein. Vielleicht hatte er mehr mit seiner eigenen Angst vor dem Tod zu ringen, ein für hellenisierte Individualisten nicht ganz untypisches Thema. Dieser Widerspruch einer komparativen Haltung, der insbesondere immer dann aufkommen muss, wenn mit Sicherheit angenommen wird, dass der eigene Tod den Menschen in weitgehender personaler Kontinuität in die Glückseligkeit führen wird, ist ein großes Thema dieser Zeit. Es beschäftigt nicht nur die römische Stoa, vor allem Seneca und Epiktet, sondern auch das sich entwickelnde Christentum, hier insbesondere Senecas Zeitgenossen Paulus. Betrachten wir aber im Folgenden, in welcher Weise die stoische Philosophie sich bemüht, diese Schwierigkeit in römischer Zeit zu lösen. Dabei kommt Seneca eine besondere Rolle zu, auch da er der erste stoische Philosoph ist, von dem uns vollständige Werke erhalten sind. Mit seinen brillant geschriebenen Büchern und Essays hat er bis in unsere Zeit eine enorme Wirkung entfaltet. Bemerkenswert ist dabei, dass er eine große Nähe zum Epikureismus aufweist und wohlwollend und wertschätzend von Epikur spricht (vgl. Hossenfelder 1995, S. 98). Lucius Annaeus Seneca wird um die Zeitenwende in Cordoba als Sohn eines römischen Ritters geboren und bereits in jüngsten Jahren – eventuell sogar als Einjähriger – vom Vater nach Rom ins Haus des Assinius Pollio geschickt (Maurach 1991, S. 15 ff.). Hier durchläuft er eine ausgezeichnete Schul-, Rhetorik- und Rechtsausbildung, wendet 118 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sich aber zugleich in seiner Jugend der Philosophieschule um Attalus zu, der die wichtigste Figur für den jungen Seneca gewesen zu sein scheint. Bedeutsam ist, dass diese Schule wie eine kleine Gemeinde mit einer bestimmten Lebensweise funktionierte und insofern auch halt- und geborgenheitsgebend war (Maurach 1991, S. 20 f.). Seneca selbst berichtet, dass Attalus von den Schülern und den Lehrenden »ein gemeinsames Ziel gefordert habe: das Voranschreiten« (Seneca 2009, 108). Auch Senecas philosophisches Interesse gilt insbesondere ethischen Fragen, wobei er ebenfalls eine Dynamisierung der inneren Einstellung betreibt (»Die rechte innere Einstellung zu finden steht allen frei« S. 229). Er sieht den Menschen, insbesondere in seinem Spätwerk, vermittels des Philosophierens auf dem Weg vom »Toren« zum »Weisen«, womit in gewisser Weise das an einem Idealziel orientierte Aufdem-Weg-sein zur vorgesehenen Lebensweise des Menschen gehört (vgl. bes. Seneca 1992, Vit. be. 3; Seneca 1992, Tranq. an., 11; Seneca 2007, S. 109 u. S. 465 ff.; vgl. auch Maurach 1991, S. 175 ff.; Weinkauf 2001, S. 27). Dieser Gedanke des Lebens als »Weg« hat auch eine wichtige Bedeutung im Zusammenhang mit seinem Verständnis der suizidalen Erfahrung. Bevor wir uns seinen Äußerungen zur suizidalen Erfahrung und der Möglichkeit, sich töten zu können, zuwenden, müssen wir aber darauf aufmerksam machen, dass Seneca der Überlieferung des Tacitus (ca. 55–116 n. Chr.) in seinen Annalen folgend sich das Leben nahm, nachdem er von Nero (Reg. 54–68), den er nicht nur erzogen sondern auch jahrelang in politischen Dingen beraten hatte, dazu aufgefordert worden war (Maurach 1991, S. 43 f.). Nero, der Seneca verdächtigte, an der Pisonischen Verschwörung teilgenommen zu haben, übersandte diese Aufforderung durch einen Boten, woraufhin Seneca angeblich einem Sklaven einen Abschiedsbrief an die Römer diktierte, sich von seiner Frau verabschiedete, einen Becher mit Gift trank und sich ins Bad legte, wo er sich die Pulsadern aufschneiden ließ. Diese auffallende, zumindest teilweise Tatenlosigkeit hinsichtlich seines Sterbens gilt sogar noch für die Passagen, in denen er im Anschluss an diese Bemühungen sich habe wegbringen und ermorden lassen (S. 47). Angesichts dieser Passivität stellt sich – vergleichbar der platonischen Darstellung des Todes von Sokrates – die Frage, ob denn überhaupt von einem Suizid gesprochen werden kann. In dieser Frage kann uns Seneca selbst weiterhelfen, schreibt er doch in seinem berühmten 70. Brief an Lucilius: »Man kann daher wohl bei dem Problem nicht allgemein entschei119 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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den, ob man, wenn eine äußere Macht den Tod ankündigt, ihn vorwegnehmen oder erwarten soll; denn es gibt vieles, was auf die eine oder die andere Seite ziehen kann. Ist die eine Todesart qualvoll, die andere einfach und leicht, warum soll man sich nicht für die entscheiden?« (Seneca 2007, S. 407) Also doch ein Tod auf eigene Veranlassung, wenn auch eine Freiwilligkeit angesichts der Todesnähe und eines sonst drohenden Sterbens auf grausamere Art. Wenn diese Interpretation akzeptiert wird, zeigt sich die Passivität nicht primär als eine fehlende Freiwilligkeit des Sterbens, sondern als Ausdruck der stoischen apathia, der inneren Gelassenheit, Ruhe und Distanzierung zur Situation. Der Unterschied, der eben aus stoischer Sicht gar kein Unterschied ist, ist nur, dass hier die Situation das eigene Sterben ist. Sicherlich handelt es sich um Überlieferungen, dennoch wird diese Interpretation auch insofern gestützt, als alle Überlieferungen die an ihm vollzogenen Handlungen (Aderlaß, Warmwasserbad, Schwertstreich) auf seine Anordnung hin geschehen lassen (Maurach 1991, S. 47). Sicherlich wäre es verkürzt, wenn man Senecas Äußerungen zur suizidalen Erfahrung ausschließlich von seinem eigenen Suizid her verstehen wollte. Dennoch wirft der eigene Suizid auf alle vorherigen Äußerungen zu diesem Thema ein anderes Licht, demonstriert er doch die Ernsthaftigkeit der vorherigen Überlegungen. Jedoch kann sich auch hier Widerspruch einstellen, denn es kann gefragt werden, ob für Seneca eine weitgehende Übereinstimmung zwischen seinem Leben und seiner Philosophie überhaupt angenommen werden darf? Sicherlich gibt es über die Person Senecas bis in unsere Tage viel Auseinandersetzung und viele unterschiedliche Bewertungen. Die Seneca-Bilder reichen vom eher prunksüchtigen Machtmenschen, der seine philosophischen Lehren vorwiegend zur Begründung seines opulenten Lebensstils verwandte (vgl. Hossenfelder 1995, S. 98), bis hin zum Ideal des stoisch lebenden Weisen, der seine philosophischen Lehren noch in den letzten Momenten seines Lebens in vollem Umfang zu befolgen vermochte (vgl. Maurach 1991, S. 34 ff.). Auch wenn beide Extreme auf der unterschiedlichen Bewertung der Überlieferung fußen, ist es dennoch am ehesten wahrscheinlich, dass sich Seneca tatsächlich weitgehend erfolgreich darum bemühte, sein Leben gemäß seiner ethischen Überzeugungen zu leben. Nichts anderes sagt letztlich auch sein Anspruch aus, dass man sich stets bemühen müsse und sich der »Seelenruhe« niemals sicher sein könne: »Dessen aber sei dir bewußt, daß nichts davon (von seiner vorherigen Lehre J. S.) stark genug ist, wenn 120 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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man sich etwas so Labiles (die Seelenruhe J. S.) erhalten will, falls man nicht in wacher, beständiger Sorge acht hat auf seine gefährdete Seele.« (Seneca 1992, Tranq. an., 17,11) Ein weiterer Hinweis, dass eine weitgehende Übereinstimmung von Leben und Lehre zumindest hinsichtlich des uns interessierenden Themas der suizidalen Erfahrung bei der Person Seneca bestand, findet sich auch darin, dass Seneca bereits in seiner Jugendzeit eine suizidale Krise durchmachte (Maurach 1991, S. 26). So gesehen wusste Seneca hinsichtlich der Möglichkeit, sich töten zu können, wovon er sprach. Insofern können wir mit einiger Sicherheit behaupten, dass ihn das Thema der suizidalen Erfahrung bzw. des Sich-töten-könnens nicht nur zeitlebens in seinen Schriften, sondern auch in seinem eigenen Leben (immer mal wieder) beschäftigte. Seneca hat eine typisch stoische Einstellung zum Suizid. »Wie du weißt,« schreibt er in seinem Brief »Bereit zum Abschied« an Lucilius, »sollte man sich daran (an das Leben J. S.) nicht immer klammern, denn nicht das Leben ist ein Gut, sondern das gute Leben [non enim vivere bonum est, sed bene vivere]. Daher wird der Weise solange leben, wie er muß, nicht so lange er kann [vivum quantum debet, non quantum potest]. Er wird darauf achten, wo er leben soll, mit welchen Leuten, wie und bei welcher Tätigkeit. Stets ist er darauf bedacht, von welcher Art sein Leben [qualis vita] ist, nicht wie lange es währt.« (Seneca 2007, S. 405) Der Tod ist für Seneca eine ganz individuelle Angelegenheit, die der betreffende Mensch umfassend und ausschließlich mit sich zu entscheiden vermag: »Sein Leben muss jeder auch vor anderen rechtfertigen, den Tod nur vor sich selbst.« (S. 409) Die Möglichkeit des Menschen, aus dem Schicksal gewissermaßen »auszusteigen« und den eigenen Tod zu wählen, ist das letzte Mittel, welches dem einzelnen Menschen zur Verfügung steht, um ein naturwidriges Leben zu verhindern: »Gut zu sterben bedeutet aber, der Gefahr eines üblen Lebens zu entgehen.« (S. 405) Dabei ist es durchaus erforderlich, den Tod vor sich selbst zu rechtfertigen. Denn es gilt, die Beschaffenheit des eigenen Lebens vernünftig zu betrachten und den weiteren Verlauf der Dinge zu erwägen: »Sobald ihm das Schicksal verdächtig zu werden beginnt, überlegt er gewissenhaft, ob er nun nicht loslassen soll.« (S. 405) Eine solche »Verdächtigkeit des Schicksals« tritt sicherlich sehr häufig auf, so dass der Betreffende wiederholt zu prüfen hat, ob die richtige Einstellung im Leben gelingt oder ob sie schicksalhaft nicht mehr möglich ist. »Soll ich es ertragen, obwohl ich den Tod in der Hand 121 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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habe?« (S. 271) Solche Situationen hat es sicherlich auch in Senecas Leben häufiger gegeben. Hat er wirklich in all diesen Situationen über den Suizid nachgedacht? Hat dieses Nachdenken ihm vielleicht sogar geholfen, in die richtige, d. h. apathische Einstellung zum Leben wieder hineinzufinden? Es ist ja tatsächlich zu fragen, ob nicht dieses Reflektieren über die eigene Möglichkeit des Suizids Seneca immer wieder dazu befähigt hat, sein Leben mit der richtigen, distanzierten und eher unengagierten inneren Einstellung zu betreiben. Genau diese innere Einstellung liegt auch dem Vergleich zugrunde, den er gegenüber Lucilius wählt, um den Aufenthalt der Seele zu beschreiben: Die Seele »wohnt« im Leib, so dass der Tod wie ein »Umzug« verstanden werden kann (S. 411) bzw. ist an den Leib »gefesselt« (S. 141 u. S. 359 ff.) bzw. »Gast im Menschenleib« (S. 183). Dies wäre angesichts der stoischen Annahme, dass die Seele nach dem leiblichen Tod zunächst als vollkommene Pneumakugel unter dem Mond weiterlebt, ein durchaus nachvollziehbarer Vergleich. Dennoch bezieht sich Seneca, gerade in seinen Briefen an Lucilius, auch immer wieder auf die epikureische Vorstellung des Todes als einem empfindungslosen Zustand (S. 173) und bleibt letztlich in geradezu ciceronischer Weise unentschieden: »Der Tod verschlingt uns entweder oder er erlöst uns. In die Freiheit entlassen, bleibt unser besserer Teil übrig, da uns eine Last abgenommen ist, werden wir aber verschlungen, bleibt uns nichts weiter, Gutes wie Schlimmes ist gleichermaßen dahin.« (S. 143, vgl. auch S. 307 u. S. 363: »Was ist der Tod? Entweder ein Ende oder ein Übergang.«) Auffallend ist zudem, dass Seneca in seinem 70. Brief gleich drei eindringliche und als Vorbilder beschriebene Beispiele gibt, in denen ein Gladiator im direkten Vorfeld des öffentlichen Kampfes auf Leben und Tod sich selbst den Tod gibt. Seneca lobt nicht nur den Mut dieser drei Barbaren, sondern insbesondere deren seinerseits unterstellte Einstellung und interpretiert deren Verhalten als Ausdruck des Strebens nach Selbstbestimmung: »Der scheußlichste Tod ist der saubersten Knechtschaft vorzuziehen.« (S. 413) In diesem Sinn versteht sich der Suizid dann zugleich als eine gegen das herrschende Gesetz gerichtete Tat, als eine letzte Freiheit des Verurteilten, Geknechteten und Gefolterten, der sich der Herrschaft des Anderen erfolgreich entzieht. Seneca versteht den Suizid folglich nicht nur als das letzte Mittel, welches der einzelne Mensch zur Verfügung hat, um über sich selbst zu bestimmen. Sondern es drückt zugleich sein Streben nach Selbstbestimmung den anderen, ihn beherrschenden Menschen gegenüber aus, so dass der 122 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Suizid zu einem geradezu revolutionären Protestakt wird, wenn er mit der richtigen Einstellung vollzogen wird. Wie in der vorherigen stoischen Philosophie geht es auch bei Seneca um die richtige innere Einstellung, die gegenüber der eigenen Situation zu gewinnen ist und die den »Wohlfluss des Lebens«, die »Ruhe der Seele« bzw. eudaimonia ermöglicht. Dieses »rechte Leben« ist auch bei ihm das »Wozu« des Lebens. Im Unterschied zu seinen philosophischen Vorgängern wird das Wissen um das Sich-töten-können aber zu einem Gipfelpunkt der inneren Distanzierung und bietet so das hypomochlion in der Reflexion, um sich aus der jeweils gegebenen Situation heraushebeln zu können. Es ist dieses Wissen, welches dem Menschen dazu verhilft, sogar in den schwierigsten Situationen wieder in die richtige innere Einstellung hineinzufinden, beispielsweise dann, wenn er in Zorn geraten ist: »Ob das Leben so viel wert ist, sei dahingestellt. Das ist ein anderes Problem. Wir werden an einer so trostlosen Strafanstalt nichts Positives sehen; wir werden nicht dazu raten, die Befehle von Henkern hinzunehmen. Wir werden zeigen, dass in jeder Sklaverei ein Tor zur Freiheit offen steht. Ist der Geist krank und elend durch eigene Schuld, steht es ihm frei, dem Jammer – und zugleich sich – ein Ende zu machen. Ich sage es auch dem, der an einen König gerät, der mit seinen Pfeilen auf die Brust von Freunden schießt, und dem, dessen Herr mit dem Fleisch ihrer Kinder Väter sättigt: ›Was seufzt du, Narr? Was wartest du, dass dich entweder irgendein Staatsfeind bei der Vernichtung deines Volkes rächt oder ein König aus der Ferne machtvoll herbeieilt? Wohin du auch blickst, da gibt es für dein Leiden ein Ende! Du siehst jenen Steilhang? Dort geht’s zur Freiheit hinab. Du siehst jenes Meer, jenen Fluss, jenen Brunnenschacht? Die Freiheit ist dort, auf dem Grund, daheim. Du siehst jenen Baum, verkrüppelt, dürr, unfruchtbar? Daran hängt die Freiheit. Du siehst deine Kehle, dein Genick, dein Herz? Fluchthelfer aus der Knechtschaft sind es! Allzu mühevolle Abgänge zeige ich dir, die zudem viel Mut und Kraft erfordern? Du fragst, was der bequeme Weg zur Freiheit sei? In deinem Leib jedwede Ader!‹ Solange uns allerdings nichts so unerträglich scheint, dass es uns in den Tod treiben könnte, wollen wir den Zorn in jeder Lebenslage zurückdrängen.« (Seneca 1992, De ira, III, 15)

Es stellt sich die Frage, ob das Wissen, sich töten zu können, die zentrale Technik ist, mit welcher der Mensch seinem Zorn zu widerstehen vermag. In seiner Schrift »Über den Zorn«, aus der das vorige Zitat entnommen ist, formuliert er hinsichtlich des Zueinanders von Vernunft und Affekt das folgende Bild: »Unmittelbar an der Grenze, meine ich, muss man den Feind abwehren, denn wenn er erst einmarschiert und 123 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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durch die Tore in die Stadt gedrungen ist, lässt er sich keine Vorschriften von Gefangenen machen.« (I, 8) Es ist klar, dass die Vernunft hier die Stadt ist – die geordnete und friedliche Weise des Zusammenstimmens aller Teile – und der Affekt diese Stadt bestürmt. Dieses Bild Senecas, das Bild der Stadt und der heranstürmenden Affekte, ist fürwahr ein Bild aus seiner Zeit. Die Stadt – in letzter Konsequenz also wohl Rom – als Zentrum des Kosmos mit wehrhaften Stadtmauern und Stadttoren. Jedoch kann (und muss bereits mit Aristoteles) bezweifelt werden, dass es diese Stadtmauern und damit eine affektlose Vernunft und einen vernunftlosen Affekt wirklich gibt. »Es ist ja nicht so«, setzt er die zitierte Stelle fort, »dass die Seele entrückt wäre und aus der Distanz die Affekte beobachtete, um sie nicht weiter als recht ist vordringen zu lassen. Sie wird vielmehr selbst zum Affekt und kann daher ihre andere hilfreiche und heilsame Eigenschaft, sobald diese preisgegeben und zur Ohnmacht verurteilt ist, nicht wiedergewinnen. Denn, wie ich schon sagte, es gibt überhaupt keine räumliche Trennung zwischen beiden, sondern Affekt und Vernunft sind, zum Besseren oder Schlechteren hin, verschiedene Erscheinungsformen der Seele.« (I, 8) Und obwohl dies so ist, sagt er an anderer Stelle, dass Vernunft und Affekt dennoch rein und geschieden voneinander vorhanden sind, es also einen vernunftlosen Affekt und eine affektlose Vernunft gibt (I, 10). Diese scheinbar widersprüchliche Annahme wird aus der stoischen Affektenlehre verständlich, nach der die Affekte dann entstehen, wenn die Vernunft ein Strebensziel gutheißt, welches gar nicht erreichbar ist – oder zumindest nicht erreicht wird –, so dass der Mensch seinen Antrieb erfolglos in eine bestimmte Richtung und »ins Leere stürmen« lässt. Einzig die richtige Einstellung gegenüber den Zielen des eigenen Strebens hilft hier weiter, wobei das einzig sichere Ziel der stoischen Philosophie bekanntlich die Einsicht ist, dass es keine letzten Ziele gibt. Um in Senecas Bild zu bleiben: Es ist die Aufgabe des Menschen, die Vernunft wehrhaft zu machen, mit Mauern zu versehen und die Tore gut zu bewachen, durch die die Leidenschaften hereinstürmen könnten (I, 9). Die Vernunft hingegen gilt auch Seneca als beständig und geordnet, wie die Natur und der Kosmos, und vermag – durch die richtige (stoische) Einstellung vermittelt – zur Ruhe der Seele beizutragen. »Ein Affekt schwindet rasch, gleich bleibt sich die Vernunft.« (I, 17) Die Unbeständigkeit ist entsprechend auch das Hauptkennzeichen des unvernünftigen Menschen, des Menschen, der im Sinne der Stoa nicht im Einklang mit sich und der Natur lebt. Dieses Bild, dass 124 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Unbeständigkeit und fehlende Vorhersehbarkeit des Verhaltens direkt ins Auge springende Kennzeichen eines unvernünftigen Menschen sind, gilt und galt auch für den wahnsinnigen Menschen. Auch dieser zeigt sich als derjenige, der im Miteinander unberechenbar ist (Dörner 1999, S. 146 f.). Für Seneca ist der Zorn, die Wut, im Unterschied zu Aristoteles der gefährlichste Affekt, der am ehesten durch die Stadttore hineinstürmt, da er jede Überlegung ausschließt, den Menschen überwältigt und in der Dynamik des Affekts mit sich fortzureißen droht. Im stoischen Weg ist es tatsächlich die Reflexion, die das Überwältigtwerden durch den Affekt verhindert, wobei Seneca erneut den Tod als hypomochlion benutzt: »Schau, da kommt der Tod, der macht euch beide gleich.« (III, 43) Für ihn verbrüdert uns der größere Schrecken, da wir im Angesicht des Todes gleich werden und der Tod uns zeigt, wie nichtig unser Zorn auf jemand anderen ist. Er vergleicht dies mit einem Zweikampf zwischen einem Stier und einem Bären in der Arena, die sich gegenseitig zerfleischen, nur um am Ende dasselbe Schicksal zu erleiden: den Tod. Dieser »Trick«, dass der Mensch sich seiner Sterblichkeit erinnert, soll dem Betreffenden helfen, die Sinnlosigkeit seines Zorns einzusehen und zu verstehen. Dies zielt letztlich auf die weitere Einsicht, sowohl das Leben als auch den Tod als gleich gültige Dinge gelten zu lassen (adiaphora). Mit Gleich-Gültigkeit ist hier erneut nicht gemeint, dass alles egal ist, sondern dass aus stoischer Sicht Leben und Tod gleiche Gültigkeit besitzen. Denn das alles durchwaltende Schicksal verfügt das Geschehende und lässt den dies Erfahrenden die Notwendigkeit und den Sinn des Geschehenden verstehen, da er Dank seines logos dessen Gesamtsinn (pronoia) und dessen Notwendigkeit (heimarmene) erkennen kann. Es gilt der sinnerhellende Nachvollzug des bereits und sowieso Gegebenen und es gilt die Frage: Wozu eigentlich die Aufregung? »Dorthin zurückzukehren, von wo man kam – was ist daran schwer? Übel lebt ein jeder, der nicht gut zu sterben weiß.« (Seneca 1992, Tranq. an., 11, 3) Was Seneca mit dem Nachdenken über den Tod – insbesondere in Gestalt des Sich-töten-könnens – formuliert, ist eine Freiheit des Menschen aus dem Stand heraus. Diese »Freiheit aus dem Stande« weist sich für Seneca in der Möglichkeit nach, sich töten zu können (vgl. auch »Malum est in necessitate vivere, sed in necessitate vivere necessitas nulla est.« – »Übel ist es, unter Zwang zu leben, doch unter Zwang zu leben, dazu zwingt uns nichts.« Seneca 2007, S. 63). Die Vergewisserung darüber, sich den Tod geben zu können, ist 125 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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der Drehpunkt, an dem sich Seneca immer wieder aus den schwierigsten Lebensumständen heraushebelt (vgl. auch »censeo aut ex ista vita tibi aut e vita exeundum.« – »Ich bin dafür, daß Du entweder aus diesem elenden Leben oder aus dem Leben selbst scheiden musst.« S. 123). Mit diesem »Trick« erscheint ihm das Leben wieder weitaus weniger unerträglich und er kann sich seiner Situation wieder apathisch und leidenschaftslos stellen und zuwenden. »Der Weise braucht nicht ängstlich und behutsam seinen Weg zu gehen. So groß ist nämlich seine Selbstgewißheit, daß er ohne Zögern dem Schicksal entgegentritt und vor ihm nie zurückweicht. Bei ihm gibt es keinen schwachen Punkt, weswegen er es fürchten müßte, da er nicht nur Sklaven, Vermögen und Stellung, sondern auch seinen Leib, seine Augen, seine Hand und alles, was das Dasein schöner macht, ja sogar die eigene Existenz als geborgt ansieht und lebt, als sei er sich selbst auf Widerruf gegeben und bereit, der Rückforderung ohne Murren nachzukommen.« (Seneca 1992, Tranq. an., 11,1) Aber findet sich damit im stoischen Verständnis des Suizids und der suizidalen Erfahrung nicht ein gewisser Widerspruch? Denn es ist zu fragen, inwiefern der Suizid, wenn dieser Hebel funktioniert, dann überhaupt noch nötig wäre? Wenn es gelingt, durch das Erwägen des Suizids wieder ins Innere zurückzutreten und zur richtigen, apathischen Einstellung zurückzufinden, so braucht sich der stoische Mensch das Leben nicht mehr zu nehmen, da er nun wieder eudaimon ist. Es handelt sich also nicht um einen strengen Widerspruch, sondern um eine »suizidale Dialektik«, die ein Fort-Schreiten auf das »Wozu« des Lebens bedeutet: durch die Vergewisserung, sich im Angesicht der aktuell unerträglichen Verfassung das Leben nehmen zu können, kann sich der Mensch seinem Schicksal wieder in apathischer Weise stellen und alles Gegebene als adiaphora ansehen. Misslingt dies hingegen, so wäre der Suizid in vollendeter apathia tatsächlich im stoischen Verständnis angemessen. Es ist bei Seneca also gerade das stete Nachdenken über den Tod und die ständige Vergewisserung, sich den Tod geben zu können, die es unnötig macht, sich auch tatsächlich das Leben zu nehmen. Hatten wir zunächst gesagt, dass es dem Menschen im stoischen Verständnis frei stand, wie er den vorherbestimmten und schicksalhaften Suizid innerlich begleitete – nämlich zustimmend oder ablehnend – so können wir mit Seneca hinzufügen, dass es das Sich-töten-können ist, das letztlich dem stoischen Menschen die Freiheit gegenüber dem Irdischen sichert. Dabei gilt auch für Seneca, dass der eigene Tod den Menschen nicht aus 126 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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heimarmene und pronoia des lebendigen Kosmos herausnimmt, sondern dass es ihm vielmehr schicksalhaft freisteht, sich jederzeit das Leben nehmen zu können und sich hierin ganz auf sich selbst (als pneuma, als Seele) zurückzunehmen. In der Gewissheit, sich töten zu können, hat der stoische Mensch bzw. Seneca den Drehpunkt gefunden, an dem er mit seinem Nachdenken jederzeit ansetzen kann, um sich aus der leidenschaftlichen Verstrickung mit seinen Umständen heraus- und in die richtige apathische Einstellung hineinzuhebeln. Das Sich-töten-können ist das hypomochlion der stoischen Lebensführung. Dies bedeutet nicht, dass Seneca nicht auch andere Weisen des Suizids kennt. Im Gegenteil, er geißelt die Unüberlegtheit und leidenschaftliche Spontanität vieler Suizide seiner römischen Zeitgenossen. Deren Suizid aus »Lebensüberdruss« (taedium vitae) sieht er als typisch für eine enttäuschte intellektuelle Minderheit an: »Daher kommt jene Unlust und Unzufriedenheit mit sich selbst und die Unbeständigkeit einer Seele, die nirgends Ruhe findet, und die mürrische und verdrießliche Hinnahme der Muße, die einem gewährt ist, – besonders, wenn man sich scheut, die Gründe zuzugeben und aus Scham seine Qual in sich hineinfrisst: Dann sind die Triebwünsche in ein enges Gefängnis ohne Ausgang gesperrt und strangulieren sich gegenseitig. Daher kommen Trauer und Trägheit und tausend Erschütterungen eines verstörten Gemüts, das hochgestimmt ist, wenn es Hoffnung schöpft, und verbittert, wenn es davon lassen muss. […] Deshalb unternimmt man ziellose Reisen […]. Eine Reise nach der andern unternimmt man, ein Spektakel lässt man dem andern folgen – wie es bei Lukrez heißt: so sucht jeder beständig, sich selbst zu entfliehen. Doch was hilft’s, wenn er sich nicht entflieht? Er begleitet sich selber und fällt sich zur Last als unangenehmster Gefährte. […] Das hat manche schon in den Tod getrieben: Da sie infolge häufigen Wechsels ihrer Vorsätze stets auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen wurden und sich nicht die Möglichkeiten neuer Erfahrungen offengehalten hatten, ekelt sie mit der Zeit ihr Leben und die ganze Welt an, und es überkam sie das Gefühl von Leuten, die aller Genüsse überdrüssig sind: ›Wie lange noch dasselbe?‹« (Seneca 1992, Tranq. an., 2, 9 ff.) Dieser Suizid aus »Lebensüberdruss« ist nicht mit dem Suizid des Stoikers vergleichbar, da sich der Stoiker, wenn schon, apathisch und wohlbegründet gegen das (irdische) Leben entscheidet. Beispielsweise wenn er meint, dass er zukünftig nicht mehr im Sinne seines vorigen Daseins »naturgemäß« leben könne. 127 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Der lebensüberdrüssige Mensch ist hingegen auch der unvernünftige Mensch, er hat eine »unbeständige Seele«. Diesen Menschen schildert Seneca als verzweifelt und als haltlos im Leben. Er beschreibt den »Lebensüberdrüssigen« als einen Menschen, der stets auf der Suche nach Glückseligkeit und Zufriedenheit überall nur den Mangel und die Verzweiflung findet. Angesichts dieser Irrwege auf seiner Suche nach Glückseligkeit, findet dieser schließlich seine einzige Rettung im eigenen Tode. So nutzt der lebensüberdrüssige römische Bürger in einem fast schon ciceronischen Sinn diesen zuletzt ihm verbliebenen »Weg in die Freiheit«, diese endgültige Flucht vor sich selbst, die jede weitere Flucht unnötig macht. Die Schilderung des »lebensüberdrüssigen Menschen« durch Seneca erinnert durchaus an die aristotelische Schilderung des tugendlosen, unbeständigen und von Leidenschaften beherrschten Menschen, der sich in einer Art »Kurzschlussreaktion« das Leben nimmt. Dennoch liegt der wesentliche Unterschied darin, dass für Seneca der verzweifelte Mensch in seinem Tod – in gewissermaßen ciceronischer Manier – eine letzte Rettung sieht, wohingegen für Aristoteles eine solche Sicht angesichts der Unvergleichbarkeit von Leben und Tod nicht nur unvernünftig, sondern geradezu unvorstellbar erscheint. In der Ablehnung eines solcherart vollzogenen Suizids sind sich nun aber beide wieder einig. Denn der Tod, den der Mensch »ad libitum« zur eigenen Erleichterung wählt, entspricht keineswegs Senecas Vorstellung vom Suizid des »weisen« Menschen. Seneca setzt der von Aristoteles aufgewiesenen »Kurzschlüssigkeit« der Suizidentscheidung die »Wohlüberlegtheit« des Sich-töten-könnens entgegen. Er formuliert damit zum ersten Mal in der Kulturgeschichte ganz explizit die rettende Qualität des Suizids, die nicht nur wie bei Platon darin besteht, dass der Mensch mit dem selbstgegebenen Tod das Irdische verlässt und deshalb etwas Rettendes darin erkennt, sondern dass er bereits im Wissen um diese Möglichkeit eine neue, andere und zukunftsweisende Einstellung zu sich und seiner Situation zu finden vermag. Dieses Verständnis der suizidalen Erfahrung findet sich auch bei den anderen späten Stoikern der römischen Kaiserzeit, welche wieder stärker an die ältere Stoa anknüpfen. Insbesondere bei Epiktet (50–140 n. Chr.) scheint die Möglichkeit des Suizids die fundamentale Freiheit des glücklichen Menschen geradezu zu beweisen: »Steht es dir denn nicht frei, auch zu sterben? ›Das steht mir frei.‹ Warum klagst du also?« (Epiktet 1984, III 22) Dieses Abweisen der Klage bedeutet hin128 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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gegen nicht, wie Epiktet betont, sich im Angesicht eigener Trauer oder anderer Befindlichkeiten das Leben zu nehmen. Vielmehr versteht Epiktet dies als einen Verweis auf die fundamentale Möglichkeit des Menschen, sich jederzeit frei zu seinem Dasein zu stellen und so unbeeindruckt von äußeren Ereignissen jederzeit glücklich zu sein. Auf diesem Weg wird der Suizid für Epiktet als ein vernünftiger Ausweg denkbar, kann aber auch nur auf diesem Weg als eine freie und aktive Entscheidung verstanden werden. Dabei wendet er sich gegen eine »komparative« Haltung. Als wesentliches Argument greift er dabei auf das bei Platon sich findende »göttliche Zeichen« zurück. »Euer Lehrer […] müsste es dahin bringen, dass es keine jungen Männer mehr gebe, die ihre Verwandtschaft mit den Göttern wohl erkannt haben, aber das, womit wir eng verbunden sind: Leib, Besitz, alles was uns notwendig ist zur Erhaltung und Ordnung des Lebens, als eine lästige, beschwerliche und nutzlose Fessel empfinden, davon sie sich entledigen wollen, um sich mit Gott zu vereinigen. Euer Lehrer und Erzieher, wenn er wirklich einer wäre, müsste folgenden Disput mit euch führen. Ihr kommt zu ihm und sprecht: ›Epiktet, wir ertragen es nicht mehr länger, an diesen Leib gefesselt zu sein, ihm Speise und Trank geben zu müssen, ihn ausruhen zu lassen, ihn waschen, uns nach diesem oder jenem richten zu müssen. Ist das alles nicht gleichgültig? Ist der Tod denn ein Übel? Sind wir nicht mit Gott verwandt und von ihm hergekommen? Lass uns dahin zurückkehren, woher wir gekommen sind, wir wollen die Bande lösen, die uns hier fesseln und behindern. Hier gibt es Diebe, Räuber, Gerichtshöfe, solche, die sich Herrscher nennen, weil sie Gewalt über unsern Leib und seine Bedürfnisse zu haben glauben. Lass uns ihnen zeigen, dass sie über nichts Gewalt haben.‹ Bei einer solchen Rede müsste ich antworten: ›Ihr Menschen, wartet auf Gott. Wenn er euch ruft und euch vom Dienst ablöst, dann geht zu ihm; für jetzt aber bleibt ruhig auf eurem Platze, auf den er euch gestellt hat; kurz ist die Zeit des Verweilens hier und bei einer solchen Gesinnung auch leicht. Welcher Tyrann denn oder welcher Dieb oder welche Gerichtshöfe sind furchtbar für die, welche Leib und Besitz für nichts achten? Bleibt und geht nicht unbesonnen fort!‹« (I, 9)

Seneca wandte gegen die Schwierigkeit, dass der Mensch seinen Tod einem beschwerlichen Leben vorzieht, vorwiegend eine besonnene Nachdenklichkeit ein. In einer solchen Einstellung, die der stoischen Philosophie und deren Lehre vom lebendigen Kosmos, von pronoia und heimarmene, besonders entspricht, reicht dem Menschen die Gewissheit, sich töten zu können, zur eudaimonia aus. Epiktet hingegen reicht dies nicht aus, um eine mögliche »komparative« Haltung zu entkräften. Dies erstaunt zunächst. Er verweist zudem noch auf ein schick129 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

salhaftes »göttliches Zeichen«, welches durchaus auch als der natürliche Tod, aber auch als ein anderweitig unabweisbares und zum Suizid aufforderndes Zeichen verstanden werden kann. Dass ihm dieser Hinweis notwendig erscheint, könnte damit zu tun haben, dass die Annahme eines jenseitigen Lebens, eines Fortbestehens der Seele in personaler Kontinuität in der römischen Kultur seiner Zeit zunehmend an Bedeutung und – für den betreffenden Einzelnen – an Überzeugung gewann. In vielen religiösen Kulten der damaligen Zeit wurde die Seele als unsterblich angenommen und das Jenseits in paradiesischen Farben ausgeschmückt (Carcopino 1991, S. 145 ff.). Der Verweis auf eine gewisse Besonnenheit mag da manchem Menschen »altmodisch« und unzureichend vorgekommen sein. Denn »modern« war der Suizid und viele Patrizier töteten sich selbst – insbesondere im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. – in hohem Alter angesichts unerträglicher körperlicher Krankheit (Minois 1996, S. 86 ff.). Dies erinnert auch an die rituellen Suizide römischer Ritter und Soldaten, die im Angesicht der unvermeidlichen Gefangennahme und des dadurch drohenden Ehrverlusts durch den Gegner einen »ehrenvollen Selbstmord« begingen, indem sie im Stile des Aias auf ihr Schwert fielen (Rosen 1971). Der Suizid war im römischen Kulturkreis jedenfalls ehrenvoll und für viele hochgestellte Persönlichkeiten auch naheliegend. Dies stimmt jedoch nur an einem einzigen Punkt mit dem stoischen Verständnis der suizidalen Erfahrung überein. Diese findet sich darin, dass die stoische Philosophie die Möglichkeit des Suizids ebenfalls als eine letzte Freiheit und (ehrenvolle) Selbstbestimmung des Menschen beansprucht. So liefert die Stoa zwar eine vernünftige Begründung, dass sich der Mensch in bestimmten Situationen das Leben nehmen dürfe. Sie sichert aber den Menschen gegen einen allzu leichtfertigen Suizid durch eine »nicht-komparative« Besonnenheit. Gerade diese Besonnenheit scheint angesichts der jenseitigen Paradiese schwierig geworden zu sein, wie bereits Seneca beklagt. So könnte Epiktets Verweis tatsächlich aus der Lage motiviert gewesen sein, überhaupt erst einmal wieder Zeit für diese Besonnenheit einzufordern. Der Suizid als ehrenvoller, aber auch kurzentschlossener Abgang in der Niederlage ist ein an vielen Stellen wiederkehrendes Bild in der römischen Kultur. So findet sich auf der 113 n. Chr. aufgestellten Trajanssäule eine Darstellung des geschlagenen dakischen Heerführers Decebulus, der sich gerade mit seinem Schwert das Leben nimmt (Brown 2001, S. 37 ff.). Auch dem carthargischen Strategen Hannibal, 130 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung im Christentum

dem beeindruckenden und für das aufstrebende Rom gefährlichsten Gegner, wurde in der römischen Geschichtsschreibung des Livius (um 59 v. Chr.–17. n. Chr.) diese letzte (römische) Ehre zuteil. In seiner Darstellung nimmt Hannibal 183 v. Chr. in einer ausweglosen Situation nach zuvor jahrelanger Flucht vor den Römern durch die Länder des Mittelmeers Gift ein und scheidet freiwillig aus seinem Leben (Seibert 1993, S. 528). Entsprechend der Unentschiedenheit der römischen Einstellung zu Hannibal gibt es aber auch Darstellungen, in denen Hannibal von Sklaven ermordet wurde oder aber bei gelungener Flucht einem Unfall zum Opfer fiel (S. 528). Mit dem Niedergang der Stoa im 2. Jahrhundert n. Chr. und dem zunehmenden Ab-solutismus der Caesaren verändert sich hingegen auch die Einstellung der römischen Kultur zum Suizid. Er wird nun vorwiegend als Verbrechen verurteilt und mit strengen Verbotsgesetzen geahndet (Minois 1996, S. 88 ff.). Aus der Sicht des absoluten Herrschers begegnet der Suizid eben gerade nicht als eine selbstbestimmte Möglichkeit des einzelnen hellenisierten Menschen, die er vernünftigerweise nicht zu vollziehen braucht, sondern als eine »Revolte« gegen die gesetzte Ordnung. So ist es verständlich, dass sich bereits vor der christlichen Übernahme des kulturellen Raums und der Festlegung einer eindeutig ablehnenden und verurteilenden Haltung der christlichen Kultur gegenüber dem Suizid im 5. Jahrhundert, eine (näherungsweise) aristotelisch geprägte Haltung in der römischen Kultur durchsetzt: Suizid als Verbrechen am Staat. Erst in der Renaissance wird die stoische Perspektive wiederentdeckt, wenn auch im Kontext eines anderen Menschenbildes.

2.

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Das christliche Menschenbild prägt die nächste Epoche und bedeutet so zugleich den Untergang des antiken Kulturraums. Antike Kulte und Götter verschwinden und werden durch christliche Kulte und den christlichen Gott ersetzt bzw. überformt. Der Mensch in diesem Kulturraum ist zeitlebens aufgefordert, sich als Christ zu verstehen. Die Entstehung dieses Menschenbildes und Selbstverständnisses ist ein historisch enorm vielfältiger Prozess, der ohne die Hellenisierung der antiken Welt unmöglich gewesen wäre. Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass insbesondere das Judentum entscheidend für die 131 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Heraufkunft dieses neuen Selbstverständnisses war. Und nicht zuletzt ist daran zu erinnern, dass das Römische Reich den strukturellen Boden für dieses neue Selbstverständnis darstellte. Um die Verständnisse der suizidalen Erfahrung, des Sich-töten-könnens und des Suizids im christlichen Kulturraum nachvollziehen zu können, ist eine Skizze des christlichen Selbstverständnisses voranzustellen. Dies ist sinnvoll, da stets die grundlegende Umkehr im christlichen Selbstverständnis in Anschlag gebracht werden muss, wenn dieses Verständnis gelingen soll. In der Betonung dieser grundlegenden Umkehr soll hier allerdings nicht gesagt werden, dass das christliche Selbstverständnis unverbunden zur griechisch-römischen Antike steht. Bekanntlich ist ja das Gegenteil der Fall. Dabei kann das christliche Selbstverständnis in folgender Weise skizziert werden: Der christliche Mensch ist fundamental auf Gott gestellt. Allerdings ist dieser christliche Gott keiner von dieser Welt, sondern diese Welt ist von Gott. Gott als über der Welt stehend (›transzendent‹) erschafft den Menschen in seinem irdischen Dasein. Die irdische Sterblichkeit ist hingegen nicht die ganze Wahrheit des Menschen, da er von Gott unsterblich geschaffen ist. Der unsterbliche Wesenskern des Menschen – seine Seele – ist schon immer das Ganze des menschlichen Daseins, als welches er leiblich auferstehen kann von den Toten in das ewige Leben. Die Auferstehung ist ein Heilsangebot Gottes, in welchem er die Rettung eines jeden Christen zusichert. In dieser Zusicherung liegt die Aufforderung an den Christen, sich in sein Geschaffensein zu bescheiden, dorthin einzukehren und sich dem Erlösungsgeschehen bedingungslos auszuliefern. Die Zusicherung der Rettung geschah im Opfertod Christi, dem ersten wahrhaft christlichen Martyrium. Die für den Christen entscheidende Frage ist demnach, wie er sich in das Erlösungsgeschehen einfinden kann, um der unverlierbaren Gnade und dem Ruf Gottes als auserwählter Mensch folgen zu können. Das christliche Verständnis der menschlichen Möglichkeit, sich töten zu können, hat freilich seine größte Herausforderung im Opfertod von Jesus Christus. »Und ich lasse mein Leben für die Schafe […]. Darum liebt mich mein Vater, dass ich mein Leben lasse, auf dass ich’s wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selber. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wiederzunehmen. Solch Gebot habe ich empfangen von meinem Vater.« (Johannes 10,15–18; hier und im Folgenden zit. nach der Lutherbibel 1912) Wie Origenes (185–254) feststellt: »göttlich gesehen hat sich Jesus gewis132 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sermaßen selbst getötet.« (Origines, Johanneskommentar, XIV, 554; zit. nach Minois 1996) War Jesu Tod am Kreuz etwa ein Suizid? Um hinsichtlich dieser vielleicht verblüffenden Frage weiterzukommen, ist es notwendig, sich des christlichen Verständnisses von Jesus Christus zu vergewissern. Dann wird nämlich deutlich, dass gerade die Freiwilligkeit des Todes von fundamentaler Bedeutung für das Christentum ist. Denn im christlichen Selbstverständnis ist Jesus Christus als Sohn Gottes über alles Irdische erhaben. Insofern kann sein Tod am Kreuz aus christlicher Sicht nur ein freiwilliger Tod sein, den er in seiner leiblichen Auferstehung überwindet. Er stirbt zwar durch die Hand anderer, aber in seiner aus christlicher Sicht bestehenden Göttlichkeit hätte er seinen irdischen Tod jederzeit verhindern können. Gerade darin, dass er dies nicht tut, wird sein Tod überhaupt erst zum Opfer. Damit stellt sich die Frage, was diesen Opfertod vom bisher in der Antike gefundenen Verständnis des Suizids, in dem es insbesondere auch das Selbstopfer für die Polis gibt, unterscheidet? Fragen wir zunächst, in welcher Verfassung Jesus von den Evangelisten direkt vor seinem Tod geschildert wird. Matthäus und Markus beschreiben einen eher verzweifelten Jesus am Kreuz, der mit dem Ausruf »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Matthäus 27,46; Markus 15,34) stirbt. Lukas und Johannes stellen einen beinahe sokratisch-stoischen Jesus dar, der bei Lukas mit den Worten »Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände« (Lukas 23,46), bei Johannes aber mit dem enormen Satz »Es ist vollbracht« (Johannes 19,30) verstirbt. Diese Jesus in den Mund gelegten letzten Sätze, gewissermaßen seine Abschiedsworte, zeigen sehr deutlich zwei Merkmale, die den christlichen Opfertod auszeichnen: a) Lukas und Johannes betonen die Bescheidung in das göttliche Heils- und Errettungsgeschehen, welches nicht durch eigene Hand, sondern durch göttliche Hand verwirklicht wird; b) Matthäus und Markus hingegen benennen die menschlich kaum zu leistende Aufgabe, sich einerseits mit der irdischen Endlichkeit und menschlichen Unvollkommenheit zu bescheiden, aber andererseits zugleich und dennoch sogar die tiefste Verzweiflung noch auf die göttliche Schöpfungs- und Liebesintention zurückzuführen. Für den Hörer und Leser der Evangelien von Matthäus und Markus hat dies also die doppelte Botschaft, dass selbst Jesus zwar verzweifeln konnte, aber dennoch von Gott in tiefster Not noch gerettet werden wird. Eigentlich, so die Aussage, hätte er also nicht zu verzweifeln brauchen. In allen vier Evangelien wird damit der Opfer133 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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charakter des Todes zugleich bis ins Unverständliche überhöht. Schließlich handelt es sich – dem chistlichen Selbstverständnis gemäß – um das schier unverständliche Opfer Gottes, welches Gott den Menschen freiwillig gibt, ohne dass sie es auch nur irgendwie verdient hätten. Er hätte es auch lassen können, hat sich aber erbarmt und den Menschen seine Gnade zuteil werden lassen. Oder wie Martin Luther treffend zusammenfasst: sola gratia. So verstanden geht es hier um ein unvorhersehbares Opfer, welches den möglichen Verständnishorizont des Menschen übersättigt und eine tiefe Wandlung des eigenen Selbstverständnisses erfordert. Es ist in sich selbst transzendierend – vorausgesetzt, es war wirklich das freiwillige Opfer Gottes. Eine Frage des Glaubens, wie erneut Luther treffend formuliert: sola fide. Wir können den christlichen Opfertod also nur vor dem Hintergrund des christlichen Selbstverständnisses verstehen, welches zutiefst von der im freiwilligen Opfertod Jesu zugesicherten Liebes- und Rettungsintention Gottes überzeugt ist. Die Freiheit des Christen liegt jedoch nicht primär im Suizid oder im Opfertod, sondern darin, sich auf sich selbst in aller Demut bescheiden zu können und sich darin Gott zuzuwenden (Rombach 1993, S. 33 f.). Bedeutet dies, sich durch andere töten zu lassen, so ist auch dies als Hinkehr zu Gott zu verstehen. Bedeutet es, dass man sich selbst das irdische Leben nimmt, so kann auch dies als Nachweis des Glaubens verstanden werden. Vor der mit Paulus beginnenden Unterscheidung von »Märtyrertod« und »Suizid« folgen allerdings viele Christen dem Beispiel Jesu, wobei sie jeglichen »Suizid« in ihrer verfolgten Position als »Märtyrertod« verstehen (Droge/Tabor 1992, S. 119 f., 156). Die prekäre Lage der Christen im Römischen Reich bietet dabei eine überraschend häufige Möglichkeit und Notwendigkeit, das eigene Leben für den eigenen Glauben oder andere Christen zu wagen. Hintergrund dieser Verfolgung der Christen in den ersten Jahrhunderten nach Christus ist, dass die Christen keiner anerkannten Religion im Römischen Reich folgen – wie beispielsweise die Juden, auch wenn ja viele der frühen Christen zugleich Juden waren – und dass sie deshalb zur Teilnahme an der insbesondere im östlichen Teil des Römischen Reiches bereits unter Augustus aufkommenden kultischen Verehrung des Kaisers als Gott (sog. »Kaiserkult«) verpflichtet sind, was aus christlicher Sicht wiederum gewissermaßen unmöglich ist (Maschmeier 2006, S. 169). Die christliche Bewegung ist – historisch gesehen – dabei nur eine von vielen, später z. T. kaiserlich geförderten religiösen Bewegungen, 134 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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die seit dem 2. Jahrhundert vor Christus zunehmend im Römischen Reich mit dem Gedanken der Unsterblichkeit der Seele auftreten (Droge/Tabor, S. 75, 113). Es gibt in dieser Zeit eine ganze Handvoll davon: vom Mithraskult über den Kult des Baal bis hin zum Isiskult existiert eine Vielfält mysteriös-relgiöser Kulte, die alle ein seliges Leben nach dem Tod versprechen (Carcopino 1991, S. 145 ff.). Hintergrund dieser vielfältigen religiösen Bewegungen ist die zunehmende »philosophisch aufgeklärte« Kritik an den antiken Göttern, wie sie beispielsweise bereits schon von Cicero (106–43 v. Chr.) formuliert wird, so dass sich nun der Tod in einer grausig-ängstigenden Form des nackten Materialismus zeigen kann, was (wie gesehen) bereits Platon als ethisches Problem herausgefordert hatte. Die erste eher systematische Christenverfolgung löst hingegen Nero (Reg. 58–68) nach dem Brand in Rom im Jahre 64 aus, auch wenn es bereits im Vorfeld zuweilen die Notwendigkeit für Christen gibt, aus Glaubensgründen Rom zu verlassen (S. 152 ff.; Haywood 2005, S. 242 f.). Zusammengefasst befinden sich Christen in einer oftmals prekären Lage, die durch den jüdischen Aufstand in den Jahren 66–70, der in der völligen Zerstörung des Tempels in Jerusalem endet, noch verschärft wird. Erst durch das Toleranz-Edikt von Mailand 313, initiiert durch Konstantin den Großen (um 280–337; Reg. 324–337), verschwindet die generelle Gefahr der Christenverfolgung im Römischen Reich, auch wenn nun der Streit um die »eine Wahrheit« beginnt (S. 270 ff.). Die im frühen Christentum zunächst noch fehlende Unterscheidung zwischen »Suizid« und »Märtyrertod« steht zudem in der Linie des alttestamentarischen jüdischen Glaubens. Die vorliegenden Schriften des Alten Testaments gehen zurück auf Verschriftlichungen in israelischen Gemeinden im 5. bis 2. Jahrhundert vor Christus, die wiederum auf ältere Überlieferungen zurückgehen. In diesen Schriften zeigt sich der Suizid als durchaus akzeptabel und edel, wobei er zumeist in einen direkten Zusammenhang mit Gott gestellt wird. Im Alten Testament werden insgesamt neun Suizide berichtet, die in ihrer Grundstruktur vergleichbar sind und sich insbesondere aus dem Konzept der Ehre verstehen lassen (Lenzen 1987, S. 65 f.). Ehre hat dabei im (alt-)israelischen Glauben auch einen kollektiven Charakter, insofern der Israelit als »Mensch-in-der-Gemeinschaft« und, seinem Glauben in das »Gesetz« Gottes folgend, bei Gott aufgehoben ist (S. 95 f.). »Todtraurigkeit in Altisrael wird nicht tödlich, weil sie theonom aufgehoben wird. Der Verzweifelte flieht nicht das Leben, solange er Zu135 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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flucht bei Gott zu finden hofft. So wendet das Vertrauen auf den Schöpfer die Verzweiflung des Geschöpfs in Hoffnung.« (S. 112) Die gering ausgebildeten Unsterblichkeitsvorstellungen im Alten Testament und die Angst vor dem Tod scheinen so mit der Vorstellung einer theonomen und gemeinschaftlichen Ehre in den »Gesetzen« verbunden, so dass im altisraelischen Glauben »Märtyrertod« und »Suizid« undifferenziert nebeneinander stehen, da »beide als Varianten eines uneingeschränkt opferbereiten Bekenntnisses zur alleinigen Herrschaft Gottes, die sie noch durch passiv oder aktiv bejahtes Sterben bekräftigen, niemals den religiösen Makel menschlicher Eigenmächtigkeit tragen« (S. 124). Dies können wir bei den neun Suiziden im Alten Testament insbesondere bei Simson erkennen. Nachdem Simson durch Verrat geblendet und seines Haupthaares beraubt ist, in welchem durch Gott seine Stärke verborgen lag, wird er von den Philistern an die zwei Säulen ihres Hauses gebunden: »Simson aber rief den Herrn an und sprach: Herr Herr, gedenke mein und stärke mich doch, Gott, diesmal, dass ich für meine beiden Augen mich einmal räche an den Philistern! Und er fasste die zwei Mittelsäulen, auf welche das Haus gesetzt war und darauf es sich hielt, eine in seine rechte und die andere in seine linke Hand und sprach: Meine Seele sterbe mit den Philistern! und neigte sich kräftig. Da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war, dass der Toten mehr waren, die in seinem Tod starben, denn die bei seinem Leben starben.« (Das Buch der Richter 16,28–30) Wir können dies so interpretieren, dass sich Simson einerseits zum Handeln entscheidet, darin aber zugleich deutlich macht, dass es Gottes Wahl ist, seine Entscheidung zu bestätigen oder zu verwerfen. Indem Gott ihm ein letztes Mal seine überirdische Kraft verleiht, übernimmt und bestätigt er Simsons Entscheidung (Droge/Tabor 1992, S. 53). Der Suizid ist also im Falle Simsons göttlich verfügt. Aber macht denn eine solch göttliche Verfügung des Suizids vor dem Hintergrund der christlichen Gewissheit einer unsterblichen Seele noch Sinn? Genau dies ist die Problemlage, in der sich Paulus sieht.

2.1.

Paulus

Paulus (gest. um 60 n. Chr.) gilt als einer der wirkmächtigsten Apostel des frühen Christentums. Er hat sich nicht nur um eine Differenzie136 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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rung von »Märtyrertod« und »Suizid« bemüht, welche zugleich eine (unbeabsichtigte) Annäherung an die Lehre Platons und an die nahezu zeitgleichen Erörterungen des Themas beispielsweise beim Stoiker Epiktet aufweist, sondern viele praktische Fragen der damals im östlichen Teil des Römischen Reichs entstehenden Gemeinden theologisch reflektiert (Wick 2006, S. 125 ff.). Paulus stammt aus einer jüdischen Pharisäerfamilie in Tarsus, der Provinzhauptstadt Kilikiens, seit Augustus’ (63 v. Chr.–14 n. Chr.) Machtübernahme 31 vor Christus und seiner Neuordnung des Reiches kaiserliche Provinz, und wuchs im hellenistisch-jüdischen Diasporamilieu auf, wobei ein Teil seiner gelehrten jüdischen Ausbildung in Jerusalem erfolgt. Die Bewegung der Pharisäer entstand als eine von vielen verschiedenen religösen Bewegungen des Judentums nach Beendigung des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert vor Christus, als der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut worden war (Haywood 2005, S. 78 ff.). Zentral für das Pharisäertum ist aber gerade, dass es die Tempelfixierung des jüdischen Glaubens durch eine strenge Fixierung des alltäglichen Lebens auf die Beachtung der Tora (sog. Toraobservanz) und der »Vorschriften der Vorfahren« überwand und die Entwicklung des rabbinischen Judentums im 1. Jahrhundert nach Christus eröffnete (Wick 2006, S. 33 ff.). Bei lebenslang korrekter Einhaltung der »Gesetze« (v. a. Beschneidung, Halten des Sabbats, Beachtung der Speisengebote) erfolgte nach pharisäischem Glauben die Auferstehung von den Toten, bei Missachtung oder Übertretung der »Gesetze« war die sonst göttlich vergebene Unsterblichkeit der Seele verloren. Paulus’ Wirkungszeit setzt bereits vor dem Tod Jesu um 30/33 ein, wobei er zunächst im Sinne des »Saulus Paulus« die Glaubensrichtung der Pharisäer mit unnachgiebiger Strenge verfolgt (Maschmeier 2006, S. 187 f.). Erst infolge seines berühmten »Bekehrungserlebnisses« einige Jahre nach dem Tode Jesu wird ihm, so seine eigene Interpretation, die Tragweite der christlichen Lehre klar und seine missionarische Tätigkeit erfährt eine entsprechend tiefgreifende Wandlung: »Da es aber Gott wohl gefiel, der mich von meiner Mutter Leibe an hat ausgesondert und berufen durch seine Gnade, dass er seinen Sohn offenbarte in mir, dass ich ihn durchs Evangelium verkündigen sollte unter den Heiden (d. h. Völkern bzw. Nicht-Juden J. S.): alsobald fuhr ich zu und besprach mich nicht darüber mit Fleisch und Blut, kam auch nicht gen Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog hin nach Arabien und kam wiederum gen Damaskus.« (Galater 1,15–17) Paulus’ 137 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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eigene Schilderung seines Erlebnisses auf der Straße nach Damaskus zeigt ihn als berufenen Propheten, dessen Erlebnis ihn plötzlich überwältigt, seinen Verständnishorizont sättigt und übersteigt und eine tiefgreifende Wandlung seiner selbst erzwingt. Diese Erfahrung von Transzendenz, in der heutigen Paulusforschung meist als Berufung gedeutet (Wick 2006, S. 39 f.), fasst Paulus selbst als Bruch auf, bemüht sich aber im weiteren Verlauf um eine verklammernde Kontinuität seiner selbst. In dem zwischen 52 bis 57 n. Chr. angefertigten, oben zitierten Brief an die Galater blickt Paulus auf ein fast 20 Jahre zurückliegendes Ereignis zurück, bezeichnet sich darin selbst als Apostel – obwohl nicht zu Jesu Lebzeiten von ihm berufen – und benennt, dass er sich nicht mit anderen Juden seines kulturellen Ursprungs, den Pharisäern, besprochen habe (»Fleisch und Blut«), sondern sofort begonnen habe, die Botschaft Jesu Christi zu verkünden. Die persönliche Klammer zeigt sich nicht nur darin, dass er unverändert missionarisch tätig ist, sondern auch in dem, was er inhaltlich verkündet (Wick 2006, S. 52 ff.). Denn Paulus zufolge kann sowohl die strenge Einhaltung der jüdischen »Gesetze« als auch der Glaube an Jesus Christus als wiederauferstandenem Sohn Gottes zum Ziel führen, dass der Seele ihre unsterbliche und unzerstörbare Eigenschaft durch Gott gegeben wird (Galater 3,6–14). Im Unterschied zu Platon geht es hier also nicht primär um eine logisch-dialektische Selbstaufklärung der Seele als notwendig unsterblich, unzerstörbar und vernünftig, sondern um einen selbst erfahrenen Glauben an die durch Gott gegebene Unzerstörbarkeit, Unsterblichkeit und Glaubensfähigkeit der Seele. Bei Paulus findet sich also das christliche Selbstverständnis bereits in der Umkehr: die »neue Seele« wird durch Gott in der Taufe verliehen (Römer 6,2 ff.). Dennoch sind, wie sich im Weiteren zeigen wird, Paulus’ Gedanken zur suizidalen Erfahrung und zum Suizid unbedingt platonisch zu nennen. Paulus bekennt in seinem 1. Brief an die Korinther, dass er freiwillig Verzicht leistet, um das Evangelium zu predigen: »Es wäre mir lieber, ich stürbe, denn dass mir jemand meinen Ruhm sollte zunichte machen! Denn dass ich das Evangelium predige, darf ich mich nicht rühmen, denn ich muss es tun.« (1. Korinther 9,15–16). Paulus, so müssen wir hier annehmen, wäre zwar gerne bereits tot, denn dann wäre er im ewigen und seligen Leben. Aber er ist offenbar von Gott an seinen Platz berufen und kann sich nicht selbstmächtig entziehen. Die Zusicherung, von den Toten in der Nachfolge Christi aufzuerstehen, lässt ihn auch angesichts tödlicher Gefahr nicht auf Ruhm oder 138 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Ehre hoffen, sondern er bleibt im Glauben an die Auferstehung ins ewige Leben getröstet (1. Korinther 15,12–34). Noch deutlicher wird Paulus hingegen in seinem Brief an die Philipper, einem ungemein tiefsinnigen Text, den er vermutlich aus der römischen Gefangenschaft geschrieben hat. In diesem führt er aus: »Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. Sintemal aber im Fleisch leben dient, mehr Frucht zu schaffen, so weiß ich nicht, welches ich erwählen soll. Denn es liegt mir beides hart an: ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen. Und in guter Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und Freude des Glaubens, auf dass ihr euch rühmen möget in Christo Jesu an mir, wenn ich wieder zu euch komme.« (Philipper 1,21–26). Wenn wir bedenken, dass Paulus in seinen Briefen an seine Gemeinden immer hochaktuelle Themen des dortigen gemeinschaftlichen Lebens aufgreift und theologisch reflektiert, müssen wir annehmen, dass die Frage, ob nicht der Tod dem oftmals schwierigen Leben der frühen Christen vorzuziehen sei, keineswegs nur Paulus’ Thema ist. Nicht nur Paulus, sondern offenbar viele Mitglieder der neuen christlichen Gemeinden befinden sich in der Situation, im Tod ihre Rettung zu sehen, wohingegen sie das Leben oft verzweifeln lässt. In unserer Interpretation dieses Briefabschnitts ist aber zudem zu berücksichtigen, dass der Mensch gemäß der christlichen Verkündigung im eigenen Tod einen sicheren Weg zur Glückseligkeit gefunden zu haben scheint, so dass verständlich wird, dass der Suizid angesichts der Unruhen nach dem Tode Augustus’, der einsetzenden Christenverfolgung infolge fehlender Teilnahme am Kaiserkult und den üblichen Sorgen und Nöten des menschlichen Daseins von enormer Attraktivität ist. Denn, so können wir annehmen, je fester der Glaube an die christliche Verkündigung, desto sicherer erscheint dem Gläubige der Tod als Weg ins Glück. In dieser Notlage nun wendet Paulus genau diejenige Argumentation an, die bereits Platon in vergleichbarer Lage entwickelt hatte: Es gilt, auf ein »göttliches Zeichen« zu warten, ansonsten ist in der Herde zu verbleiben (vgl. auch Droge/Tabor 1992, S. 123 f.). Wie nah steht Paulus’ Argumentation also dem platonischen Verständnis? Auch bei Platon soll sich der Mensch nicht aus der Herde entfernen, es sei denn, dass die Götter das »Zeichen« schicken, welches den Suizid schicksalhaft verordnet. Nun ist aber genau das Erkennen 139 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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dieses »göttlichen Zeichens« bei Platon eine große und durchaus widersprüchliche Schwierigkeit. Denn die logisch-dialektische Einsicht, dass die vernünftige Annahme der Seele als unsterblich und unzerstörbares Lebens- und Vernunftprinzip die allersicherste Annahme sei, kann nach Platon als ein solches göttliches Zeichen gerade nicht dienen. Auch die Verzweiflung selbst kann nicht als ein solches göttliches Zeichen erkannt werden, auch wenn sie unabdingbarer Begleiter eines höchst schmerzlichen und beschämenden Schicksals ist. Auch im paulinischen Verständnis reicht es nicht aus, verzweifelt zu sein und den Tod zu ersehnen. Paulus selbst ist ja offenbar zuweilen verzweifelt und erwägt den Suizid, harrt dann aber doch im Wissen um die den Menschen versprochene Rettung durch Gott aus. In geradezu sokratischer Manier qualifiziert sich auch bei Paulus der Tod erst darin als christlicher Opfertod, wenn das Leben nicht aufgrund einer Unerträglichkeit und Ausweglosigkeit beendet wird – wie dies Judas nach dem Verrat an Jesus betreibt: »er warf die Silberlinge in den Tempel, hob sich davon, ging hin und erhängte sich selbst« (Matthäus 27,5) –, sondern wenn der eigene Tod die letzte verbliebene Möglichkeit der Zuwendung zu Gott ist: Im Selbstopfer für die Polis oder den Glauben! Der christliche Opfertod versteht sich im paulinischen Sinne folglich als ein Tod im Angesicht des drohenden und als unerträglich erlebten Verlusts des Zugangs zur Transzendenz, wobei allerdings der Verlust noch gar nicht eingetreten ist und auch streng verstanden gar nicht eintreten könnte (Droge/Tabor 1992, S. 124). Denn der Zugang zur Transzendenz kann dem Christen in seinem Selbstverständnis nicht genommen werden, da dieser letzte Zugang sein eigener Tod ist. Da passt es, dass in der Apostelgeschichte Euripides zitiert wird (Apostelgeschichte 26,14; vgl. Wick 2006, S. 73), der im urban bzw. griechisch (hellentistisch) geprägten östlichen Teil des Römischen Reichs allseits bekannte Verfasser von »Selbstopferdramen«. Dabei handelt es sich hier bei Paulus nicht um ein striktes Verbot. Denn das simple Verbot reicht zum Verständnis nicht aus. Warum, so wäre zu fragen, sollte denn der absichtlich (selbst) herbeigeführte Tod auch verboten werden, wenn er den Menschen in die Glückseligkeit führte? Der Anlass des Verbots muss sich für Paulus also im Leben selbst finden, denn der Tod ist dem Menschen gewiss und sein Erreichen als Märtyrer kann nicht verboten werden – weder früher noch später. Die Antwort ist denkbar einfach und findet sich in der Liebe (agape). Paulus prägt das Wort und den Bedeutungshof des Wortes der 140 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Liebe, welches im Neuen Testament zum Signum des Christlichen wird. Liebe meint hier, sich selbst zu verschenken, ohne etwas dafür zurückzufordern. Es ist diese Liebe, die dem Menschen dank seines Glaubens und seiner Hoffnung möglich ist, und die im Paradies nicht größer sein könnte. »Die Gläubigen leben in der Spannung zwischen diesem ›schon‹ (des Glaubens J. S.) und dem ›noch nicht‹ (der Hoffnung J. S.). Die Liebe kann diese Spannung wenigstens für gewisse Momente aufheben.« (Wick 2006, S. 144) In den Worten von Paulus: »[…] sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.« (1. Korinther 13,7) Und: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, die größte aber unter ihnen ist die Liebe.« (13,13) Paulus spricht hier von der Liebe, die das Leben an sich selbst empfindet und die insofern an den Lebensvollzug gebunden ist. Dies ist der tiefere Grund, warum sich die Christen nicht das Leben nehmen sollen, wo es doch die Liebe Gottes ist, die uns leben lässt. »Freuet euch in dem Herrn allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch!« rät er im Brief an die Philipper und wiederholt sich verschiedene Male, so als müsste er sich selbst daran erinnern (Philipper 4,4). Und es ist diese Liebe, die sogar Judas den Ausweg ins Leben hätte zeigen können, anstatt einen verzweifelten Tod zu suchen. Von der bei Platon gewonnenen Unterscheidung einer immateriellen, aber erkennbaren Seele ausgehend greift Paulus den Seinszusammenhang von Idee und Leben gewissermaßen von der umgekehrten Seite auf. Er erörtert nicht die Erkenntnis der unzerstörbaren und unsterblichen Seele in einem Dialog als allersicherste Annahme. Denn für Paulus liegt die Aufgabe nicht mehr darin, diese »allersicherste Annahme« logisch-dialektisch nachzuweisen, sondern sie wird vielmehr bereits geglaubt und gehofft und ist die unbezweifelte Basis, von der her wiederum das Leben erörtert wird. Die von Platon gewonnene Differenz von Leib und Seele dient folglich als unreflektierte Grundannahme, von der her sich das Leben letztlich in vollem Umfang wiederum als ein Leibliches zeigt, als ein Leben im Fleisch. Es ist dieser Zusammenhang, für den Paulus in der Apostelgeschichte reichlich Spott bei den Athenern erntet, als er ihnen von der leiblichen Auferstehung predigt (Apostelgeschichte 17,32), bezieht sich doch dieser Spott auf die Idee eines unvergänglichen und unsterblichen Leibes. Aber Paulus ist diesem Gedanken in seinem Denken nicht radikal gefolgt, wie beispielsweise seine bereits zitierten Aussagen aus dem Philipperbrief nachweisen, wo er zur Ehre Christi im Fleisch verbleiben will und 141 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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dies auf das irdische Fleisch bezieht. Hätte er diesen Gedanken hingegen radikal verfolgt – wie es beispielsweise im Johannesevangelium (um 100 n. Chr., vermutlich vom Apostel Johannes oder einem johanneischen Kreis niedergeschrieben) in dem Zentralsatz »Und das Wort ward Fleisch« (Johannes 1,14) formuliert wird – so hätte er formulieren können, dass dieses Fleisch für den Christen auch im Tod nicht verlassen werden kann, da es, dem christlichen Glauben gemäß, als unsterblich geglaubt wird und insofern gar nicht verlassen werden kann. Und es ist letztlich genau dieser (geglaubte) Zusammenhang der Fleischwerdung, dass also die Seele nur konkret leiblich lebt, welcher das christliche Selbstverständnis als ein geistiges zentral ausmacht (vgl. Henry 2002, S. 15 ff.). Bei Paulus ist dieser Zusammenhang aber eben nicht das Fleisch im genannten Sinne, sondern die Liebe: Das Unsterbliche und Unzerstörbare zeigt sich dem Menschen als Liebe. Die Liebe ist aber nicht nur eine platonische Erkenntnis, sondern sie ist direkt (im Irdischen) leiblich erlebt. Sie ist keine »platonische Liebe«, sondern sie ist eine leibliche Liebe, die sich dem anderen warm und spürbar zuwendet. Sie hat eine leibliche Qualität und verabschiedet sich damit insbesondere von Platons These, dass die vollkommene Erkenntnis nur leibfrei gelingen könne. Für die Liebe bei Paulus können wir vielmehr das genaue Gegenteil sagen: die Liebe ist die vollkommene Verfassung des Menschen auf Erden, in der ihm das Göttliche voll präsent ist. In seinem Verständnis der suizidalen Erfahrung kehrt Paulus das Problem des »göttlichen Zeichens« also um. Diese Umkehrung gelingt, indem er die Liebe – die Liebe des Lebens zu sich selbst, wie wir der christlichen Umkehr entsprechend der Annahme des göttlichen Geschaffenseins folgend sagen könnten – als den tieferen Grund erkennt, trotz aller Verzweiflung am Leben zu bleiben. In der Liebe ist gewissermaßen das Paradies auf Erden. Paulus versteht das Leben zwar ebenfalls in Opposition zum Tod, aber im Angesicht einer Transzendenz, die als Liebe im Leben und als ewiges (leibliches) Leben im Tod verstanden werden soll. Dennoch gewinnt er in seinen Ausführungen zunächst das zu Platon analoge Problem, dass angesichts einer Differenz von Seele und Leib der Suizid in die Vollkommenheit führt. Da er aber von dieser Differenz, die Platon mühsam gewinnen muss, bereits als Voraussetzung ausgeht, kann er sie wiederum bezweifeln und zum Verständnis des irdischen Lebens heranziehen. So fährt der Geist in den Leib wieder zurück: Inkarnation. Paulus ist hier wie gesagt nicht konsequent, denn er kann die primäre Unzerreißbarkeit der Leiblichkeit der 142 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Seele nicht wie Johannes zum Thema machen. Aber er gewinnt ein Vorverständnis dieses vorgängigen und unzerreißbaren Gegebenseins in seinem Gedanken der Liebe. Die Nähe der Gedanken soll hier aber nicht weiter thematisiert werden, wenn sie auch interessant zu verfolgen wäre. Jedenfalls kann für Paulus die Liebe Gottes im Leben nicht verloren werden, so dass ihm der Suizid tatsächlich wenig sinnvoll erscheint, es sei denn zu dem Anlass, um im Wagnis des eigenen Lebens diese Liebe Gottes zu verherrlichen. Erst dies kann Paulus’ Verständnis folgend ein solches »göttliches Zeichen« sein. Und es ist genau diese fehlende Liebe, die den Suizid von Judas, sein Erhängen, so absolut gegensätzlich gegenüber dem Kreuzigungstod von Jesus und allen anderen Märtyrern erscheinen lässt. Für Paulus versteht sich die Seele im Angesicht des Todes also nicht nur als Vernunft- und Lebensprinzip, sondern zugleich als Liebesintention. Hierin gewinnt für ihn auch jegliche Transzendenz eine eigenartig personale Qualität, die wiederum am besten mit dem Begriff der Seele gefasst werden kann. Die Begründung, am Leben zu bleiben, kommt bei Paulus also stärker aus dem Leben selbst, während sie bei Platon – angesichts der Unmöglichkeit einer sicheren Erkenntnis im Leben bzw. der stets unvollkommenen Leibfreiheit der Seele – stärker aus dem staatstragenden Gedanken der Polis erfolgt. Mit Paulus können wir also sagen: Wenn schon der Suizid christlich verstanden sein will, dann als Selbstopfer für dieses neue Leben, welches der Glaube an den christlichen Gott dem Gläubigen unzweifelhaft gegeben hat. Entgegen allen Bemühungen Paulus’, eine gewissermaßen wasserdichte Argumentation für ein Verbleiben im Fleisch und in der Gemeinde angesichts der Liebesintention Gottes bzw. der Seele aufzuweisen, bleiben dennoch Unsicherheiten über das »göttliche Zeichen« bestehen. Gewissermaßen finden wir uns in der Situation des Euripides wieder. Es ist durchaus vorstellbar, dass einem verzweifelten Menschen, der im paulinischen Sinne den Tod als Rettung ins ewige Leben glaubt, dieser Aufweis eines rettenden Weges als Fingerzeig Gottes erscheint. Dies sogar dann, wenn streng genommen dieser Mensch dann nicht mehr verzweifeln müsste, da er doch wie Paulus in sicherer Erwartung getröstet sein könnte. Wenn er sich nun aber doch töten würde, wäre er dann etwa zu wenig gläubig gewesen? Müsste er nicht vielmehr als Märtyrer verstanden werden, da er den letzten Schritt in sicherem Glauben an die Liebesintention Gottes vollzog? Eine Verwirrung scheint unausweichlich. Wer außer Gott selbst kann im christlichen Selbstverständnis nach dem Tod noch über den Menschen rich143 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ten? Und ist es nicht gerade seine Liebesintention, die den gläubigen Menschen den Tod wählen ließ? Ungeachtet des paulinischen Einspruchs gegen ein zu leichtfertiges Wählen des Todes folgen viele Christen dem Beispiel Christi und verhalten sich gewissermaßen gar stoisch. Sie gehen im Selbstverständnis des christlichen Märtyrers freiwillig dem Tod entgegen, da sie ein »göttliches Zeichen« im Glauben an Jesus erhalten zu haben meinen. Ein hierfür geradezu typisches Beispiel ist der Märtyrertod Perpetuas aus dem Jahr 203 nach Christs, die vom römischen Statthalter in Karthago, Septimius Severus, mit einer Gruppe nordafrikanischer Christen zum Tod durch wilde Tiere im Amphitheater in Karthago verurteilt wird. In der Überlieferung wird Perpetua als den Tieren furchtlos entgegentretend geschildert, die letztlich das Schwert des sie tötenden Gladiators selbst führt. Sie hatte in der Nacht vor ihrem Tod in den Kerkerzellen des Amphitheaters eine göttliche Vision, in welcher ihr der bevorstehende Kampf als ein Kampf mit dem Teufel gezeigt wurde. Wie Droge und Tabor zusammenfassen, bedeutete dies für Perpetua den Verweis auf die Errettung Gottes in das ewige Leben (Droge/Tabor 1992, S. 1). »The martyrs are portrayed as going to their death in one of three ways: either as a result of being sought out, by deliberately volunteering, or by actually taking their own lives. On the basis of evidence that has survived, it would appear that the majority of Christian martyrs chose death by the second and third means. But even in those cases where individuals ›waited‹ for the persecutors to arrest them, the emphasis is placed on their willingness to embrace death. Like Jesus, they went to execution ›of their own accord‹. Behind every description of martyrdom lay the example of Jesus. Martyrdom was believed by many to be necessary reenactment of his death and to hold out the prospects of a similar reward: ›the crown of immortality‹. The authors of the Gospels described the death of Jesus as divinely ordained. He went to death in willing obedience to God. Those who preserved and revered the memory of the martyrs explained their deaths in the same way. Both the martyrs themselves and even some of their critics emphasized the importance and necessity of a divine signal or command. Only when such a sign had been given could martyrdom be justified.« (S. 156)

In der christlichen Tradition wird erst von Augustin (354–430) ausgehend der Suizid als Mord an sich selbst gegeißelt. Dennoch wird der Suizid bereits in der Synode von Karthago (345–348) im Jahre 348 von kirchlicher Seite als Reaktion auf die Donatisten, welche dem Suizid als Märtyrertod positiv gegenüberstehen, in aller Deutlichkeit verdammt 144 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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(vgl. Minois 1996, S. 46 ff.). Im Vorfeld dieses Konzils nehmen verschiedene Kirchenväter zumeist eine platonische Haltung gegenüber dem Suizid ein (S. 47). Im Gefolge der augustinischen Lehre zum Suizid werden dann auf dem Konzil von Arles (452) weitere Schritte zu einer Ächtung des Suizids unternommen, wenn auch erst auf dem Konzil von Braga (561–563) der Suizid endgültig als unchristlich verbannt wird (Rosen 1971). Von nun an wird der erfolgte Suizid sogar härter bestraft als der Mord an einer anderen Person (Minois 1996, S. 52). Erst 1284 aber wird auf der Synode von Nimes das Bestatten von Selbstmördern auf geweihtem Boden verboten (Rosen 1971). Auch wenn diese Verbotsposition eindeutig erscheint, so gibt auch die sukzessive Steigerung des Verbots einen deutlichen Hinweis, dass dennoch für die geistliche und weltliche Elite besondere Wege aus dem Dasein bestehen bleiben, wenn dieses in einem eher hellenistisch-stoischen Sinne nicht mehr lebenswert erscheint oder nicht mehr den eigenen Idealen folgend lebbar ist. Dies gilt auch für die Zeit nach Augustin, wobei für viele Christen des Mittelalters der Suizid auch weiterhin als Märtyrertod verständlich bleibt, in welchem der Gläubige demonstriert, dass er nicht ohne seinen christlichen Zugang zur Transzendenz zu leben bereit ist. So ändert die augustinische Position und die kirchliche Kanonik letztendlich wenig daran, dass der Tod durch eigene Hand oder auch der erwünschte bzw. in Kauf genommene Tod durch fremde Hand bei Adeligen, Rittern und Geistlichen zeitgenössisch zumeist als christlicher Opfertod verstanden wird, dem gewissermaßen ein platonisch erscheinendes Verständnis zugrundegelegt ist. Auch wenn die historische Rekonstruktion der Suizidraten beinahe unmöglich ist, so gibt es Belege, nach denen vermutet werden kann, dass auch im christlichen Mittelalter der Suizid ähnlich häufig ist wie in unserer Zeit (Minois 1996, S. 62 f.). Dies hat letztlich seine Entsprechung auch in dem von Platon erwähnten, allerdings paradoxen Konzept des »göttlichen Zeichens« (Droge/Tabor 1992, S. 156). Es stellt sich nämlich durchaus die Frage, was ein solches »göttliches Zeichen« sein soll und wie es zu erkennen ist? Wie kann es beispielsweise von anderen Weisen der »Eingebung« unterschieden werden? In diesem Zusammenhang zeigt sich die besondere Bedeutung Augustins, dessen radikaler Verständniswandel das »göttliche Zeichen« wahrhaft transzendiert und dessen Reformulierung des irdisch-christlichen Daseins eine radikale Ablehnung des Suizids zulässt. Sein Verständnis wird zentral für die offizielle Haltung der Kirche. 145 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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2.2.

Augustin

Das Römische Reich macht im Verlauf seiner Geschichte viele Krisen durch, hat aber bis ins 4. Jahrhundert Bestand. Unter Konstantin dem Großen erfährt die christliche Religion einen enormen Aufschwung dank kaiserlicher Förderung, auch wenn 330 Byzanz als Konstantinopel zur neuen Hauptstadt des Reichs wird und die Trennung in Ostund Westrom beginnt (Haywood 2005, S. 270 ff.). Augustins Geburt in Thagaste (in Algerien) im Jahre 354 fällt in die Regierungszeit Constantius’ II., eines der drei nach Konstantin parallel regierenden Söhne. Nach Constantius’ Tod 361 gibt es innenpolitische Wirren, wobei insbesondere der Alleinigkeitsanspruch des Christentums problematisiert wird. Andere Erlösung versprechende Kulte wie der Isiskult oder der Mithraskult werden wieder präsenter, widerstreitende Bewegungen im Christentum wie die Manichäer erfahren kaiserliche Förderung. Zwischen 370 und 376 fallen die Hunnen aus Zentralasien in die germanischen Gebiete im Nordosten des Römischen Reiches ein, besiegen die Ostgoten 372 und verursachen Wanderungsbewegungen, Plünderungszüge und kriegerische Revolten der West- und Ostgoten, später der Wandalen, der Sueben und Alanen, welche den Westteil des Römischen Reichs immer wieder überspülen und von den Menschen des Römischen Reichs enorme Opfer verlangen. Bosl gibt eine plastische Beschreibung des Zustands im untergehenden antiken westlichen Teil des Römischen Reichs: »In Gallien wie in Italien hatten Invasionen, Hungersnöte, Pest die einheimische Bevölkerung dezimiert, Tausende von Bauernhöfen standen verödet, viel Ackerland lag brach, Städte wie Rom verloren in hundert Jahren fast 1 Millionen Einwohner […]. Ein gewisser Wohlstand, der sich in den Städten hielt, konnte über die allgemeine Verarmung des Landes, bei der senatorischen Oberschicht wie bei den proletarischen Klassen, nicht hinwegtäuschen.« (Bosl 1975, S. 14) Und dies ist der eigentliche Zusammenbruch: Die Pax Romana gilt nur noch im östlichen Teil des Reichs, schon lange bevor dann im 5. Jahrhundert das Westreich endgültig untergeht. In dieser Zeit lebt Augustin (354–430). Zehn Jahre nach seinem Bekehrungserlebnis im Jahre 386 in seiner Studienzeit in Mailand bei dem bekannten Bischof Ambrosius (340–397) schreibt er, mittlerweile Bischof in Hippo, seine Bekenntnisse. Diese werden schnell berühmt und avancieren jedenfalls in den gebildeten weströmischen Schichten zum Allgemeingut. »Die Welt der endenden Kaiserzeit 146 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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muß den Eindruck begünstigt haben, mit der Vernunft der Stoiker oder Plotins sei in ihr nicht auszukommen. Man muß die Gunst, gratia, eines mächtigen Herrn erringen. Darauf, nicht auf den denkenden Vorgriff auf eine auch für ihn verbindliche Norm kam es jetzt, da die römische Rechtsordnung zusammenbrach, mehr als früher an. Die Werte der philosophischen Tradition hatten das Leben in der Polis oder in der pax Romana zur Voraussetzung; Augustin sprach die objektive Krise aus, in der sie sich befanden.« (Flasch 1994, S. 231) Für Augustin ist der Mensch in seiner Suche nach Glückseligkeit bzw. dem »Wozu« seines Lebens zum Scheitern geboren, es sei denn, Gott gibt ihm in seiner unerforschlichen Gnade die Umkehr und Ausrichtung auf Gott. Nur so kann der Mensch für Augustin Glückseligkeit finden. Allerdings bleibt dies für den Einzelnen unsicher, es gibt da sozusagen keine Garantien. Diese verwirrende Unsicherheit und auch das stete Scheitern der Sinnfindung des Menschen verstehen sich für Augustin nicht gemäß irgendeiner Aktivität des Menschen, sondern dank der Gnade Gottes. Oder wie er im zehnten Kapitel seiner Bekenntnisse, einer Art Metabekenntnis (Flasch 2004, S. 87 ff.) schreibt: da quod iubes et iube quod vis [»Gib, was du befiehlst, und befiehl dann, was du willst« (Augustin 1989, X 29, 40)]. So unterscheidet Augustin das Finden eines unverlierbaren Sinns nach der Differenz von Gott und Mensch. Der Gott, den er in seinen »Bekenntnissen« zeichnet, ist in letzter Konsequenz unerforschlich und doch ist er für Augustin das schlechthin unhintergehbare und unverlierbare Gute. Aus sich heraus kann sich der Mensch jedoch nur im unsicheren und sinnlosen Irdischen verirren. In diesem Herumirren aber ist der Mensch jederzeit errettbar. Zwar ist diese Errettung von dem, was der Einzelne aus sich heraus tut, mehr oder weniger unabhängig, jedoch beschreibt Augustin in seinen Bekenntnissen den Lebensweg eines einzelnen Menschen, sein Verhalten, Denken und Fühlen. Dies erscheint zunächst widersprüchlich. Für Augustin hingegen löst sich der Widerspruch in Rückbindung zu Gott. Denn Gott selbst hilft dem Christen in seiner Gnade auf dem Weg der Sinnfindung, wohingegen er eben alle anderen in ihrem erbsündigen Dasein, d. h. in ihren Sünden wandern lässt. Es ist also nicht so, dass der Mensch in eine Vorleistung gegenüber Gott tritt, die er selbst verantwortet oder selbst initiiert hat. Sondern bereits die erste Bewegung zu Gott hin ist von Gott verursacht. Die Selbstbewegung des Christen geschieht nach Augustin nicht, indem der Mensch sich aus sich selbst hervortreibt, sondern indem 147 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Gott den Menschen aus dem Menschen hervortreibt. Gott als Hervortreibendes erst ermöglicht für Augustin die Selbstbewegung des Menschen, der sich darin zu Gott hinwendet: »Gott, […] der du uns auf wundersame Weise die Hinwendung zu dir ermöglichst.« (IV 4, 7) Diese »wundersame Weise« der Möglichkeit bleibt für Augustin ebenso »unergründlich« wie die Frage, inwiefern nur einigen und nicht allen Menschen diese Möglichkeit gewährt wird. Das Missverständnis, das sich hier ausspricht, nämlich wie Augustin all dies wissen kann, wo doch Gott dem Menschen »unerforschlich« ist – wie Augustin immer wieder betont – bleibt ein augustinisches Rätsel. Genau dieses Rätsel aber zeichnet den Gott aus, an den Augustin glaubt. »Aber wozu bedarf es vieler Worte, um zu erklären, warum das Wesen Gottes nicht zerstörbar ist, wo er doch, wäre er zerstörbar, nicht Gott wäre?« (VII 4, 6) Dies ist für Augustin die unhintergehbare Einsicht, in deren Licht sich seine eigene Selbstbewegung versteht: Die Denkkraft meines »veränderlichen Geists« reckte »sich auf zur Einsicht ihrer selbst, […] um das Licht zu entdecken, das sie überkam, als sie völlig frei von Zweifel ausrief, das Unveränderliche sei dem Veränderlichen vorzuziehen. In diesem Licht kannte sie das Unveränderliche […].« (VII 17, 23) Diese sichere Gewissheit, welche nicht mehr an einen irdischen Herrn (Kaiser), sondern an einen überirdischen Herrn (Gott) gebunden ist, bleibt für ihn das einzig Versicherte in den Wechselfällen des Lebens. Diese neue Gewissheit begründet zu einem großen Teil auch die enorme Bekanntheit der »Bekenntnisse« in der untergehenden weströmischen Welt. Es darf, wie Augustin schreibt, »in diesem Leben, das eine einzige Versuchung ist, niemand sicher sein, ob er, der sich bessern konnte, nicht auch schlechter werden könnte. Die einzige Hoffnung, die einzige Zuversicht, die einzig sichere Zusage – das ist deine Barmherzigkeit.« (X 32, 48) Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch sprechen insofern von einer »Ontologie des Ewigen«: »Das Ewige ist das Bessere. Augustin betont die völlige Gewissheit, die seinem Maßstab innewohnt: Unser Geist weiß ohne jede Spur eines Zweifels, dass das Unveränderliche besser ist als das Veränderliche. Auf dieser Selbstgewissheit des Denkens beruht die gesamte Theoriebildung Augustins, auch nachdem er ab 396 seine Gnadenlehre entwickelt hat.« (Flasch/Moijsisch 1989, S. 424) Diese augustinische Sicherheit und Gewissheit kann nicht oft genug betont werden. Mit dieser absoluten Gewissheit geht Augustin auch an das Thema des Lebens heran. Wenn die bei Platon gewonnene 148 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Differenz von Seele und Leib noch als allersicherste Annahme begegnete und eine Selbstaufklärung der Seele bedeutete, war sie bei Paulus bereits Voraussetzung seines Denkens und zeigte die Schwierigkeit, den Leib wieder so zu beseelen, dass ein heiles Ganzes in der Liebe daraus wurde. War bei Platon die Seele selbst erkennend und gewann so die Erkenntnis über sich als Idee und Vernunft, erfuhr Paulus seine Erkenntnisse bereits auch dank der Gnade Gottes, so dass sich ihm die Liebe als weitere Erkenntnis über die Seele hinzugesellte. Nur in der Liebe zeigte sich für Paulus etwas so, wie es in Wahrheit ist. Somit entfiel für Paulus der Anreiz, sich zu töten, da er die Wahrheit, die Anwesenheit Gottes und, metaphorisch gesprochen, das Paradies bereits auf Erden erleben konnte. Augustins Erkenntnis wird hingegen eigentümlich rätselhaft. Es bleibt ja nicht nur unklar, woher seine Erkenntnis des Ewigen kommt, sondern insbesondere wieso er rätselhafterweise die Rätselhaftigkeit des Göttlichen zuweilen zu entziffern vermag. »Augustins Gott ist gelegentlich unbestimmbar wie das plotinische Eine, in der Regel ist er es nicht.« (Flasch 1994, S. 416) In Letzterem zeigt sich ein geradezu stoischer Realismus, in welchem das Göttliche wie eine Positiv-Abschilderung des Irdischen bzw. der christliche Gott wie der überirdische Augustus erscheint. Dennoch kann sich der Mensch der Gnade Gottes als Einzelner nicht sicher sein. Denn die Unmöglichkeit, willentlich bzw. selbständig den unverlierbaren Sinn seines Lebens aufzuschließen – wie insbesondere das Versagen der stoischen Philosophie, der herrschenden Philosophie des inneren Friedens verlustig gegangenen Römischen Reichs, zeigt – versteht Augustin seit seiner Gnadenlehre, die er ab 396 entwickelt, als Folge der Erbsünde Adams (Augustin 1989, I 7, 11 u.IV 12, 19; vgl. Flasch 1994, S. 172 ff.). Insofern wird der einzelne Christ immer wieder aufgefordert, sich vor Gott zu seinen eigenen Verfehlungen zu bekennen: »[…] wenn ich dir, mein Gott, bekenne, was mir auf der Seele liegt, wenn ich dadurch meine Ruhe finde, dass ich meine verkehrten Wege verwerfe, um deine guten Wege zu lieben.« (Augustin 1989, I 13, 22) Jeder einzelne Christ kann sich so verstanden auch auf sich selbst zurücknehmen. Er wird überhaupt nicht herausgefordert, sich zu bessern, sondern vielmehr endlich alle Hoffnung auf Gottes unverlierbare Barmherzigkeit zu werfen: »Zuerst hast du mich befreit von der Sucht, mir selbst etwas zuzuschreiben.« (X 36, 58) Dies gilt ja gerade deshalb, da der Mensch nach Augustin unvollkommen und erbsündig und folglich aus sich heraus nur zur »Sünde« und d. h. 149 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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zur »Abkehr von Gott« fähig ist. Wer aber im augustinischen Sinne bekennt, für den gilt: »Vor ihm legt meine Seele Bekenntnis ab, und er errettet sie, weil sie an ihm gesündigt hat.« (IV 12, 19) Denn Gottes Gnade ist im augustinischen Verständnis letztlich unverlierbar. Das Bekennen der eigenen Gestalt in all ihren Verfehlungen, Schwächen und auch Einzigartigkeiten bedeutet also zugleich auch die Ankunft des Einzelnen als Christ in den Grenzen seiner Eigenheit. Gewissermaßen ist im augustinischen Sinne jeder Mensch, so wie er nun mal ist – egal ob Mörder, Mönch oder Müller – als Glaubender bzw. sein Unvermögen Bekennender bereits gerettet. »Glauben ist – darin besteht die entscheidende Erkenntnis des Hl. Augustin – ein Einbekennen, ›confessio‹, der eigenen Wesensart und aller, auch noch der kleinsten Begebenheit des persönlichen Lebens. Dieses Einbekennen meinte nicht, wie später gewöhnlich mißverstanden wurde, ein Sündenbekenntnis, sondern entschiedenes Erfassen der eigenen Endlichkeit und Zurückführung derselben auf die göttliche Schöpfungs- und Liebesintention. In diesem Sinne sind Einschränkungen, Behinderungen, Fehler und Fehltritte ausgezeichnete Glaubenschancen und müssen als solche ergriffen werden (›felix culpa‹).« (Rombach 1993, S. 32) Dieser Gedanke der »glücklichen Schuld« spielt eine besondere Bedeutung in Augustins Gnadenlehre, auf welche aber hier nicht näher eingegangen werden soll (vgl. Flasch 1994, S. 424 ff.). Wie versteht sich nun in diesem augustinischen Selbstverständnis die suizidale Erfahrung bzw. der Suizid? Bereits vor den Bekenntnissen kritisiert Augustin den stoischen Freitod als falschen Stolz. »Dass sie (die Stoiker J. S.) das selige Leben nicht zu sichern vermocht hätten, zeigten ihre Diskussionen über den Selbstmord: Was ist das für eine merkwürdige Seligkeit, die zuweilen der Weise nicht aushalten kann oder, noch absurder, die er zuweilen nicht mehr aushalten soll.« (Flasch 1994, S. 188) Augustins eigene Position zum Suizid kann hingegen dadurch charakterisiert werden, dass er das fünfte Gebot, »Du sollst nicht töten«, auch auf die Selbsttötung bezieht: »Denn wer sich selbst tötet, tötet auch einen Menschen.« (Augustin 1997, 1, 20) Der Suizid aber zeigt sich so als Sünde, die nicht mehr bekannt und gebüßt werden kann (Decher 1999, S. 27). Sicherlich würde diese Einschätzung einer vom Christen unbekennbaren Sünde hinreichen, um in Augustins Verständnis den Suizid zu verdammen. Denn gemäß der augustinischen Selbstbewegung ist das Bekennen der Vergehen erforderlich, damit ihnen entsagt werden kann. Schließlich beweist sich die Gnade Gottes 150 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ja gerade darin, dass dem Menschen tatsächlich die Fähigkeit zukommt, das bekannte Verhalten ändern zu können. Freilich könnte hier auch auf die unverlierbare Liebesintention und Gnade Gottes verwiesen werden, welche Augustin selbst oft betont, so dass die Frage gestellt werden könnte, ob das Bekennen der Sünde wirklich erforderlich ist, um der Gnade Gottes teilhaftig zu werden. Diese Frage kann, wenn denn die Gnade Gottes wirklich so unerforschlich sein soll, vom Menschen nicht eindeutig beantwortet werden. Woher also kann Augustin die Gewissheit nehmen, die Antwort zu kennen? Augustin stellt sich diese Frage nicht, so dass dieser Punkt letztlich rätselhaft bleibt. Fest steht für ihn aber, dass der Suizid göttlich verboten und im Irdischen unbekennbare Sünde ist. In einem zweiten Schritt weist er den Suizid dann als menschliche Auflehnung gegen das Geschöpftsein durch Gott nach. Beide Nachweise setzen für Augustin das Problem frei, dass eine generelle Verdammung verschiedener Märtyrer droht: »Wer also um das Verbot, sich selbst zu töten, weiß, mag es dennoch tun, wenn der es befohlen hat, dessen Befehle niemand verachten darf, aber er sehe wohl zu, ob dieser Befehl auch keinen Zweifeln ausgesetzt ist. Wir können nur urteilen nach dem, was wir hören, ein Urteil über verborgene Dinge dürfen wir uns nicht anmaßen. ›Niemand weiß, was im Menschen ist, wenn nicht des Menschen Geist, der in ihm ist.‹ Das aber sagen, das versichern wir, daran halten wir mit aller Entschiedenheit fest, dass niemand freiwillig den Tod suchen darf, um zeitlicher Pein zu entgehen, er würde sonst der ewigen anheimfallen. Niemand darf es auch wegen fremder Sünde, damit er, den fremde nicht beflecken konnte, nicht in schwerste eigene Sünde falle; niemand wegen eigener vergangener Sünden, derentwegen er es nur noch nötiger hat, am Leben zu bleiben, um sie durch Buße zu tilgen; niemand darf’s aus Verlangen nach einem besseren Leben, das er sich nach dem Tode erhofft, denn die am eigenen Tode Schuldigen erwartet kein besseres Leben.« (Augustin 1997, 1, 26)

Augustin zweifelt also auch hier nicht an seiner Gewissheit, dass die Suizidenten der ewigen Verdammnis anheimfallen, sondern an dem Problem, dass dann auch viele Märtyrer der frühchristlichen Zeit der Verdammnis anheimfallen könnten. Ganz so, als könnten seine Gedanken und Erkenntnisse den Lauf der Welt verändern oder die Märtyrer in die ewige Verdammnis stoßen, ringt Augustin um das ewige Leben der Märtyrer. Seine Lösung erscheint zunächst platonisch: Es muss ein »göttliches Zeichen« gegeben haben, welches den Märtyrern den Suizid erlaubte. So wären die Märtyrer gerettet. Aber dann sind sie doch 151 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wieder in Gefahr, da Augustin notwendigerweise zugeben muss, nicht wissen zu können, ob den Märtyrern ein solches Zeichen überhaupt erschienen ist. Was jetzt? Eine (aus heutiger Sicht) naheliegende Konsequenz wäre wohl, die eigene Gewissheit anzuzweifeln, dass den unsterblichen Seelen der Suizidenten nach ihrem Tode ewige Verdammnis zuteil werde. Dies wäre ja bereits mit Platon eine Pflicht gewesen, der das sichere Sprechen von Dingen, die nach dem Tode geschehen sollen, als unvernünftige Rede bezeichnete und mit dem Mythos verglich (Platon 2006, 114d). Es wäre bei den ungetauften Suizidenten insbesondere deshalb mit Paulus eine Pflicht gewesen, da die Betreffenden (paulinisch gedacht) gar keine unsterbliche Seele gehabt hätten. Und es wäre eine möglich Konsequenz aus Augustins’ eigener Gewissheit der unverlierbaren Liebes- und Rettungsintention gewesen. Jedoch folgt diese Konsequenz für Augustin nicht. Die bereits bei Platon formulierte Unerkennbarkeit dessen, was nach dem Tode geschieht, ist für Augustin ebensowenig ein Hindernis, wie die bei Plotin formulierte Unerkennbarkeit des Einen bzw. der Transzendenz. Vielmehr scheint es so, als wenn Augustins eigene Einsicht in die generelle Verdammung des Suizids gemäß dem fünften Gebot eine real-kosmische Qualität aufweist. Ganz so, als wäre Augustins Seele mit der plotinischen Weltseele identisch oder würde zumindest an diesem Punkt, entsprechend der Erkenntnis der wahren Realität der Dinge, einen weltseelenhaften Charakter aufweisen. Unter dieser Annahme wäre es dann verständlicherweise auch kein Problem mehr, zum einen den Suizid ganz generell als menschlich willkürliches Negieren der (an sich infolge des eigenen Geschaffenseins ja doch bestehenden) göttlichen Liebesintention und zum anderen zugleich den christlichen Märtyrertod als Nachweis eben dieser gerade unverlierbaren göttlichen Liebesintention zu deuten, wobei im zweiten Fall zwingend ein »göttliches Zeichen« im Vorfeld der im Menschen sich einstellenden Suizidintention erfolgt sein muss. Für den Alltag ist aber damit die Verwirrung gewissermaßen perfekt. Denn da ja keiner mehr den durch Suizid gestorbenen Menschen nach dem »göttlichen Zeichen« befragen kann, kann sowohl angenommen als auch abgelehnt werden, dass ein solches bestand. Der herrschaftlichen Willkür ist damit (ungewollt) Tür und Tor geöffnet. Aber auch der Einzelne hat keinerlei Hinweise mehr, wie denn nun dieses »göttliche Zeichen« aussehen könnte. Es kann dieses oder jenes sein, es könnte auch die Einsicht in Gottes unverlierbare Gnade im Angesicht der eigenen Verzweiflung sein – man weiß es letztlich nicht. Das 152 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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einzige, was gewiss ist, ist die Unsicherheit darüber, wie die hiesige Nachwelt es wohl sehen mag. Die ganze Verwirrung entsteht aber letztendlich darüber, dass dem Suizidenten die göttliche Liebes- und Rettungsintention abgesprochen werden soll, obwohl ihm diese, streng christologisch verstanden, in keinster Weise abgesprochen werden könnte. Augustin schafft zwar zunächst das »göttliche Zeichen« gewissermaßen ab. Um nun aber die Märtyrer vor der ewigen Verdammnis zu retten, führt er das »göttliche Zeichen« dann doch wieder ein und eröffnet damit wieder die Debatte, die er mit seiner Interpretation des fünften Gebots eigentlich schon geschlossen hatte. Während in den bisher untersuchten Verständnissen also jeweils mit einer Ungewissheit begonnen wurde, dass über das Schicksal nach dem Tod nichts Gewisses gesagt werden kann, räumt Augustin fundamental mit dieser Unsicherheit auf. Dies kann er infolge seiner »Ontologie des Ewigen«: a) Es ist gewiss, dass die Seele unsterblich ist und Dank Gottes Gnade ins ewige Leben gerettet werden kann; b) Es ist gewiss, dass die göttlichen Gebote auch auf den Suizid anzuwenden sind und der Suizident der ewigen Verdammis anheimfällt. Das augustinische Verständnis hat so alle Unsicherheit hinsichtlich der Bewertung des Suizids hinter sich gelassen. Seine Ablehnung des Suizids ist kein vernünftiges ethisches Gebot wie bei Platon oder ein vernünftiges staatliches Verbot wie bei Aristoteles oder ein vernünftiges göttliches Angebot wie bei Paulus, sondern ein zwingendes göttliches Gebot – und zwar das fünfte. Er führt den Gedanken des »göttlichen Zeichens« nicht wegen irgendwelcher Zweifel an seiner Erkenntnis ein, sondern um die Märtyrer vor der ihnen sonst gewissen »ewigen Verdammnis« zu retten. Es ist gewissermaßen ein »Gnadenakt« Augustins, den er der Kirche und ihrer Geschichte gewährt. Es ist allerdings auch ein »Gnadenakt« mit Folgen, der eine Menge Verwirrung unter dem Kirchenvolk stiftet. Augustins Suizidverbot ist damit zugleich das Ende einer Geschichte, die noch gar nicht richtig angefangen hatte. Nämlich das Ende der Geschichte, die nach dem suizidalen Menschen fragt und die die Frage stellt, wie es wohl ist, suizidal zu sein. Diese Frage ist im augustinischen Verständnis des Suizids vollkommen und – jedenfalls wenn man Augustin folgt – für alle Zeit unnötig geworden. Dies hat im theologischen Diskurs – unter Auslassung der Überlegungen Martin Luthers – bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts die eigenständige Frage eines theologischen Verständnisses der suizidalen Erfahrung verhin153 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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dert (Holderegger 1979, S. 268 ff.). Sicherlich kann angenommen werden, dass es Augustin vor allem um eine christliche Reformulierung des Suizidverbots ging, um den allzu leicht scheinenden Weg ins ewige Leben via Suizid zu unterbinden. Dieses aber hätte er auch in einer Weiterverfolgung des paulinischen Ansatzes versuchen können, der, wie gezeigt, vor allem den Gedanken verfolgte, dass aus dem Leben heraus eine Begründung gefunden werden kann, welche das »Wozu« des Lebens erörtert und den Suizid unnötig macht. Zugegebenermaßen findet sich dieser Aspekt auch bei Augustin, auch wenn er nicht so stark gewichtet wird. Denn auch dem augustinischen Verständnis nach ist es immer gottgefälliger, am Leben zu bleiben als sich zu töten. Augustin sichert damit das irdische Leben in all seiner Schwäche und Dürftigkeit in der Rückführung auf Gott ab und adelt das leidende und demütige Dasein, welches trotz aller Qualen im Diesseits ausharrt und lebt. Der freiwillige Tod wäre dann so gesehen »unedel«, wie wir mit Blick auf die christliche Mystik des Meister Eckhart (um 1260–1328) sagen könnten, da der Vollzug des Lebens an sich bereits »edel« ist. »Dennoch, wie schlecht das Leben auch ist, es will leben. Wozu isst du? Wozu schläfst du? Damit du lebst. Wozu begehrst du Gut oder Ehre? Das weißt du sehr wohl. Aber wozu lebst du? Um zu leben, und du weißt dennoch nicht, wozu du lebst. So begehrenswert ist das Leben in ihm selbst, dass man es um seiner selbst willen begehrt. [Sogar] die in ewiger Qual in der Hölle sind, wollten nicht ihr Leben verlieren, weder die Teufel noch die Seelen, denn ihr Leben ist so edel, dass es ohne ein Zwischenstadium von Gott in die Seele fließt. Darum, weil es aus Gott so ohne Vermittlung fließt, darum wollen sie leben. Was ist Leben? Gottes Sein ist mein Leben.« (Meister Eckhart 1963, 6, 123–137)

Eckhart zielt hier auf die schon immer gegebene Ununterschiedenheit von Leben und Transzendenz – die er Gott nennt – und darauf, dass das Leben sich um seiner selbst willen vollzieht. Das »Wozu« des Lebens ist im Leben schon immer vollzogen und in diesem Vollzug seiner ist das Leben schon immer über sich hinaus, ist unendlich mehr als es im Vollzug seiner selbst gerade ist. Insofern ist auch das schrecklichste Leben »edel« und derjenige, der sich suizidiert, verhält sich »unedel«. In dieser Richtung wäre zwar ein generelles Suizidverbot nicht begründbar – mit allen Problemen beispielsweise für die weltliche Kirche –, sondern es ginge nur noch um das »Adeln« eines jeden Menschen. Der Aspekt, dass auch der schwächste Mensch noch im Ausharren auf Gott zurück154 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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geführt werden kann, hätte aber philosophisch gesehen der konsequenteste in der Argumentation Augustins werden können, denn die Hoffnung auf die Rettung durch Gott ist dem christlichen Menschen unverlierbar, auch wenn sie dem Einzelnen niemals versichert sein kann (oder von ihm aktuell nicht erfahren wird). Dazu aber ist es bei Augustin aus den benannten Gründen nicht gekommen. Vielmehr geht er in die Kirchengeschichte als derjenige ein, der das Suizidverbot als göttliches Gebot ausweist und den Suizidenten in die ewige Verdammnis stürzt.

2.3.

Postaugustinische Verständnisse der suizidalen Erfahrung

Die Ablehung des Suizids wird auf dem Konzil von Karthago 348 kirchliche Doktrin (Minois 1996, S. 46 ff.). Es erfolgen im Gefolge der augustinischen Position weitere Ächtungen des Suizids auf den Konzilen von Arles (452) und Braga (563) (Rosen 1971). Letztlich wird der Suizid sogar härter bestraft als der Mord an einer anderen Person (Minois 1996, S. 52). Es fällt schwer, hinter dieser Verurteilung des Suizidenten nicht auch die weltlichen Interessen der Kirche als herrschende Institution zu erkennen, in welcher das Zueinander von Mensch und Gott nach dem feudalherrlichen Vorbild des Herren und des Untertanen formuliert wird, wobei die Kirche als der irdische Stellvertreter Gottes als der Herr aller Christen auftritt. Ob Augustin dies beabsichtigte, was wohl bezweifelt werden dürfte, ist hingegen eine andere Frage. Jedenfalls kann erst in seinem Gefolge der Suizid aus Verzweiflung als die sündigste Form des Suizids gegeißelt werden: »Wer desperatio an den Tag legt, tötet sich, weil er glaubt, dass seine Sünden unverzeihlich sind. Er sündigt sowohl gegen Gott – an dessen Erbarmen er zweifelt, wie Judas – als auch gegen die Kirche, an deren Mittlerkraft er zweifelt.« (Minois 1996, S. 52) Dieses Verständnis gelingt nur unter Absehung von allem, was das christliche Selbstverständnis hinsichtlich der unverlierbaren Liebes- und Rettungsintention Gottes in seinem Kern ausmacht. Hierfür ist Augustin durchaus von entscheidender und, angesichts seiner wiederholten Betonung der Unverlierbarkeit der göttlichen Rettungsintention, geradezu tragischer Bedeutung. Im ersten Schritt (1) spricht Augustin dem Suizidenten mit einer in sich widersprüchlichen Argumentation die (an sich unverlierbare) Liebesintention Gottes ab und deklariert den Suizid damit als Sünde. Nachdem Augustin im Verlauf der Kirchengeschichte Kirchen155 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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vater geworden ist, wird nun (2) basierend auf einer obrigkeitshörigen Interpretation die ursprüngliche Herleitung seiner Sündenbehauptung vergessen und stattdessen die Verdammung des Suizids als ein ewig gültiges göttliches Gebot im Range der Zehn Gebote angesehen. Hiervon ausgehend (3) zeigt sich der Suizident nun als doppelt schwerer Sünder: Er tötet sich nicht nur selbst, sondern er hat, in der nun möglichen (kirchlichen) Interpretation, auch noch die Hoffnung auf Gottes doch an sich unverlierbare Liebesintention verloren. Dass ihm überhaupt erst die Kirche für die erste Sündenverurteilung (1) selbst die (an sich unverlierbare) Liebesintention Gottes abgesprochen hat, wird (bzw. wurde) dabei vollkommen übersehen. Diese in sich widersprüchliche Argumentation ist in der mittelalterlichen Kirchenpraxis keineswegs ein Einzelfall. Sie ordnet sich streng verstanden um die Frage, wem die (an sich unverlierbare) Liebesintention Gottes überhaupt zukommt. Während dem Christen von kirchlicher Seite nicht zugestanden wird, überhaupt an der Liebesintention zu zweifeln und hierdurch dann zu verzweifeln, fällt andererseits das Töten des Verurteilten durch den Gerichtsherrn oder das Töten eines Sklaven nicht unter das fünfte Gebot. Die Freiheit des Christentums gilt nicht für den staatlich Verurteilten, sogar dann nicht, wenn er seine Verfehlungen demütig bekennt. Sein Christsein rettet ihn weder vor der Hinrichtung noch – zumindest soweit dies im Diesseits behauptet werden kann – vor der ewigen Verdammnis. Den Christen jedoch, der sich getötet hat, trifft es besonders hart. Denn der sich aus Verzweiflung das Leben nehmende Christ zeigt sich bildlich als Nachfolger von Judas Ischariot, dessen Darstellung als einsam-verzweifelter Erhängter seit dem 5. Jahrhundert über 1000 Jahre die Ikonographie des Suizids in Opposition zum Märtyrertod beherrscht (Brown 2001, S. 50 ff.). Bei aus kirchlicher Sicht als verzweifelt anerkannten Suizidenten wird die Leiche geschleift und – einem Judas angemessen – anschließend gehängt. Ihr Eigentum wird vom gerichtsbaren Herrn konfisziert. »Die Interessen Gottes ähneln denen der Eigentümer: wer über sein eigenes Leben verfügt, greift in die Rechte des einen wie die der anderen ein. Die zivilen und religiösen Autoritäten führen denselben Kampf gegen den Selbstmord, und ihre Abschreckungsmaßnahmen ergänzen einander: Konfiszierung und ewige Verdammnis. In beiden Bereichen geht das Verbot des Selbstmords mit der Einschränkung der menschlichen Freiheit einher: der Mensch verliert das wesentliche Recht, über seine Person zu bestimmen, zugunsten der Kirche, die sein

156 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ganzes Dasein lenkt und ihre Kraft aus der Zahl der Gläubigen schöpft, und zugunsten der Grundherren, zu denen auch manche Kirchenmänner gehören, die in einer unterbevölkerten Welt, in der Hungersnöte und Epidemien regelmäßig die Bewirtschaftung der Ländereien gefährden, ihre Arbeitskräfte zu erhalten und zu vermehren trachten.« (Minois 1996, S. 54)

So verwundert es nicht, dass die Kirche als herrschende Institution die meisten Suizide aus Verzweiflung in den Klassen der Bauern, Handwerker und einfachen Arbeiter zu erkennen meint (S. 25 f.). In den adligen, mönchischen oder klerikalen Schichten besteht hingegen oftmals die Tendenz, den Suizid als beispielhaftes Martyrium zu verklären. Dies reproduziert die das ganze alltägliche Leben des Mittelalters vom 7. bis 13. Jahrhundert durchziehende, religiös kanonisierte Ordnung der Gesellschaft in Schichten und Stände (Goetz 1994, S. 29 ff.). Und hierzu passt es auch, dass Thomas von Aquin (1225–1274) in seiner Summa theologica den Suizid nochmals in seinem kirchlichen Status als eine Sünde bekräftigt, die gegen das Naturrecht der Selbsterhaltung, gegen die Gemeinde und Gemeinschaft und insbesondere gegen die Schöpfung und Schöpfungsabsicht Gottes verstößt (vgl. Decher 1999, S. 29 ff.). Im Hochmittelalter werden jedoch »objektive Glaubensinhalte«, wie die Annahme Gottes als das unwandelbar Gute oder die Erbsünde und die an diese Glaubensgehalte gebundene Typisierung und Ordnung des mittelalterlichen Lebens, angesichts intensiverer Selbstreflexion und ihrem Widerspruch zum subjektiven Erleben zunehmend rätselhaft. In der »subjektiven Wende« im späten Mittelalter wird dieser Widerspruch formulierbar, seitdem in der Frühscholastik das Reflexionsvermögen als auszeichendes Merkmal des Menschen gefasst wird (Hugo von St. Viktor (gest. 1141): »Person ist selbstbewusster Geist« – spiritus rationalis […] per se discernens se, vgl. Ohlig 2001, S. 21). Dieser Wende entspricht beispielsweise der populärer werdende Bericht der eigenen Innerlichkeit in der im 11./12. Jahrhundert sich zunehmend institutionalisierenden Beichte, welche dem augustinischen Einbekennen durchaus nah verwandt ist und zudem einen kathartischen Effekt hat. All dies eröffnet einen »Innenraum«, in dem es um eine intensivere Selbstregulation von Affekten und Gedanken im Hinblick auf die Erfüllung mehr oder weniger internalisierter Normen im Sinne der christlichen Glaubensinhalte geht. Hiermit verbunden ist eben auch ein »Schuldigwerden« (Delmeneau), welches von einem Be157 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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schämbarwerden nicht getrennt werden kann. Der Mensch wird so geradezu zur Scham »befähigt«. Denn die Verwirklichung der personalen Eigentypik im interpersonalen Feld auf dem Weg des Selbstbewusstseins und die Ausgrenzung eines inneren Raumes von Wünschen und Gefühlen, an den selbständig ein stets neu zu beachtendes Maß – beispielsweise in Gestalt der Wünsche der geminnten Frau oder der christlichen Glaubensgehalte – angelegt werden soll, ist an die Fähigkeit zur Scham als handlungsleitendes Gefühl gebunden. Diese Handlungsleitung durch die Scham gilt sowohl im Rückblick auf eine beschämende Situation als auch in der Voraussicht auf eine Situation, welche bei maßlosem Verhalten in der Beschämung enden würde (Elias 1992, Bd. 2, S. 88 ff.). Die Scham als reflexives Gefühl ist hierbei eben von besonderer Wichtigkeit, um andere, »gröbere«, dem Triebhaften näher stehende Gefühle zu verfeinern. Diese Verfeinerung der Affekte vollzieht sich im höfischen Raum und bezieht sich insbesondere auf den Umgang mit Frauen, aber auch auf den Umgang mit anderen Schwächeren und Abhängigen. Denn diejenige Herrin, deren Schönheit zwar in den Bann schlägt, die aber dessen unbenommen ihre Liebe ausschließlich nach eigenem Gutdünken gewährt oder verweigert, zwingt den Ritter zur Selbstbetrachtung – insbesondere seiner eigenen sexuellen Lust – und eröffnet so den (Beziehungs-)Raum der Minne. Die formgebenden Beispiele dieses neuen Typs von Beziehung zwischen dem kampfkräftigen Ritter und der körperlich »wehrlosen«, geistig aber oft gebildeteren Frau am Hof finden sich insbesondere im Minnegesang des 12. Jahrhunderts (Elias 1992, Bd. 2; Kartschoke 2002). All dies heißt nicht, dass die Menschen nicht auch vorher ihre Reflexionsfähigkeit thematisierten, jedoch gewinnt sie einen neuen Stellenwert, wenn die erstrebenswerte Personalität zunehmend im Sinne einer abgegrenzten Individualität mit selbstregulativen Fähigkeiten gestaltet wird. So verstanden geht es in dieser neuen personalen Identität der gehobenen Schichten immer auch darum, dieses »Mehr« in der Identität und damit die Lebendigkeit dieser Identität zu bewahren. Dabei ist die Reflexion im Angesicht des Anderen und der eigenen Lebensgeschichte von besonderer Bedeutung. Hieraus gewinnt sich – ohne dass es direkt thematisiert wird und unterhalb der kirchlichen Doktrin, die den Suizid verbietet – eine neue Weise des Umgangs mit der eigenen Verzweiflung und damit zugleich eine neue Begründung zur Unnötigkeit des Suizids aus dem Lebens selbst heraus. Dies findet sich insbesondere in den höfischen Epen wieder, die als 158 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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typische Beispiele perfekten höfisch-ritterlichen und minnenden Verhaltens formuliert werden und dem tatsächlichen Ritter als idealtypische Vorbilder dienen. Wolfram von Eschenbach (1170/1175 bis nach 1220) steht mit seinem um 1200 verfassten, 25.000 Verse umfassenden Parzival inmitten der »subjektiven Wende« im späten Mittelalter. Denn, so können wir hier lernen, erst die Scham eröffnet überhaupt die Möglichkeit aller weiteren (höfischen) Erziehung. Wer sich nicht mit anderen vergleicht und sich diesen gegenüber »unterlegen« fühlen kann, sich also nicht zu schämen vermag, kann auch keine anderen, insbesondere maßvolleren Sitten lernen als die, die er in einem naturwüchsigen Sinne »von Natur aus« hat. Wer nicht an sein eigenes Leben, an sein eigenes Handeln ein »Maß« anzulegen vermag, kann in der höfischen Welt des Wolfram nicht mehr bestehen – und er bleibt überdies schamlos. Insofern auch ist Schamgefühl die »Seelenkrone«, ist die höchste Tugend des höfischen Ritters, welches sein Handeln auch im schlimmsten Moment seines Lebens – nämlich der (hof-)öffentlichen Beschämung – bestimmt (Eschenbach 2006, Vers 319, Zeile 1–11). Das Grundmuster der höfischen Epen zielt auf die Wiedererlangung der standesgemäßen Position durch die abenteuerliche, mit Kämpfen gespickte Reise (»aventuire«). Die muss der höfisch-ritterliche Herr antreten, da er infolge vorherigen eigenen Versagens seine standesgemäße Position verloren hatte. Die Beschämung führt hier also nicht wie bei Homer in eine suizidale Verfassung, sondern in eine gefahrvolle Aventuire, in deren Verlauf entweder der Tod gefunden oder die Ehre wiedergewonnen und die Scham überwunden wird (329, 15 ff.). Besonders ist die Parzival-Figur aber dennoch insofern, weil Parzival im Verlauf seiner Aventuire neben verschiedenen Kämpfen mit anderen Rittern auch immer wieder die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit leisten muss, sich seiner Geschichte immer wieder schamhaft erinnern und sie deutend in die aktuellen Situationen einbringen muss (Kartschoke 2002). Dieses narrative Erinnern eröffnet einen individuellen »Kampfinnenraum« und weist über den typisierenden Charakter hinaus, obwohl Wolframs Parzival dennoch eine typische Gestalt ist – er ist der schönste, stärkste und formvollendetste Ritter – und noch nicht als ein unverwechselbares Individuum verstanden werden kann. Wolframs Epos ist noch kein Entwicklungsroman im modernen Sinne, aber auch kein Heldenepos der Antike mehr, sondern eben eine Aventuire im höfischen Sinne. 159 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Dabei kommt die Aventuire des Ritters – trotz aller Beschämungen und Niederlagen – ganz ohne suizidale Krisen aus und ist letztlich der Buße des christlichen Menschen vergleichbar. Die Aventuire ersetzt in der ritterlichen Welt des Hochmittelalters den heroischen Suizid aus Verzweiflung (Aias). Bemerkenswert ist dabei, dass der Suizid eben nicht mehr schlicht verboten werden muss, sondern dass er aus der ritterlichen Identitätsbildung heraus überflüssig wird, da in dieser zugleich die Offenheit des Lebens als ein »Mehr« bewahrt wird. Für Parzival ist dieses »Mehr« seiner selbst – symbolisiert im Gral – das Mitgefühl für den anderen Menschen als Menschen (Eschenbach 2006, 752, 24 ff. u. 781, 2 ff.): »Der Gral, die Macht des Grales schließen Gemeinschaft mit der Falschheit aus. Du zogst die kleinen Sorgen groß – die Freude kommt, du bist sie los! Du hast dir Seelenfrieden erkämpft, hast in der Sorge Lebensglück erharrt.« (782, 21–25) Allerdings gibt es im Hochmittelalter des 11. bis 14. Jahrhunderts auch ein eher volksnahes theologisches Verständnis der Verzweiflung und damit der suizidalen Erfahrung. Dieses Verständnis ist für unsere Untersuchung auch insofern wichtig, da es bis in das 18. Jahrhundert hinein ein wesentliches Verständnis der suizidalen Erfahrung bleiben wird. In diesem Verständnis zeigt sich in der menschlichen Verzweiflung das Werk des Satans, des Teufels. Er verführt den Menschen zur Verzweiflung, der darin – Judas vergleichbar – alle Hoffnung auf Errettung durch Gott fahren lässt. Dieser Gedanke der »dämonischen Besessenheit« greift dabei auf ein Verständnis von Krankheit zurück, welches insbesondere in mythisch-rituellen Kulturen als zentrales Modell für psychische Ausnahmezustände angesehen werden kann und in der kirchlichen Ikonographie des sich erhängenden Judas bildlich-erzieherischen Ausdruck findet (Ellenberger 1996, S. 35 ff.; vgl. a. Brown 2001, S. 74 ff.). Das im christlichen Mittelalter bekannte Modell der »Besessenheit durch böse Geister« ist jedoch andererseits zumeist vom damaligen medizinischen Krankheitsverständnis zu unterscheiden (Schipperges 1993, S. 117 ff.), dessen herausragendes Modell für »psychische Störungen« wiederum das am hippokratischen Verständnis orientierte Konzept der Melancholie war. Nachweisbar bestehender Wahnsinn bzw. Melancholie wiederum entschuldigt hingegen im damaligen Verständnis der Kirche den begangenen Suizid. Dabei scheint dieser Nachweis in fast der Hälfte der Fälle geführt worden zu sein, wobei dieser entschuldigende Nachweis eher bei Mitgliedern höher stehender Schichten herangezogen wurde (Minois 1996, S. 64 ff.). Diese Ent160 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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schuldigung durch eine Geisteskrankheit versteht sich nun daraus, dass der geistig kranke Mensch »von Sinnen« und demnach nicht mehr die Hilfe der Kirche in Anspruch zu nehmen fähig ist. Dieses Verständnis der suizidalen Erfahrung nimmt dabei unmissverständlich Bezug auf das platonische Verständnis, von dem ebenfalls der Wahnsinn explizit als eine die Selbsttötung erlaubende Ausnahme angesehen wird (Platon 1991, Bd. 9, 873c). Das medizinische Verständnis des Wahnsinns (Melancholie) reicht zurück auf die hippokratische Medizin, als deren herausragendster Vertreter im christlichen Hochmittelalter Galen (129–199 n. Chr.) gilt. Die Ursache der Melancholie sieht man, Hippokrates und insbesondere Galen folgend, im Übermaß der schwarzen Galle (melas chole), einem der vier Körpersäfte. Die geistige Verfassung bei Melancholie zeigt sich dabei jedoch sehr vielfältig und keineswegs einheitlich wie bei der Depression im heutigen Sinne. So beschreibt Constantinus Africanus 1080 in seinem Traktat »De melancholia« die Spannbreite der Melancholie in den folgenden beiden Sätzen: »Melancholie ist der Glaube an ein Überfallenwerden durch irgendein nicht existierendes Übel«; aber auch: »Melancholie ist ein die Seele beherrschender Argwohn, aus dem Furcht und Traurigkeit entstehen.« (zit. nach Schipperges 1993) Unbenommen aller Vielfalt der Strukturveränderungen des Erlebens, Denkens und Wahrnehmens in der Melancholie, gilt die Melancholie seit der Antike als eine krankhafte Verfassung, aus der heraus sich der Mensch häufiger das Leben nimmt (vgl. Schott 1998, S. 57 f.). So findet sich bereits im Corpus hippocraticum, welches seit dem 4. Jahrhundert vor Christus in Alexandria zusammengestellt wurde, der explizite Bezug auf die Häufung von Suiziden in der Melancholie (»Geistesverdunkelung«), sei es infolge von »Wahngebilden« oder »einer gewissen Lust, infolge deren sie den Tod herbeisehnen, als wenn er etwas Gutes wäre« (Hippokrates 1933–40, Bd. V, XXIII/136 ff.). Auch Galen weist auf die Häufigkeit von Suiziden bei Melancholikern hin. Die suizidale Verfassung zeigt sich in diesem Verständnis als die körperlich begründete Verzweiflung, in welcher der Argwohn bzw. Glaube gegeben ist, stets durch ein eintretendes Übel noch tiefer in die Verzweiflung hineingedrückt zu werden. In dieser Verrückung des Denkens und Erlebens ist nun – so das damalige kirchliche Verständnis – dem suizidalen Kranken – ohne dessen Schuld – die Gewissheit an die Errettung durch Gott abhanden gekommen. Dabei gilt offenbar, dass die Sicht des suizidalen Menschen, im eigenen Tod eine Rettung zu 161 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sehen, gewissermaßen das »Verrückteste« an der Melancholie bzw. Geisteskrankheit ist. Allerdings ist dieses medizinische Verständnis, welches die suizidale Erfahrung als Ausdruck einer zu behandelnden und damit möglicherweise überwindbaren psychischen und körperlichen Verfassung sieht, noch keineswegs im kulturellen Sinne virulent. Trotzdem kann dieses Verständnis, auch wenn es oftmals nur wie eine Entschuldigung in den gerichtlichen Verfahren im Mittelalter genutzt wird, als ein wichtiges – schließlich in der Neuzeit und dem Zeitalter der Medikalisierung zunehmend wichtiger werdendes – Gegenmodell zur »teuflischen Verzweiflung« verstanden werden. Zunächst aber gewinnt das Verständnis der Verzweiflung als Ausdruck »dämonischer Besessenheit« durch den »Leibhaftigen« im ausklingenden Mittelalter und vor allem in der beginnenden Neuzeit zunehmend an Bedeutung. Dabei gilt die »Austreibung des unreinen Geistes« als Heilmittel. Die das gesamte Mittelalter hindurch reichende kirchliche Praxis des Exorzismus ist dabei komplex und setzt letztlich auf die Heilung durch den Heiligen Geist, wie sich in der zentralen Exorzismus-Formel ausdrückt: »Fahre aus, du unreiner Geist, und gib Raum dem Heiligen Geist.« (Schipperges 1993, S. 113) Andererseits gibt es in der kirchlichen Perspektive auch die Buße, um der drohenden Verzweiflung und Besessenheit entgegen zu treten, denn das Ritual der Buße erneuert die Zusicherung der Liebesintention Gottes. Zusammengefasst zeigt sich aus damaliger Sicht in diesem Verständnis der suizidalen Erfahrung ebenfalls der Suizid selbst als das »Verrückteste«, da in der suizidalen Erfahrung der Irrglaube herrscht, im eigenen, selbst herbeigeführten Tod eine Rettung zu sehen (worin eine gewisse Übereinstimmung mit dem aristotelischen Verständnis gesehen werden kann). Der Unterschied zum »medizinischen Modell« zeigt sich allerdings im Verständnis der Verursachung dieses Irrglaubens, wobei dies einmal als Folge körperlicher Säfteungleichgewichte und das andere mal als Folge dämonischer Besessenheit verstanden wird. Beide Verständnisse werfen dabei die Frage auf, inwiefern die suizidale Einsicht, dass im eigenen Tod eine Rettung besteht, im christlichen Selbstverständnis als ein Irrglaube oder eine Verrücktheit angesehen werden kann. Auch wenn es eine Wiederholung ist, sei erneut darauf hingewiesen, dass diese Sichtweise zum zentralen Fundament des christlichen Selbstverständnisses gehört. Denn was wäre der Christ ohne die göttliche Liebesintention, ihn ins ewige Leben zu retten? Hatte nicht Paulus in der Frühzeit des Christentums händeringend nach trif162 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung im Christentum

tigen (christologischen) Einwänden gegen ein zu rasches Versterben im Stile eines Märtyrers gesucht? Erneut zeigt sich hier eine Folge der augustinischen Verwirrung. Denn die Gewissheit, bei welcher es sich ja streng genommen um eine menschliche Gewissheit handelt, dass im Tod nur dann keine Rettung ins ewige Leben gesehen werden kann, wenn er sich selbst zugefügt wird, ist hier die notwendige Basis, um eine solche (suizidale) Sicht, unter Beibehaltung der religiösen Gewissheit einer leiblichen Auferstehung bzw. eines ewigen Lebens der unsterblichen Seele, überhaupt als Irrtum bezeichnen zu können. So leiht hier Augustin unwissentlich (und vermutlich unbeabsichtigt) eine Grundannahme, welche unhinterfragt übernommen und in widersprüchlicher Weise zugespitzt eine völlige Verkehrung des christlichen Gedankens erlaubt. Dies scheint im weiteren Verlauf des Mittelalters erstaunlicherweise, jedenfalls in den populären Verständnissen, kaum aufzufallen und findet im sich erhängenden Judas bildhaften Ausdruck. Die vermeintliche Unterschiedlichkeit der Tode – durch eigene Hand versus durch fremde Hand/Natur – kann aus menschlicher Sicht hinsichtlich des Zustandes des Todes streng verstanden in keiner Weise festgestellt werden. Sie könnte im Tode höchstens im »Jüngsten Gericht« – der christlichen Version des ägyptischen »Totengerichts« – durch Gott selbst festgestellt werden. Die Behauptung, die unterschiedliche Qualität der Tode gemäß der Art und Weise ihrer (zugegebenermaßen) unterschiedlichen Herbeiführung unterscheiden zu können, setzt hingegen die Kenntnis der Entscheidung Gottes im »Jüngsten Gericht« voraus und behauptet zugleich, die Grenzen der göttlichen Gnade zu kennen. Wie dies gewusst werden kann, ist tatsächlich ein (augustinisches) Rätsel. Die in der katholischen Kirche des Mittelalters geleistete Kanonisierung, welche den Suizidenten auf ewig verdammt und zugleich für die maßgebenden (feudalherrlichen) Schichten dazu tendiert, im Falle der Selbstentleibung den Märtyrertod zu reklamieren, zeigt sich so verstanden tatsächlich als eine Leistung, die vor dem Hintergrund der grundherrschaftlichen Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft zusätzlich plausibel wird, da sie dieser Ordnung entspricht und sie absichert (Goetz 1994, S. 116 ff.; Minois 1996, S. 57 ff.) Diese Kritik zeigt zudem aber, dass dieses Verständnis, welches eine prinzipielle »Verrücktheit« darin zu erkennen vermeint, dass der suizidale Mensch in seinem Tod eine Rettung sieht, außerhalb des christlichen Selbstverständnisses (beispielsweise mit Aristoteles) schlüssiger und widerspruchsfreier hätte formuliert werden können. Denn es stellt 163 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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in seiner begründenden Herleitung die zentrale Basis des christlichen Selbstverständnisses – den Glauben an die unverlierbare Liebesintention Gottes und die Gewissheit der Unsterblichkeit der Seele in personaler Kontinuität – fundamental in Frage. So könnte beispielsweise ebenso argumentiert werden, dass es sich um einen Irrtum handelt, wenn im Tod (»kurzschlüssig« und unbedacht) die eigene Rettung gesehen wird, obwohl zugleich angenommen wird, dass dem betreffenden Menschen nach dem Tod nichts mehr gegeben sein wird, der Tod also das endgültige und unumkehrbare Ende für die einzelne Person ist. Offenbar ist aber im ausgehenden Mittelalter die Verwirrung um das Thema der suizidalen Erfahrung übergroß geworden. Die Unterschiedlichkeit der Sichtweisen, die gewissermaßen unterhalb der kanonischen Verdammung des Suizids als göttlich verboten entstehen, sind kaum noch unter ein christliches Verständnisdach zu zwängen. Jede Schicht, jeder Stand, jede gesellschaftliche Gruppe scheint ein eigenes Verständnis favorisiert zu haben, wobei die Konsequenz und Kohärenz der Verständnisse mit dem christlichen Selbstverständnis zunehmend fragwürdig wird.

3.

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

Die Neuzeit beginnt in Europa in Norditalien, letztlich ohne genaues Datum und in schichtenspezifischer Gebundenheit. Im Begriff der »Renaissance« gefasst meint dies vor allem die Wiederaufnahme der antiken Tradition als nachahmenswertes Vorbild für das eigene Handeln und Denken. In dieser Hinsicht ist insbesondere auch der Humanismus zu nennen, der in Norditalien die höfische Strukturbildung der Herrscher (sog. signori) begleitet und gewissermaßen in dem Sinne »veredelt«, da im Humanismus ein das Christliche verwandelndes Menschenbild im Rückgriff auf das antike (und imperiale) Rom propagiert wird (Reinhardt 2007, S. 103 ff.). In historischer Sicht fällt dabei die Heraufkunft des Humanismus und die Wiederaufnahme der antiken Tradition mit den massiven Krisen im lateinischen Westen Europas zusammen, die infolge von Hungersnöten, Bauern- und Zunftaufständen sowie der großen Pest von 1348–1351, der etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fällt (Schipperges 1993, S. 105), schwerwiegendste alltägliche Nöte und eine Unsicherheit der mittelalterlich geprägten Ordnung der Gesellschaft bedeuten. 164 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

In Kontinuität seit dem 12. Jahrhundert entwickelt sich in den norditalienischen Städten die Herrschaftsform der signori, die eine jeweils eigene, herrscherindividuelle Melange verschiedenster Strategien der Machtausübung und -absicherung in ihren Städten und Ländereien entwickeln. Einerseits feudalherrlich, andererseits bürokratisch zentralisiert gewinnen sie eine publikumswirksame Paternalität in einer gewissen Unabhängigkeit vom sichtbaren Staat, den sie wiederum im Hintergrund selbst organisieren (Reinhardt 2007, S. 44 ff.). Die Höfe der Este in Ferrara, der Medici in Florenz, der Sforza in Mailand und der Montefeltro in Urbino gelten dabei im 15. Jahrhundert als besonders gelungene Beispiele einer solchen Melange, denen zudem auch noch die Anregung besonders hochstehender künstlerischer und philosophischer Werke gelangen. Bedeutende Künstler wie Leonardo da Vinci (1452–1519), Michelangelo Buonarotti (1475–1564), Raffael da Urbino (1483–1520) oder Fillipo Brunelleschi (1377–1446) und Donato Bramante (1444–1514) prägen bildlich und vor allem baulich diese Epoche in den italienischen Städten und dem Vatikan, wobei sie ihre Kunst- und Bauwerke an den antiken Vorbildern orientieren und so die überlieferten kunst- und bauhandwerklichen Fähigkeiten oftmals herausfordern, jedenfalls aber dem künstlerischen Gesamtentwurf unterwerfen. Die publikumswirksame Präsentation des väterlich-gerechten Herrschers – in Gestalt von Bauwerken und Fresken – ist eines der herausragenden Merkmale der ansonsten weitgehend konventionellen Machtstrukturen, wobei die Entwicklung der höfischen Gesellschaften als weiteres wichtiges Merkmal europaweite Entwicklungen für die nächsten 300 Jahre vorwegnimmt (Reinhardt 2007, S. 71 ff.). Dabei erscheint der »Hof als Bühne«, an welchem der einzelne Höfling in selbstbewusster Kenntnis seiner eigenen Person sowohl über intellektuellreflexive Weitsicht als auch verhaltensmäßige Verstellung verfügen muss, wenn er seine eigenen Ziele verwirklichen will. Auch dieses höfische Verhalten setzt also die höfischen Entwicklungen seit dem 12. Jahrhundert fort, in welchen schamgeleitet eine intensive Selbstregulation von Affekten und Gedanken im Hinblick auf die Erfüllung mehr oder weniger internalisierter Normen im Sinne der christlichen Glaubensinhalte erforderlich wurde, wobei die Scham sowohl im Rückblick auf eine beschämende Situation als auch in der Voraussicht auf eine Situation, welche bei maßlosem Verhalten in der Beschämung enden würde, handlungsleitend wurde und so andere, »gröbere«, dem Triebhaften näher stehende Gefühle zu verfeinern ver165 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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mochte (vgl. Elias 1992, Bd. 2, S. 88 ff.). Auch in philosophischer Hinsicht werden der Humanismus und die Lektüre antiker Texte im Mittelalter und in der Scholastik vorbereitet (Flasch 1986, S. 566). Allerdings bedeutet dies nicht, dass es nicht für einzelne Menschen auch eine klare Zäsur in Absetzung zum christlich geprägten Menschenbild im frühneuzeitlichen Humanismus gegeben hat (Buck 1991, S. 67). Grundlage des Humanismus sind hierbei letztlich, in Nachfolge von Francesco Petrarca (1304–1374), die sog. studia humanitatis, welche eine exakte Untersuchung antiker Schriften wie z. B. derjenigen von Cicero oder auch Seneca meinen. In diesen Studien geht es aber nicht mehr um eine Erkenntnis des Göttlichen, sondern um die Erziehung des Menschen zu einer sittlichen Persönlichkeit (Buck 1991, S. 107). Die Humanisten, die sich diesen Studien widmen, entstammen zwar sehr unterschiedlichen Kreisen, die vom Klerus über städtische Patrizier, Handels- und Kaufleute bis hin zum Kleinbürgertum reichen, sie finden sich aber als Gleichgesinnte im Geiste wieder. Hierdurch entsteht eine Art »Geistadel«, der sich insbesondere in den Städten ausbildet. Wesentlich ist dabei, dass sich in diesem Studieren ein neues Menschenbild zeigt, welches den schöpferischen (und nicht nur den geschaffenen) Menschen meint und seinen Zentralbegriff in der Würde des Menschen hat. Diese Wiederaufnahme der antiken Traditionen breitet sich zwar zunächst vor allem in den Städten Norditaliens aus, hat aber ihre durchschlagendste Wirkung erst lange Zeit später in der Aufklärung. Im Hinblick auf das Thema der suizidalen Erfahrung tritt jedoch bereits frühzeitig die stoische Philosophie in den Blickpunkt der Humanisten. Zudem findet sich eine zunehmende Verbildlichung des Suizids, in welcher neben Bildern der stoischen »Heroen« Cato und Seneca insbesondere die symbolhafte Darstellung der Lucretia seit dem 15. Jahrhundert hervorsticht. In einer Vielzahl von Darstellungen, in denen sie sich als edle und zugleich verführerisch entblößte Frau mit einem Schwert selbst den Tod gibt, wird sowohl ihr individueller Widerstand gegen Herrschaftsstrukturen als auch ihr (christliches) Opfer für eine übergeordnete Idee des Menschlichen gezeigt (Brown 2001, S. 97 ff. u. S. 111). Um die Wiederaufnahme des Themas des Sich-töten-könnens unter wiederum veränderten Vorzeichen eines primär nicht mehr christlichen, sondern humanistischen Selbstverständnisses zu verstehen, gilt es zunächst, sich des veränderten, humanistisch erweiterten Menschenbildes der Renaissance zu versichern. Dieses zeichnet als 166 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Selbstverständnis zwar zunächst nur eine kleine, insbesondere städtische Gesellschaftsschicht aus, findet jedoch auch auf verwinkelten Wegen – teils zügig, teils verzögert – größeren kulturellen Einfluss, sei es über das sich wiederbelebende Theater, die Literatur oder die bildende Kunst. Dabei geht es keineswegs primär um eine Auflösung des christlichen Menschenbildes oder das Bezweifeln der augustinischen Gewissheit eines Lebens nach dem Tode in personaler Kontinuität, sondern um eine Befreiung des Menschen zu seiner Humanität, d. h. zu sich selbst. Hierdurch werden sowohl die irdischen Fähigkeiten des Menschen in seinen eigenen Dienst, und dadurch in den Dienst Gottes, gestellt, als auch die Individualität der Person stärker betont. Beides verbindet sich darüber hinaus mit einer neuen Weise menschlicher Freiheit: der Würde des Menschen. Dabei ist mit dieser Würde eine irdische Würde gemeint, die durch die Vernunft, die geistige Ausstattung des Menschen, seinen logos, verwirklicht werden kann. Das Herausbilden dieser Würde des Menschen infolge seiner Geisthaftigkeit verweist somit zugleich auf ein irdisch-menschliches »Noch-nicht«, welches im Irdischen noch zu erreichen ist und verwirklicht werden kann. Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494), aus einer signori-Familie stammend und später – wie die überwiegende Anzahl florentinischer Bürger – dem endzeitlichen Bußprediger Savonarola (1452– 1498) anhängend, spricht in seiner vielzitierten »Rede über die Würde des Menschen« (Oratio de hominis dignitate) genau diese Geisteshaltung aus: »Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn es deine Seele beschließt.« (Mirandola 1990, S. 7). Besonders wichtig ist dabei, dass Mirandola diese Rede von Gott her an den Menschen richtet. Damit wird gesagt, dass Gott selbst den Menschen auf seine selbst zu entfaltende Würde freisetzt. 167 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Der Mensch ist in diesem Verständnis also nicht auf eine persona festgelegt, sondern letztlich in die Dynamik eines anzustrebenden »Noch-nicht« eröffnet – worin er sowohl zur menschlichen Würde als auch zum unwürdig Animalischen finden kann. Nicht mehr »Umkehr« und »demütige Bekenntnis« aber führen zur eigenen Menschlichkeit, sondern aktives und weltzugewandtes Ergreifen des menschlich möglichen »Noch-nicht« durch die Bildung des Geistes. So findet sich in der Neuzeit die Freiheit des Menschen als Autonomie, auch wenn ihr dieser Begriff erst mit Immanuel Kant (1724–1804) klar werden wird. »In der Neuzeit wird die Frage nach der Freiheit gestellt, ja zur Grundfrage des Menschen gemacht. Mit der Frage nach der Freiheit will der Mensch selbst auf den Grund kommen. Renaissance ist eine Wiedergeburt dieser Frage. Humanismus ist eine Bewegung, welche von dieser Frage bewegt wird und nur diese vorantreiben will. Was heißt Freiheit des Menschen? Der Mensch entdeckt die Möglichkeit seiner Autonomie.« (Baruzzi 1993, S. 140)

3.1.

Frühe Neuzeit (Shakespeare, Morus)

Die humanistische Bewegung findet vorwiegend in den Städten statt und ist mit dem aufstrebenden Bürgertum verknüpft. Der genaue Zeitverlauf der humanistischen Bewegung ist in den verschiedenen Ländern Europas durchaus sehr unterschiedlich, in Noirditalien bekanntlich früher als im »Rest Europas«. Gemeinsam ist ihnen aber neben der Bindung an die Städte und das Bürgertum und der Wiederaufnahme der antiken Tradition vor allem die Konzentration auf den einzelnen Menschen in seiner irdischen Verfassung und in Abgrenzung gegen seine Welt, so dass er sich als unverwechselbarer, wenn auch, im Unterschied zum antiken Beispiel, nicht perfekter Mensch selbst vorfindet (Ulbricht 2002, S. 138 ff.). Neben einer simplen Abschilderung und Bestimmung der eigenen aktuellen Verfassung geht es hierbei immer auch darum, auf die Verbesserung dieser eigenen Verfassung abzuzielen. Solche Themen werden zeitgenössisch auch in der Literatur (z. B. in der Autobiographie oder im Theater) verhandelt, wobei auch hier zunächst die Impulse von den norditalienischen Städten ausgehen (Reinhardt 2007, S. 71 ff.). Letztlich ist es insbesondere das Theater, welches hier eine wichtige Funktion gewinnt, da es der breiten Masse in den Städten offensteht und die Thematisierung humanistischer 168 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Konzepte des Menschlichen auch außerhalb gebildeter Schichten erlaubt. Dabei verbleibt das Barocktheater insbesondere in den deutschsprachigen Gebieten fast vollständig unter dem Eindruck des Hofes und des höfischen Fests, es spielt mit der Intrige, der Maskerade und dem Mummenschanz (van Dülmen 1992, S. 166 f.). In vielen großen Handels- und Reichsstädten Europas entstehen jedoch Volkstheater außerhalb des höfischen Raums, wobei hier insbesondere London zu nennen ist, in welchem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Vielzahl weitgehend unabhängiger Theatergruppen gegründet werden und Dramatiker wie Christopher Marlowe (1564–1593) oder William Shakespeare (1564–1616) wirken (Egan 2003). Im Theater hält das Sich-töten-können einen ganz einzigartigen Einzug, wie sich schon an der Häufigkeit des Themas ablesen lässt. »Auch wenn diese Stücke der Frührenaissance den Selbstmord bei weitem nicht verherrlichen, so tragen doch die große Zahl der Fälle sowie das Auftauchen bewundernswerter antiker Beispiele dazu bei, die Gemüter zu verwirren.« (Minois 1996, S. 101) Diese »Verwirrung der Gemüter« ereignet sich insbesondere durch die Konfrontation mit dem stoischen Verständnis des Suizids als »Freitod«. Dieses Verständnis, welches beispielsweise in den Werken von Cicero nachgelesen und in den heroisch-erotischen Bildern der Lucretia oder Cleopatra anschaulich gesehen wird, wird verallgemeinernd als die philosophische Haltung der Antike anerkannt und insbesondere auf den Punkt hin verstanden, dass Suizid eine Freiheit aus dem Stande sei. In dieser Spannung findet sich auch der doppelte Suizid in »Romeo and Juliet«, welcher 1597 von William Shakespeare auf die Bühne gebracht wird und sich auf den Roman »Romeus and Juliet« (1562) von Arthur Brooke und dessen darin erfolgter Adaption der Überlieferung der vermutlich um 1530 von Luigi da Porto (1485–1529) verfassten, vor allem in Verona spielenden Novelle »Romeo e Giulietta« bezieht, welcher wiederum auf die durch Ovid überlieferte Erzählung von »Pyramus und Thisbe« zurückgreift. Bekanntlich schreiten sowohl Romeo als auch Julia aus Verzweiflung zur Tat. Shakespeare thematisiert durchgehend im Stück, dass sowohl Romeo als auch Julia an ihrem Leben nichts Lebenswertes finden, wenn sie nicht zusammen und gemeinsam als Mann und Frau leben können (Shakespeare 2008, III, V). Vor dem Hintergrund dieser Liebe und der potentiellen Verzweiflung, da die Liebe in ihrer Welt angesichts sozialer Spannungen keinen Ort hat, nehmen sich beide das Leben. Die 169 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Handlung, die zu den Suiziden führt, ist dabei zwar kunstvoll gestaltet, vollzieht sich aber dennoch in einer wie selbstverständlich erscheinenden Entwicklung. Nachdem Romeo von Julias »Tod« erfahren hat, aber durch unglückliche Umstände den erläuternden Brief nicht erhält, dass es sich nur um einen durch einen Trank induzierten und vorübergehenden todesähnlichen Schlaf handelt, plant er spontan seinen Suizid an ihrer Seite. Er besorgt sich ein schnell wirkendes Gift und reist von Mantua nach Verona. Im letzten Akt des Stücks verwirft er in der Gruft an der Seite von Julias leblos wirkendem Körper die Sichtweise, dass im eigenen Tod eine »erleuchtende Rettung« gesehen werden könne und betont, dass er sich aus Verzweiflung das Leben nimmt: »How oft when men are at the point of death/Have they been merry! which their keepers call/A lightning before death: O, how may I/Call this a lightning? – /[…]/Come, bitter conduct, come, unsavoury guide!/Thou desperate pilot, now at once run on/The dashing rocks thy sea-sick weary bark!/Here’s to my love![Drinks.] – O true apothecary!/Thy drugs are quick. – Thus with a kiss I die.« (V, III) Während Shakespeare Romeo seine Verzweiflung in der suizidalen Erfahrung betonen lässt, zeigt er an Julia, dass es gerade der eigene Tod ist, der dem suizidalen Menschen als eine letzte Rettung erscheint, auch wenn dies nur das Ende der Verzweiflung sein mag. Die Verzweiflung und Unerträglichkeit, die Julia angesichts der Aussicht auf ein Leben ohne Romeo durchleidet, dient dabei als Hintergrund und wird so im direkten Vorfeld des Suizids nicht nochmals thematisiert, kann sie doch beim Zuschauer als erinnert vorausgesetzt werden. Von besonderer Bedeutung ist für diese Zuschauerkennntis die Szene, in der Julia in ihrer Verzweiflung ihren Beichtvater, den Franziskanerbruder Lawrence anfleht, ihr zu helfen: »Be not so long to speak; I long to die,/If what thou speak’st speak not of remedy.« (IV, I) Derart innerlich der Verzweiflung ausgeliefert, ersinnt sie mit Bruder Lawrence den Plan des todesähnlichen Schlafs. Als Julia dann nach etwa 24 Stunden aus ihrem todesähnlichen Schlaf erwacht, wenige Minuten nach Romeos Tod, findet sie seinen noch warmen Körper in ihrem Schoß liegend vor. Sie erkennt sofort, dass ihr Plan misslungen ist und ist entschlossen, ihm in den Tod zu folgen. In dieser Verzweiflung betont sie in der Gruft über dem toten Körper Romeos dann wiederum den rettenden Charakter des Todes, da er die Verzweiflung beendet. So nennt sie das Gift ein »Stärkungsmittel« und bezeichnet das Messer, mit dem sie sich den Tod geben wird, als »glücklich«: »What’s here? a cup, clos’d 170 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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in my true love’s hand?/Poison, I see, hath been his timeless end: – /O churl! drink all, and left no friendly drop/To help me after? – I will kiss thy lips;/Haply some poison yet doth hang on them,/To make me die with a restorative./[…]/O happy dagger!/[Snatching Romeo’s dagger.]/This is thy sheath [stabs herself]; there rest, and let me die./[Falls on Romeo’s body and dies.]« (V, III) Shakespeare verbindet mit den beiden Figuren diese zwei Seiten der suizidalen Erfahrung auf dramatische Weise, obwohl zugleich in beiden Figuren beide Aspekte erkannt werden können: auf der einen Seite die Verzweiflung angesichts eines wertlos erscheinenden Lebens und auf der anderen Seite die im Tod zugesicherte Erleichterung, obwohl der Tod nicht als Übertritt ins ewige Leben oder Paradies thematisiert wird. Sowohl Romeo als auch Julia sind dabei aber keineswegs in stoischer Weise apathisch gegenüber ihren Umständen, sondern vielmehr in geradezu gegenteiliger Weise auf die anderen Menschen bezogen. Es ist ja die beständige und selbstlose Liebe füreinander, die der zentrale Bezugspunkt für all ihre Bewertungen ist. Gerade dass diese gemeinsame Liebe unter den gegebenen sozialen Umständen noch nicht gelebt werden kann und dass es dieses »Noch-nicht« ist, für welches sich zu leben lohnt, zeigt eine neue und humanistische Qualität des Suizids: der Suizid als Nachweis für eine bessere Welt, welche angsichts der Umstände zwar noch nicht möglich ist, ohne die aber nicht sinnstiftend gelebt werden kann. Shakespeares Drama zeigt aber zugleich, dass es eine größere Macht gibt – welche im Stile des elisabethanischen Weltbildes bei Shakespeare der vorsehende Gott selbst ist (vgl. Beyrer 2009, S. 689 ff.) –, welche die Geschicke lenkt und dieses schreckliche Schicksal von Romeo und Julia (Versöhnung der verfeindeten Familien durch ihren Tod, womit diese Familien zugleich ihrer letzten Erben beraubt werden) förmlich verordnet. Bei aller Verbundenheit Shakespeares mit dem elisabethanischen Weltbild ist es dennoch der Rückbezug auf die antike Tradition, der überhaupt erst die Thematisierung der suizidalen Erfahrung als eine menschenwürdige Verfassung ermöglicht. Denn erst dadurch, dass Shakespeare seinen beiden Protagonisten Romeo und Julia in ihrer Bewertung folgt und das »göttliche Suizidverbot« – wie es ja in der katholischen Kanonik formuliert war – als weniger wichtig als ihre gemeinsame, beständige und selbstlose Liebe einstuft, kann er ihre Verzweiflung als Nachweis eines erstrebten und unerreichbar erscheinenden »Noch-nicht« aufweisen und muss sie nicht als dämonische 171 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Besessenheit verstehen. Obwohl Shakespeare seine Protagonisten auf der Bühne aus vielerlei Gründen in den Suizid schreiten lässt, wird der Mensch bei Shakespeare nicht aus der göttlichen Vorsehung herausgenommen, so dass er letztlich durch den Suizid immer auch das ewige Leben aufs Spiel setzt (742 ff.). Es zeigt sich aber, dass für Shakespeare das (irdische) Leben »seinen Stellenwert aus der Relation zu anderen Werten« (S. 776) bezieht, wobei er der wahrhaftigen Liebe, wie sie bei Romeo und Julia zu finden ist, überwiegend den höchsten Rang einräumt. Auch Thomas More (1478–1535), bedeutender englischer Humanist und Lordkanzler (Reg. 1529–1532) unter Heinrich VIII., von dem er aufgrund seiner ablehnenden Haltung hinsichtlich dessen 1534 formulierten Anspruchs, Oberhaupt der sich neu formierenden anglikanischen Kirche zu sein, hingerichtet wurde (vgl. Wende 2000, S. 65 f.), greift das Thema des Sich-töten-könnens und der Verzweiflung trotz seiner katholischen Glaubenshaltung auf dem Boden des humanistischen Menschenbildes auf. Konfrontiert mit dem staatsbildenden Machiavellismus und einem zunehmend einsetzenden philosophisch begründeten Skeptizismus gegenüber der Unsterblichkeit der Seele, beschreibt er in seiner Utopia (1516) einen Staat, in dem alle Menschen an die Unsterblichkeit der Seele glauben und so einen gewissermaßen idealen Staat zu bilden vermögen. »Here is a heathen community, whose religion is founded on philosophy and natural reason. Yet, so far from doubting the immortality of the soul, they base their whole polity upon it. No disbeliever in immortality may be citizen of Utopia. In life, and in death, every true Utopian has a firm trust in the communion of saints.« (Chambers 1992, S. 144) More antwortet mit seinem Utopia zugleich auf drängende Fragen seines Zeitalters und greift dabei ausführlich auf die antike griechische Philosophie zurück, insbesondere auf Platon. Mores Verständnis des Sich-töten-könnens setzt ebenfalls im platonischen Verständnis an. »As I said before, the sick are carefully tended, and nothing is neglected in the way of medicine or diet which might cure them. Everything is done to mitigate the pain of those who are suffering from incurable diseases; and visitors do their best to console them by sitting and talking with them. But if the disease is not only incurable, but excruciatingly and continually painful, then the priest and public officials come and urge the invalid not to endure such agony any longer. They remind him that he is now unfit for any life’s duties, a burden to himself and to others; he has really outlived his own death. They tell him he should not

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let the disease prey on him any longer, but now that life is simply torture and the world a mere prison cell, he should not hesitate to free himself, or let others free him, from the rack of living. This would be a wise act, they say, since for him death puts an end, not to pleasure, but to agony. In addition, he would be obeying the advice of the priests, who are the interpreters of God’s will; which ensures that it will be a holy and a pious act. Those who have been persuaded by these arguments either starve themselves to death or take a potion which puts them painlessly to sleep, and frees them from life without any sensation of dying. But they never force this step on a man against his will; nor, if he decides against it, do they lessen their care for him. Under these circumstances, when death is advised by the authority, they consider self-destruction honorable. But the suicide, who takes his own life without approval of priests and senate, they consider unworthy either of earth or fire, and throw his body, unburied and disgraced, into the nearest bog.« (Morus 1992, S. 60)

More unterscheidet einen erlaubten und einen unerlaubten Suizid, hierin ganz Platon vergleichbar. Dabei glorifiziert er den erlaubten Suizid und entwertet den unerlaubten Suizid, wobei er – erneut vergleichbar Platon – Regeln aufstellt, wie diese Erlaubnis gestaltet sein soll. Dennoch, blieb bei Platon eine gewisse Unsicherheit bestehen, die sich im »göttlichen Zeichen« findet, diesem schicksalhaften Wink, der dem suizidalen Menschen gegeben wird, findet sich bei More statt eines »göttlichen Zeichens« ein »staatliches Zeichen«, welches hingegen erstaunlich eindeutig begegnet. Auch wenn hier die Betonung auf dem kollektiven Charakter der Einigung über den Suizid des Einzelnen liegt, so benennt er den Suizid auch als einen Akt der Befreiung und die vorlaufende Verzweiflung und Ausweglosigkeit in ihrer menschlichen Qualität. Allerdings führt bei ihm der Suizid in ein ewiges Leben, welches sogar direkt mit dem Leben auf Erden vergleichbar sein soll. Vor diesem Hintergrund eines komparativen Verständnisses von Leben und Tod kann aber das Leben eigentlich nur verlieren. Denn es stellt sich streng genommen die Frage, inwiefern die Qual und Tortur des alltäglichen Lebens auf Erden so selten sein soll, dass sich dem betreffenden Menschen nur ganz ausnahmsweise die Frage nach dem Suizid stellt. Könnte nicht vielmehr jede Beschränkung oder Behinderung, jede negativ bewertete Verfassung und jedes ängstliche, traurige und schmerzhafte Befinden als eine solche Gelegenheit begegnen? Ganz offenbar findet sich also More in demselbem Problem wieder, welches bereits Platon beschäftigt hatte: Wie kann die scheinbar naheliegende Schlussfolgerung, den Tod so rasch wie möglich zu suchen, 173 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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abgewendet werden? Es ist durchaus naheliegend, in diesem Problem den Hintergrund für die moresche Darstellung eines elaborierten gesellschaftlichen Rituals zu sehen, in welchem sich dann die verschiedenen Personen über die Vernünftigkeit der Begründung einig werden sollen. Dies zeigt, dass auch im humanistischen Menschenbild sehr unterschiedliche Verständnisse des Suizids diskutiert werden können. Letztlich ist aber More der Ansicht, dass dem Menschen in bestimmten Situationen der Suizid als Option zur Verfügung steht, womit er trotz seines Unsterblichkeitsglaubens und seiner eigenen religiösen Haltung der kirchlichen Position diametral gegenübersteht. Entsprechend dieser humanistischen Bewegungen steuert die Kirche hinsichtlich des Verständnisses der Möglichkeit, sich töten zu können, gegen. Sie greift in den religiösen Wirren der frühen Neuzeit intensiver als zuvor auf das Verständnis der suizidalen Erfahrung als »teuflische Verzweiflung« zurück, steht aber auch in ihrem Bemühen um einen langfristigen Einfluss mit ihrem bildlichen Mittel des einsam aufgehängten Judas gegen die emotional anrührenden Darstellungen entblößter, von Scham und Trauer überwältigter Frauen wie Lucretia, Cleopatra, Sophonsiba und Dido in der sich formierenden Öffentlichkeit auf verlorenem Posten (Brown 2001, S. 91 ff.). »Es lässt sich sogar eine gewisse Verhärtung erkennen. Für die Katholiken wie für die Lutheraner, die Calvinisten und die Anglikaner ist der Selbstmord ein teuflischer Akt und findet daher Eingang ins Arsenal der religiösen Kämpfe: eine große Anzahl von Selbstmorden beim Feind ist ein Beweis für den satanischen Charakter seiner Sache; seine Anhänger werden vom Teufel gepackt und in die Verzweiflung getrieben.« (Minois 1996, S. 107) Beispielhaft sei hier das Verständnis von Juan de Ávila (1569) erwähnt: »Der Teufel ruft uns durch eine List […] alle Sünden, die wir begangen haben, ins Gedächtnis und vergrößert sie, soviel er nur vermag, damit wir uns darüber entsetzen und wie unter einer ungeheuer schweren Last mutlos niedersinken und verzweifeln. So verfuhr er mit Judas. Er verhüllte ihm die Größe seiner Sünde, als er ihn drängte, sie zu begehen; doch nachher, da zeigte er sie ihm in all ihrem Grauen und hinderte ihn zugleich, sich des unendlichen Erbarmens Gottes zu erinnern, so dass er in Verzweiflung geriet und durch die Verzweiflung in die Hölle stürzte.« (zit. nach Minois) Insbesondere Martin Luther (1483–1546) sowie andere protestantische Reformer und Gegenreformatoren kritisieren die Wiederkehr der antiken Tradition, die den Blick auf das Teuflische der Verzweiflung und den daran 174 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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hängenden Suizid verschleiere. So schreibt Luther in einem Brief am 1. Dezember 1544: »Die Welt verdient wohl solche Mahnungen, da sie epikurisiert und meint, der Dämon sei nichts.« (Luther 1947, Nr. 4046) So gewinnt das Verständnis der suizidalen Erfahrung als »teuflische Verzweiflung« bzw. »dämonische Besessenheit« mit der Konfessionalisierung der Kirchen im einfachen Volk an Dominanz (MacDonald/ Murphy 1990, S. 75 f.). In den Schichten humanistischer Bildung erlangt zwar die Verzweiflung vorwiegend einen menschlichen Charakter, zunehmend aber gewinnt auch das zweite Verständnis des Sichtöten-könnens des Hochmittelalters an Bedeutung: Suizid als Ausdruck des Wahnsinns und der Melancholie. Parallel behauptet sich in philosophisch-humanistischer Hinsicht aber insbesondere das stoische Modell, in welchem der Suizid als eine menschlich verfügbare Option verstanden wird und, wie im Bild »Der sterbende Seneca« (1608) von Peter Paul Rubens (1577–1640), sogar eine christlich gefärbte Verklärung erfährt (Maurach 1991, S. 48 ff.; Brown 2001, S. 108 f.). Sowohl das Sich-den-Tod-geben in seiner Verfügbarkeit als auch der eigene Tod (als er selbst) in seiner Unverfügbarkeit gewinnen in diesen Verständnissen eine wichtige Funktion in der Lebensführung des einzelnen Menschen. Diese verwirrende Melange an Verständnissen findet keine einfache und klare Linie, sondern steigert sich um 1600 zu einer Hinund Hergerissenheit zwischen einem Ausharren im Leben oder dem Suizid. Der Mensch scheint in dieser Zeit, so er die antike Tradition aufgenommen hat, förmlich zwischen Leben und Tod zu schweben. Vorbei scheint die Sicherheit des ewigen Lebens, welches durch die Rettung Gottes erreichbar wäre, vorbei ist aber auch das demütige Ertragen der irdischen Zwänge und Grenzen. Wirtschaftliche und soziale Krisen zeigen den Menschen als ein Wesen, welches in seinem Elend (miseria) haltlos und von animalischen Kräften umhergetrieben ein schwächliches und trauriges, geradezu unsittliches Leben führt. Dennoch gilt der Anspruch, dass das Irdische selbst göttlich glänzend werden soll und dass es der Mensch ist, der diesen Glanz hervortreiben kann und muss. Wie aber kann in den Zwängen des Irdischen die Freiheit, die noch nicht ist, herausspringen? Diese Frage ist von bedrängender Aktualität und Bedeutung, zeigt sich doch, dass auch der humanistische Mensch keineswegs immer in den Glanz der vollen menschlichen Würde hineinfindet.

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3.2.

Michel de Montaigne

Der Humanismus ist eine europaweite, wenn auch heterogene Bewegung. So findet sich in Frankreich im 14. und 15. Jahrhundert beim Adel, den höfischen und geistigen Eliten und Gelehrten zunächst vor allem eine »neue Form« des Denkens, die zuweilen wie eine antikisierende Verzierung imponiert. Dabei gilt der naheliegende Zusammenhang: »Die Nachahmung der Antike geht den Franzosen nun einmal nicht so leicht von der Hand wie den unter toskanischem Himmel oder im Schatten des Kolosseums Geborenen.« (Huizinga 1975, S. 467) Aber bereits im 16ten Jahrhundert ist dies vollkommen anders, prägen doch gerade die französischen Philosophen wie Michel de Montaigne (1533–1592) und René Descartes (1596–1650) europäische Denkströmungen der nachfolgenden Generationen. Montaigne kann dabei als einer der herausragendsten Vertreter des Humanismus angesehen werden. Viel zitiert ist auch seine Erfindungsleistung des literarischen Genres des Essays, welches nach seinen 1580 veröffentlichten »Essais« benannt ist. Michel de Montaigne wird 1533 auf dem Stammsitz seines Geschlechts in Montaigne geboren. Er entstammt der hohen »Noblesse de robe«, einem Ämter vererbenden Amtsadel. Sein Vater, Pierre Eyquem (1495–1568), war wohlhabender Kaufmann und hoher Richter am Parlament von Bordeaux (dem obersten Gerichtshof der Aquitaine), eine Position, die Montaigne nach dem Tod des Vaters übernimmt, nachdem er bereits seit 1557 auf Betreiben seines Vaters als Parlamentsrat in Bordeaux tätig ist. Sein Vater und seine Mutter Antoinette de Louppes de Villanueva ermöglichen ihm eine hervorragende humanistische Bildung im erst 1533 gegründeten humanistischen Collège de Guyenne in Bordeaux und ein Studium der Rechtswissenschaften in Bordeaux und Toulouse, welches er nach sechs Jahren 1553 abschließt. Seine hervorragende Kenntnis der lateinischen Sprache und antiker Autoren wie beispielsweise Cicero, Plutarch, Seneca und Tacitus drückt sich auch in seinen mit Zitaten gespickten Essais aus (»Für jede Quelle, die ich verwende, verschweige ich zwei.« Montaigne 1988, III, S. 426). Dennoch schreibt er in voller Absicht in französischer Sprache, welche damals als ebenso vergänglich wie ländlich-derb gilt, aber eben deshalb Montaigne gerade auch als »ungestelzt« und »natürlich« begegnet und ihm insofern besser geeignet scheint, um den täuschenden Schleier des »Buchwissens« und der »Schulweisheit« zu zerreißen 176 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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(III, S. 394 ff.). Auch wenn sich Montaigne 1570 ins »Private« zurückzieht und sein Parlamentsamt verkauft, bleibt er dem politischen Leben Frankreichs und seiner Heimat Bordeaux aufs Engste verbunden. So wird er ab 1572 sowohl von Karl IX. (Reg. 1560–1574) und Heinrich III. (Reg. 1574–1589) als auch von Heinrich von Navarra (später als Heinrich IV. zudem König von Navarra und Frankreich, Reg. 1589–1610) jeweils zum königlichen Kammerherrn bestellt und mit politischen Dingen beauftragt. Da Montaigne zudem 1581 zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt wird, ein Amt, welches er bis 1585 ausübt, gerät er entgegen aller Rückzugsbemühungen ins Private in die Wirkungsfelder der französischen Bürger- und Religionskriege (sog. Hugenottenkriege zwischen 1562–1589), welche insbesondere nach der königlich angeordneten Ermordung tausender Hugenotten in Paris (sog. Bartholomäusnacht) am 24. August 1572 neu aufbranden und erst durch den Sieg Heinrichs von Navarra gegen Heinrich III. und Heinrich von Guise entschieden werden. Montaigne verfasst die ersten beiden Bücher seiner Essais in seiner ersten Rückzugsphase zwischen 1571 und 1580, wobei das erste Buch bereits im Ablauf der ersten Jahre und das zweite ab 1577 entsteht (Dechering 2004). In diesen beiden Büchern finden sich die umfangreichsten und spezifischsten Auseinandersetzungen mit dem Thema des Suizids. Dennoch findet sich dieses Thema auch im dritten Buch, das in einer zweiten Rückzugsphase zwischen 1586 und 1587 entsteht, bevor Montaigne erneut in den Strudel der Hugenottenkriege hineingezogen wird. Nachdem ein weiterer Rückzug ins Private gelingt, nimmt Montaigne 1589 die bis heute gültige Überarbeitung seiner Essais vor (Dechering 2004). Am 13. September 1592 stirbt Montaigne neunundfünzigjährig auf seinem Schloß an einer schweren Angina. Montaignes Rückzug ins »Private« ist legendär, findet er doch in dieser Abgrenzung eine Gegenüberstellung seiner Individualität und der Welt, wobei er die »Heuchelei« in den »öffentlichen Tätigkeiten« als Hauptgrund nennt, warum er dem, wie er schreibt, »was mein Stand von mir abverlangt […] soweit ich irgend kann privat« nachkomme (Montaigne 1998, III, S. 18). Wenn auch zu seiner Individualität sein eigens für ihn hergerichtetes Biblitotheks- und Studierzimmer im Turm seines Schlosses sowie die finanzielle Unabhängigkeit eines herrschaftlichen Ländereibesitzers gehören, gewinnt er von dort einen Blick auf die Welt und wird seiner selbst gegenwärtig. Das Hauptthema seines Rückzugs und der Essais ist er selbst, wie Montaigne in der ver177 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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mutlich 1580 geschriebenen Vorrede »An den Leser« ausführt: »Ich selbst, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs.« (Montaigne 1998, I, o. P.) Dabei sind die Essais ebenso ein identitätsstiftender künstlerischer Prozess für Montaigne selbst wie auch die Gestaltung eines ungeschminkten Denkmals, in denen sich dieser Mensch umfassend und skeptisch gewahr wird im Angesicht des seelenauslöschenden Todes, obwohl der Mensch die Differenz zwischen dem dies gewahr werdenden Bewusstsein und der vergegenwärtigten Person niemals vollständig zu überwinden vermag (Starobinski 2002, S. 53 f. u. 62 ff.). Die eigene Lebensführung wird so zum Prozess der Identitätsstiftung, vermittelt durch die »Sich-selbst-Gegenwärtigkeit« (Starobinski) im Angesicht des eigenen Todes bzw. der eigenen Sterblichkeit. »Das Ziel unserer Laufbahn ist der Tod – auf ihn sind unweigerlich unsere Blicke gerichtet.« (Montaigne 1988, I, S. 129) Montaigne geht es folglich in seinen Essais um eine »Lebenskunst«, die er ausgehend von seiner humanistischen Bildung im Rückgriff auf die antike Philosophie – und hier insbesondere die stoische und epikureische Tradition – entwickelt. Der initiale Ansatz hierfür ist aber nicht ein philosophisches Interesse. Montaigne greift vielmehr gezwungenermaßen auf die antiken Weisheitslehren zurück, wobei der Zwang aus ihm selbst heraus und völlig unerwartet entsteht. Denn initial zieht sich Montaigne entsprechend seines Wunsches nach »Ruhe und Muße« ins Private zurück, wie die lateinische Inschrift verrät, die er an der Wand seines Bibliothekszimmers anbringen lässt: »Im Jahre des Heils 1571, im 38. Lebensjahr, am 28. Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michael Montaigne, schon lange müde des Dienstes bei Gericht und in öffentlichen Ämtern, in voller Manneskraft in den Schoß der gelehrten Jungfrauen zurückgezogen, um in Ruhe und aller Sorgen ledig, wenn es das Schicksal ihm vergönnt, den kleinen Rest seines schon zum großen Teil verflossenen Lebens zu vollenden; er hat diese Stätte, diesen teueren von seinen Ahnen ererbten Zufluchtsort, seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht.« (zit. nach Dechering 2004). Der Rückzug aus den trügerischen Intrigen und Verstellungen der öffentlichen Welt führt ihn jedoch in neue und ungeahnte Schwierigkeiten, wie er in seinem Essay »Über den Müßiggang« im ersten Buch mitteilt: »Als ich mich kürzlich nach Hause zurückzog, entschlossen, mich künftig so weit wie möglich mit nichts anderem abzugeben, als das Wenige, was mir noch

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an Leben bleibt, in Ruhe und für mich zu verbringen, schien mir, ich könnte meinem Geist keinen größeren Gefallen tun, als ihn in voller Muße bei sich Einkehr halten und gleichmütg mit sich selbst beschäftigen zu lassen – hoffte ich doch, daß ihm das nunmehr, da er mit der Zeit gesetzter und reifer geworden ist, leichter fallen werde. Nun aber sehe ich, daß umgekehrt der Geist, vom Müßiggang verwirrt, zum ruhelosen Irrlicht wird; wie ein durchgegangnes Pferd macht er sich heute hundertmal mehr zu schaffen als zuvor, da er für andre tätig war; und er gebiert mir soviel Schimären und phantastische Ungeheuer, immer neue, ohne Sinn und Verstand, daß ich, um ihre Abwegigkeit und Rätselhaftigkeit mir mit Gelassenheit betrachten zu können, über sie Buch zu führen begonnen habe. So hoffe ich, ihn mit der Zeit dahin zu bringen, daß er sich selbst ihrer schämt.« (Montaigne 1998, I, S. 50 f.)

Montaigne beginnt seine Essais aus der Notwendigkeit heraus, das Gewahrwerden seiner selbst so zu ordnen und mit sich so in Einklang zu bringen, dass er sich selbst mit Gelassenheit betrachten kann. In seinem Bemühen, zur Gelassenheit zu gelangen, muss er dabei einen unvorhergesehenen Umweg über sich selbst nehmen. Diesen Umweg vollzieht er mit seinem Buch (»Wir gehen Hand in Hand und im gleichen Schritt: mein Buch und ich« III, S. 35) im Rückgriff auf die antike Philosophie – hier ist für unser Thema der suizidalen Erfahrung insbesondere die stoische Philosophie Senecas und die Überlieferung Ciceros erwähnenswert – in einer schreibenden Selbstdarstellung. Dabei bemüht er sich, seine skeptische Grundhaltung und seine Überzeugung von Freiheit und Würde des einzelnen Menschen auszusöhnen. Der Prüfstein dieser Aussöhnung ist der eigene Tod, der dementsprechend eine herausragende Stellung im Denken Montaignes einnimmt (Starobinski 2002, bes. S. 85 ff. u. 94 ff.). Denn insbesondere im Sterben zeigt sich für Montaigne, ob ein Mensch tatsächlich in Übereinstimmung mit sich selbst gelebt hat oder aber ob er sich Zeit seines Lebens nur mehr oder weniger geschickt verstellt hat. Die Gretchenfrage ist dabei, ob die Art und Weise des Sterbens und die Art und Weise des Lebens miteinander übereinstimmen oder nicht. Auch in dieser Frage sieht sich Montaigne in einer Linie mit der stoischen Philosophie: »Ich habe, wie ich bereits anderswo sagte, für mein Teil schlicht und einfach den Leitsatz der Alten übernommen, daß wir nicht fehlen können, wenn wir der Natur folgen, und daß das oberste Gebot deshalb darin besteht, ihr gemäß zu leben.« (Montaigne 1998, III, S. 431) Dieser Ansatz, der dem Gedanken des »Lebens in Übereinstimmung mit der Natur« folgt, setzt wie die stoische Philosophie 179 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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an der inneren Einstellung an. Dieses Thema greift Montaigne bereits dezidiert im ersten Buch seiner Essais auf (I, S. 78 ff.), wo er ausführt, dass es »unsere Vorstellungen sind, die den Dingen ihren Wert geben« (I, S. 97) und es insofern von uns abhängt, den Dingen »einen anderen Geschmack oder ein anderes Gesicht« (I, S. 79) zu geben. Zwar formuliert er im dritten Buch seiner Essais diese radikale These etwas differenzierter und betont die Abhängigkeit des eigenen Glücks und Wohlbefindens von den äußeren Umständen: »Wir vermögen nicht alles. So oder so müssen wir unser Schiff oft der alleinigen Führung des Himmels anvertraun. Sie ist unser letzter Rettungsanker.« (III, S. 26) Letztlich aber hält er sich gerade angesichts der widrigen und zumeist unbeherrschbaren äußeren Umstände in der Welt an sich selbst. Hierin erkennt er die »wahre Freiheit«, da er über sich selbst – und damit meint er konkret seine eigene Einstellung den Dingen und seinem Schicksal gegenüber – »alles vermag« (III, S. 407 ff.; vgl. auch III, S. 433 ff.). Bezeichnenderweise zeigt sich auch hier der Tod als der entscheidende Nachweis dafür, dass diese Lehre keine »besserwisserische« Veranstaltung lebensfremder Philosophen ist, sondern dass sie im Gegenteil eine entschiedene Zuwendung zum naturgemäßen, einfachen und praktikablen Leben darstellt (III, S. 411 ff.). Dabei gilt die Dialektik, dass es zunächst erforderlich ist, sich der eigenen Sterblichkeit zu vergewissern, um sich aus dieser Selbstvergewisserung heraus dem Leben zuzuwenden und das Leben auf eine Art und Weise zu führen, in dem der Sinn des eigenen Lebens in ihm selbst aufgefunden wird. Denn das Leben »muss auf sich selbst gerichtet sein, sich selber wollen« (III, S. 418). So führt dieser Durchgang durch die Selbstvergewisserung als sterbliches Wesen in eine entschiedene, durchaus humanistische Zuwendung zum Leben selbst, dem die ganze Würde bereits und gerade in seiner irdischen und unperfekten Art und Weise (»Dabei habe ich keine bloß äußeren Makel, sondern ich bin in der Wolle makelhaft gefärbt« III, S. 48) zuerkannt werden kann: »Haben wir nicht zu leben gewusst, ist es abwegig, uns sterben zu lehren und so das Ende dem Ganzen zu entfremden. Haben wir jedoch ruhig und standhaft zu leben gewusst, werden wir gleicherweise zu sterben wissen.« (III, S. 417) Sicherlich, Montaigne spielt hier mit den Worten, denn der Mensch muss das Sterben ja nicht lernen, ebensowenig wie er streng verstanden lernen muss zu leben. Ist doch zu leben die ungefragte Voraussetzung dieses Lernens. Montaignes Lehre läuft demnach auf eine besondere Art und Weise zu leben hinaus, welche sich vor allem durch 180 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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eine spezifische innere Einstellung auszeichnet. Ein solches Lernen geschieht im selbstvergewissernden Nachahmen großer Vorbilder (»innerer Leitbilder« III, S. 38) – Montaigne nennt hier verschiedene antike Vorbilder wie Cato, Epiaminondas oder Sokrates – und im Wissen um die eigene Unvollkommenheit. Dieses Selbstvergewissern gelingt ihm persönlich in seinen Essais, die zunächst ein »Protokoll unterschiedlicher und wechselhafter Geschehnisse sowie unfertiger und mitunter gegensätzlicher Gedanken« sind, dann aber doch die Bildung der eigenen Identität ermöglichen, da alle protokollierten Gedanken und Geschehnisse darin übereinstimmen, dass sie von ihm selbst gedacht oder erlebt worden sind (III, S. 33). Montaigne gelingt demnach das Ausprägen einer Identität abseits der öffentlichen (»trügerischen«) und zur Verstellung auffordernden Situationen, indem er seine Gedanken und Erlebnisse auf die großen tugendhaften Vorbilder bezieht and an ihnen bemisst. Zugleich differenziert sich in diesem Prozess des steten Abmessens der eigenen Gedanken und Handlungen an den antiken Vorbildern sein Gewissen. Im Weiteren nun spielt dieses ausdifferenzierte Gewissen für die eigene Identitätsbildung wiederum eine herausragende Rolle, da es letztlich gerade das Gewissen ist, welches die Verlässlichkeit und Kontinuität des Betreffenden insbesondere auch im Miteinander mit anderen Menschen ermöglicht und erzwingt. Dies aber erreicht das Gewissen ganz ohne eine bewusst gefasste Absicht (II, S. 58 ff.). Denn die »Macht des Gewissens treibt uns dazu, daß wir in eigner Person uns verraten, anklagen und bekämpfen, und wenn sie keine andren Zeugen findet, ruft sie uns selbst wider uns auf.« (II, S. 59) Angesichts dieser Macht des Gewissens ist es für Montaigne naheliegenderweise empfehlenswert, immer und unter allen Umständen das tugendhaft Rechte zu tun, auch wenn einen das Nützliche (aber Unrechte) zunächst weiter gebracht hätte (III, S. 22 ff.). Dabei bezieht sich die Macht des Gewissens aber nur auf die Dinge, die in der eigenen Macht stehen (III, S. 47). Kann man doch anderes nicht wahrhaft bereuen. Erneut gilt es also herauszufinden, was in der eigenen Macht steht. Denn nur so kann der Mensch dem Ziel der montaigneschen Lebensführung gemäß dem sokratischen Ideal (»Das menschliche Leben gemäß seiner natürlichen Bestimmung führen.« III, S. 41) nahekommen, welches eine solche unverstellte Identität auszubilden sich bemüht, die zudem der eigenen naturgegebenen »Grundform« entspricht (III, S. 43). 181 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Es geht Montaigne folglich um das Ablassen von der Verstellung, die manche Menschen im Miteinander mit anderen Menschen und sich selbst betreiben. Gerade die fehlende Verstellung und die Übereinstimmung des Handelns und des Denkens in einer betreffenden Person gelten ihm als tugend- und beispielhaft. Entsprechend hat auch für Montaigne die Aussage eines Menschen mehr »Gewicht und Überzeugungskraft«, wenn er von etwas erzählt, von dem er durch spezifische Lebenserfahrung nachgewiesenermaßen Kennntis für sich beanspruchen darf (II, S. 579). Allerdings geht es bei dieser Übereinstimmung um eine, die in der Macht des betreffenden Menschen steht. Diese Macht ist dem Menschen bekanntlich bei vielen wichtigen (weltlichen) Geschehnissen – wie Krankheit und Tod – nicht gegeben, besteht aber in Montaignes Verständnis umfassend für die Art und Weise, wie der Mensch diesen Geschehnissen begegnet. Letztlich geht es also in der montaigneschen Lebensführung um eine Übereinstimmung der inneren Einstellung des Menschen im zeitlichen Verlauf des eigenen Lebens. Dementsprechend unterwirft Montaigne auch die Gesamtbeurteilung einer Person der Art und Weise ihres Sterbens: »Schon aus den Beispielen, mit denen ich meinen Text vollpfropfe, geht ja hervor, daß diesem Gegenstand meine besondere Liebe gilt.« (I, S. 138). Dabei lobt er »gut durchdachte und seelisch verarbeitete Tode« (II, S. 425): »Wenn ich das Leben eines andern beurteilen will, sehe ich mir immer an, wie sein Ende verlaufen ist; und was mein eigenes betrifft, richte ich mein Sinnen und Trachten vornehmlich darauf, daß es gut verlaufen möge, das heißt ruhig und in aller Stille.« (I, S. 125) In diesem Sinne erwartet Montaigne vom Menschen eine besondere Art und Weise zu sterben, nämlich eine Art und Weise, die dem eigenen Leben in seiner Gelassenheit angemessen ist. Als herausragendes Beispiel benennt er (wieder einmal) Sokrates, der nach Verkündigung seines Todesurteils dem Tod dreißig Tage offenen Auges entgegenblickte und ihn »in sichrer Erwartung des Kommenden innerlich verarbeitete« (II, S. 422). Dieser »gelaßnen und ruhigen Art«, dem eigenen Tod zu begegnen, entspricht für Montaigne eben gerade die »ruhige und gelaßne Art«, wie Sokrates lebte (III, S. 419 ff.). Noch bedeutsamer und als »Inbegriff der Tugend« nennt er (ebenfalls zum wiederholten Male) Cato, der nach seinem zunächst missglückten Suizidversuch schwer verletzt Zeit hatte, »dem Tod ins Auge zu sehn und ihn an der Gurgel zu packen«, nur um dann einen tödlichen zweiten Suizidversuch zu unternehmen, über den Montaigne urteilt: »dieser 182 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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zweite Selbstmord war weitaus überwältigender als der erste.« (II, S. 425) Ganz offenbar ist es der montaignesche Inbegriff der Tugend, auf die Art und Weise zu sterben, wie man auch gelebt hat. Tugendhaft zu leben bedeutet demnach für Montaigne, aus einer übereinstimmenden inneren Einstellung die weltlichen Ereignisse und Geschehnisse entgegenzunehmen, die den antiken Vorbildern entspricht und insofern ganz beiläufig einen stoischen Charakter erhalten hat (sind doch Montaignes Vorbilder weitgehend aus einer stoisch oder epikureisch gefärbten Überlieferung entnommen). Nun ist aber für Montaigne diese »gelaßne Art« wiederum durch die ständige gedankliche Vorstellung des unentrinnbar nahenden eigenen Todes bedroht, wohingegen der »einfache Bauer«, der über sein Leben nicht weiter nachdenkt, genau diese »gelaßne Art« von Natur aus habe (III, S. 417 ff.). Sicherlich handelt es sich hier um eine Idealisierung. Aber der Hintergedanke liegt dabei nicht in einer Romantisierung des einfachen Landlebens, sondern in der zwiespältigen Position, die der Tod im Denken Montaignes annimmt (Starobinski 2002, S. 120 ff.). Da es auf der einen Seite um die besondere Qualität des Todes als einmaliges, endgültiges und unverfügbares Ereignis geht, andererseits aber gerade das eigene Sterben gelassen betrieben werden soll, so als wäre der Tod weder etwas Besonderes, noch etwas Unwiederbringliches oder gar dem eigenen Handeln Enteignetes, gerät Montaigne auf den ersten Blick immer wieder in scheinbare Widersprüche. Letztlich entpuppt sich dieser Widerspruch aber als ein dialektischer Zusammenhang, in dem es vor allem darum geht, die »naturgemäße innere Einstellung« zu gewinnen und dauerhaft in allen möglichen Situationen durchzuhalten, wobei die Krönung eben gerade das Durchhalten dieser Einstellung im eigenen Sterben ist. Folgerichtig bemüht sich Montaigne in einem ersten Schritt darum, dem Tod seinen Schrecken zu nehmen. Dabei gilt der Zusammenhang, dass der Tod selbst »sekundenschnell« vorübergeht, uns aber als vorgestelltes »Denkbild« erschreckt: »Nach meiner Erfahrung macht uns nämlich erst die Unerträglichkeit unserer Vorstellung vom Tod seinen Schmerz unerträglich, und wir empfinden diesen als doppelt schmerzlich, eben weil er uns den Tod androht.« (I, S. 87; s. auch II, S. 35 ff.) Dennoch sollte man sich – im weiteren Schritt – über den Tod nicht täuschen: »Man kann, ehe es ernst wird, leicht den Wagemutigen spielen.« (II, S. 420) Doch wenn es ernst wird, ist aller vorgetäuschte Schleier weggerissen und jede aufgetragene Schminke weg183 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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gewischt. »In diesem letzten Auftritt jedoch zwischen dem Tod und uns ist es aus mit dem schönen Schein; jetzt gilt es, die Dinge beim Namen zu nennen, jetzt gilt es, vorzuzeigen, was sich an Gutem und Purem auf dem Boden des Topfes findet.« (I, S. 124) Dieses ist der zweite Schritt, der über den ersten hinausgeht und darauf verweist, dass die Einstellung gegenüber dem Tod und nicht der Tod selbst für den Menschen verfügbar ist. Denn, so gibt Montaigne an anderer Stelle zu bedenken, es gibt viele Situationen, in denen einen das »Unvorhergesehene besiegt« und der »Gang des Weltalls« unseren Wünschen entgegenläuft (III, S. 49). Jedoch bleibt Montaigne standhaft und betont, dass die eigene Einstellung den Dingen gegenüber ganz in der Verantwortung des betreffenden Menschen steht (III, S. 48 ff.; s. o.). Deshalb gilt es, die richtige Einstellung in der eigenen Lebensführung konsequent und ohne Ausnahme zu üben – und eben auch hinsichtlich des eigenen Sterbens. Deshalb auch heißt »philosophieren sterben lernen«, welches der dritte Schritt in diesem dialektischen Prozess ist. Insofern bleibt die Gretchenfrage der eigenen Lebensführung, ob die Art und Weise des Sterbens und die Art und Weise des Lebens miteinander übereinstimmen oder nicht. Hintergründig geht es dabei um die Würde des (durch und durch unperfekten) Menschen, die er eben gerade auch im eigenen Sterben zu bewahren und zu beweisen vermag. »Darum bildet diese Schlußszene den Prüfstein, an dem sich alle Handlungen unseres Lebens messen lassen müssen. Sie ist der Tag der Tage, der Richttag aller andern. ›Dieser Tag‹, sagt einer der Alten, ›spricht über all meine vergangnen Jahre das Urteil.‹ Dem Tod stelle ich deshalb die Bewertung der Frucht meines Sinnens und Trachtens anheim. Dann wird sich zeigen, ob meine Worte nur Lippenbekenntnisse sind oder mir aus dem Herzen kommen.« (I, S. 124) Dies ist in gewissem Sinne Seneca pur, der in seinem 26. Brief an Lucilius schreibt: »[…] ille laturus sententiam de omnibus annis meis dies venerit […]« (Seneca 2007, XXVI, 4; jener Tag kommt, der über all meine Jahre das Urteil fällen soll) In diesem Brief findet sich auch die Grundidee von Montaignes spezieller, am eigenen Tod orientierter Dialektik: »Non timide itaque componor ad illum diem quo remotis strophis ac fucis de me iudicaturus sum, utrum, loquar fortia an sentiam, numquid fuerit et mimus quidquid contra fortunam iactavi verborum contumacium.« (XXVI, 4; Unerschrocken bereite ich mich daher auf jenen Tag vor, an dem ich ohne Trug und Schönfärberei mich selbst beurteilen werde, ob ich mannhaft rede oder auch so empfinde, ob am Ende alles nur Heuchelei war oder 184 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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eine Posse, was ich an trotzigen Worten dem Schicksal entgegengeschleudert habe.) Dennoch, auch wenn sich Montaignes Dialektik an Seneca orientiert, greift sie Senecas suizidale Dialektik ganz anders auf. Dies zeigt sich, wenn wir Montaignes Verständnis der suizidalen Erfahrung bzw. der Möglichkeit, sich töten zu können, genauer betrachten. Freilich ist auch in der montaigneschen Lebensführung das Sich-töten-können ein hypomochlion, an dem der betreffende Mensch sich wieder in die gelassene Einstellung den Geschehnissen gegenüber hineinzuhebeln vermag. Aber dies ist nicht nur deshalb ein Dreh- und Angelpunkt, da hier dem Menschen eine fundamentale Freiheit gegenüber den weltlichen Geschehnissen zugeeignet ist, sondern da seine Identitätsstiftung an diesem Punkt anzusetzen vermag. Denn in einem fundamentalen Sinn ist es für Montaigne entscheidend, überhaupt eine Identität zu kreieren, deren Wiedererkennungsdefekt in den eigenen Augen bzw. in der Selbstbetrachtung nicht ein Ausmaß annimmt, dass man seiner nicht mehr sicher sein könnte. Es geht Montaigne tatsächlich darum, überhaupt einen sicheren Hebel zu finden, an dem er sich seiner immer wieder zu vergewissern vermag. Diese Sicherheit findet Montaigne in den Wechselfällen des Lebens einzig in der Beziehung zu sich selbst (vgl. auch Starobinski 2002, S. 30 ff.). Dabei ist die Beziehung zu sich selbst nicht grundsätzlich unstrukturiert, sondern weist im Gegenteil – wie Montaigne durch die mühevolle und zeitraubende Tätigkeit des Aufschreibens und Wiederlesens seiner »unfertigen und widersprüchlichen Gedanken« weiß – bestimmte kenntliche Strukturen auf, welche Montaigne dementsprechend auch immer wieder beschäftigen. So wie er sich immer wieder mit kulturellen (antiken) Beispielen bzw. Vorbildern und dem Gewissen als Maßstäben der Übereinstimmung des eigenen Denkens und Handelns im Durchgang durch seine Situationen auseinandersetzt, beschäftigt er sich auch nahezu ständig mit dem eigenen Tod – und hier eben auch mit dem Suizid – als einem wichtigen strukturellen Merkmal seiner selbst als Mensch. Auszeichnend ist dabei eben, dass der Mensch – im Unterschied zum Tier – um die eigene Sterblichkeit und das Sich-töten-können weiß (Montaigne 1998, III, S. 417). Diese strukturellen Merkmale der Beziehung zu sich selbst sind die Punkte, an denen Montaigne den Hebel seiner Identitätsstiftung abseits der (öffentlichen) trügerischen Vorspiegelungen anzusetzen vermag, da sie im Zu-Sich nicht verloren gehen können und so dem Zu-Sich immer wieder Ankerpunkte ermöglichen. 185 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Diesem Anspruch gemäß setzt sich Montaigne mit dem Suizid auseinander, wobei er diesem Thema neben den vielen verstreuten Erörterungen sogar einen eigenen Essay (»Ein Brauch auf der Insel Keos«) widmet. Dabei geht es Montaigne eben nicht darum, »allzu gierig und bedenkenlos« nach dem Tod zu verlangen. »Nicht alle Widrigkeiten sind es wert, daß man, um ihnen zu entgehen, in den Tod geht. Zudem läßt sich in Anbetracht der vielen jähen Wendungen in den menschlichen Dingen schwer beurteilen, wann wir wirklich am Ende unsrer Hoffnungen sind.« (II, S. 41) Es ist bereits dieser erste Schritt, der uns die identitätsstiftende Bedeutung des Sich-töten-könnens ahnen lässt. Denn es geht nicht darum, übereilt zu handeln. Sondern es geht wieder einmal darum, in Übereinstimmung mit sich selbst im Hinblick auf die eigene Vergangenheit und Identität zu handeln, sich seiner im Angesicht des eigenen Todes zu vergewissern. In dieser Vergewisserung zeigt sich für Montaigne, dass der eigene Tod auch ein »völlig sichrer Hafen« sein kann, der jedem Menschen jederzeit offen steht, wobei gilt: »Der freiwilligste Tod ist der schönste. Das Leben hängt von fremdem Willen ab, der Tod von unserm.« (II, S. 35; vgl. auch Seneca 2007, S. 409). Auch dieser Ausspruch folgt also dem bereits genannten Gedanken Montaignes, dass es ihm um eine dauerhaft mit sich übereinstimmende Lebensführung geht, die sich auch im Angesicht der eigenen Sterblichkeit treu bleiben kann. Wie Montaigne im Weiteren mit Bezug auf verschiedene antike Vorbilder ausführt, hat der Mensch die Freiheit, sterben zu können, wenn er seiner ihm angemessen erscheinenden Art und Weise zu leben im Leben nicht mehr treu bleiben kann. »Das ist gemeint, wenn man sagt, der Weise lebe, solang er solle, nicht aber, solang er könne; und das gnädigste Geschenk der Natur, das uns jeden Grund zur Klage über unser Los nehme, bestehe darin, daß sie uns den Schlüssel zum Weg ins Freie überlassen habe. Sie hat nur einen Eingang ins Leben vorgesehen, aber hunderttausend Ausgänge.« (II, S. 35) So vergewissert sich der einzelne Mensch der Art und Weise, wie er leben möchte, im Angesicht seiner stets verfügbaren Möglichkeit, sich gegebenfalls den Tod geben zu können. Aber, so könnten wir fragen, geht es Montaigne hier nicht primär um die Freiheit des Menschen von seinen weltlichen Geschehnissen, die in seiner Möglichkeit, sich töten zu können, liegt? Sicherlich ist zuzugeben, dass Montaigne diese Freiheit vom Weltlichen nicht leugnet. Aber dennoch ist ihm das Sich-töten-können nicht vorwiegend deshalb bedeutsam. Denn, unbenommen aller unzureichenden Vor186 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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stellungen, die sich die Menschen vom Tod machen, nimmt Montaigne im Rückgriff auf die antike Tradition an, dass mit dem Tod für den Toten selbst alles bedeutungslos wird (I, S. 139). Deshalb ist er der Ansicht: »Die Sicherheit, die Gefühl- und Schmerzlosigkeit, die Befreiung von allen Übeln dieses Lebens, die wir uns mit dem Tod erkaufen, bringen uns keinerlei Gewinn.« (II, S. 39) Die augustinische Gewissheit eines ewigen Lebens nach dem Tode in personaler Kontinuität ist bei Montaigne im Stile der vorchristlichen Antike wieder zerrissen. Müsste Montaigne also nicht einen vernünftigen Maßstab benennen können, nach welchem der betreffende Mensch vernünftig abzuwägen in der Lage ist, wann der Suizid der »vernunftgemäße Weggang« ist und wann er als vernunftwidrig zu gelten hat? Bereits in dieser Frage und diesem Bemühen der Differenzierung zeigt sich aber, dass für Montaigne auch dann der Suizid nicht notwendigerweise als vernünftig angesehen werden muss, wenn der betreffende Mensch suizidal geworden ist. »In der Tat muß die Vernunft, wenn sie nicht ihren Spott mit uns treiben will, allein nach unserer Zufriedenheit trachten und ihr ganzes Bemühen folglich auf nichts anderes richten, als uns gut und fröhlich leben zu lassen, wie die Heilige Schrift sagt. Alle Meinungen der Welt stimmen darin überein, daß das Vergnügtsein unser Ziel sei (wenn sie auch unterschiedliche Wege vorschlagen); sonst würde man sie ja von vornherein verwerfen, denn wer wäre willens, auf jemand zu hören, der es als sein Ziel ausgäbe, uns Missvergnügen und Ungemach zu bereiten?« (I, S. 126) Vor diesem Hintergrund wird klar, dass für Montaigne der Maßstab in der Entscheidung für oder gegen den eigenen Suizid die Frage danach ist, wie der Mensch gerade lebt. Dabei nennt er drei typische Motive für den Suizid, die er in seiner aufwändigen Suche nach Beispielen gefunden hat und die sich allesamt diesem Maßstab unterwerfen. Das erste Motiv ist die Verzweiflung über den Verlust von bzw. das Opfer für etwas, ohne das man nicht leben will: »Von Menschen, die auf tausenderlei Weise ein qualvolles Leben gegen den Tod eingetauscht haben, ist die Geschichte voll.« (II, S. 45) Das zweite Motiv ist die Sehnsucht nach einem Paradies, welches im Irdischen unerreichbar erscheint: »Zuweilen aber wünscht man den Tod auch deswegen herbei, weil man sich durch ihn ein höheres Gut erhofft.« (II, S. 51) Zum Dritten kennzeichnet Montaigne noch eine Weise des Suizids, die in seiner Perspektive gewissermaßen als die höchste Vollendung gelten kann. Es ist der Suizid im hohen Alter angesichts konstanten Glücks und stabi187 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ler Freiheit, da der Mensch in seiner gefundenen Struktur seines Daseins aufhören möchte, ohne nochmals in eine Krise zu stürzen (II, S. 52 f.). Dies ist in Montaignes Sicht kein Suizid aus nichtigem Grund und zudem Ausdruck einer stets verbleibenden menschlichen Freiheit. So fasst er abschließend diesen Maßstab wie folgt zusammen: »Unerträglicher Schmerz und die Befürchtung eines schlimmren Todes scheinen mir die verzeihlichsten Beweggründe für die Selbstentleibung zu sein.« (II, S. 53) Betrachten wir alle genannten Motive, so findet sich jeweils der bereits genannte Aspekt, dass es nicht um konkrete Geschicke oder Umstände, sondern um die Art und Weise geht, wie der jeweilige Mensch lebt und leben möchte. Vernünftigerweise vergewissert sich also der jeweilige Mensch zunächst, wie er zu leben wünscht, bevor er darüber entscheidet, ob er sterben sollte. Die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, sich den Tod geben zu können, zwingt so den Menschen unnachgiebig in die Beziehung mit sich selbst. Montaigne selbst nötigt dieser Auseinandersetzung die ihm vernünftig erscheinende Einsicht ab, dass »die Nützlichkeit des Leben nicht in der Länge, sondern im Gebrauch« liegt (I, S. 145). Montaignes eigener, sowohl philosophischer als auch lebenspraktischer Weg zum Vergnügtsein muss sich also bereits als ein »vergnüglicher« Weg erweisen, wenn er »nützlich« sein soll. Anders gesagt liegt das Glück des Menschen nicht erst in der Vollkommenheit – wie sie ihm die antiken Vorbilder zu präsentieren scheinen –, sondern bereits auf dem Weg dorthin. Denn diese Vollkommenheit kann der Mensch – vielleicht mit Ausnahme der drei von Montaigne stets mit größter Achtung genannten Personen Cato, Epaminondas und Sokrates – im irdischen Leben sowieso nicht verwirklichen, ist er doch »in der Wolle makelhaft gefärbt«. Montaigne erkennt so dank seiner steten Selbstvergewisserung, dass der Mensch gerade darin seine Würde hat, niemals nur Glanz, sondern immer auch Nachtseite dieses Glanzes zu sein. »Einzig, daß nichts gewiß ist, ist gewiß, und daß es nichts Erbärmlicheres gibt als den Menschen und dabei nichts Hochmütigeres.« (II, S. 427) Damit aber erhebt Montaigne letztlich auch die Unbeständigkeit und Haltlosigkeit des jeweiligen Menschen zum Fundament von dessen Würde, die jedoch erst darin menschlich würdig wird, dass sich dieser um eine Kontinuität in der eigenen Wiedererkennung seiner selbst bemüht. Es geht damit aber auch immer darum, in der Beziehung mit sich selbst das Irdische glänzender werden zu lassen und ein »Noch-nicht« zu verwirklichen. 188 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

Selbstverständlich diskutiert Montaigne in dem Essay »Ein Brauch auf der Insel Keos« auch die kirchlichen Argumente, wie sie in kanonisierter Form, und die staatlichen Argumente, wie sie in gesetzlicher Form gegen den Suizid ins Feld geführt werden. »[…] viele sind der Ansicht, daß wir unseren Posten auf dieser Welt nicht ohne ausdrücklichen Befehl dessen verlassen dürfen, der ihn uns zuwies, und daß es folglich Gott zustehe (der uns ja nicht nur um unsertwillen, sondern auch zu seinem Ruhm und zum Dienst am Nächsten hierher entsandt habe), uns den Abschied zu geben, wann immer es ihm gefalle, nicht aber uns, ihn einfach zu nehmen; daß wir wie für uns so auch für unser Land geboren seien und die Gesetze, da sie von uns Rechenschaft darüber verlangten, ob wir sie eingehalten haben, im Falle der Selbstentleibung eben doch gegen uns ein Verfahren wegen Totschlags in Gang setzen könnten, ja, daß wir dann als Fahnenflüchtige nicht nur in dieser, sondern auch in jener Welt bestraft würden.« (II, S. 37) Beide Argumente erscheinen Montaigne nicht stichhaltig, zumal dieser Befehl angesichts des menschlichen Lebens oftmals schlicht unmenschlich ist und es das eigene Leben ist, welches genommen wird (II, S. 37 ff.). Montaigne klagt an dieser Stelle explizit das Recht des einzelnen Menschen ein, über sich und sein Leben selbst zu verfügen. Damit ist aber für Montaigne nicht die Aufforderung zum Suizid verbunden, sondern die Aufforderung, sich seiner selbst gewahr zu werden, gerade auch im Angesicht der eigenen Sterblichkeit und des Sich-töten-könnens. So bleibt es bei der Frage, ob die Art und Weise des Sterbens und die Art und Weise des Lebens miteinander übereinstimmen oder nicht. Es ist eine Frage, welche, wie sich zeigen wird, auch seiner philosophischen Grundhaltung entspricht. Bezweifelt Montaigne doch, ob dem Menschen überhaupt sichere und zutreffende Urteile in der Welt möglich sind. Diese skeptische Grundhaltung bricht an allen Stellen seiner Essais durch. Besonders deutlich wird dies beispielsweise in seinem äußerst kurzen Essay »Wie unser Urteilsvermögen sich selbst behindert«. In diesem ungewöhnlichen Essay nennt Montaigne zwei Beispiele, um diese »Selbstbehinderung unseres Urteilsvermögens« zu demonstrieren. Dabei stellt sich im Verlauf des Lesens tatsächlich eine Verwirrung im Sinne einer »Selbstbehinderung unseres Urteilsvermögens« ein. Denn das erste Beispiel bezieht sich auf die potentielle Unentschiedenheit, wenn ein Mensch zwischen zwei gleich starken Wünschen hin- und hergerissen ist und sich demnach streng genom189 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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men niemals entscheiden könnte (II, S. 426). Da es, wie Montaigne argumentiert, diese Situation erfahrungsgemäß aber auf Dauer nicht gibt, nimmt er an, dass immer Unterscheidungsmerkmale in demjenigen, was uns begegnet, vorhanden sind, so dass wir niemals zwischen zwei identisch wirksamen Bestrebungen stehen, inwiefern letztlich immer eine Entscheidung stattfindet (II, S. 426). Das zweite Beispiel nennt er als ein »anderes Beispiel« für das, was er im vorgehenden demonstriert hat. Es handelt sich dabei um das Paradox, dass ein an allen Stellen gleichstarker Bindfaden niemals reißen könnte, da er dann eigentlich an allen Stellen zugleich reißen müsste (II, S. 426 f.). Die Verwirrung beim Leser – was hat das erste Beispiel eigentlich mit dem Nachfolgenden zu tun? – hat Methode. Denn zielstrebig fährt Montaigne fort, Rätsel der Geometrie als weitere Nachweise für diesselbe Sache anzuführen. Ereignet sich in dieser Verwirrung des Lesers ebenfalls eine »Selbstbehinderung unseres Urteilsvermögens«, so müssen wir fragen, welche Sache Montaigne meint, die hinter diesen rätselhaft unterschiedlichen Beispielen als diesselbe Sache erkennbar ist. Dies ist, wie nicht schwer zu raten ist, die Relativität und Unsicherheit unserer Kenntnisse und unseres Wissens. Sie weist sich sowohl in diesen Beispielen als auch in deren Anordnung und unserer eigenen Verwirrung als Leser nach. In diesem Sinne kulminiert der Essay – nun wiederum folgerichtig und logisch schlüssig – im abschließend zitierten, bereits erwähnten Ausspruch des Plinius: »Einzig, daß nichts gewiß ist, ist gewiß, und daß es nichts Erbärmlicheres gibt als den Menschen und dabei nichts Hochmütigeres.« (II, S. 427). Wenn sich aber unser Urteilsvermögen selbst behindert – indem es falsche Wahrheiten vorspielt oder richtige Lügen auftischt –, so dass wir die Dinge nicht wahrhaft zu erkennen vermögen, so heißt dies für Montaigne nun wiederum nicht, dass es diese Welt, in der wir leben, nicht wirklich gäbe. Die Welt ist für ihn kein Hirngespinst, sondern gerade im Gegenteil: es gibt die wirkliche Welt wirklich, nur sind wir nicht in der Lage, sie auch angemessen zu erkennen: »Gott läßt in seiner grenzenlosen Weisheit nichts entstehn, was nicht gut, wohlgeordnet und allgemeingültig wäre – wir können nur die innren Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten nicht erkennen.« (II, S. 575 f.) Montaigne hält also seine skeptische Grundhaltung gar nicht bis zu letzter Konsequenz durch, würde ihm dies doch abnötigen, auf jegliche fixierende Aussage im Stile der pyrrhonischen Skeptiker zu verzichten. Sicherlich ist auch der zitierte Satz des Plinius (»Einzig, daß 190 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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nichts gewiß ist, ist gewiß, und daß es nichts Erbärmlicheres gibt als den Menschen und dabei nichts Hochmütigeres«) in sich widersprüchlich – die Gewissheit, dass nichts gewiss ist, kann nicht als explizite Gewissheit formuliert werden, wenn sie sich nicht selbst widersprechen soll. Aber, so müsste ein Skeptiker bemerken, inwiefern überhaupt Widerspruchsfreiheit des eigenen Denkens und Lebens geboten ist, kann im skeptischen Denken letztlich ebenfalls nicht endgültig entschieden werden (Hossenfelder 1995, 170 ff.). Freilich ist Montaigne kein Skeptiker in diesem radikalen Sinne, sondern er radikalisiert zunächst nur die Skepsis gegenüber überlieferten Traditionen, Anschauungen und Vorstellungen. Zugleich aber deutet sich bei ihm die versteckte Notwendigkeit des Skeptikers an, eine Welt als wirklich gegeben anzunehmen. Denn, so wäre zu argumentieren: »Die Erscheinungen können aber nur deshalb als einander widersprechend erscheinen, weil sie auf ein identisches Ding bezogen werden. Was ein Phänomen ist, bestimmt sich für die Skepsis aus der Differenz zur Wirklichkeit an sich.« (Rinofner-Kreidl 2003, S. 101) Es ist nun jedoch genau dieser stete Bezug auf eine für den einzelnen Menschen zwar nicht sicher erkennbare, aber doch als gegeben und wirklich vorhanden angenommene Welt, die dem einzelnen Menschen gegenüber steht, welcher die skeptische Grundhaltung Montaignes so überaus virulent für seine Zeitgenossen macht. Sicherlich kann im Sinne der modernen Phänomenologie Edmund Husserls »die Gewissheit gegenwärtiger Erlebnisse als eine vor-epistemische Gewissheit verstanden werden« (S. 106), inwiefern die Phänomenologie dann nach der Weise des Erscheinens fragt und so sogar noch den Hintergrund erschließt, dass überhaupt etwas skeptisch bezweifelt werden kann. Aber Montaigne ist ebensowenig Phänomenologe, wie er fundamentaler Skeptiker im Sinne eines Skeptizismus ist. Er steht aber letztlich am Anfang dieser Bewegungen mit seinem Nachweis, dass es unmöglich ist, aus diesem skeptischen Sich-Befragen überhaupt wieder hinaus und zu ein für alle Mal gültigen, naiv-realistischen Gegenstandsaussagen zu gelangen. Es ist diese skeptische Grundhaltung, die ihn für die Sache der Neuzeit virulent macht. Sie demonstriert nicht nur den Humanismus als eine skeptische (»kritische«) Bewegung, sondern bereitet so auch im weitesten Sinne die Aufklärung vor. Montaigne sieht sich also gezwungen, die Widersprüchlichkeit und Relativität unserer Kenntnisse und unseres Wissens als gegeben zu akzeptieren, ohne eine meditative Abstinenz und aktive Urteilsent191 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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haltung vom Gegebenen durchhalten zu können. So kann er die Relativität des Wissens vor dem Hintergrund der Wechselhaftigkeit der Erscheinungen in der zeitlichen Dauer und der Subjektivität der Vorstellungen in der individuellen Person verstehen. Entsprechend stürzt ihn auch sein eigener Versuch des strengen Rückzugs ins Private, in dem er sich aller Bezüge zur ständig in Täuschungen begriffenen Welt zu enthalten versucht, in neue Unsicherheiten und lässt ihn neue Täuschungen entlarven. Die größte Täuschung, die er dabei entlarvt, ist die Täuschung über sich selbst, welche eben nur im Verlauf und in steter Selbstbegleitung erkannt und entlarvt, aber niemals vollständig umgangen und aufgehoben werden kann. Sein Rückzug ins Private ist demnach das Bemühen um eine Urteilsenthaltung, eine skeptische epoché, ohne in dieser an ein anderes Ende als den eigenen Tod zu kommen. Und es ist diese skeptische Grundhaltung, aus der heraus das Sterben des Menschen für so bedeutsam erklärt werden muss. Denn im Sterben zeigt sich, ob sich der Mensch verstellt hat oder ob er sich selbst treu bleibt. Dabei geht es um die Sicherung der eigenen Identität vor sich selbst. Die eigene Sterblichkeit und das Sich-tötenkönnen sind unverrückbare Angelpunkte in der Beziehung des Menschen zu sich selbst, welche neben dem Gewissen und dem (persönlichen, antiken) Vorbild das einzig Verlässliche sind, das Montaigne immer wieder zu vermitteln vermag, dass es um ihn selbst geht – und nicht beispielsweise um jemand anderen. Dennoch kann personale Identität nur gelingen, wenn der Mensch diese strukturellen Merkmale der Beziehung zu sich selbst als Möglichkeit auch aufzugreifen vermag, um sich darin der Art und Weise zu vergewissern, wie er zu leben wünscht und wie er tatsächlich lebt. Hierzu aber ist eine über die Zeit sich erstreckende, die eigenen Situationen begleitende Weise der Selbstvergewisserung, wie sie Montaigne mit seinen Essais für sich selbst betreibt, geradezu ideal geeignet. Denn hierin kann der Wiedererkennungeffekt sogar noch im Wiedererkennungsdefekt stattfinden. Mit seiner skeptischen Grundhaltung gewinnt Montaigne damit auch betreffend der vorherigen Verständnisse der suizidalen Erfahrung bzw. des Sich-töten-könnens wichtige Einsichten, die die anfänglichen Verwirrungen der Neuzeit auflösen. In einem fundamentalen Sinne weist Montaigne zunächst, Aristoteles vergleichbar, die Möglichkeiten einer komparativen Haltung hinsichtlich des Themas zurück, indem er den Vergleich von Leben und Tod angesichts einer letztlichen Unerkennbarkeit des Todes zurückweist. Im Weiteren benennt er, dass trotz 192 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

aller Versuche die suizidale Erfahrung nicht restlos verstanden werden kann und dass eine allgemeingültige Aussage für oder gegen die ethische Begründung des Suizids nicht gefunden werden kann. Er kennzeichnet zudem, wenn auch eher beiläufig, dass der Suizid zumeist als der Abschluss eines doppelseitigen Prozesses, eines Werdens von Verzweiflung und eines Hoffens auf jenseitige Rettung, verstanden werden kann, in welchem die Möglichkeit des »Noch-nicht« für den suizidalen Menschen dann irgendwann unwiederbringlich verschwunden erscheint. Der Suizid kann somit meistens weder als Momententscheidung im Sinne eines aristotelischen »Kurzschlusses« noch als Entscheidung auf dem Boden eigener wesensmäßiger Unveränderlichkeit wie in Antike und Christentum verstanden werden. Zudem, und hierin ist Montaignes Humanismus vielleicht am deutlichsten zu erkennen, geht er davon aus, dass alles, was in den Suizid treibt, nach dem Suizid nichts mehr zu bedeuten hat. Montaigne sieht kein »Jüngstes Gericht« aufziehen, welches den Sünder abermals verurteilt, und er kann sich auch keinen Hades vorstellen, in welchem der Unvernünftige ewige Qualen zu erdulden hat. Dennoch wird die eigentümliche Hin- und Hergerissenheit, die sich damit im Verständnis der suizidalen Erfahrung als Geschehen eröffnet, von Montaigne nicht zum auszeichnenden Merkmal der suizidalen Erfahrung erhoben. Stattdessen kennzeichnet er das Sich-tötenkönnen als ausgezeichnetes Merkmal, um sich selbst als Mensch darüber zu vergewissern, auf welche Art und Weise man eigentlich sein Leben führen möchte. Das Ziel ist dabei nicht der möglichst rasche Tod, den hat für Montaigne der Mensch sowieso jederzeit zu seiner freien Verfügung, sondern ein möglichst vergnügliches und in sich übereinstimmendes Leben. Als ein solches wiederum weist sich eine Art und Weise zu leben aus, in der sich der Mensch seiner selbst durchgehend und durchsichtig gewahr wird. Die eigene Sterblichkeit und das Sich-töten-können sind dabei nur unverrückbare Eckpunkte des eigenen Zu-sich-verhaltens, an denen die Identitätsstiftung jederzeit im Zu-sich ansetzen kann. Das Sich-töten-können spielt in diesem dialektischen Geschehen folglich die Rolle der ultimativen Selbstvergewisserung. Dies können wir letztlich sogar als eine Zuspitzung der suizidalen Dialektik Senecas verstehen. Denn zwar vermögen, so Seneca, die Leidenschaften und die Unvernunft im Angesicht widriger oder gar unerträglicher Lebensumstände den Menschen zu beherrschen und in die suizidale Verfassung hineinzutreiben, aber das dann not193 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wendige vernünftige Erwägen führt den Menschen streng genommen wieder in die stoische (apathische) Einstellung zurück. In Montaignes Verständnis der suizidalen Erfahrung ist diese Dialektik auf die Beziehung zu sich selbst entkleidet, worin dem Menschen insbesondere in seiner Möglichkeit, sich töten zu können, klar wird, dass es um ihn selbst in seinem einmaligen und unwiederbringlich auslöschbaren Leben geht, welches er im Angesicht seiner Sterblichkeit auf eine Art und Weise leben sollte, die gerade auch in seinem eigenen Sterben ihre Gültigkeit nicht aufgeben muss und sich nicht zu verändern braucht.

3.3.

Späte Neuzeit und Frühaufklärung

Mit der skeptischen Bezweiflung der christlichen Lehre und der sich entwickelnden Humanität der oberen und gelehrten Schichten beginnt sich die Geschichte der Frage nach der suizidalen Erfahrung fortzusetzen. Wie wir bei Montaigne gesehen haben, ist dies zwar nicht die vordringliche Frage, aber durchaus einer ausführlichen Erörterung mit Blick auf die antiken Beispiele wert. »Unerträglicher Schmerz und die Befürchtung eines schlimmren Todes scheinen mir die verzeihlichsten Beweggründe für die Selbstentleibung zu sein.« (Montaigne 1998, II, S. 53) Verständlicherweise müssen sich die Menschen, nachdem Augustins göttliches Suizidverbot brüchig und fragwürdig geworden ist – setzt es doch sowohl den Glauben an einen transzendenten und zugleich personalen Gott als auch an die Erbsünde Adams voraus –, der suizidalen Erfahrung und dem Sich-töten-können nun ohne »Schutzschild« stellen. Insofern ist die Aufklärung auch die Wiederaufnahme der mit Augustin gewissermaßen unterbrochenen Geschichte, die nach dem suizidalen Menschen fragt, der Geschichte also, die die Frage nach der suizidalen Erfahrung stellt. Trotz dieser in den oberen Schichten und Ständen durchaus umfangreichen humanistischen und frühaufklärerischen Bewegung, verbleibt die Möglichkeit, sich töten zu können, für die meisten Menschen im christlichen Verständnis verankert. Dieses ist verständlicherweise vor allem von der Kirche bzw. den Kirchen geprägt. So stellt Minois für das katholische Frankreich dieser Zeit fest: »Die Gefühle der Masse der Gläubigen haben sich nicht verändert. Für sie hat der Selbstmord weiterhin einen finsteren und diabolischen Ruf.« (Minois 1996, S. 173) Zugleich ist diese Zeit auch eine Krise des Humanismus, zumal in kaum einem Staat allseitige Wohlfahrt und 194 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Würdigkeit des menschlichen Lebens herrscht. So finden sich letztlich verschiedene Wege der Aufklärung, welche deutlichere, wenn auch sehr unterschiedliche Verständnisse der suizidalen Erfahrung formulierbar machen. Die den Humanismus bewegende Frage nach der Würde und Freiheit des Menschen, die wir hier mit Baruzzi auf Kant vorweggreifend bereits als die Freiheit der Autonomie benannt hatten, lässt sich letztlich nicht hinreichend im Stile eines Montaigne bzw. im Rückgriff auf antike Schriften und Gedanken und mit einer in sich widersprüchlichen Skepsis gegenüber der gegebenen Situation aufklären. Bei Montaigne sichert der Mensch seine Würde bereits in der Kontinuität der eigenen Wiedererkennung seiner selbst. Faktisch meint dies bei Montaigne selbst hingegen eine elaborierte essaygestützte Selbstbezüglichkeit im Angesicht antiker Vorbilder. Diese exzellent artifizielle Situation ermöglicht es ihm, eine innere Einstellung gegenüber den Geschehnissen und Ereignissen zu gewinnen, die dem Grundgedanken zur Lebensführung insbesondere in der stoischen Philosophie weitgehend entspricht. Montaigne will zwar, »dass man werke und wirke« und ein tätiges Leben führe (Montaigne 1998, I, S. 137), dennoch kann der Zeit- und Ressourcenbedarf dieser würdigen Form der Lebensführung nicht geleugnet werden. Problematisch ist damit auch, dass diese sehr artifizielle Situation nur wenigen Privilegierten zugänglich ist, können einerseits zu dieser Zeit die meisten Menschen der europäischen Länder weder lesen noch schreiben und haben andererseits die meisten Menschen nicht die Muße oder die materiellen Ressourcen, dies zu erlernen oder in montaignesscher Weise anzuwenden. Montaignes antiker Wahlspruch – »Einzig, daß nichts gewiß ist, ist gewiß, und daß es nichts Erbärmlicheres gibt als den Menschen und dabei nichts Hochmütigeres« – ist so für eine weitere Aufklärung des Menschen über sich und seine Natur erstaunlich ungeeignet, lädt er doch angesichts sich verändernder Vorzeichen – zweifelhaft gewordene göttliche Vorsehung, zweifelhaft gewordenes göttliches Heilsversprechen – zum Innehalten, Stehenbleiben und, wenn der Wahlspruch nicht im geradezu postmodernen Sinne in seiner Widersprüchlichkeit als kleiner »Denkanker« genutzt wird, letztlich auch zum Resignieren ein. Nun bietet Montaigne bekanntlich mit seiner skeptischen Grundhaltung selbst das Gegengift für diesen Stillstand an, welches für die Bewegung der Aufklärung entscheidend sein wird. Dieses Gegengift des umfassenden Bezweifelns ergreift auch René Descartes (1596– 195 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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1650), der sich in seinen 1641 erschienenen »Meditationen über die Grundlagen der Philosophie« »endlich gezwungen sieht, zuzugestehen, daß an allem, was ich früher für wahr hielt, zu zweifeln möglich ist und dies nicht aus Unbesonnenheit, sondern aus triftigen und wohlerwogenen Gründen.« (Descartes 1994, I 14) Erst dies bringt Descartes dazu, den denkenden Selbstbezug als das einzige zu belassen, was er schlechterdings nicht bezweifeln könne (II 18). So mündet sein umfassendes Zweifeln in die als sicher angenommene Aussage: »Das Denken ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt werden.« (II 21) Er bestimmt sich fürderhin als »denkendes Ding« (res cogitans) und grenzt sich damit von den Dingen der Außenwelt (res extensa) ab (II 22 ff.). Diese Abgrenzung ist für die weitere, insbesondere naturwissenschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung, da sie zugleich noch eine weitere Schwierigkeit löst, die den Renaissance-Humanismus beschäftigt (s. u.). Denn den Frühaufklärern zeigt sich zunehmend, dass das antike Naturverständnis eines »ethischen Naturalismus« mit dem sich zunehmend erhellenden naturwissenschaftlichen Weltbild unvereinbar ist. Ausgehend von technischen Entwicklungen wie z. B. dem Fernrohr, dem Mikroskop oder auch der Luftpumpe verfeinern sich seit Beginn des 17. Jahrhunderts nicht nur die Beobachtungs- und Messtechniken, sondern es finden sich hiermit auch zunehmend populär akzeptable, vernünftig begründbare Nachweise des heliozentrischen Weltbildes. Dieser Umbruch im frühen 17. Jahrhundert, angestoßen durch Gelehrte wie Nikolaus Kopernikus (1473–1543) und Galileo Galilei (1564– 1642), ist nicht nur mit einer Ausweitung des menschlichen Wissens verbunden, die in eine »Koinzidenz von Naturbeherrschung und wissenschaftlichem Fortschritt mit kultureller Progression und der gemeinwohlorientierten Verbesserung der Lebensverhältnisse« (Müller 2002, S. 37) mündet, sondern ist insbesondere tiefgreifend mit der empirischen Methode verbunden, welche durch Galilei entscheidend mitgeprägt wird. Auch die zunehmende Popularität der sich entwickelnden Naturwissenschaften greift über vorherige Grenzen der Gelehrsamkeit auf andere, vorwiegend städtische Schichten aus, die erst jetzt in den Genuss von Humanitätsfortschritten gelangen und diesen Fortschrittsoptimismus zu teilen beginnen. Wenn jedoch in zunehmendem Maße durch die sich entwickelnde Naturwissenschaft das Gefüge der Natur und des Kosmos nicht nur angeschaut, sondern durchschaut wird, so ernötigt sich ein verändertes 196 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Verständnis des Menschen. Hier ist insbesondere erneut Descartes zu nennen, der 1641 mit seiner Unterscheidung von »res cogitans« und »res extensa« die Differenz von »Subjekt« als denkendes Ding und »Objekt« als vom Subjekt wahrnehmbaren, betrachtbaren und bedenkbaren Gegenstand formuliert (vgl. Descartes 1994, VI 107 u. 110). Denn, wie sich in der Krise des Humanismus zeigt, droht dem Menschen in Folge des Darstellens der kosmologischen, naturgesetzlichen Systeme endgültig die (gerade erst pro- und reklamierte) Freiheit verloren zu gehen. Nicht nur der Verlust der Zentralität der Erde und die Vorstellung einer prinzipiellen Vergleichbarkeit der Erde mit anderen Planeten bedroht die Zentralstellung des christlichen (katholischen, anglikanischen, protestantischen und calvinistischen oder anderweitig reformatorischen) Menschen als Zentrum göttlicher Aufmerksamkeit. Auch in der letztlich experimentellen Einsicht in die Naturgesetzlichkeit des Irdischen und Leiblichen droht (sogar) dem (atheistischen) Menschen, der sich auf eine Freiheit des »Noch-nicht« ausrichtet, alle Offenheit des Zukünftigen in den Zwängen der Gesetze verloren zu gehen. »Und ebenso, wie eine aus Rädern und Gewichten zusammengesetzte Uhr nicht weniger genau alle Gesetze der Natur beobachtet, wenn sie schlecht angefertigt ist und die Stunden nicht richtig anzeigt, als wenn sie in jeder Hinsicht dem Wunsche des Anfertigers genügt, so verhält sich auch der menschliche Körper, wenn ich ihn als eine Art von Maschine betrachte, die aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut so eingerichtet und zusammengesetzt ist, daß, auch wenn gar kein Geist in ihr existierte, sie doch genau diesselben Bewegungen hätte, die jetzt in ihm nicht durch die Herrschaft des Willens und also nicht durch den Geist erfolgen.« (VI 107)

Die besondere Lösung dieser Krise durch Descartes ist die vorgängige Unverbundenheit der materiellen und geistigen Sphäre, wobei der Mensch diesem Gedanken folgend mit seinem Körper den Naturgesetzen unterliegt, mit seinem Geist jedoch Zugang zum Ideensystem hat (VI 109). Gewissermaßen löst Descartes mit seiner Unterscheidung von »res cogitans« und »res extensa« als unverbundene Sphären die Gefahr des Verlusts jeglichen Sinns und jeglicher Bedeutung menschlichen Daseins, wie sie infolge der kosmologischen Systeme der frühen Neuzeit und der sich findenden Einsicht in den Körper und die Natur als mechanischen Gesetzen folgend droht (Rombach 1993, S. 41 f.). Zwar gewinnt der Mensch hierin eine prinzipielle Freiheit aus dem 197 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Stande aufgrund seiner Rationalität, jedoch scheint nun damit der gesunde Verstand zugleich wie »die bestverteilte Sache der Welt, weil jedermann glaube, hinreichend damit versehen zu sein« (Müller 2002, S. 4). Darüber hinaus versetzt Descartes auch die menschliche Kenntnis von der materiell zu verstehenden Welt in die Gefahr des Stillstands. Die Unverbundenheit der beiden Sphären wird jedoch mit Galilei in das produktive Wechselspiel von Hypothese und Experiment weiter verwandelt. Diese Möglichkeit, experimentelle Erfahrungen zur Bestätigung oder Widerlegung theoretischer Hypothesen zu nutzen, setzt die Distanzierung von der alltäglichen Erfahrung im Hinblick auf materielle Gesetzmäßigkeiten voraus. Denn nur die Annahme, dass die materiellen Gesetzmäßigkeiten in den alltäglichen Erfahrungen durch zusätzliche Faktoren verdeckt sind, kann dem Experiment zu seiner zentralen Stellung in den Wissenschaften verhelfen. Diese teilweise Unsichtbarkeit der Welt versteht sich wiederum im Sinne der Gegenüberstellung von »res extensa« und »res cogitans«. Die damit ernötigte Deduktion rationaler Hypothesen und die empirische Verifizierung dieser durch ausgesuchte Erfahrungen – sog. Experimente – ermöglicht so eine völlig ungeahnte wissenschaftliche Dynamik auf dem Boden eines neuen Menschenbildes, die auch heutzutage noch anhält. Descartes aber kennzeichnet hiermit eine menschliche Freiheit aus dem Stande, die sich im freien Leben zeigt und nicht auch – wie beispielsweise in der stoischen Philosophie – im freien bzw. frei verfügbaren Tod. Dieser Wandel ist letztlich tiefgreifend für das Verständnis des Menschen, der Welt und der Transzendenz. Heinrich Rombach versteht diesen Wandel als einen Umbruch im Verständnis des Seins selbst, womit letztlich auch eine veränderte Antwort auf die Frage, »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?«, verbunden ist. Nicht mehr substanzielle Ontologien, wie in Antike oder Christentum, sondern die Systemontologie, wie er dieses neue Verständnis des Seins nennt, ordnen das menschliche (Erfahren und) Verstehen (Rombach 1993, S. 38 ff.). Die existentielle Unsicherheit, die sich angesichts des unsicher gewordenen Zugangs zur Transzendenz zeigt, kann offensichtlich nur im Gedanken der »Selbstbehauptung des Menschen in der Welt, gegenüber Gott, gegenüber sich selbst« (Baruzzi 1993, S. 73), Freiheit als individuelle Autonomie, überwunden werden. Dies zeigt sich Rombach folgend insbesondere darin, dass sich die Menschen der Neuzeit in zunehmendem Maße nicht mehr als Wesen mit unveränderlicher Substanz bzw. unveränderlichem Wesenskern – sei es als 198 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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logos oder als Seele – in Bezogenheit zum Göttlichen beispielsweise als Geschöpf, verstehen. Die aufklärerische Kritik dieser Bezogenheit, in der das Göttliche als menschlich bestimmbarer »Schöpfer und Gott« endgültig ungewiss wird, leistet in herausragender Weise David Hume (1711–1776). In seinem berühmten Aufsatz »Über Wunder« (»Of Miracles« als Bestandteil der Schrift »An Enquiry concerning Human Understanding«, 1746) lehnt der überzeugte Atheist Hume beispielsweise die Existenz von Wundern argumentativ als unglaubwürdig ab. Dies aber nicht deshalb, da sie schlicht unmöglich seien oder/und die (unverletzlichen) Naturgesetze bei ihrem Eintreten verletzen müssten, was gewissermaßen verboten wäre, sondern da sie »wenn sie vorkämen, niemals vernünftigerweise als solche anerkannt werden könnten« (Kulenkampff 1989, S. 149 f.). In der Bestimmung des Wunders als einmaliges, niemals zuvor und niemals wieder eintretendes Ereignis liegt für Hume zugleich dessen umfassende Unglaubwürdigkeit. Schließlich urteilen wir auch hinsichtlich von Wundern entsprechend unserer gewöhnlichen, an wiederkehrenden Mustern orientierten Erfahrung (Hume 1999, S. 171 f.). Hieraus ergibt sich angesichts einer in gewisser Hinsicht einheitlichen Erfahrung aller Menschen, dass ein Wunder notwendig allen Erfahrungen aller Menschen zu allen Zeiten widersprechen müsste (S. 173). Selbst bei ungewöhnlichen und unerklärlichen Ereignissen würden wir dementsprechend allenfalls annehmen, dass es derzeit noch keine mit den Naturgesetzen übereinstimmende Erklärung für dieses bislang einmalige Ereignis gibt (Kulenkampf 1989, S. 151 f.). Dieser Nachweis, dass konkret bestimmte Übernatürlichkeiten als mehr oder weniger elaborierte Produkte des menschlichen Geistes verstanden werden können, zeigt beispielhaft das skeptische Bezweifeln als die Dynamik des Systems, als welches sich der Mensch in der Aufklärung zunehmend zu verstehen beginnt. Ein geistiges System, welches sich selbst in seiner eigenen Gesetzlichkeit durchschaut und zunehmend besser zu durchschauen vermag: die Ontologie der Aufklärung versteht sich insofern als eine Ontologie des Systems. »Aufklärung ist nicht Belehrung von außen, sondern Selbsterhellung des Geistes von innen, Steigerung seiner Autonomie und Apodiktizität. Mit der (forschungsmäßigen) Entwicklung des systemtheoretischen Weltbildes […] musste gleichzeitig eine (ethische) Entwicklung der Autonomie des Menschen einhergehen, die ihn überhaupt erst zu dem geistigen 199 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Wesen machte, das mit dem Entwurf ›Mensch‹ gemeint war.« (Rombach 1993, S. 44). Oder um es mit der berühmten Definition Immanuel Kants (1724–1804) aus der »Berlinischen Monatsschrift« von 1783 über den Begriff der Aufklärung zu sagen: Aufklärung ist der »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«. Der Mensch wird also letztlich und nahezu unwiderstehlich in die Dynamik des Systems hineingerissen, wobei sich ihm zu guter Letzt entdeckt, dass es sowohl um den Erhalt als auch die Fortentwicklung und Ausdifferenzierung dieses Systems, also seiner selbst, geht. Die Frage ist aber berechtigt, wo sich die Freiheit findet, wenn dieses System seine ausdifferenzierte, nur noch um sich selbst kreisende und endgültig fixierte Gestalt gefunden hat. Auf einen solchen fixierten Status zielen die Aufklärer wie Hume oder Kant keineswegs, geht es ihnen doch um die Selbstbestimmung des Einzelnen. Ihr skeptisches Moment bleibt auch hinsichtlich der Aufklärung in Kraft, insofern in der Aufklärung durchaus auch der Anfang der später im 19. Jahrhundert als Liberalismus bezeichneten Bewegung der Freiheit ausgemacht werden kann (Baruzzi 1993, S. 116 ff.). Denn die Aufklärung als Systemontologie westlicher Prägung zielt »auf die Freiheit nicht nur des Menschen als Menschen überhaupt, sondern des Menschen als einzelnen. […] Der Mensch manifestiert sich als Individuum. Dazu gehören dann seine verschiedenen Freiheiten, zunächst und überhaupt ein Individuum zu sein und es in der Welt und ihrer Kultur zu bleiben. Es ist die geforderte Freiheit, die sich dann in den Menschenrechten als Freiheitsrechten niederschlägt.« (S. 117) Diese Freiheit, so Baruzzi, kann zwar als Bestandteil des Systems verstanden werden, muss aber dem sich entwickelnden System immer wieder durch Strukturbrüche abgerungen werden. Denn die Freiheit springt eben gerade nicht aus dem System heraus im Sinne eines deus ex machina, sondern kann nur als das letztlich Unbestimmbare des Daseins in seinem »Noch-nicht« verstanden werden, welches zugleich immer wieder in skeptischer Manier gegen das System eingefordert werden muss. Alle voraussetzungslosen Freiheiten aus dem Stande ermöglichen also letztlich nichts anderes, als das Anvisieren dieses freien »Noch-nicht«. Dabei kann gemäß der Aufklärung, auch in ihrer modernen Gestalt, dieses Anvisieren wiederum systematisch entwickelt werden. Das grundlegend verwandelte Verständnis der Vernunft führt notwendig auch zu einer eindeutigen Differenzierung von Vernunft 200 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

und Wahnsinn, wodurch der Wahnsinn nunmehr schlicht unvernünftig ist (Foucault 1989, S. 70 ff.). Er hat nun keine eigene wahre Aussage mehr und kann dementsprechend zum systematischen Anvisieren der Freiheit des (unvernünftigen) Einzelnen nichts beitragen (Schlimme 2005). Allenfalls kann er noch als der permanente Strukturbruch diskutiert werden, wie in der durch die Romantiker angestoßenen Debatte um »Genie und Wahnsinn« oder später im 20. Jahrhundert einsetzend in der anthropologischen und phänomenologischen Psychiatrie. Dieses neue, aufgeklärte Verständnis des Wahnsinns entspricht und ermöglicht eine andere gesellschaftliche Praxis, in welcher der Wahnsinnige zunehmend in ihm vorbehaltene Internierungshäuser eingeschlossen werden wird, zugleich aber sein Wohlergehen auch eine Aufgabe der anderen sein wird (Blasius 1994, Kaufmann 1995). Dieses Vorgehen basiert in gesellschaftlicher Hinsicht letztlich ebenfalls auf der aufklärerischen Grundidee der Vergesellschaftung, welche als »Chancengleichheit« definiert werden kann. »Der Systemzustand des Einzelnen wird durch ›Aufklärung‹ erreicht, der Systemzustand der Gesellschaft durch ›freien Wettbewerb‹.« (Rombach 1993, S. 46) Unter den Unvernünftigen findet sich – diese Tendenz folgt dem »medizinischen Verständnis« – auch immer häufiger der Suizidale, der einen erfolglosen Suizidversuch hinter sich hat und im »freien Wettbewerb« gescheitert ist. Seine Internierung in diesen Einrichtungen spiegelt die Zuordnung der suizidalen Verfassung und des Suizids zur »neutralen Unvernunft« in der medizinischen Literatur wider, nimmt ihn sowohl aus dem »freien Wettbewerb« heraus als auch in einen meist wohlmeinenden, allerdings oft auch stigmatisierenden Schutzraum hinein. Insgesamt gewinnt das durch das Mittelalter transportierte, aus der Antike herkommende medizinische Verständnis der suizidalen Erfahrung im aufkeimenden, die Aufklärung begleitenden medizinischen Kontext zusätzlich an Bedeutung (Minois 1996, S. 207 ff.).

3.4.

Aufklärung (Hobbes, Kant)

Beim Studium der aufgeklärten Verständnisse der suizidalen Erfahrung und der Möglichkeit, sich töten zu können, fühlt man sich zuweilen an die Antike erinnert. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Verständnisse zeigt nicht nur die Aufklärung als eine vielfältige, bewegte und in den west- und mitteleuropäischen Staaten zeitversetz201 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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te Epoche. Es zeigt auch die im neuen Verständnis des Menschen möglich gewordene Vieldeutigkeit menschlicher Phänomene, welche angesichts des als Korrektiv verstandenen Zweifels durchaus schlüssig erscheint. Dabei gilt es, im Blick zu behalten, dass begleitend zu den aufklärerischen Verständnissen in vielen Gesellschaftsschichten kirchliche Verständnisse prägend bleiben, welche zumeist eine ablehnende und verurteilende Haltung gegenüber dem Suizid einnehmen. So wird beispielsweise auch zu fragen sein, welche Haltung die christlich-religiös fundierten Verständnisse nahelegen, wenn die Vorstellungen der teuflischen Verzweiflung zunehmend unter aufklärerische Kritik geraten. Jedoch ist es zunächst erforderlich, zumindest einige aufgeklärte Verständnisse der suizidalen Erfahrung zu betrachten, wobei der Schwerpunkt auf dem Verständnis der suizidalen Erfahrung bzw. der Möglichkeit, sich töten zu können, bei David Hume liegen wird. Wie bereits angedeutet, nimmt in der Aufklärung die Gesellschaft als eigenes Gebilde einen großen Aufmerksamkeitsraum ein. Dies zunächst schon aus programmatischen Gründen, aber auch durch das sich im Verlauf ihrer Bewegung verstärkte Ausbilden immer umfangreicher werdender (»bürgerlicher«) Öffentlichkeiten, die sich durchaus unter Einbezug vorbestehender repräsentativ höfischer und kirchlicher Öffentlichkeiten entwickeln (Müller 2002, S. 17 ff.). Dies ist insbesondere auch in England der Fall, wo Heinrich VIII. als König der TudorDynastie bereits im 16. Jahrhundert »in seiner Amtsausübung in vielfältiger Weise an die Mitwirkung bzw. zumindest an den Konsens der politischen Nation gebunden war« (Wende 2000, S. 23). Diese politische Nation besteht faktisch aus dem Erbadel und der gehobenen gentry und repräsentiert damit die etwa 2000 Familien, die im lokalen Sinn das politische Leben infolge ihres Landbesitzes oder ihrer Friedensrichtertätigkeit bestimmen und im nationalen Sinn das politische Leben durch das Parlament (Oberhaus und Unterhaus) verfassungsgemäß in weitgehender Unabhängigkeit oder durch ihre Vertretung am Hof in Abhängigkeit der Gunst des Königs mitbestimmen (S. 22 ff.). Besondere Bedeutung hat dabei das Parlament, auf dessen Zustimmung der König in der Gesetzgebung (inklusive der Steuererhebung) angewiesen ist, inwiefern sich der Satz Heinrichs’ VIII. versteht: »We at no time stand so highly in our estate royal as in time of Parliament.« (zit. nach Wende 2000, S. 25) Im 16. Jahrhundert wächst das Wissen um die eigene Stärke im Parlament, das »mit dem Anspruch auftrat, die legitimen Interessen aller Engländer notfalls auch gegen den Herrscher zu 202 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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vertreten« (S. 28). Mitausgelöst durch die geldintensive, expansivkriegerische Außenpolitik des Königs sowie die Wirren des Reformationsprozesses und der sich hierin ergebenden kriegerischen Auseinandersetzung mit Schottland 1639 kommt es schließlich 1642 zur blutigen Konfrontation zwischen Parlament und König. Zwar kann das Parlamentsheer unter Führung von Oliver Cromwell (1599–1658) den Bürgerkrieg bereits 1645 für sich entscheiden, jedoch misslingen die Bemühungen, gemeinsam mit dem geschlagenen König die politische Stabilität wieder herzustellen, so dass 1649 die Republik ausgerufen und Karl I. enthauptet wird (S. 30). Die Republik, politisch und militärisch insbesondere durch Cromwell geleitet, ist letztlich innenpolitisch wenig erfolgreich. Zwar schlägt das Parlamentsheer unter Cromwell das schottische Heer 1651 vernichtend und wirft den irischen Aufstand in den Jahren 1649–53 mit »beispielloser Grausamkeit« nieder (S. 80 f.). Aber bereits 1653 gewinnt die Republik monarchische Züge, indem Cromwell zum Lord Protector erhoben wird, so dass nach seinem Tod die Monarchie durch das letztlich politisch gestärkte Parlament wieder eingerichtet wird (S. 30). In dieser Zeit extrem blutiger Auseinandersetzungen in England publiziert Thomas Hobbes (1588–1679) im Jahre 1651 seinen »Leviathan« in englischer Sprache. In ihm geht es um eine aufgeklärte Staatslehre, wobei er insbesondere in der Teilung der »Gerechtsame der höchsten Gewalt« zwischen dem König, dem Ober- und dem Unterhaus den Hauptgrund für den Bürgerkrieg sieht (Hobbes 1970, S. 164 f.). Im »Leviathan«, den Hobbes schließlich 1668 in lateinischer Sprache überarbeitet erneut veröffentlich, eröffnet er zugleich die Möglichkeit einer aufgeklärten Begründung, den Suizid zu verurteilen, auch wenn er dies nicht selbst explizit formuliert. Dennoch gewinnt das durch ihn ermöglichte Verständnis eine entscheidende kulturelle Bedeutung und gerät in Konkurrenz mit der eher moralischen Verurteilung und Verteufelung des Suizids durch die christlich inspirierten Autoritäten des 17. Jahrhunderts, obwohl Hobbes genaugenommen die kirchliche Doktrin weitgehend neutral thematisiert. Die kulturelle Bedeutung wächst diesem möglichen Verständnis durch das damals zukunftsfähige philosophisch untermauerte Menschenbild im »Leviathan« zu, denn dieses zeigt den Menschen entsprechend des Grundgedankens der Aufklärung als ein entwicklungsfähiges System: »Zuvörderst wird also angenommen, daß alle Menschen ihr ganzes Leben hindurch beständig und unausgesetzt eine Macht nach der ande203 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ren sich zu verschaffen suchen; nicht darum, weil sie nach einer immer größeren Macht als der, welche sie schon besitzen, streben oder sich mit einer mäßigen nicht begnügen können, sondern weil sie ihre gegenwärtige Macht und die Mittel, glücklich zu leben, zu verlieren fürchten, wenn sie sie nicht vermehren.« (S. 90 f.) Hobbes versteht dabei den Menschen als ein Naturwesen, welches sich jedoch infolge seines Verstandes vergesellschaften kann und notgedrungen muss, um seiner Natur gemäßer zu leben. Im Naturzustand – also im vorgesellschaftlichen Zustand – lebt der einzelne Mensch im steten, wölfischen Kampf gegen jeden anderen Menschen, um sein Leben zu erhalten: der Krieg aller gegen alle (S. 115 f.), in Hobbes’ Zeit ein allerdings stattfindendes »republikanisches« Ereignis, welches mit Hobbes als direkter Ausdruck des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens verstanden werden kann. Dieses Selbsterhaltungsstreben versteht Hobbes als das »erste natürliche Gesetz« im Sinne einer »Vorschrift oder allgemeinen Regel, welche die Vernunft lehrt« (S. 118). Hieraus begründet sich das »erste Naturrecht«, welches »die Freiheit (meint J. S.), nach welcher ein jeder zur Erhaltung seiner selbst seine Kräfte beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu beizutragen scheint, tun kann.« (S. 118) Das Selbsterhaltungsstreben versteht sich nach Hobbes also nicht nur als Ausdruck der menschlichen Natur, sondern kann zugleich auch als das vernünftige Gebot erkannt werden, welches außerdem als allgemeine Regel für die Gesellschaft gelten müsste. Diese Einsicht ist jedem einzelnen Menschen infolge seines Verstandes möglich. Damit wird es aber dem einzelnen Menschen ebenfalls möglich, sich im initialen Verzicht auf dieses Naturrecht – Selbsterhaltung um jeden Preis – mit anderen Menschen zusammen zu schließen, um diesem Ziel gemeinsam nachzugehen (S. 155 f.). Die von allen auf den »Leviathan«, den »politischen Körper«, übertragenen Rechte der Selbsterhaltung eines jeden Einzelnen werden nun von dieser Zwangsgewalt im Sinne eines Schutzes des Lebens, einer (zuvor) definierten Freiheit und der Güter wieder an den Einzelnen rückübertragen (S. 156 ff.). Die patriarchalische Fürsorgepflicht des quasi absoluten Herrschers für die Untertanen begründet folglich eine Bilateralität durch die wechselseitige Übertragung des Naturrechts der Selbsterhaltung aufeinander. Hierdurch verpflichtet sich ein jeder dem anderen und es entsteht der Gesellschaftsvertrag. Hobbes formuliert zwar an keiner Stelle explizit eine Ablehnung des Suizids, allerdings ist sie implizit an vielen Stellen herauszulesen. 204 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Dabei finden sich zwei Begründungslinien. Zum einen die Begründungslinie, die sich daraus ergibt, dass im Staat »der Oberherr […] das Recht über Leben und Tod seiner Bürger haben sollte.« (S. 190) Hobbes sieht hierin, wie er ausführlich begründet, keine Beschränkung der »bürgerlichen Freiheit« (S. 190 f.). Denn unbenommen der Übertragung dieses Rechts ist es gerade auch angesichts der »Vertragspflichten« zentral, in allen Handlungen stets den »Zweck der Errichtung des Staates« im Blick zu behalten. »[…] übertrage ich gleich das Recht, mich zu töten, an ihn, so verpflichte ich mich doch dadurch nicht, auf seinen Befehl mich selbst zu töten.« (S. 194) Schließlich, so Hobbes, werden die »Naturgesetze« – hier das Selbsterhaltungsstreben – durch keine »bürgerlichen Gesetze«, wie sie die Zentralgewalt erlassen kann, eingeschränkt (S. 230). An dieser explizit zum Thema sich äußernden Passage wird deutlich, dass Hobbes zunächst anerkennt, dass der Mensch im Prinzip die Freiheit und damit das Recht hätte, sich das Leben zu nehmen. Da er aber sein Recht auf Leben und Tod im Gesellschaftsvertrag an die Zentralgewalt, den »Oberherrn« bzw. »Leviathan« übertragen hat – wofür er bessere Möglichkeiten der gesicherten Lebensführung empfangen hat –, ist sein Verzicht vernünftig und entspricht zudem dem Zweck des Staates, dem er angehört. In dieser aufgeklärten Begründung des staatlichen Suizidverbots ist aber zugleich eine zweite Begründungslinie enthalten, die direkt auf das Selbsterhaltungsstreben dringt. Der Grundgedanke dieser zweiten Begründungslinie ist dabei ebenso schlicht wie einleuchtend: Wenn der Mensch vernünftigerweise als oberstes Gut die Selbsterhaltung einzusehen hat, dann ist der Suizid schlicht unvernünftig. Diese Begründungslinie greift den Unterschied von »Recht« als einer »Freiheit zu« und »Gesetz« als vernünftig erkennbare »Verpflichtung zu« auf. So hat der Mensch zwar das Recht, sich das Leben zu nehmen, aber es widerstreitet dem »ersten Naturgesetz«, dem Selbsterhaltungsstreben, welches jeder Mensch vernünftig einzusehen vermag. Zwar wird dadurch der Selbsterhalt noch nicht zur sittlichen Pflicht, aber er zeigt sich als vernünftig, da er dem natürlichen Selbsterhaltungsstreben entspricht. Hobbes illustriert diesen Begründungszusammenhang sehr deutlich am Beispiel eines Kriegsgefangenen, dem jedes Mittel zum Erhalt und zur Verlängerung des eigenen Lebens erlaubt ist: »Wer als Kriegsgefangener oder auf sonst eine Art sich in der Feinde Gewalt befindet, d. h. wenn der Feind sich entweder seiner Person oder seiner zum Leben unentbehrlichen Bedürfnisse bemächtigt, er selbst aber nicht durch sei205 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ne eigene Schuld in diesen Zustand geraten ist, dann steht er nicht mehr unter den Gesetzen des bisherigen Staates. Er muß entweder dem Feinde gehorchen oder sterben; auf alle mögliche Weise aber sein Leben zu erhalten ist erlaubt.« (S. 250) Im Gefolge von Hobbes könnte also von einem Primat der Selbsterhaltung gesprochen werden, welches schlüssigerweise den Suizid sogar verbietet (Decher 1999, S. 65). Es verpflichtet nämlich auch denjenigen, der in der Erhaltung seiner selbst nur noch unentrinnbar eintretende oder stets andauernde Entehrung, Schmerz und Verzweiflung zu erkennen vermag. Die besondere Qualität dieses Gebots zum Selbsterhalt ist eben gerade, dass es nicht ein Gott oder ein Staat ist, der hier primär das Suizidverbot begründet, sondern dass es vielmehr die vernünftige Einsicht eines jeden Einzelnen in seine eigene menschliche Natur ist, die die Begründung liefert. Dies gilt sogar, obwohl Hobbes im abschließenden Kapitel des »Leviathan« nochmals darauf hinweist, dass es Gott selbst sei, der »die Übertreter der Gesetze der Natur bestraft« (S. 297). Zu diesen »Übertretern« ist ohne Zweifel auch der durch Selbsttötung gestorbene Mensch zu rechnen, der ja durch den Staat nicht mehr persönlich bestraft werden kann. Zwar verbindet Hobbes hier seinen eigenen Ansatz mit der religiösen Ablehnung des Suizids, dennoch wäre diese Anspielung auf ein Jüngstes Gericht nicht erforderlich, um sein Suizidverbot zu begründen. Auch die gesellschaftliche Vertragsregelung, die das staatliche Suizidverbot ermöglicht, ist für Hobbes Begründung der Unvernünftigkeit des Suizids nicht primär erforderlich, da sich auch dieses Verbot erst aus der Übertragung des individuellen Rechts auf Leben und Tod ermöglicht. Entscheidend ist allein, dass der Tod dem »ersten Naturgesetz« und damit der menschlichen Natur, so wie sie jedem gegeben ist, in ihrer inhärenten Strebensstruktur widerspricht. Diese an sich einfach erscheinende Einsicht ist aber letztlich daran gebunden, dem Leben einen Wert an sich zuzubilligen. Denn nur so kann aus dem Leben selbst eine Begründung gegen den Suizid geschlussfolgert werden, ohne dass das Leben an eine höhere Macht rückgebunden werden muss. Eine durchaus aufklärerische Idee, auch wenn sie sich ansatzweise hinsichtlich des Themas der Selbsttötung bereits bei Paulus findet, obwohl er diesem Gedanken vor dem Hintergrund seines Verständnisses der Seele nicht konsequent folgen konnte. Das hobbessche Verständnis ermöglicht zudem ein nicht-komparatives Verständnis des Suizids, da die Frage, was im Tod sein wird, für die fehlende Vernünftigkeit des Suizids keinerlei Rolle spielt. Eine elegan206 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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te und zudem von religiösen Fragen unabhängige »Lösung«, die letztlich durchaus im Sinne eines jeden regierenden Herrschers ist, egal ob es sich hierbei um einen lokalen Grafen, ein Parlament oder einen absolutistischen Herrscher handelt. Denn jeweils sind diese an arbeitsfähigen, sittsamen und pflichtgetreuen Untertanen interessiert. Dies gilt insbesondere für die sich aufklärenden Herrschaftsformen in den europäischen Staaten, die in einen zunehmenden Wettstreit miteinander geraten, wie beispielsweise das protestantisch-anglikanische England, welches in dieser Zeit in stete kriegerische Auseinandersetzung mit den katholischen Kontinentalreichen Spanien und Frankreich verwickelt ist. In unterschiedlicher Stringenz und Gewichtung wird beispielsweise auch bei John Locke (1632–1704) ein Suizidverbot aus der Verpflichtung, sich selbst zu erhalten, begründet (Decher 1999, S. 65). Locke geht allerdings in Hinsicht der Analyse der Mechanismen menschlichen Zusammenlebens von einer natürlichen und apriorischen, gewissermaßen naturhaften Sittlichkeit des Individuums aus, wobei der Gesellschaftsvertrag eher infolge unvernünftiger Individuen zum Schutze der vernünftigen, gewissermaßen in Aufklärung befindlichen Untertanen von diesen vollzogen werde. In diesem Verständnis steht demnach streng genommen der Verpflichtung des Individuums hinsichtlich seines Staates, dass es keinen Suizid begeht, die Verpflichtung des Staates hinsichtlich seinem Untertanen gegenüber, tatsächlich für die Wohlfahrt des Einzelnen zu sorgen, gerade auch im Hinblick auf eine angemessene Suizidprävention. Diese fürsorglich-suizidpräventive Haltung des Staates gegenüber seinen Bürgern ist zumindest heutzutage in den europäischen Ländern selbstverständlich, auch wenn aspekthaft dieser Konsens in einigen europäischen Staaten wie den Niederlanden und der Schweiz schon wieder brüchig zu werden droht (Küchenhoff 2007; Wedler 2008, S. 326 ff.). Mit dieser suizidprophylaktischen Haltung des Staates geht letztlich aber zugleich eine Aufforderung an das medizinische Verständnis einher, sich um den suizidalen Menschen abseits moralischer Überlegungen in einem therapeutischen Sinne zu bemühen, was sich jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirklich vollziehen wird (vgl. Sonneck 2008). Sicherlich ist Hobbes’ Idee, dass der Mensch primär und vordringlich seinem Selbsterhaltungsstreben folgt, unter zwei Annahmen überzeugend: a) Dieses Streben ist in allen Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen des einzelnen Menschen präsent und kann beispiels207 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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weise, im Sinne eines universales ›Erklärungsprinzips‹, immer (wenn auch zuweilen nur im Rückblick) in allem Verhalten aufgefunden werden. Es wäre dann zwar kein unverbrüchlich wirksames Selbsterhaltungsstreben im Sinne eines allzeit spürbaren Strebens in der jeweiligen Person, aber es könnte dennoch als »natürliche Regel« behauptet werden. b) Der Mensch kann dieses Streben in allen Situationen auch als das Vernünftigste ganz unabhängig von allen anderen Menschen anerkennen und ihm folgen, denn sonst würde er dem Streben nur »blinden (unvernünftigen) Gehorsam« leisten (der Gesellschaftsvertrag könnte dann beispielsweise ebenfalls ein vernunftloses Naturprodukt sein) oder sich gar nicht primär um den Erhalt seines eigenen Lebens kümmern (und unvernünftige Dinge tun, wie beispielsweise seine eigenen Kinder unter Einsatz seines Lebens aus dem brennenden Haus retten). Insbesondere die zweite Annahme ist insofern fragwürdig, da sie das Selbsterhaltungsstreben als das zentrale Merkmal für die Beziehung des Menschen zu sich selbst definiert (und nicht beispielsweise das Streben nach Höherem, einem »guten Leben« o. ä.). Unthematisiert bleibt dabei zudem, inwiefern der Mensch seinen vernünftigen Einsichten auch tatsächlich zu folgen vermag. Dabei stellt sich insbesondere für Hobbes’ Idee des Gesellschaftsvertrags die Frage, was tatsächlich daraus folgt, dass jeder Mensch von Geburt an zumindest in soziale Zusammenhänge in der Form einer Familie eingebunden ist und bleibt und nicht beispielsweise als gereifter Mensch und Parlamentarier im Parlament mit anderen Parlamentariern zusammenkommt. Sicherlich ist das staatliche Interesse an arbeitsfähigen und pflichtgetreuen Untertanen ein besonderes Kennzeichen des aufgeklärten Staates, der zudem in steter Konkurrenz mit seinen Nachbarstaaten steht (Müller 2002, S. 50 ff.). Dies wird aus herrschaftlicher Sicht nochmals besonders deutlich in den ungeheuren Wellen, die »Die Leiden des jungen Werther« nach ihrer Veröffentlichung 1774 in ganz Europa vor allem in der jungen und gebildeten Bevölkerung schlagen. Es herrscht unter den Herrschenden eine regelrechte Angst vor einer »Selbstmordepidemie«, welche allerdings – wie wir heute wissen – nicht stattfand (Steinberg 1999). Das Verbot des Suizids ist aus herrschaftlicher Sicht dringlicher denn je geboten. Aber reicht hierfür die Begründung eines stets wirkenden, hierin vernünftig erkennbaren Selbsterhaltungsstrebens wirklich aus, streben doch die Wertheranhänger nach ganz anderen Zielen als dem nüchtern-puren Selbsterhalt? Es stellt sich also die Frage, ob sich nicht noch eine andere aufgeklär208 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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te Begründung findet, die den Suizid ebenso ablehnt, aber hierzu nicht die Annahme eines Selbsterhaltungsstrebens als wesentliches Merkmal der Beziehung mit sich selbst treffen muss. Ein solches Verständnis findet sich bei Immanuel Kant (1724–1804). Kant lehnt in seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) und in seiner »Metaphysik der Sitten« (1797) den Suizid als einen Verstoß gegen die vollkommene oder strikte Pflicht des Menschen gegen sich selbst ab. Dabei geht es hierbei nicht um eine Pflichtverletzung gegen Gott, andere Menschen, gegen die gesetzliche Obrigkeit oder das Selbsterhaltungsstreben, sondern einzig und allein um eine Pflichtverletzung vor sich selbst, wie er in der »Metaphysik der Sitten« hinsichtlich der vollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst ausführt: »Die […] erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst in der Qualität seiner Thierheit ist die Selbsterhaltung in seiner animalischen Natur.« (Kant 1968, S. 421) Kant begründet diese Pflicht aus der Beziehung, die der Mensch zu sich selbst eingeht. Dabei ist diese Beziehung gewissermaßen zweigestaltig: zum einen findet sich ein Treuhandverhältnis zwischen dem vernünftigen Menschen (homo noumenon) und dem tierisch-sinnlichen Menschen (homo phaenomenon), zum anderen ist der vernünftige Mensch »der Menschheit in seiner Person« verpflichtet (S. 418). Letzteres erst ermöglicht überhaupt Sittlichkeit, gilt es doch, wie Kant in seiner »Grundlegung« ausführt, dass das »Verhältnis eines Willens zu sich selbst […] sich bloß durch Vernunft bestimmt.« (Kant 1999, S. 427AA) In diesem Bemühen weist sich für Kant der »kategorische Imperativ« als diejenige Maxime aus, die anderweitige Handlungsmaximen situationsübergreifend so verallgemeinert, um nach möglichen Widersprüchen im wiederum situationsbezogenen Wollen zu fahnden: »[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (S. 421AA; Kursivierung im Original). In diesem Prüfungsprozess aufgedeckte Widersprüche demonstrieren folglich, dass die eigene Handlungsmaxime den Ansprüchen einer vollendet vernünftigen Sittlichkeit nicht genügt, womit selbstredend nicht gesagt ist, dass der betreffende Mensch nicht dennoch nach dieser Maxime handeln könnte. Er würde sich aber, so Kant, unsittlich verhalten. Das von Kant in seiner »Grundlegung« nachfolgend angeführte Beispiel des Suizids bleibt allerdings die erhoffte Widersprüchlichkeit schuldig, auch wenn Kant diese postuliert (Unna 2000, S. 10). Sicherlich gibt es Suizide, in denen die Maxime ausgemacht werden kann: 209 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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»ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen.« (Kant 1999, S. 422AA) Jedoch entsteht der Widerspruch in der Verallgemeinerung dieser Maxime zum alle vernünftigen Menschen bindenden Gesetz nicht primär durch die Verallgemeinerung, wie Kant annimmt, sondern infolge der kantischen Definition der Selbstliebe, deren Funktion er in einem teleologischen Sinne streng in der Beförderung des Lebens sieht (Unna 2000, S. 10; die Wertherjünger hätten dies aber wohl anders gesehen). Kant bietet jedoch in seiner »Grundlegung« noch eine zweite Argumentation für die Unsittlichkeit des Suizids. Bekanntlich findet sich der (daseinsmäßige Hinter-)Grund für den kategorischen Imperativ darin, dass der Mensch bzw. alle vernünftigen Wesen »Zweck an sich selbst, nicht bloß Mittel zum beliebigen Gebrauch« sind (Kant 1999, S. 428AA). Unter diesem »praktischen Imperativ« nun zeigt sich der Suizid als ein Mittel, dessen sich eine Person bedient. Dabei aber ist das Mittel wiederum eine Person, wenn auch er selbst, woraus sich aber ergibt, dass diese als Mittel genutzte Person nicht als Zweck an sich selbst angesehen wird: »Wenn er, um einem beschwerlichen Zustand zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person bloß als eines Mittels, zu Erhaltung eines erträglichen Zustands bis zu Ende des Lebens.« (S. 429AA) Erneut ist die Frage berechtigt, ob diese Begründung ausreicht. Wird hier Person und physischer Leib (im Sinne des homo phaenomenon) nicht gleich gesetzt? Die Lösung dieser Schwierigkeit bietet Kants Bestimmung der Person als sowohl natürliches als auch vernünftiges Wesen (vgl. Unna 2000, S. 16 f.). Denn wie in der »Metaphysik« ausgeführt, ist der homo phaenomenon dem homo noumenon zur Erhaltung und damit zugleich der praktischen Vernunft anvertraut. Dabei gilt zunächst: »Der Persönlichkeit kann sich der Mensch nicht entäußern, solange von Pflichten die Rede ist, folglich solange er lebt.« (Kant 1986, S. 422) Aber: »Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zu zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponiren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertraut war.« (S. 423) Die Frage ist berechtigt, ob denn der homo noumenon nach dem Tod des homo phaenomenon noch vorhan210 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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den ist, da doch sonst das Treuhandverhältnis mit dem Tod des betreffenden Menschen beendet sein müsste. Kant behauptet keineswegs zu wissen, was mit dem Menschen nach dem Tode geschieht. Aber, die Verbindlichkeit der Pflichten ist bei Kant, wie u. a. aus handschriftlichen Notizen in Kants Handexemplar der Kritik der praktischen Vernunft nachweisbar ist, in eins mit der Annahme verbunden, dass der homo noumenon in Unendlichkeit fortdauert (Unna 2000, S. 17). Die Pflichten lösen sich folglich mit dem Tod nicht auf, womit allerdings über eine Unsterblichkeit der Seele nichts gesagt ist. Jedoch ist diese Annahme der Fortdauer des homo noumenon notwendig, um das Suizidverbot vernünftig und gewissermaßen kategorisch, also aus dem Selbstzweck des Menschen, zu begründen. Und verständlicherweise kann die Vernunft die Autonomie des Subjekts nur dann sichern, wenn die Freiheit dieses zur »Freiheit begabten vernünftigen Wesens« nicht in Selbstzerstörung endet (Unna 2000, S. 5). Diese Annahme setzt also keineswegs die augustinische »Ontologie des Ewigen« wieder in Kraft. Vielmehr folgt sie der philosophischen Haltung der Antike, dass das Schicksal im Tode ungewiss ist, gerät aber Platons Ansatz vergleichbar in das folgende Problem: »Und so ist denn dieses, ihr Männer, wohl wert bemerkt zu werden, daß, wenn die Seele unsterblich ist, sie auch der Sorgfalt bedarf nicht für diese Zeit allein, welche wir das Leben nennen, sondern für die ganze Zeit, und das Wagnis zeigt sich nun eben erst recht furchtbar, wenn jemand es vernachlässigen sollte. Denn wenn der Tod eine Erledigung von allem wäre: so wäre es ein Fund für die schlechten, wenn sie sterben, ihren Leib loszuwerden, aber auch auch ihre Schlechtigkeit mit der Seele zugleich. Nun aber diese sich als unsterblich zeigt, kann es ja für sie keine andere Sicherheit vor dem Übel geben und kein Heil als nur, wenn sie so gut und vernünftig geworden ist als möglich.« (Platon 2006, 107c)

So kann auch im kantischen Verständnis der Suizid nur dann in jeglicher Situation als unvernünftig bestimmt werden, wenn das Treuhandverhältnis zumindest in der Gestalt des homo noumenon als »die Menschheit in seiner Person« in personaler Kontinuität »unsterblich« ist. Unter dieser Annahme eines unendlichen und unverbrüchlichen Treuhandverhältnisses kann sich der Mensch nun aus keinem Beweggrund vernünftigerweise das Leben nehmen, da er sich mit seinem Tod gar nicht wahrhaft los wird. Vielmehr gilt die Überzeugung, dass er damit gewissermaßen nur seinen »Aggregatszustand« ändert. Suizid 211 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ist vor dem Hintergrund der kantischen Annahmen tatsächlich schlechterdings unsittlich und in keinem Fall vernünftig begründbar. Ist damit die gerade erst wieder aufgenommene Geschichte der Frage nach der suizidalen Erfahrung bereits wieder zu Ende? Keineswegs, denn zwar bietet Kant unter der Annahme der Beziehung des Menschen zu sich selbst als eines unendlichen Treuhandverhältnisses ein kategorisch erscheinendes Suizidverbot, aber sowohl die Annahme ist bezweifelbar als auch die Zuversicht, dass Menschen diesem Verbot Folge leisten. Davon abgesehen ist Kants Unterscheidung zwischen einer sittlichen Qualität im Sinne einer formal formulierten Sittlichkeit und dem daseinsmäßig anwesenden Menschen insofern wichtig, als zwar jeder Suizid (unter bestimmten Annahmen) als unsittlich gelten kann, dass dies aber dennoch über die Art und Weise der tatsächlich daseinsmäßig gegebenen suizidalen Erfahrung nichts aussagt. Es stellt sich also durchaus die Frage, wie denn der suizidale Mensch und insbesondere der vollzogene Suizid verstanden werden kann. Dabei sind aus kantischer Sicht insbesondere zwei Verständnisse denkbar: a) Der suizidale Mensch scheidet vollkommen freiwillig aus dem Leben. Dieser Ansatz entspricht Kants kasuistischen Fragen, die er in seiner »Metaphysik« anführt (Kant 1968, S. 423 f.), womit klarerweise aus kantischer Sicht zugleich gesagt ist, dass diese Suizide vollkommen unvernünftig und unsittlich sind. b) Das Bewusstsein des Menschen unterfangende Beweggründe treiben ihn unausweichlich zum Suizid. Solche Verfassungen, beispielsweise im Wahnsinn, verwandeln zwar den Suizid nicht in ein sittliches Verhalten, aber sie entschuldigen den betreffenden Menschen, so dass eine Pflichtverletzung des betreffenden Menschen gegen sich selbst nicht nachgewiesen werden kann. Genau dies wird das medizinische Verständnis nachzuweisen bemüht sein. Dabei kann für ein medizinisches Verständnis in kantischer Nachfolge folglich jegliche suizidale Erfahrung als pathologisch und jeglicher Suizid als Abschluss einer pathologischen Entwicklung gelten. Im Umkehrschluss kann hingegen kein Suizid als positiver Ausdruck einer mündigen Selbstbestimmung angesehen werden, was mit Kants Autonomiebegriff auch tatsächlich unvereinbar wäre (Unna 2000, S. 5 Anm. 29). Die scheinbare Ungewissheit im Phänomen der Suizidalität – also der suizidalen Erfahrung und dem Sich-töten-können – wäre so verstanden tatsächlich beseitigt. Allerdings ist die in dieser medizinischen Umdefinition erfolgte Gleichsetzung von »unsittlich« und »pathologisch« letztlich wenig überzeugend, so dass die 212 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

Frage bleibt, ob es nicht auch »unvernünftige« Suizide im Sinne Kants geben kann, die sich abseits eines Überwältigtwerdens durch »pathologische Prozesse« vollziehen. So kehrt in die scheinbare Eindeutigkeit des kantischen Suizidverbots letztlich doch wieder eine Ungewissheit und Widersprüchlichkeit ein, die weiterer Aufklärung bedarf. Unbestritten aber bereitet Kant, ebenso wie Hobbes, das moderne, staatliche »Verbot« des Suizids vor, verpflichtet jedoch den fürsorgenden Staat zugleich, nach der konkreten daseinsmäßigen suizidalen Erfahrung Ausschau zu halten. Dass der Staat dieser Fürsorgepflicht trotz eines »Verbots« des Suizids nur verzögert nachkommt und dass sich das 19. Jahrhundert insbesondere an Kants kategorisch erscheinendes Suizidverbot anschließen und zugleich eine moralische Verurteilung des Suizids betreiben wird (in etwa der dargestellten Gleichsetzung von »unsittlich« und »pathologisch« folgend), anstatt sich um ein differenzierteres Verständnis der suizidalen Erfahrung zu bemühen, wie sie faktisch gegeben ist, wird uns in den nachfolgenden Abschnitten beschäftigen. Zunächst aber gilt es, sich mit einem ganz anderen und gewissermaßen gegenläufigen Verständnis zu befassen, welches ebenfalls eine der »klassischen Positionen der Aufklärungsphilosophie« das »Selbstmordproblem« betreffend (Lungershausen/ Vliegen 1969, S. 191) darstellt. Es ist das Verständnis der suizidalen Erfahrung von David Hume.

3.5.

David Hume

David Hume (1711–1776) gilt als der wichtigste schottische Philosoph der Aufklärung, der durch eine skeptische Grundhaltung und einen streng empirischen Zugang zum Verständnis der menschlichen Natur und der Fähigkeiten des menschlichen Geistes mit seinen Werken entscheidende Bedeutung für den weiteren Verlauf der Aufklärung hat. Besonders bekannt ist seine Überlegung zum sog. »Induktionsproblem« bzw. dem Problem der »causal relation«, auf welche wir noch eingehen werden. Hume eröffnet hiermit ein völlig neues Verständnis des menschlichen Glaubens und der als notwendig erachteten Verknüpfungen (z. B. kausaler Relationen in der Außenwelt) (Norton 2000, S. I24). In einer vergleichbaren empirischen Wende bemüht er sich auch um ein deskriptives Verständnis des moralischen Bewertens, wie es in den alltäglichen Situationen durch den Menschen vorgenom213 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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men wird. Im Unterschied zu Kant geht es Hume also nicht um die reflexive Prüfung der Kohärenz der eigenen moralischen Überzeugungen – und damit letztlich um eine »normative Wertethik« –, sondern um die Art und Weise, wie der einzelne Mensch tatsächlich und üblicherweise gut und böse unterscheidet (Hume 2000, S. 294; vgl. auch Norton 2000, S. I74 ff. u. Kulenkampf 1989, S. 103 u. 107). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen betrachtet Hume auch die suizidale Erfahrung und das Sich-töten-können als eine menschliche Realität, die es aus der konkreten Erfahrung des suizidalen Menschen zu verstehen gilt (Hume 1995, #8). David Hume wird am 7. Mai 1711 als jüngster Sohn des Rechtsanwalts und Erbadligen Joseph Home of Ninewells und dessen Frau Katherine geboren und wächst auf dem Familienstammsitz Ninewells auf (Streminger 1986, S. 9). Nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1713 ist die häusliche Atmosphäre durch die Mutter und die lokale Kirche im calvinistischen Sinne und damit im schottischen Trend dieser Zeit geprägt: es steht das Gewissen des einzelnen Gläubigen im Zentrum des religiösen bzw. religiös geprägten Lebens (S. 12). David Hume widmet dementsprechend als Kind »der Erforschung seiner Seele« viel Zeit und Energie und durchläuft »mit Erfolg die Bahn gewöhnlicher Schulbildung« (Hume 1989, S. 9). Mit dieser »gewöhnlichen Schulbildung« ist allerdings eine eher elitäre Bildung gemeint, die er ab dem 12. Lebensjahr an der Universität in Edinburgh im humanistischen Sinne erfährt, wobei seine Lehrer zudem offen für aktuelle aufklärerische Strömungen in Europa sind (Streminger 1986, S. 14 f.). Nachdem er 1726 nach Ninewells zurückkehrt, ereilt ihn ein Schicksal, welches dem anderer jüngerer Söhne erbadliger Familien Schottlands und Englands vergleichbar ist. Denn angesichts der strengen Einhaltung der Regel, den Titel ausschließlich an den ältesten Sohn zu vererben, in David Humes Fall seinem zwei Jahre älteren Bruder John, suchen »die jüngeren Söhne ihr Auskommen als Militärs oder Geistliche, als Juristen oder Kaufleute« (Wende 2000, S. 16, vgl. auch S. 18). Hume wird von seiner Familie zum Studium der Rechtswissenschaften angehalten, dem er über einige Jahre (1726–1729) in Edinburgh nachgeht (Streminger 1986, S. 16). Nach frühzeitigem Abbruch des Studiums kehrt er nach Ninewells zurück. Fest entschlossen Philosoph zu werden, findet er doch in sich »eine unüberwindliche Abneigung gegen alles außer gegen Philosophie und allgemeine Gelehrsamkeit.« (Hume 1989, S. 9) In den nachfolgenden Jahren ist Hume »freier Philosoph«: er denkt 214 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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intensiv über verschiedene philosophische Themen nach und füllt Notizbücher, durchläuft aber auch zwei Lebenskrisen, die wohl als depressive Episoden gedeutet werden können, aber offenbar die einzigen Episoden dieser Art in seinem Leben bleiben (Streminger 1986, S. 17 ff.). 1734 entschließt er sich, in Bristol sein Glück als Sekretär im Handelswesen zu suchen. Der blühende »Dreieckshandel« zwischen dem Mutterland – also der britischen Insel – und den britischen Kolonien und Drittländern – beispielsweise in Afrika –, der nur durch britische Kaufleute abgewickelt werden darf, beschert gute Einkommensverhältnisse (Wende 2000, S. 97 f.). Hume bricht aber diese Bemühungen bereits nach wenigen Monaten ab und wendet sich nach Frankreich, wo er letztlich unter bescheidenen Bedingungen von seinem jährlichen, zur Lebenshaltung jedoch knappen Erbteil lebt und sich seinen philosophischen Studien widmet. 1737 kehrt Hume mit seinem druckfertigen Traktat (»A Treatise of Human Nature«) nach London zurück. Von nun an lebt Hume als »freier Philosoph« vorwiegend in Edinburgh, wobei ihm trotz einiger publizistischer Erfolge eine akademische Karriere vorenthalten bleibt. Aus seiner »philosophischen Ruhe« wird er aber wiederholt herausgeholt. So verbringt er Zeit in London und auch in Paris, welches er von 1763 bis 1766 als Privatsekretär des britischen Botschafters besucht. Hier lernt er neben den französischen Aufklärern Denis Diderot (1713–1784) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), mit dem ihn zwischen 1762 und 1766 eine innige Freundschaft verbindet, auch seine einzige amouröse Affäre Madame de Boufflers-Rouverel (1725–1800) kennen (Streminger 1986, S. 90 ff. u. 98 ff.). Nach einem weiteren kurzen Zwischenspiel im englischen Regierungsapparat in London kehrt Hume 1769 nach Edinburgh zurück, nunmehr »sehr wohlhabend« und als angesehener Mann (Hume 1989, S. 16). Hume stirbt nach mehrjähriger, letztlich aber rasch verlaufender Krankheit am 25. August 1776. Neben seinem Traktat und seiner umfassenden Geschichte Englands veröffentlicht Hume eine Fülle von Untersuchungen und Essays. Hierbei ist für unser Thema die erst posthum veröffentlichte, aber sicher vor 1756 fertig gestellte Arbeit »On Suicide« von besonderer Bedeutung (Streminger 1986, S. 75). Ein Essay, den er nach eigener Aussage zu Lebzeiten nicht habe veröffentlichen wollen, obwohl es beinahe im Jahr 1757 dazu gekommen wäre (vgl. S. 75 Anm. 119). Humes Essay beginnt mit einem Paukenschlag. Denn es geht ihm letztlich um nichts weniger, als darum, dem Menschen seine »angebo215 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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rene Freiheit« wiederzugeben, nämlich das Recht, sein eigenes Leben selbstbestimmt zu beenden: »Let us here endeavour to restore men to their native liberty.« (Hume 1995, #3) Um diese Rückgabe zu gewährleisten, will er in seinem Essay zeigen, dass der Suizid frei ist von allen Vorwürfen der Scham und Schuld (#3). Wie Hume am Anfang des Essays ausführt, kann allein die Philosophie vom Aberglauben und von »falscher Religion« befreien: »All other remedies against that pestilent distemper are vain, or at least uncertain.« (#1) In den folgenden Abschnitten wird er auf dem Argumentationsweg zu zeigen versuchen, dass der Suizid in einem moralischen Sinne nicht schlecht beurteilt werden dürfe, denn: »If Suicide be criminal, it must be a transgression of our duty either to God, our neighbour, or ourselves.« (#4) Diese Ankündigung einer gewissermaßen »innermoralischen«, wertnormativen Diskussion überrascht auf den ersten Blick, bewegt sich doch Hume sonst in seinen Ausführungen zu moralischen Fragen vorwiegend im deskriptiven Feld und stellt beispielsweise im Traktat die Frage, durch welche geistigen Operationen der Mensch zwischen gut und schlecht unterscheidet (Hume 2000, S. 294). Aber, wie sich zeigen wird, ist es eben gerade diese Herangehensweise, die Hume zu seinem Essay verleitet und den Argumentationsweg vorzeichnet. Humes philosophische Methode folgt der Grundannahme, dass alles menschliche Erleben (im Sinne von Wahrnehmen, Fühlen und Denken) Formen von »Bewusstseinsinhalten« (»perceptions«) sind. Dabei unterscheidet er Impressionen (»impressions«; u. a. Sinneswahrnehmungen, Gefühle) und Ideen (»ideas«; u. a. Vorstellungen, Gedanken, Erinnerungen), wobei alle Ideen aus Impressionen hervorgehen: »All ideas are deriv’d from impressions.« (Hume 2000, S. 53, vgl. auch S. 7 ff.) Andererseits sind die Unterschiede zwischen »impressions« und »ideas« vorwiegend in der Intensität und Macht zu erkennen, mit denen sie ins menschliche Bewusstsein dringen, und nicht beispielsweise entsprechend ihrer unterschiedlichen Weisen der Gegebenheit. Dies wird an Humes Eröffnungssatz seines Traktats deutlich: »All the perceptions of the human mind resolve themselves into two distinct kinds, which I shall call impressions and ideas. The difference betwixt these consists in the degrees of force and liveliness, with which they strike upon the mind, and make their way into our thought or consciousness« (S. 7, Hervorhebung im Original). Die lebhaften Impressionen sind folglich der Bodensatz, aus dem durch die Operationen des menschlichen Geistes wiederum Ideen hervorgehen, welche nicht nur 216 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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weitere Ideen nach sich ziehen können, sondern auch – und dies wird für unser Verständnis seines Essays von entscheidender Bedeutung sein – wiederum in Impressionen verwandelt werden können (vgl. bes. S. 9 f. u. 206 ff.). Letzteres geschieht durch das geistige Funktionsprinzip der »sympathy«, welches eben gerade die mehr oder weniger unterbewusste Umwandlung von eigenen Vorstellungen und Phantasien, die bei beobachteten Gefühlen anderer Menschen entstehen, in eigene Gefühle leistet, so dass ein Mitfühlen entsteht (vgl. bes. S. 206 ff. u. 368 ff.). »Sympathy« ist in diesem Sinn »a principle of communication«, welches Hume folgend möglich ist, da sich die geistige Funktionsstrukur aller Menschen gleicht (Norton 2000, S. I55 u. I94 f.). Es kann also nicht wirklich mit dem Wort Sympathie übersetzt werden, aber auch nicht als Empathie oder Mitgefühl definiert werden, obwohl die Wirkung dieses geistigen Funktionsprinzips eben genau darin besteht, Mitgefühl zu wecken. Vielmehr ist es bei Hume als die Beschreibung einer Funktionsweise des menschlichen Geistes zu verstehen, die uns sofort, weitgehend unbewusst und unabsichtlich »deep into the opinions and affections of others, whenever we discover them« eintauchen lässt (Hume 2000, S. 208). Dieses Prinzip der »sympathy« spielt in Humes Überlegungen zur Funktionsweise des menschlichen Geistes unter moralischen Aspekten eine bedeutende Rolle. Wir werden später genauer darauf eingehen, kehren aber zunächst noch einmal zu Humes Methode zurück. Sein gewissermaßen empirischer Zugang ermöglicht und erzwingt nämlich in vielen philosophischen Themenfeldern eine völlig andere Sichtweise. Gilt dies also auch für seinen Terminus »native liberty«, den er für den Suizid reklamiert? Denn es stellt sich die Frage, was angesichts eines solchen methodischen Zugangs überhaupt gemeint sein soll, wenn von einer »angeborenen Freiheit der Person« geredet wird. Können wir diese Aussage überhaupt mit dem vergleichbar scheinenden Verständnis der stoischen Philosophie in Deckung bringen? Wenn wir die grundsätzlichen Wandlungen betrachten, die mit dem Renaissance-Humanismus und der frühen Aufklärung hinsichtlich des Verständnisses des Menschen, der Welt, des Göttlichen, ja letztlich des Seins selbst eingesetzt haben, wird dies zumindest fragwürdig. Um hier zu einer genaueren Bestimmung dessen zu gelangen, was Hume mit der »angeborenen Freiheit der Person« meint, müssen wir zu allererst klären, wie Hume »Person«, »Freiheit« und »angeboren« versteht. Beginnen wir mit seinem Verständnis der Person. 217 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Entsprechend seines methodischen Zugangs versteht Hume den menschlichen Geist als ein »bundle or collection of different perceptions«, die in ihrer Abfolge und der darin gegebenen Ähnlichkeit zueinander den gewissermaßen automatisch einsetzenden »Fehler der Imagination« hervorrufen, diesem Bündel von Perzeptionen eine durchgehende Identität zuzuschreiben (S. 165 f.): »our notions of personal identity proceed entirely from the smooth and uninterrupted progress of the thought along a train of connected ideas.« (S. 169). Nun stellt sich aber die Frage, inwiefern dann nicht doch von einer personalen Identität gesprochen werden kann, wenn es sich um eine an keiner Stelle unterbrochene Abfolge von miteinander verbundenen Ideen handelt. Insbesondere dann, wenn wir Humes Hinweis aufnehmen, dass sich personale Identität auch hinsichtlich unserer Leidenschaften und Gefühle ereignet und dass hier eine ergänzende Verknüpfung zwischen einander ähnelnden Impressionen und Ideen gegeben ist, die letztlich durch die gesamte Lebensgeschichte hindurch reichen (S. 165 u. S. 170). Wir hätten so verstanden an dieser Stelle einen ersten eindeutigen Hinweis darauf, dass es ein »stream of unconsciousness« ist, der im Sinne einer präepistemischen Gewissheit die Identität unserer Person aktiv konstituiert. Jedoch nimmt Hume eine solche explizite Aussage nicht vor. Zudem ist zu bedenken, dass Hume eventuell auch die Variabilität und Komplexität des menschlichen Wesens davon hat absehen lassen, den Begriff Identität im hergebrachten Sinne der Selbigkeit (»sameness«) verwenden zu wollen (Smith 2005, S. 500). Denn ein wirklicher Grund, warum dieses Produkt des geistigen Lebensvollzugs nicht als personale Identität bezeichnet werden sollte, findet sich – vielleicht abgesehen von weitergehenden interpersonalen Überlegungen – bei Hume nicht. Fest steht also, dass Hume weder den menschlichen Geist noch die personale Identität oder das Selbst als eine Substanz angesehen hat, sondern vielmehr als das unausweichliche und für den Lebensalltag zudem unverzichtbare Produkt unseres Geistes selbst verstand (Hume 2000b, S. 414 u. 416). Gewissermaßen eine notwendige, mit Hilfe der Vernunft durchschaubare, aber dennoch nicht wegzudiskutierende, da immer schon wieder unbewusst konstituierte Eigenart dessen, wie wir uns gegeben sind. Wobei zudem der Geber dieser Eigenart für Hume eben gerade der Geist in seinem konkreten Lebensvollzug selber ist. Sicherlich müsste gefragt werden, ob nicht allein schon die theoretische Möglichkeit, sich überhaupt eine solche Einsicht in die Konsti218 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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tution der eigenen Einsichtnahme vorzustellen, wiederum voraussetzt, dass es eine präepistemische, gewissermaßen bereits »gelebte« subliminale Struktur gibt, die eben gerade in dieser Einsichtnahme nicht durchschaut werden kann. Denn de facto kann sich der Mensch in seinem Selbstbezug niemals vollständig durchschauen, da sich hierin etwas zeigt, was nicht der zeitgleiche Vollzug dieses Durchschauens selbst ist bzw. da der Vollzug dieses Duchschauens immer etwas im Blick hat, was bereits gerade zuvor vollzogen worden ist; eine in der phänomenologischen Tradition insbesondere von Merleau-Ponty explizit formulierte Herausforderung für die phänomenologischen Methode (Merleau-Ponty 1966, S. 9 ff.). Es wird zu prüfen sein, ob es diesselbe Herausforderung ist, die sich uns stellt, wenn wir verstehen möchten, was denn nun mit »personaler Freiheit« bei Hume gemeint ist. Ganz offenbar hat für Hume nämlich der Begriff der eigenen Person sein nennenswertestes Problem darin, dass wir uns unsere Identität aktiv konstituieren müssen. Und zwar nicht nur in einem artifiziellen Sinne vermittels ausgedehnter und reglementierter Selbstvergewisserung wie bei Montaigne, oder in einem exklusiven Sinne vermittels der Sicherheit des zweifelnden Denkens wie bei Descartes, sondern in einem viel basaleren und unseren alltäglichen Lebensvollzug herausfordernden Sinne. Schon die für selbstverständlich genommene Identität unserer selbst in leiblich-animalischer Hinsicht ist im humeschen Denken potentiell fragwürdig, da auch diese Identität nur die aktive Konstruktionsleistung unseres eigenen Geistes ist. Die Möglichkeit dieser skeptischen Bezweiflung, die Hume in seinem Denken eröffnet, löst aber dennoch diese gespürte Selbstverständlichkeit gerade auch für Hume nicht auf (Kulenkampf 1989, S. 51). Vielmehr gilt für Hume, dass die natürlicherweise gegebenen Gesetzmäßigkeiten des geistigen Apparats und die durch Erfahrung erlernten Gewohnheiten bereits vor aller Möglichkeit des reflexiven Betrachtens unterbewusst vollzogen sind (vgl. z. B. Hume 2000, S. 71 ff. u. S. 261 f. u. S. 294 ff.). Der Glaube an die eigene Identität und die gespürte Gewissheit von der eigenen Identität bestehen somit schon immer vor aller skeptischen Bezweiflung. Ebenso halten wir auch kausale Verknüpfungen in der Außenwelt für wahr, obwohl der als notwendig erachtete Zusammenhang nur eine mehr oder weniger unterbewusst vollzogene, gewohnheitsmäßige geistige Verknüpfungsleistung von wiederholt beobachteten, raum-zeitlich stabil zusammenhängenden Ereignissen ist (S. 64 ff.). Und in exakt demselben Sinne bleiben wir von der Gleichförmigkeit 219 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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der Natur zutiefst überzeugt, obwohl wir uns durchaus in skeptischer Manier vorstellen können, dass sich der naturhafte Lauf der Dinge in Zukunft in radikaler Weise anders darstellen könnte, als uns unsere Erfahrung vermittelt hat (S. 62 f.). Die wiederholte, einander gleichförmige Erfahrung der verschiedensten Ereignisse und Zusammenhänge lässt in uns geistige Gewohnheiten entstehen, von deren Glaubwürdigkeit uns auch die stärksten argumentativen Zweifel nicht abbringen können. Für Hume gilt: »Custom is the true guide of life that leads us to believe what reason and experience can neither prove nor disprove.« (Norton 2000, S. I35) Dabei gilt: »Custom operates before we have time for reflexion.« (Hume 2000, S. 72) Vor dem Hintergrund dieser Grundannahme kann für Hume mit dem Begriff der Freiheit keine vom alltäglichen Lebens- und Handlungszusammenhang abgelöste Freiheit gemeint sein. Sein Freiheitsbegriff setzt dementsprechend auch nicht primär am Freiheitsgefühl des einzelnen Menschen an, welches er hat, wenn er sich in einer gewissen Losgelöstheit von den äußeren oder inneren Anforderungen für das eine oder gegen das andere entscheidet. »We feel that our actions are subject to our will on most occasions, and imagine we feel that the will itself is subject to nothing; […] This image or faint motion, we perswade ourselves, cou’d have been compleated into the thing itself.« (S. 262) Im Gegenteil, eine solche losgelöste, geradezu libertarische Freiheit von allen Zusammenhängen, kann für Hume keine Freiheit sein. Denn eine Freiheit, die nicht mit unseren Wünschen, Situationen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen zusammenhängt, hätte mit uns nichts mehr zu tun. Nun geht es aber in unserer Lebensgeschichte tatsächlich um uns, womit sich uns zugleich zeigt, dass innerhalb dieses Geschehens eine gewisse Wiedererkennbarkeit tatsächlich gegeben sein muss. Hume meint mit Freiheit also schon immer »personale Freiheit«, die er selbst als eine »liberty of spontaneity« bezeichnet (S. 262). Ein wiederholbarer und verlässlicher Zusammenhang zwischen unseren Handlungen und bestimmten Motiven sowie zwischen diesen Motiven und unserer Lebensgeschichte kann also offenbar argumentativ nicht abgewiesen werden, obwohl dieser motivationale Zusammenhang keineswegs für alle Handlungen bestehen muss noch üblicherweise besteht. Jedoch kann infolge unseres Selbstbezugs dieser Zusammenhang skeptisch bezweifelt werden, obwohl hierbei – so beispielsweise auch in der heutigen Diskussion – als imaginiertes Wider220 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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lager der skeptischen Bezweifelung oftmals eine Stringenz dieses Zusammenhangs angenommen wird, die eher an einen instinkhaften Reflexautomaten erinnert. Aus einem solchen gedanklichen Spiel lassen sich dann alle möglichen mehr oder weniger öffentlichkeitswirksamen Szenarien kreieren, in denen der Mensch sich selbst Dank seiner Fähigkeiten zum Zweifeln darüber aufzuklären vermag, dass er nur der Spielball unerbittlicher Mechanismen sei (Schlimme 2007a). Zweifelhaft bleibt an dieser wundersamen Selbstbezweiflung, in der sich diese unerbittlichen Mechanismen verfangen, allerdings stets, dass überhaupt sinnvoll gezweifelt werden kann. Denn aller Zweifel setzt bereits eine in sich zusammenhängende Bezweifelung dessen voraus, was gerade bezweifelt werden soll. Diese Schwierigkeit, den gedanklichen Zweifel im gedanklichen Zweifel zu begründen, hatte bereits Descartes nur durch einen (allerdings unzulässigen) Kunstgriff zu lösen vermocht (s. o.). Auch die Bemühungen Johann Gottlieb Fichtes (1762– 1814), das Bewusstsein ausschließlich in sich selbst zu gründen, sind bereits zeitgenössisch fundamental fragwürdig, wie beispielsweise das berühmte Fragment »Urtheil und Seyn« von Friedrich Hölderlin (1770–1843) aus dem Jahr 1794 zeigt (Henrich 1992, bes. S. 92–100). Letztlich ist auf diesem Weg die Freiheit immer nur um den Preis der Selbstauflösung anzielbar, aber für den Menschen de facto nie erreichbar. Es bleibt ja auch tatsächlich unklar, was mit Freiheit hier überhaupt gemeint sein soll. Und schließlich steht die Anerkennung einer motivationalen Relation einer personalen Freiheit in keinster Weise entgegen, sondern muss vielmehr als deren erforderliche Grundannahme verstanden werden. David Hume ist ebenfalls dieser Ansicht (Hume 2000, S. 262). Auch er ist von einer solchen motivationalen Relation überzeugt. »No union can be more constant and certain, than that of some actions with some motives and characters.« (S. 260) Und nur deshalb können wir überhaupt Handlungen vollziehen, die mit unseren Absichten und Wünschen im Einklang stehen (S. 262). Dabei ist dieser Zusammenhang für Hume in der oben beschriebenen Weise als das Produkt eingeschliffener Denkgewohnheiten zu verstehen, wobei die Prinzipien des menschlichen Geistes die Funktionsweise des Geistes im Stile von Gesetzen beschreiben. Die Notwendigkeiten, die sich in diesen Gesetzen des geistigen Apparats wiederfinden, verstehen sich folglich wie die Kehrseite derjenigen Medaille, die wir andererseits als Handlungsfreiheit in unserem alltäglichen Lebensvollzug wiederfinden. Wie Kulen221 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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kampff ausführt, kann diese Handlungsfreiheit entsprechend Humes Grundannahme zu einer Willensfreiheit erweitert werden, wenn die Gesetzmäßigkeiten des geistigen Apparats ihm in einem Selbstbezug zudem erlauben, aus einer situativen Mehrzahl seiner motivationalen Schemata dasjenige Schema auszuwählen, welches ihm am meisten entspricht (Kulenkampff 1989, S. 93 ff.). Diese Argumentation greift die Idee Harry G. Frankfurts auf, dass es zu den situativen Absichten stets noch übergreifende, gewissermaßen persönlichkeitsnähere Absichten gibt (sog. Volitionen 2. Ordnung), welche entsprechend dem Merkmal »zu mir passend« bzw. »zu mir unpassend« entschieden werden (Frankfurt 1971). Entscheidend ist hierbei also der Selbstbezug. Dabei treibt sich dieser ins Bodenlose, wenn auch weniger aufgrund Humes empirischem Ansatz, sondern entsprechend der Möglichkeit, jede Absichtsstruktur in ihrer situativen Verkoppelung auf umgreifendere Situationen oder inniglichere Verfassungen freizulegen. Dies kann, wie Heinrich Rombach entsprechend seiner phänomenologischen Methode argumentiert, bis ins Äußerste bzw. Innerste getrieben werden (Rombach 1993, bes. S. 170 ff.). Jeweils kann dann die konkrete Situation nicht mehr als ›Fall von etwas‹ abgegriffen werden, da in diesen Momenten eben gerade der Selbstbezug aufgehoben wird. Der Mensch geht handelnd gewissermaßen aufs Ganze und folgt dabei eingeschliffenen Gewohnheiten. So kommen wir gedanklich wieder bei der naheliegenden Annahme einer präepistemischen Gewissheit an, die sich mit Hume am ehesten im Sinne eines »stream of unconsciousness« formulieren ließe, aber – und dies gilt es erneut zu betonen – von ihm so nicht formuliert worden ist. Wir sind also wieder in unserem Bemühen um Humes Verständnis der personalen Freiheit wieder in der anfänglich genannten Herausforderung gelandet. Jedoch haben wir dabei zugleich sehr viel klarer gefasst, was mit Hume als personale Freiheit verstanden werden kann. Für eine personale Freiheit im Sinne Humes ist es demnach in unseren Gesellschaften unverzichtbar, sich in den entsprechenden Situationen mit einer gewissen Weitsicht zu bewegen, die über die naheliegenden Absichten und Motive hinausreicht. Zwar versprechen die situativ naheliegenden Absichten und Motive, wenn man sich ihnen rückhaltlos verschreibt, eine größere Lebendigkeit und Intensität des Erlebens, aber personale Freiheit ist bei einer solch leidenschaftlichen Verfassung des eigenen Wesens »Saisongeschäft«.

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»People of this character have, no doubt, more lively enjoyments, as well as more pungent sorrows, than men of cool and sedate tempers. But, I believe, when every thing is balanced, there is no one who would not rather be of the latter character, were he entirely master of his own disposition. Good or ill fortune is very little at our disposal; and when a person that has this sensibility of temper meets with any misfortune, his sorrow or resentment takes entire possession of him, and deprives him of all relish in the common occurrences of life, the right enjoyment of which forms the chief part of our happiness. Great pleasures are much less frequent than great pains, so that a sensible temper must meet with fewer trials in the former way than in the latter. Not to mention, that men of such lively passions are apt to be transported beyond all bounds of prudence and discretion, and to take false steps in the conduct of life, which are often irretrievable.« (Hume 2005, S. 59 f.)

Der »saisonale Charakter« der personalen Freiheit ergibt sich für Hume bei solch unreflektiertem und kurzsichtig dem eigenen Vorteil folgenden Verhalten auch aus der über Jahrtausende entwickelten Komplexität der Gesellschaft. Erfahrungsgeleitet hat sich in der Vielzahl von Situationen erwiesen, dass ein konventionengeleitetes Verhalten die eigenen Wünsche und Bedürfnisse letztlich besser bedient (Hume 2000, S. 320 f.). Dies führte, so Hume, zu einer kulturellen Verfassung des Menschen, in der er gewohnheitsmäßig konventionengeleitet agiert und moralisch bewertet (S. 320). In dieser Verfassung ruft bereits die Beobachtung eines anderen Menschen in uns lebhafte Ideen seines Befindens hervor, wodurch wiederum vermittels des geistigen Funktionsprinzips der »sympathy« ein Mitfühlen geschieht. Diese kulturelle (künstliche, »artificial«) Verfassung zeichnet sich dabei insbesondere durch eine »Verfeinerung des Geschmacks« (»delicacy of taste«) aus, welcher für Hume das beste Mittel gegen ein kurzsichtiges und rein leidenschaftliches Verhalten ist (Hume 2005, S. 61). Gefördert wird diese »Verfeinerung des Geschmacks« durch eine umfassende, sowohl intellektuelle als auch künstlerische Bildung. »I find, that it rather improves our sensibility for all the tender and agreeable passions; at the same time that it renders the mind incapable of the rougher and more boisterous emotions.« (S. 62) Hume beschreibt folglich ein aufgeklärtes gesellschaftliches Entwicklungsmodell, in dem in drei Schritten ausgehend von einem unreflektierten und kurzsichtigen Verhalten über den Zwischenschritt reflektierter und konzeptualisierter Konventionen letztlich aufgeklärte Individuen hervorgehen, die gewohnheitsmäßig konventionengeleitet das Verhalten ihrer Mitmenschen beob223 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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achten, und vor aller Reflexion bereits moralisch bewerten und mitfühlen (vgl. Norton 2000, S. I85 ff.). So ist »sympathy the source of moral approbation«, aber: »This latter principle of sympathy is too weak to controul our passions; but has sufficient force to influence our taste, and give us the sentiments of approbation or blame.« (Hume 2000, S. 321) Damit ist zumindest geklärt, inwiefern Hume hinsichtlich des Suizids von einer angeborenen Freiheit redet. Mit »angeboren« meint er schlicht, dass diese Fähigkeit vom Menschen nicht auf kulturellem und gewohnheitsmäßigem Weg entwickelt werden muss, sondern bereits die naturgegebene Basis dieser kulturellen Entwicklung von Gewohnheiten darstellt. Sicherlich muss diese Einschätzung zumindest mit dem Hinweis, dass für die Fähigkeit des Suizids ein Selbstbezug in Kenntnis der eigenen Sterblichkeit unabdingbare Voraussetzung ist, genauer differenziert werden. Darüber hinaus wäre aber auch zu beachten, dass die konkreten Formen und Gestalten, wie und in welchen Situationen sich die Menschen das Leben nehmen, stets kulturell vermittelt auftreten. Dennoch können wir Humes Einschätzung insoweit nachvollziehen, als es gewissermaßen zur menschlichen Grundausstattung gehört, letztlich nicht nur aufrecht zu gehen, sondern sich auch das Leben nehmen zu können. So gesehen handelt es sich um ein Geburtsrecht, sich das geschenkte Leben auch wieder nehmen zu können. Um jedoch zu verstehen, inwiefern der Suizid für Hume zur »personalen Freiheit« beiträgt, gilt es im Folgenden, die Argumentation seines Essays »On Suicide« genauer nachzuverfolgen. Wie bereits dargestellt, fragt Hume nach den Überschreitungen der Verpflichtungen gegenüber Gott, den anderen Menschen bzw. der Gesellschaft und sich selbst, die durch den Suizid eintreten. Für Hume ist durch den Suizid keine dieser Verpflichtungen überschritten. Dies gilt zunächst hinsichtlich der Verpflichtungen gegenüber Gott. Dabei greift Hume vier Argumente heraus: a) »human life depends upon general laws of matter and motion«, welche zwar, so Hume, als gottgegeben angenommen werden können, aber insofern auch den Menschen ihrem gesetzesartigen Charakter unterwerfen, so dass der Tod des einzelnen Menschen in keinster Weise den Ablauf dieser Gesetze gefährdet (Hume 1995, #4). b) Suizid »is no encroachment on the office of providence«, welche zwar, so Hume, gegeben sein mag, aber die gottgebenen Fähigkeiten des Menschen nicht außer Kraft setzt, so dass der Mensch nicht nur im Einklang mit der Vorsehung in vielfälti224 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

ger Hinsicht ständig aus seiner eigenen Aktivität heraus Neues schafft, sondern auch stets im Einklang mit der Vorsehung handelt, da sie sonst nicht unverbrüchlich sein könnte (#4 u. #5). Hume wirft damit letztlich genau das im christlichen Verständnis des Sich-töten-könnens wiederholt verhandelte, bereits von Platon erkannte Problem auf, dass nämlich unter der Annahme einer solchen Vorsehung – wie sie beispielsweise auch in der Errettung in ein besseres jenseitiges Leben zum Ausdruck kommen könnte – jede tiefgreifende Verzweiflung als ein »göttliches Zeichen« verstanden werden könnte: »whenever pain or sorrow so far overcome my patience, as to make me tired of life, I may conclude that I am recalled from my station in the clearest and most express terms« (#5). c) »every one has free disposal of his own life«, welches sich für Hume nicht nur aus dem bereits Gesagten ergibt, sondern auf sein stärkstes (nachfolgendes) Argument hinweist: d) Der Mensch »may lawfully employ that power with which nature has endowed him« (#5). Denn »there is no being which possesses any power or faculty, that it receives not from its creator« (#5). Hieraus ergibt sich für ihn, dass sich das naturgesetzlich Erlaubte soweit erstreckt, als es dem menschlichen Handeln möglich ist. Somit ist auch der Suizid mit eingeschlossen. Auch hinsichtlich der Verpflichtung anderen Menschen bzw. der Gesellschaft gegenüber kann Hume im Suizid keine Verletzung der Pflichten erkennen. »A man who retires from life does no harm to society: he only ceases to do good; which, if it is an injury, is of the lowest kind.« (#6) Inwiefern die Gesellschaft jedoch auf die Dienste des Betreffenden zu verzichten bereit ist, ist damit nicht bestimmt. Insofern ist Humes Hauptargument auch die Gegenseitigkeit gesellschaftlicher Verpflichtungen. »All our obligations to do good to society seem to imply something reciprocal.« (#6) Sogar unter der Annahme, dass diese Verpflichtungen mit dem eigenen Tod nicht erlöschen würden, ist Hume der Ansicht, dass die Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen keine Verpflichtungen einführen dürfe, die einen großen Nachteil für den Betreffenden, aber nur einen geringen Vorteil für die Gesellschaft bedeuteten (#6). Dieses Verhältnismäßigkeitsargument nun bietet Hume die Möglichkeit, eine sehr eindeutige Position hinsichtlich der fehlenden Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft einzunehmen und den Suizid als geradezu vorbildlich zu kennzeichnen (#8). »But suppose that it is no longer in my power to promote the interest of the public; suppose that I am a burden to it; suppose that 225 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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my life hinders some person from being much more useful to public.« (#6). So dargestellt scheinen die Situationen tatsächlich eindeutig. Diese etwas erstaunliche Eindeutigkeit steigert sich noch, wenn wir uns fragen, wie es sich in Humes Essay mit den Verletzungen der Pflichten gegenüber sich selbst durch den Suizid verhält. Denn auch in allen weiteren Beispielen, die Hume anführt, herrscht Eindeutigkeit hinsichtlich der Suizidentscheidung: a) Suizid, um das Elend des eigenen gebrechlichen und alten Lebens abzukürzen, wo man sich ohnehin nur noch um das eigene Elend gekümmert hat; b) Suizid, um den anderen Menschen nicht mehr zur Last zu fallen, so dass diese sich wieder um Besseres und Wichtigeres kümmern können; c) Suizid, um den eigenen Staat nicht zu verraten, da einen die Folter durch den Feind erwartet; d) Suizid, um die eigene Hinrichtung nicht abwarten zu müssen, nachdem man berechtigterweise entsprechend rechtskräftig verurteilt worden ist (#6 u. #7). Wer mag da nicht ähnlich entscheiden? Und auch, so betont Hume, wenn eine solche Eindeutigkeit der äußeren bzw. körperlichen Anlässe nicht besteht, herrscht eine solche der Innerlichkeit. Denn der anderweitig suizidale Mensch leidet, so Hume, gewöhnlich an einer »unheilbaren Niedergedrücktheit und Trübsinnigkeit des Gemüts« (#8). So verstanden stellt sich der Suizid tatsächlich in eindeutiger Weise als ein effektives Heilmittel (»remedy«) dar, welches »effectually free him from all danger or misery« (#8). Dieser Aspekt, dass der Suizid wie ein effektives Heilmittel aus der aktuellen Verzweiflung rettet, ist, wie wir bereits gesehen haben, die entscheidende Wiederentdeckung und Neuerung der neuzeitlichen Verständnisse des Sich-töten-könnens. Er findet sich bei Shakespeare ebenso wie bei Montaigne, wobei sie hierin zugleich auf die hellenistische Philosophie zurückgreifen. Ebenfalls erkennt Hume – hierin Montaigne und den Epikureern vergleichbar – im Tod das Ende aller Perzeptionen (»perceptions«) bzw. eine vollständige Vernichtung seiner selbst (#8). »And were all my perceptions remov’d by death, and cou’d I neither think, nor feel, nor see, nor love, nor hate after dissolution of my body, I shou’d be entirely annihilated, nor do I conceive what is farther requisite to make me a perfect non-entity.« (Hume 2000, S. 165) Die Wirksamkeit der Heilung gewinnt sich also nicht aus der Aussicht auf ein besseres Leben, sondern einzig und allein aus der Aussicht auf das Ende des aktuellen und als unveränderlich angesehenen Elends, auf die Entlastung von der aktuellen Verzweiflung. Das Besondere an Humes Verständnis ist aber, dass er entsprechend 226 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

seinem philosophischen Ansatz diese Effektivität der »Heilmethode Suizid« herausstreicht. Denn nach der Entkleidung des Todes auf einen empfindungslosen Zustand der vollkommenen Vernichtung der eigenen Existenz bleibt vom Akt des Suizids tatsächlich wenig Zukunftsweisendes. Schließlich ist der Tod unumkehrbar. Jedoch, und dies ist entscheidend, ist der Akt des Suizids als eigene Handlung stets in Reichweite. Der Mensch genießt stets die Freiheit zum Tode, da er ihn sich jederzeit und in jeder Situation selbst geben kann. Im Unterschied aber zu Seneca, der diese Einsicht ebenfalls herausstreicht und geradezu emphatisch feiert, ist für Hume dieser Umstand echter und unverlierbarer Handlungsfreiheit eher als neutrale Beschreibung der naturgegebenen Verfassung des menschlichen Wesens anzusehen. Hume ist auch in diesem Essay nicht wirklich an einer humanistisch inspirierten Feierstunde interessiert, sondern vielmehr am tatsächlichen Erleben des suizidalen Menschen und daran, aus welchen Beweggründen er die Entscheidung zum Suizid wirklich trifft. Und dies, so Hume, ist der entscheidende Beweggrund: der Suizid ist die einzig verbliebene effektive Erleichterung von der unerträglichen Belastung durch das Leben selbst. »If it (suicide J. S.) is no crime, both prudence and courage should engage us to rid ourselves at once of existence when it becomes a burden.« (Hume 1995, #8) Blicken wir auf Humes Ausführungen zurück, so können wir festhalten, dass sein Argument hinsichtlich der Unverletzlichkeit der Naturgesetze durch den Suizid eines einzelnen Menschen sicherlich überzeugend ist. Anders verhält es sich hingegen mit seiner Argumentation hinsichtlich anderer Menschen. Denn auch wenn es uns hier nicht darum gehen muss, eine wasserdichte gesellschaftliche Argumentation für oder gegen die Erlaubnis des Suizids zu finden, lässt Hume den Aspekt der Konvention unberücksichtigt. Dies ist auf den ersten Blick erstaunlich und wirft, angesichts Humes intensiver Beschäftigung mit dem Thema der Konvention in seinem Traktat, die Frage auf, ob er den Aspekt der Konvention einfach nur weniger offensichtlich diskutiert. Letzteres ist zutreffend, zielt doch der gesamte Essay darauf ab, die Konvention, dass der Suizid als verboten gilt, zu ändern. Ein fürwahr aufklärerisches, fast schon enthusiastisches Unterfangen, welches Hume hier mit Hilfe seiner doch eher nüchternen und deskriptiv orientierten Denkweise unternimmt. Überraschend auf den ersten Blick ist hingegen seine Argumentation hinsichtlich der Pflichten des Menschen sich selbst gegenüber. Denn so sehr Hume an dem Erleben des 227 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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suizidalen Menschen interessiert ist, so verwundert es zunächst, dass in seinem Essay eine unzweifelhafte Eindeutigkeit betreffend der Verfassung des suizidalen Menschen herrscht. Der Mensch scheint angesichts der Herbeiführbarkeit seines Todes geradezu positiv gestimmt und nimmt den Tod wie ein Heilmittel (»remedy«) zu sich. Der Suizid erscheint zuvorderst als eine Erleichterung, die zudem in eindeutig selbstwirksamer Weise erreicht werden kann. Jedoch, auf den zweiten Blick zeigt sich, dass Hume die Verzweiflung des suizidalen Menschen keineswegs verbirgt. Im Gegenteil, er betont letztlich sogar sehr deutlich, dass erst die unglücklichen Umstände den Menschen dazu bewegen, den Tod nicht mehr zu fürchten. Denn: »age, sickness, or misfortune may render life a burden, make it worse even than annihilation.« (#8) Hierin wird deutlich, inwiefern die Möglichkeit des Suizids zur personalen Freiheit des Menschen beiträgt, ja geradezu ein Geburtsrecht des Menschen darstellt. Es ist eben gerade ein Aspekt des in Freiheit führenden Selbstbezugs, sich auch den Tod geben zu können. Und es fügt den Handlungsfähigkeiten des Menschen selbst in den aussichtlosesten und ohnmächtigsten Verfassungen und Situationen eine Handlungsmöglichkeit hinzu, deren Ausgang gewiss ist: Erleichterung von der eigenen Verzweiflung. Insofern spricht Hume seinem eigenen Verständnis folgend konsequent von einer »native liberty«, die dem Menschen im Suizid gegeben ist. Dennoch, für einen mit dem Phänomen der suizidalen Erfahrung vertrauten Leser bleibt eine Verwunderung bestehen, die angesichts des erfahrungsgesättigten Ansatzes Humes regelrecht erstaunt. Ist es denn tatsächlich zutreffend, dass aus der Sicht des suizidalen Menschen eine solche Klarheit der Entscheidung gegeben ist, wie Hume sie in seinen Beispielsituationen darlegt? Da Hume von der Erfahrung des suizidalen Menschen ausgeht, ist es erstaunlich, dass er in seinen Überlegungen vollkommen unberücksichtigt lässt, dass der suizidale Mensch in der überwiegenden Dauer seiner suizidalen Erfahrung, gerade auch wenn er sich in so eindeutig erscheinenden Situationen befindet, hinund herschwankt, immer noch unentschieden ist und sich eben gerade nicht eindeutig zu entscheiden vermag (Schlimme 2007b u. 2007c). Diese Ambivalenz einer gewissermaßen basalen Unentschiedenheit ist aber, wie auch unsere bisherige Untersuchung gezeigt hat, ein zentrales und kulturell stets aufgegriffenes Merkmal der suizidalen Erfahrung, nachweislich bereits in der ersten schriftlichen Überlieferung, dem 228 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

»Disput eines Mannes mit seinem Ba« – auch »Der Lebensmüde« genannt – aus dem 18. Jahrhundert vor Christus auffindbar, wenn auch nicht bis in die Suizidentscheidung hinein verfolgt (Assmann 2005, S. 196 ff.). Und während Aristoteles den Suizid eher generell als eine Art »Kurzschlussreaktion« darstellt, greift die hellenistische Philosophie die längere Dauer des Erwägens in vollem Umfang wieder auf. Insbesondere Seneca gewinnt aus diesem Umstand den wirksamsten Hebel für sein apathisches Lebensführungsprojekt. Auch Montaigne, der Erfinder der Essays, weiß um diese Eigentümlichkeit. Und wie sich spätestens im 20. Jahrhundert zeigen wird, vermag die Ambivalenz oftmals noch bis in den letzten Atemzug zu bestehen. Wenn wir akzeptieren, dass auch Hume von dieser Unentschiedenheit in der suizidalen Erfahrung gewusst hat – und es spricht zumindest wenig dagegen – stellt sich angesichts Humes erfahrungsgesättigtem Ansatz die Frage, wie es zu dieser Eindeutigkeit in seinem Essay kommt? Es gibt diesbezüglich zwei sich ergänzende, jedoch unterschiedlich plausible Argumentationslinien: a) Hume beabsichtigt eine deskriptive Darstellung der tatsächlichen Funktionsweise des menschlichen Geistes in seiner Entscheidung zum Suizid; b) Hume beabsichtigt die Provokation von Mitgefühl in den Lesern für den Suizidenten, um dem konventionellen Suizidverbot seine gewohnheitsmäßige Grundlage in den Köpfen der Menschen zu entziehen. Verfolgen wir zunächst das Deskriptionsargument. Für das Argument, dass es sich schlicht um eine deskriptiv zu verstehende Einsicht in die Funktionsweise des menschlichen Geistes handelt, spricht nicht nur der allgemeine Hinweis, dass Hume in seinen Werken stets um deskriptive Einsichten auf erfahrungsgesättigter Grundlage bemüht ist. Auch im Essay »On Suicide« finden sich hierfür Hinweise, wie es beispielsweise in einer fingierten Debatte mit einem Vertreter der traditionell-religiösen Ansicht deutlich wird. Während dieser religiöse Mann die Vorsehung als Hintergrund eines Suizidverbots verteidigt, kann Hume angesichts seiner Argumente nur noch fragend formulieren: »Do you imagine that I repine at Providence, or curse my creation, because I go out of life, and put a period to a being which, were it to continue, would render me miserable? Far be such sentiments from me. I am only convinced of a matter of fact which you yourself acknowledge possible, that human life may be unhappy; and that my existence, if further prolonged, would become ineligible: but I thank providence, both for the good which I already enjoyed, and 229 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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for the power with which I am endowed of escaping the ills that threaten me. To you it belongs to repine at providence, who foolishly imagine that you have no such power, and who must still prolong a hated life, though loaded with pain and sickness, with shame and property.« (Hume 1995, #5) Diese Passage zeigt deutlich, dass es Hume zumindest auch um eine Deskription der ablaufenden Beweggründe für die Suizidentscheidung geht. Hume greift also die Geschichte der Frage nach der suizidalen Erfahrung tatsächlich wieder auf, wobei sein Interesse diesbezüglich vorwiegend darin besteht, die Impressionen und Vorstellungen zu beschreiben, die den Menschen dazu bewegen, sich für den Suizid zu entscheiden. Insofern gewinnt sich aber bereits aus dem Hinweis, dass Hume eine erfahrungsgesättigte Darstellung der geistigen Abläufe in der suizidalen Erfahrung beabsichtigt, die Rückfrage, weshalb er dann die Unentschiedenheit mit keiner Silbe erwähnt. Hätte doch dieser Umstand gerade bei seinem nüchtern-deskriptiven Interesse für die erlebten Beweggründe der Suizidentscheidung nicht fehlen dürfen. So sehr also das Deskriptionsargument einerseits überzeugt, so bleibt doch die Tatsache der einseitigen Berücksichtigung der suizidalen Erfahrung in Humes Essay bestehen. Offenbar müssen wir akzeptieren, dass Humes Absicht, eine fundierte Darstellung der geistigen Abläufe in der suizidalen Erfahrung zu liefern, für die Erklärung dieser Eindeutigkeit noch nicht ausreicht, und müssen einen weiteren Grund für diese Eindeutigkeit fordern. Das zweite Argument drückt eine deutlich aufklärerische Intention aus und soll insofern als Aufklärungsargument bezeichnet werden. Hierfür finden sich im Essay verschiedene Hinweise. Insbesondere die übergeordnete Absicht des Essays ist ganz diesem Aufklärungsargument verschrieben, denn es geht im Wesentlichen um die Kritik der Konvention, welche den Suizid als unmoralisch verurteilt und darum, den Suizid als in bestimmten Situationen nachahmenswert darzustellen (vgl. #1 u. #3 u. #8). Erinnern wir uns. Im ersten Absatz des Essays erklärt Hume, dass einzig die Philosophie von Aberglauben und falscher Religion befreien kann: »All other remedies against that pestilent distemper are vain, or at least uncertain.« (#1) Diese Einleitung erlaubt Hume, im dritten Absatz seinen Paukenschlag folgen zu lassen, der ganz entgegen der sonst staatstragenden Argumentationsintention der Aufklärer steht: »Let us here endeavour to restore men to their native liberty.« (#3) Wie sein Argumentationsweg im Essay zeigt, kann der Suizid in seinem Denken tatsächlich als eine »angeborene Freiheit 230 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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der Person« verstanden werden. Aber, reicht eine solche intellektuelle Überzeugung aus, um den Menschen dazu zu verleiten, den Suizid seines Nachbarn fürderhin günstig zu bewerten, wie Hume im letzten Abschnitt fordert? Mit Hume müssen wir sagen: keinesfalls. Im Gegenteil, Hume weiß aus seiner eigenen Untersuchung des Handelns und des moralischen Empfindens, dass der Mensch insbesondere durch seine Gefühle und Leidenschaften (»passions«) zum Handeln verleitet wird, kaum aber durch seine vernünftigen Überlegungen allein (Hume 2000, S. 367). Des Weiteren weiß er, dass Menschen ihre moralischen Bewertungen unterbewusst nach eigenen Gewohnheiten vornehmen, die nur schwer zu korrigieren sind (S. 302 ff.). Eine Veränderung dieser moralischen Bewertungen gelingt aber, wenn überhaupt, dann vorwiegend dank des geistigen Funktionsprinzips der »sympathy« (S. 273 u. 368 ff.). Wenn es also gelingen soll, eine Konvention zu verändern, kann, so Hume, die vernünftige Argumentation nicht ausreichen. Vielmehr gilt es, in den Lesern durch entsprechend lebhafte Vorstellungen entsprechende Gefühle zu wecken (S. 207 f.). Nur auf diesem Weg kann es gelingen, die Leser behutsam und mehr oder weniger unbewusst dazu zu bewegen, die moralische Verurteilung des Suizids aufzugeben oder zumindest abzuschwächen, vielleicht sogar eine moralische Zustimmung zum Suizid zu entwickeln. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der intellektuelle Argumentationsweg also möglichst beispielreich sein und die persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglichen. Prüfen wir, ob dieses Aufklärungsargument plausibel ist, ob es Hinweise auf eine solche, persönlich involvierende Art der Auseinandersetzung mit dem Thema, über die erklärte Absicht hinaus, gibt. Diese Hinweise finden sich tatsächlich in vielfältiger Weise. Freilich spricht schon der Umstand, dass Hume das Thema in einem Essay angeht, dafür. Ist dies doch die ideale literarische Gattung für eine emotionalisierte Argumentation. Darüber hinaus sollten aber auch die genutzten Beispiele und Argumente zumindest zwei Bedingungen erfüllen, damit sie das Entstehen von Vorstellungen im Leser möglichst gut provozieren können: a) sie sind kurz und einprägsam; b) in ihnen herrschen eindeutige Gefühle. Beide Bedingungen werden von Humes Beispielen und Argumenten aufs Genaueste erfüllt. So lassen seine Beispiele trotz ihrer Kürze an Lebendigkeit und Eindeutigkeit nichts vermissen, es entstehen unweigerlich Vorstellungen im Kopf des Lesers: das Elend und die Scham des gebrechlichen Alters, die Angst vor 231 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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den Folterqualen und der ohnmächtigen Auslieferung an Folterknecht oder Henker. Hume bemüht sich erkennbar, den Leser für die Sichtweise des suizidalen Menschen einzunehmen, ihn in dessen Lage zu versetzen, um dessen Mitgefühl zu wecken. Auch seine Argumente sind zumeist beispielhaft. Zudem bezieht er den Leser durch sein wiederholt aufgegriffenes Frage- und Antwort-Spiel immer wieder in die Auseinandersetzung hinein. So entsteht ein Subtext, der aus Humes Essay überhaupt erst einen wirklichen Essay macht. Denn im Stile eines hervorragenden Essayisten überlässt es Hume eben nicht nur dem direkten Argumentationsweg, bei den Lesern die gewünschte Wirkung zu erzielen. Vielmehr geht er subtil vor, wobei diese Vorgehensweise aufs Genaueste seinem Verständnis von der Funktionsweise des menschlichen Geistes entspricht. Wenn sich also die Eindeutigkeit in seinem Essay begründen lässt, dann ganz offenbar aus dem Aufklärungsargument. Aus Humes Sicht ist es sicherlich ein glücklicher Umstand, dass sich dieses hervorragend mit seinem deskriptiven Ansatz verträgt. Allerdings nötigt es ihn, die andere, immer noch auf Rettung im Irdischen hoffende Seite des suizidalen Menschen stets ein wenig Außen vor zu lassen. Daraus aber, dass sich in Humes Essay diese Seite des verzweifelten und suizidalen Menschen nicht in aufdringlicher Weise finden lässt, kann, wie gezeigt, nicht geschlossen werden, dass Hume sie nicht für beachtenswert gehalten hätte oder gar nicht gekannt habe. Im Gegenteil, seine Briefe an Madame de Boufflers-Rouverel aus dem Oktober 1764 richten sich beispielsweise in aufmunternd-tröstender Weise an eine suizidale Person (Streminger 1986, S. 97). Hume redet zudem trotz aller Eindeutigkeit in seinem Essay »On Suicide« keineswegs dem sofortigen Suizidieren das Wort. Er betont aber, dass die suizidale Einsicht, im eigenen Tod eine Erleichterung und damit auch eine Rettung zu sehen, unwiderleglich Gültigkeit hat. Und er zeigt, dass diese Einsicht das Handeln des betreffenden Menschen zu leiten vermag, wenn sie in der (suizidalen) Erfahrung gründet, dass das Weiterleben schrecklicher erscheint als die Angst vor dem Tod. Zusammenfassend zeigt sich, dass Humes Verständnis der suizidalen Erfahrung gewissermaßen radikal ist, da er die suizidale Perspektive zu einer ebenso gültigen erklärt wie die nicht-suizidale Perspektive. Er reformuliert damit in aufklärerischer Manier die stoische Überzeugung, dass das Leben ausschließlich dem gehört, der es lebt: »native liberty«. In entsprechenden Situationen steht dem Menschen 232 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

eine letzte Möglichkeit der angeborenen Freiheit der Person zur jederzeitigen Verfügung. Dabei betont Hume, dass diese Situationen von Verzweiflung und Aussichtslosigkeit geprägt sind und dass der Tod auch in der Vorstellung der vollständigen Empfindungslosigkeit und Existenzvernichtung eine Erleichterung darzustellen vermag: der Suizid als effektive Heilmethode. Dass dieses Verständnis bei dem mittlerweile – fraglich auch unter dem Eindruck des »Werther« (Goethe 1998, Bd. 6, Die Leiden des jungen Werther) – zu einem öffentlichen gesellschaftlichen Thema gewordenen Phänomen Suizid aus traditionellen Verständnissen heraus auch in England nicht unwidersprochen bleibt, versteht sich eigentlich von selbst (Steinberg 1999). Entsprechend gibt es seit dem 18. Jahrhundert auch eine Fülle von Abhandlungen, die den Suizid aus unterschiedlichsten Begründungen ablehnen, sei es aus moralischen, religiösen oder letztlich medizinischen Gründen (MacDonald/Murphy 1990, S. 176–210; vgl. Scherpe 1970, S. 36 ff.). Die Gültigkeit von Humes Beschreibung der Funktionsweise des geistigen Apparats in der suizidalen Erfahrung – die gefühlte Überzeugung des suizidalen Menschen, dass ihm der Suizid als effektives Heilmittel geblieben ist und zur Verfügung steht – können sie damit jedoch nicht entkräften.

3.6.

Das medizinische Verständnis und die »Nachtseite« des Menschen

Die Bewegung der Aufklärung kritisiert das Überlieferte und weist alternative und vernunftgeleitete Verständnismodelle mit dem Ziel aus, den Menschen und die Gesellschaft über ihren natürlichen Zustand hinaus vernünftiger und damit perfekter zu machen (Müller 2002, S. 40 ff.). Sie ist insofern immer auch als eine praktische Bewegung zu verstehen, die das gesamte Leben, den Staat und die Gesellschaft, die Kirche(n) und die Kultur zu reformieren und auf die Grundlage der Rationalität zu stellen bemüht ist (S. 3). Dies gilt auch für die suizidale Erfahrung und das Sich-töten-können und führt letztlich, wenn auch erst im 20. Jahrhundert, in die Suizidprophylaxe als eine kulturelle Bewegung. Den Boden für diese Kulturbewegung, deren wissenschaftliches Fundament medizinisch-psychologische und soziologische Konzepte und Überlegungen liefern, bereitet die Aufklärung, wie wir sie beispielhaft in den Verständnissen bei Hume und Kant kennengelernt 233 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

haben. Dabei wird die unvernünftige Seite des Menschen mit Beginn der Neuzeit zunehmend ins Innere des Menschen hineinverlagert und zugleich vom Verstand konzeptuell abgeschieden, so dass »Nachtfahrten«, »böse Geister« und »Wunder« gewissermaßen einer »Real-Entwirklichung« unterliegen. Die damit sich abzeichnende grundlegende Verwandlung der Vernunft scheidet nicht nur den Wahnsinn als nunmehr schlicht unvernünftig ab (Foucault 1989, S. 70 ff.). Sondern es kommt insbesondere eine »Nachtseite« des Menschen zum Vorschein, deren Aufklärung das nächste große Kulturprojekt ist, welches in einer europaweiten Bewegung zum Ende des 18. Jahrhunderts ihren Anfang in den aufgeklärten Schichten an den unterschiedlichsten Ansatzpunkten nimmt (vgl. zur Psychiatrie bes. Kaufmann 1995, zum Rausch bes. Kupfer 1996). Auch der Suizid findet sich auf dieser »Nachtseite« des Menschen wieder. Wird er in der Aufklärung weit überwiegend als unsittlich und unvernünftig angesehen, stellt sich für ein aufgeklärtes Verständnis des Menschen notwendigerweise die Aufgabe, über diese unvernünftigen Beweggründe aufzuklären. Sie finden sich, entsprechend der zunehmenden Hineinverlagerung des Unvernünftigen oder Unerklärlichen in die Tiefe des Menschen und seine subjektive Erlebnisqualität, vorwiegend im »Innern« des Menschen. Denn ganz offenbar sind diese »inneren Beweggründe« in der Lage, das Bewusstsein und/oder den Verstand des Menschen in dem Moment der Suizidentscheidung zu unterfangen und zu überwinden. In ähnlicher Weise operiert der aufgeklärte Nachweis der Unsittlichkeit des Suizids durch Immanuel Kant. Dabei erarbeitet Kant zwar unter der Annahme eines unverbrüchlichen Treuhandverhältnisses des vernunftgeleiteten homo noumenon für den leiblichen Menschen eine Sicht, in der der Suizid unter keinen Umständen vernünftig erscheinen kann. Da Kant aber zudem zwischen der sittlichen Qualität des Suizids im Sinne einer formal formulierten Sittlichkeit und dem daseinsmäßig anwesenden Menschen unterscheidet, sagt der Nachweis der Unsittlichkeit des Suizids über die Art und Weise der tatsächlich gegebenen suizidalen Erfahrung noch nicht mehr aus, als dass der Suizid aus kantischer Sicht nicht freiwillig und rational begründet erfolgen könne. Auch wenn er in seiner »Metaphysik der Sitten« hinsichtlich konkreter Beweggründe für den Suizid weitgehend schweigt, finden sich diese Beweggründe ganz offenbar in der unvernünftigen, gewissermaßen animalischen »Nachtseite« des Menschen (Kant 1968, S. 423 f.). Denn 234 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

zwar ist jeglicher Suizid für Kant unsittlich, und dies ist in seiner Sicht auch jedem Menschen vernünftig einsehbar, aber nicht alle Menschen halten sich an diese vernünftige Einsicht oder sind gar der »irrigen« Ansicht, dass ihr Suizid eine vernünftige Tat sei (vgl. Anonymus 2000). Mit dieser Ansicht steht Kant keineswegs allein, sondern findet sich im kulturellen Trend seiner Zeit, in welchem das medizinische Verständnis der suizidalen Erfahrung erneuert und zu neuer Bedeutung geführt wird. Dabei geht dieses medizinische Verständnis in seinen Ursprüngen bis auf die griechisch antike Medizin von Hippokrates zurück, welches auf dem konzeptuellen Boden der Säftelehre den Zusammenhang formuliert, dass die Melancholie, eine aus heutiger Sicht eher uneinheitliche psychische Störung mit oftmals wahnhaften Erlebniszügen, häufig mit Suiziden einhergeht. Bedeutend am medizinischen Verständnis der suizidalen Erfahrung ist aber für die Aufklärung nicht der konzeptuelle Ansatz, denn den »Säften« im hippokratischen Sinne ergeht es gegenüber dem skeptischen Zweifel nicht anders, als den »bösen Geistern« und den »Wundern«. Auch die »Säfte« werden als menschengemachte Vorstellungen entlarvt, denen keine empirisch nachweisbare Wirklichkeit gegenüber steht, so dass in dieser Zeit ein paradigmatischer Umbruch in der Medizin erfolgt (Tsouyopoulos 2008). Vielmehr sind die folgenden zwei Punkte des medizinischen Modells wesentlich für eine aufgeklärte Neuformulierung: a) Der Suizid ist nicht die bewusst absichtliche Entscheidung gemäß vernünftiger Überlegung und ist von daher aus einem anderen Seelenteil als dem Verstand motiviert. b) Der Suizid, verursacht durch diesen anderen Seelenteil, setzt den Suizidenten – gewissermaßen seit Platon und vergleichbar dem Wahnsinn bzw. der Melancholie – von allen kulturell üblichen Bewertungsmaßstäben, die an die Verantwortlichkeit einer Person gestellt werden, hinsichtlich seiner Suizidtat frei. Denn das fehlende Bedenken und die Unvernunft der Entscheidung ist eben gerade »krankheitsbedingt« gegeben, so dass die Suizidentscheidung nicht im Belieben der betreffenden Person steht. Damit einher geht zugleich, dass jegliche suizidale Erfahrung als pathologisch und jeglicher Suizid als Abschluss einer pathologischen Entwicklung gelten kann. Der zweite Aspekt, die fehlende Verantwortlichkeit, verhilft dem medizinischen Modell – wenn auch in seiner humoralpathologischen Gestalt – zu einer enormen Bedeutung in England (MacDonald/Murphy 1990). Da im England des 17. und 18. Jahrhunderts die örtlichen Richter gezwungen sind, im Nachgang eines Suizids eine Bewertung 235 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

der Suizidtat in Hinsicht der Schuldfrage vorzunehmen und hierbei der Wahnsinn den Suizidenten entschuldigt und so eine normale Vererbung erlaubt, machen die Richter, die selbst als Mitglieder der »gentry« ein Interesse an normalen Vererbungsverhältnissen haben, zunehmend von dieser Möglichkeit des »entschuldigenden Wahnsinns« Gebrauch. So gewinnt das medizinische Verständnis, zunächst noch in seiner antiken Gestalt, unter dem Einfluss aufgeklärter Juristen in England ab 1650 an Bedeutung, und zeigt sich als die letztverbliebene Möglichkeit, die Irrationalität und Unvernunft des Suizids nachvollziehbar und verständlich zu machen. Denn schließlich, so das Argument von MacDonald und Murphy, geht das Verständnis »dämonischer Besessenheit« im Zuge der Säkularisierung und Aufklärung in den gebildeten Schichten verloren. »The eighteenth-century loss of confidence in diabolic powers did not, therefore, require the invention of a new psychology of suicide. It meant merely that lay opinion makers stressed one rather than the other of the traditional explanations for it […]. In other words, attitudes and responses to suicide were medicalized by default. The ancient eclectic model of psychological causation that united the natural and supernatural was demystified, and only the medical possibilities remained.« (MacDonald 1989, S. 85) Diese in England sich bereits früh in den gebildeten Schichten etablierende Gleichsetzung von Unvernunft und Suizidentscheidung zeigt sich öffentlichkeitswirksam insbesondere auch in der zeitgenössisch populären Druckserie »Marriage A la Mode« (1745), in welcher der Maler und Karikaturist William Hogarth (1697–1764) den Suizid einer Gräfin durch eine Überdosis Opium (Laudanum) als Folge eines liederlichen (»luxuriösen«) Lebenswandels zeigt (Brown 2001, S. 119 ff.). Dennoch bleibt diese Gleichsetzung nicht unwidersprochen (so z. B. David Hume), da sie schließlich immer die Frage danach zuzudecken droht, was denn nun die genaueren Beweggründe für die jeweilige Suizidentscheidung gewesen sind. Aber auch im katholischen Frankreich finden sich im 17. Jahrhundert zwei erwähnenswerte Verständnisse des Suizids, die auf indirektem Weg das medizinische Modell – ebenfalls in seiner humoralpathologischen Gestalt – in seiner kulturellen Bedeutung befördern, obwohl sie nur aspekthaft eine Nähe zum medizinischen Verständnis zeigen. Die beiden Verständnisse ergeben sich aus dem verwirrenden Aufeinandertreffen der beginnenden Aufklärung und der christlichen Religion, in dem die Frage nach der Wirklichkeit eines glücklichen irdi236 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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schen Daseins im Rückbezug auf christliche Verständnisse thematisiert wird. Diese Rückbesinnung auf das Christliche erfolgt dabei im katholischen Frankreich in zwei Richtungen: zum einen in einer Flucht in das Spirituelle, in welcher dem irdischen Dasein gewissermaßen der Rücken gekehrt wird; zum anderen in einer Flucht in den gottesfürchtigen Humanismus, in welchem der Mensch die neuzeitlichen Entdeckungen der Welt mit Freude und positiv unbeschwertem Gottvertrauen empfängt (Minois 1996, S. 242 ff. u. S. 249 ff.). In der ersten Fluchtbewegung, in der Suizid als die eigentliche Freiheit begegnet, die aber – wir könnten versucht sein zu sagen: leider Gottes bzw. dank Augustins Interpretation des 5. Gebots – nicht lebendig erreichbar ist, kann keine Annäherung an das medizinische Verständnis der suizidalen Erfahrung gefunden werden. Anders verhält es sich in der anderen Fluchtbewegung, denn hier versteht sich die suizidale Erfahrung als Ausdruck oder Folge einer »Traurigkeit«, welche nicht zu heilsamer Reue führte. Die suizidale Erfahrung ist demnach auch durch Reue zu beheben, was eine interessante Vorwegnahme der ab 1900 einsetzenden gezielteren therapeutischen Bemühungen darstellt und einen Hinweis darauf gibt, dass die suizidale Verfassung nicht direkt – also gewissermaßen durch bewussten Vorsatz –, sondern nur indirekt – also beispielsweise durch kathartische Lösungen von hintergründigen Konflikten – behoben werden kann. Während so eine Annäherung an das medizinische Verständnis möglich wird, findet sich freilich in diesem gottesfürchtigen Humanismus auch ein Verständnis des Suizids, das zunächst vom medizinischen Modell wegzuführen scheint, letztlich aber infolge seiner eigenen Unplausibilität im Angesicht aufklärerischen Fragens das medizinische Verständnis befördert. Denn im Selbstverständnis des gottesfürchtigen Humanisten kann der Suizid auch in seiner Nähe zum christlichen Opfertod verstanden werden (Minois 1996, S. 253). Und tatsächlich, so George Minois, zunächst versteht der französische Adel den Suizid im Stile eines römischen Offiziers als Akt der Ehre (S. 215 ff.), wobei damit zugleich die platonisch-paulinische Problematik wieder aufbricht, dass jede Verzweiflung als eine Aufforderung zum Märtyrertod erscheinen kann. Dies ändert sich (und bannt damit zugleich die Gefahr übereilter Suizide) durch die Kodifizierung des »ehrenvollen Suizids« in ein »ehrenvolles Duell« zwischen Adligen, welches sich zwischen 1600 und 1660 entwickelt (und weitaus seltener zum Tode führt) (S. 229). Nicht zuletzt ist die gottesfürchtige Umdeutung des Suizids zum Opfertod in adligen und klerikalen Schichten auch vor dem vor237 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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gesetzten Rechtsherrn bedeutsam, da hiermit entsprechend Sanktionen für die Familie abgewendet werden können (S. 216 ff.). Umgekehrt betont die Glorifizierung des Suizids als Opfertod – ganz entgegen dem medizinischen Modell – die Verantwortung des Betreffenden für seine Suizidtat und weist zugleich alle außerbewussten Beweggründe zurück. Unter dem Eindruck zunehmender Kritik der adligen und klerikalen Schichten im katholischen Frankreich des 18. Jahrhunderts wird allerdings die Begründungsbasis dieses gottesfürchtigen Verständnisses fragil. So bricht auch hier die »Nachtseite« des Menschen auf, und es stellt sich zunehmend die Frage, wo die Beweggründe dafür liegen, dass bestimmte Schichten solche Sonderverständnisse für sich in Anspruch nehmen. Zusammenfassend gelangt die Aufklärung in ihrem Bemühen, den Menschen vernünftig über sich selbst aufzuklären, also nicht nur an apriorische Aufklärungsgrenzen, sondern stößt insbesondere auf Seiten des Menschen, in denen er sich selbst nicht ganz geheuer ist. Nicht zuletzt die Hoffnung, auf ausschließlich vernünftigem Weg ein »Wozu« des Lebens finden zu können, wird fragwürdig. In dieser Bewegung befinden sich auch Goethes »Werther« (vgl. Scherpe 1970, S. 74 ff.) und Humes »Essay«. Denn das Bemühen um eine aufgeklärte Einsicht in die Verfassung der suizidalen Erfahrung, die in die Suizidentscheidung mündet, ist sowohl bei Hume als auch bei Goethe vordringlich. Während Hume etwas vereinfachend die geistigen Operationen beschreibt, die zur Suizidentscheidung führen und dabei sehr pointiert die Logik der Suizidentscheidung aus der Verzweiflung des suizidalen Menschen als nachvollziehbar darstellt, zeigt Goethe in seinem »Werther« die innere Widersprüchlichkeit der suizidalen Erfahrung, die bis in die Suizidentscheidung erhalten bleibt (Goethe 1998, Bd. 6, Die Leiden des jungen Werther, S. 123). Beide weisen nach, dass sich das Gefühl (Goethe) und die Gewohnheit (Hume) dem vollständigen Zugriff in der vernünftigen Selbstbeziehung verschließen, sogar dann, wenn diese Seite in ihrem funktionalen Ablauf verstanden wird und sich der suizidale Mensch viel Zeit für seine Entscheidung im Stile einer suizidalen Dialektik nimmt. Insbesondere Goethes »Werther« wird in einer vereinseitigenden Rezeption durch Teile des Bürgertums als Modellfall für einen »Suizid aus Schwärmerei« genommen (vgl. Scherpe 1970, S. 37 ff.; Steinberg 1999; so auch Goethe im Rückblick, vgl. Goethe 1998, Bd. 9, Dichtung und Wahrheit, S. 583 ff.). Es ist diese Bestimmung der suizidalen Erfahrung als Ausdruck und Folge der 238 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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»Schwärmerei«, welche das medizinische Modell revolutionieren wird. Denn sie begründet in aufklärerischer Manier, dass die suizidale Erfahrung durch einen anderen Seelenteil als den Verstand verursacht wird und eben gerade nicht Folge einer vernünftigen Überlegung sein kann. Das Sich-töten-wollen gewinnt damit einen durchgehend krankhaften (»nachtseitigen«) Charakter und weist den Suizidenten der Medizin, und insbesondere der sich entwickelnden Psychiatrie, zur Behandlung zu. Betrachten wir also genauer, wie dieses Verständnis der suizidalen Erfahrung als »Schwärmerei« mit dem medizinischen Modell zusammengefügt wird.

3.7.

Suizid aus »Schwärmerei«

Die Verinnerlichung des Unvernünftigen im Menschen entspricht der bürgerlichen Selbsterfahrung des 18. Jahrhunderts, aus dem eigenen Innern heraus unvernünftig bedrängt zu werden. Doch die Verlagerung der Herkunft der Beweggründe für unvernünftige Handlungen ins Innere des Menschen und deren »Real-Entwirklichung« löst die unvernünftigen Handlungen nicht auf. Sie stellt aber die Frage nach deren Herkunft in neuer Weise: Woher kommen die unvernünftigen Handlungen und – aufklärerischer gefragt – welchen Regelmäßigkeiten folgen sie, wenn sie nicht mehr das Schicksal, die Vorsehung oder der Teufel schickt? Diese sich bereits bei Hume findende Frage verweist auf die innere Widersprochenheit der Person, welche das eine will und das andere tut. Die Frage provoziert und motiviert nicht nur größtmögliche Selbstaufklärung über dieses »Innere«, sondern – wie im »Sturm und Drang« und der »Romantik« – auch Kritik an der Einseitigkeit des Vernunftprinzips, da ja nicht nur die »Nachtseite«, sondern auch das »Fühlen« dem Menschen unabdingbar zugehört. Insbesondere Emanuel Swedenborg (1688–1772), ein berühmter »Geisterseher«, nimmt ein dem »Fühlen« zugeordnetes, abseits des Sinnesorganischen stattfindendes und von der Vernunft unabhängiges »inneres Sehen« an. Dieses ermöglicht nach Swedenborg dem einzelnen Menschen Zugang zu den tieferen, hinter dem objekthaft Sichtbaren liegenden, im Fühlen sichtbar werdenden Dimensionen der Wirklichkeit (Kupfer 1996, S. 90 ff.). In der Aufklärung hingegen gilt zunächst mit John Locke (1632–1704) der objekt-abbildende Charakter des Sehens – letztlich im Sinne des 239 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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englischen Empirismus –, wobei Locke das Bewusstsein im Unterschied zu Descartes als tabula rasa versteht, welches sich unter dem Eindruck äußerer und innerer Wahrnehmungen erst ausbildet. Diese Widersprüchlichkeit der Verständnisse des Wahrnehmens löst erst Immanuel Kant (1724–1804), indem er zeigt, dass der Blick nicht zur objektiven Gestalt des Äußeren – dem sog. »Ding an sich« – durchdringen kann, sondern sich schon stets im Rahmen seiner eigenen apriorischen Bedingungen des Wahrnehmens bewegt. Damit ist das Wahnehmen sowohl Vorstellen als auch Abbilden, aber eben innerhalb des menschenmöglich Abbildbaren und Vorstellbaren. Swedenborgs »inneres Sehen« kann so als sinnhafte »Augenfälligkeit« des Einzelnen verstanden werden, verbleibt aber unabdingbar innerhalb des menschenmöglich Vorstellbaren und muss damit ebenso der Vernunft unterworfen werden wie »äußerlich Gesehenes«. Wesentlich ist dabei zudem für die Entwicklung der Psychologie und Psychiatrie, dass Kant in seiner Philosophie – vermutlich im Gefolge von Hume – die cartesisch geprägte Auffassung der Seele als einer unzerstörbaren (göttlichen) Substanz konzeptuell von der Psyche unterscheidet, wobei letztere aufklärbaren Gesetzen bzw. Kausalitäten unterliegt und insofern auch veränderbar ist. Die Psyche wird so der »inneren Erfahrung« zugewiesen, wobei die sich aufklärende Bürgerlichkeit von dieser Zuweisung im Sinne einer »Erfahrungsseelenkunde« ausführlichen Gebrauch macht. Und es ist ebenfalls Kant, der in seiner wirkmächtigen »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798) ganz im Sinne der Aufklärung die Frage, »was er (der Mensch J. S.), als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll« (Kant 2000, S. 399), in den Mittelpunkt stellt und dabei die Aufklärung über das eigene Innere mit einbezieht, über welches sich der Mensch jedoch infolge Verstellung, affektiver Betroffenheit, Gewohnheit und Nachträglichkeit der Beobachtung fundamental täuschen kann, wobei er zudem diesbezüglich »konstruktiven« Grenzen der Selbsterkenntnis unterliegt. Die Aufklärung hinsichtlich der Selbstaufklärung des Menschen zeigt sich demnach als ein zweiseitig-doppelbödiger Prozess: Zum einen weist der Mensch in der reflexiven Selbstbeziehung seiner präreflexiven Basis (der »inneren Natur«) das Unvernünftige zu und eignet sich so für seine selbstbewusste Reflexion die Vernunft an, und zum anderen hebt sich das derart »vernünftige Ego« von der eigenen präreflexiven und als unvernünftig deklarierten (leiblichen, subliminalen) Basis ab, ohne verbindungslos zu werden. Wesentlich ist also für 240 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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die Selbstaufklärung die vernünftige Einsicht in die Abläufe dieser unvernünftigen »Nachtseite« des eigenen Inneren, welches aber eben gerade, wenn dies als vernünftiger Beobachter tatsächlich geleistet werden soll, unabhängig von eigenen gefühlshaften Bewegungen und Bewertungen erfolgen muss. Es ist genau diese Bewegung, welche im »Seelengefährdungsdiskurs« des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts von den Aufklärern vollzogen wird. Zentral ist dabei das »Magazin für Erfahrungsseelenkunde«, welches Carl Philipp Moritz (1756–1793) initiiert und mit Unterbrechung von 1783–1793 herausgibt. In diesem Magazin wird durch literarische (Selbst-)Thematisierung die bürgerliche Selbsterfahrung der fundamentalen Verunsicherung veröffentlicht, die Moritz auch in seinem Roman »Anton Reiser« (1785–1790) zum Thema macht. In seinem populären und einflussreichen Magazin erfolgt dabei die Beobachtung der »Innerlichkeit« in Analogie zur naturwissenschaftlichen Methode (Kaufmann 1995, S. 46 ff.; Sonntag 2001). Diese zeichnet sich im damaligen, der Aufklärung folgenden Selbstverständnis durch größtmögliche Distanz und Ruhe des Beobachters aus, um Einblick in die Gesetzlichkeiten des Faktischen zu gewinnen (Moritz 1786, S. 2). So fordert Moritz von seinen Autoren auch bei Selbstbeobachtungen, »ruhiger, kalter Beobachter« zu bleiben, mit dem Beobachteten nicht empathisch mitzuleiden und so außerhalb des Wirbels der Leidenschaften zu verbleiben. Dabei zeigt sich nun insbesondere die vorstellende Kraft bzw. die Einbildungskraft als entscheidend für alle möglichen Seelenkrankheiten. »Da nun das Wesen der Seele vorzüglich in ihrer vorstellenden Kraft besteht, so muß auch der Ursprung der Seelenkrankheiten, in irgendeiner zur Gewohnheit gewordenen unzweckmäßigen Äußerung dieser Kraft zu suchen seyn.« (Moritz 1786, S. 3 f.) Hierbei geht es Moritz nicht primär um eine exakte Beschreibung der Veränderungen, sondern vor allem darum, die vermuteten Ursachen dieser Veränderung aufzufinden. Auch der »Lebensüberdruss« ist für Moritz eine »Krankheit der Seele, die im höchsten Maße unnatürlich und gewaltsam ist, (und J. S.) scheint mit sehr schnellen Schritten vorwärts zu gehen« (S. 31). In seinen »Revisionen« der in die ersten drei Bände aufgenommenen, zuweilen tableauartig und erstaunlich wenig die inneren Abläufe beschreibenden Darstellungen von Suiziden bestimmt er den »Lebensüberdruss« nicht nur als Seelenkrankheit, sondern erklärt zudem, dass höchst unterschiedliche Ursachen in diesen Zustand 241 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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führen können (S. 11 f.). So findet er zum einen, dass »eine große Anzahl Menschen dem Märtyrertode entgegen eilten, weil ihre von den Szenen des künftigen Lebens erhitzte Phantasie ihnen dieß Leben schaal und abgeschmackt machte.« (S. 25) Aber auch die Gegenüberstellung einer »Noth der Seele« – wie die veröffentlichten Abschiedsbriefe eines Suizidenten darlegen (Clooß 1783, S. 38) – bzw. »die entsetzliche Furcht vor einem qualvollen Leben« (Moritz 1786, S. 29) im Vergleich zu einer oftmals idealisch phantasierten Welt – im Diesseits oder im Jenseits – im Sinne einer »überspannten schwärmerischen Phantasie« (S. 31), sind für Moritz häufiger Anlass für den Suizid. Ohne aber die innere Struktur dieses Lebensüberdrusses genauer darzustellen, konzentriert sich Moritz letztlich vor allem auf die »Schwärmerei« als den wesentlichen Baustein des Lebensüberdrusses. Hiervon abweichend interpretiert Moritz einige der Suizide auch als Folge von »Lebensüberdruß aus Eitelkeit« (S. 26), wobei er jedoch die Eitelkeit ihrerseits als Seelenkrankheit fasst und genauer als eine »Verwöhnung unserer Denkkraft« beschreibt, in welcher nur noch man selbst der Gegenstand des Denkens sei, anstatt zeitweise auch andere Menschen oder Themen zu bedenken (S. 8 f.). Jedoch kann für Moritz auch die ständige Beschäftigung der eigenen Vorstellungskraft mit dem Tod die Ursache eines dann tatsächlich unglückhaft eintretenden Todes sein, da dem Betreffenden aufgrund dessen in gefährlichen Situationen die »Geistesgegenwart« fehle, die zur Rettung erforderlich gewesen wäre (S. 20). Und nicht zuletzt ist diese Seelenkrankheit des Lebensüberdrusses auch für andere gefährlich, da diejenigen, die »aus Furcht vor der Sünde des Selbstmords, und vor den Verlust der Seeligkeit, der darauf steht, nicht dazu schreiten, und doch ihres Lebens loß seyn wollen, gemeiniglich Kindermörder werden« in der sicheren Erwartung der eigenen Hinrichtung (S. 28). Trotz dieser Ausnahmen ist Moritz weit davon entfernt, die Frage nach der suizidalen Erfahrung in einer deskriptiven oder gar phänomenologischen Weise anzugehen. Vielmehr zielen seine Ausführungen immer wieder auf dasselbe, keineswegs wertneutrale Erklärungsmuster, so dass im »Magazin für Erfahrungsseelenkunde« die suizidale Erfahrung vorwiegend als eine »Nachtseite« des Menschen verstanden wird, die durch »Schwärmerei« verursacht wird. Die »Schwärmerei« ist dabei aufs Engste mit der »Einbildungskraft« des Menschen verbunden. Moritz’ Konzentration auf dieses Erklärungsmuster ist dabei in gewisser Weise durchaus nachvollziehbar, da sich schließlich kein 242 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Mensch absichtlich den Tod geben würde, wenn er keine Kenntnis der eigenen Sterblichkeit und keine Aussicht auf eine wie auch immer geartete Verbesserung des eigenen Befindens im Tod hätte. Dieser Aspekt der suizidalen Erfahrung wird auch später in den psychiatrischen und psychodynamischen Verständnissen der suizidalen Erfahrung eine bedeutende Rolle spielen. Damit werden bei Moritz ohne direkten Bezug zum medizinischen Modell die bereits angeführten zwei Punkte auf neue Weise formuliert: a) Der Suizid erfolgt deshalb nicht aus vernünftigen Überlegungen, da unter dem Eindruck einer überaktiven und ins Phantastische abgleitenden Einbildungskraft die Entscheidung unter falschen Voraussetzungen getroffen wird. Es sind letztlich die »eingebildeten Phantasien«, die die betreffende Person ihre Entscheidung zugunsten des Suizids fällen lassen. b) Die betreffende Person ist für ihre Suizidtat nicht in dem Sinne verantwortlich, wie es ein vernünftiger Mensch in vollem Sinne sein kann, da ihre »Schwärmerei« den vollen Gebrauch der Vernunft unmöglich gemacht hat. Dieses Verständnis der suizidalen Erfahrung als Ausdruck und Folge der »Schwärmerei« hat bedeutsame Konsequenzen hinsichtlich der Bewertung dessen, was der suizidale Mensch erlebt. Denn mit der Gleichsetzung, dass alles im Tode Erhoffte nur eine Einbildung und Illusion – also Ausdruck der »Schwärmerei« – ist, erfolgt eine RealEntwirklichung des Rettenden im Suizid. Dies geht zugleich mit einem Totschweigen des Todes einher. Denn unbenommen aller Bewertungen zwingt die letzte Unverfügbarkeit des Todes, seine radikale Alterität im Vergleich zum Leben, zur Anerkennung zumindest einer rettenden Qualität im Suizid: der der Erleichterung von der aktuell gegebenen Verzweiflung. Wenn aber selbst diese Hoffnung nur eine Einbildung oder Illusion sein soll, ist auch der Tod nur einen Schritt davon entfernt, eine Einbildung zu sein. So wird der Tod im Verständnis der suizidalen Erfahrung gewissermaßen totgeschwiegen. Diese Bewertung der rettenden Qualität des Suizids wird in den sich entwickelnden psychiatrischen und psychologischen Verständnissen weitgehend deckungsgleich aufgenommen und kann sogar aspekthaft in den aktuellen suizidologischen Verständnissen wiedergefunden werden. Letztlich aber wird der Tod aus dieser Umklammerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts befreit (Gumbrecht 2003), so dass die rettende Qualität des Suizids wieder neutraler thematisiert werden kann. Dies findet sich insbesondere bei Karl Jaspers (1883–1969) bzw. in seiner Existenzphilosophie. Der entscheidende Durchbruch zur Frage nach der suizidalen 243 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Erfahrung zeigt sich, so die Position dieser Arbeit, eben gerade darin, dass das Erleben des suizidalen Menschen nicht schon von vornherein unter dem Eindruck moralischer Bewertungen gedeutet wird, sondern dass zuallererst – gewissermaßen in einer Anknüpfung an Hume – überhaupt erstmal danach gefragt wird, wie dem suizidalen Menschen die Dinge gegeben sind. Eine solche Frage aber ist im moritzschen »Magazin für Erfahrungsseelenkunde« trotz seines Wahlspruchs »Gnothi sautón« (Erkenne Dich selbst) nicht erkennbar. Erstaunlich ist angesichts des Anspruchs der »Erfahrungsseelenkunde« auch, dass eine einseitige Konzentration auf einen Aspekt im Verständnis der suizidalen Erfahrung erfolgt, nämlich den Aspekt der »Schwärmerei«. Und dies, obwohl die »Noth« des suizidalen Menschen durchaus ebenfalls benannt wird (vgl. Clooß 1783, Glave 1783, Moritz 1786). Diese Konzentration wird hingegen verständlich, wenn die besondere Rolle der »Schwärmerei« im moritzschen Verständnis betrachtet wird. Denn insgesamt bildet sich die »Schwärmerei« überhaupt zum zentralen Auslöser aller anderen möglichen Arten von Melancholie, Wahnsinn oder Mord heraus (Kaufmann 1995, S. 55). So wird die »Schwärmerei« im »Magazin für Erfahrungsseelenkunde« tatsächlich zu dem widersprechenden Aspekt der menschlichen Natur im Hinblick auf seine Vernunftorientierung. Allerdings verfolgen die Autoren des Magazins keine medizinisch-ärztlichen oder gar kurativen Interessen, sondern sind trotz aller Nachweise, dass auch Gebildete der »Schwärmerei« anheim fallen, zunächst dem großen Programm der Aufklärung verpflichtet. Im pädagogischen Sinne nämlich »zielte dieses Programm (des moritzschen Magazins J. S.) auf eine Stärkung der ›höheren Seelenkräfte‹ bei den Männern und Frauen des ungebildeten Volkes, damit sie nicht weiterhin einer ›Überhitzung‹ der Einbildungskraft zum Opfer fielen.« (S. 77) Dieses aus dem Selbstverständnis des aufgeklärten Menschen hervorgegangene Verständnis von Einbildung und Schwärmerei findet sich entsprechend auch in dem zeitgenössisch abwertenden Verständnis des »Werther« im Bildungsbürgertum. Es findet sich aber ebenfalls in den damals sehr populären »Biographien der Selbstmörder«, welche Christian Heinrich Spieß (1755–1799) in den Jahren 1785–1789 in vier Bänden herausbringt (Spieß 2005). In 47 kunstvoll gearbeiteten und literarisch modellierten Kunstbiographien zeigt Spieß die überwältigende Kraft dieser »inneren Natur« auf, wobei er ein besonderes Augenmerk auf die Gewalt der Gefühle und die gefährliche »religiöse 244 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Schwärmerei« richtet, in denen sich die »Unzurechnungsfähigkeit« der Suizidenten auf gar »schauerliche Weise« demonstriert (Kosenina 2005, S. 258 ff.). Und es findet sich in der Diskussion über England als »suizidale Nation«, welche am Beispiel des Suizids von Thomas Chatterton (1752–1770) den Nachweis der impulsiven und intuitiven »Schwärmerei« als Hintergrund zu finden scheint (Brown 2001, S. 138 ff.). Zusammenfassend betrachtet liegt also bereits um 1785 ein reformuliertes Verständnis der suizidalen Erfahrung vor, welches nur noch von der medizinischen Seite aufgenommen und im Einklang mit den medizinischen Modellen nachformuliert werden muss. Genau dies stellt aber zunächst ein schier unüberwindliches Problem dar. Denn die Selbsterfahrung des bürgerlich-aufgeklärten Menschen, dass ihn seine Einbildungskraft derart mit Vorstellungen zu bedienen in der Lage ist, so dass er – vollkommenen unvernünftigerweise – davon überzeugt ist, dass das Leben für ihn nur noch eine »elende Not« und das Jenseits die bessere Alternative darstellt, kann kaum mit dem humoralpathologischen Verständnis der suizidalen Verfassung sinnvoll zusammengebracht werden. Abseits aller – seitens aufgeklärter Bürger – anbringbarer skeptischer Zweifel an dem empirisch unüberprüfbaren Konzept des »Saftes«, könnte zwar eine Analogisierung von »Säfteüberschüssen« und »überschüssiger Produktion von Einbildungen« vorgenommen werden. Allerdings überzeugt dies nicht restlos, da die »Schwärmerei« – wie sie sich im Magazin für Erfahrungsseelenkunde hinsichtlich des Lebensüberdrusses thematisiert – weit davon entfernt ist, nur als furioser Wahnsinn aufzutreten. Im Gegenteil, die »Schwärmerei« operiert subtil und gaukelt dem suizidalen Menschen vor, dass seine Suizidentscheidung vernünftig ist – obwohl sie dies (dem moritzschen Verständnis folgend) gar nicht ist. Es ist genau diese fragwürdig gewordene Verlässlichkeit, ob denn die eigenen Beweggründe überhaupt als vernünftige erkannt werden können, die die Brisanz der bürgerlichen Selbsterfahrung ausmacht. Denn ganz offenbar, so die konsequente Interpretation Glaves von Clooß’ Selbstbericht im Vorfeld seines Suizids, der sich auch Moritz anschließt, vermag sich der Suizident eben gerade auch über die Vernünftigkeit seines Suizidentschlusses zu täuschen, obwohl ihn nur die »elende Not seines Lebens« treibt (Glave 1783, S. 43 ff.). Dieses Problem wirft die Frage auf, wie die Verlässlichkeit der Selbsteinschätzung als »vernünftig« im Selbstbezug gesichert werden kann. Diese Frage 245 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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findet bekanntlich die kantische Antwort der Maximenprüfung mit Hilfe des kategorischen Imperativs, einer gewissermaßen gegen die Gewohnheit arbeitenden Reflexion. Es wirft aber zugleich die keineswegs einfach zu beantwortende Frage auf, wie sich der Mensch in seiner selbstbewussten Beziehung zu sich darüber klar werden kann, ob er sich nun über seine Beweggründe bzw. in seinen Reflexionen über sich täuscht oder nicht. Oder wie Moritz feststellt: »Es läßt sich kein höherer Grad an Selbsttäuschung denken, als den Vorsatz zu fassen, inskünftige wahr zu seyn, und vor sich selber nicht mehr zu scheinen, als wie man ist.« (Moritz 1789, S. 45) Wo kann der aufgeklärte Mensch Bodenhaftung finden, wenn er seiner Einbildungskraft in der »Schwärmerei« so gründlich ausgeliefert ist, dass er sich sogar über scheinbar vernünftige Argumente zu täuschen vermag? Auch Moritz ist kein radikaler Skeptizist oder Wirklichkeitsrelativist, sondern er trifft diese Feststellung auf dem festen Fundament der unbezweifelten Selbstverständlichkeit, dass jeder von uns »ein denkendes und empfindendes Wesen« ist (S. 47). Letztlich ist dieser Rückgang auf präepistemische Gewissheiten bereits die Lösung, auch wenn Moritz sie nicht explizit formuliert. Für den Nachweis eines humoralpathologischen Modells reichen hingegen solche präepistemischen Gewissheiten als Fundament der weitergehenden Reflexionen und Ideen in keiner Weise aus, da die konzeptuelle Gestalt der Idee des »Saftes« stets über die direkte Erlebnisgewissheit hinausgeht. So zeigt sich die Unmöglichkeit des Bewusstseins, sich umfassend in sich selbst zu begründen und die Notwendigkeit des Bewusstseins, auf präepistemische Gewissheiten angewiesen zu sein, zugleich als eine Krise der Übersetzung der bürgerlichen Selbsterfahrung in humoralpathologische Konzeptionen. Nun kann auf eine präreflexive Basis gerade auch des eigenen Selbstbewusstseins nicht verzichtet werden und auch eine perfekte Abtrennung der Psyche vom »Rest« des Menschen kann nicht gelingen. Insofern sind nicht nur präepistemische Gewissheiten stets schon gegeben und für eine Konzeption der Subjektivität anzuerkennen, sondern es ist im Interesse einer Selbstaufklärung nach den vernünftig erkennbaren Regeln einer solchen subliminalen Struktur zu fragen. Der Verweis auf ein »Säfteungleichgewicht« kann dann allenfalls als ein zweiter Schritt genommen werden, da es zunächst gilt, die Regelhaftigkeiten dieser subliminalen Struktur durch Betrachtung der eigenen »inneren Erfahrung« zu klären. Und es sind diese Regeln, nach 246 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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denen dann ein angenommenes »Säfteungleichgewicht« überhaupt in dieser subliminalen Struktur seine mutmaßliche Wirkung entfalten könnte. Diese Umkehrung der Fragehaltung ist bedeutsam. Sie zeigt sich insbesondere bei Hume (Stichwort Gewohnheit) und verweist letztlich auch auf eine parallele Entwicklung in der Medizin, die die moderne Psychiatrie zuallererst möglich macht. Denn für die Möglichkeit einer Psychiatrie ist es von eminenter Bedeutung, die Struktur dieser präreflexiven Basis in ihrem Zusammenhang mit der eigenen bewussten (»inneren«) Erfahrung zu beschreiben (Schlimme 2005 u. 2009a). Es ist genau dieser Zusammenhang, den es im »psychiatrischen Blick« zu erfassen gilt, und der mit den alten humoralpathologischen Konzepten nicht angemessen interpretiert werden kann. Und es ist genau dieser Zusammenhang, der durch den paradigmatischen Wandel der medizinischen Konzepte ins ärztliche Blickfeld gerät. Um also die psychiatrischen Verständnisse der suizidalen Erfahrung, wie sie sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts ausbilden, angemessen verstehen zu können, gilt es, diesen Umbruch in der Medizin nachzuvollziehen.

3.8.

Die Entstehung der Psychiatrie und ihr Verständnis der suizidalen Erfahrung (Reil)

Um 1800 erlebt die Medizin, vermittelt durch den Brownianismus mit seiner Lehre der »unspezifischen Reizbarkeit«, eine paradigmatische Wende, die alle Bereiche der Medizin erfasst und im Verlauf von knapp 100 Jahren auf eine vollkommen neue Grundlage stellt (Tsouyopoulos 2008). Die erkenntnistheoretische Lösung für die Medizin ist letztendlich vergleichbar der erkenntnistheoretischen Lösung des Selbsttäuschungsproblems, da die Voraussetzung von sinnvollen, naturwissenschaftlich orientierten Bestimmungen des menschlichen Körpers immer auch die präepistemische Gewissheit von Gegebenheiten ist – so beispielsweise die empfundene Wärme oder Kälte von Körpern, um dann deren in Grad eingeteilte und definierte (z. B. hinsichtlich der Körperstelle) Messung vornehmen und 37oC als die regelhaft gesunde Körpertemperatur experimentell bestimmen zu können (S. 124 ff.). Dieser Paradigmenwechsel zu einer wissenschaftlichen Medizin beginnt im 18. Jahrhundert, als für viele Mediziner der menschliche Körper noch als unbelebte Maschine gilt, die im Sinne des Vitalismus – wie ihn beispielsweise der Hallesche Arzt und Professor Georg Ernst Stahl 247 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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(1660–1734) formuliert – durch ein immaterielles principium vitale (sog. »Lebenskraft«) belebt und in Bewegung und Empfindung versetzt wird (Stahl 1961, S. 52 f.; vgl. auch Putscher 1974). Krankheiten verstehen sich in diesem mechanistisch-animistischen Konzept des 18. Jahrhunderts auch weiterhin entsprechend des humoralpathologischen Prinzips als dem Körper äußerliche und nach vollkommenem Wesensausdruck strebende Wesenheiten, die eine Veränderung der Säfte insbesondere im Sinne einer nicht genauer zu bestimmenden »Schärfe« verursachen, die es durch verschiedene Verfahren der Entleerung (Aderlaß, Erbrechen, Durchfall) zu entfernen gilt, so dass die Krankheit ihren natürlichen Verlauf nehmen kann. Die ärztliche Aufgabe besteht also vor allem darin, die durch individuelle Eigenarten des Körpers verfälschte Erkrankung überhaupt zu erkennen, diese Verfälschungen zu beheben und den natürlichen Krankheitsverlauf hin zum als krankheitsinhärent verstandenen Genesen oder Sterben zu begleiten (Foucault 1991, S. 162 ff.; Tsouyopoulos 2008, S. 31 ff.). Und auch wenn viele damalige Behandlungen erfolglos sind – und aus heutiger Sicht krankmachend und lebensgefährlich erscheinen, wie auch viele Zeitgenossen kritisch vom Boden des neuen Paradigmas aus anmerken –, ist es nicht die Erfolglosigkeit, die zum Umdenken auffordert. Vielmehr ist es die physiologische Wende der Medizin, die organische Gesetze und lebendige Fähigkeiten des Körpers zutage fördert, die diesem Grundprinzip der einheitlichen Animierung einer Säfte-Maschine widerspricht. Dies zeigt sich insbesondere im Nachweis der seelen- und nervenunabhängigen Eigenbeweglichkeit bzw. des Verkürzungsvermögens der herauspräparierten – also im vitalistischen Sinne toten – Muskelfaser durch Albrecht von Haller (1708– 1777). Denn eine seelenähnlich verstandene, immaterielle »Lebenskraft« kann den Körper nur im Ganzen animieren und sich insofern nicht sinnvollerweise im isolierten Stückchen Muskel aufhalten. Es stellt sich folglich die Frage nach einem übergeordneten Prinzip des Lebendigen, welches den Gesamt-Organismus in seiner Unterscheidung von Lebensfähigkeit und Aktivität zur anorganischen Materie erklärt, wie sie insbesondere auch von Johann Christian Reil (1759– 1818) in seiner 1795 erschienenen Schrift »Von der Lebenskraft« thematisiert wird (Reil 1910; vgl. auch Lohff 1980 u. Tsouyopoulos 2008, S. 36 ff.). Es ist eben genau dieses Problem, welches in besonders wirkmächtiger Weise durch den schottischen Arzt und Philosophen John 248 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Brown gelöst wird (1735–1788). Er entwickelt ein Verständnis des lebenden Organismus, welcher sich von der unbelebten Materie durch seine organisch spezifische Reizbarkeit und Reizbeantwortung unterscheidet (vgl. Tsouyopoulos 2008, S. 63 ff.). Dabei versteht Brown ein Gleichgewicht von Umwelt, Körperreizen und Erregbarkeit des Organismus als gleichbedeutend mit Gesundheit, wohingegen eine Störung des Gleichgewichts – sei es durch Überreizung oder Unterreizung – einem krankhaften Geschehen entspricht. Demnach nehmen Reize nur indirekt und unspezifisch Einfluss auf den Organismus, indem sie abhängig von der Reizempfänglichkeit des Organismus (Erregbarkeit) und vom Gleichgewicht an Erregung des Organismus wiederum das Verhältnis von Erregung und Erregbarkeit verändern und so Krankheiten (mit-)bedingen. Krankheiten verstehen sich folglich als krankhafte Reaktionen des Organismus im Sinne quantitativer Abweichungen im Verhältnis von Erregbarkeit und Erregung, so dass sich normale und pathologische Lebensvorgänge nicht grundsätzlich unterscheiden (bes. Tsouyopoulos 2008, 75 f.). In diesem aus heutiger Sicht unspezifischen Krankheitskonzept versteht sich die nunmehr im newtonschen Zwischenreich existierende Lebenskraft weiterhin als eigentliche Ursache des Lebens, steht aber vermittelt durch den Organismus im Kontakt mit dem Materiellen und sorgt entsprechend seiner Verteilung im Organismus und entsprechend dem animierten Organ für spezifische organische Kräfte der Reizbarkeit und so eben auch für die spezifischen seelischen Kräfte des »Seelenorgans«. Damit wird letztlich im organischen Zusammenspiel der ganze Körper animiert und verbleibt zugleich – für sich als Körper – in einer mechanisch-tierhaften Verfassung. In diesem Sinn kann nun beispielsweise die erhöhte »Reizbarkeit« der niederen Seelenorgane als Hauptanlass für die Überflutung des Bewusstseins bzw. des höheren Seelenorgans mit irrigen und unvernünftigen Vorstellungen und Imaginationen verstanden werden, wie dies Reil in Anlehnung an das brownsche Konzept der »Reizbarkeit« formuliert (Reil 1910, S. 46 ff.). Folgenschwer ist dieses Konzept für die Entwicklung der Psychiatrie und Psychologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts, da hierdurch eine medizinische Thematisierung der Gefährdungen des Selbst in Analogie der vorlaufenden bürgerlichen Thematisierung möglich wird (vgl. Kaufmann 1995, Wiesemann 2000, Sonntag 2001, Schlimme 2005). Denn die sich entwickelnden psychologisch-psychiatrischen Verständnisse des unvernünftigen Verhaltens als krankhaftes Verhalten können 249 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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nun entlang der »Reizbarkeit« aufgeklärt werden, so dass die im tierhaften Organismus lokalisierten eigengesetzlichen Charaktere dieses krankhaften Verhaltens erkennbar werden. Dieses sich radikal verändernde Verständnis von Krankheiten macht eine Analogisierung von Störungen des Fühlens, Denkens und Handelns mit dem (zunehmend) physiologisch verstandenen Seelenorgan – dem Zentralen Nervensystem – möglich. Denn in diesem neuen Verständnis gelten Krankheiten als Ausdruck pathologisch veränderter organischer Prozesse, die sich dem Organischen einlagern und sich entlang den Gesetzen des Organischen ausbilden, sich des Organismus bedienen, um zu leben und sich zu zeigen (Foucault 1991, S. 162 ff.). Auch der »ärztliche Blick« ändert damit sein Blickfeld, denn er entziffert nunmehr in den Krankheitssymptomen die Zeichen eines den organischen Gesetzen folgenden Krankheitsprozesses und versteht die subjektiven Beschwerden und Äußerungen des Kranken als Ausdruck der organischen Erscheinung der Krankheit, die folglich eben genau auf diesen Hintergrund des Organischen verweisen. Der »ärztliche Blick« durchleuchtet somit das organische Geschehen der Krankheit mit Vernunft (S. 11 ff. u. 164). In analoger Weise entsteht um 1800 auch der »psychiatrische Blick«, in welchem von einer selbstdistanzierten Position aus die eigene, weitgehend als unvernünftig angesehene Innerlichkeit vernünftig in den Blick genommen wird (Schlimme 2005). Dabei greift die sich entwickelnde Psychiatrie in Deutschland auch auf die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert ausbildende medizinische Anthropologie zurück, die ihren herausragenden Vertreter in Ernst Platner (1744–1818) hat (Benzenhöfer 1993). Platners Menschenbild folgt dabei ebenfalls dem im aufgeklärten Bürgertum verbreiteten Gedanken, dass sich unvernünftige Erfahrungen und Verhaltensweisen aus der »inneren Natur« des Menschen begründen und dem vernünftigen Ego gegenüberstehen. In seinem Bemühen, die Anthropologie als eine »physiologische Erkenntnistheorie« zu reformulieren, vertritt er die These eines »zweifachen Seelenorgans« in der Gegenüberstellung einer geistigen und einer tierischen Seele, wobei letztere eben gerade für die Gefühle, Triebe und die Einbildungen zuständig ist (S. 26 ff.). Diese Delegation der Unvernunft an die innere Natur liegt auch seiner bereits 1784 vorgenommenen pathologischen Bestimmung der »Schwärmerei« zugrunde. »Diese Bestimmung der Schwärmerei als von der Vernunft nicht (mehr) kontrollierte, den Menschen völlig beherrschende Einbildungskraft, die Platner zugleich als Folge körper250 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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licher Störung ansah, erlaubte es, neben der religiösen zahlreiche weitere Varianten von Schwärmerei aufzuspüren«, welche sich allesamt, wie Platner argumentiert, in wahnsinniges bzw. sonst unvernünftiges Erleben steigern können (Kaufmann 1995, S. 56 f.). Damit versteht sich bei Platner der Wahnsinn als Ausdruck des tierischen Seelenorgans, welches dann im Vordergrund steht und das geistige Seelenorgan als eigentlich menschliches in den Hintergrund drängt. Dieser Gedanke kann tatsächlich als das zentrale irrenärztliche Verständnis des Wahnsinns im frühen 19. Jahrhundert verstanden werden (s. u.). Dies entspricht, und dies ist das Bedeutsame, zugleich der ebenfalls pathologisierten »Schwärmerei« im »Seelengefährdungsdiskurs«. Denn auch hier lautet die Annahme, dass die »Empfindsamkeit« und die »Schwärmerei« die wesentlichen Ursachen für unvernünftiges Verhalten sind und dass auf diesem Weg die niederen Seelenanteile die höheren und vernünftigen Seelenanteile zu überwinden vermögen, was eben bei Überlegenheit der tierischen bzw. niederen Seelenkräfte zu den verschiedensten Seelenkrankheiten und entsprechend unvernünftigem Verhalten, wie beispielsweise dem Suizid, führt. So gelingt sowohl über den Brownianismus als auch über die medizinische Anthropologie die Einführung der bürgerlichen Erfahrung, dass »Schwärmerei« bzw. die verstandesmäßig ungezügelte »Nachtseite« zu unvernünftigem Fühlen, Denken und Handeln führe, in das medizinisch-physiologische Modell. Dies erlaubt der Medizin einen konzeptuellen Zugang zum Irren und ermöglicht die Entwicklung der Psychiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Kaufmann 1995; vgl. auch Schlimme 2005). Dabei wird zugleich die Erfahrung mitgenommen, dass sich das Selbstbewusstsein nicht radikal in sich selbst begründen kann und insofern auf die Selbstreizung durch die niederen Anteile des »Seelenorgans«, beispielsweise das »Gemeingefühl« oder das »tierische Seelenorgan«, angewiesen ist. Diese »Mitnahme« vermittelt aus heutiger Sicht den Eindruck, als hätte eine kontinuierliche Entwicklung aus dem humoralpathologischen Modell in die Psychiatrie geführt, obwohl damals tiefgreifende erkenntnistheoretische und konzeptuelle Reformulierungen vorgenommen werden (vgl. Tsouyopoulos 2008, bes. S. 110 ff.). Es sind aber genau diese Reformulierungen vor dem Hintergrund der kantischen Philosophie, welche die Einsichten in die »Nachtseite« des Menschen mit einer letzten Unsicherheit des Wissen-Könnens ausstatten. Und es ist genau diese letzte Unverfügbarkeit der »inneren Natur«, die den skeptischen Zweifel auch an 251 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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frühen psychiatrischen Verständnissen der suizidalen Erfahrung nicht ruhen lässt und so wesentlich zur Entwicklung der Psychiatrie beiträgt. Ein erstes frühes psychiatrisches Verständnis der suizidalen Verfassung formuliert Philippe Pinel (1745–1826), der europaweit wirkmächtige französische Psychiater, der durch seinen »Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou la manie« (1801) entscheidend dazu beiträgt, aufgeklärtes Denken in die sich formierende Psychiatrie hereinzuführen. Dabei versteht er die suizidale Verfassung als eine organisch bedingte Geistesschwäche (vgl. Minois 1996, S. 458 f.). Jedoch sind aus einer aufgeklärt-bürgerlichen Sicht an seinem Verständnis erhebliche Zweifel angebracht. Denn sein medizinisches Modell der suizidalen Erfahrung, welches die eigene suizidale Verfassung außerhalb jedes Verfügungsbereichs des aufgeklärten Individuums stellt, ist ganz entsprechend seiner Theorie geformt, dass alle Geisteskrankheiten Störungen des Nervensystems sind. Diese »Grobheit« seines Modells widerstreitet aber beispielsweise den im »Seelengefährdungsdiskurs« diskutierten Merkmalen der suizidalen Erfahrung. In diesen spricht sich nämlich die bürgerliche Selbsterfahrung aus, dass suizidale Verfassungen durchaus – seien sie nun verstanden als Folge der »Schwärmerei« oder »fehlender Reue« –, wenn vielleicht auch nicht immer, psychischerzieherischen Maßnahmen zugänglich sind. Pinels Modell bleibt also weit hinter den bereits eröffneten Möglichkeiten zur Klärung der suizidalen Verfassung zurück. Wesentlich weiter gelangt in dieser Hinsicht Johann Christian Reil (1759–1813) in seinen 1803 veröffentlichten »Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen«. Reil, seit 1787 in Halle als Extraordinarius tätig, gilt als der wirkmächtigste deutschsprachige Psychiater in der Gründungszeit der Psychiatrie und ist zudem der Erfinder des Wortes »Psychiaterie« (Marneros/Pillmann 2005, S. 21 ff.; vgl. auch Ellenberger 1996, S. 304; Benzenhöfer 1993, S. 66 ff.; Kaufmann 1995, S. 283 ff.; Koschorke 2004). In seinen epochalen »Rhapsodieen« äußert sich Johann Christian Reil auch dezidiert zum »Lebensüberdruss«, den er als das Produkt von »fixen Ideen« (idée fixe, Pinel) versteht, die sehr vielgestaltig sein können: »Lebensüberdruss ist eigentlich nicht fixe Idee, sondern Product, und zwar von mehreren Arten derselben. Daher muss sich auch die Kur nach der verschiedenen Natur der fixierten Vorstellungen richten, die Lebensüberdruss erzeugt.« (Reil 1968, S. 351, vgl. auch S. 333). Als solche »fixen Ideen« nun nennt er zumindest vier verschiedene: a) die 252 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Melancholie ohne erkennbare Ursache, die sich von vornherein durch einen »Lebensüberdruss« auszeichnet, da »eine Veränderung seines Zustandes (ersehnt wird J. S.), die ihm (dem Betreffenden J. S.) hier unmöglich scheint« (S. 352); b) durch die Abstumpfung infolge von Ausschweifungen, so dass kein Interesse mehr am Leben besteht (S. 353); c) durch verschiedene Vorstellungen wie »das Bewusstseyn, der Gefangenschaft mit Unmöglichkeit zu entrinnen«, »Vorwürfe des Gewissens über wahre oder eingebildete Verbrechen, Verlust der Ehre, Furcht für Nachstellungen, hypochondrische Vorstellungen von dem zerrütteten Zustand des Körpers, Kränklicheit und fortdauernde Schmerzen, Heimweh und andere physische und moralische, wahre oder eingebildete Uebel« (S. 353 f.); d) durch Beispiel und Nachahmung anderer, wobei er hier auch die gemeinsame »Schwärmerey« nennt (S. 354). In dieser Aufzählung wird deutlich, dass sich Reil in seinem Verständnis der suizidalen Erfahrung nicht primär für einen Zustand der Verzweiflung interessiert, sondern den Lebensüberdruss aus der Spannung zwischen dem aktuell erlebten und einem ersehnten Zustand zu verstehen bemüht ist. Auch wenn er eine Reihe von Situationen schildert, in denen wir unschwer eine Verzweiflung zu erkennen meinen, zielt Reil explizit in zumindest drei Fällen auf die (schwärmerische) Vorstellung, die der betreffende Mensch vom Leben oder der Wirkung seines angestrebten Todes auf andere hat (S. 354 f.). So versteht sich die Vorstellung des Suizids letztlich ebenfalls als »fixe Idee«, wie er wiederholt in seinen kasuistischen Erläuterungen ausführt (S. 355). Lebensüberdruss im reilschen Sinne kann damit insgesamt als eine Vorstellung verstanden werden, die sowohl Produkt von verschiedenen »fixen Ideen« ist, insbesondere auch in Hinsicht auf unrealistische, aber dringlichst erwünschte Lebensverfassungen, als auch selbst die »fixe Idee« des Suizids produziert, welche ihrerseits eine schwärmerische Qualität gewinnen kann. Was aber meint Reil mit einer »fixen Idee«? »Fixe Ideen« sind für Reil all diejenigen Vorstellungen, die sich einerseits durch ihre beständige Präsenz im Bewusstsein und andererseits durch die »subjective Überzeugung«, die Wahrheit zu sein, auszeichnen (S. 307). Eine »fixe Idee« beschränkt beim Betreffenden daher zugleich »die Freiheit seines Begehrungsvermögen«, welches zwingend »seiner fixen Idee gemäß bestimmt« wird (S. 308). Der betreffende Mensch verhält sich folglich in umfassendem Sinne entsprechend seiner »fixen Idee«. In einem modernen Sprachgebrauch könnte also von »wahnhaften Überzeugungen« gesprochen werden, 253 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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welche als psychopathologisches Symptom seit Karl Jaspers’ »Allgemeiner Psychopathologie« 1913 entsprechend über zwei durchaus verwandte Kriterien definiert werden: a) die »unvergleichlich hohe subjektive Gewissheit« der Überzeugung; b) die »Unkorrigierbarkeit« der Überzeugung und die damit gegebene Alternativlosigkeit der Erklärung und Zurückweisung alternativer Deutungsmuster (Jaspers 1913, S. 45 ff.; vgl. Schlimme 2009b). Für Reil entwickeln sich solche »fixen Ideen«, die ja klinisch bzw. im Miteinander tatsächlich bei vielen psychischen Erkrankungen im Vordergrund stehen, aus Gewohnheit und Phantasie bzw. »Schwärmerei« (Reil 1968, S. 319 f.). Sie verhindern dabei zudem, dass die betreffende Person einen ansonsten kränkenden Widerspruch in sich selbst wahrnimmt, wie Reil treffend bemerkt (S. 323). Dabei prägen für Reil die »fixen Ideen« die größte Klasse der psychischen Krankheiten, die er auch als »fixen Wahnsinn oder Melancholie« bezeichnet und in denen der Lebensüberdruss häufig aufzufinden ist. Neben dem leitenden Konzept des Lebensüberdrusses für sein Verständnis der suizidalen Verfassung benennt Reil aber zudem auch die »Tobsucht« als häufig verknüpft mit Suiziden (S. 356 u. S. 377). In der »Tobsucht« (»Wuth ohne Verkehrtheit«), die Reil als eine körperliche Krankheit definiert, finden sich jedoch keine »fixen Ideen«, dafür sind die Vorstellungen viel zu »unstet und flüchtig« (S. 377 f.). Entgegen dem »Melancholiker«, der sich »absurd im Gefolge kranker Vorstellungen« verhält, handelt »der Tobsüchtige absurd im Gefolge eines blinden Impulses« (S. 377). Insofern sieht Reil auch nicht den Lebensüberdruss mit der suizidalen Verfassung in der »Tobsucht« verbunden, sondern eine Art von Kurzschlussreaktion am Werk, so dass es in der Behandlung vordringlich geboten ist, den »Tobsüchtigen« so zu zähmen, »dass der Kranke sich und anderen nicht schade« (S. 385). Im Weiteren gilt es, die oft organischen Ursachen der »Tobsucht« zu behandeln, wobei er insgesamt eine »reizarme Umgebung« empfiehlt, um die höchstgradige »Erregung des ganzen Nervensystems« abklingen zu lassen (S. 378 f. u. S. 382). Die anderen beiden Formen des Wahnsinns (»Narrheit«, »Blödsinn«) sind nicht mit Suiziden verbunden, wobei der »Blödsinn« infolge des eingeschränkten oder – in seiner reinen Form – aufgehobenen Selbstbewusstseins den Suizid von vornherein unmöglich macht (S. 402 ff.), und die »Narrheit« ein »desorganisiertes« kindisch-launisches Verhalten meint, welches »unschädlich« ist (S. 396 ff.). 254 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Reils Verständnis der suizidalen Erfahrung ordnet sich demnach in seine generellen Überlegungen zum Verständnis des »Wahnsinns« bzw. der »Geisteszerrüttungen« ein, die er eng an das Verständnis bürgerlicher Selbsterfahrung und das philosophische – insbesondere das kantische – Subjektverständnis seiner Zeit anknüpft. Als ausgezeichnetes Merkmal des Menschen gilt ihm der Verstand und das Selbstbewusstsein, das alles Vorgestellte wie in einem Brennpunkt vom Subjekt her ordnet und in Beziehung setzt. »Das Wesen des Selbstbewusstseyns scheint vorzüglich darin zu bestehen, dass es das Manichfaltige zur Einheit verknüpft, und sich das Vorgestellte als Eigenthum anmasst.« (S. 54) Hierdurch erlangt der Mensch – so Reil – die Vorstellung der Einheit der Person, was Ausdruck eines gesunden Selbstbewusstseins ist. Jedoch gilt: »So klar wir uns unserer bewusst sind, so wenig sind wir es uns bewusst, wie es zugehe.« (S. 54). Es ist genau diese Aufklärung über die (unterbewussten) Gesetz- und Regelmäßigkeiten, die Reil in seinen Schriften anstrebt. Dabei parallelisiert er die »innere Erfahrung« – wie beispielsweise das Selbstbewusstsein – mit den organischen Funktionen des Nervensystems, welches in seinen Unterfunktionen zudem organische Selbständigkeit aufweist und zugleich hierin die einzelnen Organe zum Körper in seiner Gesamtheit verbindet (S. 54 ff., vgl. auch Reil 1910, S. 46 ff.). In diesem psychophysischen Parallelismus gilt ihm das Selbstbewusstsein als die höchste Funktion, welches die unterschiedlichsten Vorstellungen ordnet und synthetisiert, die ihm durch das weit verzweigte, organisch untergliederte Nervensystem zugeleitet werden. Dabei unterscheidet er die Vorstellungen im Sinne eigenständiger Organe nach dem »Gemeingefühl« – welches der Seele den Körper in seiner gefühlten Konstellation präsentiert und im Gangliensystem (aus heutiger Sicht v. a. das vegetative Nervensystem) verkörpert ist –, den »Sinnesorganen« – als offenem Zugang zum Äußeren und im organischen Sinne den Sinnesorganen entsprechend – und den »Imaginationen« (Reil 1968, S. 257 ff., vgl. auch Koschorke 2004). Die »Einbildungskraft« (Imaginationen), welche vordringlich bei den »Geisteszerrüttungen« zu beachten ist, verortet Reil in verschiedenen kleineren Schriften ebenfalls im Gangliensystem, womit sich die Einbildungen als Ausdruck und Folge der inneren Eigenreizung des Nervensystems verstehen, die sich entsprechend den aufzuklärenden Gesetzen des Nervensystems bzw. der Vorstellungen ausbreiten und auf das Selbstbewusstsein wirken (Koschorke 2004). Im Wahnsinn geschieht nach Reil demnach Folgendes: 255 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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»Das Ganze wird dann in seine Teile aufgelöst, jedes Getriebe wirkt für sich, oder tritt mit einem anderen, ausserhalb des gemeinschaftlichen Brennpunkts, in eine falsche Verbindung. […] Es werden gleichsam (seelische J. S.) Provinzen abtrünnig […] In diesem Zustande muss die Synthesis im Bewusstseyn verloren gehen. Die Seele ist gleichsam von ihrem Standpunkt weggerückt; unbekannt in ihrer eigenen Wohnung, in welcher sie alles umgestürzt findet, hat Mast und Ruder verloren und schwimmt gezwungen auf den Wogen der schaffenden Phantasie in fremde Welten, Zeiten und Räume, glaubt bald ein Wurm bald ein Gott zu seyn, lebt in Höhlen oder Palästen und versetzt sich in Zeiten die nicht mehr sind, oder noch kommen sollen.« (Reil 1968, S. 63 f.)

Oder nochmals derselbe Gedanke anders: »Diese Beziehungen der Theile des Seelenorgans unter einander sind auf eine eben so bestimmte Vertheilung der Kräfte im Gehirn und dem gesammten Nervensystem gegründet. Wird dies Verhältniss gestört; so entstehn Dissonanzen, Sprünge, abnorme Vorstellungen, ähnliche Associationen, fixe Ideenreihen, und ihnen entsprechende Triebe und Handlungen. Die Seelenvermögen können sich nicht mehr der Freiheit des Willens gemäss äussern. So ist das Gehirn wahnsinniger Personen beschaffen. Die Kräfte einiger Gebilde desselben sind über die Norm erhöht, andere in dem nehmlichen Verhältniss herabgestimmt. Daher Mangel an Einklang zwischen denselben, fehlerhafte Fortpflanzung erregter Thätigkeiten und Umsturz der Normalität der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantasie des Verrückten ist, desto weniger kommen die Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewusstseyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefesselt ist, desto weniger können andere Platz gewinnen und die fixirten verdrängen. Denn es ist unbedingtes Naturgesetz, dass die distributiven Aeusserungen der Lebenskraft in dem Maasse erlöschen, als ihre Wirksamkeit an einem Ort hervorstechend angestrengt wird.« (S. 46 f.)

Zusammenfassend versteht sich der »Geisteszerrüttete« für Reil als wahrhaft im Geiste zerrüttet, er verliert im wahrsten Sinne des Wortes seinen Verstand. Denn sein Nervensystem bringt in sich selbst nurmehr eine heillose Verwirrung hervor, anstatt das Ganze auf einen Punkt hin zu konzentrieren, zu beziehen und so zu vereinigen. Da das Nervensystem kein synthetisches Bewusstsein von sich selbst mehr hervorbringen kann, ist für Reil nachvollziehbar, inwiefern beim »Geisteszerrütteten« der »freie Wille« aufgehoben ist und er dem Arzt nichts Wesentliches außer seinem Wahnsinn mitzuteilen vermag (S. 33). Der Wahnsinnige zeigt sich folglich als das Opfer seiner ihn verrückenden Krankheit, kann die ihn beherrschenden Einbildungen, »fixen Ideen« und »thierischen Seelenvermögen« (Triebe, Leidenschaf256 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ten etc.) nicht mehr willentlich kontrollieren und mit Vernunft durchleuchten. In seiner psychischen Kurmethode verfolgt Reil dabei den Grundansatz, dass zunächst der Arzt die verlorenen bzw. aufgehobenen synthetischen Funktionen des Nervensystems für den »Wahnsinnigen« übernimmt, ihn hierbei gewissermaßen von Innen her in kleinen Schritten ordnet und im Sinne einer psychisch-erzieherischen Technik zur vollen Vernunft zurückführt. »So gängeln wir den Kranken, von der untersten Stufe der Sinnlosigkeit, durch eine Kette von Seelenreizen, aufwärts zum vollen Vernunftgebrauch.« (S. 253) Reil ist kein Phantast, sondern ist sich der Schwierigkeiten und Grenzen dieser Möglichkeiten sehr bewusst, wobei er zudem wiederholt die erforderliche individuelle Auswahl der Mittel betont und die Beachtung einfordert, den Kranken nicht zu quälen. Reils Verständnis entspricht in tiefster Analogie dem gängigen zeitgenössischen Verständnis des Irren zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Europa. Auch Pinel »konzipierte Irresein nicht nur als Krankengeschichte, sondern vornehmlich als Störung der SelbstMächtigkeit, Selbstbeherrschung, Selbsterhaltung, Identität, weshalb ›Entfremdung‹ (›aliénation‹) als Oberbegriff für die Formen des Irreseins – teilweise synonym mit ›Manie‹ – gewählt wird.« (Dörner 1999, S. 146) Erleichtert wird dieses Verständnis zudem dadurch, dass die in Tollhäusern oder Spitälern behandelten Kranken nur selten aus dem Bürgertum stammen und in ihrer Lebenswelt als unintegrierbar gelten, so dass die fehlende Anerkennung des Verhaltens und des Sprechens des Irren als dem eigenen gleichwertig auch aus bürgerlichen Gründen leicht fällt (Kaufmann 1995, S. 299). Zugleich findet sich hier die Analogisierung von Reizbarkeit und Empfindsamkeit, wobei die übersteigerte und einseitige Reizung oder Reizbarkeit des Nervensystems der übersteigerten Empfindsamkeit entspricht. Entsprechend dem Gefühl steter Bedrohtheit durch das eigene Innere, welches jederzeit durchbrechen kann – wie der Seelengefährdungsdiskurs argumentiert – setzt sich die Vorstellung eines überfallartigen Beginns des Wahnsinns durch (S. 300; vgl. auch Dörner 1999, S. 146 f.). Die sonst im frühen psychiatrischen Diskurs geltenden Ursachen sind zudem nur wenig von den Gefahren im »Seelengefährdungsdiskurs« zu unterscheiden, wobei neben der unglücklichen Liebe und falschen Ideen über Religion, zudem Schwärmertum und überspannte, einseitige Geistestätigkeit zu finden sind (Kaufmann 1995, S. 300). Dies gilt auch für Reil, der in seinen »Rhapsodieen« – neben möglichen organischen Ur257 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sachen, zu denen er neben anatomisch oder durch spätere Sektion fassbaren Erkankungen des Gehirns (wie z. B. Anomalien der anatomischen Ausbildung des Gehirns, Infektionen der Gehirnsubstanz bzw. ihrer Häute oder Schlaganfälle) auch Intoxikationen rechnet – vor allem »überspannte Reizbarkeit der ganzen Organisation, die meistens mit einer überwiegenden Sinnlichkeit verknüpft ist, Krankheiten der Sinne, anomalische Instinkte und Triebe, Mangel oder schiefe Cultur des Verstandes, Aberglaube, Unglaube, Schwärmerei, Bigotterie« als nähere Ursachen des »fixen Wahnsinns« oder der »Tobsucht« anführt (Reil 1968, S. 255). Zusammenfassend formuliert Reil also ein Verständnis der suizidalen Erfahrung, welches die Überarbeitungen, wie sie im »Seelengefährdungsdiskurs« der aufgeklärten Bürgerlichkeit bereits angeboten werden, für das medizinische Verständnis gewinnbringend aufnimmt. Er entspricht damit auch vielfach »gröberen« Verständnissen des frühen psychiatrischen Diskurses, in denen der Suizident ebenfalls als unausweichliches Opfer seiner Erkrankung deklariert wird (Minois 1996, S. 353). Dabei benennt Reil vielfältige Wege, auf denen die »Schwärmerei« bzw. die durch den Verstand ungezügelte Einbildungskraft zur prozesshaften Entwicklung der suizidalen Verfassung (Lebensüberdruss, Selbstmord als »fixe Idee«) beiträgt und parallelisiert die Einbildungskraft zugleich mit einem organisch selbständigen Anteil des Nervensystems – dem »Gangliensystem« –, welches im Stile einer permanenten Selbstreizung das »höhere Seelenorgan« mit Einbildungen beliefert. So wird für Reil verständlich, inwiefern der Mensch die Handlung des Suizids auszuführen vermag, da er sich entsprechend seiner »fixen Ideen« verhält, deren Unsinnigkeit und Unvernünftigkeit er eben gerade nicht mehr einsehen kann, wobei er sich zugleich über seine vermeintliche Gesundheit und Vernünftigkeit täuscht. Damit gelingt die exakte Reformulierung des Verständnisses der suizidalen Erfahrung als »Schwärmerei« im medizinischen Modell: a) Der Suizid ist nicht die bewusst absichtliche Entscheidung gemäß vernünftiger Überlegung und ist von daher aus einem anderen Seelenteil als dem Verstand motiviert; b) Der Suizid, verursacht durch diesen anderen Seelenteil, setzt den Suizidenten von allen kulturell üblichen Bewertungsmaßstäben, die an die Verantwortlichkeit einer Person gestellt werden, hinsichtlich seiner Suizidtat frei. Der Suizid kann dabei in diesem Verständnis als das Unvernünftigste schlechthin verstanden werden, womit Reil implizit dem kanti258 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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schen Nachweis der Unsittlichkeit des Suizids folgt. Jedoch überträgt er Kants Beurteilung des Suizids, ohne sich über dessen hierfür erforderliche Annahme der Unverbrüchlichkeit des Treuhandverhältnisses zwischen dem homo noumenon und dem homo phaenomenon klar zu werden. Denn es ist erst diese Annahme, die die generelle Unsittlichkeit des Suizids aus kantischer Sicht zu begründen erlaubt. Dieser »Übertragungsfehler« entspricht zudem der Ansatz, alle Vorstellungen des suizidalen Menschen als Imaginationen oder Einbildungen verstehen zu dürfen, ohne sie auf ihren Bezug zur Wirklichkeit zu überprüfen. Denn sonst hätte Reil – hierin dann Hume folgend – festhalten müssen, dass auch angesichts seiner Parallelisierung von Gehirnfunktionen und Seelenfunktionen zumindest die erhoffte Erleichterung im Tod in höchstem Maße realistisch ist. Reil wiederholt also die RealEntwirklichung der rettenden Qualität des Suizids und die Ausklammerung des Todes aus seinem eigenen Verständnis der suizidalen Erfahrung, wie sie bereits im »Magazin der Erfahrungsseelenkunde« durch Carl Philipp Moritz vorgenommen worden war. Sicherlich kann man Reil zugute halten, dass er an einer ärztlichen Erfahrungswissenschaft interessiert ist und nicht primär die Frage bearbeitet, wie eine psychische Verfassung zu verstehen sei (vgl. Reil 1968, S. 36 ff.). Andererseits wird er nicht müde, den Erfahrungscharakter der ärztlichen Wissenschaft zu betonen, der insbesondere hinsichtlich der »psychischen Curmethode« von herausragender Bedeutung ist (S. 32). Und insofern Reil dezidiert die Vorstellungen des suizidalen (lebensüberdrüssigen) Menschen erörtert, die er sich vom Tod in Hinsicht seiner aktuellen Verfassung macht, kann der therapeutische Anspruch nicht als Hintergrund für diese Reduktion des Verständnisses der suizidalen Erfahrung genommen werden. Vielmehr zeigt sich hier im frühen psychiatrischen Diskurs die generelle Umkehr der Fragehaltung in dieser Zeit, die alles Unvernünftige in das »Innere« des Menschen transferiert und einer umfassenden Real-Entwirklichung unterzieht. Da es sich um die entscheidende Neuerung handelt, die Psychiatrie als eine Erfahrungswissenschaft der Medizin überhaupt erst möglich macht, wird plausibel, inwiefern geradezu alles unvernünftig Erscheinende – unvernünftig aus einer nicht näher problematisierten Bürgerlichkeit heraus – mit demselben Grundgedanken verständlich werden soll; eine gewissermaßen »schwärmerische Rhapsodie« des frühen psychiatrischen Diskurses, welche dennoch fest auf dem Boden einer (staatstragenden) Aufklärung steht. 259 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

Von besonderer Bedeutung ist dabei zudem, dass Reil – ebenso wie der »Seelengefährdungsdiskurs« – die in der Aufklärung stattfindende Real-Entwirklichung all derjenigen Vorstellungen des Todes, die über seine Qualitäten des Entzogenseins im Leben sowie der Unausweichlichkeit und Unvorhersehbarkeit für den lebenden Menschen hinausgehen, auf ganz eigenartige Weise in seinem Verständnis der suizidalen Erfahrung totschweigt. Denn erst durch dieses Totschweigen der RealEntwirklichung wird die rettende Qualität des Suizids vollkommen unerfindlich und kann als Einbildung und Illusion erklärt werden. Nun mag dieser Befund bei Nicht-Ärzten vielleicht noch im Sinne eines »Übersehens« nachvollziehbar sein. Bei Reil hingegen, der als Arzt mit dem Thema des Todes nur allzu vertraut ist (vgl. Marneros/Pillmann 2005, S. 33 ff.), kann diese Erklärung des schlichten Vergessens nicht befriedigen. Weitaus wahrscheinlicher ist hingegen die Vermutung, dass der pure Atheismus – wie wir ihn beispielsweise bei David Hume gefunden haben – die Todesangst bei Vergegenwärtigung der »Nichtigkeit« der eigenen Lebensspanne im Angesicht des unendlichen Zeitprozesses ins schier Unermessliche steigert, so dass die »Verdrängung« des Todes im Sinne eines Nicht-wahr-haben-wollens der tiefere Hintergrund dieses eigentümlichen Befundes sei. Wir werden zu prüfen haben, ob sich diese These an weiteren psychiatrischen Verständnissen der suizidalen Erfahrung im 19. Jahrhundert wiederholt nachweisen lässt. Erwähnenswert ist aber, dass in diesem Sinne verständlich wird, inwiefern Reil darüber sinniert, dass »künstliche« Todesnähe, die plötzlich über den suizidalen Patienten hereinbricht, eine nachhaltige Besserung des Befindens und eine Auflösung der »fixen Idee« bewirken könnte (Reil 1968, S. 355). So sehr es also zuzutreffen scheint, dass das aufgeklärte medizinische Verständnis der suizidalen Erfahrung einen Vorläufer in den medizinischen Beschreibungen des späten Mittelalters hat, so steht dennoch der aufklärerische Begriff der Irrationalität des Sich-tötens nicht direkt in einer einheitlichen Linie mit dem mittelalterlichen Verständnis der Geisteskrankheit oder Melancholie. Hierbei geht es nicht nur um die differente Auffassung des Todes und dessen unterschiedlichen Stellenwert, der ihm für die suizidale Verfassung in den verschiedenen Verständnissen jeweils eingeräumt wird. Sondern es ist die Ablehnung des Suizids als unsittlich, unvernünftig oder irrationalkurzschlüssig, welches die entscheidende und weitgehend unreflektierte Voraussetzung darstellt, um überhaupt ein psychiatrisches Ver260 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

ständnis der suizidalen Erfahrung zu entwickeln. In diesem besteht der entscheidende Punkt ja eben gerade darin, dass sich der suizidale Mensch über seine Möglichkeiten und Situationen täusche und unter »falschen Voraussetzungen« entscheide. Nur insofern kann die fehlende Vernünftigkeit auf einem medizinisch-psychologischen Weg erklärt werden. Das psychiatrische Verständnis macht so die ansonsten unverständlich bleibende Irrationalität des Suizids und der suizidalen Erfahrung mit dem Hinweis auf das »Innere« nachvollziehbar, jedoch nur unter der impliziten Annahme, dass der Suizid unvernünftig ist, und weist dabei zudem die Notwendigkeit aus, dieses »Innere« in seinen Gesetzmäßigkeiten vernünftig aufzuklären und Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die den suizidalen Menschen wieder zum vollen Vernunftgebrauch zurückführen. Diese Bewegung gilt es im Folgenden an den psychiatrischen Verständnissen der suizidalen Erfahrung zu verfolgen, wie sie sich im 19. Jahrhundert ausgebildet haben.

3.9.

Psychiatrische Verständnisse der suizidalen Erfahrung im 19. Jahrhundert (Griesinger, Kraepelin)

Die nähere Betrachtung der psychiatrischen Verständnisse der suizidalen Erfahrung im 19. Jahrhundert ist eine besondere Herausforderung. Dies hat insbesondere mit den enormen Bewegungen im neuen medizinischen Fach der Psychiatrie zu tun (Engstrom/Roelcke 2003). Dabei liefert sich die entwickelnde Psychiatrie in Deutschland in ihren frühen Jahrzehnten in ihrem umfangreichen Schrifttum eine erbitterte Auseinandersetzung darum, wie denn nun das Fach besser entwickelt und professionalisiert werden könne (Kutzer 2003). Von erstaunlich ähnlichen Grundannahmen hinsichtlich der Verfassung des Menschen und der Behandlungsmethoden aus, verläuft diese Debatte zwischen sogenannten »Psychikern« und »Somatikern«. Und auch wenn die Behandlungsmethoden im 19. Jahrhundert limitiert sind, bilden sich große Irrenanstalten heraus, in denen die psychisch kranken Menschen untergebracht werden, um Behandlung zu erfahren. So kommen die psychisch Kranken durch die hiermit erfolgende endgültige Zergliederung der »Zucht- und Tollhäuser« zugleich »in den Genuss von Humanitätsfortschritten« (Blasius 1994, S. 19 ff.). Dabei sind sowohl die Irrenanstalten, welche oftmals neu gegründet werden, als auch die Unterbringungen des Einzelnen Gegenstand vielfältiger Interessen, die 261 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

sich keineswegs immer zu ergänzen scheinen. Humanistisch motivierte, auf ein Heilen der irren Menschen zielende Ansprüche der psychiatrisch Tätigen und der Ordnungsanspruch des Staates unter Einbeziehung der Schutzinteressen der (normalen) Bürger stehen sich zuweilen entgegen, können sich aber auch ergänzen, wobei zugleich Professionalisierungsinteressen der sich formierenden, universitär bis dato noch kaum repräsentierten Psychiatrie und lokalpolitische Ansprüche die Gemengelage zusätzlich spannungsreicher gestalten. Die Entwicklungsfelder der jungen medizinischen Disziplin mit ihren sowohl naturwissenschaftlichen als auch philosophisch-geisteswissenschaftlichen Wurzeln werden zudem begleitet von einem zunehmenden Interesse der sich formierenden Öffentlichkeit, die sich mit den ebenfalls sich entwickelnden forensischen Aufgaben für die psychiatrischen Ärzte, beispielsweise als Sachverständige in »Fragen der Zurechnungsfähigkeit«, zuweilen überschneiden. Dennoch entspricht in diesem Entwicklungsfeld vieles dem bürgerlichen Selbstverständnis, welches auch weiterhin im Sinne der Aufklärung an der Selbstaufklärung des Menschen interessiert ist. Die Doppelbödigkeit dieses Prozesses prägt auch weiterhin den psychiatrischen Diskurs, in welchem der Mensch sowohl in der reflexiven Selbstbeziehung seiner präreflexiven Basis (der »Subliminalität«) das Unvernünftige zuschreibt und so für seine selbstbewusste Reflexion die Vernunft reklamiert als auch das derart sich rationalisierende Ich von der eigenen präreflexiven und als unvernünftig deklarierten subliminalen Basis abhebt. In diesem Dualismus von Ich und Subliminalität (Leib/Gehirn, Unbewusstes) stellt sich folglich ständig die Frage nach der Verbindung dieser beiden Sphären, welche keineswegs im descartesschen Sinne als verbindungslos verstanden werden, da doch die neurophysiologische oder subliminale Basis die psychischen Erkrankungen zu begründen scheint. Die Gefährdung des Ich durch das Subliminale bleibt so auch weiterhin ein zentrales Thema der bürgerlichen Selbsterfahrung. Vor dem Hintergrund dieses Selbstaufklärungsgeschehens schwankt der Bürger auch im 19. Jahrhundert zwischen der Faszination am Ungewöhnlichen, dem Wunsch nach einer wissenschaftlichen Erklärung des Unglaublichen und den Genesungswünschen für die Unvernünftigen hin und her. Die Unterscheidung in heilbare und unheilbare Geisteskranke gewinnt an Bedeutung – dies hat auch etwas mit begrenzten therapeutischen Möglichkeiten zu tun – und die Wohlfahrtsaufgabe 262 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

des Staates wird bürgerliches Anliegen. Letztere zeigt sich bereits im 18. Jahrhundert im Sinne einer »medizinischen Polizey«, welche die Gesundheit und das Wohlbefinden des Einzelnen durch bestimmte staatliche Regulierungen fördern will, die auf dem Boden der sich formierenden medizinischen Wissenschaft rational begründet werden (Barthel 1989, S. 42 ff., 54 ff.). Sicherlich sind hiermit auch immer Eingriffe in die Lebenswirklichkeiten Einzelner verbunden, die gesellschaftliche Grundidee der Aufklärung bleibt aber bestehen: konsequente Vernunftorientierung führt zu allseitigem Wohlbefinden im Diesseits. So zielt die dem Prozessdenken verpflichtete Aufklärung auf die Heilung und Rückführung des Irren in die normale Gesellschaft (Blasius 1994, S. 24 f.). Andererseits bleibt die Internierung in die Irrenanstalt immer auch eine ordnungspolitische Maßnahme, welche aus öffentlichen Schutzinteressen erfolgt und insofern stets in der Gefahr ist, sozialdisziplinierend von Obrigkeiten missbraucht zu werden. In diesem Spannungsfeld findet sich die Psychiatrie herausgefordert, ein Verständnis der suizidalen Erfahrung zu vertreten und zu entwickeln. Dabei bleibt freilich die Ablehnung des Suizids als unsittlich, unvernünftig oder irrational-kurzschlüssig die entscheidende Voraussetzung, um überhaupt ein psychiatrisches Verständnis der suizidalen Erfahrung zu formulieren, dessen Grundfrage lautet: Wieso täuscht sich der suizidale Mensch über seine Möglichkeiten und Situationen und entscheidet unter »falschen Voraussetzungen«? Wie bereits gezeigt benennt Johann Christian Reil, dass es das »Innere« der betreffenden Person ist, welches – insbesondere mittels »fixer Ideen« oder »tobsüchtiger Impulse« – den rationalen Gebrauch des Verstandes gewissermaßen unmöglich macht. In einer logischen Konsequenz formuliert Jean Etienne Dominique Esquirol (1772–1840), der wirkmächtige französische Psychiater des frühen 19. Jahrhunderts, den auch in der damaligen deutschsprachigen Psychiatriediskussion sattsam bekannten Grundsatz: »Der Mensch trachtet sich nur im Delirium nach dem Leben, und alle Selbstmörder sind Geisteskranke.« (zit. nach Minois 1996, S. 461; vgl. Zitierung auch bei Griesinger 1861, S. 256) Die These eines Selbstmordtriebes, die Esquirol vertritt, suggeriert für George Minois eine Einseitigkeit der psychiatrischen Verständnisse der suizidalen Erfahrung im 19. Jahrhundert (Minois 1996, S. 458 ff.). Diese ist jedoch keineswegs gegeben. Vielmehr findet sich eine durchaus differenzierte Diskussion, wie beispielsweise bei Wilhelm Griesinger (1817–1868) in seinem epochalen Lehrbuch »Die Pathologie und The263 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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rapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende« (1845) nachverfolgt werden kann. Griesinger ist dabei auch in anderer Hinsicht noch von Bedeutung für die Entwicklung des Faches, da er die scheinbaren Gegensätze der »Psychiker« und »Somatiker« verbindet sowie eine Verbindung von hirnorganisch fundiertem Psychiatrie-Verständnis und sozialreformerischem Anspruch im Sinne einer frühen Gemeindepsychiatrie leistet (Sammet 2003; vgl. auch Blasius 1994, S. 49 ff.). Griesinger entwickelt sein eigenes Verständnis der psychischen Störungen in Kenntnis der Streitigkeiten zwischen »Psychikern« und »Somatikern«, welche ein nahezu deckungsgleiches anthropologisches Modell verwenden: »›Psychiker‹ und ›Somatiker‹ gliederten und werteten das psychische Leben in einem Stufensystem, das von den niederen körpernahen und körpergebundenen Affekten der Triebe und des Gefühls über die ›freieren‹ Vermögen der Verstandesebene bis zur Gewissens- und Vernunftebene aufstieg. Auf diesem Level begann dann – spätestens – der gänzlich immaterielle, unsterbliche Seelenanteil. In diesem immateriellen Seelenbereich war aber das ursprüngliche (›gesunde‹) Wesen, der Charakter der Gesamtpersönlichkeit in seinen Einsichten und Werten, in seinem ›sittlichen Gefühl‹ auch im psychisch Gestörten zumindest noch rudimentär repräsentiert. Auf diese konnte therapeutisch eingewirkt, sie mussten bei der Behandlung beachtet werden.« (Kutzer 2003, S. 31 f.; vgl. auch Benzenhöfer 1993) Vor diesem Hintergrund formuliert Griesinger seinen bei Erscheinen 1845 vieldiskutierten Satz aus dem Eingangsparagraphen seines Lehrbuchs: »Welchem Organ gehört das Phänomen des Irreseins an? – Welches Organ muss also überall und immer nothwendig erkrankt sein, wo Irresein vorhanden ist? […] Zeigen uns physiologische und pathologische Thatsachen, dass dieses Organ nur das Gehirn sein kann, so haben wir vor Allem in den psychischen Krankheiten jedesmal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen.« (Griesinger 1861, S. 1) Griesinger treibt das Naturalismusparadigma hingegen nicht ins Extrem, sondern verbleibt auf der anthropologischen Basis seiner Vorgänger (S. 5 ff.). Dabei betont er, dass die Umwandlung von Nervenreizen in Vorstellungen bzw. die Einwirkung von Vorstellungen auf Nervenreize »vollkommen unbegreiflich« ist, aber dennoch in »vermittelnden Vorgängen« zwischen beiden erfolgen muss (S. 6). Griesinger formuliert also ein anthropologisch verstandenes Paradigma der generellen Wechselwirkung von Geist und Gehirn (bzw. Ich und Sub264 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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liminalität), wobei das Gehirn gewissermaßen das organische Substrat des Geistes ist. Es ist genau diese Benennung einer impliziten anthropologischen, auf ein Verständnis des ›ganzen‹ Menschen zielenden Basis, die es Griesinger erlaubt, sich im Schulenstreit zwischen den »Psychikern« und »Somatikern« auf beiden Seiten einzufinden (Benzenhöfer 1993, S. 176 f.). Letztlich entlarvt er damit die Auseinandersetzung zugleich als ein Scheingefecht (Kutzer 2003). Unter Einbeziehung des säkularisierten Begriffs der »Seele«, welche nach Griesinger in den »Geisteskrankheiten« wirklich erkrankt, benennt er all diejenigen Gehirnkrankheiten als »Geisteskrankheiten«, »bei denen Anomalien, Störungen im Vorstellen und Wollen die für die Beobachtung hervorstechendste Symptomengruppe bilden« (Griesinger 1861, S. 9). Dies umfasst zwangsweise auch die suizidale Verfassung, wenn man der verkürzt rezipierten kantischen Position folgt und den Suizid gewissermaßen voraussetzungslos für »unsittlich« erklärt. In dieser Situation nun formuliert Griesinger sein Verständnis der suizidalen Erfahrung, welches sich zwar durchaus auf das Konzept eines Selbstmordtriebes stützt, aber zugleich die Grenzen dieses Konzepts benennt. Die Notwendigkeit, dieses Konzept zu kritisieren, findet sich in Griesingers Schrift in zwei Punkten: a) Griesinger ist der Ansicht, dass es Situationen gibt, in denen der Mensch ganz nachvollziehbar suizidal wird und den Suizid »mit Besonnenheit beschließt und vollführt« (S. 257); b) Griesinger ist der Ansicht, dass nicht jede vergleichbar erscheinende Situation zu denselben psychischen Veränderungen führt, sondern dass es entscheidend von der inneren Verfassung abhängt, ob der Betreffende auf äußere Anlässe eine angemessene oder unangemessene Reaktion zeigt (S. 60 f. u. 137 ff.). Letzteres gilt analog für die suizidale Verfassung, auch wenn es hier oftmals innere (krankhafte) Anlässe sind, die nach Griesinger zur Suizidentscheidung führen (S. 77 ff. u. S. 257 ff.). Dabei gilt aus Griesingers Sicht insbesondere, dass die Vielfalt der Motive entscheidender ist als das eher grobe Konzept des Selbstmordtriebs (S. 77). Mit seiner Kritik bricht Griesinger das monolithisch wirkende Konzept des Selbstmordtriebs von Esquirol auf, in dem der Mensch seinem Trieb krankheitsbedingt ausgeliefert ist, und verleiht dem Verständnis der suizidalen Erfahrung wieder eine psychische Dynamik, die in gewisser Hinsicht an das frühe psychiatrische Konzept von Reil erinnert. »Schwärmerei« tritt jedoch allenfalls am Rande auf, denn das neue griesingersche Paradigma für die suizidale Verfassung ist die 265 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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»Charakterschwäche« bzw. »reizbare Schwäche«, das »schwache Ich«, welches gegen die »Stimmung des Lebensüberdrusses« »nur geringen Widerstand leistet« (S. 257). Dennoch ist in einem gewissen Sinne ein vergleichbarer Charakterzug gemeint, denn im Falle eines »schwachen Ich« fehlt eben gerade die »Besonnenheit«, eine bei Griesinger zentrale Begrifflichkeit und geistige Funktion für die Freiheit des Menschen (S. 45 ff.). Mit »Besonnenheit« meint Griesinger eine geistige Verfassung, in der »andere contrastirende oder überhaupt beschränkende (Vorstellungen J. S.) geweckt werden und wobei Alles in einem mittleren Grade von Stärke und Schnelligkeit vor sich geht, so dass im Bewusstsein überhaupt ein Streit entstehen kann, dass Denken und Reflexion, und damit das Uebersehen von Vergangenheit und Zukunft, möglich wird.« (S. 45) Für Griesinger ist es also eine »Störung der Besonnenheit«, die die Widerstandskraft des Einzelnen gegen die innerlich andrängenden Impulse des Selbstmordtriebes (auch im Falle der »Schwärmerei«) einschränkt. Im Falle von psychischen Krankheiten gibt es zudem viele innere Anlässe, welche wiederum zugleich mit einem »schwachen Ich« gleichbedeutend sind. Griesingers neuer Leitgedanke, das »schwache Ich«, bündelt für ihn die vielfältigen entfernten Prädispositionen und näheren Ursachen der Geisteskrankheiten und verleiht den verschiedenen psychischen Strebungen in der Einzelperson ihre potentiell pathologische Qualität (S. 49 ff. u. 63 f.). Dabei beschreibt er als entscheidendes Geschehen eine »Metamorphose des Ich durch die Krankheit«, in der »das Ich selbst verfälscht und ein ganz anderes geworden« ist (S. 50). Dieser Grundgedanke einer »Verfälschung des Ich« vor dem Hintergrund einer »Schwäche des Ich« kann sehr deutlich in seinen Überlegungen zur Herkunft und Entstehung der Geisteskrankheiten gesehen werden. Dabei gelten ihm die Ursachen von Geisteskrankheiten generell als multifaktoriell, wobei er zudem vorbereitende Faktoren von konkreten äußeren oder inneren Anlässen unterscheidet, von denen letztere dazu führen, dann auch wirklich geistig krank zu werden (S. 131 u. S. 137 ff.). Als »wichtigste Disposition« für Geisteskrankheiten versteht er nun wiederum die »Schwäche des Ich« (»Charakterschwäche«, »reizbare Schwäche«), welche eine »Geneigtheit zum psychischen Schmerz« meint, in welcher das »Ich leichter (durch Gefühle und Leidenschaften J. S.) afficirt« wird bzw. der Mensch »geistig sehr erregbar« und »nicht ausdauernd« ist (S. 162 f.). Diese »Neigung zu Affekten«, in der »jede Vorstellung ein Gefühl erregt«, und die »energielosen Re266 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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actionen des Ich«, mit denen sich der »schwache Mensch« kaum gegen innere und äußere Widrigkeiten bzw. potentiell pathogene Faktoren zu wiedersetzen vermag (S. 55), können durchaus auch Resultate aus Erziehungsfehlern sein (S. 161 f.). Aber auch die Zivilisation verursacht einen »allgemeinen, halbrauschartigen Zustand von Gehirnreizung« (S. 143), womit Griesinger im kulturkritischen Trend seiner Zeit liegt (vgl. Roelcke 1999). Des Weiteren benennt er auch das Lebensalter, das Geschlecht, die Nationalität, die Standesunterschiede und bestimmte allgemein widrige Umstände, welche das Entstehen von bestimmten Geisteskrankheiten befördern können (Griesinger 1861, S. 144 ff.). Jedoch finden sich auch erbliche Gründe, wobei Griesinger in seiner zweiten Ausgabe von 1861 sogar die vier Jahre zuvor publizierte »Degenerationshypothese« von Bénédict Augustin Morel (1809–1873) übernimmt, welche postuliert, dass sich die erbliche Struktur der Seelenstörungen im Sinne der »Degeneration« in jeder nachfolgenden Generation weiter entwickelt habe und somit schwerere Geisteskrankheiten verursache (S. 159 f.). Neben diesen Prädispositionen, die alle in einer »Schwäche des Ich« ihren phänotypischen, individuellen Ausdruck finden, benennt Griesinger als direkte psychische Ursachen, welche für ihn die »häufigsten Quellen des Irrseins« sind, u. a. »leidenschaftliche affectartige Zustände«, »intellectuelle Ueberanstrengung« und »Excesse« (S. 169), aber auch »schmerzhafte Gemüthszustände« (z. B. Angst, Schrecken, Zorn, Trauer/Kummer, Todesfälle, Eifersucht, unglückliche Liebe, widrige Umstände) (S. 170 f.). Der Grundcharakter dieser vielfältig scheinenden psychischen Ursachen liegt für Griesinger darin, dass diese regelhaft »durch eine intensive Störung der Vorstellungscomplexe des Ich einen traurigen Zwiespalt im Bewusstsein setzen« (S. 170). Jedoch können die psychischen Ursachen auch indirekt über körperliche Faktoren wirken, wie beispielsweise über eine anhaltende Schlaflosigkeit (S. 171 f.), die Trunksucht (S. 174 ff.) bzw. über bereits als Dispositionen erkannte negative Faktoren wie »Liederlichkeit«, »Unordnung des Lebens« oder »sexuelle Excesse« (S. 177 f.). Die Prädispositionen und Ursachen wirken folglich zusammen und verursachen immer auch eine »Schwäche des Ich«, durch welche eben gerade die Störungen in der Besonnenheit bzw. im »Vorstellen und Wollen« verständlich werden. Mit der »Schwäche des Ich« meint Griesinger also nicht primär eine moralische Kategorie, sondern vielmehr einen deskriptiv zu verstehenden Befund eingeschränkter geisti267 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ger Leistungen. Konsequenterweise versteht Griesinger das »Ich« nicht als eine immaterielle Substanz von konstanter Struktur, sondern vielmehr als das jeweilige Produkt des gesamten psychischen Apparats, welches wie eine »Illusion« dem Menschen gegeben ist (S. 49 ff.). Das »Ich« unterliegt nach Griesinger folglich erheblichen Wandlungen, wobei diese Wandlungen und Spaltungen wiederum Ausdruck eines »schwachen Ich« sind bzw. eine »Schwäche des Ich« hervorrufen. Damit radikalisiert sich das Thema der Selbsttäuschung, welches bereits im moritzschen »Magazin für Erfahrungsseelenkunde« ein zentrales Thema war: Wie und woran kann man überhaupt sein »wahres Ich« erkennen? Diese eigentlich problematische Frage, welches der verschiedenen »Ichs« man denn nun selber wirklich ist und woran man eine solche Erkenntnis festmachen kann, thematisiert Griesinger nicht. Sie scheint ihm als echtes Problem seiner Überlegungen gar nicht aufgefallen zu sein, obwohl diese Gretchenfrage eines radikalen Konstruktivismus in seinen Ausführungen direkt greifbar ist. Unbenommen dieser Grundschwierigkeit seines Ansatzes, der auch heute die neurowissenschaftliche Debatte wieder bevölkert (Fuchs 2008a; vgl. auch Schlimme 2007a), münden seine konzeptuellen Überlegungen zum »Ich« und dessen »Schwäche« in eine Theorie, in denen Geisteskrankheiten immer mit »Störungen der Besonnenheit« einhergehen. Dabei unterscheidet Griesinger im Wesentlichen vier verschiedene Formen dieser Störungen: a) Steigerung von Neigungen und Trieben bis zu maßloser Heftigkeit; b) allgemein zu schneller Wechsel der Vorstellungen (wie z. B. im »Vorstellungsschwindel« in der Manie); c) allgemeine Trägheit der Gedanken (wie z. B. im »Blödsinn«); d) das Ziehen »falscher Schlüsse« infolge von »fixen Ideen« oder Halluzinationen (S. 46). All diese Formen finden sich auch im Falle der suizidalen Verfassung, so dass der Suizid, mit Ausnahme der von Griesinger ebenfalls explizit genannten, jedoch seltenen Fälle von besonnenen und »frei entschlossenen« Suiziden, jeweils die Folge einer »Schwäche des Ich« gegenüber dem »Selbstmordtrieb« ist. »Der Kranke sucht und findet Erleichterung seines innerlichen Drucks und seiner Gefühlsbelästigung, indem er sie nach aussen wirft, und es reihen sich hieran die Zustände, wo heftige Angstgefühle oder einzelne schreckliche Vorstellungen den Kranken zu einzelnen bestimmten Unthaten treiben. So heftig kann dieser Drang nach irgend einem Ende, irgend einer Entscheidung seines qualvollen Zustandes sein, dass hier gar nicht selten Handlungen, die der Kranke im höchsten Grade verabscheut, aus dem 268 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

Gefühle, dass nur in ihnen noch Rettung und Beruhigung für ihn zu finden sei, begangen werden.« (S. 77) Die Selbsttäuschung, die der Betroffene hier erleidet, kann somit für Griesinger als direkte Folge der »Schwäche des Ich« verstanden werden, so dass es aus seiner Sicht im Wesentlichen immer darum geht, eine »Stärke des Ich« zu bewahren oder wiederzugewinnen. Konkret unterscheidet Griesinger vier verschiedene krankhafte Ursachen bzw. innere Anlässe, die in einen Suizid münden: a) die »Schwermut« im Sinne einer »schmerzlichen Verstimmung«, bzw. eines »chronischen Lebensüberdrusses«, in welcher der Betreffende zwar »äußerlich besonnen« erscheint, aber sich innerlich in einem schmerzhaft-verzweifelten Zustand befindet (S. 257 ff.). Als wichtige Dispositionen gelten ihm hier insbesondere die »Charakterschwäche« bzw. die »Liederlichkeit«, erschöpfende Krankheiten (z. B. intensive Onanie) sowie die Trunksucht (S. 260). Letztlich allesamt Ursachen, die aus seiner Sicht – und mit dieser Einschätzung liegt er im kulturellen Trend seiner Zeit – mit einer erheblichen »Schwäche des Ich« verbunden sind, so dass wir hierin den wesentlichen Charakterzug des »Lebensüberdrusses« im griesingerschen Verständnis sehen können; b) der »Raptus melancholicus«, in dem sich der betreffende Mensch impulsiv und ohne jede »Besonnenheit« den Tod gibt (S. 258); c) der »Lebensüberdruss« in der ausgebildeten Melancholie, welcher nicht nur in einen »Raptus melancholicus« führen kann, sondern überdies den Suizid motivieren kann, um einer »unbestimmten Angststimmung«, einer »akuten Verzweiflung« zu entgehen (S. 260). Jedoch können auch die »fixen Ideen« in der Melancholie – die wahnhafte Überzeugung der eigenen Nichtexistenz oder des eigenen »Unwerts« – den motivischen Hintergrund für den Suizid abgeben (S. 257 ff.). Zuvorderst aber gelten Griesinger akustische Halluzinationen im Sinne von »Stimmen«, die den Suizid befehlen, als direkte innere Anlässe für den Suizid in der Melancholie (S. 260); d) die »wahnsinnigen Ideen«, in denen der Kranke vermeint, mit seinem Tod einen Märtyrertod zu erreichen oder gar das »Paradies« anzustreben (S. 261). Diese vier direkten Ursachen, aufgrund derer der eigene Tod durch den Betreffenden angestrebt wird, unterscheidet Griesinger von denjenigen Todesfällen, in denen der betreffende Mensch zwar »fixen Ideen« motivisch folgend verstarb, seinen Tod aber nicht intendierte. Als Beispiel nennt er den Tod als Folge des Sturzes von einem Haus in der wahnhaften Überzeugung, fliegen zu können. Gemeinsam ist beiden Formen des absicht269 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

lichen bzw. zufälligen tödlichen Verhaltens jedoch, dass die Betreffenden »unbesonnen« bzw. unter falschen Voraussetzungen handeln. Zusammenfassend zeigt sich also, dass Griesinger bemüht ist, dem reilschen Ansatz eines psychiatrischen Modells der suizidalen Erfahrung konsequent zu folgen und die Regelmäßigkeiten der »inneren Natur« aufzuklären. In seinem psychiatrischen Modell will er verstehen, aus welchen inneren Anlässen heraus sich der betreffende Mensch derart zu täuschen vermag, dass er nur noch in seinem eigenen Tod eine »Rettung oder Beruhigung« erkennen kann. Als zentralen Erklärungsmechanismus benennt Griesinger dabei eine »Schwäche des Ich«, welche aus den unterschiedlichsten Hintergründen heraus gegeben und/oder kurz-, mittel- oder langfristig erworben sein kann. Diese »Schwäche des Ich« ergänzt dabei das Konzept des »Selbstmordtriebes«, denn es erläutert, wieso der eine Mensch unter vergleichbar erscheinenden Umständen diesem Streben nachgibt, wohingegen der andere standhaft bleibt. Griesinger gewinnt hierdurch ein zweipoliges, sowohl synergistisch als auch kontrapunktisch aufgehängtes psychiatrisches Modell, welches er zwanglos an die unterschiedlichsten, konkret gegebenen suizidalen Erfahrungen und Suizide heranführt. Es erinnert in seiner Struktur zudem an die aktuellen Vulnerabilitätsmodelle, wie sie in der Suizidologie vorherrschend sind, aber auch an das schopenhauersche Modell aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Griesinger reformuliert damit zugleich die zwei wesentlichen Merkmale des medizinischen Modells: a) Der Suizid ist nicht die bewusst absichtliche Entscheidung gemäß vernünftiger Überlegung, welches einer »Besonnenheit« des Ich entspräche, sondern eine unter »falschen Voraussetzungen« (chronischer Lebensüberdruss, Melancholie, »fixe Ideen«) getroffene Entscheidung eines »schwachen bzw. verfälschten Ich«, dessen »Schwäche« bzw. »Verfälschung« einerseits Ausdruck der Geisteskrankheit als auch erworbene bzw. ererbte Charaktereigenschaft der Person sein kann. Die Suizidentscheidung wird von daher nicht von einem starken und vernünftigen Ich getroffen. b) Der derart beschlossene und vollzogene Suizid setzt deshalb den Suizidenten von allen kulturell üblichen Bewertungsmaßstäben, die an die Verantwortlichkeit einer Person gestellt werden, hinsichtlich seiner Suizidtat frei und erklärt ihn für geistig krank. Der derart vollzogene Suizid bzw. die in dieser Verfassung erwogene Möglichkeit, sich töten zu können, scheint letztlich keinen tiefergehenden, vom Betroffenen selbst reflektierten Zusammenhang mit der Frage nach dem »Wozu« des Lebens 270 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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aufzuweisen. Denn der derart suizidale Mensch soll, dem griesingerschen Verständnis folgend, ja gar nicht in der Lage sein, die hierfür angemessenen Überlegungen anstellen zu können. Dennoch ist Griesinger nicht der Ansicht, dass grundsätzlich alle Suizide seiner psychiatrischen Erklärung zugänglich sind. Dies wird daran deutlich, dass er die Möglichkeit erwähnt, dass manche Suizide mit »Besonnenheit« entschieden und aus »freiem Entschluss« in die Tat umgesetzt werden. Griesinger begrenzt also nicht nur die Erklärungsreichweite des »Selbstmordtriebes«, indem er die kontrapunktische Erklärung der »Schwäche des Ich« hinzufügt, sondern schränkt insgesamt die Reichweite seines psychiatrischen Modells ein. Es stellt sich die Frage, wieso Griesinger diese generelle Beschränkung vornimmt. Der Hintergrund dieser Beschränkung wird deutlich, wenn wir nachzeichnen, wie mit Griesingers Modell der »chronische Lebensüberdruss« zu verstehen ist. Denn hier müssen wir seinem Modell gemäß ebenfalls eine »innere Zwiespältigkeit« mutmaßen und folglich – aus theoretischer Stringenz – auch in der »besonnensten« Suizidentscheidung noch eine Selbsttäuschung auffinden. Diese »Selbsttäuschung« müsste Griesinger folgend dann im Falle des »chronischen Lebensüberdrusses« aber gerade darin bestehen, dass derjenige in seinem Tod eine »Beruhigung« bzw. »Erleichterung« von den hiesigen Unerträglichkeiten zu erkennen meint. Aber kann diese Ansicht überhaupt wirklich als Selbsttäuschung entlarvt werden? Dies scheint schwer möglich, wie wir mit Rückblick auf David Hume sagen können. Es stellt sich aber damit nicht nur die grundsätzliche Frage, inwiefern sich ein Mensch überhaupt darüber zu täuschen vermag, dass sein Tod für ihn eine Erleichterung sein kann. Sondern es stellt sich die Frage, ob das psychiatrische Modell überhaupt in sich schlüssig und zutreffend darzustellen vermag, was in der suizidalen Erfahrung geschieht. Denn Griesingers Modell gemäß müssten wir mutmaßen, dass jede Suizidentscheidung unter falschen Voraussetzungen hinsichtlich der rettenden Qualität des Todes getroffen wurde. Oder wir müssten, bei Ablehnung dieses Selbsttäuschungsmodells und der Annahme des gegenteiligen humeschen Modells mutmaßen, dass jede Suizidentscheidung unter zutreffenden Voraussetzungen erfolgte. Welchem Modell ist aber nun für ein psychiatrisches Verständnis der suizidalen Erfahrung zu folgen? An dieser Stelle steht schließlich, ganz offenbar ohne dass Griesinger dies bemerkt hätte, die gesamte Grundannahme des psychiatri271 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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schen Diskurses zur Disposition. Denn für die Psychiatrie ist es eben notwendig, aus einer selbstdistanzierten Position die eigene, präreflexive Basis in ihrem Zusammenhang mit der eigenen Erfahrung in den Blick zu bekommen und zu beschreiben. Aber bereits vor dem Hintergrund der kantischen Philosophie zeigte sich eine letzte Unsicherheit des Wissen-könnens und eine Unverfügbarkeit dieser eigenen präreflexiven Basis, welche in den Anfängen der psychiatrischen Verständnisse im Begriff der »Schwärmerei« gebunden wurde. Bei Griesinger nun bricht die fehlende Deckungsgleichheit der beschriebenen präreflexiven Subliminalität aus der Sicht des Ich und der von anderen Menschen bzw. aus wissenschaftlich gewonnenen Einsichten beschreibbaren Regelmäßigkeiten und Abläufe dieser präreflexiven Subliminalität vollends auf. Die konsequente Ausdehnung seines psychiatrischen Modells der suizidalen Verfassung hätte Griesinger in die Notwendigkeit geführt, die Grenzen der Selbsttäuschung zu thematisieren und die Frage zu stellen: Welches Ich ist denn nun eigentlich das echte? Diese Frage stellt Griesinger nicht. Und dies, obwohl er eine Skepsis gegenüber der Identität des eigenen Ich betreibt. So ist beispielsweise für ihn »das Ich eine Abstraction« und er bemerkt, dass der Gesunde in vielen Situationen »ein Anderer und doch derselbe« ist (S. 48 f.). Zudem weist Griesinger wiederholt darauf hin, dass gerade die »Selbstempfindung«, also letztlich die präepistemische Gewissheit der eigenen Identität, durch psychische Störungen bereits in ihren Frühphasen verändert wird (S. 50 u. S. 63 ff.). Wenn also die »Verfälschung des Ich«, diese fundamentale Selbsttäuschung im moritzschen Sinne, bereits in der »Selbstempfindung« in den frühesten Stadien psychischer Störungen ansetzt, wie kann dann die eigene Identität überhaupt noch gesichert werden? Griesinger kommt um diese Frage drumherum, da für ihn die physiologische bzw. hirnphysiologische Verbundenheit des einzelnen Menschen derart augenfällig ist, dass er die Grenzen seines organisch fundierten Konstruktivismus gar nicht zu erkennen vermag. So sucht er weder im Stile Montaignes die eigene Sterblichkeit als verlässlichen Angelpunkt der eigenen Selbstreflexion auf, noch thematisiert er die Notwendigkeit der präepistemischen Gewissheiten auch für die psychiatrisch-wissenschaftlichen Beschreibungen, sondern er bleibt in einem naiv realistischen Sinne von der außenperspektivisch benennbaren Zusammengehörigkeit des Ich überzeugt. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, inwiefern die Fragwürdigkeit der Identität in der 272 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Selbstbeziehung bei Griesinger noch nicht zu einer fruchtbaren Begründung im Sinne einer neuen psychiatrischen Anthropologie führt, wie sie dann durch die psychodynamischen Schulen (u. a. Freud), die phänomenologisch sich gründende Psychopathologie (v. a. Jaspers) und die durch Heidegger inspirierte anthropologische Psychiatrie des 20. Jahrhunderts (vgl. Emrich/Schlimme 2003) hervorgebracht wird. Dies wäre durchaus möglich gewesen, formuliert doch in zeitlicher Parallelität Søren Kierkegaard (1813–1855) bereits 1849 in seiner »Krankheit zum Tode« das Zu-sich-verhalten als wesentliche Grundbestimmung der menschlichen Personalität. Zudem weist Kierkegaard darüber hinaus die in die suizidale Erfahrung führende Verzweiflung in ihrem Bezug zum Zu-sich-verhalten aus, verzweifelt der kierkegaardsche Mensch doch gerade über die fehlende Gründung der eigenen Existenz in einem Donator (Kierkegaard 1992, S. 9). Die Selbsttäuschung als stets gegebene Weise des Zu-sich-Verhaltens besteht Kierkegaard folgend also gerade auch bei Griesinger bzw. bei seinem psychiatrischen Modell, da er sich in seinem Gehirn fest gegründet wähnt. Die skeptische Befragung dieser Selbsttäuschung hätte Griesinger also durchaus erlaubt, sein psychiatrisches Modell des »chronischen Lebensüberdrusses« abseits der Annahme zu formulieren, dass sich der suizidale Mensch notwendigerweise über die Aussichten seines Todes täuscht. Vor dem Hintergrund dieser bei Griesinger fehlenden skeptischen Befragung der Verlässlichkeit der eigenen Identität, die nicht zureichend aus dem Selbstbezug unter Ausklammerung jeglicher Selbsttäuschung gesichert werden kann, greift aber nun gerade hinsichtlich seines Verständnisses der suizidalen Erfahrung seine Annahme der »besonnenen Suizide«. Denn die Annahme, dass es entgegen der letztlich vom betreffenden Menschen nicht verlässlich erkennbaren Selbsttäuschung über die Voraussetzungen seiner Suizidentscheidung dennoch einen »besonnenen Suizid« geben soll, macht deutlich, dass Griesinger davon ausgeht, dass es eine verlässliche Entscheidungsbasis für ein »vernünftiges Leben« zu geben scheint. Worin diese aber für Griesinger bzw. den einzelnen Menschen bestehen soll, wenn nicht in seiner eigenen bereits erworbenen Kulturalität, bleibt verständlicherweise für uns unerfindlich. Die schlichte Behauptung, dass eben gerade doch nicht in jeder besonnenen Vergewisserung des eigenen Selbstseins eine Täuschung versteckt sein könne, ist allerdings ein zweischneidiges Schwert für Griesingers Verständnis der suizidalen Verfassung. Sicher273 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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lich verhindert diese Behauptung in einem generellen Sinne die Aufdeckung der Unhaltbarkeit seines neurophysiologischen Konstruktivismus am Beispiel der suizidalen Erfahrung. Zugleich aber wird damit auch die Frage nach einem »Warum?« der suizidalen Verfassung unter Einbeziehung der Sinndimension menschlichen Lebens im psychiatrischen Diskurs eröffnet, obwohl Griesinger hier sicherlich nicht »das metaphysische Bedürfnis« des Menschen im Anschluss an Arthur Schopenhauer (1788–1860) im Blick hatte. Dennoch deutet sich hier bei Griesinger eine dimensionale Skalierung der »Besonnenheit« von Suiziden an. Setzen wir, hierin Griesinger folgend, die »Besonnenheit« und die »Vernunft einer Entscheidung« gleich, so finden wir uns in der auch heute noch aktuellen These wieder, dass Suizidentscheidungen zunächst auf einer dimensionalen Skala mit den Extrempolen der fundamentalen Irrationalität bzw. der umfassenden Vernünftigkeit angeordnet werden können (Birnbacher 1990). Unbenommen der Frage, ob eine solche Anordnung der suizidalen Erfahrung tatsächlich dem Sichtöten-können des Menschen gerecht wird, ist zu bemerken, dass eine solche dimensionale Anordnung zunächst erstmal überhaupt die Frage nach dem Sinn des Suizids ermöglicht, ohne sofort an der krankheitsbedingten Selbsttäuschung bei der Mehrzahl der Suizide zweifeln zu müssen. Insofern auch kann Griesinger von »angemessenen« Entscheidungen bei »besonnenen Suiziden« sprechen, da er eben gerade die Unangemessenheit der Suizidentscheidung in allen anderen Fällen als Folge der krankheitsbedingten Selbsttäuschung versteht. Sein Kriterium der »Angemessenheit« ist dabei unbemerkterweise eines der kulturellen Gewohnheit und Ideale (vgl. Griesinger 1861, S. 257). Griesinger umgeht also mit seiner Behauptung der »besonnenen Suizide« die Notwendigkeit, das Problem der Selbsttäuschung für die Psychiatrie neu zu fassen und die grundsätzliche Unumgänglichkeit der Selbsttäuschung für ein ganz in sich gründen wollendes Selbstbewusstsein – wie sie eben gerade in der schopenhauerschen Philosophie bereits thematisiert ist – anzuerkennen. Damit verhindert aber nun Griesingers Behauptung auch zugleich die Thematisierung zweier anderer wichtiger Aspekte der suizidalen Erfahrung, dass nämlich a) in jeder suizidalen Erfahrung eine innere Zwiespältigkeit gegeben ist, und dass b) in jeder suizidalen Erfahrung die eigene Sterblichkeit unnachgiebig in einem reflexiven Sinn gegeben ist. Die Verhinderung des ersten Aspekts aus der Behauptung »besonnener Suizide abseits aller Selbsttäuschung aus chronischem Lebens274 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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überdruss« ist naheliegend, da Griesinger durch seine Behauptung ein externes Maß ausweist, an dem sich die Vernünftigkeit eines Suizids – und damit auch die Erlaubtheit eines Suizids – ablesen lasse. Hierdurch transferiert er alle Aspekte des Erlebens, Wahrnehmens oder Denkens, die in der eigenen Erfahrung für den suizidalen Menschen mehr oder anderes aufzeigen, als Griesingers psychiatrisches Modell zulässt, ins Reich der Einbildungen, Illusionen und Phantasien. Hier nun kommt bereits der zweite Aspekt ins Spiel, denn Griesingers Annahme eines »besonnenen Suizids« lässt zugleich die Frage nach der Wirklichkeit des Todes im Leben unthematisiert. Dies mag zunächst erstaunen, da doch Griesinger zum einen die Vorstellung eines Paradieses nach dem Tode als eine »fixe Idee« bezeichnet – und sich damit als »vollkommen aufgeklärt« zu erkennen gibt – und zum anderen im Tod eine Erleichterung vom jetzigen unerträglichen Zustand bemerkt – und damit durchaus den entscheidenden Aspekt benennt, der die rettende Qualität des Suizids für einen derart aufgeklärten Menschen ausmacht. Und tatsächlich hätten auch beide Aspekte die direkte Thematisierung des Todes in seiner Entzogenheit im Leben und seiner letztlichen Unvorstellbarkeit für uns lebende Wesen erlaubt, jedoch nimmt Griesinger eine solche Thematisierung nicht vor. Dabei mag auch der Wunsch nach einer wissenschaftlichen Abgrenzung gegen Philosophie und Theologie eine Rolle spielen, andererseits hätte ihn aber diese Thematisierung erneut an die Frage nach der Wirklichkeit des Ich und die Grenzen der Selbsttäuschung herangeführt. Denn, so das in seinem Modell operierende Argument, da die Thematisierung des Todes für ein Verständnis der suizidalen Verfassung entbehrlich erscheint, scheint auch der Tod in das Reich der Phantasie verfrachtet zu werden, ganz so, als wäre er – wie auch das Ich in Griesingers psychiatrischem Modell – eine hirnphysiologisch konstruierte Vorstellung. Sicherlich ist diese Entfernung des Todes aus der Selbstvergewisserung mehr diskursive Tendenz als echte Überzeugung Griesingers. Aber es ist ein wichtiger Befund, dass die Diskurse über das Leben im 19. Jahrhundert den Tod real-entwirklichen. In dieser Real-Entwirklichung verliert der Suizid zugleich jegliche rettende Qualität, wobei Griesinger hier Ausnahmen gelten lassen möchte. Die dennoch im psychiatrischen Verständnis der suizidalen Erfahrung fehlende Kenntnisnahme des Todes in seiner unausweichlichen, unverfügbaren und unbestimmbaren Qualität hat ihren Hintergrund in dem aufklärerischen Nachweis, dass sich eben gerade am Tod unmissverständlich der Ein275 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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bruch der kosmischen Teleologie zeigt. Denn mit den kantischen Kritiken bricht um 1800 die Grundannahme des teleologischen Denkens insofern ein, da es eben nicht einmal mehr als sicher gelten kann, dass es einen solchen Überbau des Lebens – sei es Gott, Schicksal oder Vernunft – überhaupt gibt. Wenn also die christlichen Versprechungen eines ewigen Lebens oder einer leibhaftigen Wiederauferstehung ins Paradies allenfalls noch geglaubt, aber nicht mehr gewusst werden können, steht im Angesicht des eigenen Sich-töten-könnens die Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins auf dem Spiel. Denn was bleibt, wenn das eigene Leben nicht mehr in ein großes Ganzes eingebunden werden kann? Um diese im kulturellen europäischen Diskurs des 19. Jahrhunderts virulente Frage kommt Griesinger herum, indem er eine eigentümliche Begrenzung seines Modells vornimmt und eine qualitative Differenz von »chronischem Lebensüberdruss« und »besonnenen Suiziden« behauptet, welche sowohl den Tod und damit die rettende Qualität des Suizids aus dem Verständnis heraushält als auch die Selbsttäuschung für ein »starkes Ich« zurückweist. Und dies, obwohl diese Frage im 19. Jahrhundert zur Schlüsselfrage der sich neu formierenden Philosophie wird. Insbesondere Arthur Schopenhauer wirft diese Frage auf, aber auch Heinrich von Kleist thematisiert bereits den naheliegenden Zusammenhang (Muth 1958; Emrich 1991; Schlimme 2001). Und Friedrich Nietzsche (1844–1900) verweist schließlich in seiner »Fröhlichen Wissenschaft« (1882/87) 1882 darauf, dass sich der Sinn des Lebens nur aus dem jeweiligen Leben selbst ergeben kann und dieses konkrete Leben nicht zu überdauern vermag, auch wenn der Mensch die Vorstellung eines überdauernden Sinns benötigt: »Der Mensch muß von Zeit zu Zeit glauben zu wissen, warum er existiert, seine Gattung kann nicht gedeihen, ohne ein periodisches Zutrauen zum Leben!« (Nietzsche 1959, S. 44) Obwohl der Mensch seine »grenzenlose Fliegen- und Froscharmseligkeit« zurückweisen möchte, gilt, wie Nietzsche in der zweiten Ausgabe der »Fröhlichen Wissenschaft« 1887 festhält: »Indem wir die christliche Interpretation dergestalt von uns stoßen und ihren ›Sinn‹ wie eine Falschmünzerei verurteilen, kommt nun sofort auf furchtbare Weise die Schopenhauerische Frage zu uns: Hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn? – Jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und in alle Tiefen hinein gehört zu werden.« (S. 302) Eine Frage, die Nietzsche bereits in seinem »Zarathustra« unter Bezug zum Suizid thematisiert (Nietz276 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sche 1994, Bd. 2, S. 159 f.), die aber im psychiatrischen Modell des 19. Jahrhunderts bei Griesinger jedenfalls nochmal abgewendet wird. Zusammenfassend zeigt sich Griesingers Verständnis der suizidalen Erfahrung demnach als eine Fortsetzung des reilschen Verständnisses, wobei er die eher grobe These der »Schwärmerei« durch ein differenzierteres Konzept der »Schwäche des Ich« und des innerlich aufkommenden »Selbstmordstrebens« in der Verzweiflung, Melancholie und bei unerträglichen wahnhaften Ideen ersetzt. Er formuliert damit ein psychiatrisches Modell der suizidalen Verfassung, welches sich weitgehend auf die verzweifelte Seite des suizidalen Menschen konzentriert. Die mit dieser Konzentration des Verständnisses aufkommende Frage, inwiefern denn dann der verzweifelte Mensch gerade den Tod als »letzten Ausweg« wählt, beantwortet Griesinger durch den Verweis auf Phantasien über den rettenden Charakter des Todes, die sich der verzweifelte Mensch in seiner Selbsttäuschung einbildet. Letztere werden wiederum durch die Verzweiflung hervorgebracht, so dass sich der psychologische Kreislauf schließt, der die suizidale Verfassung weitertreibt. Griesinger formuliert damit ein Modell, welches sich in erstaunlich ähnlicher Weise auch in den heutigen Lehrbuchartikeln zur suizidalen Verfassung findet (vgl. Wolfersdorf 2007). Wenig erstaunlich ist daher, dass auch das aktuelle psychiatrische Verständnis der suizidalen Erfahrung den rettenden Charakter des Todes, wie er dem suizidalen Menschen erscheint, nur am Rande wahrnimmt (vgl. Schlimme 2007c). Dennoch aber eröffnet Griesinger zugleich mit seiner These der »seltenen besonnenen Suizide« die psychiatrische Thematisierung der Frage, ob nicht doch in einer Suizidentscheidung ein nachvollziehbarer Sinn bestehen könne, obwohl er zugleich die Ubiquität der Sinnhaftigkeit der Suizidentscheidung für den suizidalen Menschen damit wiederum negiert. Eine ähnliche Konstellation findet sich bei Emil Kraepelin (1856– 1926), dem vielleicht entscheidenden Wegbereiter der stationären »klinischen Psychiatrie«, wie sie die transatlantische Psychiatrie im 20. Jahrhundert geprägt hat. In seiner Heidelberger Zeit als Ordinarius für Psychiatrie und Chefarzt der dortigen psychiatrischen Universitätsklinik (1891–1902/03) reorganisiert er den Behandlungsablauf und die Dokumentationsstruktur im Interesse einer möglichst umfangreichen Sammlung von Krankengeschichten. Zugleich können junge Ärzte so den »psychiatrischen Blick« lernen, der seit den Anfängen der Psychiatrie um 1800 im Zentrum dieser Disziplin steht (Schlimme 277 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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2005) und sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als entscheidendes diagnostisches Instrument des Psychiaters etabliert hat (Engstrom 2003, S. 121 ff.). Die Sammlung von Krankengeschichten in möglichst frühen Stadien der Erkrankung und über eine möglichst lange Verlaufszeit dient Kraepelins Bemühung um die nosologische Klassifikation der »endogenen Geistesstörungen« (S. 129 ff.). Dieses Bemühen bildet auch den Hintergrund seines sonst als wechselvoll erscheinenden Verhaltens gegenüber der staatlichen »Obrigkeit« (S. 129 ff.; Blasius 1994, S. 124 ff.). In der fünften Auflage seines Lehrbuchs veröffentlicht er erstmals seine auch heute noch im psychiatrischen Diskurs gültige Unterscheidung von »Dementia praecox« und »Zyklothymie« – dem heutigen Sprachgebrauch entsprechend die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis und die affektiven Störungen mit depressiven bzw. manischen Episoden –, die er in einem realistisch-naturalistischen Sinne als »natürliche Krankheitseinheiten« versteht. Mit dem Diktum der experimentellen Erforschung dieser »Krankheitseinheiten« entwirft Kraepelin zugleich ein fortschrittsoptimistisches Forschungsprogramm der psychiatrischen Wissenschaft, welches er an der 1917 eröffneten Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München konkret zu realisieren weiß (vgl. Hoff 1994, S. 59 ff. u. S. 71 f.). Zugleich aber ist Kraepelin auch äußerst engagiert in den Abstinenzbewegungen, wobei er nicht nur eine wissenschaftliche Begründung der Gefährlichkeit des »Willensvernichters« Alkohol zu liefern bemüht ist, sondern auch seine ärztliche Autorität in den Dienst der allgemeinen Aufklärung stellt (Spode 1993, S. 209 ff.; vgl. auch Schlimme 2008). In der sechsten Auflage seines »Lehrbuchs der Psychiatrie« von 1899 erörtert Kraepelin einleitend das »Ergänzungsverhältnis innerer und äusserer Ursachen« als das generelle Rätsel der Psychiatrie (Kraepelin 1899, I, S. 12 ff.). Während nämlich die schädliche Einwirkung »in einem Falle an der inneren Widerstandsfähigkeit des Betroffenen ohne weiteres abprallt, kann sie ein anderes Mal vielleicht eine heftige, aber kurze Erschütterung des psychischen Gleichgewichtes erzeugen, bei einem Dritten etwa eine schlummernde Krankheitsanlage wecken, die nun ihrerseits zu langdauerndem geistigem Siechthume führt« (I, S. 13). Die große Trennung in »äussere und innere Ursachen des Irreseins«, in »exogene« und »endogene« Erkrankungen ist für Kraepelin demnach auch nicht streng durchzuführen, da es »naturgemäß alle möglichen Mischungen in dem Verhältnis der äusseren zu den inneren Ursachen geben könne« (I, S. 14). Dabei unterscheidet er aber nicht nur 278 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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innere und äußere Ursachen, sondern des Weiteren auch persönliche Dispositionen, welche einerseits erworben, aber auch ererbt sein können, von näheren Ursachen und Anlässen (I, S. 92 ff.). Bedeutsam ist dies insbesondere auch hinsichtlich des Suizids, den Kraepelin generell als »Selbstmord« bezeichnet. Kraepelin bezieht sich an den verschiedensten Stellen in seinem umfangreichen, in der sechsten Auflage zweibändigen Lehrbuch auf den Suizid, ohne ein konkret ausformuliertes Modell oder Verständnis vorzustellen. In all seinen Äußerungen bleibt es jedoch unzweifelhaft, dass er selbst für den Suizid weder etwas übrig hat noch auch nur den Gedanken überhaupt ins Auge fasst, dass es vernünftige Gründe für den Suizid geben könnte. Vielmehr erscheint der Suizid (»Selbstmord«) als eine »Krankheitserscheinung«, der eher wie ein Irrtum unter falschen Voraussetzungen beschlossen und umgesetzt wird. »Dahin gehört vor allem die Neigung zum Selbstmorde, wie sie sich so häufig an traurige Wahnideen oder Stimmungen anschliesst. In ihr haben wir es mit einer äusserst verhängnisvollen und praktisch überaus wichtigen Erscheinung des Irreseins zu thun, die bei schlechter Überwachung zahlreiche Opfer fordert.« (I, S. 257) Ohne dass Kraepelin sein Verständnis des Suizids näher ausführt, kann sein Modell aus seinem weiteren Verständnis erschlossen werden. Dieses ist dabei von der allerdings nicht streng durchgehaltenen Grundvoraussetzung geprägt, dass es eine naiv-realistische Außenwelt und einen sich hierzu wahrnehmend und handelnd verhaltenden seelischen Apparat gibt, der seinerseits in psychophysischer Parallelität nach experimentell aufklärbaren Regeln und Gesetzen funktioniert (vgl. Hoff 1994, S. 47 ff. u. S. 89 ff.). In dieser nahezu wissenschaftspositivistischen Weltsicht verortet sich der Mensch als Person, wobei Kraepelin als primär »empirisch arbeitender Pragmatiker« alle spekulativen, philosophischen oder theologischen Strömungen seiner Zeit aus seinem Diskurs weitgehend herauszuhalten versucht, obwohl er sie durch die Hintertür wieder einführt, indem er sich als wissenschaftlicher Psychiater wiederum kulturvergleichenden, politischen oder erzieherischen Fragen zuwendet (S. 209 ff.). In seinem Selbstverständnis und Menschenbild nimmt nun, durchaus zeitgemäß und seinem psychologischen Lehrer Wilhelm Wundt (1832–1920) zunächst angemessen, der »Wille« eine besondere Rolle ein. Dabei versteht er aber im Unterschied zu Wundt – und damit auch insbesondere im Gegensatz zu Schopenhauer – den Willen im Sinne eines psychischen Leistungsvermögens, welches gewissermaßen 279 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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die Krone des seelischen Apparats ist: »Ihren letzten und wichtigsten Ausdruck finden alle Störungen, die das psychische Leben beeinflussen, im Wollen und Handeln des Kranken. Den Ausgangspunkt einer Willenshandlung bildet die Vorstellung eines bestimmten Zweckes, einer Veränderung an uns selbst oder an unserer Umgebung. Diese Vorstellung wird von Gefühlen begleitet, die sich in Antriebe zur Erreichung jenes Zweckes umsetzen.« (Kraepelin 1899, I, S. 202) Dabei entspringen nach Kraepelin die »Beweggründe unseres Handelns« aus »zwei Quellen«: »aus äusseren Anstössen und aus feststehenden allgemeinen Willensrichtungen, deren Inhalt ursprünglich allerdings auch durch die Lebenserfahrung erworben wurde. Beim gesunden Menschen führt jeder Anlass nur soweit wirklich zum Handeln, als ihm nicht wichtige, der eigenen Persönlichkeit angehörende Gegenströmungen im Wege stehen.« (I, S. 209). Ein solches Wollen und Verhalten nach festen Grundregeln versteht Kraepelin als »Willensfreiheit«: »Nur Kinder und in geringerem Grade auch wol Frauen, ferner die ›leichtsinnigen‹ Naturen lassen sich mehr von den Einflüssen des Augenblicks, als von festen ›Grundsätzen‹ leiten, weil sie solche noch nicht erworben haben oder überhaupt nicht zu erwerben im Stande sind.« (I, S. 209) Bevor wir auf die hier erfolgende, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den europäisch geprägten Kulturen weit verbreitete Gleichsetzung von Frauen und Weiblichkeit mit Gefühlshaftigkeit und einer Schwäche des Verstandes eingehen, gilt es zunächst, Kraepelins Begriff des »Willens« für sein Verständnis der suizidalen Verfassung fruchtbar zu machen. Denn eine solche »Willensfreiheit« setzt neben einer Herrschaft des Willens über den restlichen »seelischen Apparat« zugleich auch die entsprechenden – und zwar »vernünftigen«, jedenfalls dieser Freiheit lang- und kurzfristig dienlichen – Erkenntnisse der Situation voraus. Dabei kann eine exakte Erkenntnis (»Wissen«), welche ein »getreues Abbild der Welt« ist, nur aufgrund der »verstandesmässigen Verarbeitung der Vorstellungen« in Übereinstimmung mit den Sinneswahrnehmungen erlangt und Irrtümer »mit den Waffen der Erfahrung und der verstandesgemäßen Überlegung« bekämpft werden (I, S. 159 f.). Dieses korrekte »Urteilen« und »Schließen« – bei Kraepelin wiederum zentrale, die Sinneswahrnehmung verarbeitende seelische Funktionen (vgl. Hoff 1994, S. 92 ff.) – baut »auf der Vorarbeit der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, der Bildung und Verbindung von Vorstellungen« auf und kann entsprechend bei den verschiedensten Erkrankungen ge280 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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stört sein (Kraepelin 1899, I, S. 159). Insofern gilt auch in seinem Modell »die landläufige Thatsache, dass ausgeprägte Stimmungen und Gemüthsbewegungen das klare Urtheil trüben«, sowie die Einsicht, dass insbesondere Wahnideen zu fundamentalen Täuschungen über die Wirklichkeit führen, wobei das Aufkommen von Wahnüberzeugungen für Kraepelin generell »mit einer einschneidenden Unzulänglichkeit der Verstandesleistungen zu thun hat« (I, S. 166 f.). Und nicht zuletzt kann die »allzu grosse Heftigkeit der Gemüthsbewegungen […] die Herrschaft des Willens über das Handeln« bedrohen, so dass gilt: »Je heftiger aber die gemüthliche Erschütterung, je stärker der Drang zum Handeln, desto geringer ist der Einfluss der Ueberlegung, desto schwieriger die Hemmung der sich vorbereitenden That.« (I, S. 221) Fassen wir dies zusammen, so ergibt sich, dass a) fehlerhafte Wahrnehmungen (»Halluzinationen, Illusionen«); b) Gefühle und Stimmungen (»heftige Gemüthsbewegungen«); c) Triebe; d) Störungen des Gedankenganges (»Bildung und Verbindung von Vorstellungen« und e) wahnhafte Überzeugungen zu bedeutsamen (»krankheitsbedingten«) Einschränkungen der Willensstärke gegenüber dem restlichen »seelischen Apparat« führen. Entsprechend diesem Verständnis des Willens zeigt sich, dass für Kraepelin insbesondere diejenigen Menschen der »Neigung zum Selbstmord« nachgeben, die eine verringerte bzw. geringe Widerstandsfähigkeit des bewussten Verstandes gegen den restlichen »seelischen Apparat« bzw. eine entsprechende Veränderung des »seelischen Apparats« in Richtung »trauriger Wahnideen und Stimmungen« aufweisen. Dieses sind bei Kraepelin ganz explizit die »Irren« – im Rahmen der Melancholie, des manisch-depressiven Irreseins, der Paralyse und Katatonie, aber auch der Neurasthenie und Hysterie – und die Frauen (I, S. 221, 334 u. S. 84). Kraepelin nennt insbesondere die Melancholie, eine mit einem Wahnerleben einhergehende schwere Form der Depression, in welcher entsprechend dem Wahnerleben (z. B. eines Versündigungs- oder Schuldwahns, in dem der Betreffende unkorrigierbar überzeugt ist, an dem Elend der Welt, seiner Angehörigen oder anderen negativen Ereignissen schuld zu sein) von langer Hand geplant oder aber plötzlich und ohne alle Vorwarnung Suizidversuche ins Werk gesetzt werden (II, S. 320 ff. u. II, S. 329 ff.). Kraepelin nennt im Weiteren die Depression, in der, wie er ausführlich darlegt, aber oftmals die »schwere Willensstörung« (d. h. die Schwierigkeit, überhaupt eine sich in voller Absicht 281 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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vorgenommene Handlung, wie beispielsweise einen Tee zu kochen, tatsächlich ins Werk zu setzen) verhindert, den zumeist vorhandenen »Todeswunsch« auch konkret in einen Suizidversuch umzusetzen (II; S. 388 ff.). Kraepelin beschreibt damit einen auch noch aktuell im psychiatrischen Diskurs bekannten Zusammenhang. Nicht zuletzt warnt Kraepelin vor Suiziden, welche direkt nach der Entlassung aus der Klinik vollzogen werden und die sich die Patienten schon lange vor dem Entlassungstag vorgenommen haben (Kraepelin 1899, II, S. 425). Auch dies ist eine im heutigen psychiatrischen Diskurs bekannte Risikosituation für Suizide bei Menschen mit depressiven Störungen (vgl. auch Finzen 1995, S. 49 ff.; Schneider 2008, S. 126). Sowohl bei der Melancholie als auch der Depression sind es Kraepelin folgend vorwiegend die Veränderungen der Gefühle und Stimmungen (b) und wahnhafte Überzeugungen (e), welche zum Suizid führen. Eine eigenständige Erörterung des Befindens bzw. der Erfahrungen der betreffenden Person im Vorfeld des Suizidversuchs unterbleibt bei Kraepelin hingegen vollständig. Etwas anders verstehen sich die Suizidversuche bei den anderen »Irren«. Kraepelin nennt hier insbesondere die Paralyse mit ihrem klinisch vielfältigen, oftmals mit Wahnideen versehenen, initial periodischen und späterhin in die manifeste »Verblödung« und zum Tod führenden Verlauf, in welcher sich »in den Frühphasen« Suizide finden (Kraepelin 1899, II, S. 272). Dabei sind es zumeist »plötzliche Verzweiflungsanwandlungen«, welche »zu triebartigen Selbstmordversuchen« führen (II, S. 261). Vorausgreifend sei bemerkt, dass Kraepelin 1899 die »progressive Paralyse« zwar auch mit der Syphilis in einem ursächlichen Zusammenhang versteht (II, S. 286 f.). Aber er sieht hierin nicht eine späte Manifestation der syphilitischen Infektion, sondern vermutet ein sich im Blut befindliches Gift, welches eine generelle Ernährungsstörung verursacht, die sich wiederum vorzüglich an der Hirnrinde ausprägt und zum massenhaften Untergang der dortigen Nervenzellen mit anschließendem Ersatz durch Neuroglia (im Zentralen Nervensystem befindliches »Stütz- und Ernährungsgewebe« der Nervenzellen mit einer Reihe von physiologisch bedeutsamen Funktionen) und Verlust des typischen Gewebaufbaus und damit dem Funktionsverlust der Großhirnrinde führt (II, S. 289 ff.). Der naturwissenschaftliche Beweis des streng infektiösen Charakters der Neurosyphilis gelingt tatsächlich erst mit dem Nachweis des Erregers 1905, wobei die Einführung eines erfolgreichen, wenn auch toxischen Heilmittels 282 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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1909/10, dem arsenhaltigen Salvarsan, durch Paul Ehrlich (1854–1915) einen Großteil der damaligen Geisteskranken heilbar macht. Denn schließlich sind in der Psychiatrie der Jahrhundertwende die Paralytiker die wohl bedeutendste Gruppe der Geisteskranken (Schmiedebach/ Priebe 2003). Ebenfalls stärker aus dem Triebhaften verstehen sich die Suizide bei der »Dementia praecox«. Dies gilt insbesondere für die »Katatoniker«, deren zuweilen »ununterbrochen wiederholte Selbstmordversuche« Kraepelin mit stereotypen Bewegungen bzw. deren gelegentlich »sinnlose Angriffe oder einen Selbstmordversuch« er mit der psychomotorischen Erregung analogisiert (Kraepelin 1899, II, S. 163, 169 u. S. 177). Im Unterschied hierzu legt er die Suizide oder Suizidversuche bei den »Paranoikern« als Folgen des wahnimmanenten Handelns aus (II, S. 183). Dabei parallelisiert Kraepelin in seinen Sätzen konsequent die Suizide und Suizidversuche mit fremdaggressivem Verhalten und verweigert sich weitergehenden Überlegungen zur Motivlage des Betreffenden, welche über die reinen Krankheitserscheinungen hinausgehen könnten. So bleiben auch hier die Suizide im Rahmen seines indirekt erschlossenen Verständnisses, wobei das Triebhafte (d) und die wahnhaften Überzeugungen (e) dominieren. Eine »Neigung zum Selbstmord« findet Kraepelin schlussendlich auch bei der Neurasthenie, einer allgemeinen und rasch wiederkehrenden, mit traurigen Verstimmungen einhergehenden Erschöpfung bei übergroßer Reizbarkeit (II, S. 49), sowie bei der Hysterie mit ihren unterschiedlichsten, im Leiblichen sich ausdrückenden funktionellen Beschwerden, wobei er hier die »Halbherzigkeit der Selbstmordversuche« betont (II, S. 497). Sowohl die Neurasthenie als auch die Hysterie gehen mit einer Schwäche des Verstandes, einer Tendenz zur Gefühlshaftigkeit sowie einer Konzentration auf das eigene Befinden einher und treten bei Frauen aufgrund ihrer »geringeren Widerstandsfähigkeit«, wie Kraepelin meint, häufiger auf. Das Verständnis dieser Suizide oder Suizidversuche ordnet sich im kraepelinschen Verständnis letztlich eher der weiblichen Seite zu. Denn »das Weib mit seiner zarteren Veranlagung, mit der geringeren Ausbildung des Verstandes und dem stärkeren Hervortreten des Gefühlslebens« (I, S. 84) ist generell anfälliger für den Suizid. »Wo […] der Leidenschaftlichkeit der weiblichen Natur freier Spielraum gegeben ist, […] sehen wir daher sofort die geringere Widerstandsfähigkeit des weiblichen Geschlechts in erschreckenden Procentsätzen des Irreseins und der Selbstmorde zum Ausdruck gelangen.« (I, S. 84 f.). Hier nun findet sich der zweite Pol 283 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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seines Modells der suizidalen Verfassung explizit dargestellt, nämlich die »Schwäche des Verstandes«, die geringe Widerstandsfähigkeit gegen die nahezu triebhaft zu verstehende »Neigung zum Selbstmord«. Dabei ist es für Kraepelin geradezu beweisend für sein Verständnis, dass er sich hierbei dezidiert auf Prostituierte bezieht, sind doch diese aus der männerbeschützten Position der Ehefrau herausgefallen (I, S. 84). Damit liegt er im kulturellen Trend seiner Zeit, in welcher die Kombination von Suizid und »illness, weakness and the disintegration of self« insbesondere in Shakespeares Figur der Ophelia in Vollendung künstlerisch dargestellt wird, wie beispielsweise durch John Everett Millais (1829–1896) in seiner »Ophelia« (1851/52) demonstriert (Brown 2001, S. 180 f.). Vor allem abseits der hohen Kunst findet sich in der populären Presse die effektheischende Darstellung von »gefallenen Mädchen«, die engelsgleich von Brücken ins Wasser zu schweben scheinen und den Topos von Prostitution und Ins-Wasser-gehen aufgreifen (S. 157 ff.). So setzt die bildende Kunst die bereits mit Lucretia und Cleopatra aufgenommene visuelle Verbindungslinie von Suizid und Frau auch ohne heroische Elemente fort. Insgesamt wird in diesen Bildern und auch in Kraepelins Topos des »schwachen Geschlechts« die bedrohliche Qualität der »inneren Natur« im weiblichen Körper gebunden, auch wenn dies nur für das männliche Publikum gilt. Jedoch sind die zeitgenössischen wissenschaftlichen Leser von Kraepelins Schriften vorwiegend männlichen Geschlechts, was größtenteils auch für die öffentlichkeitsproduzierenden Zeitungsleser noch zu gelten scheint. Auch in der frühen Psychoanalyse finden sich vergleichbar ausgedehnte Bestrebungen. Zusammenfassend zeigt sich, dass Kraepelin den Suizid als einen unvernünftigen, zerstörerischen Angriff auf sich selbst versteht, inwiefern der Begriff »Selbstmord« durchaus passend erscheint. Die Beweggründe zum Suizid sieht Kraepelin insbesondere darin, dass eine »Schwäche der verstandesgemäßen Ueberlegung« und damit eine fehlende Widerstandskraft gegen die zur Handlung treibende »Neigung zum Selbstmord«, welche ihrerseits infolge der mehr oder weniger plötzlichen »traurigen Wahnideen und Stimmungen« aufkommt, gegeben ist. Es sind also typischerweise zwei Bedingungen, die zusammen kommen, damit ein Suizidentschluss gefasst und in die Tat umgesetzt wird: a) die Schwäche des Verstandes; b) die Neigung zum Selbstmord. Dies gilt, obwohl Kraepelin von plötzlich ausgeführten 284 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Suizidversuchen berichtet, die er einem aggressiven Verhalten analogisiert, welche aber für Kraepelin nur bei schweren psychischen Störungen beobachtet werden können. Hier ist, um im kraepelinschen Modell zu bleiben, die Neigung zu drängend oder eben die Schwäche des Verstandes zu eklatant. Vorzüglich finden sich diese doppelseitigen Voraussetzungen Kraepelin folgend bei allen psychischen Erkrankungen und beim weiblichen Geschlecht. In modellimmanenter Schlüssigkeit ist demnach für Kraepelin der Suizident »unzurechnungsfähig«, wie er explizit ausführt. Bei dieser Feststellung gilt der Zentralsatz: »Ist doch das Handeln nichts anderes, als das Endergebnis des jeweiligen seelischen Gesamtzustandes!« (I, S. 236) Wie sich dies hinsichtlich der Frauen versteht, bleibt zwar letztlich unklar. Anzunehmen ist allerdings, dass auch hier im kraepelinschen Modell primär die Kombination aus psychischer Erkrankung und geschlechterbedingter Verstandesausbildung entscheidend ist, so dass die Aussage einer schlichten »Unzurechnungsfähigkeit« von Frauen bei Kraepelin vermutlich nicht gefunden werden kann. Nimmt man dieses Modell ernst, so ist die Frage nach der suizidalen Erfahrung tatsächlich vollkommen uninteressant. Es geht vielmehr nur noch darum, die krankhaften Faktoren zu erkennen und zu behandeln, so dass sich einzig die Frage nach dem »Warum?« zu stellen scheint. Hierzu passt durchaus, dass Kraepelin für die Behandlung der »Neigung zum Selbstmord« keine spezifischen Maßnahmen, sondern ausschließlich die Überwachung und konkrete Schutzmaßnahmen empfiehlt (I, S. 257 u. S. 334). Gerade an diesem letzten Punkt aber wird deutlich, wie es Kraepelin gelingt, den wesentlichen Hintergrundgedanken seines eigenen Modells gar nicht aufzugreifen. Denn die Idee der Überwachung ist tatsächlich nur dann wirklich sinnstiftend für den therapeutischen Alltag, wenn diese »Neigung zum Selbstmord« nur vorübergehend einen solch hohen Handlungsdruck aufweist, so dass »Schutzmaßnahmen« auch geboten sind und infolge des zeitlichen Verlaufs der suizidalen Erfahrung auch tatsächlich zur Überbrückung ausreichen. Kraepelin, als Pragmatiker am therapeutischen Alltag durchaus orientiert, erkennt die Bedeutung dieses zeitlichen Aspekts nicht, obwohl er die praktischen Konsequenzen kennt und der Begriff der »psychischen Krise« durch Carl Gustav Carus bereits 1830 in seinen »Vorlesungen über Psychologie« aus dem mesmerischen Gewand des Spiritistischen herausgeschält wurde (Kahre/Felber 2001, S. 59 ff.). Spannend ist dabei, dass Carus die Krise als einen Zustand beschreibt, 285 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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»an der sich die Seele vergegenwärtigt, dass sie sich in einem inneren Widerspruch zu sich selbst befindet« (S. 61). Und nicht zuletzt konstatiert Nietzsche bereits 1886 in »Jenseits von Gut und Böse« diesen Zusammenhang aufs allerdeutlichste: »Der Gedanke an Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man über manche böse Nacht hinweg.« (Nietzsche 1994, Bd. 3, S. 94) Eine geradezu perfekt zu Griesingers Modell passende Krisenkonzeption, welche hier aber an der psychiatrischen Modellbildung vorbeigeht und erst im psychodynamischen Verständnis bei Freud anzukommen vermag. Es stellt sich also die Frage: Worin liegt der Hintergrund, um diesen wichtigen Gedanken, der in der Lebensphilosophie zu Kraepelins Zeiten sehr verbreitet und somit zum Greifen nahe ist, für ein psychiatrisches Verständnis der suizidalen Verfassung zu verpassen? Der Hintergrund liegt bei Kraepelin gerade darin, dass er sich kaum dafür interessiert, wie der Kranke seine suizidale Lage selber sieht und einschätzt. Und dies, obwohl Kraepelin durchaus an den psychopathologischen Schilderungen der Kranken interessiert ist. Sein Lehrbuch ist nicht nur mit Aussagen und Darstellungen von Kranken vollgestopft, sondern bietet zudem Fotographien und Schriftproben. Da es ihm aber in diesen Zitierungen und Darstellungen um das Pathologische geht, um den Nachweis des besonders eindrucksvollen Falles und damit auch um die Schulung des »psychiatrischen Blicks« auf den Kranken, nicht aber um die Kenntnis des subjektiv-wertenden Blicks des kranken Menschen selbst, misslingt Kraepelin notwendigerweise der Nachvollzug der »Schutzmaßnahmen« aus der suizidalen Sicht. Denn dann hätte ihm deutlich werden müssen, dass die Einschätzung, im eigenen Tod eine Rettung oder Erleichterung zu erfahren, nach einiger Zeit üblicherweise wieder vorübergeht, wenn kein Suizidversuch unternommen werden kann bzw. der Suizidversuch überlebt wird. Sicherlich aber hätte die Anerkennung der suizidalen Erfahrung auch seine generelle Ablehnung des Suizids als umfassend sinnloses Unterfangen und »verhängnisvolles Verhalten« in Zweifel gezogen. In einem Modell, in dem der Suizid ganz generell und von vornherein für krankhaft, töricht und unsinnig erklärt wird, ist jedoch das Verständnis der suizidalen Verfassung in sich hermetisch abgeschlossen: einzig die Frage nach dem »Warum?« kann noch sinnvoll gestellt werden. Der Suizid selbst ist hingegen in sich vollkommen sinnlos, damit aber auch unverständlich geworden. Die scheinbare »Wertneutralität« Kraepelins als wissenschaftlicher Psychiater wird folglich gerade darin 286 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wertend, dass die durchaus »verständlichen seelischen Zusammenhänge« der suizidalen Erfahrung weder beschrieben noch überhaupt als gegeben angesehen werden. Die suizidale Erfahrung tritt in den Hintergrund und kann in der fachwissenschaftlichen (psychiatrisch-psychopathologischen) Spezialisierung Kraepelins (Hoff) nur noch in ihren »Krankheitserscheinungen« gesehen werden und wird damit zugleich in ihrer ansonsten bedrängenden Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens entschärft. Eine Denunzierung dieser Frage als krankhaft kann Kraepelin hierdurch umgehen, so dass die Gefährdung des Ich auch weiterhin durch das Subliminale (Weibliche und Gefühlshafte) in seiner unruhestiftenden Qualität als zentrales Thema der bürgerlichen Selbsterfahrung erhalten bleibt, sich diese »Unruhe« jedoch zugleich ins Krankhafte verwandelt hat. Die Sinndimension ist in dieser fachwissenschaftlichen Zurichtung des Phänomens der suizidalen Verfassung vollkommen ausgeblendet. Kraepelin zeichnet damit das durch Griesinger ausformulierte psychiatrische Modell der suizidalen Verfassung in sehr einseitiger Weise nach, ohne dies aber selbst explizit zu reformulieren und sich hierüber Rechenschaft abzulegen. In seinem psychiatrischen Modell gilt: a) der Suizid ist nicht die bewusst absichtliche Entscheidung gemäß vernünftiger Überlegung, welches einer »vernünftigen Überlegung« des Ich nach »festen Grundsätzen« entspräche, sondern eine unter »Krankheitserscheinungen« (fehlerhafte Wahrnehmung, überwältigende Gefühle, Stimmungen und Triebe, wahnhafte Überzeugungen) mit Hilfe eines »schwachen Verstandes« (krankheitsbedingt durch Störungen des Gedankengangs fehlerhaft arbeitendes Urteilsvermögen, oft mit der Folge von Wahnbildungen; geschlechtsbedingt fehlende Möglichkeit, nach »festen Grundsätzen« zu handeln) mehr oder weniger plötzlich getroffene Entscheidung. Die Suizidentscheidung wird von daher nicht von einem starken und vernünftigen Ich getroffen, sondern üblicherweise von einem insgesamt krankhaft veränderten Menschen und wird insofern zu den »Krankheitserscheinungen« gezählt. b) Der derart beschlossene und vollzogene Suizid setzt deshalb den Suizidenten von allen kulturell üblichen Bewertungsmaßstäben, die an die Verantwortlichkeit einer Person gestellt werden, hinsichtlich seiner Suizidtat frei und erklärt ihn für »unzurechnungsfähig«. Die in diesem Modell vollzogenen Verkürzungen sind unverändert unzulässig: a) Im Rückgriff auf Hume zeigt sich, dass der Charakter des »Mehr« des Todes gegenüber dem »Hier und Jetzt« im Le287 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ben – sei es nun als Erleichterung oder gar als Rettung erlebt – nicht abgewiesen werden kann; b) Im Rückgriff auf Schopenhauer und Kierkegaard zeigt sich, dass der Mensch ohne einen »Sinn seines Lebens« – sei er nun aktiv aufgestellt oder als gegeben geglaubt – notwendig verzweifelt und das Leben dem Tod in seiner Bedeutung vergleichbar wird; c) Im Rückgriff auf die Aufklärung erweist sich, dass eine Erkenntnis, die ihren Herkunftsweg – sei es nun eine wissenschaftliche Methode oder ein anderer Weg des Erkennens – und ihre Subjekt- und Situationsgebundenheit verleugnet, zugleich ihren Status als Wissen und Wahrheit verliert. Dennoch steht Kraepelin mit seinem positivistischen Verständnis der suizidalen Verfassung nicht allein in der klinischen Psychiatrie, bietet es doch in seiner Parallelisierung von »Suizid = Geisteskrankheit« ein scheinbar fachwissenschaftliches Suizidverbot. Nachdem sich Griesingers heuristisch gefasste Hypothese der Gehirnkrankheiten in der Universitätspsychiatrie im frühen 20. Jahrhundert zur wissenschaftlichen Gewissheit verdichtet, womit eine sehr einseitige Rezeption Griesingers verbunden ist, ringt die Psychiatrie um Professionalisierung und Anerkennung als vollwertiger Teil der medizinischen Wissenschaften. Dabei geht es einer solchen positivistischen Psychiatrie letztlich um nichts weniger als um die wissenschaftliche Kontrolle des psychischen Apparats. In diesen Kontrollbemühungen des psychischen Lebens spielt das Sich-töten-können nur eine Nebenrolle. Auch wenn die Öffentlichkeit von Morden und Selbstmorden immer wieder angestachelt und begeistert ist, bleibt gerade in der Zeitungsöffentlichkeit die Tendenz bestehen, die Frage nach den genaueren Hintergründen des Suizids zugunsten einer vereinfachenden, plakativen Antwort auszuschalten (Brown 2001, S. 157 ff.). Da ist mit der Parallelisierung von »Suizid = Geisteskrankheit« eher zu punkten, als mit mühsamen, das Philosophische streifenden Exkursen über den Sinn des Lebens. Dennoch zeigen die hier untersuchten psychiatrischen Verständnisse, dass es ein Bemühen um ein differenzierteres Verständnis der suizidalen Erfahrung auch im 19. Jahrhundert gibt. Dieses, vor dem Hintergrund einer beginnenden neurophysiologischen Fundierung formulierte, Verständnis Reils und Griesingers wird von Kraepelin jedoch konsequent in die fachwissenschaftliche Enge geführt, die grundsätzliche Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins wird endgültig aus dem fachdisziplinierten Verständnis ausgeklammert und die rettende Qualität des Suizids, wie sie sich aus der Sicht des 288 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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suizidalen Menschen zeigt, wird schließlich nur noch unter dem Vorzeichen thematisiert, dass es sich um ganz offenkundig unvernünftige, irrsinnige und krankhafte Wahnideen (»fixe Ideen«) handelt. So bietet das psychiatrische Verständnis der suizidalen Verfassung um 1900, wie es sich letztlich als Lehrbuchwissen bei Kraepelin findet, zwar unaufgeregte, aber unzureichende Antworten auf die Frage nach dem »Warum«. Diese Antworten zeigen dabei einen umfangreichen »blinden Fleck«, der sich auf die suizidale Erfahrung selbst bezieht: Weder wird die suizidale Erfahrung als persönliche Erfahrung thematisiert, noch ein tiefergehender Sinn in der suizidalen Erfahrung vermutet. Folgerichtig kann im psychiatrischen Modell der suizidalen Verfassung kraepelinscher Prägung die unnachgiebig in der suizidalen Erfahrung sich stellende Frage nach dem »Wozu« des Lebens nicht aufgenommen werden. Dennoch gibt es Ausnahmen, die eben gerade an der »Verwissenschaftlichung« eines solchen übergeordneten Sinns des Suizids arbeiten. Hier ist insbesondere der italienische Psychiater Enrico Morselli (1852–1929) mit seiner Studie »Il suicido: Saggio di statistica morale« (1879) zu nennen, der den Suizid in die darwinsche Evolutionstheorie als eine Art Selektionsmechanismus einordnet und hiermit den Suizid des einzelnen Menschen mit einem übergeordneten biologistischen Sinn ausstattet. Dabei gilt ihm der Suizid als Ausdruck eines nicht überlebensfähigen Gehirns, welches den Anforderungen des alltäglichen Kampfes nicht gewachsen ist. Das Evolvierende des Menschen ist für Morselli sein Intellekt, sein Geist und damit sein Gehirn, welches im Falle der Überforderung im intellektuellen Überlebenskampf in die psychische Erkrankung und den Suizid pathologisiert bzw. einbricht. Aus einem solchen Verständnis können natürlich zwei sehr unterschiedliche Schlüsse gezogen werden. Zum einen derjenige, den Morselli selbst zieht: es gilt also, die intellektuellen Kräfte des Menschen zu schulen und zu fördern, welches die beste Verhinderung jeglichen Suizids ist (Droge/Tabor 1992, S. 8 f.). Andererseits wäre auch die rassenideologische Schlussfolgerung der Minderwertigkeit der suizidalen Menschen möglich, die den Suizid insbesondere in Verbindung mit der »Degenerationshypothese« positiv konnotieren würde. Diese Konsequenz ziehen andere Psychiater bereits Jahrzehnte im Vorfeld des Nationalsozialismus, allen voran der Forel- und Kraepelin-Schüler Ernst Rüdin (1874–1952), der 1910 fordert, dass in den Irrenanstalten wieder mehr gestorben werden müsse, anstatt sich zeitaufwändig um 289 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Erbkranke zu kümmern (Klee 2001, S. 81 f.). Dabei gilt, dass der Suizident gewissermaßen nur seinen kulturell verordneten Tod vorwegnimmt. Bekanntlich werden Rüdin und anderen namhaften Psychiatern im Dritten Reich die Selbstmord- und Sterblichkeitsraten nicht hoch genug sein, Tötung und (psychiatrische Hirn-)Forschung gehen in dieser Zeit eine menschenverachtende Allianz ein (S. 125 ff. u. S. 147 ff.). In einem solchen Verständnis wird der Suizid zum staatlich anerkannten Heilmittel, wobei ein Verständnis der suizidalen Erfahrung allenfalls noch in dem Sinne erforderlich wäre, um suizidale Krisen im Leben wahrhaft unüberwindbar zu machen. Die vom suizidalen Menschen wahrgenommene rettende Qualität des Suizids, sei es Erleichterung oder auch »mehr«, gewinnt hierin einen unzweifelhaften Wirklichkeitsstatus für den betreffenden Menschen. Insofern widerspricht die suizidale Erfahrung sogar noch in diesen Momenten einem pervers-reduktionistischen Verständnis, wie es das psychiatrische Modell um 1900 in der Real-Entwirklichung der rettenden Qualität vorformuliert hat.

3.10. Suizid und die Frage nach dem Sinn Die Real-Entwirklichung der rettenden Qualität des Suizids vollzieht sich parallel zur Säkularisierung des Lebens, obwohl, wie wir mit Bezug zu Hume festhalten müssen, ein letzter Rest dieser rettenden Qualität dem Suizid auch im härtesten Atheismus nicht abgesprochen werden kann. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts orientieren sich die populären Verständnisse der suizidalen Erfahrung vor allem an dem Topos der Selbsttäuschung. Das Modell des »Suizids aus Schwärmerei«, welches im moritzschen »Magazin für Erfahrungsseelenkunde« und in anderen zeitgleichen Texten wie Goethes »Werther« oder Spieß’ »Selbstmörderbiographien« zum Ende des 18. Jahrhunderts thematisiert wird, operiert mit der Annahme einer »inneren Natur«, die den Menschen über seine Situation, Aussichten und Absichten zu täuschen vermag. Auch in den frühen psychiatrischen Verständnissen bei Reil und Griesinger findet sich dieses Modell einer »psychodynamischen« Selbsttäuschung wieder. Denn auch weiterhin ist die Gefährdung des Ich durch das Subliminale ein zentrales Thema der bürgerlichen Selbsterfahrung, welches entsprechend auch nach einer psychologischen bzw. medizinisch-psychiatrischen Erklärung verlangt. Jedoch 290 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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greifen weder Reil noch Griesinger die durchaus naheliegende Frage nach dem Sinn der psychischen Störungen bzw. dem Sinn der suizidalen Verfassung auf. So bleibt im psychiatrischen Modell der suizidalen Verfassung die Frage nach dem »Wozu« zunächst unbeachtet, obwohl sie die zunehmende Selbstaufklärung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts unnachgiebig begleitet. Beachtung findet diese Frage hingegen in den psychodynamischen Verständnissen des 19. Jahrhunderts, welche sich aus einer Bewegung entwickeln, die im 18. Jahrhundert im Schoße der Aufklärung entsteht und sich gegen den Rationalismus der Aufklärung wendet. Die Wurzeln dieser Bewegung sind vielfältig. Zunächst ist es die Aufklärung selbst, die infolge ihres Primats der Vernunft zwingenderweise skeptisch ist. In diesem Sinne tendiert jede Aufklärung zur skeptischen Befragung ihrer eigenen Ansichten, Einsichten und Überzeugungen, so dass sie zu einer weiteren Aufklärung über sich selbst führt. Die Kritik der einseitigen Orientierung des Lebens am Verstand und der Rationalität gehört somit zu den Grundbausteinen jeder Aufklärung, auch wenn sie genau eine solche Orientierung als ihr höchstes Ziel ausgibt und die vernunftkritische Qualität angesichts des initialen Fortschrittsoptimismus unbemerkt geblieben ist (Müller 2002, S. 4 f.). Entsprechend dieser skeptischen Grundhaltung etabliert sich Mitte des 18. Jahrhunderts eine »kritische Masse« von vor allem jungen Menschen, die angesichts des raschen Wandels der gesellschaftlich-kulturellen Umstände eine individuelle Unruhe des »Wohin?« erfahren. Vor allem Intellektuelle, die aufgeklärt genug sind, um ihr eigenes Aufgeklärtsein in seinen rationalistischen und ernüchternden Vereinseitigungen zu kritisieren, finden so zu einer Gegenposition in der Aufklärung. Vor dem Hintergrund beständiger Unsicherheit des Einzelnen auf seinem Lebensweg, wie sie letztlich wiederum die Aufklärung mit ihrer kritischen Auseinandersetzung mit hergebrachten Lebensformen erzwingt, und im Angesicht einer erkennbarerweise keineswegs nur ausschließlich vernünftig verständlichen Welt, beginnt eine vielfältige Suche nach Wegen aus den Vereinseitigungen des eigenen Aufgeklärtseins. Dem damaligen Menschen bieten sich mehrere Möglichkeiten, der Einseitigkeit der Aufklärung entgegenzutreten. Neben der Flucht in die Natur (von der Landschaft bis zum »Ossian«), in die antike Vergangenheit (von der griechischen Philosophie bis zur antiken Dichtung) und in die Ferne (von der Auswanderung bis zur vorübergehen291 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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den Kolonialbesiedelung, von der Handelsreise über die Expedition bis zur Forschungsreise, von der individuellen Bildungsreise bis zur Lektüre der Reisebeschreibung, überall lauert »Afrika, der unbekannte Kontinent«) ist insbesondere die Flucht in das Phantastische und Transrationale kennzeichnend für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert. Eine gemeinsame Grundtendenz finden alle Bewegungen darin, dass das Gefühlshafte eine besondere Bedeutung hat (Kupfer 1996, S. 87 ff.). Zudem aber thematisiert sich in ihnen auch die Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins, welcher mit der Aufklärung brüchig geworden ist. Die Antworten »Gott«, »Schicksal« oder »prästabilisierte Harmonie« (Leibniz) sind zu Glaubensfragen geworden. Vor diesem Hintergrund bricht die Frage nach dem »Wozu« des eigenen Lebens unmissverständlich auf. Die Sinndimension kann im Folgenden auch aus dem Verständnis der suizidalen Erfahrung kaum mehr herausgehalten werden, obwohl sich die psychiatrischen Verständnisse im 19. Jahrhundert zunächst – wie bereits gezeigt – noch erfolgreich gegen diese Notwendigkeit versperren können. Genau diese Dimension wird aber letztlich – jedenfalls bei Freud aber gegen den eigenen Anspruch einer streng (natur-)wissenschaftlichen Psychoanalyse – kennzeichnend für das psychodynamische Verständnis psychischer Störungen. In ihnen gilt es nämlich, nicht nur hermeneutisch den individuellen Sinn der persönlichen Störung zu entschlüsseln, sondern zugleich in dieser Entschlüsselung die Frage nach dem übergeordneten Sinn des menschlichen Daseins anzuerkennen. Entsprechend finden sich entfernte Vorläufer eines psychodynamischen Verständnisses der suizidalen Erfahrung insbesondere auch in der Literatur, welche zunehmend als Selbstthematisierung des individualisierten Bürgers verständlich wird (Martini 1984, S. 171 f. u. S. 186 ff.). Durchweg bleibt beispielsweise der Suizid in der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts ein wichtiges Thema, wobei er oft als ruhmreicher Heldentod dargestellt wird. »Die adligen Helden töten sich mit dem besten Gewissen der Welt, aus sehr unterschiedlichen und immer vortrefflichen Gründen in einer Fülle von Romanen.« (Minois 1996, S. 235) Diese etwas überzeichnete Beschreibung Minois’ benennt, dass der »Heldentod« in der Literatur als ein Opfertod konstruiert wird. Dabei opfert sich der Held für die unterschiedlichsten Ideen und Ideale (Ehre, Familie, Liebe, Vaterland), welche sich aber eben gerade immer dadurch auszeichnen, dass sie den einzelnen Menschen übersteigen. Obwohl hiermit auch der »christliche Märty292 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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rertod« gemeint sein könnte, stehen diese Opfersuizide in einem »freigeistigen« Widerspruch mit der kirchlichen Ablehnung des Suizids. Sie erinnern somit eher an die Selbstopferdramen des Euripides, in denen der städtische Zusammenhalt ebenfalls durch entsprechende Vorbilder auf der Theaterbühne mimetisch produziert wird. Festzuhalten bleibt, dass der Suizid hier als zutiefst sinnausweisend erfahren wird. Unklar bleibt hingegen, ob nun der Suizid seinen Sinn aus der Idee gewinnt, für die sich derjenige opfert, oder aber ob die Idee ihren Sinn daraus erhält, dass sich jemand für sie opfert. Die skeptische Befragung dieses Zusammenhangs kann aus aufklärerischer Sicht zunächst nur die zwei bereits bekannten Antworten finden: a) derjenige opfert sich der Vernunft, womit sich die Frage stellt, ob es überhaupt vernünftige Suizide gibt; b) derjenige opfert sich einer unvernünftigen (»schwärmerischen«) Idee, womit sich die Frage stellt, inwiefern sich der Mensch derart über sich zu täuschen vermag. Im späten 18. Jahrhundert findet sich in den deutsch-, englischund französischsprachigen Gegenden Europas dann vor allem der weitreichende Einfluss von Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) auf das Verständnis der suizidalen Erfahrung bzw. des Sich-töten-könnens. (MacDonald 1989, S. 80 f.; MacDonald/Murphy 1990, S. 190 ff.; Minois 1996, S. 389). Goethes 1774 veröffentlichter Briefroman »Die Leiden des jungen Werther« hat insbesondere eine tief greifende Wirkung auf die junge Generation des ausgehenden 18. Jahrhunderts (sog. »Wertherfieber«; vgl. Scherpe 1970; Herrmann 1994). Dabei wirkt er als Vorbild, wenn auch weniger im Sinne einer Zunahme der Suizide, sondern vielmehr durch die psychologische Verstehbarkeit sonst scheinbar irrationalen Handelns (Steinberg 1999). Die Bedeutung menschlicher Befindlichkeit und die Nachvollziehbarkeit der ausweglosen Situation des »Werther« bietet so eine Alternative zu der Dichotomie, das Verständnis der suizidalen Erfahrung entweder nur am rationalistischen Bewusstsein oder nur an der unvernünftigen »inneren Natur« zu orientieren. Wie sich in der genaueren Betrachtung des »Werther« zeigt, findet die suizidale Erfahrung bei Goethe ein Verständnis, welches aus der Sicht der modernen Suizidologie als geradezu paradigmatisch angesehen werden kann. Letzteres zeigt sich beispielsweise darin, dass sogar derzeit noch die Suizidforschung in den »Leiden des jungen Werther« ihre zentralen Verständnismöglichkeiten wieder zu finden vermag (Leenaars 1996). Dennoch geht Goethe in wesentlichen Punkten über die suizidologischen Verständnisse der Moderne hinaus, da er die 293 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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rettende Qualität des Suizids aus der Sicht des suizidalen Menschen in sein Verständnis der suizidalen Erfahrung einbezieht und so zugleich die Frage nach dem »Wozu« des menschlichen Lebens thematisiert. Dies gelingt Goethe, da für ihn das untrennbare und unteilbare Zueinander von Mensch und Welt allem Erleben vorgängig ist. Es ist dieses Grundvertrauen, welches Goethe grundsätzlich von den strenger suizidologischen Verständnissen unterscheidet, die vorwiegend an einem »Warum« der suizidalen Verfassung interessiert sind, jedoch den weitergreifenden Sinn des menschlichen Daseins unthematisiert lassen. Die leitende Frage ist in den suizidologischen Verständnissen eben nicht, wie es ist, suizidal zu sein, sondern: Warum ist jemand suizidal? So kommen sie allenfalls in ihren Randbereichen mit der Frage nach dem »Wozu« des menschlichen Lebens in Kontakt, obwohl dies, wie wir bereits jetzt festhalten können, eine zentrale Frage in der suizidalen Erfahrung ist. Es stellt sich aber für die Psychiatrie und Psychologie die Herausforderung, wie die Frage nach einem »Warum« der suizidalen Verfassung unter Einbeziehung der Sinndimension menschlichen Lebens gestellt werden kann, ohne seinerseits eine philosophisch fundierte Diskussion über den Sinn des Lebens führen zu müssen – wie dies beispielsweise an Arthur Schopenhauer (1788–1860) anknüpfend möglich wäre – und ohne andererseits in die vernünftelnde Dichotomie zu verfallen, nach der Suizide entweder grundsätzlich irrsinnig oder aber zwingend vernünftig sind – wie die Diskussion in der Aufklärung und die frühen psychiatrischen Verständnisse zunächst nahelegen. Setzt man an, dass der Sinn des Daseins ein vernünftiger ist, wie auch immer er beschaffen sein mag, so findet sich eine Lösung – wie bereits angedeutet – in der Anordnung des Suizids auf einer dimensionalen Skala, auf der die Extrempole die fundamentale Irrationalität bzw. die umfassende Vernünftigkeit sind (Birnbacher 1990). Demnach kann sich jeder Suizid als »mehr oder weniger« vernünftig zeigen, womit aber auch gesagt ist, dass es sowohl vollkommen vernünftige als auch vollkommen unvernünftige Suizide gibt. Dies ist genau die Lösung, die auch Griesinger mit seiner Annahme der »besonnenen Suizide« anstrebt und die auch Schopenhauer nahelegen wird. Sicherlich stellt sich die Frage, ob eine solche Anordnung des Sichtöten-könnens tatsächlich sinnvoll ist. Denn da die rettende Qualität des Suizids, wie sie der suizidale Mensch sieht, vernünftigerweise nicht von der Hand zu weisen ist, verschiebt sich letztlich im Falle einer 294 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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solchen Anordnung die Frage nach der Vernünftigkeit der Suizidentscheidung auf die Frage danach, ob die Verzweiflung wirklich endgültig ist bzw. ob die Einschätzung des suizidalen Menschen, dass ihm »auf Erden nicht mehr zu helfen war« (Heinrich von Kleist an seine Schwester Ulrike am Morgen seines Suizids, dem 21. November 1811: »die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war«, Kleist 1994, Bd. 2, S. 887), wirklich unwiederbringlich zutrifft. Eine stets höchst fragwürdige Einschätzung, wie sich insbesondere im Konzept der psychosozialen Krise zeigt, welches für das moderne suizidologische Modell und eine Phänomenologie der suizidalen Erfahrung von fundamentaler Bedeutung ist (Schlimme 2007c; Etzersdorfer 2008a). Es ist aber festzuhalten, dass eine solche Anordnung zunächst überhaupt erstmal die Möglichkeit eröffnet, die Frage nach dem Sinn des Suizids zu stellen, ohne einerseits zugleich an der Vernünftigkeit des Sinns des menschlichen Daseins zu zweifeln bzw. andererseits die Krankhaftigkeit der meisten Suizidentscheidungen bezweifeln zu müssen. Insbesondere letzteres ist für die Psychiatrie von Bedeutung. Der Schlüssel aber, um eine solche Anordnung vornehmen zu können, findet sich ganz offenbar in der Weise, wie die Selbsttäuschung, die Vernunft und das Bewusstsein miteinander verknüpft und verbunden sind, erlebt sich doch schließlich gerade das (kraepelinsche) »starke Ich« um 1900 durch das gefühlshaft-sexuelle bzw. »weibliche« Unbewusste bedroht. Das Verständnis dieser Verknüpfung ist ebenfalls ein Zentralthema der Psychiatrie, wobei sich die Verknüpfung mit den beiden Annahmen des strukturierten, nach aufklärbaren Regeln sich vollziehenden »Unbewussten« als subliminale »Basis« des Bewusstseins sowie der grundsätzlich unumgänglichen Selbsttäuschung sinnvoll fassen lässt. Während jedoch Griesinger dieses Problem noch zu umgehen scheint, findet sich eine solche Neufassung in der psychoanalytischen Konzeption von »Ich« und »Es«, die Sigmund Freud (1856–1939) um 1900 gemeinsam mit Josef Breuer (1842–1925) im Anschluss an Pierre Janet (1859–1947) entwickelt. Mit dieser Neufassung ist zugleich auch die Übernahme wichtiger Thesen Schopenhauers verbunden, auch wenn gerade die überpersönliche Sinndimension durch Freud weitgehend ausgeblendet, ja geradezu als in sich bereits pathologisch abgewehrt wird: »Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat von unbefriedigender Libido hat, und irgendwas anderes muss damit vorgefallen sein, eine Art 295 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Gärung, die zur Trauer und Depression führt.« (Brief an Marie Bonaparte vom 13. August 1937, Freud 1960, S. 429; vgl. auch Rohr 2009)

3.11. Arthur Schopenhauer Arthur Schopenhauer (1788–1860) steht mit Søren Kierkegaard (1813–1855) in der Formulierung der Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins angesichts des Verlusts einer Sinn zusichernden transzendenten Macht an zentraler Stelle in der europäischen Kulturgeschichte. Die Gegenüberstellung einer unvernünftigen, leiblich gegebenen »inneren Natur« und eines vernünftigen, reflexionsbegabten Bewusstseins reicht zur Klärung der Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins und Verhaltens tatsächlich nicht aus, so dass sich erneut die Frage nach einem solchen Sinn stellt. Denn während die psychiatrischen Verständnisse ausschließlich bemüht sind, das Zueinander von (neuro-)physiologisch verstandenem Leib und »Ich« in seinen Verästelungen genauer zu spezifizieren, und dabei zunehmend auch situative Umstände in ihre Überlegungen einbeziehen, zielt die zeitlich parallele »Tiefenphilosophie« (Lütkehaus 1995) auf eine grundsätzliche Neubestimmung des Zueinanders von Natur und Geist, wobei die Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins zur Diskussion steht. Einen wichtigen Schritt in dieser Richtung unternimmt bereits Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Schelling kommt 1806 über Franz von Baader (1765–1841), einen zeithistorisch sonst kaum wirkmächtigen Philosophen der Romantik (Sànchez de Murillo 2002, S. 292), in Kontakt mit der Philosophie von Jakob Böhme (1575– 1624). Ohne hier auf Böhmes Philosophie näher eingehen zu wollen, sei auf einen zentralen Punkt seines Denkens hingewiesen. »Böhme erklärt das Unerklärliche nicht, aber öffnet die Dimension, auf der die Wissenschaft als Bereich des Machbaren, von der transzendenten Welt des Unfasslichen eingehüllt, in die geforderte Höhe erhoben werden kann. Wie er das Sein und das Werden als unterschiedliche Erscheinungsformen desselben erblickt, gibt sich ihm die materielle Welt als exakte Widerspiegelung der geistigen. Was oben ist, äußert er, das ist auch unten, und alle Dinge dieser Welt sind dasselbe.« (S. 225) Bei Böhme finden sich folglich zentrale Gedanken Schellings, insofern verwundert es nicht, dass Schellings wichtigste Schrift »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die 296 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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damit zusammenhängenden Gegenstände« drei Jahre nach Bekanntschaft mit Böhmes Schriften 1809 erscheint. In dieser Schrift kennzeichnet er Freiheit als Freiheit zum Guten und Bösen – ein damals radikaler Gedanke –, wobei sich Letzteres im Geschehen der Verabsolutierung eines Konkreten zeigt. In der Freiheit aber offenbart sich der »Ungrund« – ein Wort und Gedanke Böhmes. Dieser »Ungrund« wird von Schelling als indifferent und prädikatlos, aber zugleich als »absoluter Grund« bestimmt. Denn sowohl Leben und Tod, aber auch Natur und Geist gründen vor aller Gründung im Ungrund bzw. existieren vor aller Existenz im Ungrund. Dieser besteht vor aller Auseinandersetzung in Grund und Existenz, so dass im Ungrund alles das Gleiche ist. Schelling spricht deshalb auch von absoluter Indifferenz, welche dann erst im weiteren Werden ausdifferenziert wird (vgl. Baruzzi 1993, S. 228 ff.). Dabei entstehen nach Schelling in schrittweiser Auseinandersetzung Materie, Natur und Geist, bleiben sich aber in »Analogie« zugetan. »Natur ist sichtbarer Geist, Geist dagegen unsichtbare Natur.« Darum kann man die Natur auch nicht durch bloße mechanische und physikalische Begriffe erklären, sondern benötigt zugleich die zugrundeliegenden geistigen Gesetze, die die Naturphilosophie Schellings sich zu klären bemüht. Schelling versteht nun den »kranken Wahnsinn« im Sinne der Medizin, wobei Letzterer für ihn die »Basis des Verstandes«, »das tiefste Wesen des menschlichen Geistes« darstellt. »Der Wahnsinn entsteht also nicht, sondern tritt hervor, […]. Was wir Verstand nennen, wenn es wirklicher, lebendiger, aktiver Verstand ist, ist eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn.« (Schelling, zit. nach Dörner 1999, S. 248) Der »Wahnsinn« in seiner vollkommenen Erscheinung versteht sich folglich bei Schelling als das »ungefilterte« Tierisch-Organische des menschlichen Geistes, wohingegen selbst der vollkommenste Verstand immer noch sein Gegenteil in sich trägt. Diese dialektische Bestimmung der Vernünftigkeit bzw. Unvernünftigkeit des jeweils konkreten Ich entspricht nun nicht nur dem psychiatrischen Verständnis des Wahnsinns zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sondern bietet zugleich eine sinnvolle Bestimmung des Geistes ohne Bezug zu einem göttlichen Wesen. Darüber hinaus ermöglicht diese Bestimmung des Geistes die dimensionale Anordnung jeglichen Verhaltens auf der Skala zwischen »vollkommenem Irrsinn« und »umfassender Vernünftigkeit«. In einer ähnlichen Grundrichtung operiert auch die Philosophie von Arthur Schopenhauer, in dessen »Tiefenphilosophie« insbesondere 297 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Freud reichlich Ideen und Anregungen findet (vgl. Lütkehaus 1995, S. 8 f.; Grün 2000, S. 119 ff.). So erwähnt Freud in »Jenseits des Lustprinzips« selbst, dass er mit seiner dualistischen Auffassung der Triebe »unversehens in den Hafen der Philosophie Schopenhauers eingelaufen ist, für den der Tod ›das eigentliche Resultat‹ und insofern der Zweck des Lebens ist, der Sexualtrieb aber die Verkörperung des Willens zum Leben.« (Freud 1920/1975, S. 259) Aber auch die freudsche »Auffassung vom Verhältnis der unbewußten Triebregungen zur scheinbaren Herrschaft des rationalen Ich (Rationalisierung, Sublimation) knüpft an Schopenhauers Lehre vom Intellekt als Sklaven des Willens an« (Breidert 1995, S. 129). So finden sich bedeutende Ideen der freudschen Neubestimmung des Verhältnisses von »Ich« und »Es« bereits bei Schopenhauer, was im übrigen auch für das Verständnis der suizidalen Verfassung gilt (Brunner 2008). Arthur Schopenhauer, am 22. Februar 1788 in Danzig als Sohn eines Großkaufmanns geboren, siedelt bereits 1793 mit seinen Eltern nach Hamburg um, wo er zunächst ganz im Sinne des Vaters eine Privatschule für Kaufleute besucht. Zwischen 1803 und 1805 unternimmt er mit den Eltern eine väterlich finanzierte Reise durch Europa, um anschließend, wie zuvor vereinbart, als Gegenleistung für die Reise die Kaufmannslehre zu beginnen (Grün 2000, S. 14 ff.). Wenige Monate später nimmt sich der Vater das Leben, Schopenhauers Mutter siedelt – sich offenbar befreit fühlend – nach Weimar um, wo sie schnell einen intensiv frequentierten literarischen Salon unterhält und als erfolgreiche Romanschriftstellerin wohnt. Schopenhauer beginnt schließlich 1809 das Studium der Medizin in Göttingen, um ab 1810 dann ausschließlich Philosophie in Göttingen, Berlin und Jena zu studieren. Bereits 1818 veröffentlicht er den ersten Band der »Welt als Wille und Vorstellung«, der weitgehend unbeachtet bleibt, und habilitiert sich 1820 – kurz nach seinem philosophischen Rivalen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) – an der Universität Berlin für Philosophie. Im Unterschied zu Hegel finden seine Vorlesungen keinen Anklang, so dass er von Lehrmöglichkeiten ausgeschlossen verschiedentliche Italienreisen unternimmt und schließlich 1831 seinen endgültigen Abschied aus Berlin bei Ausbruch der Cholera nimmt (S. 24 f.). Letztlich lässt sich Schopenhauer als Privatgelehrter in Frankfurt am Main nieder und lebt ein offenbar verlässlich tagesstrukturiertes, aber zurückgezogenes Leben mit wenigen privaten Kontakten, die nach dem Tod der Mutter 1838 noch weiter abnehmen (S. 27 f.). Ohne 298 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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universitäre Anbindung veröffentlicht er zunächst nur kleinere Schriften, dann 1843 den zweiten Band der »Welt als Wille und Vorstellung« und, mittlerweile bekannt geworden, 1851 seine »Parerga und Paralipomena«. Schopenhauer, in Frankfurt stets mit seinem Pudel Atma (brahmanisch, Weltseele) unterwegs, stirbt am 21. September 1860. Schopenhauer bestimmt den schellingschen »Ungrund« – von ihm wiederum als »Ding an sich« im Anschluss an Kant gefasst – nicht mehr als vollkommen unbestimmbar, sondern als ein Strebendes und Treibendes, welches zwar nicht eindeutig erkannt, aber in der Natur des Menschen unzweifelhaft erfahren werden kann. Dieses »Ding an sich« drückt »sein Wesen und seinen Charakter in der Erfahrungswelt« bzw. dem »Ganzen und Allgemeinen aller Erfahrung« aus und kann durch den Menschen in einer Rückwendung auf seine Erfahrung entziffert werden (Schopenhauer 1977, Bd. 3, S. 214 f.). In dieser Entzifferung befriedigt der Mensch zugleich sein »metaphysisches Bedürfniß«, welches infolge seines Bewusstwerdens über »das Böse, das Uebel und den Tod« und die fehlende Selbstverständlichkeit der Welt und seines Daseins entsteht und ihn unaufhörlich dazu drängt, den übergeordneten Sinn seines Daseins zu entschlüsseln (S. 199 ff.). Dieses Drängen ist selbst Ausdruck des »Dings an sich«, welches Schopenhauer als den unpersönlichen Willen bestimmt, als das unaufhörliche Streben und Drängen der lebendigen Natur im Menschen, welches sich in stufenweisem Aufbau zunächst im Materiellen objektiviert, dann im Pflanzenreich und Tierreich sowie dem Unbewussten manifestiert und somit auch alles weitere, wie beispielsweise das Selbstbewusstsein, hervorbringt (Schopenhauer 1977, Bd. 1, S. 201 ff.; vgl. auch Lütkehaus 1995, S. 21 ff.). Der übergeordnete Sinn – »der letzte Zweck von Allem« – ist demnach »ein blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivierter Trieb«, der in jedem Menschen als »Wille zum Leben« wie ein »unermüdliches Triebwerk« funktioniert und das Ausharren in unserer Existenz als einem »Aufschub des Todes […] bei […] gewissem (Siege J. S.) des Todes« bedingt (Schopenhauer 1977, Bd. 3, S. 418). Diese Interpretation der »Welt als Wille« ruht auf Schopenhauers erkenntnistheoretischer Einsicht, dass alle Vorstellungen, die überhaupt gegeben sein können, schon immer ein vorstellendes Subjekt und ein vorgestelltes Objekt beinhalten (Bd. 1, S. 29). Vorstellungen gehören also weder zu dem Subjekt im streng konstruktivistischen Sinne noch zu dem Objekt im streng realistischen Sinne, sondern beinhalten schon immer beides. »Die Welt als Vorstellung also, in wel299 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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cher Hinsicht allein wir sie hier betrachten, hat zwei wesentliche, nothwendige und untrennbare Hälften. Die eine ist das Objekt […] Die andere Hälfte aber das Subjekt […]. Diese Hälften sind daher unzertrennlich, selbst für den Gedanken: denn jede von beiden hat nur durch und für die andere Bedeutung und Daseyn, ist mit ihr da und verschwindet mit ihr.« (S. 32) Damit aber stellt sich die Frage, wie Vorstellungen überhaupt gegeben sein können. Sicherlich könnte gesagt werden, dass diese Frage in einem solchen erkenntnistheoretischen Idealismus eigentlich gar nicht beantwortet werden könnte, da sich der Geber stets schon immer vollständig und bis zur Unerkennbarkeit im Moment des Gebens »zurückgezogen« hat. In einem solchen Zugriff kann dann nur mehr nach dem »Wie der Gegebenheit« gefragt werden. Schopenhauer hingegen »sucht nach dem, was diesem Vorstellungskomplex zugrunde liegt« (Breidert 1995, S. 122). Hierdurch hingegen gerät er in einen Widerspruch, der lautet, dass die »Welt abhängig vom ersten erkennenden Wesen« und zugleich dieses erkennende Wesen »völlig abhängig von einer langen ihm vorhergegangenen Kette von Ursachen und Wirkungen« ist, »in die es selbst als ein kleines Glied eintritt« (Schopenhauer 1977, Bd. 1, S. 61). Schopenhauer nun will diesen Widerspruch dadurch gelöst wissen, dass er ihn als einen der »Welt der Erscheinung« bzw. der »Welt als Vorstellung« versteht, wohingehen der »Kern« bzw. »das innerste Wesen« der Welt eben gerade keinerlei Erscheinung und somit auch keinerlei Vorstellung sei (S. 61). Dabei bleibt jedoch die Frage nach dem »Geber« dieser Vorstellungen bestehen, der aber – erkennbarerweise – außerhalb der Vorstellungsmöglichkeiten des erst mit den Vorstellungen gegebenen Subjekts verbleibt. Der Widerspruch ist auf diese Weise jedenfalls nicht wirklich auflösbar. Es bietet sich aber eine Möglichkeit der Analogisierung dieser Doppelseitigkeit in der Leiblichkeit des Menschen, wobei Schopenhauer den Leib als Erscheinung (im Sinne eines Leib-habens) vom Leib als unmittelbarer Erfahrung (im Sinne eines Leib-seins) unterscheidet: »Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: ein Mal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet. Jeder wahre Akt seines Willens ist sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung seines Leibes: er kann den Akt nicht wirklich 300 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wollen, ohne zugleich wahrzunehmen, daß er als Bewegung des Leibes erscheint.« (S. 143). Es ist genau diese »unmittelbare Bekanntheit«, diese präepistemische Gewissheit, welche Schopenhauer als primär gegeben bzw. vor aller reflexiven Zuwendung zu sich selbst als bereits gegeben erkennt. In einem geradezu hyperbolischen Akt analogisiert Schopenhauer nun diese präepistemische Gewissheit, dieses Spüren eines Schon-immer-Bewegtseins, mit allen Bewegungen und Kräften in der Natur, wie sie sich beispielsweise in der raum-zeitlichen Bewegung des eigenen Armes, dem Umkippen der Teetasse und dem Ergießen des Tees über den ersten Band der Züricher Schopenhauer-Ausgabe demonstriert (der Leib ist das »unmittelbare Objekt« bzw. die »Objektität des Willens«, S. 143; vgl. auch Bd. 3, S. 213 ff.), und erklärt diese präepistemische Gewissheit zugleich zum »Willen« und zum »Ding an sich« (vgl. u. a. S. 202 ff.; vgl. auch Breidert 1995, S. 122 f.). Sicherlich bleibt es hierbei unklar, wie Schopenhauer diese, die erkenntnistheoretischen Grenzen kantischer Prägung sprengende Erkenntnis überhaupt verteidigen möchte. Bedeutsam für unseren Zusammenhang ist aber die schopenhauersche Einsicht in die Priorität des Leibseins bzw. des Lebens vor der intellektuellen Anschauung: »unser Lebenwollen aber ist ein prius des Intellekts« (Schopenhauer 1977, Bd. 3, S. 281). Denn nur dadurch, dass der Mensch durch seinen Leib schon immer in das Leben gebunden ist, in dem sich fortwährend der Wille äußert, begründet sich für Schopenhauer sowohl die Furcht vor dem Tod als auch das Ausharren im Leben (S. 281; vgl. auch 408 ff.). Und dies, obwohl dieser »blinde Wille« keinerlei versicherbaren oder übergeordneten Sinn zu stiften in der Lage ist: »Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat.« (S. 9) Das menschliche Dasein ist für Schopenhauer ohne letztes »Wozu« und »Warum«, wobei es sich durch die Not und sein unstillbares Bedürfen um die Verlängerung seines Lebens um einige Jahre plagt, ohne klären zu können, was »Wunder […] daran gelegen sei, ob Einer etliche Jahre früher dahin gelangt, wo er, nach einer ephemeren Existenz, Billionen Jahre zu seyn hat« (S. 410 f.) Denn: »Wozu aber die ganze Tragikomödie dasei, ist nicht entfernt abzusehn; da sie keine Zuschauer hat und die Akteurs selbst unendliche Plage ausstehn, bei wenigem und bloß negativem Genuß.« (S. 416 f.) 301 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Vor diesem Hintergrund nun versteht sich Schopenhauers Verständnis der suizidalen Erfahrung, welches sich weniger um die Frage nach dem »Wie« und »Warum«, sondern – vielleicht zunächst etwas erstaunlich – wieder stärker auf die Erlaubtheit des Suizids fokussiert. Dennoch ist der schopenhauersche Fokus naheliegend: Wenn der Mensch, trotz allen »metaphysischen Bedürfnisses«, dieses, wie ja auch alle seine sonstigen (leiblichen) Bedürfnisse, niemals nachhaltig stillen kann, sondern stattdessen in einer von »Plagen und Leiden« angefüllten Welt sich zu befinden im Leben nicht zu umgehen vermag und folglich sein Streben an Nichtigkeit in einem umfassend sinnentziehenden Dasein nicht zu überbieten ist, wieso sollte er dann diesem dumpfen Lebensdrang nachgeben und in einer verbitterten und stets ungewissen Existenz fortbestehen, wenn er doch um seine Sterblichkeit und um Mittel und Wege in den eigenen Tod weiß? Ist es doch nur die durch das Leben selbst ausgelöste Liebe zum Leben, welche den »Lieblingssatz aller gewöhnlichen Köpfe begründet, daß wer sich das Leben nimmt verrückt seyn müsse«, wobei ebenso gilt, dass sie »eine gewisse Beruhigung darin finden, daß, auf die schlimmsten Fälle, dieser Ausweg wirklich offen steht« (Bd. 3, S. 281). Ist nicht in diesem Verständnis des menschlichen Daseins der »schlimmste Fall« schon jederzeit eingetreten? Kann es überhaupt noch schlimmer kommen? Wieso, so müssen wir Schopenhauer fragen, wieso nicht hier und jetzt der Suizid? Schopenhauer spricht sich deutlich gegen den Selbstmord aus (Bd. 2, S. 492 ff.; vgl. auch Brunner 2008). Dabei entwirft er in aller Knappheit ein zukunftsweisendes Vulnerabilitätsmodell der suizidalen Verfassung, wie wir es beispielsweise auch bei Griesinger wiederfinden, und welches zentral um das synergistische oder kontrapunktische Zueinander von inneren und äußeren Anlässen geordnet ist: »Es ist damit wie mit dem Selbstmorde: selten mag dieser durch den äußern Anlaß allein herbeigeführt seyn, sondern ein gewisses körperliches Mißbehagen liegt ihm zum Grunde, und je nach dem Grade, den dieses erreicht, ist ein größerer oder kleinerer Anlaß von außen erforderlich; nur beim höchsten Grade desselben gar keiner. Daher ist kein Unglück so groß, daß es Jeden zum Selbstmord bewöge, und keines so klein, daß nicht schon ein ihm gleiches dahin geführt hätte.« (Schopenhauer 1977, Bd. 4, S. 475) Trotz des psychodynamischen Verständnisses, welches in diesem Modell erkennbar ist, bleibt Schopenhauer bei einer klaren Ablehnung des Suizids. Seine Begründung ist einfach: Auch 302 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wenn es für Schopenhauer das zentrale Ziel der menschlichen Lebensführung ist, den Willen zu verneinen und zu »mortifizieren«, ist für ihn der Suizid gerade »ein Phänomen starker Bejahung des Willens. Denn die Verneinung hat ihr Wesen nicht darin, daß man die Leiden, sondern daß man die Genüsse des Lebens verabscheut. Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden. Daher giebt er keineswegs den Willen zum Leben auf, sondern bloß das Leben, indem er die einzelne Erscheinung zerstört.« (S. 492) So schlicht und einfach diese Antwort erscheint, so stellt sich die Frage, wie überzeugend diese Begründung bei näherer Betrachtung ist. Es ist freilich einleuchtend, dass Schopenhauer darauf hinweist, dass das Leben noch bis zum letzten Moment gegeben sein muss, wenn sich denn der Mensch den Tod aktiv geben will. Und es ist zutreffend, dass hierin auch eine »Bejahung« des Lebens gefunden werden kann, auch wenn es keine explizite Bejahung des Menschen als Person, keine bewusste Entscheidung des Intellekts für das Leben ist, sondern allenfalls als ein subliminales Geschehen ausgewiesen werden kann. Diese von Schopenhauer so deutlich hervorgehobene Unausweichlichkeit der »Logik des Lebens« bis »zum letzten Atemzug« findet sich insbesondere auch im Verständnis bei Jean Améry und stellt für eine phänomenologische Analyse der suizidalen Erfahrung eine wesentliche Einsicht dar. Dennoch bleibt es unklar, inwiefern hier der Suizid nicht dennoch auch als eine Verneinung des »dumpfen Drangs« bzw. dieses »Willens zum Leben« verstanden werden kann (Schlimme 2007c), da Schopenhauer selbst dieses Verständnis in seiner umfangreichen Erläuterung zur »Mortifikation des Willens« durchaus nahelegt. Denn diese »Mortifikation des Willens« vollzieht sich nach Schopenhauer in einer Lebensführung, die im Wesentlichen darauf abzielt, das »in ihm erscheinende und schon durch seinen Leib ausgedrückte Wesen« […] »bis auf jenen letzten glimmenden Funken, der den Leib erhält und mit diesem erlöschen wird«, zum Verschwinden zu bringen (Schopenhauer 1977, Bd. 2, S. 471 u. S. 483). Dieses kann, wie Schopenhauer mit Verweis auf religiöse Rituale der Selbstpeinigung und die Hinrichtung von bekehrten Übeltätern ausführt, »bis zum freiwilligen Tode«, bis zum »freudigen Empfangen« des Todes, bis zum »willigen Enden« im Tode gehen (S. 480 u. S. 485 ff.). Denn, »so lange der Leib lebt, ist auch noch der ganze Wille zum Leben seiner Möglichkeit nach da, und strebt stets in die Wirklichkeit zu treten und von Neuem mit seiner ganzen Gluth zu 303 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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entbrennen.« (S. 484) Da es aber keine Unterschiedlichkeit hinsichtlich des Totseins darstellen kann, ob man den Tod »freudig empfängt« oder aber sich verzweifelt gibt, scheint Schopenhauer hier ausschließlich auf die Unterschiedlichkeit der Intention zu zielen, mit der der Tod anvisiert wird. Dennoch bleibt der Tod in beiden Fällen das vollständige Verlöschen des Willens zum Leben dieses einzelnen Individuums, welcher sich in ausgezeichneter Weise und vor aller Erkenntnis im Leib ausdrückt. Handelt es sich hier aber nicht um einen Widerspruch, der sich darin findet, dass der Suizid angeblich nur abhängig von der Intention als die vollkommene »Mortifikation des Willens zum Leben« verstanden werden kann? Schopenhauer erörtert diese Unterschiedlichkeit einleitend in dem Zentral-Paragraphen über die »Bejahung und Verneinung des Willens«, in welchem er das Selbstopfer bzw. die »Selbstaufopferung für Andere« als die höchste Form der Verneinung des Willens anpreist: »Wenn nämlich vor den Augen eines Menschen jener Schleier der Maja […] so sehr gelüftet ist, daß derselbe nicht mehr den egoistischen Unterschied zwischen seiner Person und der fremden macht, sondern an den Leiden der andern Individuen so viel Antheil nimmt, wie an seinen eigenen, und dadurch nicht nur im höchsten Grade hülfreich ist, sondern sogar bereit, sein eigenes Individuum zu opfern, sobald mehrere fremde dadurch zu retten sind; dann folgt von selbst, daß ein solcher Mensch, der in allen Wesen sich, sein innerstes und wahres Selbst erkennt, auch die endlosen Leiden alles Lebenden als die seinen betrachten und so den Schmerz der ganzen Welt sich zueignen muß.« (S. 469)

Und zudem deutet Schopenhauer die kosmische Dimension an, die in der konsequenten Verneinung des Willens zum Leben liegt, da hierdurch das Menschengeschlecht und auch die Tiergeschlechter verschwinden würden, bis schließlich »mit gänzlicher Aufhebung der Erkenntniß dann auch von selbst die übrige Welt in Nichts schwände; da ohne Subjekt kein Objekt. […] Die übrige Natur hat ihre Erlösung vom Menschen zu erwarten, welcher Priester und Opfer zugleich ist.« (S. 471) Dieses von Schopenhauer als positiv genommene Aufheben des Daseins und des Kosmos würde das unausweichliche Leiden beenden, welches für Schopenhauer mit dem Leben zwangsläufig gegeben ist. Sicherlich bleibt es unverständlich, wieso innerhalb dieser (willens-)metaphysischen Argumentation eine »Verneinung des Willens« zwar in der Verabscheuung der Genüsse, nicht aber in der Verabscheuung der Leiden gegeben sein soll. Denn entweder ist – metaphysisch 304 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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mit Schopenhauer gesprochen – »alles eine Objektivation des Willens« oder eben nicht. Freilich stellt sich die Frage, ob nicht abseits der Willensmetaphysik gesagt werden könnte, dass derjenige, der die Leiden nicht will, hierin seinen Willen zum Leben ausdrückt, wohingegen derjenige, der die Genüsse nicht will, hierin seinen Willen gegen das Leben ausdrückt. Diese Interpretation argumentiert den »Willen zum Leben« jedoch nicht als ein metaphyisches Gesetz, sondern als das subjektiv erfahrene Wollen. Aber so verstanden macht es durchaus einen Unterschied, was derjenige will (oder eben: nicht will), folgen doch jeweils für das eigene Leben andere Erfahrungswirklichkeiten. Dennoch erlaubt diese zuzugebende Unterschiedlichkeit keinen Rückschluss auf die metaphyische Ebene, so wie Schopenhauer ihn hier vornimmt. Unbenommen dieser Schwierigkeit wird aber in jedem Fall deutlich, dass Schopenhauer das Opfern des eigenen Lebens für die Erkenntnis, »nur die Verneinung des Willens bringt Erlösung«, als eine geradezu priesterliche Handlung deutet. Weitere Nachweise, dass es Schopenhauer um einen Unterschied zwischen einer verzweifelten Selbsttötung und einer asketischen Selbsttötung geht, finden sich darin, dass er auf den § 68, in dem er die »Verneinung des Willens« in der Askese bis zur letzten Selbtaufopferung erläutert, direkt einen Paragraphen folgen lässt, in dem er vehement gegen den Suizid argumentiert (vgl. S. 492 ff.). In dieser geradezu platonischen Wendung, die ebenfalls die naheliegende Konsequenz des Suizids entsprechend der Erkenntnis der wahren Natur der Seele durch direktes Ansprechen und Abweisen des Suizids abzuwenden sich bemüht, scheut Schopenhauer auch nicht vor Widersprüchen zurück, so beispielsweise wenn er den Suizid als »eine ganz vergebliche und thörichte Handlung« hinstellt (S. 493). Hierbei bleibt es letztlich unklar, in welcher Hinsicht für den betreffenden Menschen diese Handlung »vergeblich« sein soll, wenn einerseits (auf der metaphysischen Ebene) das Ziel die vollkommene Verneinung des Willens zum Leben ist und zum anderen (auf der personalen Ebene) im Tod nichts mehr gegeben ist und somit dann sowieso nichts mehr vergeblich sein kann. (Wäre der Tod dann nicht höchst sinnvoll?) Des Weiteren suggeriert Schopenhauer, dass der Suizid unvernünftig ist, da er widersprüchlich sei. So betitelt er den Suizid als den »schreiendsten Ausdruck des Widerspruchs des Willens zum Leben mit sich selbst«, in welchem »das selbe Individuum sich selbst den Krieg ankündigt« (S. 493). Nun ist dieser Widerspruch sicherlich in dieser Weise formu305 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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lierbar, fällt aber zugleich auf Schopenhauers eigene Ausführungen zur »Mortifikation des Willens« zurück. Denn widersprüchlich erscheint es, wenn die These, dass »der Wille sich hier (im Suizid J. S.) eben durch die Aufhebung seiner Erscheinung bejaht, weil er anders sich nicht mehr bejahen kann« als Argument gegen die »Verneinung des Willens« im Suizid genutzt werden soll (S. 493 f.). Schließlich wäre diesem Argument folgend eine »Verneinung des Willens« in keiner Weise möglich, welches an sich auch die strenge Konsequenz seines metaphysischen Verständnisses des Willens wäre. Schopenhauer jedoch zielt auf eine andere Konsequenz und empfiehlt, zunächst etwas überraschend, eine Lebensführung, in welcher der Mensch selig und ohne Leiden zu leben vermag. Diese Empfehlung findet sich auch darin, dass er den freudig empfangenen Tod aus Askese und den verzweifelt sich gegebenen Tod auf einer dimensionalen Skala als Extrempole des menschlichen Suizidierens anordnet: »zwischen diesem aus dem Extrem der Askese und dem gewöhnlichen aus Verzweiflung entspringenden freiwilligen Tode mag es mancherlei Zwischenstufen und Mischungen geben, welches zwar schwer zu erklären ist; aber das menschliche Gemüth hat Tiefen, Dunkelheiten und Verwickelungen, welche aufzuhellen und zu entfalten, von der äußersten Schwierigkeit ist.« (S. 497) Diese dimensionale Anordnung eines vernünftigen (»passiven«) und eines unvernünftigen (»aktiven«) Sich-tötens ist im historischen Rückblick hellsichtig hinsichtlich des weiteren psychiatrisch-psychodynamischen Verständnisses des Suizids. Die hier von Schopenhauer angenommene kategoriale Vergleichbarkeit der beiden Formen des Suizids lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass Schopenhauer davon ausgeht, die Bewertung des Suizids aus dem Motiv, welches den Betreffenden zum Suizid antreibt, und der Aktivität, welche tendentiell eher passiv den Tod empfängt oder aber aktiv den Tod gibt, vornehmen zu können. Während er ihm im einen Fall sinnausweisend erscheint, ist er für ihn im anderen Fall sinnlos und »thöricht«. Nun stellt sich aber die Frage, inwiefern sich der Sinn des Lebens – Schopenhauer schwebt hier ein Idealbild des Heiligen bzw. des Buddha vor, von dessen wirklicher Gegebenheit er sowohl überzeugt ist als auch seine Leser immer wieder mit verschiedensten Verweisen zu überzeugen versucht (bes. Bd. 2, S. 497 ff.) – tatsächlich entsprechend seiner »Metaphysik des Willens« aus einer »Mortifikation des Willens« ergeben kann. Schließlich, so müssen wir Kant folgend auch mit Schopenhauer annehmen – muss sich der Sinn des Lebens aus dem Leben 306 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ergeben (welches ja aber zunächst aus Schopenhauers Sicht gänzlich und objektiv unsinnig ist). Der Sinn kann sich jedoch im eigenen Lebensvollzug erfahrungsgemäß nicht wirklich aus der umfassenden Verneinung des Lebens ergeben, insbesondere auch deshalb, da die Verneinung des Lebens immer einen Rest Leben benötigt, den es und mit dem es (sich selbst) zu verneinen vermag. So folgt denn auch für Schopenhauer aus der Erkenntnis in der eigenen Nichtig- und Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins nicht der Suizid, sondern eine veränderte Lebensführung. Diese benennt er zwar als eine »Mortifikation des Willens«, an ihrem Ende steht aber ein »seliges Leben« im Diesseits (»der Heilige«), welches »der Lebenstraum des wollenden Menschen ist, jener Friede, der höher als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüths, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie sie Raphael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist: nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden.« (S. 507) Dieses ist die Folge der unerfindlichen »Gnadenwirkung«, die in der »Verneinung des Willens« ohne alles menschliche Zutun plötzlich einsetzt und durch den Willen selbst gegeben ist (vgl. S. 498 ff.). Wie nun aber diese Gnade gemäß der schopenhauerschen »Metaphysik des Willens« gegeben sein kann, wo doch der »Wille zum Leben« nach Schopenhauer nur ins Leiden führt, und inwiefern sich dieses einheitliche »Ding an sich« plötzlich selbst aufzuheben vermag, nachdem es zuvor (wundersamerweise) mit sich selbst in Widerspruch geriet, bleibt letztlich unverständlich und unbestimmbar. Insofern wäre es durchaus folgerichtig, hier wie Schopenhauer eine Gnade zu sehen, welche er auch dementsprechend mit religiösen Interpretationen analogisiert (vgl. Breidert 1995, S. 127 f.). Fassen wir das schopenhauersche Verständnis der suizidalen Erfahrung zusammen, so ergibt sich in ihm eine radikale Neuerung, welche weit in die Moderne hineinweist. Denn Schopenhauer verbindet den Sinn des eigenen Lebens mit dem Thema des Suizids auf neue Weise, indem er die in der suizidalen Erfahrung sich stellende Frage des »Wie lebe ich« mit der weiter greifenden Frage nach dem »Wozu lebe ich« analogisiert. Bereits Seneca zeigt, dass die zentrale Frage in der suizidalen Erfahrung die Frage danach ist, ob man sein eigenes Leben entsprechend der eigenen Natur zu führen vermag oder nicht. Dreh- und Angelpunkt der stoischen Lebensführung war dabei die apathische Einstellung gegenüber den Geschehnissen und Gegebenheiten. 307 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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War jedoch in der stoischen Philosophie das Dasein des einzelnen Menschen in die Vorsehung (pronoia) und das Schicksal (heimarmene) des gesamten Kosmos sinnvoll eingebunden, entfällt gerade dieser sinnstiftende Charakter der kosmischen Einbindung im Gefolge der kantischen Philosophie. Auch Schopenhauer kann keinen übergeordneten Sinn im Dasein des Einzelnen erkennen, da dessen Existenz auf einem blinden und unpersönlichen Willen beruht bzw. dessen Verkörperung ist. Insofern kann sich der Sinn des eigenen Daseins nur im eigenen Dasein bzw. aus dem eigenen Dasein ergeben, aber nicht schon dem eigenen Dasein vorgegeben sein. Aus der Teleologie wird eine Teleonomie (Spaemann/Löw 1980). Streng genommen nun findet sich bei Schopenhauer, wie gerade durch seine eigenartige Interpretation des Suizids als fehlende Verneinung des »Willens zum Leben« und der unerfindlichen Gnade des »Willens« deutlich wird, eine Beantwortung der Frage nach dem »Wozu« des eigenen Lebens in der Art und Weise, wie man das Leben führt. Denn wenn man sein Leben auf die rechte Weise führt – im Sinne einer »Mortifikation des Willens« – gelangt man paradoxerweise durch die Gnadenwirkung des »Willens« in ein seliges Leben im Diesseits, welches wiederum als das höchste Ziel aller »wollenden Menschen« angenommen wird. In dieser von Schopenhauer betriebenen Analogisierung des »Wozu lebe ich« mit dem »Wie lebe ich« erfolgt also eine fundamentale Ästhetisierung der Existenz. Dabei bestärkt sich diese Ästhetisierungstendenz auch darin, dass Schopenhaur im ästhetischen Kunstgenuss (in geradezu paulinischer Analogie) einen Abglanz dieses seligen Lebens erkennt (Grün 2000, S. 111 ff.). Schopenhauers Aufweis der Frage nach dem »Wozu« des eigenen Lebens im Phänomen der suizidalen Erfahrung bleibt erstaunlicherweise im 19. Jahrhundert in den psychiatrischen und psychologischen Verständnissen der suizidalen Verfassung zunächst weitgehend unbeachtet. Auch Sigmund Freud und die nachfolgenden psychodynamischen Verständnisse verweigern sich erfolgreich einer derartigen Diskussion. Friedrich Nietzsche (1844–1900) greift hingegen den schopenhauerschen Gedanken auf, wenn er den Suizid »zur rechten Zeit« empfiehlt, die er wiederum gekommen sieht, wenn man »Ziel und Erben« hat und sich für etwas zu opfern vermag: »Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will. […] Und wann werde ich wollen? – Wer ein Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben.« (Nietzsche 1994, Bd. 2, S. 159) In der nietzscheschen Transzendenzlosigkeit des Daseins, welches dem steten, 308 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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beinahe zufälligen Schicksal unterworfen ist, ist der Suizid entgegen der schopenhauerschen Position das tiefste Ja-Sagen zum eigenen Schicksal. Denn während der natürliche Tod stets zur »unrechten Zeit« kommt, ist der »freie Tod« ein »Fest«, in welchem der vollendet schaffende Mensch den natürlichen Tod überwindet und in der »Umwertung aller Werte« sogar noch dem Tod seine Tiefe und Undurchschaubarkeit zu rauben fähig ist. Damit aber wird die Frage nach der »rechten Zeit« bei Nietzsche in sich paradox, wie Karl Jaspers (1883–1969) dargestellt hat. »Das aber ist, wenn der Zeitpunkt tatsächlich bestimmt werden sollte, entweder nur in allgemeinsten, unbestimmten Wendungen zu sagen – deren Anwendung im Einzelfall, wenn sie argumentierend vollzogen würde, wohl das Ergebnis hätte, dass es stets noch nicht oder jederzeit schon die rechte Zeit sei.« (Jaspers 1950, S. 325) Aber auch bei Jean Améry (1912–1978) findet sich der schopenhauersche Einfluss wieder, wenn Améry den Sinn seines eigenen Lebens im »Freiheitsrausch« wiederfindet, der in dem Bruchteil der Sekunde gegeben ist, in dem der Mensch Hand an sich legt. Denn in diesem letzten Moment ist der Geist der Freiheit am nächsten, »ein absurder Freiheitsrausch« (Améry 1978/1999, S. 154). Améry betont, dass dieses »Freie ein Leeres« ist (S. 148) und dass es der Entschluss zum Suizid ist, der dieses Freie hervorbringt (S. 135 ff.; vgl. bes. Hartmann 2005). »Der Ernst des Beschlusses und der auf ihn folgenden Schlüssigkeiten sind tödlich: Und tödlich wird die Befreiung sein, und die Freiheit wird mit dem gewalttätigen Ausbruch aus dem Zwang verschwinden. So ist der Freitod zwar der atemgebende Weg ins Freie, nicht aber dieses Freie selber. Was die traumhafte Schönheit dieses Weges, wenn er auch verwachsen ist vom Dorngestrüpp des Trennungsschmerzes, nicht zerstört.« (S. 144, Hervorhebung im Original) Insbesondere Améry ist für ein phänomenologisches Verständnis der suizidalen Erfahrung von Bedeutung, da er die rettende Qualität des Suizids in geradezu schonungsloser Weise ausspricht. Auch wenn Schopenhauers Verständnis der suizidalen Erfahrung sein größtes Verdienst also gerade darin hat, die phänomenimmanente Gegebenheit des Sinnthemas auch unter dem Vorzeichen eines fehlenden transzendenten Überbaus des menschlichen Daseins unmissverständlich aufgewiesen zu haben, dürfen zwei andere wegweisende Merkmale seines Verständnisses nicht übersehen werden: a) die Verknüpfung von inneren und äußeren Anlässen für den Suizid, wobei Schopenhauer eine innere Bereitschaft zur Verzweiflung als wesent309 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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liche Voraussetzung für die meisten Suizide benennt. Hierin ermöglicht er ein minutiöses Nachzeichnen des medizinischen Modells, wobei er innerhalb des Gedankenschemas der Selbsttäuschung verbleibt und den Suizid als den höchsten Ausdruck der Täuschung über das Wesen des Daseins und des Kosmos stilisiert; b) die dimensionale Anordnung eines als vernünftig gewerteten und eines als unvernünftig gewerteten Versterbens auf eigene Veranlassung. Allerdings erkennt Schopenhauer insofern einen wesentlichen Unterschied, als er den Tod im Falle des asketisch-passiven Entgegennehmens als höchsten Ausdruck der »Mortifikation des Willens« benennt. Sicherlich kann gemutmaßt werden, dass angesichts der (angeblichen) Seligkeit des Menschen, der sein Leben auf diese Weise führt, das letzte Erlöschen des »Willens zum Leben« gar nicht mehr angezielt wird – worin Schopenhauers Willensmetaphysik allerdings ausgehebelt wäre. Dennoch findet sich hierin die Vorformulierung der dimensionalen Anordnung von Suiziden als »mehr oder weniger« vernünftig, wie sie auch in der aktuellen Suizidologie aufgefunden werden kann (vgl. Brunner 2008). Festzuhalten ist allerdings, dass diese dimensionale Anordnung die Sinnfrage unmissverständlich aufwirft, da gerade sie auch nach dem Sinn desjenigen (aktiv herbeigeführten) Suizids fragt, der aus Verzweiflung erfolgt. Auch wenn Schopenhauer diesem Suizid die Sinnlosigkeit nachzuweisen bemüht ist und nicht tiefer in die Frage nach der suizidalen Erfahrung eintaucht, erkennt er, dass ihr ein eigener Sinn – wenn auch eben ein »thörichter« – zukommt, den es hinsichtlich des »metaphysischen Bedürfnisses« des Menschen zu thematisieren gilt.

3.12. Psychodynamische Verständnisse im 19. Jahrhundert Bevor um 1900 durch Josef Breuer und Sigmund Freud in ihren »Studien über Hysterie« (1895) das erste psychodynamische Verständnis im engeren Sinne entwickelt wird, verbindet sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die insbesondere auch durch Schopenhauer entwickelte »Tiefenphilosophie« mit den Ansichten, Ideen und Konzepten des Mesmerismus bzw. Magnetismus, welcher weitaus stärker am medizinischen Handeln orientiert ist. »Franz Anton Mesmer (1734–1815) brachte etwas hervor, das er für eine wissenschaftliche Theorie und eine universelle medizinische Therapie hielt. Er be-

310 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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mühte sich, ›Krisen‹ zu provozieren, die angeblich diagnostischen Wert hatten und eine Waffe für die Heilung waren. Seine Hauptentdeckung war der ›Rapport‹ zwischen dem Magnetiseur und dem Patienten. Puységur (Amand-MarieJacques de Chastent, Marquis de Puységur 1751–1825, ältester der drei Brüder, die allesamt Mesmers Schüler waren, J. S.) ersetzte die pseudo-physikalische Theorie vom ›Fluidum‹ durch die Einsicht, dass psychische Kräfte am Werk waren. Seine große klinische Entdeckung war die des ›magnetischen Schlafs‹ oder ›künstlichen Somnambulismus‹, d. h. eines dem spontanen Somnambulismus ähnlichen Zustands, mit dem Unterschied, dass man ihn nach Belieben herbeiführen und beenden konnte, und dass er sich sowohl zur Erforschung unbekannter psychischer Funktionen als auch für die Therapie benützen ließ. Das Konzept vom ›Rapport‹ wurde erweitert; er wurde nun als psychisches Phänomen und als Zugangsweg für die psychotherapeutische Aktion angesehen. Die große Welle des Spiritismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts führte zur Entdeckung neuer Zugänge zum Bewusstsein, z. B. des automatischen Schreibens. Neben dem ›künstlichen Somnambulismus‹ wurde ein neuer Zustand, die ›mediale Trance‹ erforscht. Charcot (Jean-Martin Charcot 1825– 1893, Chefarzt der Neurologie der Salpêtrière in Paris, J. S.) machte auf die Existenz von unbewussten ›fixen Ideen‹, die als Kerne bestimmter Neurosen zu beobachten waren, aufmerksam, eine Konzeption, die von Janet und Freud weiterentwickelt werden sollte.« (Ellenberger 1996, S. 161)

Das Phantastische und scheinbar Übersinnliche, aber jedenfalls rational Unverständliche offenbart sich in besonderer Weise in der Hypnose, aber auch in neu thematisierten drogeninduzierten Erfahrungen. Als beispielhaft kann die zentrale Bedeutung des Opiumrausches bei Georg Friedrich Philipp von Hardenberg (Novalis; 1772–1801) angesehen werden, der für Novalis über die Qualität eines anderen Bewusstseinszustandes hinaus geht (Kupfer 1996, S. 153 ff.). Gemeinsam ist diesem Bemühen also nicht primär die aufklärerische Real-Entwirklichung des Phantastischen und Ungewöhnlichen, deren »Verinnerlichung« in eine »innere Natur«, sowie das Aufsuchen ihrer eigenständigen Rationalität in den Gesetzmäßigkeiten dieser »inneren Natur«. Sondern darüber hinaus findet sich in diesen Bewegungen das Bemühen, das Zueinander von Natur und Geist unter den Voraussetzungen der Aufklärung neu zu bestimmen. Insbesondere die »Tiefenphilosophie« zielt dabei auf eine grundsätzliche Neubestimmung des Zueinanders von Natur und Geist, in deren Mittelpunkt die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins, das Gefühlshafte und die Thematik des Unbewussten, der »inneren Natur«, steht. Eine für die sich entwickelnde Psychiatrie und Psychologie weg311 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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weisende, und von uns bereits genannte Lösung präsentiert Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) mit seinem romantischen Verständnis des »Wahnsinns«, welches er in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen 1810 ausarbeitet (vgl. Dörner 1999, S. 247 ff.; s. o.). Ausgehend von der Annahme, dass Materie, Natur und Geist sich in schrittweiser Auseinandersetzung aus einem indifferenten »Ungrund« entwickeln und sich in Folge des gemeinsamen Ursprungs in »Analogie« zugetan bleiben (vgl. Baruzzi 1993, S. 228 ff., s. o.), unterscheidet Schelling einen »göttlichen Wahnsinn« im Sinne Platons von einem »kranken Wahnsinn« im Sinne der Medizin. Dieser »kranke Wahnsinn« ist für Schelling die stets gegebene »Basis des Verstandes«. »Der Wahnsinn entsteht also nicht, sondern tritt hervor, wenn das, was eigentlich Nichtseiendes d. h. Verstandesloses ist, sich aktualisiert, wenn es Wesen, Seiendes sein will. Die Basis des Verstandes selbst also ist der Wahnsinn. Daher der Wahnsinn ein notwendiges Element, das aber nicht zum Vorschein kommen, nur nicht aktualisiert werden soll. Was wir Verstand nennen, wenn es wirklicher, lebendiger, aktiver Verstand ist, ist eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn.« (Schelling, zit. nach Dörner 1999, S. 248) Schelling versteht den »Wahnsinn« also durchaus entsprechend den zeitgenössischen psychiatrischen Verständnissen, wobei sich die entscheidende Neuerung darin findet, dass selbst der vollkommenste Verstand immer noch sein Gegenteil in sich trägt und der »Wahnsinn« und das Unbewusste analogisiert werden. Der »Wahnsinn« kann also ebensowenig ausgelöscht werden, wie das Unbewusste weder vernünftig ist noch zur Vernunft erzogen werden kann. Vielmehr bleibt dieses unvernünftige Unbewusste in seiner wahnsinnigen Struktur die stete und unverzichtbare Basis, ohne welche der geordnete und vernunftorientierte Verstand gar nicht produziert werden kann. Mit diesem Verständnis wirkt Schelling »insbesondere auf die medizinischen Professoren, die von der ›falschen Einheit‹, der Unvernunft der Irren fasziniert« sind (Dörner 1999, S. 251). Als solche sind u. a. Garl Gustav Carus (1789–1869) und Johann Christian August Heinroth (1773–1843) zu nennen. Wesentlich für die sich entwickelnde dynamische Psychiatrie sind dabei sowohl der Gedanke der Analogie von »Wahnsinn« und Unbewusstem als auch die wesenhafte Einheit von Natur und Geist und der Gedanke des »Werdens« (Ellenberger 1996, 282 ff.). Wie bereits gesagt, beschreibt dies zugleich die Eigenart der menschlichen Psyche, üblicherweise nur »mehr oder weniger« vernünftig bzw. unvernüftig (»wahnsinnig«) zu 312 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sein. Und nicht zuletzt findet sich hierin eine Bestimmung der menschlichen Psyche, ohne eine direkte Rückbindung zu einem göttlichen Wesen vornehmen zu müssen. Schopenhauer charakterisiert nun diesen »Ungrund« in seinem drängenden und treibenden Charakter als den »Willen zum Leben«, sprengt aber letztlich die Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten, wie Kant sie dargelegt hat. Denn anstatt in dieser Beschreibung allein die innere Erfahrung des Gegebenen zu erkennen, argumentiert Schopenhauer den Willen als das »Ding an sich«. Mit dieser hyperbolischen Argumentation umreißt Schopenhauer aber zugleich die grundsätzliche Problematik, die in jeder These eines Unbewussten steckt: wie kann überhaupt vom Unbewussten etwas gewusst werden, wo es doch un-bewusst sein soll? Denn konsequent verstanden behauptet die These des Unbewussten, dass es eine Entität der menschlichen Psyche gibt, die schlechterdings nicht bewusst sein kann. Bei einer solchen Annahme könnte aber diese Frage tatsächlich nicht aufgelöst werden und bliebe in ihrer Widersprüchlichkeit bestehen. Insofern zeigt sich auch, dass die Annahme eines Bewusstseins üblicherweise »an den Begriff eines gleichzeitig vorhandenen Unbewussten gebunden ist, so dass ein reines und universales Bewusstsein, wie es die Romantiker anstrebten, dem Begriff nach als ein Widerspruch in sich selbst aufgefasst werden muss.« (Kupfer 1996, S. 113) Die Frage ist also schon immer beantwortet, bevor sie überhaupt gestellt werden kann, da die Frage ihrerseits die Annahme eines Bewusstseins voraussetzt. Damit aber wendet sich die Frage um, da unter der Voraussetzung eines Unbewussten als steter Begleiter des Bewusstseins nun die Frage nach dem Zugang zu diesem Unbewussten von zentraler Bedeutung ist. Gefragt wird hierbei also zunächst danach, auf welchem Erkenntnisweg von diesem Unbewussten überhaupt gewusst werden kann. Allerdings kehrt in dieser Frage auch die andere Frage zurück, denn es wird ja zugleich nach dem Status des Unbewussten gefragt (Lütkehaus 1995, S. 15 f.). Einen ersten Lösungsversuch unternimmt Carl Gustav Carus (1789–1869) in seinem einflussreichen, 1846 erschienen Hauptwerk »Psyche«. Hier stellt er gleich zu Beginn fest, dass der Mensch keine Selbsterkenntnis erlangen könnte, »wenn nicht die Möglichkeit bestünde, die Inhalte des Unbewusstseins wenigstens teilweise bewusst zu machen.« (Kupfer 1996, S. 125) Carus führt aus: »Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewussten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewusstseins. Alle Schwierigkeiten, ja alle scheinbare Unmög313 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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lichkeit eines wahren Verständnisses vom Geheimnis der Seele wird von hier aus deutlich. Wäre es eine absolute Unmöglichkeit, im Bewussten das Unbewusste zu finden, so müsste der Mensch verzweifeln, zum Erkennen seiner Seele, d. h. zur eigentlichen Selbsterkenntnis, zu gelangen. Ist diese Unmöglichkeit nur ein scheinbare, so ist es die erste Aufgabe der Wissenschaft von der Seele, darzulegen, auf welche Weise der Geist des Menschen in diese Tiefen hinabzusteigen vermöge.« (Carus 1995, S. 126) Dabei unterscheidet Carus das »absolut Unbewusste«, von welchem tatsächlich nichts gewusst werden kann – und welches folglich nur als reine Hypothese besteht –, und das »relativ Unbewusste, d. h. jenen Bereich eines wirklich schon zum Bewusstsein gekommenen Seelenlebens, welcher jedoch für irgendeine Zeit jetzt wieder unbewusst geworden ist, immer jedoch auch wieder ins Bewusstsein zurückkehrt, ein Bereich, welcher immerfort selbst in der ganz gereiften Seele den größten Teil der Welt des Geistes umfassen wird, weil wir in jedem Augenblick doch immer nur einen verhältnismäßig kleinen Teil von der ganzen Welt unserer Vorstellungen wirklich erfassen und gegenwärtig halten können.« (S. 131) Letzteres, so dürfen wir vorausgreifend für die nachfolgende »Psychoanalyse« annehmen, wird derjenige Bereich der Psyche sein, der als »Das Unbewusste« firmieren wird. Dabei ist festzuhalten, dass die Objektivierung des Unbewussten als »Das Unbewusste« der carusschen Unterscheidung widerspricht. Denn Carus betont in seiner Unterscheidung eines »absoluten und relativen Unbewussten« die letztliche Unverfügbarkeit derjenigen Erfahrung, die als »innere Natur« benannt wird. Jedoch findet sich bereits bei Eduard von Hartmann (1842–1906) eine solche Objektivierung des Unbewussten. Ausgehend vom carusschen Verständnis des Unbewussten formuliert er in seiner »Philosophie des Unbewussten« den bewussten Zugang zum Unbewussten als Lösung des Dilemmas, wie das Unbewusste überhaupt erkannt werden könne. Seine Definition des Unbewussten begegnet uns entsprechend auch als Negativbild des Bewusstseins (Hartmann 1913, II, S. 1 ff.). Beeinflusst durch die Philosophie Schopenhauers analysiert er insbesondere die psychologischen Zusammenhänge von Wille und Vorstellung, wobei er die These vertritt, dass es einen Willen ohne Vorstellung, also beispielsweise im Sinne des metaphysischen »Willens zum Leben« als vorstellungsloses »Ding an sich«, nicht gibt. In dieser Umdefinition nun verwandelt sich »Das Unbewusste« in einen geradezu mechanistisch operierenden »Determinationszusammenhang«, der 314 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wie ein »stream of unconsciousness« unaufhörlich weiterfließt (Lütkehaus 1995, S. 41; Kupfer 1996, S. 128). Hartmann spricht dabei von der »All-Einheit des Unbewußten«, welches sich in die ganzen vielfältigen »Erscheinungen« des (bewussten) Lebens individuiert und damit als metaphysisches Etwas »hinter« dem ganzen Prozess des Kosmos zu stehen kommt (Hartmann 1913, II, S. 86 ff.). Damit überschreitet er allerdings die bei Carus formulierte Grenze der Erkennbarkeit des Unbewussten, womit sich streng genommen die gesamte »innere Natur« in ein unverfügbares Etwas verwandelt, dem der einzelne Mensch fundamental ausgeliefert ist und sich nach Hartmann auch ausliefern soll, besteht doch »die volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß um seines Zieles, der allgemeinen Welterlösung willen […] darin, die Zwecke des Unbewußten zu Zwecken seines Bewußtseins zu machen« (S. 221). Woher Hartmann dies aber alles wissen kann, wenn denn seine Annahme wirklich zutreffend wäre, wird nun allerdings unerfindlich, so dass die Lösung Hartmanns nur eine scheinbare ist. Jedoch zeichnet Hartmann hier eine zeitgenössisch durchaus überzeugende, das »metaphysische Bedürfnis« stillende, romantisierende Illusion der umfassenden Erlösung, die dem Menschen als »Endziel« des teleologisch verfassten Prozesses des »all-einheitlichen Unbewußten« in der menschengeschlechtlich zeitgleichen Verneinung allen Wollens, der umfassenden Selbstverleugung, möglich sei (S. 221 ff.). Von dieser Selbstverneinung, die aus der »All-Einheit des Unbewußten« hervorbricht und sich zeitgleich in all ihren »Erscheinungen« manifestiert, unterscheidet Hartmann – durchaus folgerichtig – den Suizid, den er als vollkommenen Ausdruck des Egoismus versteht, da der Mensch sich hier eben gerade nicht der »All-Einheit des Unbewußten« ausliefert (S. 205 u. 220). Dabei gibt Hartmann durchaus zu, dass der Suizid dem einzelnen Menschen bei entsprechenden schweren (metaphysischen) Krisen als »notwendige Konsequenz« erscheinen kann (S. 205). Er nennt als Auslöser für eine solche suizidale Krise – Hartmann nutzt dieses Wort allerdings nicht – zum einen die individuelle Einsicht in die Vergänglichkeit aller Anstrengung im diesseitigen Leben, welches dadurch töricht und vergeblich erscheint, und die individuelle Einsicht, dass ein jenseitiges Leben in personaler Kontinuität sowie ein diesseitiger glückseliger Zustand aller Menschen auch bei durchgehaltenem Fortschritt nur Illusionen seien. Gewinnt der Mensch hingegen Einsicht in die »All-Einheit des Unbewußten« – auch wenn letztlich unklar bleibt, wie dies abseits eines Glaubenssprunges tatsächlich möglich sein 315 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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soll – kann er sich, scheinbar in vollem Wissen um die Vergeblichkeit seiner Bemühungen, für dieses metaphysische »Unbewusste« einsetzen. Entgegen Hartmanns expliziten Aussagen ist dieses metaphysische »Unbewusste« damit nun zutiefst sinnstiftend in seiner überindividuellen, unzeitlichen Teleologie (vgl. auch Lütkehaus 1995, S. 40). So unwissenschaftlich Hartmanns »Metaphysik des Unbewussten« erscheint – und so sehr sie das »metaphysische Bedürfnis« ganz schlicht im »Unbewussten« in romantisierender Manier zu stillen sich bemüht –, so bedeutsam sind die tiefenphilosophischen Verständnisse des Unbewussten für die klinisch tätigen Psychodynamiker wie Janet, Breuer und Freud, da sie die Möglichkeit anzubieten scheinen, den Zugang zum Unbewussten zugleich als einen nicht zu leugnenden Nachweis für »Das Unbewusste« anzusehen. Denn damit erübrigt sich für die frühe Psychoanalyse die ansonsten bedeutsame Frage, die insbesondere Carus beschäftigt: Wie versteht sich der genaue Status dessen, was als Unbewusstes benannt wird? Aus einer phänomenologischen Sicht kann die carussche Unterscheidung nicht vollständig in einen der beiden Extrempole aufgelöst werden. Denn tatsächlich ist ja die Annahme eines wie auch immer gearteten Subliminalen an die Erfahrung gebunden, dieses niemals vollständig als Objekt in den Blick zu bekommen, da dieser Blick seinerseits auf dieses Subliminale angewiesen ist. Diese erkenntnistheoretische Notwendigkeit kann die phänomenologische Methode hingegen aufnehmen, indem sie einen Blickwechsel vornimmt und diese Weise der Gegebenheit selbst beschreibt. In diesem Einstellungswechsel kommt demnach das jeweils konkret Gegebene in seinem Modus der Gegebenheit in den Blick, so dass die Phänomenologie zwar ebenfalls ein »absolutes und relatives Unbewusstes« (im Rückblick) zu beschreiben vermag, diese aber als Weisen der Gegebenheit im Bewusstsein und damit als »konstitutive Momente jedes Bewußtseins, insofern in diesem Reflexionserlebnisse vorkommen« versteht, und eben nicht als fixe psychische Entitäten (Rinofner-Kreidl 2003, S. 117). Dabei ist, und dies ist für dieses phänomenologische Verständnis des Subliminalen unverzichtbar, diese Beschreibung an den konkreten Vollzug der phänomenologischen Methode – den immer wieder vorzunehmenden Einstellungswechsel der »phänomenologischen epoché« und die immer wieder neu durchzuführende, wenn auch unvollständige phänomenologische Reduktion des Gegebenen – gebunden (S. 142). Die Verknüpfung des methodischen Weges, auf dem die Erkenntnis gewonnen wird, 316 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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und der Erkenntnis, die auf diesem methodischen Weg gewonnen wird, ist gerade in einer wissenschaftlichen Analyse nicht auflösbar. Dies gilt im Prinzip auch für die frühe Psychoanalyse, in der sich eine (wissenschaftlich unzulässige) Fixierung dieser Unverfügbarkeit des innerlich Erfahrenen im »Trieb« als einem unaufhörlich und blind Drängenden vollzieht, welche dabei durchaus ganz wesentlich auf Schopenhauer und Hartmann zurückgreift, und die carussche Unterscheidung stets aufs Neue zu verwischen droht. Unbenommen solcher Kritik kündigt sich in dieser kulturellen Bewegung jedoch ein radikal neues Selbstverständnis des Menschen an, welches eine neue Bestimmung des Zueinanders von Vernunft und Selbsttäuschung und damit auch das sich bereits andeutende radikal neue Verständnis der suizidalen Erfahrung bzw. des Sich-tötenkönnens wesentlich befördert. Denn hinsichtlich des Zusammenhangs von Selbsttäuschung und unvernünftigem Verhalten kann in dieser Bestimmung des Unbewussten als »ein dem Bewusstsein nicht vollkommen Verfügbares« – als ein a posteriori erkennbares Geschehen, das bereits a priori abgelaufen sein muss – die Ubiquität der Selbsttäuschung eindeutig erkannt werden, so dass die Angemessenheit des Inneren zum Äußeren, des Verhaltens zur Situation bzw. der Kongruenz des Erlebens mit den Umständen zum auszeichnenden Merkmal erhoben werden kann. Denn der Mensch kann sich auch dann vernünftig verhalten, wenn er sich über sich täuscht; und er kann sich auch dann unvernünftig verhalten, wenn er sich nicht über sich selbst täuscht. Entscheidend ist betreffend der fraglichen Vernünftigkeit des Verhaltens aber nicht nur, wie der jeweilige Mensch die eigene Situation hinsichtlich seiner Person und seiner Mitmenschen einschätzt. Sondern es ist ebenfalls von Belang, über welche Ziele, Wünsche und Absichten und über welche Verhaltensmöglichkeiten er verfügt. Es geht folglich stets um die Angemessenheit des individuellen Zueinanders von Person und Situation, welches sich als Bewertungsmaßstab nicht nur in Schopenhauers, sondern insbesondere auch in Griesingers und Kraepelins Verständnis der suizidalen Verfassung wiederfindet. In diesen Überlegungen deutet sich bereits der Gedanke des In-der-Welt-seins an, wie er von Martin Heidegger in »Sein und Zeit« im Jahr 1927 gefasst werden wird (Heidegger 1993, S. 52 ff.). Und es kündigt sich in dieser Einsicht in das unausweichliche und einander entsprechende Insein des jeweiligen Menschen in seiner Welt zudem die Bedeutung der suizidalen Erfahrung selbst für ein Verständnis der suizidalen Erfah317 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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rung an, auch wenn zunächst weiterhin die Frage nach dem »Warum« der suizidalen Erfahrung stärker im Blickpunkt der psychologischen und psychiatrischen Aufmerksamkeit stehen wird. Obwohl sich dieses Verständnis der suizidalen Erfahrung in den suizidologischen Modellen der Jahrhundertwende um 1900 noch nicht eindeutig klären wird, zielt die Bewegung dieser Modellbildung genau auf ein solches Verständnis, in welchem sich die suizidale Verfassung als Krise zeigt, in welcher die Situation infolge der Verzweiflung, die entsprechend der situativ provozierten Verwandlung der betreffenden Person aus dem Subliminalen – oder wie bei Hartmann: aus der »metaphysischen Kränkung« – heraus aufkommt, nicht mehr angemessen eingeschätzt werden kann. Auch dieses Modell zeigt folglich den Suizid als Ausdruck einer gewissen Täuschung im Sinne einer als unangemessen geltenden Einschätzung, welche zugleich die Anordnung auf einer dimensionalen Skala erlaubt. Allerdings sind die dimensionalen Pole nicht mehr die generelle Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit des Verhaltens, sondern vielmehr die Angemessenheit des Verhaltens der betreffenden Person, wie sie aus einem »kulturell objektiven Standpunkt« sich darstellt. Denn zwar sind die Einschätzungen des suizidalen Menschen, dass er im Tod »gerettet« wird und dass er aktuell verzweifelt ist, zutreffend, aber es stellt sich im kulturellen Miteinander die Frage, ob die Einschätzung der Unveränderlichkeit dieser Verzweiflung, wie sie der suizidale Mensch vornimmt, auch wirklich zutreffend ist oder nicht. Dies greift insbesondere auch die Grundannahme des psychiatrischen Modells des 19. Jahrhunderts auf, welche aussagt, dass (die allermeisten) Suizide unter dem Eindruck krankheitsbedingter Fehlwahrnehmungen, Illusionen und Empfindungsverzerrungen in einer unbesonnenen Manier durch ein »schwaches Ich« vollzogen werden. Das »Unbesonnene« an diesem Verhalten ist eben gerade dieses zeitlich Rasche, in welchem der Betreffende nicht bereit ist bzw. nicht die »Stärke« hat, den Ausgang seiner (psychosozialen) krankheitsbedingten Krise abzuwarten. Wie die Gedanken des Selbstmordtriebes und der krankheitsbedingten »Ich-Schwäche« bei Griesinger und Kraepelin zeigen, wird diese fehlende Bereitschaft bzw. »IchStärke« nicht zwingend dem Betreffenden angelastet, da sie ihrerseits auch krankheitsbedingt verursacht sein könnten. Damit aber ergibt sich die These, dass die zentrale Frage des sich entwickelnden suizidologischen Modells lautet: Ist die Krise wirklich auf Dauer gestellt oder ist sie vorübergehend? 318 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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In den nachfolgenden Untersuchungen wird zu prüfen sein, ob diese These zutrifft. Dabei ist zugleich zu überprüfen, ob nicht hinter diese Frage, die immer sowohl aus dem persönlichen als auch aus einem soziokulturellen bzw. gemeinschaftlichen Blickwinkel beantwortet werden kann, die individuelle suizidale Erfahrung zurücktritt, in der sich die Frage nach dem Sinn des Lebens unausweichlich stellt. Denn es ist zu vermuten, dass diese Frage insgesamt aus dem wissenschaftlichen Untersuchungsfeld ausgewiesen und an die Philosophie, Theologie und letztlich den persönlichen Dünkel des Einzelnen verwiesen wird, da es nur noch um die scheinbar rein ästhetische Frage des »Wie lebe ich« anstatt um die fundamentale Frage des »Wozu lebe ich« zu gehen scheint. Damit auch wäre die Frage danach, wie es wohl ist, wenn man suizidal ist, für die sich entwickelnde Suizidologie ihrerseits wenig sinnausweisend, wohingegen die Frage nach dem »Warum des Suizids« angesichts der Vorübergehendheit der suizidalen Krise an Bedeutung gewinnen würde. Mit dieser Real-Entwirklichung des Sinns des menschlichen Daseins würde aber letztlich das suizidologische Erklärungsmodell selber in eine Krise geraten, da es dann die in der suizidalen Krise für den Betreffenden sich unnachgiebig stellende Frage nach dem »Wozu« nicht sinnstiftend im Modell beantworten könnte, sondern selbst auf eine solche sinnstiftende Antwort angewiesen bliebe.

3.13. Émile Durkheim Émile Durkheim (1858–1917) rückt in seinem soziologischen Klassiker »Der Selbstmord« (1897) die Frage nach der Bedeutung der Gesellschaft bzw. der gesellschaftlichen Eingebundenheit für die suizidale Erfahrung in den Vordergrund. Durkheim, der bedeutendste französische Soziologe der Jahrhundertwende, ist seit 1902 Professor für Soziologie an der Universität Sorbonne in Paris. Er gilt als Nestor der französischen Soziologie und formuliert im Wesentlichen ein Verständnis der Sozialität, welches für das gesellschaftliche Verständnis der Moderne wegweisend wird. In den Jahren seiner Lehrtätigkeit für Sozialwissenschaften an der Universität Bordeaux von 1887–1902 verfasst er seine wesentlichen Werke, wobei neben der Schrift über den Suizid auch sein Werk »Über die Arbeitsteilung« (1893) entsteht. Durkheim steht in dieser Zeit mit seinem Interesse für die Gesellschaft als eigenes, der 319 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wissenschaftlichen Untersuchung zugängliches Gebilde nicht allein. Im deutschsprachigen Raum sind es vor allem Max Weber (1864–1920), Ferdinand Tönnies (1855–1936) und Georg Simmel (1858–1918), die eine wissenschaftliche Soziologie ermöglichen. Die entscheidende Frage für eine Soziologie ist natürlich, was mit dem Begriff »Sozialität« überhaupt gemeint sein soll. In dieser Hinsicht leistet bereits Ludwig Feuerbach (1804–1872) in seinen »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« (1843) entscheidende Vorarbeiten, welche die grundsätzliche Bedeutung der Gesellschaft für den Menschen thematisieren. Feuerbach geht es dabei um nichts weniger als den »gesellschaftlichen Menschen«: »Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.« (Feuerbach 1996, § 61) Damit ist von Feuerbach ganz offenbar nichts anderes gemeint, als dass der Mensch schon immer gesellschaftlich bzw. sozial, schon immer »Mensch mit Menschen« ist (§ 63). Denn erst innerhalb seiner Sozialität – so Feuerbach – wird der Mensch zum Menschen und darin zugleich der Mensch seiner Gesellschaft. Unabdingbar steckt der Mensch also in einem sozialen Selbstwerden, in welchem er notwendigerweise zum Exponenten seiner Sozialität wird. In diesem Gedanken Feuerbachs ist nicht nur eine schlichte Übernahme gesellschaftlicher Muster angesprochen. Vielmehr ist ein teilnehmendes und teilhabendes Hineinwachsen in die Sozialität gemeint, welches wir als ein schon immer geschehendes Hervorwachsen aus der Sozialität verstehen können (Rombach 1994a, S. 161). Diesem Verständnis folgend gewinnt sich in diesem Geschehen eben nicht nur die Sozialität, sondern überhaupt erst der einzelne Mensch als Individuum. Der Mensch muss folglich primär als ebenso abhängig von anderen Menschen wie von seiner Welt verstanden werden. Er ist nicht zuweilen oder nur aus einer Laune heraus gesellschaftlich, sondern er ist schon immer fundamental mit anderen Menschen und mit ihnen in einer gemeinsamen Sozialität. Dieser Gedanke hat Soziologie überhaupt erst möglich gemacht. Auch wenn sich soziologisches Fragen immer wieder im Kampf mit der Differenz von Individuum und Sozialität zu verstricken droht, bleibt dies der zentrale Gedanke soziologischen Verständnisses. Die Sozialität selbst in den Blick zu nehmen ist dabei als erklärtes westlich-soziali320 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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siertes Individuum verständlicherweise schwierig, gilt uns doch unsere Individualität als auszeichnende Einzigartigkeit gegenüber anderen Individuen. So sehr sich also folglich vieles in der Soziologie eher als »Individuologie« verstehen ließe, in der es eher um die Verstrickungen des Individuums in der Gesellschaft und weniger um die Gesellschaft als soziales Phänomen geht, hat die soziologische Befragung des suizidalen Menschen entscheidend zum suizidologischen Verständnis der suizidalen Erfahrung beigetragen. Ihren Ausgangspunkt nimmt das soziologische Fragen zum Suizid mit Durkheims Studie zum »Selbstmord« (1897), welche über die Jahrzehnte auch aufgrund ihrer empirischen Basis zu einem Klassiker der Soziologie avancierte. Durkheim geht in seiner Studie davon aus, dass alle Verständnisweisen der suizidalen Verfassung allgemeinen sozialen Zusammenhängen folgen müssten. Dabei setzt er nicht primär mit dem feuerbachschen Verständnis der Sozialität ein, sondern sieht vielmehr eine fundamentale Differenz von Individuum und Gesellschaft, die für ihn klar und eindeutig voneinander getrennt sind. Im Rahmen dieser Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft treffen diese gewissermaßen unvermittelt aufeinander und stehen sich scheinbar berührungslos gegenüber. Insofern nimmt Durkheim an, dass die soziale Einbindung des einzelnen Menschen in einem quantitativen Sinne des »Mehr oder Weniger« unterschieden werden kann. Dabei findet sich für Durkheim an den extremen Polen entweder eine Auflösung der Individualität im Kollektiven oder aber eine Auflösung des Kollektiven im Individuellen. Wie aber versteht es sich nun in der Mitte, in der eine gewissermaßen mittelmäßige Verstrickung des Individuums in soziale Zusammenhänge gegeben ist? Ein solcher Ansatz, der zugleich eine Überbrückung der modellhaften Differenz von Individuum und Sozialität anbietet, findet sich bei Durkheim in seinem Konzept der »organischen Solidarität«, welches er bereits 1893 in seiner Schrift »Über soziale Arbeitsteilung« formuliert. Die Balance zwischen »Kollektivbewusstsein« und »Individualbewusstsein« versteht er hierbei wie in einem biologischen Organ, in welchem »die Einheit des Organismus um so größer ist, je stärker die Individualität der Teile ausgeprägt ist« (Durkheim 1992, S. 183). Diese überbrückende Wechselseitigkeit sieht er auch in der modernen Arbeitsteilung verwirklicht: »Tatsächlich hängt einerseits jeder um so enger von der Gesellschaft ab, je geteilter die Arbeit ist, und andrerseits ist die Tätigkeit eines jeden um so persönlicher, je spezieller sie ist.« (S. 183) Demgegenüber versteht er die 321 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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anomische Arbeitsteilung als einen Zustand, in welchem die Beziehungen der Organe nicht geregelt sind, da sie nicht in genügend dauerhaftem und insofern in nicht erlebtem und bewusstem Kontakt miteinander stünden (S. 437). Durkheim beschreibt damit, dass die vermeintlich »ich-starke« Individualität keine echte Unabhängigkeit von anderen Menschen bedeutet, sondern dass ein »starkes Ich« geradezu im Gegenteil intensiv auf andere Menschen infolge der Arbeitsteilung angewiesen ist, selbst wenn sich dieser »ich-starke« Mensch in einem gefühlshaft-persönlichen Sinne von anderen Menschen distanziert und unabhängig erlebt. Durkheim eröffnet damit einen originären Zugang zu einem anderweitig »Unbewussten« der um die Stärke ihres Ich bzw. ihres Verstandes bemühten Zeitgenossen. Hier geht es jedoch nicht um eine weiblich-gefärbte »innere Natur«, sondern um eine dem Menschen scheinbar äußerliche »soziale Natur«, welche in ihren Verästelungen und Verstrickungen dem Einzelnen ebenfalls zumeist unbewusst und zudem für ihn gewohnheitsmäßig handlungsleitend ist. Mit einem solchen Verständnis der Gesellschaft ausgestattet, wendet sich Durkheim auch der suizidalen Erfahrung bzw. der Möglichkeit, sich töten zu können, zu. Dieses Interesse hat neben national- und wohlfahrtstaatlichen Interessen auch den Hintergrund, dass seinerzeit entsprechende Statistiken vorliegen, die nachzuweisen scheinen, dass im Rahmen der Industrialisierung eine Zunahme der Suizidrate stattgefunden hat. Für Durkheim als soziologisch denkendes und zeitkritisches Kulturwesen können die psychiatrischen Verständnisse vor diesem Hintergrund aber nicht befriedigend sein, da sie zwar recht gut darlegen können, dass ein »schwaches Ich« der »Neigung zum Suizid« wenig entgegenzusetzen vermag und dass diese Neigung aus krankhaften Ursachen begründet werden kann. Dennoch stellt sich ja die Frage, ob die Menschen tatsächlich im Prozess der Industrialisierung und der damit verbundenen gesellschaftlichen Wandlugnen »ich-schwächer« und »suizidgeneigter« werden. Gemäß seinem Verständnis der Gesellschaft fragt Durkheim insofern, ob nicht vorwiegend soziale Ursachen für die Suizidentscheidung des Einzelnen vorliegen. Entsprechend dieser Ausgangsfrage untersucht er zunächst die Fragen nach organischen, psychologischen, klimatisch-kosmischen und nachahmungsbedingten Ursachen. Die Ergebnisse dieser Abschnitte seiner Studie sind im Sinne seines Nachweises der sozialen Begründung der individuellen Suizidentscheidung 322 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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allerdings vorhersehbar, wenn sie auch nicht unbedingt an allen Stellen zu überzeugen vermögen. Durkheim hält fest: »Wir haben nämlich festgestellt, dass jede soziale Gruppe ihre spezifische Tendenz zum Selbstmord hat, für die es weder in der organisch-psychischen Verfassung der Individuen noch in der Beschaffenheit ihrer physischen Umwelt eine Erklärung gibt. Daraus folgt, dass diese Neigung (zum Suizid J. S.) notwendigerweise von sozialen Ursachen abhängt und selbst eine Kollektiverscheinung darstellt.« (Durkheim 1983, S. 153) Nachdem er nun derart den Nachweis geführt zu haben glaubt, dass einzig soziale – wir würden heute wohl eher sagen: interpersonale – Ursachen zur Suizidentscheidung des Einzelnen führen können, stellt sich für ihn die Frage nach deren Verständnis. Damit ist Durkheim bei seinem eigentlichen Thema angekommen, wobei er drei verschiedene Typen der suizidalen Erfahrung entsprechend seines Verständnisses von Individuum und Gesellschaft unterscheidet: den »altruistischen«, den »egoistischen« und den »anomischen« Suizid. Betrachten wir Durkheims Ordnung folgend zunächst den »altruistischen Selbstmord«. Der »altruistische Selbstmord« meint nach Durkheim solche Todesfälle, in denen der Einzelne so intensiv in eine bestimmte Gesellschaft oder Gruppe verstrickt ist, dass er der Ordnung folgend sich bewusst für diese Sozialität opfert (S. 242 ff.). Die soziale Ordnung kann nun dabei entweder den Suizid des Einzelnen fordern oder aber dem Einzelnen zur »freien« Verfügung stellen. Dabei kann Durkheim unter den Voraussetzungen seines Verständnisses von Sozialität durchaus nachvollziehbar ausführen, dass auch alle christlichen Märtyrer als »alturistische« Suizidanten verstanden werden müssten. Dies gilt nach Durkheim ungeachtet der Geißelung des Suizids als Sünde, wie es in der christlichen Religion explizit erfolgt sei. »Wenn sie sich nicht mit ihren eigenen Händen den Tod gaben, dann suchten sie ihn doch mit aller Gewalt und verhielten sich so, dass er unvermeidbar wurde.« (S. 255) Für Durkheim stellt sich an diesem Punkt aber eben nicht die Frage nach der Transzendenz, der Religion oder dem christologischen Sinn des menschlichen Daseins. Es stellt sich ihm auch nicht die Frage, ob ausgehend von einem christlichen Selbstverständnis ein ganz anderes Verständnis des christlichen Opfertodes geboten sein könnte. Sondern für ihn stellt sich im Hinblick der christlichen Sozialität die deskriptiv zu fassende Frage nach den Kollektiverscheinungen, wobei ihm eben auch der Glaube an den christlichen Gott als Kollektiverscheinung einer bestimmten sozialen Gruppe gilt. Wenn sich folglich 323 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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alle »Märtyrer« für diese eine kollektive Erscheinung das Leben genommen haben oder mehr oder weniger freiwillig nehmen ließen, dann geht es nach Durkheim eben nicht um das nachvollziehende Verständnis der Erfahrung des Märtyrers, sondern es geht schlicht um den deskriptiv zu erfassenden kollektiven Charakter. Folglich kann Durkheim zu der Überzeugung gelangen, dass es die übermäßige Verstrickung des Einzelnen in seine Sozialität ist, die hier als Basis und Begründung für den »altruistischen Selbstmord« verstanden werden kann. In vergleichbarer Weise zeigen sich Durkheim auch »rituelle Suizide« als »altruistische Selbstmorde« (S. 256 ff.). In dieser These stützt er sich insbesondere auf eine detaillierte Betrachtung des »Offiziersselbstmords« in der zeitgenössischen Armee. Hierbei gilt es, sich das Leben zu nehmen, um sich dadurch vor einem vermeintlichen Ehrverlust zu bewahren bzw. die eigene Ehre im Akt des »Opfers« für den Offiziersstand wieder herzustellen. Durkheims These ist auch hier, dass die zu enge Einbindung des Soldaten in die soziale Ordnung seines soldatischen bzw. ritterlichen Standes ihn zum Suizid geradezu verpflichtet. Betrachten wir Durkheims Verständnis des »altruistischen Selbstmords« genauer, so stellt sich die Frage, inwiefern es tatsächlich unwichtig sein kann, für was sich jemand opfert oder auch für was jemand geopfert wird. Wir hatten diese Frage auch für die Aufklärung bereits aufgegriffen und festgehalten, dass es einzig die Vernunft sein könnte, für die es sich gemäß der Aufklärung zu opfern lohnt. Ein Opfer für ein Kollektiv erscheint so verstanden tatsächlich wenig sinnvoll. Wie aber verhält es sich mit bestimmten Anwärtern aus Durkheims Zeit, wie beispielsweise dem Nationalstaat? Könnte es nicht wiederum geradezu vernünftig sein, sich für das eigene Kollektiv, den eigenen Nationalstaat im Stile der Iphigenie zu opfern? Diese Frage nimmt Durkheim erstaunlicherweise nicht gesondert auf, vielmehr versteht sich für ihn der »altruistisch« suizidale Mensch ganz generell als der gesellschaftlich Irregeleitete, der von seiner Sozialität derart beherrscht wird, dass diese Beherrschung durch die Sozialität wiederum seine Irrationalität der Handlung – also seine Neigung zum Selbstmord – verständlich macht (S. 272). Durkheim zeigt eher deskriptiv als wertend, dass es einen gesellschaftlichen Zwang gibt, dem der Einzelne bei übermäßiger Verstrickung nicht mehr auszuweichen vermag und vielleicht – im Stile einer gesellschaftlich bedingten Selbsttäuschung – auch gar nicht mehr auszuweichen wünscht. Der soziale Zwang, den Durkheim hier 324 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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konstatiert, sollte nicht dazu verleiten, Durkheim in dem Sinne misszuverstehen, dass für ihn jegliche Sozialität irrational sei. Vielmehr müssen wir Durkheim so verstehen, dass im Idealfall eine ausgewogene Balance von Individualität und Sozialität herrscht, in der altruistisches Verhalten aus freien Stücken durchaus möglich ist. Die Irrationalität des Suizids begründet sich bei Durkheim also nicht aus der übermäßigen Verstrickung, sondern aus einem »moralischen« Grund, der jeglichen Suizid als unmoralisch behauptet, aber (als moralischer Grund) eben außerhalb des soziologisch-deskriptiven Zugriffs liegt. Diese Unterscheidung ist dabei keineswegs unproblematisch, da sich die Frage stellt, woher diese moralischen Wertungen kommen, ob sie nicht ihrerseits kulturell-gesellschaftlichen Ursprungs sind und ob nicht jede Gesellschaftsform Opfer verlangt, wenn sie auch nicht unbedingt gleich in den Tod führen müssen. Wir werden sehen, dass wir dieser Schwierigkeit erneut begegnen, wenn wir uns mit Durkheims zweitem Typus, dem »egoistischen Selbstmord« beschäftigen. Der »egoistische Selbstmord« versteht sich nach Durkheim als eine Art Gegenmodell zum »altruistischen Selbstmord«. Hier ist es die fehlende soziale Einbindung, welche zur Ursache der Suizidentscheidung wird. Beispielsweise suizidiert sich gemäß Durkheims Modell ein aufgeklärter Gelehrter als kinderloser Witwer, da er zu wenig sozial eingebunden ist (S. 186 ff.). Der »egoistische Selbstmord« versteht sich insofern für Durkheim als die Folge des »Individualismus«, welcher in Durkheims Verständnis ganz wesentlich daran leidet, dass er nur für sich selbst existiert (S. 233). Was ist hiermit gemeint? Durkheim ist allerdings der Ansicht, dass der Mensch eines übergeordneten Zieles bedarf, welches gemeinhin in der Überdauerung des eigenen Lebens gefunden werden könne (S. 234). Die durch Schopenhauer und Nietzsche intensiv ausgetragene Debatte nach dem »metaphyischen Sinn des eigene Daseins« greift Durkheim nun in einer geschickten, in sich schlüssigen Wende ebenfalls mit seiner soziologischen Methode auf. Dabei zeigt sich für ihn, dass der entscheidende Punkt an diesem Überdauernden das Kollektive ist: »In der Tatsache selbst, dass die höheren Formen des menschlichen Tuns kollektiven Ursprungs sind, liegt die Begründung dafür, dass auch ihr Ziel ein kollektives ist.« (S. 236) Der »metaphysische Sinn des Daseins« ist für Durkheim also das Kollektiv bzw. die Sozialität, in welche der einzelne Mensch eingebunden ist. Jedoch stellt sich mit dieser Bestimmung eine gewisse Verwirrung 325 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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hinsichtlich Durkheims Typologie der Suizide ein. Nehmen wir Durkheim an dieser Stelle konsequent ernst und beziehen sein Verständnis des Kollektiven als den metaphysischen Sinn auf den »altruistisch suizidalen Menschen«, so werden wir paradoxerweise genötigt, diesen Suizid als die umfassendste Vollendung des menschlichen Lebens zu begreifen. Hatte uns Durkheim beim »altruistischen Selbstmord« initial mit dem Argument des Individuellen verlockt und angemahnt, sich nicht zu sehr im Kollektiven zu verstricken, opfert sich nun plötzlich der »altruistisch suizidale Mensch« für das Ganze, als welches wir nunmehr das Kollektiv – und zwar genauer: die Idee des Kollektiven – zu verstehen haben. Denn, und darin nun liegt die perfide Widersprüchlichkeit des durkheimschen Verständnisses, der »altruistisch suizidale Mensch« der Moderne würde sich ja tatsächlich für die Idee des Kollektiven opfern, beispielsweise für seine Familie, der er sich nurmehr eine Last zu sein wähnt. So verstanden wäre jeglicher »altruistischer« Suizid vernünftig, eine innermoralische, wert-normative Diskussion würde letztlich entfallen – denn alle Formen der Beziehungen erschienen plötzlich gleichwertig hinsichtlich ihrer sinnstiftenden Qualitäten – und wir müssten mit Nietzsche festhalten, dass der »freie Tod« immer dann gewollt wird, wenn man »Ziel und Erben« hat. Ganz offenbar reicht die Annahme, dass der Mensch gewissermaßen »von Natur aus« auf Sozialität hin angelegt ist, nicht aus, um diese Schwierigkeit in Durkheims Typologie zu entschärfen. Vielmehr bedarf es einer qualitativen Unterscheidung persönlicher Beziehungen. Mit den Worten Martin Bubers (1878–1965) formuliert, verbleibt das durkheimsche Verständnis von Bezogenheit im Grundwort »Ich-Es«, ist vermittelt und mit Georg Simmel als Wechselwirkung beschreibbar. Wechselwirkung bedeutet dabei nach Simmel, dass ein Individuum das andere Individuum beeinflusst und dass diese Beeinflussung wiederum weitere gegenseitige Veränderungen der Individuen nach sich zieht. In diesem Spiel bilden die Wechselwirkungen die Formen für die individuellen Bestrebungen, Erwartungen und Neigungen, welche je nach der sozialen Einheit unterschiedlich ausfallen. Dabei bringen diese Wechselwirkungen letztlich eine »überpersönliche« Einheit hervor, die als Gruppe, Kreis oder auch Gesellschaft erscheinen können (Simmel 1992 Bd. 11, S. 237). Mit Buber ist hingegen zu argumentieren, dass Interaktion die Begegnung schon immer voraussetzt. Begegnung im buberschen Sinn ist unmittelbar und kann gerade nicht in einem Hin- und Herwirken von etwas zwischen zwei bereits gegebenen Per326 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sonen verstanden werden. »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. […] Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.« (Buber 1965, S. 15 f.) Diese Argumentation greift die Idee von Feuerbach auf, nach welchem die Interpersonalität primär und vor aller Differenzierung in mich und den Anderen in einem gemeinsamen, aber keineswegs ungeschiedenen Sinne gegebenen ist. Dabei weist die Bezogenheit auch für Buber eine präreflexive Qualität auf, eine präepistemische Gewissheit, welche reflexiv – und das meint hier ja insbesondere auch durch das Gespräch – niemals vollkommen bestimmt werden kann. Diese präepistemische Gewissheit ist die unmittelbar gespürte Begegnung, das »Ich und Du«. Der sich im Alltag immer wieder vollziehende Übertritt aus der »Duwelt« (Buber) in die »Eswelt« (Buber) bedeutet zwar eine Entfremdung zwischen den Menschen, sie ist aber in vielen Situationen auch notwendig und zudem umkehrbar, da die Begegnungsdimension eben nicht verloren geht, sondern »latent« als tiefere Dimension der aktuellen Interpersonalbeziehung gegeben bleibt. »Jede wirkliche Beziehung in der Welt vollzieht sich im Wechsel von Aktualität und Latenz, jedes geeinzelte Du muß sich zum Es verpuppen, um wieder neu sich zu beflügeln. In der reinen Beziehung aber ist die Latenz nur das Atemholen der Aktualität, darin das Du präsent bleibt. Das ewige Du ist es seinem Wesen nach; nur unser Wesen nötigt uns, es in die Eswelt und Esrede zu ziehen.« (S. 101) Mit Buber könnte also argumentiert werden, dass es sowohl im altruistischen Suizid als auch im egoistischen Suizid jeweils um Begegnungen im buberschen Sinne geht: das eine Mal als Opfer für eine solche Interpersonalität, das andere Mal als verspürter Mangel von einer solchen Interpersonalität. Allerdings ist diese durchaus naheliegende Auflösung im Stile von Buber mit Durkheims Konzept nicht wirklich zu leisten, obwohl er mit seinem Konzept der »Anomie« scheinbar sehr nahe an diese bubersche Auflösung herankommt. Durkheim war nämlich durchaus ein engagierter Kulturkritiker seiner Zeit, wie sich insbesondere an seinem dritten Typus, dem »anomischen Selbstmord« zeigen lässt (Durkheim 1983, S. 273 ff.). In diesem dritten Typus geht es Durkheim denn auch um die Qualität der sozialen Verstrickung. Dabei ist »Anomie« Durkheims Begriff und Konzept für diejenige soziale Krise, in welcher sich für ihn seine Gesellschaft befindet und die das Selbstverständnis seiner Zeit prägt: Es ist die intensiv erlebte Gefährdung des einzelnen Men327 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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schen im Angesicht der Auflösung traditioneller Kollektive und der Heraufkunft neuer sozialer Ordnungen, wie beispielsweise der Nationalstaaten. »Anomie« ist für Durkheim allerdings ein zunächst wertfreier, deskriptiv-soziologischer Begriff, der eine tiefgreifende »Störung der sozialen Ordnung« benennt, die sich gewissermaßen gesetzesartig in bestimmten Phasen gesellschaftlicher Umbrüche und Umwälzungen ereignet. Im Besonderen begründet die »Anomie« aber für Durkheim auch den Zusammenhang zwischen der gestiegenen Suizidrate und der wirtschaftlichen Krise, den er für seine Zeit empirisch nachzuweisen meint. Zudem verweist Durkheim darauf, dass der Mensch als primär soziales Wesen in einem fundamental lebensrettenden Sinn auf Beziehungen angewiesen ist, in denen das »Ich und Du« unmittelbar erlebt werden kann. Diese Angewiesenheit gilt sowohl in gefühlshafter als auch sinnstiftender Hinsicht und hat sich, so könnte Durkheim weiterinterpretiert werden, insbesondere im Gefolge der kantianisch-radikalen Infragestellung anderweitig versicherbarer Teleologie ergeben. Sicherlich ist aus heutiger rückblickender Sicht die höhere Suizidrate am Ende des 19. Jahrhunderts nicht als Ausdruck fundamentaler kulturell-gesellschaftlicher Wandlungen aufgrund der zunehmenden Individualisierung zu verstehen, sondern kann vielmehr als die Zunahme der Suizidrate einer spezifischen Kohorte in der Mitte des 18. Jahrhunderts geborener Menschen begriffen werden (Ajdacic-Gross 1999, S. 167). Freilich ist im Hinblick einer solchen sozialempirischen Frage anzumerken, dass es generell als schwierig gilt, zwischen kurzfristigen – v. a. kohortengebundenen – und langfristigen Schwankungen zu unterscheiden (Firebaugh 1980). Dennoch aber ist Durkheims Argument, dass ein weitgehend konfliktfreies Eingebundensein in eine sinnstiftend erlebte Sozialität – beispielsweise eine Familie – mit einer verringerten Häufigkeit von suizidalen Krisen und Suiziden einhergeht, auch aus heutiger Sicht zutreffend, wie dies insbesondere David Lester und Antoon Leenaars nachgewiesen haben (Leenaars/Lester 1998 u. 1999; Lester/Yang 1998, S. 134 ff.; Lester 1994b). Dies gilt speziell auch für die Geburtenrate, welche negativ mit der Suizidrate korreliert (Lester 1996a), sowie die Scheidungsrate, die in den meisten westlich-zivilisierten Ländern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts positiv mit der Suizidrate korreliert (in der Schweiz und auch einigen anderen Ländern konnte hingegen eine negative Korrelation gezeigt werden) (Ajdacic-Gross 1999, S. 168; Lester/Yang 1998, S. 134; Zimmerman 328 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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1995; Lester 1996a). Insgesamt deutet dies darauf hin, dass Durkheims Konzept der »Anomie« mit einigen Reformulierungen in das moderne suizidologische Verständnis der suizidalen Erfahrung aufgenommen werden könnte. Durkheim selbst beschreibt den Zusammenhang von »Anomie« und Suizidneigung nüchterner: »Jedesmal wenn es im sozialen Körper tiefgreifende Umstellungen gibt, sei es infolge plötzlichen Wachstums oder nach unerwarteten Erschütterungen, gibt der Mensch der Versuchung zum Selbstmord leichter nach.« (Durkheim 1983, S. 279) Dieser Zusammenhang versteht sich, da die »Orientierung der Bedürfnisse«, wie sie beim einzelnen Menschen sozialisiert sind, im Falle von wirtschaftlichen Krisen nicht mehr am dann erheblich veränderten sozialen Modell gelingt. Wir können uns diese These Durkheims wie einen »Nachhink-Effekt« der Bedürfnisse, wie eine »Trägheit« der »Masse der Bedürfnisse« vorstellen. Durkheims geht davon aus, dass die Bedürfnisse des Einzelnen in einer solchen Situation (»Anomie«) unersättlich werden, da die Gesellschaft diese entsprechend nicht mehr sinnvoll zu disziplinieren vermag, wenn sie sie nicht mehr befriedigen kann (S. 289). Diese Unersättlichkeit und die fehlende soziale Orientierung der Bedürfnisse versteht Durkheim genau als den Zustand der »Anomie«. Dabei scheint für die »Anomie« das folgende Bild zu gelten: Während sich die Angebotsoptionen zur Bedürfnisbefriedigung schon infolge wirtschaftlicher Ereignisse grundlegend gewandelt haben (»neue Produkte«, »neue Beziehungsformen«), hinken die Bedürfnisse der Menschen in träghafter Weise hinterher – die Bedürfnisse laufen ins Leere, da es dasjenige, worauf sie gerichtet sind, schon gar nicht mehr gibt. Etwas übertrieben gesprochen, wird der Mensch in ständig rückwärtsgewandter »Früher war alles besser«-Haltung permanent durch seine potentiell unstillbaren Bedürfnisse auf den »Markt« getrieben und vom »Marktangebot« enttäuscht. Die wesenhafte Ausstattung des Menschen wird dabei als in vorzüglichem Sinne auch an Beziehungen orientiert verstanden und gilt hierbei als mit einer potentiell triebhaften und unstillbaren Qualität versehen. In Durkheims Modell wird also ein »starkes Ich« durch stabile und sinnstiftend erlebte Beziehungen in seiner notwendigen Disziplinierung von triebhaft-unersättlichen Bedürfnissen unterstützt. Dieses Modell trifft im Grundsatz auch auf den »anomischen Selbstmord« zu, so wie Durkheim ihn versteht. Denn dieser findet statt, wenn die von sozialen Disziplinierungen freigesetzten Bedürfnis329 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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se nicht mehr befriedigt werden können und damit die »Rückschläge und Krisen« des Einzelnen häufiger werden (S. 294). Insbesondere fehlt dem betreffenden Menschen der soziale Überbau, der als überdauerndes Ganzes angemessen sinnvermittelnd wirksam ist. Durkheims Verständnis der »Anomie« und die hieraus resultierende Neigung zum Suizid beschreibt in modellhafter Weise also ein in der Phase der Industrialisierung vielfältig beobachtbares Phänomen, in welchem individuelle Bedürfnisse und kollektive Erfordernisse infolge eines radikalen Verlusts traditioneller Bindungen durchaus weit auseinander treten, ja geradezu opponieren können. Durkheim bietet mit seinem Konzept der »Anomie« zudem ein Verständnis einer qualitativ zu verstehenden, besonderen Art und Weise der Verstrickung in der eigenen Sozialität. Dabei versteht er die »Anomie« in der industrialisierten Wirtschaft eben gerade als einen »Dauerzustand«, so dass sich die Kollektive gewissermaßen in einer Art von persönlicher, interpersonaler und metaphysischer Dauerkrise befinden, in welcher die fehlende sattsame Befriedigung aller Bedürfnisse sozusagen zur Normalität wird. Durkheim ordnet sich damit in den zeitgenössischen Topos des Gegensatzes zwischen einem »starken Ich« und einer »inneren Natur« insofern ein, als er die Angewiesenheit des »starken Ich« auf eine zweite, »soziale Natur« aufweist und zugleich die Bedrohung des »starken Ich« aus dieser in weiten Teilen unbewussten »sozialen Natur« benennt. Der Zusammenhang zwischen »Anomie« und Suizidentscheidung ist also nicht schlicht kausal, wie Durkheim an einigen Stellen seines Werks suggeriert, sondern die »Anomie« zeigt sich als eine Disposition, welche die Suizidneigung verstärkt. Durkheims Modell kann folglich auf hervorragende Weise an andere zeitgenössische Verständnisse der suizidalen Erfahrung, wie beispielsweise das psychiatrische Verständnis Kraepelins angeschlossen werden. Dabei ergibt sich die folgende Reformulierung des medizinisch-psychiatrischen Verständnisses der suizidalen Verfassung: a) Der Suizid ist nicht die bewusst absichtliche Entscheidung gemäß vernünftiger Überlegung, sondern eine durch ein »schwaches Ich« getroffene Entscheidung unter dem zunehmenden Druck einer inneren Suizidneigung, welche insbesondere durch unersättliches Leerlaufen der Bedürfnisse nach kollektivem Eingebundensein und hiermit einhergehendem Sinnverlust und entsprechender »Schwächung des Ich« entsteht (»Anomie«; ausnahmsweise kann aber auch das Kollektiv den Suizid einfordern). Die Suizid330 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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entscheidung wird von diesem »anomischen Zustand« provoziert und nicht von einem vernünftigen Ich getroffen. b) Der im »anomischen Zustand« beschlossene und vollzogene Suizid setzt deshalb den Suizidenten von den kulturell üblichen Bewertungsmaßstäben, die in der arbeitsteilig-modernen Kultur an die Verantwortlichkeit einer Person gestellt werden, hinsichtlich seiner Suizidtat weitgehend frei. Abschließend ist aber zu erwähnen, dass Durkheims Verständnis auch politisch gedacht ist. Denn ausgehend von dem übernommenen, staatstragenden Verständnis des Suizids als »unmoralisch« (im Sinne von kollektiv unerlaubt) fordert Durkheim den einzelnen Menschen auf, seine »ideale Humanität« freizusetzen. Diese besteht für ihn darin, dass der Mensch der Diener des Lebens ist (S. 395). Für Durkheim findet der Mensch einen Lebenssinn, indem er sich auf vernünftige und dienliche Weise in die Gesellschaft einlässt. Ohne eigens die Frage zu reflektieren, woher die Maßstäbe einer solchen Einschätzung als vernünftig folgen, hebt er die »vernünftige Ehe« mit Kindern und die dezentralisierte Arbeitsstruktur besonders hervor (S. 465). Damit reiht sich Durkheim – unter Einbeziehung der erst durch die Sozialität vermittelten Sinndimension für den einzelnen Menschen – in die Reihe der »staatstragenden Theoretiker der Selbsterhaltung« ein und weist die »soziale Natur« als ebenso notwendig wie gefährlich, als ebenso unbewusst wie vernünftig erkennbar nach wie die »innere Natur«. Er zeigt aber indirekt auch, dass die Frage nach dem »Wozu« des Lebens von fundamentaler Bedeutung für ein Verständnis der suizidalen Erfahrung ist. Denn es ist ja letztlich der Verlust von sinnstiftenden Beziehungen (Ich-Du) in der »Anomie«, der die suizidale Krise auslöst. Infolge seiner soziologischen Wende wird aber auch bei Durkheim (allerdings unbemerkt) die Frage nach dem »Wozu des Lebens« zu einer Frage nach dem »Wie des Lebens«, bietet doch für ihn nurmehr das Kollektiv, die eigene lebendige Sozialität, noch einen überpersönlicher Sinn an, nachdem dem einzelnen Menschen mit der Real-Entwicklung eines göttlichen, transzendenten Wesens zugleich der (individuelle) metaphysische Sinnstifter verloren gegangen ist.

3.14. Sigmund Freud Sigmund Freud (1856–1939) kann trotz vielfältiger anderer Wegbereiter als der »Gründungsvater« des heutigen psychodynamischen Ver331 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ständnisses des menschlichen »Seelenlebens« begriffen werden. Dabei ist es weitgehend unstrittig, dass Freud mit seinen Überlegungen weitreichenden kulturellen Einfluss hatte und auch aktuell noch hat. Wesentlich für sein Verständnis ist dabei die Konzeption des Unbewussten, welches wir bereits in einigen vorlaufenden Gestaltungen bei Carl Gustav Carus und Eduard von Hartmann kennengelernt hatten. Insgesamt knüpft Freud damit auch an die vom Boden der Aufklärung sich abstoßende Bewegung der aufklärenden Erkenntnis über die »innere Natur« an. Sigmund Freud wird am 06. Mai 1856 in Freiberg in Mähren geboren und wächst, nach einem kurzen Zwischenstopp 1859 in Leipzig, in Wien auf. 1873 beginnt er das Studium der Medizin und ist initial (neuro-)physiologisch orientiert. Durch verschiedene Anregungen und Einflüsse wie u. a. einen Studienaufenthalt bei Jean-Martin Charcot und seine intensiven Kontakte mit Josef Breuer (1842–1925), wendet sich Freud zunehmend der aufklärend-nüchternen Erforschung des Unbewussten zu, welches er als wesentlich für eine ganze Reihe von Erkrankungen ansieht. 1895 veröffentlichen Josef Breuer und Freud die »Studien über Hysterie«, welche in einem epochalen Sinne der Startschuss für die weitere, vorwiegend von Freud in seinen Schriften zur »Traumdeutung« (1899/1900), »Zur Psychopathologie des Alltagslebens« (1901), »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten« (1905) und die »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905) betriebene Weiterentwicklung der Psychoanalyse sind. Die zunächst noch lokal in Wien beheimatete Bewegung gewinnt schnell eine europäische Dimension. Bereits 1908 findet ein erster Internationaler Psychoanalysekongress in Salzburg statt, es folgen Gründungen von internationalen psychoanalytischen Vereinigungen und schließlich auch Zeitschriften, welche fürderhin den Rahmen für die weitere Ausbreitung der psychoanalytischen Bewegung bereitstellen. Freud ist spätestens in den 20er Jahren zu einer weltweiten Berühmtheit geworden. Persönlich leidet er jedoch seit 1922 an Gaumenkrebs, so dass ihm 1923 der rechte Oberkiefer und Gaumen operativ entfernt und eine Prothese eingesetzt werden muss. Dennoch publiziert Freud gerade in diesen Jahren eine Fülle bedeutender psychoanalytischer Schriften. Am 04. Juni 1938 verlässt Freud nach längerem Zögern vor dem Hintergrund des Hitler-Einmarsches seine langjährige Heimatstadt Wien und geht, vermittelt durch einflussreiche Bekannte und Schüler, ins Londoner Exil. Nachdem sich seine Krebserkrankung immer weiter 332 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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verschlimmert, er letztlich kaum mehr reden kann und körperlich geschwächt ist – im Verlauf der Jahre werden insgesamt dreiunddreißig unterschiedlich schwere Operationen infolge der Krebserkrankung durchgeführt – stirbt Freud am 23. September 1939 durch eine von ihm gewünschte Überdosis Morphin (Schur 1973, S. 621). Eine erste Erwähnung findet das Thema der suizidalen Erfahrung in Freuds Schrift »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, in welcher er im Kapitel über »Das Vergreifen« auch über »halb absichtliche Selbstvernichtung – mit unbewußter Absicht« sinniert (Freud 1973, S. 200). Mit diesem, wie Freud meint, »ungeschickten Ausdruck«, erfasst er das »anscheinend zufällige Verunglücken«, welches ihm jedoch beim genaueren psychologischen Analysieren als »unbewußt zugelassener Selbstmord«, als eine Handlung gemäß einer »unbewußten und unterdrückten Tendenz« erscheint (S. 200 f.). Die rückblickende interpretatorische Sinnstiftung unglücklicher Zufälle bzw. lebensgefährlicher Unfälle als umwegige Verwirklichung von Suizidabsichten, die der Person selbst unbekannt sind – da sie diese beispielsweise nicht mit ihrem eigenen Wertekorsett in Einklang bringen kann und insofern »verdrängt« – ist ohne Zweifel hellsichtig, wenn auch mit der Gefahr der Überinterpretation verbunden. Denn sicherlich geht es doch zuweit, wenn nun wirklich jeder tödliche Unfall auf »unbewusste Suizidabsichten« zurückgeführt werden sollte. Jedoch verweist diese Überlegung Freuds auf den wichtigen Umstand, dass die schlichte (kognitive) Verleugnung eigener suizidaler Ideen, Phantasien oder Impulse die eigene suizidale Erfahrung nicht aufhebt oder beseitigt. Denn, wie wir aus heutiger Sicht anfügen würden, es bleiben nicht nur die tieferen Beweggründe der suizidalen Verfassung bestehen, sondern, wie Freud hier argumentiert, die »unbewussten Suizidabsichten« streben ihrerseits nach Ausdruck und Umsetzung im konkreten Verhalten der betreffenden Person. Dennoch bleibt festzuhalten, dass diese Überlegungen nicht darüber aufklären, wie es denn nun zu solchen »unbewussten«, aber gerade auch zu bewussten Suizidabsichten kommt. Wesentlich umfangreicher äußert sich Freud zur suizidalen Erfahrung in seiner 1915 verfassten Schrift »Trauer und Melancholie« (veröfftlicht 1917, Freud 1974a), in der er von einem psychodynamischen Modell der Melancholie ausgehend ein Verständnis der suizidalen Verfassung entwirft. Dabei zielt er auf eine genauere Aufklärung des bipolaren Modells, welches wir vor allem bei Reil, Griesinger und Kraepelin kennengelernt hatten. Entscheidend ist für Freud die relative 333 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Autonomie und unvollständige Verfügbarkeit dessen, was im Unbewussten des Menschen geschieht, wobei er ein weitaus geringeres, fast schon in schopenhauerscher Weise pessimistisches Vertrauen in die »Stärke« des Ich aufzubringen vermag, als beispielsweise Emil Kraepelin. Vielleicht ist es auch diese Unsicherheit, die ihn anspornt, die präreflexiven Voraussetzungen dieser »Stärke« weitaus genauer in den Blick zu nehmen als seine tiefenphilosophischen und psychiatrischen Vorläufer. Jedenfalls gelingt ihm hierdurch zugleich ein klarsichtiges Verständnis der Selbsttäuschung, die er als förmlich unumgänglich für den Menschen erkennt, auch wenn er mit seiner therapeutisch orientierten Psychoanalyse bei sich, anderen Menschen und der Kultur daran arbeitet, immer wieder ein wenig »Herr im eigenen Hause« zu werden. Unter Melancholie, welches in unserer heutigen Terminologie wohl am ehesten als Depression zu verstehen wäre, versteht Freud in seiner Schrift eine »narzisstische Identifizierung« mit einem enttäuschenden »Objekt«. Die geliebte Person (»Objekt«), so Freud, kann jedoch trotz aller Kränkung und Enttäuschung nicht aufgegeben werden, da sie eben für den Sinn des eigenen Daseins erforderlich ist. Sie ist der entscheidende »Selbstwert« und insofern dasjenige, was einen für sich selbst liebenswert macht – genau dies bezeichnet für Freud den narzisstischen Charakter der Bezogenheit. Bei wiederholter Kränkung geschieht nun Folgendes: »Der Erfolg (der Kränkung J. S.) war nicht der normale einer Abziehung der Libido von diesem Objekt und Verschiebung derselben auf ein neues (dieses Abziehen und Verschieben entspricht Freuds Trauermodell J. S.), sondern […] die freie Libido […] (wird) ins Ich zurückgezogen […] (und) diente dazu, eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen […]. Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich.« (S. 202 f.) Die Kränkung durch die geliebte Person wird also, Freud folgend, in die »innere Natur« hineinverlagert, verliert dabei ihren bewusst erkennbaren Zusammenhang mit der geliebten Person und findet sich nun als ein »innerer Konflikt« wieder. So kann die geliebte Person weiterhin in vollem Bewusstsein und ohne Abstriche, Kritik oder Zurückweisung geliebt werden – obwohl sie einen real gekränkt und enttäuscht hat –, und der Betreffende zugleich über sich selbst enttäuscht ist, ohne sich selbst wirklich enttäuscht zu haben. 334 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

Etwas pointiert gesprochen gilt für Freud, dass die für die Selbstliebe erforderliche andere Person in ihrer Idealität geschützt wird, indem man sich selbst noch weniger liebenswert findet. Eine allerdings fatale Konstellation. Freud bringt diesen »internen« Zusammenhang mit den Begriffen des »Ich« – womit er im Wesentlichen den Standpunkt des sich bewusst erlebenden Akteurs und Autors meint, im hier genutzten Sprachgebrauch also am ehesten »das« Selbst – und der »Ichkritik« zum Ausdruck, wobei er unter der »Ichkritik« wiederum das Gewissen versteht, welches für ihn eine eigene »psychische Instanz« des Menschen ist. Der »Ichverlust«, von dem Freud in der Depression spricht, meint aus seiner Sicht demnach auch eine »Hemmung und Einschränkung« des »Ich« in seinen Funktionen, womit er nun wiederum die vom Akteur oder Autor ausgehenden, bei sich selbst lokalisierten und (selbst-)bewusst einsetzbaren Denk- und Handlungsoptionen meint (S. 198). An dieses Verständnis der »narzisstischen Identifizierung« schließt Freud sein Verständnis der Aggression an. Aggression versteht Freud nun wiederum als Ausdruck eines menschlichen Triebes, der im Normalfall auf gehasste Objekte gerichtet wird. In diesem speziellen Fall der »narzisstischen Identifizierung« ist das gehasste Objekt ein (unbewusster) Aspekt der eigenen Person. Etwas vorgreifend, um hier die schwierige Modellkonstruktion Freuds besser zu verstehen, sei auf seine 1924 veröffentlichte Schrift »Das ökonomische Problem des Masochismus« (Freud 1974b) verwiesen, in der er die Ausrichtung des Aggressionstriebes – den er in der Zwischenzeit der hier genannten Schriften als »Todestrieb« mit seinem destruktiven und auflösenden Charakter begriffen hatte – zugleich als Folge einer »Triebunterdrückung« versteht. Hierbei spielt folglich auch die kulturelle (sozialisierte) »Triebunterdrückung« eine Rolle, da diese »einen großen Teil der destruktiven Triebkomponenten der Person von der Verwendung abhält« (S. 353). Das wiederum entspricht, dem freudschen Verständnis gemäß, einem intensiven Über-Ich (Gewissen, »Ichkritik«). Ein solcherart intensives (strenges) Gewissen ist insbesondere auch beim Depressiven ausgebildet, wie Freud bereits in »Trauer und Melancholie« ausführt, so dass von daher beim Depressiven im freudschen Modell eine erhebliche Dynamik besteht, die destruktiven Triebkomponenten auf Aspekte des eigenen »Ich« – hier nun wieder eher im Sinne »des« Selbst zu verstehen – auszurichten. Freuds Verständnis der suizidalen Erfahrung nimmt nun seinen 335 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

Ausgang bei seinem hier skizzierten Verständnis der Depression. Freud deutet dieses Sich-Selbst-Niederschlagen in der Depression als Ausdruck aggressiver Impulse gegen das verlorene »Objekt«, welches aber – im Sinne der »narzisstischen Identifizierung« – Aspekt der eigenen Person geworden ist (Freud 1974a, S. 204 f.). In diesem Sinne versteht sich für Freud auch die suizidale Erfahrung des depressiven Menschen. »Nun lehrt uns die Analyse der Melancholie, dass das Ich sich nur töten kann, wenn es durch die Rückkehr der Objektbesetzung sich selbst wie ein Objekt behandeln kann, wenn es die Feindseligkeit gegen sich richten darf, die einem Objekt gilt und die die ursprüngliche Reaktion des Ichs gegen Objekte der Außenwelt vertritt.« (S. 206) Damit haben wir den entscheidenden Gedanken Freuds zum Verständnis der suizidalen Verfassung benannt. Er enthält in sich drei Argumente: a) Um etwas töten bzw. destruieren zu wollen, muss man dieses »etwas« abweisen, hassen oder verachten; b) Um sich selbst töten zu können, muss man sich seiner selbst entfremden (sich »wie ein Objekt behandeln«); c) Um sich selbst töten zu wollen, muss dieses (verachtete) Fremde ein (wesentlicher) Bestandteil der eigenen Person sein. Diesen Zusammenhang bringt der wiederholt an Depressionen leidende Schweizer Schiftsteller Hermann Burger (1942–1989) in seinem »Tractatus logico-suicidalis« in folgendem Satz auf den Punkt: »Könnte ich meine Krankheit in mir erschießen, ohne den Rest zu opfern, ich nähme sofort einen Schützenkurs.« (Burger 1988, S. 433) Freuds Modell beschreibt, dass sich im Suizid aggressive Impulse gegen das eigene »Ich« richten, wobei die Ausrichtung dieser Impulse erst infolge der »narzisstischen Identifizierung« überhaupt in dieser Konsequenz und Intensität möglich ist. Denn, wie wir bereits ausgeführt hatten, für Freud ist das identifizierte »Objekt« ja gerade in einer Art von »Verinnerlichung« und »Spurenverwischung« zum Aspekt der eigenen Person geworden. Insofern bezeichnet Freud folgerichtig diese Art und Weise von Aggression als Autoaggression (Selbstaggression). Rückblickend auf Freuds Ausführungen zum unbewusst herbeigeführten (»halb absichtlichen«) Suizid wird deutlich, dass ihm bereits in seiner ersten psychoanalytischen Beschäftigung mit dem Thema gerade der Umstand rätselhaft erschien, dass der Mensch tatsächlich beabsichtigen kann, sich selbst zu töten. Das intrapsychische Versteckspiel, welches sich für Freud in der suizidalen Erfahrung ereignet, geht im Falle der »unbewussten Suizidabsicht« noch wesentlich weiter, denn hier ist es dem Menschen nicht nur unbekannt, dass es um ihn selbst geht, son336 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

dern es ist ihm sogar unbekannt, dass es um eine absichtliche Handlung gehen soll. Freuds Modell, dass sich der suizidale Mensch so über etwas Fremdes täuscht, dass es ihm unbewusst zum Eigenen wird und dass er sich dann über dieses Eigene wiederum derart zu täuschen vermag, dass es ihm eigentümlich fremd vorkommt, ist auf den ersten Blick recht überzeugend. Unter der Annahme, dass Freud davon ausgeht, dass der betreffende Mensch sich nicht in dem Sinne als fremd erlebt, wie er ein Stück Holz als fremd erlebt, sondern sich als sich entfremdet erlebt und von daher das Eigene im Entfremdeten noch wahrzunehmen vermag, macht das freudsche Modell verständlich, dass es starker innerer und insbesondere gegen sich selbst widersprüchlicher Antriebe und Motivationen bedarf, um sich selbst das Leben zu nehmen. Aber, so die sofort erforderliche Rückfrage, ist denn der suizidale Mensch wirklich autoaggressiv? Freud ist durchaus dieser Ansicht, wie er bereits in den Jahren bis 1913 in »Totem und Tabu« festhält: »Die Selbstmordimpulse unserer Neurotiker erweisen sich regelmäßig als Selbstbestrafungen für Todeswünsche, die gegen andere gerichtet sind.« (Freud 1974c, S. 437) Jedoch gibt es hierfür zumindest im modernen suizidologischen Wissensinventar wenig Hinweise. Bewusst wahrnehmbare autoaggressive Impulse werden von suizidalen Menschen im direkten Vorfeld des Suizids typischerweise nicht erlebt, es sei denn, dass sie depressiv sind (Kaslow et al. 1998; Lester 1994a; Steinert/Wolfersdorf 1993). So scheint das Konzept der Autoaggression zwar bei depressiven Menschen zuzutreffen, jedoch nicht ausreichend spezifisch für suizidale Verfassungen zu sein (Wolfersdorf/Kiefer 1998). Vielmehr wird der gehasste Aspekt eigenen Selbstseins tatsächlich, ganz so wie Freud es formuliert hat, als ein Fremdes im Eigenen erlebt, gewissermaßen wie ein »Fremdkörper«, der zu einem gehört: »meine Krankheit in mir«. Die betreffende Person würde sich dann modellgemäß eher gegen dieses »Fremde« verteidigen und dabei sich – gewissermaßen als eine Art von »Nebeneffekt« und »Kollateralschaden« – selbst angreifen. Da sich nun der Mensch in der suizidalen Erfahrung offenbar nicht vorwiegend als autoaggressiv erlebt, so ist es im freudschen Modell also der ebenfalls von Freud angeführte Gedanke der Selbst-Entfremdung bzw. weitgehenden Selbsttäuschung, der von besonderer Bedeutung für sein Verständnis der suizidalen Verfassung ist. Denn erst hierdurch kann überhaupt, wie Freud betont, die Fähigkeit entstehen, sich (mehr oder weniger automatisch) selbst zerstören zu wollen. 337 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Obwohl dies schlüssig erscheint, formuliert Freud auch in »Trauer und Melancholie« immer wieder Sätze, die diesem Verständnis seines Modells widerstreiten. So schreibt er: »In den zwei entgegengesetzten Situationen der äußersten Verliebtheit und des Selbstmords wird das Ich, wenn auch auf gänzlich verschiedenen Wegen, vom Objekt überwältigt.« (Freud 1974a, S. 206) Es stellt sich also die Frage, wie Freud dies meint. Meint er tatsächlich, dass der suizidale Mensch in einem so umfassenden Sinn dieser Fremde für sich selbst geworden ist, dass ihm seine frühere Identität nur noch fremd ist und er sich selbst im Sinne einer umfassenden Selbsttäuschung gar nicht mehr wirklich zu erkennen vermag? Wäre es so, so müsste seinem Modell entsprechend das Gewissen, die »Ichkritik«, den Suizid ausführen. In »Das Ich und das Es« (1923) schreibt Freud in dem Abschnitt über »Die Abhängigkeiten des Ich« tatsächlich in genau diesem Sinne, dass »das überstarke ÜberIch, welches das Bewußtsein an sich gerissen hat, gegen das Ich mit schonungsloser Heftigkeit wütet […] und das Ich in den Tod treibt« (Freud 1974d, S. 319 f.) Der suizidale Mensch täuscht sich also im freudschen Verständnis von 1923 bzw. nach der Einführung des Todestriebes tatsächlich in einem so fundamentalen Sinne über sich selbst, dass er aus der Perspektive der »Ichkritik« auf sich selbst blickend gar nicht mehr fähig scheint, seine eigene Identität als eigene wahrzunehmen. Der innere Zwiespalt, an welchem der suizidale Mensch in Freuds frühem Modell leidet, ganz so, wie auch Hermann Burger es formuliert hat, hätte sich dann aber in dem Sinne gelöst, als der suizidale Mensch nur noch von einem fernen Ufer auf einen Fremden blickt, der früher einmal er selbst gewesen sein soll, ihm nun aber nur noch als fremd und störend begegnet. In einem solchen Moment würde tatsächlich kein Selbsthass erlebt werden, aber auch von Verzweiflung wäre hier keine Spur. Vielmehr müsste sich die betreffende Person im Recht sehen und sogar, wie Freud 1924 mutmaßt, im Töten eine »libidinöse Befriedigung« erfahren (Freud 1974b, S. 354). Aber ist es wirklich die suizidale Erfahrung, sich selbst mit dem besten Gewissen der Welt lustvoll den Tod zu geben? Hermann Hesse (1877–1962), ein psychoanalytisch eingefärbter und aufmerksamer Beobachter der »inneren Natur«, formuliert in seinem, dem späten Freud zeitgenössischen Roman »Der Steppenwolf« (1927) in besonders prägnanter Weise den »typischen Suizidalen« der Literatur der Jahrhundertwende (Langenberg-Pelzer 1995, S. 188). Dabei ist der suizidale Mensch für Hesse dadurch gekennzeichnet, »dass er sein Ich […] als 338 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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einen besonders gefährlichen, zweifelhaften und gefährdeten Keim der Natur empfindet, dass er sich stets außerordentlich exponiert und gefährdet vorkommt, so, als stünde er auf allerschmalster Felsenspitze, wo ein kleiner Stoß von außen oder eine winzige Schwäche von innen genügt, um ihn ins Leere fallen zu lassen. Diese Art von Menschen ist in ihrer Schicksalslinie dadurch gekennzeichnet, dass der Selbstmord für sie die wahrscheinlichste Todesart ist, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung.« (Hesse 1980, S. 53) Hesse beschreibt hier nicht die Situation vor dem Fall, dem Absprung oder der Einnahme der Überdosis Morphium, sondern er beschreibt das suizidale Aushalten im Leben im Wissen um die eigene Gefährdung und die Möglichkeit des Sichtöten-könnens. Es ist diese Selbstgefährdung und die ständig anklopfende Verzweiflung, die jedoch im späten freudschen Modell im Moment der Suizidentscheidung eigenartigerweise ausgeblendet sein soll. Wieso sich der Mensch dann aber überhaupt noch suizidieren soll, wenn er doch vollkommen den überlegenen Standpunkt der »Ichkritik« eingenommen hat und das ihm Begegnende fremd und uneigen ist, bleibt rätselhaft. So verliert das freudsche Modell in dieser späten Interpretation seine eigentliche Überzeugungskraft. Denn es war ja gerade die Stärke seines frühen Modells, dass es einen Zwiespalt in der Person zu beschreiben vermochte, aus dem sich eine Unerträglichkeit des aktuell Eigenen, eine Verzweiflung über sich selbst und ein Wunsch nach einem Ende dieses Schreckens nachvollziehbar zu ergeben schienen. Zusammenfassend zeigt sich das freudsche Modell folglich als eigenartig in sich verknotet. Bis etwas 1921 wird von Freud überzeugend dargelegt, wie es zu einem »internen Zwiespalt« im Menschen kommen kann. Diesen nimmt der Mensch unbewusst und unabsichtlich auf sich, um nicht die Sinnhaftigkeit seines Lebens einbüßen zu müssen. Nachdem er in seiner Schrift »Die Zukunft einer Illusion« eine psychoanalytische Kritik der religiösen Überbauung des menschlichen Lebens vorgenommen hat, bemüht sich Freud hinsichtlich des Sinnthemas um Abstinenz, wie er am 16. Februar 1929 an Oskar Pfister schreibt: »Die Ethik ist auf die unvermeidlichen Anforderungen des menschlichen Zusammenlebens gegründet, nicht auf die Ordnung der außermenschlichen Welt. Ich glaube nicht, daß ich mich so benehme, als ob es ›einen Lebens- und Weltsinn‹ gebe, das ist zu freundschaftlich gedacht, mahnt mich immer an den Klosterbruder, der in Nathan durchaus einen Christen sehen will. Ich bin lange nicht Nathan, […]« (Freud 1963, S. 139 f.) Überhaupt geht Freud später davon aus, dass 339 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Fragen nach dem Sinn oder Wert des Lebens generell als krankhaft anzusehen sind, wie er in dem bereits zitierten Brief an Marie Bonaparte vom 13. August 1937 schreibt: »Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat von unbefriedigender Libido hat, und irgendwas anderes muss damit vorgefallen sein, eine Art Gärung, die zur Trauer und Depression führt.« (Freud 1960, S. 429) Jedenfalls gilt in seinem frühen Modell, dass in der zunehmenden Verschiebung der »Selbstliebe« auf dieses »Objekt« die »Selbstaufopferung zur natürlichen Konsequenz« wird, hat sich doch »das Objekt an die Stelle des Ichideals gesetzt«, wie Freud 1921 in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« schreibt (Freud 1974e, S. 105 f.). Freuds Modell macht so verstanden durchaus schlüssig verständlich, dass der erlebte Zwiespalt zwischen dem, wie man sich selbst gerade sieht (»Ich«) und dem, wie man sich selbst gerne sehen würde (»Ichideal«) – also die Sicht auf das »Ich« aus der Position der »Ichkritik« –, der entscheidende Motor ist, der die Verzweiflung vorantreibt, die Suizidneigung verstärkt und das »Ich« in seinen Denk- und Handlungsoptionen einschränkt bzw. »schwächt«. Auf der anderen Seite treibt Freud das Modell der Autoaggression in seinen späteren Schriften derart auf die Spitze, dass modellgemäß angenommen werden müsste, dass der suizidale Mensch in vollkommener Selbstentfremdung bzw. rigoroser Selbsttäuschung aus der Perspektive der »Ichkritik« blickt und sich selbst als einen Fremden zu töten vermag. Der Knoten in diesem Modell ist erkennbarerweise die Behauptung der erlebten Aggression, welche nach Freud zwingend erforderlich ist, um sich selbst zu töten und welche sich im Konzept des Todestriebes verdichtet. Der Knoten kommt also nicht primär durch die Ableitung des Verständnisses aus der Depression in das Modell, wie angesichts der Schrift »Trauer und Melancholie« vermutet werden könnte. Denn, und dies ist entscheidend, der innere Zwiespalt in der suizidalen Erfahrung, wie er im frühen freudschen Modell formuliert wird, löst ja bereits das Rätsel, welches Freud mit dem Suizid verbindet: »Erst der Sadismus löst uns das Rätsel der Selbstmordneigung […]. Wir haben als den Urzustand, von dem das Triebleben ausgeht, eine so großartige Selbstliebe des Ichs erkannt […], daß wir es nicht erfassen, wie dies Ich seiner Selbstzerstörung zustimmen könnte.« (Freud 1974a, S. 205) Unter dem Eindruck der in »Jenseits des Lustprinzips« eingeführten Kon340 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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zeption des Todestriebes formuliert Freud hingegen ein anderes Verständnis der suizidalen Verfassung, in welchem der Todestrieb einen nahezu kausalen Mechanismus zwischen der »internen Konfliktkonstellation« und dem Suizid auf letztlich unverbrüchliche Weise herstellt. Denn das zerstörerische »Wüten des Über-Ich« gegen das »Ich«, das »Treiben« des »Ich« in den Tod kann als geradezu exemplarisches Verwirklichen des Todestriebes verstanden werden. Angesichts dieses Triebes und der vollständigen Übernahme des bewussten Erlebnispunktes durch das »Über-Ich« in der suizidalen Erfahrung, wie Freud es 1923 formuliert, wird die umfassende Ohnmacht des »Ich«, nun verstanden als die vom Akteur oder Autor ausgehenden und bei sich selbst lokalisierten und (selbst-)bewusst einsetzbaren Denk- und Handlungsoptionen, zwingend. Das »Ich« unterliegt nicht mehr dem »Objekt«, wie Freud noch 1915 in »Trauer und Melancholie« meint, sondern dem Todestrieb in seiner destruktiv-unersättlichen Tendenz. So zeigt sich in Freuds spätem Modell das »Ich« (im oben benannten Sinne) nicht als geschwächt und eingeschränkt, sondern als allmächtig infolge der Verschiebung der Perspektive (Blick von der »Ichkritik« her), kann aber insofern das »Ich« (nun wiederum als »das« Selbst, die eigene Person gemeint) nicht mehr schützen. Hier wäre dann die Selbsttäuschung perfekt, da der betreffende suizidale Mensch sich nicht mal mehr als er selbst erkennen könnte – womit wir aber wieder in die unlösbare Frage zurückkehren, wieso er dann diesen Fremden noch töten will. Das späte freudsche Modell wirft also einige Rätsel und Wirrnisse auf. Es kann sogar im Stile von Karl Jaspers’ bereits 1913 formulierter Psychoanalyse-Kritik als ein »Als-ob«-Verstehen angesehen werden (Jaspers 1963). Denn Freud nutzt hier tatsächlich einen außerhalb der konkreten Erfahrung stehenden Mechanismus, um die Folgerichtigkeit der konkreten Erfahrung nachvollziehen zu können. Das »Als-ob«Verständnis zeigt sich darin, dass Freud die Aggression bzw. den Todestrieb in die suizidale Erfahrung artifiziell »einbaut« und in einem weiteren Schritt, vermutlich im Interesse theoretischer Stringenz, überspitzt, womit er zugleich die initiale Erklärungskraft seines Verständnisses der suizidalen Verfassung wiederum fragwürdig werden lässt. Denn auch wenn die Autoaggression im Rückblick der überwundenen suizidalen Krise vom Betreffenden als ein integrierendes Narrativ konstruiert werden kann – beispielsweise wenn demjenigen klar wird, wie aggressiv ablehnend er sich selbst gegenüber in der suizidalen 341 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Erfahrung letztlich war (»trotzig nicht man selbst sein wollen«, Kierkegaard) – so entspricht die Autoaggression nicht primär der suizidalen Erfahrung und kann insofern zum Verständnis der suizidalen Erfahrung nur mit entsprechenden Beschränkungen aufgenommen werden. Davon aber unbenommen ist letztlich wesentlich, dass sich das freudsche Verständnis in seinen beiden Formen als Kind der Aufklärung zeigt, da mit Hilfe der Psychoanalyse der Mensch aus dieser »selbst verschuldeten Unmündigkeit« infolge der Selbstaufklärung über sein eigenes Unbewusstes mit Hilfe seines Verstandes heraustreten kann. Kurz gesagt: auf dem Weg der Aufklärung (via Psychoanalyse) vermag der (suizidale) Mensch die Kausalität (seines Unbewussten) als scheinbare aufzulösen, da er sich die zunächst unbewussten Zusammenhänge anzueignen vermag. Das freudsche Verständnis der suizidalen Erfahrung ist also doppelbödig, da darin, dass ein (je nach Modell: mehr oder weniger) kausaler Zusammenhang von suizidaler Erfahrung und Suizid angenommen wird, das Verständnis zugleich den Weg zum Auflösen dieser (darin dann nur scheinbaren) Kausalität anbietet. In dieser Doppelbödigkeit wird das freudsche Verständnis der suizidalen Erfahrung notwendig therapeutisch und definiert die suizidale Verfassung unzweideutig als therapeutisch zugängliche Lebenskrise. Freud entwickelt das psychiatrische Verständnis der suizidalen Verfassung also weiter, indem er das synergistisch-kontrapunktische Modell der »Suizidneigung« versus »Ich-Schwäche« durch den Gedanken erweitert, dass es eine innere Zwiespältigkeit im Erleben des suizidalen Menschen geben muss, welche aus der Lebensgeschichte der Person heraus verstanden werden kann. Zwar bezeichnet er verwirrenderweise diesen inneren Zwiespalt als eine erlebte Aggression, anstatt sie beispielsweise vorwiegend als eine Angst, eine Beschämung, einen Schmerz oder als Verzweiflung zu benennen. Aber dennoch ist festzuhalten, dass im freudschen Modell dieser entscheidende Gedanke (innere Zwiespältigkeit) für ein innenperspektivisches Verständnis der suizidalen Erfahrung, der sich ja bereits bei Griesinger andeutet und insbesondere bei Kierkegaard findet, formuliert wird. Und es ist überdies bedeutsam, dass Freud die unterschiedliche Bewertung der verschiedenen Seiten der betreffenden Person als wesentlich für die suizidale Erfahrung erkennt, wodurch sich sein Verständnis auch an die kierkegaardsche Formulierung anschließen ließe, nach welcher der Mensch darüber verzweifelt, nicht der zu sein, der er sein will oder 342 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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vielmehr der zu sein, der er nicht sein will (Kierkegaard 1992, S. 10 ff.). Dabei gilt, dass es erst die Qualität des Zu-sich-verhaltens ist, welche überhaupt die zum (geistigen) Tode führende Verzweiflung ermöglicht. Denn könnte sich der Mensch nicht zu sich im zeitlichen Vollzug seines Lebens verhalten, sich seiner nicht bewusst werden, sich nicht »ichkritisch« betrachten, so könnte er auch nicht über sich verzweifeln. »Denn die Verzweiflung folgt […] aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Und des Verhältnisses zu sich selbst kann ein Mensch nicht quitt werden, so wenig wie seines Selbsts, was übrigens eines und dasselbe ist, sintemal das Selbst das Verhältnis zu sich selber ist.« (S. 13) Freud bietet also eine lebensgeschichtliche, aus den persönlichen Beziehungen des »Ich und Du« herrührende Ableitung der Verzweiflung über sich selbst an, welche sich zumindest oberflächlich bzw. bewusstseinsnah im Modell der »Suizidneigung« versus »Ich-Schwäche« fassen lässt. Er stößt damit auch an die Grenzen dessen, was er bereit ist, in seinen psychoanalytischen Überlegungen überhaupt aufzunehmen – nämlich die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins. Zugleich aber, und dies ist letztlich weitaus entscheidender, bietet er mit der lebensgeschichtlichen Herleitung der suizidalen Erfahrung einen therapeutischen Lösungsweg für all diejenigen suizidalen Menschen, die zuvor nur unter dem allgemeinen Gesichtspunkt des krankheitsbedingt verstärkten »Selbstmordtriebes« bzw. des krankheitsbedingt geschwächten »Ich« gesehen werden konnten. Das freudsche Modell eröffnet einen therapeutischen Zugang zum suizidalen Menschen, der damit zugleich auch als Mensch in einer suizidalen Krise verständlich wird. So kann der suizidale Mensch zwar auch weiterhin als unvernünftig angesehen werden, aber seine Unvernunft ist psychologisch verständlich geworden. Im Hinblick auf das medizinisch-psychiatrische Modell formuliert Freud dieses demnach in seinem frühen Verständnis im lebensgeschichtlich-therapeutischen Sinne um: a) Der Suizid ist nicht die bewusst absichtliche Entscheidung gemäß vernünftiger Überlegung, sondern eine unter lebensgeschichtlich erworbenen »falschen Voraussetzungen« (»narzisstische Identifizierung«; Verschiebung der »Selbstliebe« auf ein das eigene »Ichideal« ersetzendes »Objekt«) mehr oder weniger erzwungene Entscheidung eines infolge ständiger »Ichkritik« »geschwächten Ich«, dessen »Schwäche« wiederum Ausdruck der lebensgeschichtlich erworbenen »falschen Voraussetzungen« ist. Die Suizidentscheidung wird von daher nicht von einem 343 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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starken und vernünftigen Ich getroffen, sondern »vom Unbewussten« für ein geschwächtes und triebgeleitetes Ich getroffen. b) Der derart für die Person vorwiegend vom Unbewussten beschlossene und vollzogene Suizid setzt deshalb den Suizidenten von allen kulturell üblichen Bewertungsmaßstäben, die an die Verantwortlichkeit einer Person gestellt werden, hinsichtlich seiner Suizidtat frei und erklärt ihn für psychisch (neurotisch) krank und behandlungsfähig. Ganz anders erscheint hingegen Freuds eigener Entschluss, sein Leben zu beenden. Sein befreundeter Leibarzt Max Schur, der Freud über 13 Jahre bei seiner Krebskrankheit begleitete, überliefert, dass Freud ihm am 21. September 1939 im vertraulichen Gespräch sagte: »Lieber Schur, Sie erinnern sich wohl an unser erstes Gespräch. Sie haben mir damals versprochen, mich nicht im Stich zu lassen, wenn es soweit ist. Das ist jetzt nur noch Quälerei und hat keinen Sinn mehr.« (Schur 1973, S. 620) Eine solche Aussage passt nicht zu der These, dass Freud in der Motivation seines eigenen Suizids nur einen unverbrüchlichen Determinismus des Todestriebes gesehen haben könnte – wie es insbesondere seinem späten Modell gemäß am ehesten hätte sein sollen. Vielmehr ist anzunehmen, dass es die Verzweiflung über seine letztlich nicht mehr als vorübergehende Krise, sondern als unwiderrufliche Endstrecke zu verstehende körperliche Verfassung war, die aus seiner »ichkritischen« Sicht trotz aller mitmenschlichen Zuwendung schlicht unerträglich geworden war, so dass ihm der eigene Tod als Erleichterung, vielleicht sogar als Rettung erschien. Wenn wir Freuds Tod als einen assistierten Suizid verstehen, zwingt uns dieser Umstand zu der Schlussfolgerung, dass es noch einen anderen, psychodynamisch beschreibbaren Weg in den Suizid geben muss, als Freud ihn in seinem Autoaggressions-Modell beschrieben hat, wobei der Differenzpunkt in der Frage der Vorübergehendheit zu liegen scheint.

3.15. Karl Menninger Das todestriebige Rätsel, inwiefern sich der Mensch unbewusst getrieben das Leben nimmt, greift auch Karl Augustus Menninger (1893– 1990) auf. Menninger, am 22. Juli 1893 in Topeka (Kansas) als Sohn des Arztes Charles Frederick Menninger geboren, orientiert sich frühzeitig an den freudschen Schriften zur Psychoanalyse. Nach seinem Studium der Medizin und einer mehrjährigen psychiatrischen Tätig344 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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keit an der Universität Boston gründet er in mehreren frustranen Anläufen mit seinem Vater und seinem jüngeren Bruder Will schließlich 1925 in Topeka erfolgreich die Menninger Klinik (Menninger Klinik 2009). In seiner 1938 erschienenen psychoanalytischen Studie »Man against himself« beschäfigt er sich intensiv mit dem Thema des Suizids bzw. der suizidalen Erfahrung und bemüht sich um ein strikt am Konzept des Todestriebes orientiertes Verständnis (Menninger 1978). Menninger, der einer der bekanntesten amerikanischen Psychoanalytiker und Psychiater seiner Generation wird, bleibt zeitlebens in seiner Privatklinik tätig. Er stirbt im Jahre 1990 kurz vor seinem 97. Geburtstag. Menninger formuliert in seiner Schrift die Selbstzerstörung als den inhärenten Systemwiderspruch der erotischen Triebsysteme. Geht es nämlich zunächst im erotisch-triebtheoretischen Verständnis dem Menschen scheinbar immer darum, das Leben lustvoll und lebendig zu gestalten, so argumentiert Menninger, dass die Selbstzerstörung in jeglicher menschlichen Lebensäußerung aufgefunden werden kann und sich insbesondere im Verhalten schon immer und stets auch eine implizite Selbstzerstörung vollzieht. Menninger vertritt dabei die Ansicht, dass jede Form des Daseins nur ein Kompromiss zugunsten des Lebens ist. Er nutzt hierbei das freudsche Modell des Todestriebes, welches als zentral für die dritte freudsche Phase der psychoanalytischen Theorienbildung verstanden werden kann (Wyss 1970, S. 82 ff.). Der Todestrieb, oder wie Menninger es nennt, der »Trieb zum Tode« (Thanatos) entspricht dabei dem »Wunsch zu sterben«: »Dennoch ist es wahr, dass sich letztlich jeder Mensch selbst tötet, auf seine eigene, selbstgewählte Weise, schnell oder langsam, früher oder später. Wir alle empfinden dies unbestimmt; es gibt so viele Gelegenheiten, es vor unseren Augen geschehen zu sehen. Die Methoden sind zahllos, und sie sind es, die unsere Aufmerksamkeit erregen. Einige davon interessieren die Chirurgen, einige interessieren Anwälte und Geistliche, manche interessieren die Herzspezialisten, andere die Soziologen. Sie alle aber müssen denjenigen interessieren, der die Persönlichkeit als eine Einheit betrachtet.« (Menninger 1978, S. 11) Freud folgend nimmt Menninger an, dass die Lebens- und Todestriebe – »wir wollen sie die konstruktiven und die destruktiven Tendenzen der Persönlichkeit nennen« – in stetem Konflikt miteinander stehen, und dass das Leben ein Kompromiss dieser beiden Triebkräfte ist (S. 18). Die Selbstzerstörung steht in diesem Modell folglich dem entgegen, was sonst nach Mennin345 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ger als »oberstes Gesetz des Lebens« zu gelten scheint: die Selbsterhaltung (S. 17). Insofern versteht sich für Menninger das Leben als ein dem Leben selbst abgetrotztes Dasein: »Aber einen bescheideneren Sieg können wir erringen, indem wir das Spiel einfach verlängern und ihm Würze verleihen, die nicht auf Täuschung beruht, und in diesem Spiel im Spiel siegen die einen, während die anderen verlieren; der Drang zur Selbstzerstörung endet nie.« (S. 513) Für Menninger ist also keine Entwicklung und keine verhaltensmäßige Lebensäußerung des Menschen »vollkommen frei von selbstzerstörerischen Tendenzen« (S. 18), auch wenn diese zumeist nur unbewusst vorhanden seien. Zielt also in der ursprünglichen, libidinösen Triebtheorie Freuds letztlich alles, wenn auch im Normalfall oft auf Umwegen, auf die Selbsterhaltung und damit auch auf die Ausdifferenzierung eines nahezu systemhaft ablaufenden psychischen Apparats, so stellt Menninger die Bedeutung des Todestriebes in einem solchen Verständnis heraus: denn erst mit der Annahme eines stets wirksamen und sich (auf Umwegen) verwirklichenden Triebs der Zerstörung bzw. Selbstzerstörung kann der psychische Apparat wahrhaft als Spielball unbewusster und nicht maximal sublimierbarer Triebsysteme verstanden werden. Und erst in dieser Konsequenz des triebtheoretischen Verständnisses kann der Tod des Menschen – seine schlichte Sterblichkeit – auch triebtheoretisch überhaupt nachvollzogen werden. Dabei muss sich die menschliche Sterblichkeit zudem bereits im Leben und – idealerweise – in den meisten verhaltensmäßigen Lebensäußerungen des Menschen auffinden lassen (»der Drang zur Selbstzerstörung endet nie«), wenn der Trieb denn als psychische Realität und nicht nur als narrative Interpretation oder formaler Ordnungspunkt eines Modells verstanden werden soll. Fraglich bleibt allerdings, wie die psychoanalytische Einsicht in die triebhafte Notwendigkeit der impliziten Selbstzerstörung dem (psychisch realen) Trieb seine Kraft zu nehmen vermag, da die Einsicht in die Regelhaftigkeiten des Unbewussten dieses ja nicht auflöst, sondern triebtheoretisch gesprochen dem Trieb nur zu flexiblerer und vervielfältigter Triebzielerreichung verhelfen kann. Unbenommen dieser prinzipiellen Herausforderungen eines dualistischen Triebmodells, in dem mit psychisch real genommenen Trieben (Eros/Libido, Thanatos/ Todestrieb) operiert wird, formuliert Meninnger vor diesem Hintergrund sein Verständnis der suizidalen Erfahrung. Hierbei unterscheidet Menninger initial drei Motive, die im Suizid im psychischen Sinne wirksam sind und allesamt auf den Todes346 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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trieb zurückzuführen seien: 1. der Wunsch, zu töten; 2. der Wunsch, getötet zu werden; 3. der Wunsch, zu sterben (S. 48–97). Menninger erschließt sich diese Motive zunächst deduktiv aus seiner Triebtheorie, indem er sich der Bedeutung des Wortes Selbsttötung versichert: a) Der suizidale Mensch will jemanden töten, wobei bei diesem Wunsch aus Menningers Sicht zunächst unerheblich ist, dass es dabei um ihn selbst geht; b) Der suizidale Mensch will selbst getötet werden, wobei bei diesem Wunsch wiederum für Menninger unerheblich ist, dass er es dabei selbst tun würde; c) Der suizidale Mensch will sterben. Dieser letzte Wunsch müsse aber nicht zwingend vorliegen, wie Menninger betont und wie auch nach heutigem suizidologischen Wissensstand bestätigt werden kann (Michel et al. 1994). Für Menninger versteht sich dies insbesondere auch deshalb, da die beiden anderen Wünsche vielfach unbewusst seien und blieben. Dabei folgt seine Differenzierung in einen aktiven und einen passiven Anteil des suizidalen Menschen seinem triebtheoretischen Verständnis, welches von einer prinzipiellen Trennung von »objektgerichteten« und »selbstgerichteten« Triebzielen ausgeht (Menninger 1978, S. 18 f.). Im Suizid findet der Todestrieb dabei eine einzigartige und umfassende Triebzielerreichung, welche in ihrer Verästelung dem betreffenden Menschen aber zumeist und üblicherweise nicht völlig einsichtig ist. »Denn wir wissen, dass das Individuum stets in gewissem Ausmaß seine Umgebung selbst erschafft und demnach der Selbstmörder auf irgendeine Weise dazu beitragen muss, eben das hervorzubringen, vor dem er in den Selbstmord flieht. Wenn wir die Tat dynamisch erklären sollen, sind wir demnach gezwungen, eine Erklärung für den Wunsch zu suchen, sich selbst in solche Bedrängnis zu bringen, der man nur durch Selbstmord entrinnen kann. Mit anderen Worten, wenn man um der eigenen unbewussten Absichten willen eine scheinbare Rechtfertigung der Selbstzerstörung in der äußeren Realität anbietet, dann sind die unbewussten Absichten für das Verständnis des Selbstmords bedeutungsvoller als die scheinbar einfachen, unausweichlichen äußeren Umstände.« (S. 31)

Menninger verweist damit nicht nur darauf, dass der konkrete Suizid eine lange (Lebens-)Vorgeschichte hat, die über die akute suizidale Krise hinausgeht, so dass die suizidale Verfassung insofern nicht zureichend mit moralischen Begrifflichkeiten und mit an der situativ-selbstbewussten suizidalen Erfahrung orientierten Verständniszugriffen verstanden werden kann (S. 98 ff.). Sondern er betont zugleich, dass 347 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

vor dem explizit-bewussten Wunsch zu sterben zunächst der selbstzerstörerische Wunsch, getötet zu werden, als auch der zerstörerische Wunsch, zu töten, lebensgeschichtlich vorauslaufend gegeben sein muss, wenn er auch dem späterhin suizidalen Menschen vollkommen unbewusst geblieben ist. Das Verständnis der suizidalen Verfassung gelingt Menninger folgend also vorwiegend aus der lebensgeschichtlich entstandenen Identität des betreffenden Menschen, die er als einen »internen Niederschlag« des lebensgeschichtlich erfahrenen Kompromisses der konstruktiven und destruktiven Kräfte versteht. Damit gerät sein Modell jedoch mit sich selbst in Konflikt, da schließlich die Energien des Todestriebes als im Leben weitgehend in Kompromissen gebunden und gerichtet verstanden werden müssen. Dieser Schwierigkeit begegnet Menninger auf zweierlei Weise: a) Zum einen versteht sich für ihn aus dieser üblicherweise vorhandenden »Objektbindung« der Triebenergie die Plötzlichkeit des aufbrechenden Wunsches zu sterben. Denn im Verlust äußerer »Objekte« werden für Menninger die dort gebundenen selbstzerstörerischen Energien frei, sind nunmehr ungerichtet und undifferenziert im psychischen Apparat drängend anwesend. b) Zum anderen postuliert Menninger einen stets verbleibenden Rest undifferenzierter Thanatosenergie, der gewissermaßen latent und ziellos drängend stets im psychischen Apparat anwesend ist (S. 44 f.). Menningers erste These zur Lösung des Problems bleibt allerdings unverständlich, da doch die Zerstörung des »Triebobjekts« im Falle eines Destruktionstriebes zur Triebbefriedigung führen müsste. Denn schließlich soll es sich ja nach Menninger um einen Destruktionstrieb handeln, bei welchem entsprechend auch die Destruktion des »Objekts« das Ziel ist. Die Triebenergie wäre also zunächst verbraucht und müsste sich erst schrittweise wieder aufbauen, könnte aber keinesfalls in einem plötzlichen Triebenergieüberschuss vorhanden sein, der nun gewissermaßen hektisch gebunden werden müsste. Menningers zweite These ist hingegen schlechthin nicht zu entkräften, auch wenn sie aus der Erfahrung nicht zwingend bestätigt werden kann. Denn über undifferenzierte und offensichtlich ziellose Triebenergien als psychische Realitäten kann nicht ernsthaft diskutiert werden, da sie per definitionem unerkennbar und unerfahrbar sein müssen. Sicherlich kann an sie im Sinne eines kantischen »Dings an sich« oder eines augustinischen Rätsels geglaubt werden. In jedem Fall aber wendet sich eine solche These – bei Menninger vermutlich unbeabsichtigterweise – gegen die eindeutig aufklärerische Intention der 348 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung in der Neuzeit, Aufklrung und Moderne

Psychoanalyse. Menninger hat sie auch in seiner Schrift nicht explizit weiterverfolgt, sie aber offenbar als suffiziente Erklärung für sein triebtheoretisches Modell angesehen. Neben diesen eher schwierig nachzuvollziehenden Argumenten verweist Menninger noch auf die eigenartig spielerische und opferbetonte Möglichkeit, einen »unvollständigen« Kompromiss zwischen Liebe und Hass zu finden, in welchem die suizidale Handlung wie ein Spiel sei. Er vergleicht sie explizit mit dem Kinderspiel »Die Reise nach Jerusalem« (S. 99). Wir können hierin die bis in die stoische Philosophie zurückreichende und insbesondere in der Moderne betonte Erkenntnis der Widersprüchlichkeit der suizidalen Erfahrung, aber auch den Gedanken einer schicksalhaften und größeren Macht im Sinne eines Gottesgerichts wiederfinden. Zum anderen benennt Menninger die »selbstzerstörerische Eigenliebe«, die narzisstisch gestörte Persönlichkeit, als besonders suizidgefährdet (S. 474 ff.). Denn, so Menninger, die Selbstbesetzung mit erotischer Energie vermindert die Möglichkeiten des Bindens zerstörerischer Kräfte, die nach Menninger dadurch sublimiert werden, dass ein Amalgam erotischer und zerstörerischer Kräfte gebildet wird, welches aber eben nur in der Hinwendung an »Objekte« möglich ist (S. 479 ff.). Menninger nennt als solche »Objekte« neben Beziehungen mit anderen Menschen auch künstlerische Tätigkeiten, die aus seiner Sicht alle durch die Selbstliebe behindert würden, da entsprechend seiner Amalgam-Hypothese keine erotischen Energien mehr für die notwendige »Objektbesetzung« zur Verfügung stünden. Menninger steigert sich in seinem abschließenden Kapitel gar in eine Dämonisierung der Selbstliebe, so dass ihm notwendige Differenzierungen entgehen. Zusammenfassend zeigt sich, dass es sogar Menninger gewissermaßen unmöglich ist, ein in sich kohärentes Verständnis der suizidalen Erfahrung und des sich ereignenden Suizids mit Hilfe des triebtheoretischen Dualismus von Eros und Thanatos zu leisten. Dennoch gelingt ihm in Grenzen eine Reformulierung des medizinisch-psychiatrischen Verständnisses der suizidalen Verfassung, wobei er insbesondere die lebenslange Vorzeichnung der individuell suizidogenen Krise herausarbeitet: a) Der Suizid ist nicht die bewusst absichtliche Entscheidung gemäß vernünftiger Überlegung, sondern eine unter lebensgeschichtlich erworbenen, »unbewusst bleibenden Voraussetzungen« (»Wunsch, zu töten«, »Wunsch, getötet zu werden«, »Selbstliebe«) mehr oder weniger lebenslang vorgezeichnete Entscheidung, die situativ durch den 349 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

Einbruch des lebenslangen Kompromisses zwischen »selbsterhaltenden und selbstzerstörenden Triebkräften« für das »Ich« als Entscheidungsträger nahezu gezwungenermaßen zur allseitigen Triebbefriedigung getroffen werden muss. Die Suizidentscheidung wird von daher nicht von einem starken und vernünftigen Ich getroffen, sondern wird vom lebenslang vorbereiteten »unbewussten Kräftekompromiss der Triebe« für ein krisenhaft vorwiegend triebgeleitetes Ich getroffen. b) Der derart für die Person vorwiegend vom Unbewussten beschlossene und vollzogene Suizid setzt deshalb den Suizidenten von allen kulturell üblichen Bewertungsmaßstäben, die an die Verantwortlichkeit einer Person gestellt werden, hinsichtlich seiner Suizidtat frei und erklärt ihn für psychisch (neurotisch) krank und behandlungsfähig. Menninger macht also verständlich, dass Suizidentscheidungen sowohl in einer suizidalen Krise als auch vor dem Hintergrund einer Lebensgeschichte getroffen werden. Dabei ist für ihn die Frage nach dem »Warum« des Suizids leitend, wohingegen die Frage, wie es ist, suizidal zu sein, eindeutig im Hintergrund steht. Sein Verständnis zeigt sich von daher noch stärker als das späte freudsche Modell als ein »Als-ob«-Verständnis (Jaspers), inwiefern es auch verständlich wird, dass die in der suizidalen Erfahrung aufbrechende Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins nicht direkt von ihm aufgegriffen wird. Obwohl Menninger sich bemüht, philosophische und theologische Fragen nach dem Sinn des Lebens auszuklammern und eine strenge Fachwissenschaft des Psychischen zu betreiben, bricht die teleologische Dimension dennoch in sein scheinbar fachwissenschaftliches Verständnis in vollem Umfang hinein. Denn sein Triebmodell muss primär als sinnorientiert verstanden werden, wobei er den Sinn des Lebens darin sieht, dem Leben eine gewisse »Würze« zu verleihen. So können wir auch bei Menninger die bereits wiederholt seit Schopenhauer aufgefundende Tendenz der Ästhetisierung wiederfinden, insofern die Frage nach dem »Wozu lebe ich« ausschließlich zur Frage nach dem »Wie lebe ich« geworden ist.

4.

Retrospektive

Eine Restrospektive auf fast viereinhalbtausend Jahre Kulturgeschichte des Verständnisses der suizidalen Erfahrung und der menschlichen Möglichkeit, sich töten zu können, zeigt, dass sich erhebliche Wand350 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Retrospektive

lungen in der Weise des Verständnisses vollzogen haben. Dennoch sind bestimmte Merkmale der suizidalen Erfahrung in allen untersuchten Verständnissen präsent. Vordringlich handelt es sich nämlich stets um eine Vergewisserung des Menschen darüber, wie er sich selbst als Mensch in seiner Welt und gegenüber der Transzendenz, Gott, dem Schicksal, der Vorsehung oder dem Sinn seines Daseins als sterbliches Wesen versteht. Die Frage nach der suizidalen Erfahrung und dem Vermögen des Menschen, sich selbst den Tod geben zu können, rührt von daher an den fundamentalen Grundannahmen des jeweiligen Menschenbildes und Selbstverständnisses. Es wirft zugleich eigene Fragen auf, die in den jeweiligen Verständnissen in unterschiedlicher Weise miteinander verknüpft sind: Ist der Suizid erlaubt? Und wenn nein, warum nicht? Und wenn ja, wann ist er erlaubt, sinnstiftend oder gar geboten? Was wird mit mir in meinem Tod? Wozu lebe ich eigentlich? Überblicken wir die untersuchten Verständnisse, so zeigt sich, dass in allen Verständnissen zunächst die Frage nach der Zulässigkeit des Sich-töten-könnens vordringlich ist. Diese Frage überdeckt die Frage nach dem »Wozu« des eigenen Lebens – letztlich also der Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens und des menschlichen Daseins überhaupt in Hinblick auf das Ganzes (was auch immer damit gemeint sein mag) (vgl. zur Geschichte der Frage nach dem »Wozu« bes. Spaemann/Löw 1980) – auch in vielen philosophischen Verständnissen der europäischen Kulturgeschichte. Insbesondere aber die sich als fachwissenschaftlich verstehenden psychiatrischen und psychodynamischen Verständnisse seit dem 19. Jahrhundert überlassen diese Frage scheinbar den philosophischen und theologischen Disziplinen. Dennoch ist auch in ihnen jeweils eine Antwort auf diese Frage implizit enthalten und gegeben. Blicken wir aber zunächst auf die Verständnisse der fragwürdigen Zulässigkeit des Sich-töten-könnens zurück. Üblicherweise erfolgt in den Verständnissen ein Abweisen der Möglichkeit, sich töten zu können: als gesellschaftlich unerwünscht, als seitens des Gottes, des Schicksals, der Vorsehung oder auch der Gesellschaft verboten, als nach dem Tode bestraft oder als durch die Vernunft als unvernünftig erwiesen. Dennoch gibt es in diesem generellen Trend stets Ausnahmen, die sich auf die schicksalhafte Gebotenheit, die göttlich-vorsehende Verordnung oder die gesellschaftliche und persönliche Erwünschtheit erstrecken. Es sind letztendlich diese Ausnahmen, die die eigentliche Herausforderung des Sich-töten-könnens aufnehmen. Denn schließlich kann die Verhaltensmöglichkeit Suizid dem 351 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

Menschen schlechterdings in einem anthropologischen Sinne nicht verwehrt werden, ist sie doch durch seinen Bezug zu sich selbst, innerhalb seines Zu-sich-verhaltens, und seiner Sterblichkeit versichert. Sich töten zu können ist üblicherweise ab dem 10.–14. Lebensjahr und bis in zumindest mittlere Phasen dementieller Prozesse im hohen Alter schlicht eine gegebene Verhaltensmöglichkeit (»Geburtsrecht«, »native liberty«). Erst die Anerkennung dieser Möglichkeit eröffnet also überhaupt die an sich naheliegende Frage, ob es denn Situationen geben mag, in denen der Suizid vollzogen werden darf oder gar sollte. Die Antworten auf diese Frage sind unterschiedlich und berühren letztlich immer auch das Thema des Selbstopfers. Bei aller Unterschiedlichkeit, wofür derjenige das eigene Leben opfert, es ist stets etwas Anderes, welches gemeinhin eine sinnstiftende Qualität aufweist und das eigene Leben überdauert (Polis/Gesellschaft bzw. der Andere, Gott, Schicksal, Vorsehung, Liebe, Freiheit, Ehre). Es zeigt sich also, das dasjenige, was den Suizid zu verbieten vermag, ihn andererseits in bestimmten Situationen auch einfordern kann. Die nähere Bestimmung dieser Situationen gelingt in einem generell-konkreten Sinne hingegen regelhaft nicht ohne Widersprüche. Direkt auf den Zusammenhang der suizidalen Erfahrung mit der Frage nach dem »Wozu« des eigenen Lebens geht die stoische Philosophie ein, und hier insbesondere Seneca. Seneca formuliert dabei die Art und Weise der eigenen Lebensführung als das wesentliche Scharnier dieses Zusammenhangs. Dabei kann die stoische Philosophie diese Antwort zwar nur deshalb in der ihr eigenen Weise geben, da es ihrem Verständnis gemäß letztlich ohne echte Bedeutung für den Betreffenden ist, ob er nun lebt oder tot ist, da der Mensch (qua Seele) stets in Schicksal und Vorsehung qualitativ gleichwertig eingebunden bleibt. Denn nur da der Stoa einzig das »einstimmige Leben mit dem Kosmos« als wesentliches Ziel gilt, welches man aber bei skeptischer Absehung von allen Bewertungen (»skeptische Epoché«) bereits erreicht, kann Seneca die reflexiv zu beantwortende Frage »Wie lebe ich« zugleich auch als Antwort auf die Frage, ob denn der Suizid erlaubt ist oder nicht, verstehen. Es ist dieses Scharnier, welches den Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, sich töten zu können und dem »Wozu« des eigenen Lebens, stiftet. Es wird so zunächst von Seneca explizit als hypomochlion der stoischen Lebensführung ausgeführt. Ein solches Verständnis dieses Scharniers deutet sich auch bei Paulus in der Liebe (agape) an, kann von ihm aber angesichts des von ihm geglaubten Got352 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Retrospektive

tes dann doch nicht wirklich ausformuliert werden. In verwandelter Weise findet es sich seit dem Renaissance-Humanismus wieder. Unter der Annahme, dass es keinen Unterschied für den eigenen Tod macht, ob man durch Suizid oder eine Krankheit verstirbt – das Jüngste Gericht fällt aus und findet nicht statt –, können diejenigen Situationen, in denen der Suizid erlaubt oder eben nicht erlaubt ist, nur mehr aus dem gelebten Leben des betreffenden Menschen selbst beantwortet werden. Bereits die Gleichwertigkeit des persönlichen Versterbens hinsichtlich der Qualität des Totseins lässt den Zusammenhang deutlicher erkennen, so beispielsweise bei Montaigne. Unübersehbar wird dieser Zusammenhang dann durch den aufgeklärten Nachweis, dass es für den Menschen letztlich unerkennbar ist, ob das Leben denn überhaupt einen übergeordneten Sinn hat oder nicht. Insbesondere Schopenhauer formuliert im Anschluss an Kant, dass es offenbar darum geht, in einer bestimmten Art und Weise zu leben, um das eigene Leben tatsächlich als sinnvoll erfahren zu können. So findet sich seither eine zunehmende Ästhetisierung der Frage nach dem »Wozu«, da jeder Mensch einen Sinn allein aus seinem gelebten Leben selbst zu schöpfen vermag. Es ist demnach die Art und Weise des eigenen Lebens bzw. wie sich derjenige zu sich verhält (sein Leben führt), welche dem Leben Sinn verleiht. Damit stellt sich die Frage nach einem Verständnis der suizidalen Erfahrung jedoch in völlig anderer Weise. Denn es muss für ein solches Verständnis konkret beantwortet werden, wie die suizidale Erfahrung gestaltet und gegeben ist. Dies entspricht letztlich auch einer sich verändernden Fragehaltung, denn nun kommt zusätzlich zu allen anderen Fragen, die sich an diese Möglichkeit des Sich-töten-könnens richten, auch noch die Frage, wie es denn überhaupt ist, suizidal zu sein. Bereits mit Hume und Goethe beginnt noch vor den kantischen Kritiken die explizite Thematisierung dieser Frage, die aber auch bereits in der Stoa und im Renaissance-Humanismus von Bedeutung ist und in den fachwissenschaftlichen Verständnissen, wenn auch zumeist nur noch in einer eingeschränkten Weise des Fragens nach dem »Warum«, weiter verfolgt und vertieft werden wird. Dabei wird verständlich, dass der Suizid – und dies durchgängig in den hier untersuchten Verständnissen der europäischen Kulturgeschichte – die dem Menschen letztverbliebene Möglichkeit ist, sich aus einer anderweitig im Leben unveränderbar erscheinenden Situation zu befreien, so dass – allerdings nur für bestimmte menschliche Verfassungen bzw. nur für eine eingeschränkte Anzahl der hier untersuchten Verständnisse – eine rettende Qualität 353 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleine Geschichte der Verstndnisweisen der suizidalen Erfahrung

des Suizids nicht geleugnet werden kann. Dieses wichtige Charakteristikum der suizidalen Erfahrung wird im Weiteren noch eingehender betrachtet werden. Dabei wird sich erneut zeigen (wie aber schon mit Goethe und Hume argumentiert werden könnte), dass allein bereits die Fähigkeit, dieses Merkmal der suizidalen Erfahrung überhaupt unvoreingenommen thematisieren zu können, an die veränderte Fragehaltung gegenüber der suizidalen Erfahrung anschließt. Diese Frage nach der Erfahrung des Rettenden in der suizidalen Erfahrung kann, wie sich zeigen wird, in ausgezeichneter Weise in phänomenologischer Einstellung thematisiert werden. Es sind also gerade die suizidale Erfahrung und die Verhaltensmöglichkeit des Sich-töten-könnens, welche die Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins besonders virulent machen. Denn beide erfordern eine Vergewisserung darüber, wie sich der Mensch als sterbliches Wesen in seiner Welt, gegenüber einer (zunehmend als unbestimmbar charakterisierten) Transzendenz und damit hinsichtlich des Sinns seines Daseins versteht. Auch das Überwinden der suizidalen Krise, als welche sich die suizidale Erfahrung im Hinblick auf das »Geburtsrecht« des Sich-töten-könnens zunehmend seit der Aufklärung zeigt, erfordert ebenfalls, auf diese in der suizidalen Erfahrung drängend werdende Frage eine wenigstens vorübergehend haltbare Antwort zu finden. So weisen die suizidale Erfahrung und die Verhaltensmöglichkeit, sich töten zu können, letztlich auf die Frage nach einem guten Leben zurück. Damit weisen sie zugleich dem einzelnen Menschen in seinem leiblichen, lebensgeschichtlichen, situativen und interpersonal-kulturellen Eingebundensein die Verantwortung für die Beantwortung der Frage zu, ob sein Suizid nun erlaubt ist oder nicht. Denn, wie wir vorweggreifend mit Jean Améry sagen könnten: Nur er kann es tun oder auch nicht. Wir werden später auf diesen Punkt der Selbstbestimmung in der suizidalen Erfahrung genauer eingehen.

354 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

IV. Der »Fall« Werther

Mir wäre besser, ich ginge. Werther

Der Briefroman »Die Leiden des jungen Werther« wird 1774 geschrieben und veröffentlicht und bedeutet den literarisch-kulturellen Durchbruch für den damals 25-jährigen Johann Wolfgang Goethe (1749– 1832). Der »Werther« wird rasch in andere Sprachen übersetzt und erlangt europäische Wirkung. Noch aus heutiger Sicht ist die Wirkung des »Werther« schwer einzuschätzen, zumal er sich im Rückblick wie ein »Startschuss« des deutschen »Sturm und Drang« darstellt und den späteren »Olympier« Goethe bereits ahnen lässt. Fritz Martini (1909– 1991) schreibt in seiner erstmals 1949 erschienen »Deutschen Literaturgeschichte« zum »Werther«: »Dieser Roman war weitab von aller Tradition geschaffen. Niemals hatte man solche Seelenerfahrung gefunden, die von innen heraus gestaltet; niemals war die Gewalt des Gefühls so glühend und verhängnisvoll erlitten worden. Die junge Generation fühlte sich tief getroffen […].« (Martini 1984, S. 242) Die in diesen Worten spürbare Überhöhung des Textes gibt zugleich die Wirkung des Romans in seiner Zeit wieder, die von Goethes Zeitgenossen als »Wertherfieber« bezeichnet wird. Aber es findet sich darin auch die Einschätzung der goetheschen Leistung wieder, wie Ernst Cassirer (1874–1945) schreibt: »Denn das Entscheidende in Goethes Dasein und in seiner Leistung besteht eben darin, dass sich in ihnen ein Umschwung und eine Neubildung der geistigen Maßstäbe selbst vollzieht.« (Cassirer 1995, S. 32) Cassirer geht es dabei um nichts Geringeres als um den Hinweis, dass Goethe und seine Werke ihre eigenen Maßstäbe mitbringen und hervorgebracht haben – und dass er in dieser Eigenmaßstäblichkeit das Entscheidende bei Goethe sieht. Goethe oder auch eines seiner Werke kann dann jeweils nur unter seinem eigenen Maßstab verstanden werden. In diesem Sinne muss auch der »Werther« als Selbstschöpfung, als strukturale Autogenese verstanden werden. Dies stellt angesichts der hier genutzten phänomenologischen Methode zwar kein grundsätzliches Problem dar, wirft aber die Schwierigkeit der Beschränkung auf. Schließlich soll es hier nicht um eine 355 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

umfassende Interpretation Goethes gehen – was nebenbei bemerkt dem Verfasser auch nicht möglich wäre –, sondern der »Werther« soll uns als »Fall« dienen, als »Symbol« für ein historisches Verständnis der suizidalen Erfahrung. Damit befinden wir uns mitten in einer zweiten Herausforderung, gilt doch gerade bei Goethe das Herauslösen des Konkreten aus seinem Gesamtzusammenhang als grundlegendes Missverständnis. Diese »Vereinzelung« des »Werther« zum »Fall« hätte vielleicht Goethe selbst auf den Plan gerufen, denn: »Alles Vereinzelte ist verwerflich. Eine herrliche Maxime! aber schwer zu befolgen. Von Leben und Kunst mag sie freilich gelten; bei jeder Überlieferung durchs Wort hingegen, die nicht gerade poetisch ist, findet sich eine große Schwierigkeit: denn das Wort muss sich ablösen, es muss sich vereinzeln, um etwas zu sagen, zu bedeuten. Der Mensch, indem er spricht, muss für den Augenblick einseitig werden; es gibt keine Mitteilung, keine Lehre ohne Sonderung.« (Goethe 1998, Bd. 9, Dichtung und Wahrheit, S. 514) Goethe macht uns damit nochmals darauf aufmerksam, den Gesamtzusammenhang nicht aus dem Auge zu verlieren. Dies bedeutet hier, den Gang durch die europäische Geschichte der Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung und des Sich-töten-könnens nicht zu vergessen und den »Werther« gewissermaßen als (historischen) Kristallisationspunkt eines stimmigen Verständnisses zu sehen. Ob wir dabei zugleich auf dem Weg der Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung weiter vorankommen, mag zunächst noch dahingestellt sein. Allerdings ist natürlich zuzugeben, dass der »Werther« (wie auch Kleist im nachfolgenden Abschnitt) nicht unabsichtlich an dieser Stelle der Untersuchung steht, wo es aus der historischen Betrachtung in die Untersuchung der Verständnisse der aktuelleren Suizidologie hinübergeht. Dies hat in der aktuellen Suizidologie durchaus Tradition, wird doch gerne auf den »Werther« (und auf Kleist) zurückgegriffen, um das eigene Verständnis zu illustrieren. Unsere Methode ermöglicht uns jedoch keine Illustration beim Rückgriff auf den »Werther«, sondern zwingt uns, das im »Werther« gezeigte Verständnis möglichst präzise nachzuzeichnen (um es zugleich als »freie Variation« für unser Verständnis der gesuchten Erfahrungsstruktur aufzunehmen). Insofern ist die Rede vom »Fall« scheinbar widersinnig, ist doch der »Fall« immer das illustrative Beispiel eines allgemeinen Geschehens. Der klinische Fall dient auch in der Psychiatrie als beispielhafte Darstellung bzw. Abbildung eines für all356 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das »Wertherfieber«

gemein geltenden Zusammenhangs. Das Allgemeine zeigt sich im Einzelfall, worin deutlich wird, was der Fall ist. In der hier unternommenen Untersuchung versteht sich die strikte Unterscheidung von Allgemeinem und Einzelnem jedoch als artifiziell, da das Allgemeine in jedem Einzelnen jeweils konkret mit hervorgebracht wird. Jeder suizidale Mensch ist die unwiederholbare Konkretion der suizidalen Erfahrung. In ihm zeigt sich sowohl das Ganze als auch das jeweils Besondere des Phänomens. So wird der »Fall« zum mehr oder weniger stimmigen Ganzen. In diesem Sinne zeigt sich der »Werther« auch im Hinblick auf das Verständnis der suizidalen Erfahrung als Kunstwerk, welches unter seinem eigenen Maßstab steht. Im »Werther« kommt ein suizidaler Mensch zu Wort, den wir nicht unterbrechen, dem wir nicht noch diese oder jene Frage stellen und dem wir auch keinen psychologischen Test vorlegen können. Wir sind gezwungen, ihn so zu nehmen, wie er uns kommt. Insofern wäre vielleicht die Lektüre des »Werther« vor allem Weiterlesen empfehlenswert, damit die voranschreitende Interpretation kritisch begleitet werden kann. Um das Verständnis des »Werther« als historisch stimmiges Verständnis der suizidalen Erfahrung vorzubereiten, scheint es deshalb aber auch unabdingbar, das Historische in den Blick zu rücken. Geradezu in Umkehrung des goetheschen Ansatzes wird hier von Außen nach Innen gegangen, zunächst die Wirkung des »Werther« betrachtet, um sich anschließend dem »Werther« als innenperspektivische Beschreibung der suizidalen Erfahrung zuzuwenden. Diese »äußere Wirkung« wird zeitgenössisch als »Wertherfieber« bezeichnet, ein Begriff, in welchem sich die epidemische und ansteckende Plötzlichkeit der Wirkung dieses Briefromans symbolisiert. Darin zeigt sich der »Werther« als Verursacher einer »Wertherverrücktheit«.

1.

Das »Wertherfieber«

Hinsichtlich des »Wertherfiebers« gibt es in heutiger Zeit zwei Sichtweisen: zum einen die eher kulturelle Wirkung, in welcher Goethe einen »Zeitgeist« zum Ausdruck brachte, und zum anderen die direkt anstiftende Wirkung zum Suizid, die die Veröffentlichung des Romans gehabt haben soll. Goethe gibt selbst 1813 in »Dichtung und Wahrheit« einige Hinweise darauf, was die Veröffentlichung des »Werther« beim Publikum auslöste: »Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja 357 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam.« (Goethe 1998, Bd. 9, Dichtung und Wahrheit, S. 589 f.) Goethe schildert diese offenbar verbreitete Verfassung, welche der »Werther« zum Ausbruch brachte, einige Seiten zuvor: »In einem solchen Element, bei solcher Umgebung, bei Liebhabereien und Studien dieser Art, von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosen, bürgerlichen Leben hinhalten zu müssen, befreundete man sich, in unmutigem Übermut, mit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eigenem Belieben allenfalls verlassen zu können, und half sich damit über die Unbilden und Langeweile der Tage notdürftig genug hin. Diese Gesinnung war so allgemein, dass eben ›Werther‹ deswegen die große Wirkung tat, weil er überall anschlug und das Innere eines kranken jugendlichen Wahns öffentlich und fasslich darstellte.« (S. 583)

In diesem Sinne wäre eine kulturelle Wirkung zu benennen, aber Goethe gibt auch Hinweise auf die andere Wirkung. Er berichtet, dass einige Freunde sich im Gefolge der Lektüre ernsthaft überlegten, ob es nicht notwendig wäre, diese Dichtung in Wahrheit zu übersetzen und sich auf der Stelle zu erschießen (S. 588). Goethe selbst fühlt sich dabei missverstanden. Denn die Darstellung des »Werther« verfolge keinen didaktischen Zweck, sondern einzig die Darstellung der »Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge«, welches ihm u. a. selbst geholfen habe, eine suizidale Krise zu überwinden (S. 588). Ganz offenbar beschreibt in Goethes Verständnis das viel beschworene »Wertherfieber« eine kulturelle Wirkung. Es wird zu fragen sein, ob sich damit nicht auch die kulturelle Vorzeichnung des Verständnisses der suizidalen Erfahrung verändert. Dabei fragt sich, ob wir hinsichtlich des suizidogenen »Effekts« des »Werther« noch einen weiteren Effekt berücksichtigen müssen. David Phillips glaubt 1974 einen als »Werther-Effekt« bezeichneten Fund eines zeitlich rasch nachfolgenden Nachahmungssuizids nachweisen zu können (Phillips 1974). Dieser von Phillips behauptete Effekt bezieht sich streng auf 358 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das »Wertherfieber«

die zeitlich sehr schnell nachfolgende Nachahmung eines Suizidversuchs, scheint sich aber nur bei ausgesprochenen Berühmtheiten und einem entsprechend positivierenden medialen Echo in einem eher sehr geringen Ausmaß nachweisen zu lassen (Wassermann 1984). Zu diesem »Effekt« eines zeitlich rasch nachfolgenden Nachahmungssuizids ist allerdings festzuhalten, dass aus rückblickender Sicht, u. a. unter Zuhilfenahme von Beobachtungen von Zeitgenossen Goethes, die sich der Beobachtung der damaligen Suizide widmeten, keine Zunahme an Suiziden im Gefolge des »Werther« festgestellt werden kann (Scherpe 1970, S. 31; Steinberg 1999). Dieser Befund sagt aber nicht, dass der »Werther« keinerlei Einfluss auf seine zeitgenössischen Leser hatte, würde doch damit zugleich auch ein Einfluss auf deren Verständnis der Möglichkeit, sich töten zu können, weitgehend verneint. Schließlich sagt dies nur, dass es keine zeitlich rasche Nachahmung von Suiziden nach dem Erscheinen des »Werther« gab. Entscheidend ist aber vielmehr, wie der suizidale Mensch seine eigene suizidale Erfahrung und seine Möglichkeit, sich töten zu können, verstanden hat. Diesbezüglich ist es beispielsweise interessant zu wissen, dass es noch Jahre nach dem Erscheinen des »Werther« vereinzelte Nachahmungssuizide gab (Steinberg 1999). Insofern erscheint die These schlüssig, dass dem veränderten Verständnis der suizidalen Erfahrung folgend durchaus Suizide begangen werden, hingegen Suizide in anderen Weisen des Verständnisses abnehmen. Eine solche These lässt sich zwar aus heutiger Zeit praktisch nicht mehr beweisen, denn die Lebensumstände und die innere Verfassung der damaligen Suizidanten müssten empirisch repräsentativ eruierbar sein. Leichter hingegen wäre der Umkehrschluss, der davon ausginge, dass ein spezifisches Verständnis der suizidalen Erfahrung auch immer konkret verwirklicht sein muss, um als solches kulturell wirksam sein zu können. Würde sich also eine kulturelle Wirkung zeigen lassen, so wäre eine Verschiebung hin zum »wertherschen« Suizid nicht unschlüssig, ohne sich in einer Steigerung der Suizidrate ausgedrückt zu haben. Dies würde die These zudem in kultureller Sicht ausdehnen. Dann wäre nämlich zu vermuten, dass jeder Suizid immer auch eine Nachahmung eines anderen Suizids ist (Schlimme et al. 2010). Dies, da sich der Mensch notwendigerweise innerhalb eines kulturell vorgezeichneten Verständnisses der Möglichkeit, sich töten zu können, tötet, auch wenn dies – wie beim »Werther« – ein umfassend neues Verständnis wäre. So mag es dann nicht mehr überraschen, dass 359 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

beispielsweise nach dem Suizid von Kurt Cobain (1967–1994) kein streng genommener »Werther-Effekt« beobachtet werden konnte, sich aber ganz offensichtlich sehr viele »Cobainjünger« mit dieser Möglichkeit beschäftigt haben (Jobes et al. 1996). Dennoch hat Cobains Suizid sicherlich einen Effekt auf deren Verständnis dieser Möglichkeit gehabt und deren Verständnis der eigenen suizidalen Erfahrung verändert (Gonther 2009). »Unmittelbar nach seinem Erscheinen 1774 wurde der Roman zu dem, was heute ein ›Kultbuch‹ genannt würde. Junge Menschen fanden ihr Lebensgefühl, ihre Sprache, ihre Anschauungen und Ängste in dem Buch ausgedrückt; sie lasen darin mit heißen Ohren, empfahlen es anderen, redeten über seine Figuren und verständigten sich bald über sich selbst: Im Spiegel des ›Werther‹ erkannten sie sich als Generationsgemeinschaft.« (Herrmann 1994, S. 1) Bedeutsam erscheint dabei, dass in dieser Gemeinschaft von »Wertherjüngern« oder »Goetheanhängern« zwar die Grenzen zwischen bildungsbeflissenem Adel und gebildetem Bürgertum im Privaten überwunden werden, aber zugleich die bürgerliche Existenz keineswegs aufgegeben wird: »Nach getaner Pflicht hält man sich in den Mußestunden am Wertherschen Geist schadlos.« (Scherpe 1970, S. 96). Der »Werther« erscheint so zwar wie ein »Heiliger« (S. 74), bleibt aber zugleich in der Innerlichkeit und Symbolik verhaftet. So gibt es »Wertherjünger«, die in blauem, unbordiertem Frack mit Messingknöpfen, einer gelbledernen Weste und gelben Beinkleidern sowie Stiefeln mit braunen Stulpen – im Roman die Kleidung, in welcher Werther Lotte kennen lernt und sich erschließt – sowie allenthalben einem Zitat aus dem »Werther« auf den Lippen umherlaufen, so wie es ebenfalls die »Charlotten-Tracht« im simplen, weißen Kleid mit blassroten Schleifen an Arm und Brust gibt – die Kleidung, in welcher Werther zum ersten Mal Charlotte sieht (Steinberg 1999). Wenn demnach der »Werther« ein Fieber auslöste, so scheint es wohl eine Art erstmaliges »Jugendfieber« im goetheschen Sinne gewesen zu sein. Aber ist der »Werther« wirklich das »Bild« einer ganzen jungen Generation gewesen, denen das bürgerliche Leben zu langweilig erschien, so dass es einer (gefühlsbetonten) Überhöhung bedurfte? Es stellt sich schließlich die Frage, woher denn diese Bereitschaft zum »Werthern« herkommt, stammen doch offenbar die »Wertherjünger« vorwiegend aus den gebildeten, ja letztlich in der Aufklärung befindlichen Kreisen und Ständen. Ganz offensichtlich finden wir hier 360 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das »Wertherfieber«

das »Wertherfieber« als einen Teilstrom der damals in Europa weit verzweigten Bewegung des »Irrationalismus« wieder. Diesbezüglich ist bemerkenswert, dass gerade die weitreichende Aufgeklärtheit eine wichtige Voraussetzung ist, um überhaupt erst die Vereinseitigung dieser (auch selbst genossenen) Aufklärung in ihrer ernüchternden Lebensführung kritisieren zu können. In zeitgenössischen Repliken wird dem »Werther« wiederum von seiten der aufgeklärten Bürger, die an dieser »irrationalen Bewegung« nicht teilhaben, häufig die fehlende »Ruhe des rechtschaffenen Bürgers« vorgeworfen. Diese Ruhe meint letztlich nichts anderes als die ernüchterte Selbstdisziplinierung innerlicher Wünsche, Träume und Gefühle. Die gesellschaftliche Realität des Bürgertums, und insbesondere auch diese nüchterne Ruhe, wird im »Werther« durchaus radikal kritisiert und als Vereinseitigung und Reduktion des Menschen gebrandmarkt. Durchaus nicht unplausibel erscheint es dann, dass aus der Sicht der Zeitgenossen Werthers Suizid wie ein Opfertod für diese neue und radikal auf die Innerlichkeit gegründete Freiheit des Menschen begegnete. Auf der anderen Seite stehen also die Vertreter der bürgerlichen Ordnung, die vielfach noch – mehr oder weniger freiwillig – auf feudal-ständische Strukturen zurückgreifen. Mit dem »Werther« steht gewissermaßen ihre gesamte Ordnung auf der Kippe, die sich entscheidend auf die Tugenden von Fleiß und Arbeit sowie eine gebildete Intellektualität gründet. Werthers Tagträumerei und fehlende Bereitschaft, seine erworbene Intellektualität im Sinne einer arbeitenden Amtstätigkeit einzusetzen, drohen den bürgerlichen Stand im Sinne des Wortes zu untergraben (Scherpe 1970, S. 37 ff.). Aus Sicht der Kirchen der damaligen Zeit scheint nun wiederum – wie verschiedene Verbote vermuten lassen – eher das Fehlen eines didaktischen Schlussstriches im Werther problematisch, der sich tatsächlich (völlig ungehindert durch ein bürgerlich-kirchliches Verständnis) entsprechend seiner psychischen Verfassung das Leben nimmt (Steinberg 1999). Offenbar löst also der »Werther« auf der einen Seite Bewunderung, zuweilen gar Nachahmung, und auf der anderen Seite, so bei den kritisierten Schichten, Irritation und Erschrecken aus. Insofern ist der keineswegs unumstrittenen These von Scherpe zum »Wertherfieber« zuzustimmen, dass sich im »Werther« das Bürgertum in seinen eigenen Widerspruch verstrickt: »Werthers Affront gegen das bürgerliche Selbstverständnis liegt in einer einfachen Tatsache begründet. Durch seine Gesinnung und seine Handlungsweise 361 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

nimmt er die bürgerliche Moral beim Wort: Er macht von seinen Rechten als Individuum Gebrauch. Gegen den bürgerlichen Individualismus, der den Menschen zum Objekt seines eigenen Leistungs- und Besitzanspruchs macht, setzt er die Freiheit des Individuums, das über die Entfaltung seiner natürlichen Anlagen und Fähigkeiten selbst entscheidet.« (Scherpe 1970, S. 31) Diese gewissermaßen zeitgenössische Sicht macht dann auch verständlich, inwiefern das »Wertherfieber« wie ein Privatvergnügen wirksam wird und keineswegs bürgerliche Stände verwaisen lässt. Zunächst gilt es also festzuhalten, dass ganz offenbar im »Werther« ein Zeitzeugnis gesehen werden kann, in welchem auch das Verständnis von Humanität einen besonders klaren und deutlichen, d. h. epochalen bzw. zeitspezifischen Ausdruck erhielt. In diesem Sinne gilt es nun, den »Werther« im Hinblick auf das in ihm niedergelegte Verständnis der suizidalen Erfahrung zu untersuchen.

2.

Die Selbststrukturen des Werther

Goethe eröffnet seinen Roman mit dem Hinweis, dass Werther sich über seine eigene Identität im Unklaren ist. Auch lässt er seinen Protagonisten feststellen: »Und ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, dass Missverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen als List und Bosheit« (Goethe 1998, Bd. 6, Die Leiden des jungen Werther, S. 8). Werther befindet sich in einem ihm fremden Städtchen im Interesse, eine Streitigkeit um eine nicht unerhebliche Erbschaft seiner Mutter mit der Tante zu klären. Die »Einsamkeit in [s]einem Herzen« kommt ihm gelegen, er berichtet in den ersten Briefen vom Gefühl, in ein »ruhiges Dasein versunken« zu sein und alles wie in einem himmlischen Glanz wahrzunehmen (S. 9). Er will seinem Herzen alles gestatten und berichtet davon, im Homer zu lesen, die Natur zu betrachten und mit dem einfachen Volke Kontakt aufzunehmen. Auch wundert er sich über die Menschen, denn »[…] das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden.« (S. 11) Die festgesperrte Existenz der Menschen erstaunt ihn. Er hingegen wendet sich seinen Gefühlen und seinem Innern zu und stellt fest: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!« (S. 13) In dieser Sicht des Lebens zeigt sich: »[…] wer da sieht, wie artig jeder 362 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die Selbststrukturen des Werther

Bürger, dem es wohl ist, sein Gärtchen zum Paradiese zuzustutzen weiß, und wie unverdrossen auch der Unglückliche unter der Bürde seinen Weg fortkeucht, und alle gleich interessiert sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehn – ja, der ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst und ist auch glücklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen dass süße Gefühl der Freiheit, und dass er diesen Kerker verlassen kann, wann er will.« (S. 14) Bereits zu Beginn benennt Goethe also die suizidale Dialektik, welche wir insbesondere bei Seneca kennengelernt hatten, als eine innerlich bewegte Grundkenntnis der bürgerlichen Existenz, welche auch Werther zu eigen sein scheint. Werther trifft letztlich auf Charlotte – Lotte –, in die er sich ernsthaft verliebt. Er durchlebt mit ihr »so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen aufspart« (S. 28) und er ist in seinem Innersten verwirrt. Er beginnt seinen Brief, in welchem er seinem Freund Wilhelm von der ersten Begegnung berichten will, mit dem Satze: »Ich habe – ich weiß nicht« (S. 19). Schließlich schreibt er knapp zwei Wochen später über Lotte: »O der Engel! Um deinetwillen muss ich leben!« (S. 35) Werther berichtet einzig die inwendigen Erlebnisse, die »innere Welt«, wie mit seinen Worten gesagt werden könnte. Der Leser dieser Briefe erfährt auch Folgendes über diese innere Welt: Auch die »üble Laune« oder gar die »letzte bangste Krankheit« sei eine Art innere Trägheit, ein »innerer Unmut über unsere eigene Unwürdigkeit, ein Missfallen an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist, der durch eine törichte Eitelkeit aufgehetzt wird« (S. 34), die kein Mensch von außen lindern könne. Deutet sich hier ein Widerspruch in Werthers Erleben an? Widerspricht seine Aussage, dass der innere Unmut nicht durch andere Menschen gelindert werden könne, nicht seinem eigenen Erleben, wenn er mit Lotte zusammen ist, in welchem er sich glückselig wie ein Heiliger fühlt? Und ist Lotte nicht die Retterin vor seinem innersten Unmut über seine Unwürdigkeit? Wir müssen diese Fragen wohl bejahen. So lässt Goethe Werther tatsächlich davon berichten, dass er von einem Neid auf die Geschwister Lottes – insbesondere die Kinder – gepackt wird, wobei er zugleich das einfältige Dasein der Kinder in ihrer überhöhten Liebe zu Lotte ehrt und sich diesbezüglich jeglicher Kritik verwehrt (S. 36). So erlebt er das Waschen eines Kindergesichts durch Lotte als eine Taufhandlung: »[…] und als Lotte heraufkam, hätte ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation 363 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

weggeweiht hat.« (S. 34). Ja, er fühlt sich vor Lotte wie ein Kind und formuliert die tiefe Ungewissheit, ob denn seine Liebe überhaupt erwidert wird (S. 37): »Nein, ich betriege mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, dass sie – o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? – dass sie mich liebt! Mich liebt! – Und wie wert ich mir selbst werde, wie ich – dir darf ich’s wohl sagen, du hast Sinn für so etwas – wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt! Ob das Vermessenheit ist oder das Gefühl des wahren Verhältnisses? – Ich kenne den Menschen nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen fürchtete. Und doch – wenn sie von ihrem Bräutigam spricht, mit solcher Wärme, solcher Liebe von ihm spricht – da ist mir’s wie einem, der aller seiner Ehren und Würden entsetzt und dem der Degen genommen wird […]«,

schreibt Werther an Wilhelm etwa einen Monat, nachdem er Lotte kennengelernt hat (S. 38). Die Wucht und Überschwemmung durch die Liebe für Lotte, in welcher sich Werther überhaupt erst selbst etwas wert wird und welche er ganz unreguliert erlebt, erhebt diese zum zentralen Punkt seines Daseins. Keine Tugend, keine Vernunft und keine Rationalität werden von ihm über das Gefühl gestülpt. Vielmehr wird seinem Herzen jeder Wunsch erfüllt und er richtet sein Dasein auf diese Retterin aus. Der Verstand, so könnte gesagt werden, hinkt diesem Gefühl stetig hinterher und versucht, sich zu erklären, was im Vorfeld erfahren wird. Deutlicher kann der Unterschied zum damaligen Menschenbild, in welchem die nüchterne Ratio des Menschen die Oberhand gewonnen zu haben scheint, nicht ausgedrückt werden. Diesem korrespondiert die erlebte Wertlosigkeit, der Unmut über die eigene Wertlosigkeit, wenn die Retterin ihre zugeschriebene Position verlässt und die Rettung in die gemeinsame Liebe nicht mehr ungesagt verspricht. Zeigt sich darin nicht eine (auch für Werther erkennbare) Widersprüchlichkeit in seiner Erfahrung? Denn schließlich eröffnet sich hier ein Widerspruch, der sich um das Göttliche in Gestalt des Rettenden (also Lotte!) zentriert. Etwa fünf Wochen nach dem ersten Aufeinandertreffen kommt Albert zurück, der Verlobte und Bräutigam von Lotte, und Werther erkennt, dass er in einer Entscheidung steht. Er schreibt seinem Freund: »Du wirst mir also nicht übelnehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument einräume und mich doch zwischen dem Entweder-Oder durchzustehlen suche. Ent-

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Die Selbststrukturen des Werther

weder, sagst du, hast du Hoffnung auf Lotten, oder du hast keine. Gut, im ersten Fall suche sie durchzutreiben, suche die Erfüllung deiner Wünsche zu umfassen: im anderen Fall ermanne dich und suche einer elenden Empfindung los zu werden, die alle deine Kräfte verzehren muss. – Bester! das ist wohl gesagt, und – bald gesagt. Und kannst du von dem Unglücklichen, dessen Leben unter einer schleichenden Krankheit unaufhaltsam allmählich abstirbt, kannst du von ihm verlangen, er solle durch einen Dolchstoß der Qual auf einmal ein Ende machen? Und raubt das Übel, das ihm die Kräfte verzehrt, ihm nicht auch zugleich den Mut, sich davon zu befreien?« (S. 43)

Wie Werther ausführt, steht er nicht nur in einer Entscheidung zwischen zwei Zuständen seiner selbst, sondern auch in der Entscheidung für oder gegen die Retterin. Als Gegenstück zur Rettung durch Lotte erscheint ihm die existentielle Vernichtung, der Dolchstoß ins Herz. Und zugleich sind diese beiden Zustände seiner selbst, von denen der eine mit der eigenen Rettung und der andere mit der eigenen Vernichtung verkoppelt ist, einander in einem (scheinbar?) widersprüchlichen Verhältnis zugeordnet. Seine Erfahrung schließt sich jedoch immer weiter auf diese beiden alternierenden Zustände ein, »[…] ich habe manchmal so einen Augenblick aufspringenden, abschüttelnden Muts, und da – wenn ich nur wüsste wohin, ich ginge wohl.« (S. 44) Ist aber diese Trägheit, sich aus diesem haltlosen Zustand zu befreien, nicht dieselbe Trägheit, von welcher Werther zuvor gesprochen hatte und die ihre Herkunft in dem Unmut über die eigene Unwürdigkeit haben sollte? Werther denkt hier offenbar zum ersten Mal auch über einen eigenen Suizid nach, in welchem ihm nichts Unmoralisches begegnet, sondern in welchem er, ganz wie er am Anfang gesagt hatte, einfach einen Ausweg aus diesem widersprüchlichen und unüberwindlichen haltlos-verzweifelten Zustand sieht (S. 46 ff.). Werthers innerer Zwiespalt wird ihm selbst immer deutlicher. »Musste denn das so sein, dass das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elendes würde?« (S. 51) »Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes […]. Und so taumle ich beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.« (S. 53) »Umsonst strecke ich meine Arme nach ihr aus, morgens, wenn ich von schweren Träumen aufdämmere, vergebens suche ich sie nachts in meinem Bette, wenn mich ein glücklicher, unschuldiger Traum getäuscht hat, als säß’ 365 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

ich neben ihr auf der Wiese und hielt’ ihre Hand und bedeckte sie mit tausend Küssen. Ach, wenn ich dann noch halb im Taumel des Schlafs nach ihr tappe und drüber mich ermuntere – ein Strom von Tränen bricht aus meinem gepressten Herzen, und ich weine trostlos einer finstern Zukunft entgegen.« (S. 53) Werther erlebt einen Verlust seiner selbst (»Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles«) und alle Welt spricht ihm von Lotte, deren Unerreichbarkeit ihm klar geworden ist: »Meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr. Und das macht mir denn so manche glückliche Stunde – bis ich mich wieder von ihr losreißen muss!« (S. 55) Ja, die ganze Welt kommt ihm eigenartig unreal vor (»Wilhelm, ich weiß oft nicht, ob ich auf der Welt bin!«) und er entwickelt ein selbstverletzendes Verhalten: »Einen jähen Berg zu klettern ist dann meine Freude, durch einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hecken, die mich verletzen, durch die Dornen, die mich zerreißen! Da wird mir’s etwas besser!« (S. 55) Er wird ernsthaft suizidal, kann aber die Hinund Hergerissenheit zunächst lösen, indem er beschließt, abzufahren und seinen Abschied von Lotte und Albert zu nehmen, ohne ihnen seine Abreise mitzuteilen (S. 56 f.). Er hofft darin dieser inneren Widersprüchlichkeit entgehen zu können. Doch betrachten wir, bevor wir Werthers Geschichte weiter verfolgen, seine innere Verfassung noch etwas genauer. Es zeigt sich eine eigenartige Doppelung seiner selbst. Auf der einen Seite steht der Werther in der Gemeinsamkeit mit Lotte. Auf der anderen Seite steht der einsame Werther, dem das Gemeinsame mit Lotte verschlossen ist. Der eine Werther ist im Gemeinsamen mit Lotte geborgen, aufgehoben und glücklich. Er ist sich selbst etwas wert aufgrund dieser Gemeinschaft. Alles ordnet sich hier auf Lotte hin, sie wird gewissermaßen zur Spitze seines Sinns. Gerade da sie ihm nicht wahrhaft fassbar ist, sondern eher wie ein Schattenriss, wie ein unfassbares Bild erscheint, wird sie für ihn zum rettenden Bild seines Daseins, ist sein Rettendes. Insofern erscheint sie transzendent und geradezu übermenschlich, wie ein Engel. Dabei sieht Werther sie in einem »Liebesblick«, der durchaus seine eigene Wahrheit hat. Dem gegenüber steht ein ganz anderer Werther. Diesem ist das Gemeinsame mit Lotte durch Lotte selbst verschlossen. All dies findet seinen (symbolischen) Ausdruck im Bräutigam, der die »gutbürgerliche« Existenz verkörpert. Dieser Werther ist einsam, missmutig über sich, sich selbst unwert und 366 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Wiederkehr der inneren Widersprchlichkeit

ringt um seine Daseinsberechtigung, die er nicht in sich selbst zu finden vermag. In dieser (Selbst-)Erfahrung ist alles auf die Abwesenheit Lottes und das Versperren des gemeinsamen (und rettenden) WirSelbst geordnet. Der Verlust dieser Rettung wird hier jederzeit und allerorten erfahren, insofern Werther überall Hinweise auf Lotte erlebt, wodurch ihm wiederum die Welt unreal erscheint. Es ist dieser Werther, der wie die »guten Bürger« droht, seine verbliebene Freiheit – in Gestalt der rettenden Gemeinschaft mit Lotte – endgültig zu verlieren und sich in einem Beruf dem Ämterwesen einzuordnen. Dieses Selbst ist im Sinne des kierkegaardschen Verständnisses verzweifelt. Die besondere Qualität ist nun, dass diese beiden Weisen der Selbsterfahrung sich nicht loswerden können, sondern sich als zwei widersprüchliche Zustände derselben Person begegnen. Die herausgezögerte Entscheidung drückt dieses unauflösliche Zueinander aus. Während der eine Werther in Lotte das Rettende im Sinne einer »vollen Fülle« erlebt, zeigt sich dem anderen Werther dies als ein »nichtendes Nichts«, da sich das Rettende aktiv entzieht bzw. verweigert. Gerade am Rettenden zeigt sich der unaufhörliche Umschlag: Lotte ist sowohl die Retterin als auch die Nicht-Retterin, insofern sie die Rettung versagt. Die unaufhörliche Wiederkehr dieses unauflöslichen Beieinanders ist dabei für Werther das Allerschrecklichste. Jegliche Rettung aus dieser Haltlosigkeit, diesem Hin- und Heroszillieren, scheint verloren.

3.

Wiederkehr der inneren Widersprchlichkeit

Werther sucht eine Lösung und versucht diese Haltlosigkeit zu beenden. Er nimmt eine Stellung als Amtmann an einem entfernten Hofe an. Er versucht ernsthaft, sich in das bürgerliche Leben hineinzufinden. Dieses ist der Werther, der von Lotte Abschied nimmt und die Rettung durch Lotte aufgibt. Drei Monate versucht Werther in diesem bürgerlichen Leben anzukommen, welches ihm aber zunehmend verhasst wird und seine Einsicht bestätigt, dass das bürgerliche Leben seiner Freiheit und seinem Glück im Wege steht. So schreibt er zwei Monate nach Übernahme der Stelle: »Was mich am meisten neckt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse. Zwar weiß ich so gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wie viele Vorteile er mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht eben gerade im Wege stehen, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von Glück auf dieser Erde 367 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

genießen könnte.« (S. 63) In dieser Situation wird ihm die Erinnerung an Lotte zu einer goldenen Vergangenheit und er schreibt ihr von seinem alltäglichen »Käfig«, in welchem ihm kein Glück gewährt sei. Auch überwirft er sich mit seinem Vorgesetzten und wird auf einem Fest aus der bürgerlichen Gesellschaft, die sich um den Hof scharrt, verstoßen. Sein Vertrauen in seine Fähigkeiten, die seitens seiner Vorgesetzten durchaus geschätzt werden, ist dahin, seine bürgerlichen Widersacher triumphieren. Er ist zutiefst verletzt und fühlt sich in seinem Hass und seiner Wut auf die eingeengte bürgerliche Gesellschaft bestätigt: sein Versuch, dieser anzugehören, ist (aus seiner Sicht endgültig) gescheitert. Es scheint ihm keine Freiheit, kein Glück und somit auch keine Rettung mehr in dieser Lebensform möglich. So denkt er über einen Suizid nach, überlegt Möglichkeiten von Duellen und nimmt letztlich seinen Abschied aus seiner Ämterlaufbahn, die seine Vorgesetzten sehr betrübt (S. 70 f.). Der Versuch der Ämterlaufbahn kann als der gescheiterte Versuch angesehen werden, eine neue Rettung bzw. eine neue Lösung des erlebten Widerspruchs aufzufinden. Dabei findet sich auf der einen Seite seine Verfassung des bürgerlich-ständischen Amtmannes, der in seinen Versperrungen, Einengungen und Formalismen steten Unmut über seine eigene Unzulänglichkeit erlebt. Auf der anderen Seite steht die Rettung, die zunächst ebenfalls in der Ämterlaufbahn erhofft wird und die dem Herzen, der Offenheit zu seinen Gefühlen, seiner Verletzlichkeit und Grandiosität zu entsprechen scheint. Im zunehmenden Verlust dieser Rettung besinnt er sich auf Lotte, auf das gemeinsame Wir-Selbst, welches Rettung aus allem versprochen hatte. Der Versuch einer neuerlichen Versöhnung dieses innerlichen Widerspruchs scheitert allerdings sowohl an den bürgerlichen Formalismen als auch an seinem eigenen »Inneren«. Vergleichbar der Widersprüchlichkeit im Hinblick auf Lotte ist auch hier die Ämterlaufbahn innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sowohl die Rettung, die sich eröffnet, als auch die Vernichtung, da sie sich aus sich heraus dem jungen Werther verschließt. In beiden Situationen macht Werther folglich eine vergleichbare Grunderfahrung, nämlich die einer Unvereinbarkeit zweier widerstreitender Verfassungen seiner selbst. Dies setzt ihn auf seine verzweifelte Einsamkeit frei, da sich das Gerettetwerden in ein gemeinsames Wir-Selbst von diesem her – einmal bürgerlichen Formalismen und das andere Mal Lottes bürgerlichen Wünschen folgend – verschließt. Werther reist weiter, durchreist seine Geburtsstadt, ohne wahr368 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Wiederkehr der inneren Widersprchlichkeit

haft neu geboren zu werden. Einen weiteren Versuch der Lösung des Widerspruchs sieht er im Militär, als ihm aber davon abgeraten wird, begibt er sich auf die Reise zurück zu Lotte. Damit kehrt er in die bereits beschriebene Situation und Verfassung seiner selbst zurück (S. 75). Seine Wünsche (»Wie, wenn Albert stürbe?«) konzentrieren sich auf Lotte und die Gemeinschaft mit ihr, welches ihm wahrhaft göttlich wird: »Ich begreife manchmal nicht, wie sie ein anderer lieb haben kann, lieb haben darf, da ich sie so ganz allein, so innig, so voll liebe, nichts anders kenne, noch weiß, noch habe als sie!« (S. 76) Werther erlebt in sich einen Zwiespalt angesichts seiner immer mehr zunehmenden Hoffnungslosigkeit, dass er doch noch mit Lotte inniglich und im Sinne der Bürgerlichkeit verbunden werden könnte. »Ach diese Lücke! diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle! – Ich denke oft, wenn du sie nur einmal, nur einmal an dieses Herz drücken könntest, diese ganze Lücke würde ausgefüllt.« (S. 83) Zugleich erregt er sich immer intensiver und umfassender über die »Gebildeten – zu Nichts Verbildeten!« (S. 79), zu denen er sich aber durchaus auch selbst zählt. Und er stellt sich schließlich die entsetzliche Frage: »Wenn du nun gingst, wenn du aus diesem Kreise schiedest? würden sie, wie lange würden sie die Lücke fühlen, die dein Verlust in ihr Schicksal reißt? wie lange […]« (S. 83). Für Werther wird schließlich klar, dass er alles verloren hat. Ohne Lotte »wird mir alles zu Nichts«, aber alles außer Lotte ist ihm verloren, sein »[…] Herz ist jetzt tot […] ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war, die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin!« (S. 84 f.) In dieser Verfassung ist Werther erneut suizidal, hat den Wunsch, nicht mehr aus dem Schlaf zu erwachen, sieht sich zwischen »Sein und Nichtsein« stehen, seine ganze Welt mit ihm versinken und fragt mit dem Evangelium: »Mein Gott! Mein Gott! warum hast du mich verlassen?« (S. 86) Er bittet Gott, ihn zu sich zu rufen, da dieser ihm doch das Antlitz abgewendet habe (S. 90 f.). Die Geschichte eines Menschen, der über eine unerfüllte Beziehung zu Lotte wahnsinnig wurde, macht einen tiefen Eindruck auf ihn und er wünscht sich, selbst wahnsinnig zu werden anstatt die Kenntnis seiner elenden Lage noch länger ertragen zu müssen (S. 90). In dieser innerlich zerrissenen Verfassung, in welcher Werther den eigenen Tod bzw. das Sich-töten-können als Rettung erkennt, brechen die Briefe im Roman ab. Es beginnt ein abschließender Teil, in welchem sich Goethes Verständnis der suizidalen Erfahrung besonders deutlich erschließen lässt. Aber bereits jetzt, bevor wir 369 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

auf diesen Teil zu sprechen kommen, ist ein entscheidender Punkt deutlich geworden. War Werther bisher in seinem widersprüchlichen Innern nur verzweifelt, ist er nun suizidal geworden. Findet sich der Schritt von der Verzweiflung in die suizidale Erfahrung darin, dass ihm eine Unüberwindlichkeit seiner Verzweiflung selbst einsichtig geworden ist? Dass er die Hoffnungslosigkeit seines Hoffens auf Lottes Eröffnen des gemeinsamen Wir eingesehen hat? Dass ihm die stete Wiederkehr seiner inneren Widersprüchlichkeit deutlich wurde? Dass ihm die Rettung verloren ist, ihm alles zum Nichts und zum Abgrund geworden ist?

4.

Suizidale Erfahrung, innere Widersprchlichkeit und das Rettende

Goethe beschreibt Werther als den Menschen, der »mit sich in ewigem Unfrieden lebte« und die Verhinderung seiner Gemeinsamkeit mit Lotte immer stärker an Alberts Anwesenheit festmacht (S. 94). Ein Papier wird erwähnt, auf welchem Werther niederschreibt: »Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! ich sehe wohl, dass wir nicht zu retten sind.« (S. 97) Er berichtet ein »[…] inneres, unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupresst!« (S. 98) und verliert sich in der imaginierten »[…] Wonne, meine Qualen, meine Leiden (in den Abgrund J. S.) da hinabzustürmen! dahin zubrausen wie die Wellen!« (S. 99) Er stellt seine innerliche Widersprüchlichkeit dar: »Was ist das, mein Lieber? Ich erschrecke vor mir selbst! Ist nicht meine Liebe zu ihr die heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Habe ich jemals einen strafbaren Wunsch in meiner Seele gefühlt? – Ich will nicht beteuern – Und nun, Träume! O wie wahr fühlten die Menschen, die so widersprechende Wirkungen fremden Mächten zuschrieben! Diese Nacht! ich zittere, es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen Busen gedrückt, und deckte ihren liebeslispelnden Mund mit unendlichen Küssen; mein Auge schwamm in der Trunkenheit des ihrigen! Gott! bin ich strafbar, dass ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle, mir diese glühenden Freuden mit voller Innigkeit zurückzurufen? Lotte! Lotte! – Und mit mir ist es aus! Meine Sinne verwirren sich, schon acht Tage habe ich keine Besinnungskraft mehr, meine Augen sind voll Tränen. Ich bin nirgend wohl, und überall wohl. Ich wünsche nichts, verlange nichts. Mir wäre besser, ich ginge.« (S. 99 f.)

Goethe legt großen Wert auf Werthers »Streit mit sich selbst« (S. 100) und berichtet von einem Zettel, den Werther schreibt: »Den Vorhang 370 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung, innere Widersprchlichkeit und das Rettende

aufzuheben und dahinter zu treten! das ist alles! Und warum das Zaudern und Zagen? Weil man nicht weiß, wie es dahinten aussieht? und man nicht wiederkehrt? Und dass das nun die Eigenschaft unseres Geistes ist, da Verwirrung und Finsternis zu ahnen, wovon wir nichts Bestimmtes wissen.« (S. 100) In diesen Sätzen zeigt sich die innere Widersprüchlichkeit der suizidalen Erfahrung, dass nämlich der Tod unbestimmt erscheint, wohingegen das Leben eine stete Wiederkehr der Verzweiflung ist. Die Beendigung dieser ewigen Wiederkehr, als welche sich das eigene Leben dem Betreffenden zeigt, erscheint somit als Rettung. Diese innerliche Widersprüchlichkeit der Zustände seiner selbst macht ihm sowohl das eine als auch das andere fremd. Sein einer Zustand ist dabei ganz auf Lotte ausgerichtet, sieht in ihr noch immer die Rettung in eine volle Seligkeit, obwohl diese mittlerweile vollkommen verschlossen und verloren ist. Dieser Verlust wird auch für Werther am vorletzten Treffen mit Lotte nochmals überdeutlich, als sie ihn sich entfernen heißt und ihm deutlich macht, dass sein Wunsch nach einem Gemeinsamen unerfüllbar ist: »Fühlen Sie nicht, dass Sie sich betriegen, sich mit Willen zugrunde richten! Warum denn mich, Werther? just mich, das Eigentum eines andern? just das? Ich fürchte, ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht.« (S. 102 f.) Sie bietet ihm Freundschaft und fordert darin zugleich eine Distanzierung. Dies bestärkt seinen Entschluss, sich zu töten. Er schreibt an diesem Abend: »Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben.« Die Hoffnungslosigkeit und stete Wiederkehr seines freudlosen Daseins in seiner »grässlichen Kälte« ist ihm klar bewusst, sein Entschluss steht fest und plötzlich ist die Verzweiflung verschwunden: »Es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewissheit, dass ich ausgetragen habe, und dass ich mich opfere für dich.« (S. 104) Die Entschlossenheit bringt ihn noch einmal zu Lotte zurück, er wirft sich ihr schließlich im Gesprächsverlauf an die Brust. In ihrer Verwirrung küsst sie ihn, drückt ihn weg mit den Worten, »Das ist das letzte Mal! Werther! Sie sehn mich nicht wieder.« (S. 115), und zieht sich von ihm zurück. Nun ist ihm das Sich-töten-können endgültig zum Rettenden geworden. Freilich stellt sich die Frage, ob für Werther das Sich-töten-können und der Tod dadurch zum Rettenden wird, da er die Unmöglichkeit der Rettung im Leben bzw. den Verlust von Lotte im irdischen Leben endgültig besiegelt und die Hoffnung auf das Gewinnen Lottes als bür371 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

gerliche Frau überflüssig macht. Eine Antwort auf diese Frage kann uns der vorletzte Brief geben. »Sterben! was heißt das? Siehe, wir träumen, wenn wir vom Tode reden. Ich habe manchen sterben sehen; aber so eingeschränkt ist die Menschheit, dass sie für ihres Daseins Anfang und Ende keinen Sinn hat. Jetzt noch mein, dein! dein, o Geliebte! Und einen Augenblick – getrennt, geschieden – vielleicht auf ewig? – Nein, Lotte, nein – Wie kann ich vergehen? wie kannst du vergehen? Wir sind ja! […] Alles ist vergänglich, aber keine Ewigkeit soll das glühende Leben auslöschen, das ich gestern auf deinen Lippen genoss. das ich in mir fühle! Sie liebt mich! Dieser Arm hat sie umfasst, diese Lippen haben auf ihren Lippen gezittert, dieser Mund hat an dem ihrigen gestammelt. Sie ist mein! du bist mein! ja, Lotte, auf ewig. Und was ist das, dass Albert dein Mann ist? Mann! Das wäre denn für diese Welt […]« (S. 116 f.).

Ganz offenbar befindet sich Werther also in einer innerlich gespaltenen Verfassung. Auf der einen Seite steht der verzweifelte Werther aus der hiesigen, bürgerlichen Welt, dem das Rettende verloren gegangene ist. Der Verlust seiner Rettung zeigt sich ihm an Albert, der in dieser Welt seinen ehedem erhofften Platz an Lottes Seite unwiederbringlich und unüberwindlich einnimmt. Auf der anderen Seite steht der Werther, dem die letzte Rettung in der Vernichtung seines irdischen Lebens gegeben ist, da ihm darin zugleich die verlorene Rettung überflüssig wird. Sein Entschluss zum Suizid vermindert so die Verzweiflung, gibt ihm Halt und führt ihn in eine Opferhaltung, da er sich für Lotte aus der unauflöslichen Gleichung Albert-Lotte-Werther entfernt: »Es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewissheit, dass ich ausgetragen habe, und dass ich mich opfere für dich. Ja, Lotte! warum soll ich es verschweigen? Eins von uns dreien muss hinweg, und das will ich sein! O meine Beste! in diesem zerrissenen Herzen ist es wütend herumgeschlichen, oft – deinen Mann zu ermorden! – dich! – mich! – So sei es denn!« (S. 104) Sein Opfer rettet zugleich erneut Lotte als seine Retterin, gerade da sie darin als Retterin für ihn in Zukunft überflüssig wird. Er schreibt an Albert: »Ich habe den Frieden deines Hauses gestört, ich habe Misstrauen zwischen euch gebracht. Lebe wohl! ich will es enden. O dass ihr glücklich wäret durch meinen Tod! Albert! Albert! mache den Engel glücklich!« (S. 121) Werther drückt in seinem Abschiedsbrief nochmals die ganze Widersprüchlichkeit seiner suizidalen Erfahrung aus: »Hier, Lotte! Ich schaudre nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll! Du reichtest mir ihn, und ich zage

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Das Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Johann Wolfgang Goethe

nicht. All! all! So sind alle die Wünsche und Hoffnungen meines Lebens erfüllt! So kalt, so starr an der ehernen Pforte des Todes anzuklopfen. Dass ich des Glückes hätte teilhaftig werden können, für dich zu sterben! Lotte, für dich mich hinzugeben! Ich wollte mutig, ich wollte freudig sterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wiederschaffen könnte. Aber ach! das ward nur wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die Ihrigen zu vergießen und durch ihren Tod ein neues, hundertfältiges Leben ihren Freunden anzufachen.« (S. 123)

In dieser innerlich widersprüchlichen Haltung erschießt sich Werther in einer Kleidung, die von Lotte berührt und ihm darin heilig geworden ist (S. 123). Er wird an den Folgen seiner Schussverletzung sterben, die er sich mit den Pistolen, die er von Albert ausgeliehen und die durch Lottes Hände an seinen Burschen übergeben worden sind, zugefügt hat (S. 120 f.). Ganz offenbar versteht sich die suizidale Erfahrung Werthers, so wie Goethe sie hier beschreibt, als gekennzeichnet durch diese eigenartige innere Widersprüchlichkeit der Erfahrungsstruktur, die in zwei unterschiedene und zugleich einander ausschließend entgegenstehende Verfassungen seiner selbst mit entsprechend widersprüchlichen Erfahrungszugängen zum Rettenden auseinander tritt.

5.

Das Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Johann Wolfgang Goethe

Die suizidale Verfassung Werthers wird von Goethe sorgfältig bearbeitet. Auch aus heutiger Sicht können sich Suizidologen an Goethes Verständnis, wie er es im »Werther« ausführt, Bestätigung ihrer Theorie abholen. So beispielsweise auch Antoon Leenaars, der sein Verständnis am »Werther« illustriert und zu dem Schluss kommt: »Thus, it can be concluded that the theory is applicable to the case of Werther, a case that is 200 years old. At the very least, as Alan L. Berman, one of my consultants, noted, I can conclude that Goethe and I agree about ›why people kill themselves.‹« (Leenaars 1996) Verständlicherweise wäre es reizvoll, detailliert zu sehen, ob denn Leenaars Selbstsicherheit berechtigt ist. Zumal, so liest sich der »Werther«, es Goethe nicht darum ging, die Frage nach dem »Warum« des Suizids seines Werther zu klären, sondern die Innerlichkeit eines suizidalen Menschen zu verstehen. Sicherlich ist es immer fragwürdig, wenn Interpretationen, seien sie noch 373 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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so hermeneutisch genau, schlichtweg für die Wahrheit der interpretierten Aussage genommen werden. Vermutlich hätte Leenaars als vorwiegend empirisch geprägter Mensch der heutigen, transatlantischen Kultur eine für uns typische Schwierigkeit, die bereits in der Einleitung dieses Abschnitts anklang. Dies ist Goethes Verständnis allen Konkreten im Ganzen. Was ist damit gemeint? Cassirer drückt dies in vielleicht unnachahmlicher Weise aus, weshalb es hier zitiert sein soll: »Für ihn gibt es keine abgesonderte Natur und keine abgesonderte Gewalt der bloßen Form mehr – keinen feststehenden Rahmen, dem sich die werdende dichterische Gestalt einfügen muss. Vielmehr ist es der innere Prozess der Gestaltung selbst, der mit dem Gebilde selbst auch seine poetische Form, auch sein aus ihm selbst entspringendes, immanentes Maß erschafft. Poetischer Gehalt ist nach Goethe ›Gehalt des eigenen Lebens‹ – so kann auch nur das Leben selbst die Form finden und die Form bestimmen, die diesem Gehalt gemäß ist. Die künstlerische Schöpfung ist demgemäß niemals als ein bloßer ›Spezialfall‹ innerhalb einer erkannten und festgestellten Art oder Gattung zu begreifen; sondern jede wahrhafte Schöpfung stellt etwas Eigenes und Unvergleichliches, stellt eine neue Möglichkeit, eine neue Gestalt und ein neues Sein dar.« (Cassirer 1995, S. 50) Goethe – so Cassirer – versteht das jeweilige Leben wie die künstlerische Schöpfung. So zeigt sich das Ganze des jeweiligen Lebens in jedem Augenblick. Um das Verständnis der suizidalen Erfahrung im »Werther« nachzuvollziehen, genügt es also nicht, die Frage nach dem »Warum« zu stellen, sondern es bedarf der Frage nach dem »Wie«. Bevor wir uns dieser Frage nochmals am »Fall« des Werther zuwenden, sollen aber zunächst kurz die entscheidenden Unterschiede zwischen Goethes und seinen zeitgenössischen Verständnissen der suizidalen Erfahrung aufgeführt werden. Erst daran anschließend wird dann versucht, das Verständnis der suizidalen Erfahrungsstruktur im »Werther« darzulegen. Die Unterschiede zu den zeitgenössischen Verständnissen der suizidalen Erfahrung werden von Goethe im »Werther« selbst thematisiert. Dies kann besonders gut an einem Brief nachvollzogen werden, den Werther verfasst, als er erstmals über den Suizid nachdenkt und ihn erwägt. Dies stellt Goethe in einem brieflich mitgeteilten Dialog zwischen Werther und Albert dar. Kurze Zeit nach Alberts Ankunft, Werther befindet sich bereits in der Einsicht in seine widerstreitende innere Verfassung, gerät er mit Albert in einen Dialog über den Suizid. Werther setzt sich eine ungeladene Pistole von Albert an den Kopf, 374 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ganz so, wie er sich später erschießen wird. Albert, der vernünftige und einem Amt entgegensehende Bürger, verurteilt Werthers Schauspiel als töricht. Darauf entgegnet Werther: »Dass ihr Menschen um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müsst: das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös!’ Und was will das alles heißen? Habt ihr deswegen die innern Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wisst ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen musste? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein.« (S. 46) Albert rechnet hingegen den Suizid zu den wahnsinnigen Unterfangen, in welchen der Mensch durch seine Leidenschaften hingerissen alle Besinnungskraft verliere (S. 46). Diese Antwort erregt Werther und er verweist darauf, dass alle großen Taten in einem Zustande nahe dem Wahnsinn erfolgt wären und erfolgen würden. »›Die menschliche Natur‹, fuhr ich fort, ›hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch oder körperlich sein. Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.‹ ›Paradox! sehr paradox!‹ rief Albert aus. – ›Nicht so sehr als du denkst‹, versetzte ich. ›Du gibst mir zu, wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, dass teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung gesetzt werden, dass sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist.‹« (S. 48)

Und Werther berichtet von einem Mädchen, welches sich nach dem Verlust ihres Geliebten tötet: »Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde; alles ist Finsternis um sie her, keine Aussicht, kein Trost, keine Ahnung! denn der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Dasein fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die vielen, die ihr den Verlust ersetzen könnten, sie fühlt sich allein, verlassen von aller Welt, – und blind, in die Enge gepresst von der entsetzlichen Not ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode alle ihre Qualen zu ersticken. – Sieh, Albert, das ist die Geschichte so manches Menschen! und sag’, ist das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muss sterben.« (S. 49 f.) 375 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

Was Goethe hier seinen Werther vor den vernünftigen und bürgerlichen (und durchaus auch im Herzen ruhigen) Menschen seiner Zeit durchfechten lässt, ist der Anspruch eines inneren Verständnisses des Menschen, in welchem auch der Suizid in seiner Widersprüchlichkeit verstanden werden kann. Albert sieht hier nicht umsonst eine Paradoxie, allerdings möchte er von dieser Paradoxie nichts wissen. Was ihm paradox wird, ist ihm unvernünftig. Goethe hingegen macht diese Paradoxie zum zentralen Aspekt seines Verständnisses des suizidalen Werthers. Dies haben wir bereits an der in sich widersprüchlichen Selbsterfahrung Werthers gesehen. Die suizidale Verfassung wird hier nicht als Folge des Wahnsinns dargestellt, vielmehr könnte bei Goethe gerade der Wahnsinn vor der suizidalen Erfahrung retten. Es gibt bei Goethe auch keine »göttlichen Zeichen«, so sehr Werther auch darum bittet. Die suizidale Verfassung wird aber auch nicht als Folge einer dämonischen Besessenheit dargestellt, obwohl Werther selbst schreibt, dass es durchaus ganz verständlich wäre, wenn die Menschen in den widerstreitenden Kräften innerhalb des suizidalen Menschen fremde Mächte am Werke sehen möchten. Die Suizidentscheidung ist im »Werther« aber auch nicht die Folge eines nicht verzweifelten, stoisch abwägenden und vernünftigen Nachdenkens, auch wenn sich nach gefasstem Entschluss eine eigenartige Ruhe über den nun zum Suizid entschlossenen Werther zu senken scheint. Die suizidale Erfahrung erscheint vielmehr als Ausdruck der inneren Verzweiflung und Widersprüchlichkeit, inwiefern der eigene Tod vom Betreffenden als Rettung angesehen werden kann. Diese Verzweiflung ist bei Werther aber nicht »verrückt« oder irrational, sondern hat eine eigene Logik, die sich in der »inneren Welt« dieses Menschen findet und insbesondere mit seinem Herz verbunden ist. Wichtig ist dabei, dass dieses Herz in seiner Vorgabe von Stimmungen und Gefühlen ganz offenbar das Denken im Vorhinein gestaltet. Ein solches Verständnis der suizidalen Erfahrung verwirft damit alle soeben beschriebenen (traditionellen und bürgerlichen) Verständnisse der suizidalen Erfahrung und fordert ein Verständnis aus der »inneren Welt« heraus. Dabei ist es gänzlich unerheblich, wie der Suizid in einem moralischen (normativ ethischen) Sinne beurteilt werden mag. Es geht Goethe, so können wir hier schlussfolgern, tatsächlich um die Frage, wie es ist, suizidal zu sein. Ausgehend von der Erfahrung des suizidalen Menschen will Goethe den Suizid aus der Sicht des Betroffenen und in dessen innerer (Erfahrungs-)Logik erfassen und verstehen. Er zielt in seinem Roman 376 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Johann Wolfgang Goethe

folglich nicht auf das Benennen von Ursachen oder Kausalitäten, sondern vor allem auf die Möglichkeit eines Verständnisses. Diese Absicht entspricht offenbar auch dem Zeitgeist seiner damaligen (»irrational bewegten«) jungen Generation (und entfacht vor diesem Hintergrund das »Wertherfieber«). Goethe zeichnet dabei das Bild eines Menschen, der die Grenzen seiner Rationalität einsieht und der erkennt, dass die eigene Glückseligkeit etwas mit dem eigenen Herzen zu tun hat. Hiermit ist wieder einmal nicht das Herz im anatomischen Sinne gemeint, sondern das Gefühl, die Stimmung und das Erleben des Menschen. Für Goethe ist das Herz nämlich nicht nur der Ort der Gefühle, sondern zugleich das Zentrum des Menschen, welches exakter Spiegel seiner Welt ist. Wie René Michéa in einer ausführlichen Sprachanalyse des »Werther« zeigen kann, findet sich der sprachliche Ausdruck dieses fundamentalen Zueinanders insbesondere in dem Begriff »Ruhen« (Michéa 1994, S. 216 f.). »Ein Grundgedanke Goethes, auf dem die innere Einheit seines Gesamtwerkes beruht, besteht in der Vorstellung, dass die Elemente der äußeren und der inneren Welt in enger Beziehung zueinander stehen. Das Verb »ruhen« ist besonders dazu geeignet, diese tiefe Verbundenheit zu suggerieren, da es die Permutation von Subjekt und Objekt des Denkens auf syntaktischer Ebene ermöglicht.« (S. 217) Das untrennbare und unteilbare Zueinander von Mensch und Welt ist für Goethe bekanntlich allem Erleben und Erfahren vorgängig. (Dies erinnert uns durchaus auch an die heideggersche Kennzeichnung des In-der-Welt-seins, welches das vorgängige Zueinander von Mensch und Welt ist, aus welchem wir uns erst hervorkommen und (selbst) begegnen.) Dieser Gedanke Goethes ist zentral, um sein Verständnis der suizidalen Erfahrung darlegen zu können. Zur besseren Verdeutlichung sei daher eine Passage aus dem »Faust I« zitiert, die dieses Zueinander in besonderer Weise ausdrückt. Goethe lässt Faust auf die Frage nach Gott sagen: Schau’ ich nicht Aug’ in Auge dir, Und drängt nicht alles Nach Haupt und Herzen dir, Und webt in ewigem Geheimnis Unsichtbar sichtbar neben dir? Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, Nenn es dann, wie du willst,

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Der »Fall« Werther

Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen Dafür! Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut. (Goethe 1998, Bd. 3, Faust I, 3446–3458)

Die nur (präepistemisch) erfahrbare Ungeschiedenheit von Mensch und Welt ist für Goethe unzweifelhaft. Hingegen übersteigt diese Ungeschiedenheit die (reflexiv mögliche) Bestimmbarkeit, insofern ist sie folgerichtig namenlos, auch wenn sie zugleich (dennoch) in vollem Umfang erfahren werden kann. Sie ist also immer nur demjenigen erfahrbar, dessen Herz gerade davon gefüllt ist. Sie füllt das Herz jedoch vollständig, sättigt es, ohne es zu überfüllen oder zu überfluten. In diesem Sinne ist es die Gesamtheit, von welcher Goethe häufig spricht, und die Einheit. Die Erfahrung dieser Ungeschiedenheit muss sich zuweilen erneuern, ebenso wie sich der Mensch zuweilen »verselbsten« und »entselbsten« muss (Goethe 1998, Bd. 9, Dichtung und Wahrheit 2. Teil, S. 353). Besonders deutlich wird dieser goethesche Grundgedanke an der Gedichtzeile »Edel sei der Mensch«, in welcher die tonale Getragenheit sowohl »edel« als auch »Mensch« interpretiert. »Sie interpretiert ›Mensch‹, indem sie dessen Wesen in die Getragenheit setzt, die besagt, dass sich der Mensch ebenso trägt wie getragen wird. ›Edel‹ ist das Zugleich von Tragen und Tragenlassen« (Rombach 1988, S. 92). Die Menschlichkeit – und damit auch die Göttlichkeit des Menschen – findet sich bei Goethe in der Ruhe, in welcher sich der Mensch von seiner Welt ebenso tragen lässt (Stichwort: Sein-lassen-können) wie er seine Welt trägt. Das Verselbsten, welches das Werden eines Selbst bzw. einer Selbigkeit (Identität) meint, ist ebenso ein Tragen und Ruhen wie das Entselbsten, welches das Aufgeben, Auflösen und (Los-)Lassen eines solchen (gewordenen) Selbst bedeutet. Dieses gelingt – so unser Verständnis Goethes –, da der Mensch im Grunde bzw. im Zueinander von Welt und Mensch »göttlich« (also: ungeschieden) ist, auch wenn der Betreffende diesem Umstand im weiteren Verlauf seines Lebens immer wieder andere Namen dafür geben würde. Streng genommen (bzw. ontologisch gewendet) kann dieses namenlose Göttliche den Menschen nicht verlassen. Goethe zeigt nun aber in seinem »Werther«, dass ein mit sich selbst zerstrittener Mensch dieses Göttliche 378 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Johann Wolfgang Goethe

nur noch als Verzweiflung zu erfahren vermag. Dieser Mensch (Werther) ist mit sich selbst in einem Widerspruch, der von ihm als unlösbar erlebt wird, worin er die Ruhe seines Herzens verliert. Das Herz ist, so jedenfalls scheint es uns in Goethes Verständnis nahegelegt, auch als die vorgängige Basis für die Rationalität zu verstehen, welche aber von dieser nie vollständig eingeholt werden kann. Werther zeichnet sich zwar dadurch aus, dass er dem Herzen jeden Wunsch und sich dadurch (so jedenfalls seine bewusste Absicht) gänzlich im goetheschen Sinne in seiner Menschlichkeit erfüllen will. Allerdings dominiert bei Werther (unbeabsichtigt) das »Tragen lassen«, wohingegen nichts mehr getragen werden soll. Goethe kritisiert bei Werther also durchaus eine Vereinseitigung, ebenso wie er auch das Bürgertum in seiner Vereinseitigung kritisiert (u. a. auch darin, dass es dem suizidalen Werther in seinem Unverständnis nicht zu helfen vermag). Die erfahrungsmäßige Benennung des Göttlichen als Lotte ist dabei die zentrale – als Liebe erlebte – Vereinseitigung, die Werther betreibt. Er lässt und will sich ganz von Lotte (zum Göttlichen) tragen lassen. Dieses Sich-tragen-lassen widerspricht jedoch seinem anderen Zustand, in welchem ihm weder eine Ruhe des Herzens möglich ist noch überhaupt irgendetwas als göttlich oder rettend erlebt wird. Die schrittweise Steigerung dieser in sich widersprüchlichen Erfahrung, in welchem Werther suizidal ist, wird von Goethe sehr sorgfältig gezeigt. Die Frage stellt sich: Ist es hier entscheidend, dass für Werther in seinem Tod (obwohl nicht gewiss ist, was darin dem Menschen wird) das (von ihm im Irdischen als das) Göttliche (bestimmte Etwas), für welches er sich selbst opfert, mit diesem Opfer (für den Betreffenden) überflüssig wird? Werthers Festlegung des Göttlichen als Lotte, in welcher diese für ihn verabsolutiert wird, wird in Werthers (zeitlich vorausschauender) Vorstellung seines Suizids und Todes nicht aufgehoben. Vielmehr erlebt Werther seinen Tod als ein Opfer für Lotte. Im Opfer wird nun aber zugleich jede weitere Rettung unnötig, da es dann nichts mehr zu retten gibt. Werther fühlt sich jedoch bereits im Vorfeld (der Imagination und Phantasie) durch seinen Suizid gerettet, da er hierin seine Göttin als Göttin belassen kann. Mit seinem Suizid rettet er also zugleich, so jedenfalls seine Vorstellung im Vorfeld des Sich-tötens, seine auf Lotte ausgerichtete Selbststruktur, wenn auch – streng genommen und offenbar – nur für den Moment, in dem er Hand an sich legt. In diesem Sinne erscheint es keineswegs weit hergeholt, wenn wir uns durch Werther an Iphigenie erinnert fühlen. Auch Iphigenie opfert 379 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sich freiwillig für Hellas, erlebt sich darin als die Retterin ihres Volkes und begeht sowohl eine ruhmreiche als auch eine »allgemeingültige« Tat, in welcher sie sich als (griechischer) Mensch (der Antike) voll verwirklicht (bzw. in welcher sie annimmt, sich zu verwirklichen). Vergleichbar Werther, der sich für Lotte (mehr oder weniger freiwillig) opfert, sich darin selbst als Retter von Lottes Göttlichkeit erlebt und eine in seiner Perspektive ruhmreiche Tat begeht, die scheinbar (oder jedenfalls für ihn) »allgemeingültig« ist, da er sich als Mensch voll darin zu verwirklichen meint. Diese Erfahrung ist aber, wenn wir hier recht sehen, Goethe folgend nur ein Erfahrungszustand Werthers. Denn die andere Erfahrung ist eben gerade der vollkommen verzweifelte Werther, der den Verlust seiner Retterin als unwiederbringlich erlebt, der vereinsamt und in der bürgerlichen Gesellschaft verloren ist. Die entscheidende Neuerung bei Goethe wäre demnach darin zu sehen, dass er diese innere Widersprüchlichkeit in der suizidalen Erfahrung aufzeigt. Die suizidale Erfahrung versteht Goethe offenbar in dieser steten Implikation zweier widersprüchlicher Erfahrungsweisen seiner selbst und der (zugehörigen) Interpersonalsituation: Es ist die ständige sich ineinander vollziehende Widerspiegelung der Verzweiflung und der letzten Rettung im Sich-töten-können. Diese Einsicht Goethes ist tatsächlich als ein Novum anzusehen, auch wenn wir mit Michel de Montaigne und insbesondere mit David Hume diesbezüglich eindeutig erste Ansätze gefunden haben. Dennoch findet diese innere (reflexive) Widersprüchlichkeit der suizidalen Erfahrung hier bei Goethe ihren ersten deutlichen Ausdruck. Es stellt sich also die Frage, wie es kommt, dass dies erst in der Aufklärung als wesentliches Charakteristikum der suizidalen Erfahrung entdeckt wird. Hierzu sind zwei Antworten denkbar: a) Diese innere, widersprüchlich reflexive Qualität wird erst dadurch deutlich, dass Goethe, wie er von sich selbst sagt, mit dem Schreiben des »Werther« eine eigene suizidale Krise überwindet. Zentral wäre dann, dass die suizidale Erfahrung als überwindbare Verfassung verstanden wird. Dies ist aber, wenn auch keineswegs zureichend betont, bereits in den antiken Verständnissen zu finden. Es ist zudem bei Goethe nicht primär anders betont als beispielsweise bei Seneca in seiner suizidalen Dialektik. b) Sie wird insofern zu einem wesentlichen Merkmal, da der explizite Bezug zu einem bestimmbaren Gott, einem bestimmenden Staat oder zielverwirklichenden Schicksal entfällt. Und tatsächlich kann ein Verständnis der suizidalen Erfahrung erst dann die innere Widersprüchlichkeit zu 380 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Johann Wolfgang Goethe

einem wesentlichen Merkmal erheben, wenn die suizidale Erfahrung ausschließlich als (menschliche) Erfahrung verstanden wird. Denn erst dadurch wird auch das Rettende im eigenen Tod, wie es der suizidale Mensch nun einmal erfährt, benennbar, ohne dass diese Erfahrung ihrerseits im Verständnis der suizidalen Erfahrung durch definierende Bestimmungen »der« Transzendenz (sei es als Gebote, Verbote oder »göttliche Zeichen«) eingeschränkt werden muss. Jedoch überreicht dieses Verständnis damit auch dem suizidalen Menschen (in Gänze) die Verantwortung für seine Suizidentscheidung. Wir werden uns, in unserem letzten Abschnitt dieser Untersuchung, mit dieser eigentümlichen, erfahrungsimmanenten und zum Widerspruch führenden Reflexion und der darin enthaltenen Selbstbestimmung präziser und differenzierter beschäftigen. Aus zeitgenössischer Sicht ist für Goethes Verständnis jedoch festzuhalten, dass die von ihm angeregte Beschreibung der suizidalen Erfahrung nicht bedeutet, dass sie nicht beispielsweise auch als Ausdruck der »inneren Natur« verstanden werden könnte, was den Suizidenten wiederum exkulpieren, aber auch entmündigen würde. Letzteres unternehmen bekanntlich seit der Aufklärung (im Gefolge Kants) insbesondere die psychiatrischen Verständnisse. Doch lassen wir Goethe das letzte Wort. Er schreibt 1813 in »Dichtung und Wahrheit« nochmals sehr präzise, wie er die suizidale Erfahrung versteht: »Alles Behagen am Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr der äußeren Dinge gegründet (Goethes Verständnis von Systole und Diastole J. S.). Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Blüten und Früchte, und was uns sonst von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genießen können und sollen, diese sind die eigentlichen Triebfedern des irdischen Lebens. Je offener wir für diese Genüsse sind, desto glücklicher fühlen wir uns; wälzt sich aber die Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor uns auf und nieder, ohne dass wir daran teilnehmen, sind wir gegen so holde Anerbietungen unempfänglich; dann tritt das größte Übel, die schwerste Krankheit ein, man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last […] Nichts aber veranlasst mehr diesen Überdruss, als die Wiederkehr der Liebe. Die erste Liebe, sagt man mit Recht, sei die einzige: denn in der zweiten und durch die zweite geht schon der höchste Sinn der Liebe verloren. Der Begriff des Ewigen und Unendlichen, der sie eigentlich hebt und trägt, ist zerstört, sie erscheint vergänglich wie alles Wiederkehrende.« (Goethe 1998, Bd. 9, S. 578 f.)

Hier findet sich die unzerreißbare Struktur von Welt und Mensch, von Außen und Innen. Erscheint dem Menschen die Welt verhasst, ekelig 381 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Werther

und als stete Wiederkehr des Widersprüchlichen, so dass allem der »göttliche Glanz« verloren geht, so erscheint er auch sich selbst in dieser Weise. Diese innere Widersprüchlichkeit bedeutet für Goethe, dass sich der Betreffende seinem Herz entfremdet. Diese Entfremdung geschieht dem Menschen jedoch üblicherweise gewohnheitsmäßig und unbemerkt. Insofern ist der Mensch auch immer wieder aufgefordert, sein Leben neu zu finden, sich seinem Herzen immer wieder aufs Neue zu öffnen. »Was aber den fühlenden Jüngling am meisten ängstigt, ist die unaufhaltsame Wiederkehr unserer Fehler: denn wie spät lernen wir einsehen, dass wir, indem wir unsere Tugenden ausbilden, unsere Fehler zugleich mit anbauen. Jene ruhen auf diesen wie auf ihrer Wurzel, und diese verzweigen sich insgeheim ebenso stark und so mannigfaltig als jene im offenbaren Lichte. Weil wir unsere Tugenden meist mit Willen und Bewusstsein ausüben, von unseren Fehlern aber unbewusst überrascht werden, so machen uns jene selten einige Freude, diese hingegen beständig Not und Qual. Hier liegt der schwerste Punkt der Selbsterkenntnis, der sie beinah unmöglich macht.« (S. 579)

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V. Der »Fall« Heinrich von Kleist

Komm, lass uns etwas Gutes tun, und dabei sterben! Heinrich von Kleist

Heinrich von Kleist (1777–1811) hat in den aktuellen Verständnissen der suizidalen Erfahrung einen besonderen Platz. Sein Suizid am Berliner Wannsee, den er am 21. November 1811 vollzieht, hat ihn zu einer der legendären Berühmtheiten der Suizidforschung gemacht. Gerne und viel zitiert wird dabei sein Ausspruch: »Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war!« So zählt bereits R. Weichbrodt Kleist zu den »bekannten Selbstmördern« und widmet ihm einen eigenen Abschnitt (Weichbrodt 1937, S. 196–205). Aber Kleists Suizid ist auch für die Literaturwissenschaftler ein faszinierendes Ereignis. In seiner erstmalig 1949 erschienenen »Deutschen Literaturgeschichte« schreibt Fritz Martini über Kleist: »Darin liegt der Grundkern seines dichterischen Werkes: dem Rätselhaften einer gebrechlichen, allseitig verstrickenden Wirklichkeit, die an das Jetzt und Hier bannt, steht die Überzeugung gegenüber, dass in der menschlichen Seele eine Gewissheit des Gefühls und Erkennens leben muss. Beide Welten treten in einen Widerstreit: die innere Wahrheit lässt sich nicht mit der äußeren Geschehniswirklichkeit in Einklang bringen […] Ruhelosigkeit lag gleich einem Fluch über seinem kurzen, angespannten und gehetzten Leben, das selbst zu einer Tragödie geworden ist, bis er ihm verzweifelt und in einem mystischen Erlösungsgefühl mit der Pistole am Wannsee bei Berlin ein Ende setzte.« (Martini 1984, S. 311) Zudem findet der Aspekt großes Interesse, dass Kleist gemeinsam mit Henriette Vogel einen Zweiersuizid begeht, wobei er erst sie erschießt und anschließend sich tötet (vgl. Haenel 2001, S. 13 ff.). Kleists Suizid ist dabei, dem »Werther« von Goethe vergleichbar, in der Suizidforschung stets im Licht der jeweils gerade vorherrschenden, vor allem auch psychoanalytischen Theorienbildung verstanden worden. Jeder Autor kann dabei sein Verständnis bestätigt sehen, was in heutiger Sicht für die Tiefe und Klarheit der schriftlichen Zeugnisse Kleists spricht, jedoch noch nichts über die Wahrheit der jeweiligen 383 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

Verständnisse aussagen kann. Dabei kann Schmidt Kleists Suizid im theoretischen Verständnis des Todestriebes ebenso plausibel verstehen, wie Haenel dies mit Hilfe des Verständnisses einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung zeigt (Schmidt 1970; Haenel 2001, S. 18). Für unser Bemühen ist hingegen die Frage unerheblich, wer von den beiden nun Recht hat. Vielmehr sollen hier eigene Fragen an den Suizid Kleists und sein Verständnis der suizidalen Erfahrung herangetragen werden, zu denen sowohl Schmidt als auch Haenel wichtige Beiträge liefern. Kleist ist aber auch aus geisteswissenschaftlicher Sicht immer wieder im Hinblick auf seine wiederholten existentiellen Erschütterungen und Krisen betrachtet worden, welche in moderner psychopathologischer Terminologie am ehesten als depressive Episoden klassifiziert werden können (Cassirer 1919; Muth 1958; Schmidt 1970; Gilman 1979; Emrich 1991; Schlimme 2001). Die bekannteste dieser existentiell erschütternden depressiven Episoden ist sicherlich Kleists »KantKrise« im Frühjahr 1801, auf welche seine entscheidende schriftstellerische Tätigkeit folgt. Martini verbindet dies insofern, als er davon ausgeht, dass diese Krise überhaupt erst Kleist zu der Schriftstellerei führt, die ihn berühmt machen wird (Martini 1984, S. 311). Unzweifelhaft hat Kleist in seinen Schriften immer wieder von diesen Krisen gezehrt. Er hat damit diese Krisen gewissermaßen schreibend immer wieder überwunden, ohne dass seine literarischen Figuren deshalb mit seiner Person stets in eindeutiger Weise gleichgesetzt werden könnten. Dabei stellt Kleist insbesondere in seinen Briefen wiederholt die Frage nach dem Zusammenhang seiner suizidalen Erfahrung und dem Rettenden, als welches sich insbesondere seine ihn immer wieder begeisternde Schriftstellerei zeigt. Kleist gewinnt, wie sich zeigen wird, eine aktuelle Bedeutung für uns, da er im Sinne des Wortes ein Prophet des heutigen Menschen ist, der angesichts seiner unsicher gewordenen Identität wiederholt die Frage nach dem »Wozu« seines Lebens auf neue Weise beantworten muss, obwohl er von der Sehnsucht nach einer ein für alle Mal gültigen Antwort getrieben scheint. Um diese Themen bei Kleist nachverfolgen zu können, wird es erforderlich, Kleist in seinen Selbstaussagen detailliert nachzuspüren. Ein solches Nachspüren ist möglich, da er in seinen Briefen oftmals in offener, ja zuweilen schonungsloser Weise von sich selbst schreibt. Dabei wird es darum gehen, die Strukturmerkmale seiner Sinnerfahrung hinsichtlich der Frage nach dem »Wozu«, so wie Kleist sie in seinen (suizidalen) Krisen thematisiert hat, zu beschreiben. Da wir also nach 384 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleists »Soldatenkrise«

der Struktur dieser Erfahrung fragen, ist es nicht erforderlich, dass wir Kleists Ansichten teilen. Vielmehr gilt es, die Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung, wie sie mit Kleist formuliert werden können, zu beschreiben. Dies folgt der Frage, wie es ist, suizidal zu sein.

1.

Kleists »Soldatenkrise«

Kleist wird am 18. Oktober 1777 als Sohn eines preußischen Offiziers in Frankfurt/Oder geboren und entstammt einer traditionellen preußischen Offiziersadelfamilie. Sein Vater stirbt am 18. Juni 1788, seine Mutter am 03. Februar 1793. Kleist tritt im Juni 1792 mit 14 Jahren der Familientradition folgend in die preußische Armee ein und ist bereits 1793 in Kampfhandlungen verwickelt (Rheinfeldzug). Auch hat er als Leutnant des Garde-Regiments direkten Kontakt mit dem König Preußens (Friedrich Wilhelm III.). Im Jahr 1798/99 macht Kleist eine Krise, die sog. »Soldatenkrise« durch, welche aus heutiger psychopathologischer Sicht am ehesten als eine »depressive Epsiode« zu bezeichnen wäre (Kleist fordert bereits 1798 seinen Abschied aus der Armee, eine Lösung seiner Krise formuliert er erst im März 1799; vgl. auch Schlimme 2001). Er beendet schließlich seine Soldatenkarriere. Einen deutlichen Hinweis auf diese depressive Episode gibt, neben den noch zu betrachtenden Selbstaussagen Kleists in seinen Briefen und einem Aufsatz, auch eine von Bülow 1846 berichtete Überlieferung des Jahres 1798: »Sein erstes Herzensverhältnis zu einer jungen Dame, einem Fräulein v. L. (Luise v. Linckersdorf), fällt in dieselbe Periode. Es löste sich plötzlich, und der Schmerz darüber führte ihn wohl zum ersten Mal tiefer in sein Inneres. Kleist vernachlässigte fortan sein Äußeres, zog sich von allen Menschen zurück und begann sich ernstlich mit den philosophischen Wissenschaften zu beschäftigen.« (Sembder 1996, S. 26). Auf ausdrückliche Bitte Kleists verabschiedet ihn der preußische König im April 1799 aus der Armee. Kleists »Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden« (Kleist 1994, Bd. 2, S. 301–315), vermutlich als Brief an den preußischen König vor dem März 1799 verfasst (Kleist 1994, Bd. 2, S. 478), offenbart das Selbstbild des 20-jährigen Kleist kurz nach seiner vorangehenden »Soldatenkrise«. Dieser Zusammenhang von Aufsatz und Krise ist das Bedeutsame des Aufsatzes, der in philosophischer Hinsicht eher einer »Schulübung« nahekommt (Cassirer 1919). 385 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

Kleists Selbstbild in dem Aufsatz zeigt den Menschen als »Glückssucher«. Dabei ist Glück für Kleist ein rein Inneres und demnach von den jeweiligen Situationen vollkommen unabhängig. »Das Glück, wovon ich sprach, hängt von keinen äußeren Umständen ab, es begleitet den, der es besitzt, mit gleicher Stärke in alle Verhältnisse seines Lebens, und die Gelegenheit, es in Genüssen zu entwickeln, findet sich im Kerker so gut, wie auf Thronen.« (Kleist 1994, Bd. 2, S. 305) Kleist verwickelt nun Glück und Tugend auf solche Weise, dass »das Glück als Aufmunterung zur Tugend, die Tugend als Weg zum Glück« zu verstehen sind. Damit ist nun für Kleist auch die Tugend etwas rein Innerliches, die sich als »Bild« schrittweise auf dem Lebensweg deutlicher zeigt. Der Weg, dieses »Bild« auszubilden, ist für Kleist der der Bildung. »Bild«-ung bedeutet demnach nicht nur das aufklärerische Herausbilden von Erkenntnis, sondern das Ausbilden der Tugend: »[…] wenn wir, bei der möglichst vollkommnen Ausbildung aller unser geistigen Kräfte, auch diese benannten Eigenschaften einst fest in unser Innerstes gründen, ich sage, wenn wir bei der Bildung unsers Urteils, bei der Erhöhung unseres Scharfsinns durch Erfahrungen und Studien aller Art, mit der Zeit die Grundsätze des Edelmuts, der Gerechtigkeit, der Menschenliebe, der Standhaftigkeit, der Bescheidenheit, der Duldung, der Mäßigkeit, der Genügsamkeit usw. unerschütterlich und unauslöschlich in unsern Herzen verflochten, unter diesen Umständen behaupte ich, dass wir nie unglücklich sein werden.« (S. 304) Der Sinn, das »Wozu« unseres Lebens, ist für den jungen Kleist in diesem Aufsatz also die Bildung im oben genannten Sinn: »Denn Bildung muss der Zweck unsrer Reise sein und wir müssen ihn erreichen, oder der Entwurf ist so unsinnig wie die Ausführung ungeschickt.« (S. 310) Kleist zeigt hier das Bild eines Menschen auf, der in der Reinheit der Positivität, und damit des Glücks und der Tugend, unbefleckbar ist. Dabei findet sich diese reine Positivität ausschließlich im Innern des Menschen selbst, ist also eine innerlich gefundene tiefere Struktur seiner selbst, die gehoben werden muss – und nach Kleist mit der Bildung gehoben werden kann. Allerdings ist in diesem Aufsatz für Kleist alle Bildung nutzlos, wenn das Herz nicht voller Menschenliebe, voller Liebe zu anderen ist (S. 314). Dies ist aber nicht nur Folge, sondern auch die Grundlage, welche die Bildung ermöglicht. So wird die Menschenliebe von Kleist in diesem Aufsatz sogar als »menschliche Pflicht« begründet, obwohl ihn die Aussicht auf Bildung ja durchaus schlicht386 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleists »Soldatenkrise«

weg auch begeistert. In einem letzten Zirkelschluss macht er dann die Menschenliebe zur alleinigen Bedingung und Weise des Glücks. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Tugend und Bildung ist demnach nur in der Menschenliebe zu finden: »Und wozu? Und immer dringt sich die Antwort auf, für die Menschen und zu ihrem Nutzen.« (S. 315) Interessant wird es, wenn wir Kleist in seinen Selbstaussagen in Bezug zu diesem Aufsatz setzen und uns fragen, wie Kleist zu dieser »Schulübung« kommt. Dann wird nämlich deutlich, dass sich Kleist in diesem Aufsatz offenbar selbst des Menschenhasses bezichtigt: »Ich möchte hier schließen, mein Freund, denn das, was ich Ihnen zur Bekämpfung des Menschenhasses, wenn Sie wirklich so unglücklich wären ihn in Ihrer Brust zu verschließen, sagen könnte, wird mir, durch die Vorstellung dieser hässlichen abscheulichen Empfindung, so widrig, dass es mein ganzes Wesen empört. Menschenhass! Ein Hass über ein ganzes Menschengeschlecht! O Gott! Ist es möglich, dass ein Menschenherz weit genug für soviel Hass ist!« (S. 312) Die Vermutung, dass Kleist diesen Hass in sich selbst findet, bestätigt sich in den Briefen an Christian Ernst Martini vom 18. und 19. März 1799. Dort begründet er, warum er die Militärkarriere beenden will, um sich stattdessen den Studien vor allem der Philosophie, Mathematik, Physik und lateinischen Sprache zuzuwenden. Im ersten Teil des Briefes wiederholt er streckenweise wörtlich seinen »Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu finden«, allerdings ohne den Abschnitt über den Menschenhass. Im zweiten Brief beschuldigt Kleist den Soldatenstand, dem er ja selbst bis dahin angehört, als »lebendiges Monument der Tyrannei« (S. 479), welches ihn erdrückt und unglücklich macht. Aus dieser Befundlage scheint es naheliegend anzunehmen, dass Kleist selbst einen Hass entwickelt hat, der sich vor allem im eigenen Hass auf den Soldatenstand und damit eben auch auf sich selbst, vielleicht aber auch auf bestimmte andere Menschen (Luise von Linckersdorf, andere Offiziere) finden lässt. Folgen wir dieser Vermutung, so können wir annehmen, dass sich Kleist als in sich widersprüchlich erfährt. Einerseits entdeckt er eine Kernstruktur des menschlichen Daseins, deren »Wozu« das der Bildung ist und die in den bildungsbeflissenen und bildungsbegeisterten Studenten Heinrich von Kleist führen wird, andererseits ist er Soldat, der diesem »Wozu« in keiner Weise entspricht. Diesen inneren Widerstreit scheint auch Kleist zu erfahren und zu erkennen, wählt er doch für seinen Aufsatz die Gestalt eines Briefes an einen 387 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

Freund im Sinne eines alter ego. Das Schreiben der Briefe kann damit durchaus als der Versuch einer Integration dieser beiden verschiedenen Erfahrungsweisen seiner selbst verstanden werden, auch wenn dies letztlich nur mit dem Aufgeben der Identität des Soldaten wirklich gelingen wird. Den auf den ersten Blick eigenartig anmutenden Widerspruch, dass der wahrhaft tugendhafte und die Menschen liebende Mensch in jeder Situation vollkommen glücklich ist – wohingegen Kleist seine Situation als Auslöser für seinen Mangel an Glück und fraglich auch seinen Hass auf bestimmte Menschen beschuldigt – überwindet Kleist, indem er die innerlich aufgefundene Positivität auf dem Weg der »Bildung« zu verwirklichen sucht. Dabei weiß er, dass dieser Weg niemals zum letztgültigen Abschluss kommen kann (Kleist 1994, Bd. 2, S. 303 f.). Jedoch ist für Kleist klar: es geht ans Studieren und sich selbst Bilden, dann wird er auch zu seinem Glück finden. Kleist befindet sich also offenbar in einer mehrmonatigen depressiven Epsiode, die er, wie sein Aufsatz zeigt, dadurch überwindet, dass er sich ein ihn begeisterndes Lebensziel sucht bzw. ein »ewiges« Lebensziel gefunden zu haben meint. Kleist findet also nicht das Glück, sondern den Weg zum Glück, der zudem von den »äußeren Umständen« unabhängig scheint. Dies formuliert er bereits im Titel: »Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, und ungestört, auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen!« – und zwar nicht das Glück, sondern »ihn«, den Weg, zu genießen. So verstanden ist Kleists Aufsatz der eines Menschen, der seinen Weg aus der Depression formuliert, von einem Ziel wie magisch angezogen, welches verspricht, dieses Positivität versprechende »Wozu« wenigstens in Ansätzen leben zu können. Wichtig ist dabei, dass sich Kleist mit diesem von ihm gefundenen Weg zugleich in einen sinnvollen Determinismus hineinbegibt. Zwar vermag er, wie er sagt, das Bild der reinen Positivität nie vollends zu fassen, aber der Weg dorthin erscheint ihm dennoch als eine reine Steigerung. Es geht anti-sisyphotisch immer nur bergauf. Die Gefahr einer neuerlichen Krise scheint damit von vornherein gebannt, wenn er denn nur auf seinem Weg bleibt. Der Weg erscheint sicher. Dementsprechend spricht Kleist in seinen Briefen der folgenden Studienjahre immer wieder von seinem »Lebensplan«. So schreibt er an seine Schwester Ulrike im Mai 1799:

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Kleists »Kant-Krise«

»Ja, es ist mir unbegreiflich, wie ein Mensch ohne Lebensplan leben könne, und ich fühle, an der Sicherheit, mit welcher ich die Gegenwart benutze, an der Ruhe, mit welcher ich in die Zukunft blicke, so innig, welch ein unschätzbares Glück mir mein Lebensplan gewährt, und der Zustand, ohne Lebensplan, ohne feste Bestimmung, immer schwankend zwischen unsichern Wünschen, immer im Widerspruch mit meinen Pflichten, ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Drahte des Schicksals – dieser unwürdige Zustand scheint mir so verächtlich, und würde mich so unglücklich machen, dass mir der Tod bei weitem wünschenswerter wäre.« (Kleist 1994, Bd. 2, S. 490)

Kleist hat zwar einen »Lebensplan«, aber er hat offenbar, wie noch eine weitere Passage nahelegt, bereits in der »Soldatenkrise« über den Suizid nachgedacht. Diese Passage findet sich in einem Brief an Ulrike vom 12. November 1799: »Große Entwürfe mit schweren Aufopferungen auszuführen, ohne selbst auf den Lohn verstanden zu werden Anspruch zu machen, ist eine Tugend, die wir wohl bewundern, aber nicht verlangen dürfen. Selbst die größten Helden der Tugend, die jede andere Belohnung verachteten, rechneten doch auf diesen Lohn; und wer weiß, was Sokrates und Christus getan haben würden, wenn sie gewusst hätten, dass keine unter ihren Völkern den Sinn ihres Todes verstehen würden.« (S. 495) Dabei begegnet uns in diesem Briefausschnitt der Suizid im Zusammenhang mit dem Opfer für die Tugend, die von Kleist als ein wichtiger Aspekt des Rettenden angesehen wird. Das sich hier bereits andeutende Verständnis des Suizids als Möglichkeit, sich opfern zu können, wird uns im späteren Lebensverlauf erneut in Kleists Briefen, aber bekanntlich ja auch seinen Werken (z. B. Michael Kohlhas), wieder begegnen.

2.

Kleists »Kant-Krise«

Das auf die »Soldatenkrise« folgende Studentenleben vom April 1799 bis August 1800 war Kleists Briefen und zeitgenössischen Zeugnissen zufolge eine glückliche oder zumindest zuversichtliche Zeit, er erlebt sich auf seinem Weg immer wieder bestätigt. Er verlobt sich mit der Generalstochter Wilhelmine von Zenge und schreibt ihr eigenartig anmutende Briefe, in welchen er sie mit der kantischen Philosophie vertraut zu machen sucht. Er stellt ihr Denkaufgaben und denkt (im kantischen Sinne) über die Ehe nach (vgl. S. 506). Im August 1800 beginnt er eine letztlich rätselhafte Reise, die ihn 389 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

schließlich nach Würzburg führt. Er spricht gegenüber Ulrike und Wilhelmine von einem Zweck oder einem Ziel der Reise, den bzw. das er an keiner Stelle wirklich benennt. In geradezu verschwörerischer Weise zieht er Ulrike und Wilhelmine ins Vertrauen und schärft ihnen ein, dass sie über seinen Aufenthaltsort nichts Bestimmtes sagen dürfen. Der Zweck dieser »Würzburger Reise« ist auch im Rückblick nicht sicher zu klären. Während seine Schwester Ulrike 1860 überliefert, dass es wohl eine Reise »politischer Natur« gewesen sei (Sembder 1996, S. 41), begründet Schmidt aus den verstreuten Andeutungen und den beschriebenen Orten in den Briefen Kleists die Vermutung, dass Kleist die medizinische Behandlung eines sexuell-organischen Leidens gesucht und gefunden habe (Schmidt 1970). Gilman wiederum versteht diese im Herbst 1800 von Kleist unternommene »rätselhafte« Reise als eine erneute Überwindung der »Soldatenkrise« in »seiner neuen Identität als Autor« (Gilman 1979). Fest steht hingegen, dass Kleist auf dieser für ihn sehr bedrängenden Reise immer wieder an seiner Einsicht in die letztliche Bestimmtheit des menschlichen Daseins festhält. So schreibt er am 15. September an Wilhelmine: »Alle echte Aufklärung des Weibes besteht zuletzt darin, vernünftig über die Bestimmung ihres irdischen Lebens nachdenken zu können. Über den Zweck unseres ganzen ewigen Daseins nachzudenken, auszuforschen, ob der Genuss der Glückseligkeit, wie Epikur meinte, oder die Erreichung der Vollkommenheit, wie Leibniz glaubt, oder die Erfüllung der trocknen Pflicht, wie Kant versichert, der letzte Zweck des Menschen sei, das ist selbst für Männer unfruchtbar und oft verderblich. Wie können wir uns getrauen in den Plan einzugreifen, den die Natur für die Ewigkeit entworfen hat, da wir nur ein unendlich kleines Stück von ihm, unser Erdenleben, übersehen?« (Kleist 1994, Bd. 2, S. 565) Im Oktober 1800 kehrt Kleist erleichtert und zuversichtlich nach Berlin zurück und übernimmt dort bis zum Frühjahr 1801 eine Amtsstelle im Department des Ministers von Struensee. Jedoch denkt er über die Schriftstellerei nach, in der er seine größten Fähigkeiten vermutet (S. 587). Im Frühjahr 1801 stürzt Kleist dann »über Nacht« in eine erneute Krise, die als »Kant-Krise« bekannt geworden ist. Nach dem bislang Skizzierten verhält sich Kleist bis dahin in einer Weise zu sich, welche sich in vermeinter vollkommener Sicherheit des weiteren Lebenslaufs (»Lebensplan«) bewegt. Dieser Sicherheit entspricht die These, dass die Welt und das Selbst teleologisch verfasst sind. Kleists Weg entspricht diesen »eingebauten Zielen« des Menschseins, des »ewigen Daseins«, 390 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleists »Kant-Krise«

wie Kleist sagt. Es ist diese innerste menschliche Kernstruktur, die Kleist im Überwinden der »Soldatenkrise« zu finden meinte, welche unausgesprochen die Behauptung impliziert, dass es eine letztbegründete sinnvolle Bestimmung des Menschen und seiner Welt gibt. Die »Kant-Krise« Kleists ist insbesondere von Cassirer (1919), Muth (1958) und Emrich (1991) interpretiert worden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage, welcher philosophische Hintergrund als Auslöser dieser Krise verstanden werden kann. Nachdem Cassirer überzeugend darlegt, dass nicht Kants »Kritik der reinen Vernunft« Auslöser dieser Krise gewesen sein kann, bestimmt er letztlich Fichtes »Die Bestimmung des Menschen« als Auslöser. Damit wäre Kleists Krise Ausdruck der Einsicht gewesen, dass die »eingebauten Ziele« zwar gegeben, aber für den Menschen nicht endgültig und wahrhaft erkennbar sind (erkenntnistheoretische Krise). Deutlich überzeugender wirkt Muths Darstellung, dass Kants »Kritik der Urteilskraft« der Auslöser ist. Hierin zeigt Kant nämlich, dass die Vorstellung, das Dasein bewege sich entlang »eingebauter Ziele« auf einen fixen Zielpunkt hin, nur eine menschliche Vorstellung ist. Das Dasein ist also, der kantischen Kritik folgend, nicht »teleologisch« und »deterministisch« verfasst, sondern allenfalls »teleonomisch«. Kleists Krise wäre damit Ausdruck der Einsicht, dass der Mensch zwar seinem Leben »Ziele« geben kann (Teleonomie), diese jedoch keiner fundamentalen »Teleologie« des Daseins entsprechen. Kurz: das »Wozu« des menschlichen Daseins bleibt letztlich unbestimmt, die innerste Kernstruktur des Menschen für den Menschen unbestimmbar. Als Beleg dieser These drängen sich verschiedene Passagen aus Kleists Briefen an seine Schwester Ulrike und seine Verlobte Wilhelmine von Zenge auf. Zum einen formuliert Kleist bereits im direkten Vorfeld der Krise, dass ihm mittlerweile seine innerste Kernstruktur als unerkennbar scheint; zum anderen gerät sein Lebensziel der Bildung unter skeptischen Druck, welches ihm bisher als Entsprechung des ewigen »Wozu« des Lebens erschienen war (Kleist 1994, Bd. 2, S. 629). So schreibt er an Ulrike am 05. Februar 1801: »Daher habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht alles zeigen kann, nicht kann, […].« (S. 626) Die wiederholt betonte Unaussprechlichkeit des tiefsten Inneren ist durchaus wörtlich zu nehmen. Jegliche Bestimmung in Worten oder Bildern beraubt dieses im Innersten Aufgefundene ihrer Unbestimm391 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

barkeit. Und er fährt, in durchaus depressiver Tönung fort: »Ach, liebe Ulrike, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit […]. Die Notwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwillen dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig.« (S. 628) Diese bereits aufkommende depressive Verstimmung kulminiert in der »Kant-Krise«, die sich im Wesentlichen in zwei Briefen Kleists findet. An Wilhelmine schreibt er am 22. März 1801: »Ja, allerdings dreht sich mein Wesen jetzt um einen Hauptgedanken, der mein Innerstes ergriffen hat, er hat eine tiefe erschütternde Wirkung auf mich hervorgebracht – Ich weiß nur nicht, wie ich das, was seit 3 Wochen durch meine Seele flog, auf diesem Blatte zusammenpressen soll. […] Ich hatte schon als Knabe mir den Gedanken angeeignet, dass die Vervollkommnung der Zweck der Schöpfung wäre. Ich glaubte, dass wir einst nach dem Tode von der Stufe der Vervollkommnung, die wir auf diesem Sterne erreichten, auf einem andern weiter fortschreiten würden, und dass wir den Schatz von Wahrheiten, den wir hier sammelten, auch dort einst brauchen könnten […] Aus diesem Gedanken bildete sich so nach und nach eine eigene Religion, und das Bestreben, nie auf einen Augenblick hienieden still zu stehen, und immer unaufhörlich einem höhern Grade von Bildung entgegenzuschreiten, ward bald das einzige Prinzip meiner Tätigkeit.« (S. 633)

Dieses Fortschreiten auf dem Weg der Bildung ist mit Opfern für dieses Ziel verbunden und erinnert an Kleists Begriff des »ewigen Daseins«, welches vorbestimmt seinem Weg folgt, so es erstmal dieses Ziel erkannt hat. Und dann schreibt Kleist (S. 634): »Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muss ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, dass er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. Auch kennst Du das Ganze nicht hinlänglich, um sein Interesse vollständig zu begreifen. Ich will indessen so deutlich sprechen, als möglich. Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich – Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht

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Kleists »Kant-Krise«

trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr – Seit diese Überzeugung, nämlich, dass hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt. Ich bin untätig in meinem Zimmer umhergegangen, ich habe mich an das offne Fenster gesetzt, ich bin hinausgelaufen ins Freie, eine innerliche Unruhe trieb mich zuletzt in Tabagien und Kaffeehäuser, ich habe Schauspiele und Konzerte besucht, um mich zu zerstreuen, ich habe sogar, um mich zu betäuben, eine Torheit begangen, die Dir Carl lieber erzählen mag, als ich; und dennoch war der einzige Gedanke, den meine Seele in diesem äußeren Tumulte mit glühender Angst bearbeitet, immer nur dieser: dein einziges, dein höchstes Ziel ist gesunken –«

Kleist berichtet zudem, dass ihm »Lebenspläne« nicht mehr sinnvoll scheinen, ihn nicht mehr zu begeistern vermögen. Dies wird verständlich, setzen diese doch eine dem Menschen erkennbare, innerste Bestimmung des Menschen in seiner Wesensstruktur und damit eine Bestimmung des »Wozu« des menschlichen Daseins voraus. Im Brief an Wilhelmine schreibt er im Wissen um diese Unmöglichkeit, eine solche Bestimmung des Menschen überhaupt nachweisen zu können, den zentralen Satz: »Ach, es ist der schmerzlichste Zustand ganz ohne Ziel zu sein, nach dem unser Inneres, frohbeschäftigt, fortschreitet« (S. 634). Kleist beschreibt hier den Absturz in einen innersten Abgrund der Unaussprechlichkeit: »eine unaussprechliche Leere erfüllte mein Inneres« (S. 635). Diese Metapher macht Sinn, wenn der an einen Determinismus geknüpfte Weg weggebrochen ist. Allerdings könnte eingewandt werden, dass die im Brief von Kleist erwähnten »grünen Gläser« doch auf eine erkenntnistheoretische Krise hindeuten. Kleist selbst entkräftet dies jedoch im Brief an Wilhelmine vom 28. März 1801: »Ich habe mich unbeschreiblich über den Aufwand von Scharfsinn gefreut, den Du bei dem Gegenstande der Kristalllinse anwendest; ich habe Dich besser verstanden, als Du Dich selbst ausdrückst, und alles, was Du darüber sagst, ist wahr. Aber ich habe mich nur des Auges in meinem Brief als eines erklärenden Beispiels bedient, weil ich Dir selbst die trockne Sprache der Philosophie nicht vortragen konnte. Alles, was Du mir nun dagegen einwendest, kann wahr sein, ohne dass der Zweifel gehoben würde – Liebe Wilhelmine, ich bin durch mich selbst in einen Irrtum gefallen, ich kann mich auch nur durch mich selbst wieder heben.« (S. 638) Kleist verweist hier 393 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

darauf, dass seine tiefste Gewissheit durch die Einsicht erschüttert wurde, dass es nicht entschieden werden kann, ob es dieses Ziel gibt oder nicht. Es geht nicht darum, ob er das falsche Ziel vor Augen hatte (im Sinne der Farbe »grün«), sondern es geht darum, dass sein Ziel nach dem Tode nichts mehr zu bedeuten hat und es keine »ewigen« Ziele des menschlichen Daseins geben muss (im Sinne des Getäuschtwerdens durch die Kristallgläser vor dem Auge). Noch deutlicher ist Kleist in einem Brief gegenüber Ulrike vom 23. März 1801. Hier macht er alles an dem zentralen Satz fest: »Der Gedanke, dass wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, dass das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt, und dass folglich das Bestreben, sich ein Eigentum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert – mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr: ich will mir einen Zweck suchen, wenn es einen gibt.« (S. 636) Kleist beginnt erneut die Suche nach sich selbst mit einer Reise nach Paris, wobei ihn seine Schwester Ulrike begleitet. Er sucht ein »neues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäftigt, von neuem entgegenschreiten könnte« (S. 636). Im weiteren Verlauf dieser Reise wird Kleist immer klarer, dass ein neues Werden auf der Grundlage seines zuvor angenommenen sinnvollen Determinismus nicht möglich ist, denn, wie er schreibt: »ich möchte so gern in einer rein-menschlichen Bildung fortschreiten, aber das Wissen macht uns weder besser, noch glücklicher« (S. 679). Er kritisiert sein vorheriges Studentenleben, in dem er ganz auf dem Bildungsweg gegangen ist, als »zyklopische Einseitigkeit« (S. 679), und hält letztlich bezüglich des zuvor ihn begeisternden und für ewig genommenen »Wozu« der Bildung fest: »Aber alle Sinne bestätigen mir hier, was längst mein Gefühl mir sagte, nämlich dass uns die Wissenschaften weder besser noch glücklicher machen, und ich hoffe, dass mich das zu einer Entschließung führen wird« (S. 681). Im Wissen darum, dass es für den Menschen unklar bleiben muss, ob es eine ewige Antwort auf die Frage nach dem »Wozu« des Lebens gibt, schreibt er an Wilhelmine am 21. Juli 1801 aus Paris: »Ach, es ist nichts ekelhafter, als diese Furcht vor dem Tode. Das Leben ist das einzige Eigentum, das nur dann etwas wert ist, wenn wir es nicht achten. Verächtlich ist es, wenn wir es nicht leicht fallen lassen können, und nur der kann es zu großen Zwecken nutzen, der es leicht und freudig wegwerfen könnte. Wer es mit Sorgfalt liebt, moralisch tot ist er 394 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleists »Kant-Krise«

schon, denn seine höchste Lebenskraft, nämlich es opfern zu können, modert, indessen er es pflegt […] ich sehne mich nach einem Tage, wie der Hirsch in der Mittagshitze nach dem Strome, sich hineinzustürzen – Aber Geduld! – Geduld –? Kann der Himmel dies von seinen Menschen verlangen, da er ihnen selbst ein Herz voll Sehnsucht gab? Zerstreuung! Zerstreuung!« (S. 670 f.) Kleist bleibt hier eigenartig unentschieden, denn zum einen schreibt er über einen Zweck des Lebens, für den es sich lohnt, das Leben zu opfern – so wie er es sagte, als ihm das Leben noch teleologisch verfasst war – und zum andern berichtet er, dass der Mensch nur das Leben, das irdische Leben hat, und dass wir über dessen eventuelles Ziel nicht sicher sein können, wenn wir es uns nicht selbst setzen. In dieser Zeit ist Kleist eindeutig depressiv: »Ach, es muss leer und öde und traurig sein, später zu sterben, als das Herz –« (S. 672). Er denkt (zum wiederholten Male) über den Suizid nach, kann sich aber nicht dazu entscheiden. Er ist vielmehr im Innern unentschieden, hin- und hergerissen, in einer innerlichen Widersprüchlichkeit verfangen. Kleist findet sich erneut als Schriftsteller, auch wenn ihn die nächste Krise im Mai 1802 in Paris erschüttert, wie er am 20. Mai 1802 im Abschlusssatz Wilhelmine mitteilt: »Ich habe keinen andern Wunsch als bald zu sterben« (S. 726). (Nebenbei bemerkt: ein wirklich ungewöhnlicher Satz an eine Verlobte.) Auch die »Kant-Krise« versteht sich heute in psychiatrischer Sicht zunächst als eine depressive Episode. Aber unabhängig davon erschöpft sich auch in dieser Krise das Erlebte nicht in einer schlicht psychopathologisch beschreibbaren oder differentialdiagnostisch verortbaren depressiven Verstimmung, sondern ist zutiefst mit philosophisch-existentiellen Fragestellungen verbunden. Diese müssen zwar nicht notwendig Aspekte depressiver Verstimmungen sein, sind aber dennoch (auch heutzutage) typischerweise damit verbunden. Zudem stellt sich auch hier die Frage nach der Überwindung dieser speziellen Krise. Dabei steht oftmals die Annahme im Raum, dass Kleist diese Krise gar nicht überwunden habe, so dass von hierher auch sein Suizid in direkter Linie verstanden werden müsse (Cassirer 1919; Schmidt 1970). Allerdings kann, wie Emrich argumentiert, »Der zerbrochne Krug« (entstanden zwischen Frühjahr 1802 bis 1805) (Kleist 1994, Bd. 1, S. 175–244) als eine solche Überwindung verstanden werden. Im »zerbrochnen Krug« geht es bekanntlich um den Dorfrichter Adam, der in einer Gerichtsverhandlung seine eigene Tat aufdecken 395 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

muss. Die Tat ist zum einen das Zerbrechen des Krugs, andererseits aber auch das nächtliche Nachstellen und sexuelle Bedrängen der Eve, Tochter der Besitzerin des nunmehr zerbrochenen Krugs, die mit Ruprecht, einem seinem Soldatendienst entgegensehenden Bauernsohn, eine Beziehung pflegt. Adam erinnert in mehrerer Hinsicht an einen tragikomischen Ödipus, was Kleist dadurch intensiviert, dass Adam einen Klumpfuß (oidipus = Schwellfuß) hat, der letztlich zu seiner Überführung führt, da er hiermit eindeutig identifizierbare Spuren im Dorf hinterlässt. Zwar klärt sich in der Gerichtsverhandlung die Tat auf, allerdings geschieht dem zerbrochenen Krug kein »Recht«. Um hier das Überwinden der »Kant-Krise« zu zeigen, muss der »zerbrochne Krug« als Ausdruck eines »intrapsychischen Gerichts« gelesen werden. Diese Lesart legt Emrich ausführlich dar und zeigt, dass die Akteure als unterschiedliche Selbstgestalten Kleists verstanden werden können. Zum zentralen Gedanken des »zerbrochnen Krugs« wird damit das Problem der Einigkeit des einzelnen Menschen mit sich selbst. Dabei findet sich zunächst die Krise, indem Adam erwacht und als völlig anderer aus dem Bett entsteigt (Emrich 1991, S. 27 f.). Das Symbol der Krise ist der zerbrochene Krug, der in dieser Lesart als Zerbruch der »Einheit der Person« verstanden werden kann (S. 31 ff.). Kleist, so Emrich, hat »[…] offensichtlich gesehen, dass der Zerfall der Teleologie-absichernden Strukturen einhergeht mit einem Zerfall der Einheit der Person« (S. 32 f.). Dies scheint insofern plausibel, da das Wegbrechen einer bestimmbar erscheinenden innersten Kernstruktur nicht nur die Erfahrung der innersten Unbestimmbarkeit bedeutet, welche Kleist in dieser Zeit dezidiert beschreibt, sondern nach sich zieht, dass keine der jeweiligen Weisen des eigenen Selbstseins mehr vollständig von einer anderen abgeleitet bzw. auf eine solche innerste Kernstruktur umfassend zurückgeführt werden können. Alle erfahrbaren eigenen, voneinander unterscheidbaren Gestalten sind in einem jeweils eigenen Werdensprozess begriffen und klagen entsprechend im »zerbrochnen Krug« diese Einzigkeit gegen Adams Versuche, eine monolithische Einheitlichkeit herzustellen, erfolgreich ein. Es geht also um Einigkeit, wie in der vorletzten Szene des »zerbrochnen Krugs« gelungen, und nicht mehr um »monolithische Einheit«. So versteht auch Emrich das »Personsein« als ein Werden, in dem es um »Versöhnung« der unterscheidbaren Selbstgestalten geht (S. 63 f.). Kleist entdeckt also, wenn wir dieser Interpretation folgen wollen, im Angesicht der fundamentalen Unbestimmbarkeit einer menschlichen Kernstruk396 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kleists »Kant-Krise«

tur die Vieldimensionalität seiner selbst und zeigt, dass ein gelingendes Leben die stete Offenheit jeder einzelnen Selbstgestalt (Selbsterfahrung) zur jeweils anderen erfordert. Dieses Bemühen um eine Einigkeit der verschiedenen Aspekte der eigenen Person, welche sich für dieses einigende »Wozu« damit zugleich begeistern kann, kann aber auch scheitern. Die betreffende Person gerät dann, so zumindest Kleist, in suizidale Krisen und/oder depressive Verstimmungen. In seinen tiefen existentiellen Erschütterungen geht Kleist jeweils, wie gezeigt, dieses einigende und begeisternde »Wozu« seines Daseins verloren. Die »dahinterliegende« Grunderfahrung, sich immer wieder in Krisen und deren Überwindung wiederzufinden, entspricht dabei vollständig der Erfahrung desjenigen Menschen, der infolge seiner inneren Widersprüchlichkeit wiederholt ein neues, ihn wieder neuerlich einigendes »Wozu« des eigenen Daseins auffinden muss. Aus den dabei zu durchleidenden Krisen kann sich der Betreffende jeweils nur schöpferisch durch das Auffinden eines solchen neuen, ihn wieder einigenden »Wozu« des eigenen Daseins retten. So findet Kleist im konkreten Überwinden seiner Krisen also jeweils in eine völlig neu gestaltete und neu sich auf den »Sinn der ganzen Veranstaltung« (Schopenhauer) einigende und hierfür begeisternde Identität hinein. Diese eigentümliche Lebensführung bedeutet allerdings, dass er sich immer nur für kurze Zeit mit sich über ein solches Ziel – für welches es sich ja nach Kleist auch jeweils zu opfern lohnen muss – einig werden kann. Kleist befindet sich folglich seit der »Kant-Krise« auf einem als unsicher erfahrenen Lebensweg, den er mit immer neuen (früher oder später scheiternden) »Lebensplänen« zu bestreiten aufgefordert ist. Trotz dieser Grunderfahrung bleibt Kleist aber davon überzeugt, dass das Leben stets einem höheren Ziel, welches über das irdische Dasein des einzelnen Menschen hinausweist, zu opfern wäre. So findet sich Kleist wiederholt in dem Widerspruch, dass ihm das Leben kein endgültiges »Wozu« gewährt, da das »Wozu« des Lebens ihm in einem erneuten Überwinden einer Krise nur für »kurze Zeit« zugänglich bleibt und es zugleich niemals sicher ist, dass dieses nicht wieder als unzureichend entlarvt werden wird. Seine Lösung der »Kant-Krise« im »zerbrochnen Krug« verhindert also keineswegs weitere Krisen, beschreibt aber den für den Menschen einzigen Weg aus der Krise, dass nämlich das aus der Krise Rettende der neu sich einstellenden Einigkeit der innerlich widerstreitenden Weisen seiner selbst entspricht, und sich eben deshalb als ein solches Rettendes zu zeigen vermag. Es ist also 397 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

jeweils ein begeisterndes »Wozu« des eigenen Lebens zu entdecken. Was aber, wenn dem Leben kein über es hinausweisendes Ziel mehr aufgesteckt werden kann, welches die widerstreitenden Aspekte der eigenen Person zu vereinigen und damit die eigene Person zu begeistern vermag? Dies ist hinsichtlich Kleist eine Frage nach der Verfassung vor seinem Suizid. Wie versteht sich Kleists Erfahrung, als er nicht mehr nur über den Suizid nachdenkt, sondern ihn plant und vollzieht? Hierzu gilt es, seine Briefe zu betrachten, die er im Vorfeld seines Suizids geschrieben hat.

3.

Paradoxie des Rettenden und des Sich-tten-knnens

Seit 1809 weilt Kleist in Berlin und bemüht sich, einen gesicherten Lebensunterhalt zu finden. Die ihm persönlich zugetane Königin Luise von Preußen, die ihm eine Privatpension zur Sicherung seiner schriftstellerischen Arbeiten in Aussicht gestellt hat, verstirbt am 19. Juli 1810. Damit der finanziellen Sicherheit beraubt, und angesichts fehlender Einnahmen aus verlegten oder noch nicht verlegten Arbeiten mehr oder weniger verarmt, sucht und findet Kleist als Redaktionsleiter des »Berliner Abendblatts« Aussicht auf finanzielle Sicherheit. Das »Berliner Abendblatt« erscheint erstmals am 01. Oktober 1810, sein Erscheinen wird aber aufgrund verschiedener Konflikte mit der Zensur und namentlich dem Geheimen Staatskanzler Hardenberg bereits am 30. März 1811 wieder eingestellt. Kleist plagen fortan massive Geldsorgen. Am 20. Mai 1811 wendet er sich in seiner Not an den Prinz von Preußen und am 17. Juni sogar an den König von Preußen mit dem Ersuchen um eine Privatpension oder auch um eine Anstellung im Zivildienst. Der König von Preußen verschafft ihm am 11. September 1811 eine Anstellung im Militärdienst, und Kleist reist zu seiner Schwester nach Frankfurt/Oder. Er trifft dort zum Mittagessen ein und wird an der Tafel gedemütigt, wie er später, am 10. November an seine Cousine Marie von Kleist schreibt (S. 883 f.): »Deine Briefe haben mir das Herz zerspalten, meine teuerste Marie, und wenn es in meiner Macht gewesen wäre, so versichre ich Dich, ich würde den Entschluss zu sterben, den ich gefasst habe, wieder aufgegeben haben. Aber ich schwöre Dir, es ist mir ganz unmöglich länger zu leben; meine Seele ist so wund, dass mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert. Das wird mancher für

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Paradoxie des Rettenden und des Sich-tten-knnens

Krankheit und überspannt halten; nicht aber Du, die fähig ist, die Welt auch aus andern Standpunkten zu betrachten, als aus dem Deinigen. Dadurch, dass ich mit Schönheit und Schreibereien, unaufhörlichen Umgang gepflogen, bin ich so empfindlich geworden, dass mich die kleinsten Angriffe, denen das Gefühl jedes Menschen nach dem Lauf der Dinge hienieden ausgesetzt ist, doppelt und dreifach schmerzen. So versichre ich Dich, wollte ich lieber zehnmal den Tod erleiden, als noch einmal wieder erleben, was ich das letztemal in Frankfurt an der Mittagstafel zwischen meinen beiden Schwestern, besonders als die alte Wacker dazukam, empfunden habe; lass es Dir nur einmal gelegentlich von Ulrike erzählen. Ich habe meine Geschwister immer, zum Teil wegen ihrer gutgearteten Persönlichkeiten, zum Teil wegen der Freundschaft, die sie für mich hatten, von Herzen lieb gehabt; so wenig ich davon gesprochen habe, so gewiss ist es, dass es einer meiner herzlichsten und innigsten Wünsche war, ihnen einmal durch meine Arbeiten und Werke, recht viel Freude und Ehre zu machen. Nun ist es zwar wahr, es war in den letzten Zeiten, von mancher Seite her, gefährlich, sich mit mir einzulassen, und ich klage sie desto weniger an, sich von mir zurückgezogen zu haben, je mehr ich die Not des Ganzen bedenke, die zum Teil auch auf ihren Schultern ruhte; aber der Gedanke, das Verdienst, das ich doch zuletzt, es sei nun groß oder klein, habe, gar nicht anerkannt zu sehn, und mich von ihnen als ein ganz nichtsnutziges Glied der menschlichen Gesellschaft, das keiner Teilnahme mehr wert sei, betrachtet zu sehn, ist mir überaus schmerzhaft, wahrhaftig, es raubt mir nicht nur die Freuden, die ich von der Zukunft hoffte, sondern es vergiftet mir auch die Vergangenheit.«

Kleist ist also fest entschlossen, Suizid zu begehen. Diesen Entschluss hat Kleist jedoch, wie wir bereits gesehen haben, oftmals angesprochen. Im Unterschied zu allen vorherigen suizidalen Krisen wird er tatsächlich elf Tage später Suizid begehen. Wenn der Brief an Marie hier von Bedeutung ist, dann findet sich bei Kleist eine zunehmende suizidale Einengung und Verschlossenheit. Es fehlen ihm positive Zukunftsaussichten, zumal die Anstellung im Militärdienst ja letztlich seine schriftstellerischen Tätigkeiten behindern wird und ihm der Soldatenstand, wie noch aus der »Soldatenkrise« bekannt, verhasst ist. Seine (psychische) Verletzung am Mittagstisch seiner Schwester lässt ihn erstmals ernsthaft aus der familiären Gemeinschaft herausfallen, die ihm vorher immer ein letzter Rückhalt war. Kleist ist, wie er schreibt, sein »Herz zerspalten«, er findet sich in einem unerträglichen innerlichen Widerspruch. Auf der einen Seite steht der Kleist, der in den Militärdienst eintreten wird und der seine Schriftstellerei, für welche er tiefgreifende Opfer gebracht hat, verlieren wird bzw. für den nackten Lebensunterhalt opfern soll. Und dies, obwohl ihm doch die 399 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

Schriftstellerei spätestens seit der »Kant-Krise« das entscheidende Rettende bzw. das begeisternde »Wozu« im Leben gewesen ist. Denn es war die Schriftstellerei und das Schreiben, welches ihm immer wieder ermöglichte, seine wiederholten Krisen zu überwinden, seine innerliche Widersprüchlichkeit zu lösen und zu überwachsen. Kleist erlebt sich aber nicht nur aus seiner Familie (hier insbesondere hinsichtlich seiner geschwisterlichen Beziehung mit Ulrike) herausgestoßen, sondern zugleich auch als »unnützen Menschen« beschimpft und seine gesamte schriftstellerische Tätigkeit, sein ihn begeisterndes »Wozu« des Lebens, entwertet. Kleist findet sich folglich als einen Menschen vor, der aus seinem familiären Wir verstoßen und aus seiner Schriftstellerei herausgefallen ist und der sein Dasein als Soldat ohne schriftstellerische Ambitionen wird fristen müssen. Dieser Heinrich von Kleist aber kann kein begeisterndes »Wozu« in seinem weiteren Leben mehr erhoffen, obwohl er hierfür bisher jedes Opfer zu bringen bereit war. Nun aber tritt mit seinem Entschluss des Suizids ein Rettendes auf den Plan, welches das »Wozu« seines Lebens zu bewahren vermag. So wird Kleists Dichtung tatsächlich zur Wahrheit seines eigenen Lebens. Denn die tragischen Helden seiner Stücke, die sich (wie beispielsweise Michael Kohlhaas) für einen dem Leben aufgepflanzten höheren Zweck opfern, finden sich nun gewissermaßen in Kleist selbst wieder. Sicherlich, Kleist ist verzweifelt. Dies zeigt sich beispielsweise in seiner Aussage, dass er die in Frankfurt erlebte Verletzung in seinem Leben nicht nochmals erleiden will. Und ohne die Erfahrung der Verzweiflung wäre der eigene Tod, wie wir noch genauer zeigen werden, keine Rettung für Kleist gewesen. Mit Sicherheit ist es aber nicht die »fröhliche Luftschiffer«-Stimmung, die sich nach der Entscheidung zum Suizid einstellt, welche letztlich für die Suizidentscheidung und das Aufrechterhalten dieser Entscheidung (allein) verantwortlich ist. Denn, betrachten wir Kleists suizidale Erfahrung genauer, so zeigt sich neben den genannten Aspekten insbesondere eine Widersprüchlichkeit hinsichtlich des Rettenden, welches Kleist in der Möglichkeit, sich töten zu können, erscheint. Denn sein Rettendes, der Suizid, bedeutet ja nicht nur, die lebensmäßige Notwendigkeit zu beenden, wiederholt in Krisen zu geraten. Und es bedeutet ebenfalls nicht nur ein Ende des Lebens und damit auch aller versicherbaren menschlichen Möglichkeiten, was Kleist vollkommen bewusst ist. Sondern Kleist erfährt seinen Tod zugleich als ein Opfer für das ansonsten verlorene Rettende, also seine ihn begeisternde Schriftstellerei, dieses »Wozu« seines Lebens, 400 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Paradoxie des Rettenden und des Sich-tten-knnens

welches darin aber zugleich in einen erneuerten Zugang zu genau diesem Rettenden führt. Dieser Zusammenhang erinnert durchaus an den christlichen Opfertod, an Werther und auch an den Selbstopfertod der Iphigenie. Der christliche Opfertod versteht sich ja aber nun insofern als ein Opfer, da das Leben nicht aufgrund einer Unerträglichkeit und Ausweglosigkeit beendet wird, sondern da dieses Opfer die letztverbliebene Möglichkeit der Zuwendung zu Gott ist. Insofern ist auch das »göttliche Zeichen« wie eine notwendige Anerkennung Gottes, für den das Opfer geleistet wird. Der eigene Tod bedeutet eine (irdisch) letztgültige Zuwendung zu Gott und ist das Bekenntnis, nicht ohne diesen Zugang zur Transzendenz leben zu können. In dieser Hinsicht holt der christliche Opfertod (unter christlich-gläubigen Verständnisvoraussetzungen) den irdischen Verlust des Rettenden tatsächlich ein: Gott rettet ins ewige Leben. Iphigenie wiederum, zunächst gar nicht suizidal, findet im Selbstopfer für Hellas zu einer »ruhmreichen Tat«, in welcher sich sowohl ihr Schicksal verkündet als auch die Allgemeingültigkeit ihrer Tat ausdrückt. Insofern gelangt sie zur angenommenen Vollendung des Menschen im griechisch-antiken Kulturkreis und ist von daher gerettet. Sie wird auch entsprechend im Theater, wie Euripides ausführt, in das unsterbliche Leben auf dem Olymp gerettet. Auch hier zeigt sich also der Zusammenhang, dass der Verlust des Rettenden im Irdischen vom Opfertod letztlich eingeholt und geheilt wird. Und Kleist? Kleist schreibt am Morgen seines Todes an seine Schwester Ulrike (S. 887): »Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allen anderen, meine teuerste Ulrike, mit Dir versöhnt zu haben. Lass sie mich, die strenge Äußerung, die in dem Briefe an die Kleisten enthalten ist, lass sie mich zurücknehmen; wirklich, Du hast an mir getan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand; um mich zu retten: die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit, dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß.«

Und an Marie von Kleist richtet er anschließend die Zeilen (S. 887 f.): »Meine liebste Marie, wenn Du wüsstest, wie der Tod und die Liebe sich abwechseln, um diese letzten Augenblicke meines Lebens mit Blumen, himmlischen und irdischen, zu bekränzen, gewiss Du würdest mich gern sterben las-

401 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

sen. Ach, ich versichre Dich, ich bin ganz selig. Morgens und abends knie ich nieder, was ich nie gekonnt habe, und bete zu Gott; ich kann ihm mein Leben, das allerqualvollste, das je ein Mensch geführt hat, jetzo danken, weil er es mir durch den herrlichsten und wollüstigsten aller Tode vergütigt. Ach, könnt ich nur etwas für Dich tun, das den herben Schmerz, den ich Dir verursachen werde, mildern könnte! Auf einen Augenblick war es mein Wille mich malen zu lassen; aber alsdann glaubte ich wieder zuviel Unrecht gegen Dich zu haben, als dass mir erlaubt sein könnte vorauszusetzen, mein Bild würde Dir viel Freude machen. Kann es Dich trösten, wenn ich Dir sage, dass ich diese Freundin niemals gegen Dich vertauscht haben würde, wenn sie weiter nichts gewollt hätte, als mit mir leben? Gewiss, meine liebste Marie, so ist es; es hat Augenblicke gegeben, wo ich meiner lieben Freundin, offenherzig, diese Worte gesagt habe. Ach, ich versichre Dich, ich habe Dich so lieb, Du bist mir so überaus teuer und wert, dass ich kaum sagen kann, ich liebe diese liebe vergötterte Freundin mehr als Dich. Der Entschluss, der in ihrer Seele aufging, mit mir zu sterben, zog mich, ich kann Dir nicht sagen, mit welcher unaussprechlichen und unwiderstehlichen Gewalt, an ihre Brust; erinnerst Du Dich wohl, dass ich Dich mehrmals gefragt habe, ob Du mit mir sterben willst? – Aber Du sagtest immer nein – Ein Strudel von nie empfundener Seligkeit hat mich ergriffen, und ich kann Dir nicht leugnen, dass mir ihr Grab lieber ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt. – Ach, meine teuere Freundin, möchte Dich Gott bald abrufen in jene bessere Welt, wo wir uns alle, mit der Liebe der Engel, einander werden ans Herz drücken können. – Adieu.«

Findet sich hier, neben einer nebulös formulierten Wut auf Ulrike und Marie, nicht das »göttliche Zeichen« in Kleists Erleben, dass sein Suizid ein Opfer für das Rettende ist und dass es ihm daher von diesem Rettenden bestimmt ist, sich dafür zu opfern? Kleist erfährt ganz offenbar seinen Suizid als einen Opfertod für das Rettende, welches ihm, da er sich zu opfern bereit ist, als Rettendes erscheint. Ist es nur deshalb ein solches, da er sich für dieses sonst Verlorene zu opfern bereit ist? Oder ist es unabhängig von Kleists Opferbereitschaft ein solches Rettendes? Sicherlich, ein Kleist, der niederkniet und zu Gott betet, ihm für sein allerqualvollstes Leben dankt, da ihm auf Erden nicht zu helfen war, sondern nur noch der Tod helfen kann, ist wirklich merkwürdig. Fragen wir allerdings nach der Struktur der suizidalen Erfahrung, so können wir Kleists Sichtweise des Sich-opferns nicht als »irreale Verschmelzungsphantasie« pathologisieren, sondern müssen vielmehr fragen, wie dieses eigenartig widersprüchlich scheinende Zueinander von Rettendem und Opfer beschrieben werden kann. Denn offenbar wird für Kleist das Opfer für das Rettende sinn402 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Aspekte des Doppelsuizids mit Henriette Vogel

ausweisend, da es den Zugang zum Rettenden aufschließt, obwohl es ansonsten im Irdischen verloren ist. Wie bereits argumentiert, formuliert Kleist selbst diesen Zusammenhang sehr deutlich. Die innere Widersprüchlichkeit der suizidalen Erfahrung wird von Kleist also nicht ausgeblendet, sondern vielmehr entdeckt. Sie bleibt ihm jedoch als unauflöslich in der inneren Widersprüchlichkeit der suizidalen Erfahrung hinsichtlich des Rettenden präsent. So wird einerseits durch den Suizid jegliche Rettung im Irdischen überflüssig, insofern Kleist »auf Erden« eben auch nicht mehr geholfen werden konnte bzw. nicht mehr geholfen werden musste. Dann könnte vermutet werden, dass Kleist auch infolge dieser bewussten Einsicht sagen konnte, dass seine Schwester, die ja wiederum nicht unwesentlich für seine letzte suizidale Krise war, an ihm das »getan habe«, was ein Mensch an einem Menschen Positives tun könne. Andererseits aber verspricht sich ihm erneut ein bereits verloren geglaubtes Rettendes, da er seinen Suizid als ein Opfer für dieses Rettende erfährt. Der Suizid macht also nicht nur jegliche erneute Rettung aus einer irdischen Krise überflüssig, sondern eröffnet zugleich die Erfahrung eines bereits verloren geglaubten Rettenden, insofern er sich für dieses Rettende zu opfern bereit ist. Entscheidend ist also, dass sich für Kleist der Suizid als ein letztes »Wozu« seines Lebens zeigt, mit dessen Hilfe er sich erneut auf ein einigendes Handlungsziel durchringen kann. Kleist glaubt dabei an das selige Leben im Jenseits, obwohl er weiß, dass es weder zu wissen ist noch durch ein irdisches Wissen als »Wozu« des menschlichen Daseins legitimiert werden kann. Vielmehr versichert er sich der Wirklichkeit seines Geglaubten dadurch, dass er sogar sein eigenes Leben für dieses Geglaubte zu wagen bereit ist. Kleists Suizid gewinnt folglich eine wahrhaft religiöse Qualität, da er sein Leben durch die Bereitschaft, es für die Idee und den Glauben an einen »Sinn der ganzen Veranstaltung« zu opfern und zu wagen, wiederum mit einem rettenden und begeisternden »Wozu« ausstattet.

4.

Aspekte des Doppelsuizids mit Henriette Vogel

Eine Besonderheit des kleistschen Suizids ist der Umstand, dass es sich um einen Doppelsuizid handelt. Dies hat zu vielfältigen Interpretationen Anlass gegeben. Wie beispielsweise Schmidt ausführt, könnte im Doppelsuizid auch die Triebzielbefriedigung des kleistschen Todestrie403 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

bes gesehen werden (Schmidt 1970). Zugleich aber vermischt sich für Schmidt darin auch der (psychoanalytisch als Trieb aufgefasste) Eros mit dem (analog verstandenen) Thanatos, denn »in der Tat erwuchs im Schatten des Todes die Liebe. Ein Todesbund, der zum Liebestodesbund wurde […]. Dieses Sterben zu zweit kompensiert also den Nachholbedarf an sexuellem Kontakt durch Liebe. In einer Art Bilanzbewusstsein erschien die Todesekstase als Wiedergutmachung seines Daseins im Ganzen. Der Tod erfüllte die lange Sehnsucht nach der Unbedingtheit mitmenschlichen Glücks.« (Schmidt 1970) Haenel hingegen versteht den Doppelsuizid nicht aus einer unerfüllten Liebe der beiden Verliebten, sondern versteht vielmehr ihre Liebe aus dem gemeinsamen Sterbenswunsch (Haenel 2001, S. 17). Diese »Todeslust«, die wie eine »günstige Gelegenheit« für Kleist erschienen sei, habe Kleist – so Haenel – ergriffen, da er infolge einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung »bei jedem Verlust von Idealen« mit einer Flucht reagierte, die sich für Haenel u. a. auch in seinen vielen Reisen zeigt (S. 17 f.). Seine vormals unerfüllten Liebesbeziehungen versteht Haenel dabei als Ausdruck einer »narzisstischen Objektwahl«, die gewissermaßen nur unverbrüchlich im nahenden Tode als gesichert gelten könnte. Allerdings ist Haenel mit diesen Verständnismöglichkeiten nicht recht zufrieden und sagt: »Vielleicht muss Kleist recht gegeben werden, wenn er von sich selbst sagte: Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.« (S. 19) Ist der Doppelsuizid also die Erfüllung eines »Lebenstraums«, oder ist es vielmehr eine »günstige Gelegenheit« für Kleist gewesen, um ein überirdisches und unverlierbares »Wozu« des Lebens, an welches er bei allen Zweifeln letztlich immer irgendwie geglaubt zu haben scheint, zu ergründen? In der Tat spricht vieles dafür, dass Kleist keinen Suizid begangen hätte, trotz der Intensität seiner Verzweiflung, wenn nicht Henriette Vogel mit ihm zu sterben bereit gewesen wäre. Dieses drückt Kleist selbst in seinem Abschiedsbrief an Marie aus und benennt es als wichtigen Aspekt für den anstehenden Suizid. Er knüpft daran sogar die Liebe zu Henriette, die im Leben aus seiner Sicht keine Tragfähigkeit gehabt hätte. Auch kann nicht bezweifelt werden, dass Kleist wiederholt suizidal gewesen ist und dass es nicht Henriette allein gewesen sein kann, die hier zum Suizid drängte. Dieses kann – bei aller Unsicherheit dieses Hinweises – auch darin gesehen werden, dass Kleist entsprechend der gemeinsamen Planung zunächst Henriette erschießt und sich erst anschließend tötet. Versteht sich Kleists Suizid also auch 404 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Aspekte des Doppelsuizids mit Henriette Vogel

als Erfüllung des im Irdischen gehegten Wunsches nach der unverbrüchlichen Einigkeit mit einem anderen Menschen? Die Gemeinschaft mit Henriette ist, wie Kleist selbst ausführt, mit den Gemeinsamkeiten mit Marie und Ulrike ebenso unvereinbar, wie sie sie zugleich überflüssig macht. Ja, es erscheint geradezu als eine Bestrafung für Ulrike – und in begrenzterem Umfang auch für Marie –, dass sich hier für Kleist ein Mensch gefunden haben soll, der für ihn zu sterben bereit ist. Wenn Kleist Ulrike und Marie wünscht, einen ebenso glücklichen Tod zu erleiden, dann drückt sich hierin auch aus, dass er ihnen vorwirft, ihn doch nicht genug zu lieben. Schließlich versteht Kleist das Selbstopfer für einen höheren Zweck als die größte Lebensleistung, die ein Mensch vollbringen kann. Genau dies aber haben ihm Ulrike und Marie, im Gegensatz zu Henriette Vogel, verweigert. Es drängt sich also die These auf, dass für Kleist er selbst (in seiner schriftstellerischen Tätigkeit) dieser höhere Zweck ist. Es zeigt sich in der Opferbereitschaft Henriettes für Kleist eine erneute Bestätigung seiner schriftstellerischen Größe und damit ein weiterer Nachweis, dass seine Schriftstellerei es wert ist, sich für sie zu opfern. So findet Kleist in einem Menschen, der mit ihm sterben will bzw. der bereit ist, durch seine Hand zu sterben, einen erneuten Hinweis darauf, dass es sich für das sonst im Irdischen verlorene Rettende zu opfern lohnt. Er als Schriftsteller, der sich für seine Schriftstellerei opfert – dort der Mensch, der sich für den Schriftsteller opfert. Kleist schreibt an seine Freundin Sophie Müller am 19. November 1811 (S. 885 f.): »Es hat seine Richtigkeit, dass wir uns, Jettchen und ich, wir zwei trübsinnige, trübselige Menschen, die sich immer ihrer Kälte wegen angeklagt haben, von ganzem Herzen lieb gewonnen haben, und der beste Beweis davon ist wohl, dass wir jetzt miteinander sterben. Leben Sie wohl, unsre liebe, liebe Freundin, und seien Sie auf Erden, wie es gar wohl möglich ist, recht glücklich! Wir, unsererseits, wollen nichts von den Freuden dieser Welt wissen und träumen lauter himmlische Fluren und Sonnen, in deren Schimmer wir, mit langen Flügeln an den Schultern, umherwandeln werden. Adieu!«

Für Kleist stellt diese Liebe im Tode also durchaus einen Widerspruch zu den vorigen Gemeinsamkeiten dar, wobei er den Beweis für Henriettes Liebe vorwiegend darin begründet sieht, dass sie sich für ihn und mit ihm opfert. Henriette Vogel sieht dies im Übrigen etwas anders und formuliert in ihren Abschiedsbriefen insbesondere ein Ende der steten Unerträglichkeit (Sembder 1996, S. 459 ff.). Aber auch bei 405 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

Henriette Vogel spielt der Aspekt des Opfers eine Rolle, insofern sie mit Kleist den Suizid wie ein Fest zelebriert, sich für den Suizid wie ein heiliges Opfer herausputzt (S. 470). Inwiefern hier wiederum der Einfluss des »berühmten Kleist« zu sehen ist, wie Haenel sehr plausibel nahe legt und wie es auch entsprechend unseres Verständnisses der suizidalen Erfahrung naheliegend wäre, ist jedoch aus den derzeitig verfügbaren Dokumenten nicht abschließend zu klären.

5.

Das Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Heinrich von Kleist

Die Untersuchung der Sinnerfahrung bzw. der Erfahrung eines »Wozu« des eigenen Lebens, so wie Kleist sie in seinen suizidalen Erfahrungen thematisiert, zeigt, dass Kleist in seinen Krisen jeweils die »Begeisterung« bzw. die Einigung auf ein begeisterndes »Wozu« des eigenen Lebens (auf einen skopos der Lebensführung) verloren ging. Dies kann als das entscheidende Merkmal seiner suizidalen Erfahrung verstanden werden. Zusammengefasst zeigt sich die suizidale Erfahrung bei Kleist also als eine wahrhaft widersprüchliche Erfahrung, in der die Übereinstimmung mit sich selbst im hiesigen (irdischen) Leben unmöglich geworden scheint. Dabei ist er in dieser Erfahrung in eine innere Widersprüchlichkeit eingeschlossen, in der sich ihm das Rettende widersprüchlich zeigt. Denn der Suizid als das letzte »Wozu«, auf welches er sich mit sich im Leben einigen kann, versichert ihm, der er bereit ist, sich für dieses »Wozu« zu opfern, zugleich ein letztes Rettendes – und eine letzte Möglichkeit, mit sich in Übereinstimmung zu leben. Es ist allerdings ein überirdisches, geglaubtes und letztlich durch die Kraft des Selbstopfers versichertes Rettendes. Vollzieht sich in dieser widersprüchlichen Erfahrung demnach nicht eine Romantisierung des Sichtöten-könnens? In der »Kant-Krise« ist Kleist die lebensabsichernde Teleologie des Lebens weggebrochen. Das Ewige und Unveränderliche des menschlichen Daseins, welches zugleich als Rettung zusichernde Transzendenz begegnet, ist in die innerste Unbestimmbarkeit des menschlichen Wesens eingebrochen. Für Kleist entlarvt sich damit jegliche Versicherung, dass »der ganzen Veranstaltung« ein unveränderlicher Sinn gegeben ist, als eine (illusionäre) menschliche Bestimmung. Kleists Lebenserfahrung zeigt ihm jedoch unnachgiebig, dass er ohne einen 406 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Heinrich von Kleist

Sinn, den er seinem Leben aufstecken könnte bzw. auf den er sich selbst in seiner ganzen Widersprüchlichkeit einigen könnte (um ihn dann in seiner Lebensführung zu verfolgen), nur noch verzweifeln kann. Seine Verzweiflung ist also eine darüber, dass er sich in einer Weise gegeben ist, wie er nicht sein will: nämlich als Mensch ohne »ewige Ziele«. Kleists Verständnis der Möglichkeit, sich töten zu können, findet schließlich im Angesicht des Verlusts eines ewigen, einerseits transzendenten, andererseits irdisch inkarnierten Sinns des menschlichen Daseins statt. Seine suizidale Erfahrung und seine Entscheidung zum Suizid sind insofern durchaus eine Fortsetzung der »Kant-Krise«, als es eben gerade die »Kant-Krise« ist, in der er den Verlust dieser »ewigen Ziele« erleidet. In dieser Weise versteht sich Kleists Suizid zunächst als eine romantische Überhöhung, die sich dazu versteigt, dem Leben doch wieder einen ewigen Sinn aufstecken zu wollen. Seine Suizidentscheidung ist aber insofern wiederum eine Überwindung der »Kant-Krise« – im Stile des »zerbrochnen Krugs« –, da er die Lösung dieser Krise darin findet, dass er sich als einzelner Mensch auf ein anzustrebendes (Lebens-)Ziel (skopos) mit sich selbst (in allen seinen widersprüchlichen Aspekten) einigen muss. Letzteres ist aber, und hierin liegt eben die prophetische Qualität der kleistschen Lebensführung, immer nur für (mehr oder weniger) kurze Zeit und nicht einmal für die Dauer eines ganzen Lebens möglich. Einzig das eigene Leben bleibt dem Betreffenden zu jeder Zeit und Stunde, um als gewagtes Opfer für einen solchen (Jenseits-)Glauben eingesetzt zu werden (und die Übereinstimmung der Lebensführung zu erweisen, wie wir mit Bezug auf Montaigne und Seneca sagen könnten). So gesehen versteht sich Kleists Suizid als ein religiöses Unterfangen, da er dem Leben nicht nur einen ewigen Sinn aufstecken will, sondern dies mit dem Opfer des eigenen Lebens, zumindest für ihn selbst, absichert. Es ist darin aber zugleich auch ein nüchtern-aufgeklärter Nachweis des Zusammenhangs von Rettendem und dem »Wozu« des Lebens in der suizidalen Erfahrung. Kleists suizidale Erfahrung und seine reflexive Beschreibung dieser Erfahrung ist folglich durchaus hinsichtlich des Merkmals des Sichopferns mit dem Werther vergleichbar. Denn auch Werther opfert sich freiwillig für Lotte und erfährt sich darin als der Retter von Lottes Göttlichkeit (einer »Göttlichkeit«, so wie er sie wahrnimmt). Diese suizidale Interpretation versteht sich für Goethe jedoch als nur eine der beiden widersprüchlichen Weisen, zwischen denen Werther in sei407 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Heinrich von Kleist

ner Erfahrung hin- und herpendelt. Denn in anderer Hinsicht erfährt er sich als den vollkommen verzweifelten Menschen, der den unwiderbringlichen Verlust seiner Retterin erlebt und einsam in der bürgerlichen Gesellschaft dahinvegetiert. Die entscheidende Neuerung bei Goethe hatten wir darin gesehen, dass er diese innere Widersprüchlichkeit der suizidalen Erfahrung eindeutig formuliert. Genau diese Formulierung findet sich auch bei Kleist, wobei er in seiner suizidalen Erfahrung jedoch auf eine widersprüchliche Gegebenheit des Rettenden in Gestalt eines ihn mit sich einigenden »Wozu« des Lebens (im Selbstopfer) fokussiert ist. Die Sinnerfahrung in der suizidalen Erfahrung weist bei Kleist also eine doppelsinnige Struktur auf. Wie Kleist können auch wir in unseren postmodernen und widersprüchlichen Verfassungen die jeweils von uns gefundene Bestimmung des uns begeisternden und anzuvisierenden (im besten Fall mit uns in Übereinstimmung stehenden) Lebensziels bzw. skopos unserer Lebensführung nicht mehr als ewig verstehen. Dennoch leben wir, gewissermaßen gewohnheitsmäßig, mit einem uns (mehr oder weniger) begeisternden »Wozu«, welches unsere verschiedenen Dimensionen so zu einigen vermag, dass wir von diesem Ziel förmlich wie magisch angezogen unseren Alltag zu bewältigen vermögen. Gerade dieses als selbstverständlich erlebte »Wozu« wird aber in der Verzweiflung als »Illusion«, als selbst aufgestecktes Ziel entlarvt. Die unwillkürliche Irritation, die sich darin findet, dass der eigene Lebenssinn einbricht und sich die Frage nach dem Sinn der ganzen Veranstaltung stellt, zwingt dazu, dass die Frage nach dem »Wozu« des Lebens neu beantwortet werden muss. Dieser Zusammenhang findet sich oftmals bereits in der depressiven Erfahrung, worauf nicht nur die Philosophie seit ihren Anfängen, beispielsweise bei Aristoteles, verwiesen hat, sondern wie auch ein um gemeinsame Verständigung bemühtes psychiatrisches Verständnis der Depression betont (Tellenbach 1976; Payer 2009). Kleist spricht diese Grunderfahrung, sich immer wieder in Krisen und deren Überwindung zu befinden, beispielsweise in einem Brief 1806 an Otto Rühle aus: »Komm, lass uns etwas Gutes tun, und dabei sterben! Einen der Millionen Tode, die wir schon gestorben sind, und noch sterben werden. Es ist, als ob wir aus einem Zimmer in das andere gehen.« (Kleist 1994, Bd. 2, S. 768 f.) Aufschlussreich ist die sich in diesem Gleichnis findende Überhöhung des Gesamtsinns des menschlichen Daseins, den das die Zimmer überwölbende Gebäude repräsen408 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Heinrich von Kleist

tiert, ohne indes vom Betreffenden überhaupt erkannt werden zu können, da er stets nur von einem Zimmer ins andere wechselt. Er kann insofern noch nicht einmal wissen, ob es ein solches überwölbendes Gebäude überhaupt gibt, obwohl er es freilich glauben kann. Kleist bringt damit die Frage nach dem »Wozu« des Lebens (unbeabsichtigt?) auf den Punkt, die im Wissen um das Sich-töten-können unnachgiebig aufbricht. Sie stellt sich in der suizidalen Erfahrung in bedrängender Weise, kann aber zugleich nach der Aufklärung und damit auch von Kleist (als einem Kind der Aufklärung) nurmehr aus dem eigenen Leben beantwortet werden, selbst wenn diese persönliche Antwort über das eigene Leben hinausgeht, vielleicht sogar eine religiös-weltanschauliche Antwort ist. Dennoch bleibt diese Antwort unsicher, temporär und krisenanfällig. Sie wird sich vom betreffenden Menschen selbst (mehr oder weniger unbewusst) vorgesetzt und kann (trotz aller Opferbereitschaft) nicht willentlich erzwungen werden. Kleist kann demnach in seiner widersprüchlichen Verfassung, die sich in seiner suizidalen Erfahrung hinsichtlich des Rettenden und des »Wozu« des Lebens zeigt, als Prophet desjenigen Menschen verstanden werden, der ebenfalls die jeweils von ihm gefundene Bestimmung des Rettenden in Gestalt eines anzuvisierenden Lebensziels nicht mehr als ewig verstehen kann und der sich demnach in einer notwendigen Vieldimensionalität seines Daseins wiederfindet. Kleist erhält dabei für uns Kinder der Aufklärung eben deshalb einen prophetischen Charakter, da er als erster Mensch angesichts des Verlusts »ewiger Ziele« sagt, dass ihm auf Erden nicht zu helfen war, ihm aber dennoch der Suizid helfen könne; eine Widersprüchlichkeit des Rettenden, welches mich zu retten vermag, da ich mich ihm opfere, welches mich aber dennoch nicht zwingend wird retten müssen, da es mein Leben von mir verlangt (und ich nicht sicher wissen kann, was im Tod sein wird). Der Verlust eines begeisternden »Wozu«, eines skopos in der eigenen Lebensführung, fordert von uns (als Kindern der Aufklärung und damit wir ein neues »Wozu« entdecken können) das Einüben neuer Gewohnheiten, auf die zurückkommend wir dann reflexiv eine solche Sinndimension unserer Erfahrung entschlüsseln können. Dies gilt auch für Kleist, dem die Schriftstellerei letztlich zum Altar seines Lebens wird. So bleibt Kleist nur noch der Tod als Rettendes, für den er sein Leben zu wagen bereit ist in der darin geglaubten (und zugleich bezweifelten) Gewissheit eines seligmachenden, rettenden Jenseits. Für einen aufgeklärten Menschen eine fürwahr verzweifelte Angelegenheit. 409 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

VI. Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Das 20. Jahrhundert hat eine scheinbar unübersehbare Fülle an Literatur zum Themenfeld der suizidalen Erfahrung hervorgebracht. Im Gefolge von Durkheim, Freud und Menninger hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ende des 20. Jahrhunderts die suizidale Krise als wichtiger Aspekt der psychiatrisch-psychotherapeutischen Tätigkeit etabliert. Diese Etablierung im psychiatrischen Diskurs kann im Wesentlichen an zwei verschiedenen Aspekten verdeutlicht werden: a) der Präsenz des Themas in den einschlägigen Lehrbüchern der Psychiatrie und Psychotherapie; b) der Gründung spezifischer Zeitschriften zu diesem Thema. Neben den beiden genannten Aspekten ist auch die themenspezifische institutionelle und universitäre Ausstattung bzw. Verankerung zu beachten, wenn die Bedeutung und Professionalisierung eines fachspezifischen Bereichs betrachtet wird. Diese zeigt sich hinsichtlich des Themas der suizidalen Erfahrung in speziellen krisentherapeutischen Angeboten in psychiatrischen Institutionen, psychotherapeutischen Einrichtungen und Beratungsstellen, der Bildung wissenschaftlicher Gesellschaften mit dem Ziel der Selbstmordverhütung sowie einer Fülle an regionalen, nationalen und internationalen Aktivitäten (eine Übersicht für den deutschsprachigen Raum bei Wolfersdorf 2007; s. auch Sonneck 2008). Diese institutionellen Aspekte stehen aber nicht im Fokus unserer Untersuchung, in der es um das Verständnis der suizidalen Erfahrung in der Suizidologie geht. Auch die Fülle der literarischen Werke wird in diesem Abschnitt nicht genauer in den Blick genommen, die von Beginn an das Jahrhundert zu diesem Thema begleitet haben (Langenberg-Pelzer 1995; Alvarez 1999). In den aktuellen Lehrbüchern der Psychiatrie findet sich zumindest seit den 90er Jahren regelmäßig ein eigenes Kapitel zum Thema der »Suizidalität«. Noch geradezu revolutionär war der eigene Abschnitt zum Thema »Selbstmord und Selbstmordversuch« im neu konzeptionalisierten, mehrbändigen Lehrbuch »Psychiatrie der Gegen410 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

wart«, den Erwin Stengel 1961 verfasste. In diesem richtungsweisenden Lehrbuchkapitel hält er einleitend fest: »Die Selbstmordforschung der letzten Jahrzehnte ist im großen ganzen konventionellen Bahnen gefolgt. Neue Gesichtspunkte sind nur in Untersuchungen über den Selbstmordversuch aufgetaucht. Die Literatur über den Selbstmord im eigentlichen Sinne, d. h. der tödlichen Selbstmordhandlung, ist über die Bestätigung bekannten Wissensgutes nicht hinausgekommen.« (Stengel 1961, S. 51) Stengel bezieht sich auf Monographien aus den Jahren 1933 bis 1946. Im Unterschied zu diesem selbstkritisch verfassten Lehrbuch-Kapitel findet sich in dem »Lehrbuch der Psychiatrie« Eugen Bleulers, dem Lehrbuch-Klassiker bis in die 70er Jahre, weder ein eigener Abschnitt noch ein eigenes Unterkapitelchen. Es finden sich nur spärliche Bemerkungen, die im Wesentlichen einen ominösen Selbstmordtrieb zum Verständnis der suizidalen Krise bemühen (Bleuler 1972). Auch in den ersten drei Auflagen der berühmten »Allgemeinen Psychopathologie« von Karl Jaspers aus den Jahren 1913, 1920 und 1923 finden sich nur zwei kürzere Bemerkungen zum Thema (Jaspers 1913, S. 143 u. 300 f.; 2. Aufl. 1920, S. 168 u. 371, 3. Aufl. 1923, S. 195 u. 407 f.). Jedenfalls zeigt sich erst seit den 70er Jahren eine zunehmend selbstverständliche Präsenz des Themas in den Lehrbüchern. Die institutionelle Verankerung setzt ebenfalls in den 60er Jahren ein und führt letztlich auch zur Gründung verschiedener themenspezifischer Fachzeitschriften. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es erste, jedoch isoliert arbeitende Anlaufstellen für suizidale Menschen in den Metropolen der westlichen Welt (London, New York, Wien, Berlin, Los Angeles) (Sonneck 2008). Erst 1960 gründet dann Erwin Ringel die Internationale Gesellschaft für Suizidprävention (heute: International Association for Suicide Prevention, IASP), der einzelne nationale Nachgründungen folgen, so etwa 1968 in den Vereinigten Staaten von Amerika die »American Association of Suicidology« (AAS) und 1972 in Deutschland die »Deutsche Gesellschaft für Selbstmordverhütung« (heute: Deutsche Gesellschaft für Suizidprophylaxe, DGS). Diese zunehmende Institutionalisierung und Vernetzung der Angebote zur (prä-)suizidalen Krisenintervention zeigt sich schließlich auch in speziellen Fachzeitschriften, welche unter dem Dach dieser Gesellschaften herausgegeben werden. Die IASP begründet 1979 die internationale Zeitschrift »Crisis«, die DGS gibt seit 1973 ihre eigene Zeitschrift »Suizidprophylaxe« heraus, bereits seit 1970 erscheint die Zeitschrift der AAS »Suicide and Life-Threatening Behavior«. 411 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Zusammenfassend zeigt auch dies die zunehmende Institutionalisierung und thematische Verankerung der »Suizidalität« im psychiatrisch-psychotherapeutischen Diskurs seit den 70er Jahren. Parallel zu diesen Entwicklungen ereignet sich in der Gesellschaft in den 70er Jahren ebenfalls ein unterstützend wirkender »social and psychological turn«. Denn nicht nur hinsichtlich der suizidalen Erfahrung zeigt sich eine erhebliche Intensivierung zur Erforschung und Befragung menschlichen Lebens mit den unterschiedlichsten, wenn auch zumeist empirisch fundierten soziologischen, sozialpsychologischen und (tiefen-)psychologischen Methoden. In der institutionell verankerten Suizidologie, wie sie sich in den Lehrbüchern und den Fachzeitschriften zeigt, zielt im Interesse einer Suizidprophylaxe alles auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten von suizidalen Krisen (Pohlmeier 1978, S. 30 ff.). Konkret geht es also darum, welche an sich möglichen Bedingungen beim einzelnen suizidalen Menschen Wirklichkeit geworden sind. Damit geht es immer um die Frage nach dem »Warum« der einzelnen suizidalen Krise. Dies ist an sich unproblematisch, wenn die Fragen nach dem »Wie« und nach dem »Wozu« ebenfalls weiterhin thematisiert werden. Aber bereits 1961 muss Stengel die Schwierigkeit, einen pluralistischen Methodenzugang zum Phänomen zu nutzen, konstatieren. Dabei kritisiert er eine gewisse empirische Hysterie: »Es scheint, als ob Psychiater nur allzu gerne von der beunruhigenden klinischen Realität des Selbstmordproblems in das Reich der Zahlen flüchteten.« (Ringel 1961, S. 52) Die massive Beunruhigung, die das Thema des Suizids und der suizidalen Erfahrung auslöst, können wir schnell ausmachen. Es ist die Frage: Wozu lebe ich eigentlich? Die Antwort auf diese Frage muss zwingenderweise persönlich ausfallen und mag persönlich zuweilen schwer fallen. Aber nur, weil diese Frage nicht sofort spontan und sinnträchtig beantwortet werden kann, ist der betreffenden Mensch ja nicht gleich suizidal. Unnachgiebig jedoch wirft sich diese Frage demjenigen Menschen auf, der einem suizidalen Menschen begegnet. Suizidalen Menschen zu begegnen, sich mit ihnen intensiv zu beschäftigen, sich auf ihre Innerlichkeit und Sichtweise einzulassen, ist also zutiefst herausfordernd und beunruhigend. Da ist es naheliegend, nach haltgebenden Antworten zu suchen. Die Suizidologie bemüht sich um haltgebende Antworten, wobei sie die Frage insbesondere über den »Umweg« eines Verständnisses der Verzweiflung des suizidalen Menschen zu beantworten sucht. Die hier 412 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

erfolgende Untersuchung der wesentlichen Grundgedanken des Verständnisses der suizidalen Krise einer der Selbstmordverhütung verpflichteten Suizidologie kann jedoch nicht nur in einem schlichten Nacherzählen erfolgen. Dies wird dann deutlich, wenn wir uns nochmals der leitenden Frage dieser Untersuchung vergewissern. Da wir hier nach dem »Wie« der suizidalen Erfahrung fragen, müssen wir die wesentlichen Grundgedanken des Verständnisses der suizidalen Erfahrung immer wieder übersetzen, fragt die einer Suizidprophylaxe verpflichtete Suizidologie doch nach dem »Warum« der suizidalen Krise. Wie können wir diese »Übersetzungsarbeit« leisten? Wir nutzen hierzu die phänomenologische Methode, wie wir einleitend erörtert hatten. In einer solchen, dieser Methode verpflichteten Übersetzungsarbeit gilt für alle Perspektiven das Kriterium der Stimmigkeit. Dabei wird davon ausgegangen, dass die wissenschaftlichen Einsichten der Suizidologie eine eigene Rationalität aufweisen. In deren wissenschaftlicher Forschung geht es in letzter Konsequenz um das Steigern und Verbessern dieser inhärenten Stimmigkeit und Rationalität. In der hier vorgenommenen Untersuchung wird unserer Methode gemäß angenommen, dass die wissenschaftliche Rationalität nicht die einzige Weise von Rationalität ist. Vielmehr gibt es unterschiedliche Rationalitäten, die jeweils innerhalb ihrer eigenen Perspektive gültig sind, ohne dies hingegen für eine ebenso gültige, jedoch im Grundverständnis vollkommen andere Perspektive zwingend sein zu müssen. Denn in dieser anderen Perspektive gilt eventuell eine vollkommen andere Rationalität. Jede Perspektive muss dabei als eigenständig verstanden werden. Sie geht mit einer entsprechenden Welt und entsprechenden Menschen einher, die sich in dieser Welt als die »ihre« vollkommen selbstverständlich bewegen und befinden. So verstanden zeigen sich alle »Wahrheiten« als abhängig vom Weg, auf welchem zu dieser Wahrheit gekommen werden kann. Dies hatten wir einleitend bereits als »methodenkritische Einstellung« benannt. Rombach fasst dies im folgenden Zitat zusammen: »Wahrheit nur noch als ›Weg‹. Die letzte Wahrheit ist nicht als sie selbst fassbar und sagbar, aber sie kann als der Sinn- und Zielpunkt eines ›Weges‹ erfahren werden. Nur vom Weg her diesen zugleich erfüllend und überwindend. Auf dem Weg hat jeder Schritt die Wahrheit, er hat sie, wenn er auch noch weit entfernt ist.« (Rombach 1993, S. 314) In diesem Sinne spricht Rombach von einer »Pluralität der Vernunft« (S. 317). Insofern aus allen Positionen Wege geworden sind, ist die 413 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Preisgabe der Einheit der Vernunft unverzichtbar. Dies bedeutet, dass die Suizidologie in ihrer fortschreitenden Vertiefung und Differenzierung ihres Verstehens der suizidalen Krise als ein Weg zu verstehen ist, der auf sein eigenes Verständnis zu kommen sucht. In diesem Sinne versteht sich sowohl die Unabgeschlossenheit der suizidologischen Forschung als auch deren stete, interne Korrektur der Einsichten und Erkenntnisse. Ausdruck eines solchen Weges sind dann nicht nur verschiedene Fachzeitschriften, Kongresse und Forschungsgruppen, die in einem internen Wettstreit liegen und sich dabei wechselseitig anspornen und korrigieren, sondern eben auch die prinzipielle Vergleichbarkeit des hintergründigen Verständnisses der suizidalen Erfahrung. Diese prinzipielle Vergleichbarkeit ermöglicht überhaupt erst, dass hier alle in einen forschenden Wettstreit hineingekommen sind, andernfalls würden sie sich überhaupt nicht verstehen. Gerade in Letzterem liegt die Gefahr dieser Untersuchung. Sie droht stets im Unverständnis der eigentlichen Fachleute unterzugehen. Denn sie steht ja nicht innerhalb der wissenschaftlichen Suizidologie, sondern steht aus deren Sicht wirklich außerhalb. Dies vor allem deshalb, da sie entsprechend der phänomenologischen Methode nur die Struktur der gegebenen suizidalen Erfahrung zu beschreiben vermag und von daher ein grundlegend anderes Verständnis des Humanen ausweist. Insofern wird es die zentrale Aufgabe dieser Übersetzungsarbeit sein, zunächst das in sich stimmige – wenn auch vielleicht aus anderer Sicht widersprüchliche – Verständnis derjenigen Verständnisse zu gewinnen, die im Folgenden betrachtet werden. Im Weiteren kann dann entsprechend des kritischen Moments der phänomenologischen Methode entlang der aufgewiesenen, diesen Verständnissen inhärenten Widersprüchen eine vertiefte Interpretation geleistet werden. Darin kann diejenige Übersetzbarkeit gewonnen werden, die sowohl vom einen als auch vom anderen Verständnis her verständlich bleibt. Nichts anderes ist gemeint, wenn von einem »Perspektiventransformator« geredet wird, wenn von einer »Parallelperspektive« gesprochen wird. Es geht um ein Gespräch zwischen der Frage nach dem »Warum« und dem »Wie«. Dieses Gespräch hat dabei durchaus seine eigene Geschichte, denn es hat sich in der Suizidologie bereits immer ereignet. Es ist also keineswegs ungewohnt. Mit diesem Gespräch ist, zumindest teilweise, auch das Gespräch zwischen dem psychodynamischen und dem empirischen Verständnis innerhalb der Suizidologie gemeint. Dieses Gespräch hat aber auch immer wieder philosophische oder theo414 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der empirische Weg zur suizidalen Erfahrung

logische Positionen einbezogen. Streng genommen könnte so auch das hier unternommene Verständnis der suizidalen Erfahrungsstruktur als eine Stimme in diesem Gespräch verstanden werden.

1.

Der empirische Weg zur suizidalen Erfahrung

Entgegen der Dynamik der sich formierenden Psychoanalyse am Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert sich insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika eine diesem verstehenden Ansatz entgegenstehende Psychologie, die als Behaviorismus bekannt geworden ist. Seinen Anfang nimmt der Behaviorismus, als Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1924) den direkten und wiederholbar auslösbaren Speichelfluss bei Hunden durch das Läuten einer Glocke 1901 als gelernten Reflex deutet. Diese »klassische Konditionierung« hat den bekannten Experimentablauf, dass der Hund durch die wiederholt gezeigte Kombination von Futter und dem Läuten einer Glocke schließlich bereits beim Läuten der Glocke zu speicheln beginnt. Pawlow erhält für diese Einsicht 1904 den Nobelpreis für Medizin. Zu dieser Zeit steckt die Psychoanalyse gewissermaßen noch in den Kinderschuhen. John Broadus Watson (1878–1958) entwickelt dann auf der Basis eines ausdifferenzierteren Reiz-Reaktions-Schemas eine an den Naturwissenschaften orientierte Psychologie. Den Naturwissenschaften vergleichbar gilt es, das Verhalten messbar zu machen und unter experimentellen Bedingungen empirisch reproduzierbar zu messen. Das letztliche Ausweiten dieser Methode auf immer umfassendere Verhaltenseinheiten führt letztlich in einen spezfisch empirischen Weg zur menschlichen Erfahrung. Problematisch ist dabei, dass der cartesische Dualismus mit seiner Auftrennung in »res cogitans« und »res extensa« zunächst aufgehoben scheint, da ja nun auch die »res cogitans« im Sinne einer Maschine verstehbar zu werden droht. Hatte nämlich die Naturwissenschaft nur z. B. das Herz als eine Maschine verständlich gemacht, soll nun plötzlich das seelische Innenleben des Menschen wie eine Maschine zu verstehen sein. Descartes würde hier wohl schaudern angesichts des darin enthaltenen Missverständnisses, da doch schließlich die »res cogitans« die uneinholbare Basis auch aller »als ob«-Modelle des Geistes und des Innenlebens bleibt, da diese stets der »res extensa« zugehörig bleiben. Im Grundsatz hat sich an dieser Problematik, auch durch immer kom415 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

pliziertere systemtheoretische Modelle, nichts geändert. Zudem stellt sich auch in einer solchen Sicht immer die ebenfalls bereits Descartes umtreibende Frage, wo die Freiheit des Menschen aus der Maschine bzw. dem System oder Netzwerk herausspringen soll. Dennoch können wir in unserem Bemühen um ein umfassendes humanes Verständnis der suizidalen Erfahrung nicht einfach auf empirische Korrekturen verzichten. Um den empirischen Studien in den hier unternommenen Untersuchungen einen adäquaten Platz freizuhalten, bedarf es in einem ersten Schritt eines Verständnisses der Empirie als Weg wissenschaftlicher Erkenntnis. Der empirische Weg ist ein Weg der Neuzeit, welcher bezüglich psychologischer und soziologischer Fragen erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu weitgehender Eigenständigkeit gelangt. Der Durchbruch zur empirischen Methode gelingt hingegen in der Philosophie der Neuzeit. Insbesondere ist hier Descartes zu nennen, der mit der Unterscheidung von »res cogitans« und »res extensa« die Differenz von »Subjekt« als denkendem Ding und »Objekt« als vom Subjekt wahrnehmbaren, betrachtbaren und bedenkbaren Gegenstand formuliert (Descartes 1994). Durch diese philosophisch-anthropologische Fundierung ermöglicht er überhaupt erst wissenschaftlich-empirische Perspektiven. Gewissermaßen löst Descartes mit seiner Unterscheidung von »res cogitans« und »res extensa« die Gefahr des Verlusts jeglichen Sinns und jeglicher Bedeutung menschlichen Daseins, wie sie infolge der aufkommenden Systematisierung des Materiellen insbesondere des menschlichen Körpers droht (Rombach 1993, S. 41 f.). Die besondere Lösung Descartes’ ist die vorgängige Unverbundenheit der materiellen und geistigen Sphäre, wobei der Mensch mit seinem Körper den Naturgesetzen unterliegt, mit seinem Geist jedoch Zugang zum Ideensystem hat. Diese Unverbundenheit löst das Problem der Stellung des Menschen in einem gesetzartig organisierten Kosmos und wird insbesondere durch Galilei in das produktive Wechselspiel von Hypothese und Experiment weiter verwandelt (Galilei 1980). Die Deduktion rationaler Hypothesen und die empirische Verifizierung durch ausgesuchte Erfahrungen – sog. Experimente – ermöglicht eine seither anhaltende wissenschaftliche Dynamik. Bei aller Offenheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse geht dieser Weg unabdingbar von einer prinzipiellen »Objektivität« des zu Untersuchenden aus. Diese »Objektivität« gilt sogar für einen radikalen Konstruktivismus, der als These der Wirklichkeitskonstruktion einen quasi objektiven Status erhält. 416 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der empirische Weg zur suizidalen Erfahrung

Entgegen der empirischen Vorannahmen konstituiert sich jedoch die besondere Verfasstheit des untersuchten Gegenstandes – die »Objektivität« – erst im empirisch-wissenschaftlichen Blick. Der gleichzeitig unbefragbare Grund und Boden ist das vorgängige und gemeinsame In-der-Welt-sein, das Zueinander von Gegenstand und Beobachter, die schon immer untrennbar miteinander (in der Erfahrung) verknüpft sind. Erst diese Einbettung des Untersuchers bzw. des Untersuchten in das Geschehen des Untersuchens bringt die Vorstellung und das Erleben eines vom Untersucher unabhängigen Gegenstandes überhaupt hervor. Sie kann im empirischen Blick nicht zugleich und explizit in den Blick genommen werden, da sonst ein unendlicher Regress einsetzt: das Beobachten des Zueinanders von Gegenstand und Beobachter muss seinerseits beobachtet werden etc. Wichtig ist also, dass es sich bei dem empirisch-wissenschaftlichen »Zugang« zur Wirklichkeit um eine prinzipiell reduktionistische Perspektive handelt, die eine nicht zugleich befragbare, gewissermaßen basale Phänomenalität des Erlebens benötigt und voraussetzt. Diese ist wiederum insbesondere auf dem phänomenologischen Weg aufzuklären. Jedenfalls handelt es sich bei der empirisch-wissenschaftlichen Perspektive – wie generell bei jeder Perspektive aus der »Dritten Person« – niemals um die einzige Perspektive des menschlichen Daseins, da sie auf eine präreflexive Basis des Erfahrens, des Betroffenseins und damit auf eine Innenperspektive fundamental angewiesen bleibt. Dennoch weist der empirische Weg eine Eigenständigkeit auf, die es genauer zu verstehen gilt, um die empirisch gewonnenen Erkenntisse und Verständnismodelle angemessen aufnehmen zu können. Auch wenn dies zuweilen behauptet werden mag, bleiben empirische Verständnisse an den empirischen Weg gebunden und können nicht vollständig von diesem abgelöst werden. Insofern können empirische Verständnisse auf ihre inhärenten Grundannahmen und Widersprüche befragt werden, wenn sie ihrer eigenen Konsequenz unterworfen werden. Dies soll im Folgenden in den einzelnen Betrachtungen der suizidologischen Verständnismodelle geschehen. Dabei ist es von Bedeutung, dass die empirisch begründbare Suizidforschung ihrerseits ein Menschenbild impliziert. In diesem erscheint der Mensch »unter dem Blickwinkel der Maschine« (Baruzzi 1993, S. 344). Er ist dadurch ebenso zum (heideggerschen) Gestell geworden, wie er sich selbst und seine Welt als Gestell versteht. Dennoch ist dem Menschen bewusst, dass es das perfekte Gestell im Psychologischen nicht gibt. Denn dieses würde streng genommen den zeit417 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

punktgleich komplett vermessenen Menschen erfordern, der sowohl in beobachtbaren Test- und Versuchsreihen als auch in Selbstbeurteilungstests und -fragebögen unter psychologischer, sozialpsychologischer und soziologisch-kultureller Hinsicht ohne jeglichen Komplexitätsverlust in messbare Größen differenziert und ohne jegliche wechselseitige Verzerrung über einen längeren Zeitraum durchgemessen wird. Dass dies nicht gelingen kann, ist sattsam bekannt. Es ist aber nicht nur deshalb nicht möglich, da es aus der Beobachterperspektive heraus nicht gelingen kann. Sondern es ist in einem tieferen Sinn insofern nicht möglich, da auf eine zumindest präepistemische Erste-Person-Perspektive – nämlich die Gegebenheit der Erfahrung – gerade auch in wissenschaftlichen Zugängen nicht verzichtet werden kann. So fordert gerade die Vergewisserung dieser Grenzen der (wissenschaftlichen) Erkenntnis neben einer Vergewisserung über die eigene Systematizität auch die konkrete Unterscheidung verschiedener Untersuchungsmuster, in welchen der suizidale Mensch dann mehr oder weniger ausschnitthaft vermessen werden kann. Beispielhaft sei hier auf die Darstellung von Ellis hingewiesen, in der er vier empirische »Kategorien« unterscheidet (Ellis 1988). Ellis formuliert neben der »deskriptiven Kategorie«, mit welcher er v. a. Darstellungen der »Suizidmethode« meint, drei weitere Kategorien. Er betont dabei die Abhängigkeit einiger empirischer Modelle von der »Theorie« des Untersuchers, übersieht aber geflissentlich die fundamentale Abhängigkeit der grundlegenden »deskriptiven Kategorie« vom Untersucher. Dies ist insofern ungünstig, da es gerade diese »deskriptive Kategorie« ist, die als kulturell erlerntes und wandelbares Modell die Basis für alle weiteren empirischen Untersuchungen darstellt und zugleich ein bestimmtes Menschenbild impliziert: eben das des Gestells. Davon unbenommen sind für die empirischen Verständnisse und deren Unterteilung die weiteren drei »Kategorien« freilich überaus brauchbar: 1. The »situational« dimension includes information about the circumstances surrounding the suicidal thinking or behavior. These are derived largely from various author’s ideas about experiences that might precipitate suicidality. 2. The »psychological/behavioral« category represents the mediational link between the situational precipitants, which are experienced by many, and the suicidal outcome, which is experienced by relatively few. 418 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der empirische Weg zur suizidalen Erfahrung

3.

The »teleological« dimension (i. e. the purpose or »intent« of suicidal behavior) is at once the most alluring and the most speculative aspect in the varieties of suicide. (zit. nach Ellis 1988)

In empirischen Untersuchungen zur Situation und Selbststruktur suizidaler Menschen gilt es demnach insbesondere zu verstehen, inwiefern nur bestimmte Menschen in solchen Situationen, die vielen Menschen zugänglich erscheinen, suizidal werden. Bereits hier zeigt sich die Schwierigkeit, dass natürlich die Situation für einen suizidalen Menschen eben gerade nicht dieselbe Situation ist wie für einen fröhlichen Menschen. Diese Differenz kann schlechterdings nicht geleugnet werden, kann aber auf dem empirisch-wissenschaftlichen Weg trotz aller Bemühungen niemals vollkommen entschärft werden. Der empirische Weg verliert jedoch hierin keineswegs seine Gültigkeit, sondern gelangt erst in der Annahme und dem Aufweis allgemeiner begründender Zusammenhänge zu seiner eigenen empirischen Gültigkeit. Während die ersten beiden Katgeorien der empirischen Untersuchung zugänglich sind, kann – wie auch Ellis eingesteht – mit Hilfe empirischer Methoden nur wenig über die »teleologische Dimension« ausgesagt werden. Dennoch versucht er hiermit die Frage nach dem Sinn der suizidalen Krise in den empirischen Blick zu bekommen. Allerdings kann über den Sinn der suizidalen Erfahrung empirisch gesehen nur spekuliert werden, da empirisch kein Verstehen von Sinn gelingen kann. Um dem Sinn der suizidalen Krise auf die Spur zu kommen, ist die Frage nach dem »Wie« erforderlich, welche dem Verständnissuchenden eine Innenperspektive der suizidalen Erfahrung abfordert. Empirisch aber verbleibt der Untersucher zunächst in der Fragehaltung nach dem »Warum«, selbst wenn er nach Motiven oder persönlichen Begründungen von Suizidversuchen fragt. Erst in einem zweiten Schritt könnte er die persönlichen Begründungen und Motive zum eigenen Anlass nehmen, um nach sinnhaften Strukturen zu fahnden. Die Spannung der Fragen nach dem »Warum« und dem »Wie« ist der Suizidologie also bekannt. Sie ist tatsächlich ein wesentliches Merkmal ihrer stets als offen zu verstehenden Forschung. Auch in suizidologischer Perspektive findet sich das moderne Menschenbild eben nicht nur in empirischen Modellen wieder, sondern der Mensch ist, auch als Suizidologe, fundamental und ohne bewusste Absicht ganz aus sich heraus gegen die Tendenz, von sich selbst vollständig als Gestell verstanden zu werden. 419 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Erwin Stengel mutmaßt allerdings, dass die professionellen Helfer dieses unnachgiebige Fragen ihres suizidalen Gegenübers nach dem »Wozu« des Lebens eher durch empirische Techniken zu entschärfen versuchen: »Die statistische Methode, die in die Suizidforschung von den Soziologen eingeführt wurde, ist auch von den meisten Klinikern allen anderen Methoden vorgezogen worden. Es scheint, als ob Psychiater nur allzu gerne von der beunruhigenden klinischen Realität des Selbstmordproblems in das Reich der Zahlen flüchteten. Es ist erstaunlich, wie weitgehend selbst erfahrene klinische Psychiater dem Zahlenzauber verfallen können, der ihnen die Illusion wissenschaftlicher Exaktheit vorspiegelt.« (Stengel 1961, S. 52) In dieser Tendenz, den Menschen auf dem empirischen Weg als Gestell verstehen zu können – und dennoch sich selbst noch abseits dieses Gestells zu verstehen, so als stünde man selbst über den Dingen – kann auch eine der Antworten auf die Frage liegen, inwiefern die Zuwendung zu empirisch fundierten psychologischen und soziologischen Untersuchungen des suizidalen Menschen mit der diskursiven und institutionellen Verankerung der Suizidprophylaxe parallel geschehen. Könnte es nicht gerade diese empirische Entschärfung der sonst so bedrängenden Frage sein, die die intensivere Beschäftigung mit dem Thema ermöglicht? Zugegeben, für den abseits konkreter praktischer Hilfe für suizidale Menschen tätigen Suizidforscher mag die Entschärfung des Themas durch »Zurechtstellung« tatsächlich dauerhaft möglich sein. Für den praktisch tätigen Helfer hingegen wird sich im Kontakt mit suizidalen Menschen immer wieder die Frage nach dem »Wie« und dem »Wozu« stellen. Denn für ihn bleibt die bedrängende Qualität der Frage nach dem »Wozu« des Lebens gegen alle »Zurechtstellungen« bestehen. Es ist ja gerade dieses Wechselspiel der Fragen, das sowohl die Humanität der Hilfe als auch die Offenheit der empirisch fundierten Forschung garantiert. Wir müssen also nicht »blind« auf empirische Erkenntnisse vertrauen, sondern können auch als Suizidologen aus dem steten Wechsel zwischen den Perspektiven heraus den Versuch eines Verständnisses der suizidalen Erfahrung unternehmen. Dabei bleibt jederzeit Raum für Verbesserungen auch über den hier unternommenen Versuch hinaus. Das sich in der Untersuchung gewinnende Verständnis ist allerdings tatsächlich wahrhaft vieldimensional und kann uns insofern als »Perspektiventransformator« im Gespräch des »Wie«, »Warum« und »Wozu« dienen.

420 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Erwachen in die Mglichkeit, sich tten zu knnen

2.

Erwachen in die Mglichkeit, sich tten zu knnen

In der Geschichte der Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung wurde deutlich, dass es vermutlich keine elaborierte menschliche Kultur ohne ein zugehörendes Verständnis der Möglichkeit, sich töten zu können, gibt. Dies zeigt uns, dass die suizidale Erfahrung als ein zutiefst menschliches Phänomen verstanden werden muss. Aus unseren bisherigen Untersuchungen müssen wir zudem annehmen, dass beinahe jeder Mensch in seinem Leben einmal über seine ihm als Mensch eigene Möglichkeit, sich töten zu können, nachgedacht hat. Wie intensiv er dies getan hat und wie nahe ihm vielleicht sogar die Idee des Suizids stand oder steht, ist damit jedoch nicht gesagt. Da aber das Thema des Sich-töten-könnens die Gegenseite der Frage nach dem Sinn des Lebens ist, können wir sicherlich annehmen, dass jeder Mensch im Rahmen seiner eigenen reflexiven und introspektiven Möglichkeiten seinem eigenen Sich-töten-können zumindest nachgespürt hat. Wenn dies stimmt, müssen wir uns fragen, wann der Mensch im Verlauf seines Lebens in diese Möglichkeit erwacht, wann er beginnt, den Suizid als menschliche Möglichkeit für sich zu entdecken. Bei diesen Überlegungen ist zugleich herauszufinden, ob und – gegebenenfalls – inwiefern es gelingen könnte, ganz ohne eine solche Kenntnis als Mensch durchs Leben zu gehen. Zu diesen beiden Fragen lassen sich einige Vermutungen anstellen. Zunächst hatten wir darauf verwiesen, dass sich der Mensch unabdingbar seiner selbst vergewissern können muss, wenn er seine eigene Möglichkeit, sich töten zu können, entdecken will. Es ist eindeutig, dass nicht schlicht jede Vergewisserung hierzu bereits qualifiziert. So kann sich der zweijährige Mensch nicht seiner Möglichkeit, sich töten zu können, versichern und kann insofern auch nicht als suizidales Wesen bestimmt werden. Und dies, obwohl er durchaus einiges von sich selbst zu vergewissern vermag (vgl. Stern 1991; Dornes 1998; Fuchs 2008a). Aus unseren bisherigen Untersuchungen ist es sinnvoll zu vermuten, dass zur Vergewisserung der eigenen Möglichkeit, sich töten zu können, die Einsicht in die eigene Sterblichkeit erforderlich ist. Dabei wäre es keineswegs unplausibel, wenn das Entdecken der eigenen Sterblichkeit Hand in Hand mit dem Erwachen in die Möglichkeit des Sich-tötens einhergeht. Im Folgenden gilt es also, diese Annahmen genauer zu betrachten, um sie unserem umfassenden Verständnis der suizidalen Erfahrung 421 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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zuzuführen. Dabei erscheint es wichtig, sich nochmals einiger Beschränkungen der folgenden Untersuchung zu versichern. Leitend für diesen Abschnitt ist die Frage danach, welche Qualifizierungen die Selbstvergewisserung des Menschen aufweisen muss, damit er sich als zum Suizid befähigtes Wesen verstehen und erleben kann. Denn ganz offenbar – so unsere These und Schlussfolgerung aus den bisherigen Untersuchungen – muss sich der Mensch ab einer bestimmten »psychischen Reife« seiner eigenen Möglichkeit, sich töten zu können, stellen und vergewissern. Hierin wird er zugleich ein suizidales Wesen. Von dieser Frage her versteht sich auch die Konzentration der folgenden Betrachtungen, beispielsweise auf einen bestimmten Altersabschnitt oder auf bestimmte Qualitäten des Selbstbewusstseins bzw. des Zu-sich-verhaltens. Es geht hier also nicht um eine mehr oder weniger ausführliche Darstellung der psychosozialen Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen (Übersicht u. a. bei Stern 1991; Dornes 1998; Fuchs 2008a), sondern es geht um die Frage, wie die Selbstvergewisserung des Menschen gestaltet sein muss, damit er sich als suizidales Wesen zu entdecken vermag. Für die hier vorgenommene Frage sind die an Jean Piaget (1896–1980) orientierten Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung und zum Todesverständnis von Kindern besonders geeignet. Zudem können Überlegungen hinzugenommen werden, die sich auf den Verlust bestimmter Qualitäten der Selbstvergewisserung beziehen, wie sie beispielsweise in dementiellen Erkrankungen gegeben sind. Primär aber geht es um den Gewinn eines möglichst stimmigen Verständnisses betreffend unserer Frage nach der Selbstvergewisserung als suizidales Wesen. Sind suizidale Krisen also als ein Entwicklungsschritt des jungen Menschen zu verstehen? Und wenn ja, wie kann dieser Entwicklungsschritt verstanden werden? Die Einzelfallberichte von lebensgeschichtlich frühesten Suizidversuchen oder Suiziden beziehen sich auf die Zeit ab dem 8. Lebensjahr, wobei Suizidversuche erst ab dem 10. Lebensjahr etwas häufiger vorkommen (Shaw et al. 2005). Übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass typischerweise in dem Zeitraum zwischen dem 10. Lebensjahr bis zum 13./14. Lebensjahr die Möglichkeit, sich töten zu können, entdeckt wird und damit – insbesondere ab dem 14. Lebensjahr – auch suizidale Erfahrungen beobachtet werden können (Shaw et al. 2005; Noam/Borst 1994; Leenaars/Wenckstern 1991). Folgen wir den Untersuchungen zur Häufigkeit von Suiziden, Suizidversuchen und suizidalen Krisen (Renberg 2001; Weissman et al. 422 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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1999), dann müssen wir annehmen, dass das Erwachen in die suizidale Erfahrung in dieser Zeit keineswegs automatisch zu Suizidversuchen oder Suiziden führt. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass dieses Erwachen und auch suizidale Krisen zumeist ohne einen Suizidversuch überwunden werden. Dann aber können wir dieses Erwachen durchaus als eine vollkommen normale Entwicklung des einzelnen Menschen verstehen. Was aber geschieht in den Jahren, in denen ganz offenbar die eigene Möglichkeit des Sich-töten-könnens entdeckt wird? Die an Piaget orientierten Modelle nehmen für diese Lebensjahre eine wichtige kognitive Entwicklung im formalen Sinne an, die im inhaltlichen Sinne auch mit dem Entdecken der eigenen Sterblichkeit verknüpft ist. Die kognitive Entwicklung des Kindes ermöglicht etwa ab dem 10. Lebensjahr beginnend die Einsicht in die Irreversibilität des Todes, auch wenn dies erst im 14. Lebensjahr bei den meisten Menschen mit Sicherheit anzunehmen ist. Insofern liegt in der Zeit vom 10. bis zum 14. Lebensjahr vielfach noch kein Konzept von der Irreversibilität des Todes vor und es wird zumeist in einer klaren Dichotomie beispielsweise von »gut« und »böse« im Vordergründig-Sinnlichen des Situativen gedacht (Carlson et al. 1994; McDowell/Stillion 1994; Leenaars/ Wenckstern 1991). Die kognitive Entwicklung derjenigen Kinder, die bereits in dieser frühen Zeit über ihre eigene Möglichkeit, sich töten zu können, nachdenken, erscheint im Vergleich hingegen deutlich schneller zu sein (Carlson et al. 1994). Im Hinblick auf diese Entwicklung wird die Frage wichtig, was es für ein 14-jähriges Kind bedeutet, wenn es über seinen Suizid als Möglichkeit nachdenkt, aber eben keinen Suizidversuch unternimmt und die Krise auf andere Weise überwindet. Verwandelt sich nicht durch dieses Überwinden der suizidalen Krise notwendigerweise auch sein Verständnis der suizidalen Erfahrung? Und verändert sich mit dieser Wandlung des Verständnisses, wann denn ein eigener Suizid überhaupt sinnvoll ist, nicht zugleich auch sein Verständnis von sich selbst? Sowohl Gil G. Noam und Sophie R. Borst als auch Rainer Döbert und Gertrud Nunner-Winkler haben einige dieser Fragen bei Kindern und Jugendlichen untersucht und fanden dabei fünf unterscheidbare Stadien, welche das jeweils vorlaufende Stadium übersteigen (Noam/ Borst 1994; Döbert/Nunner-Winkler 1994). Dieser Entwicklung entsprechen – dem Verständnis der beiden Forschungsgruppen folgend – Steigerungen der Ich-Funktionen, die zugleich ein tieferes Verständnis des eigenen Selbstseins bedeuten. Allgemein gesprochen schreiten die 423 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Stadien des Verständnisses der suizidalen Erfahrung in drei Schritten fort. Der erste Schritt führt in ein Verständnis, in welchem sich die suizidale Erfahrung als rein von situativen Umständen veranlasst zeigt. Im weiteren Schritt versteht sich die suizidale Erfahrung dann insbesondere als aus den eigenen (inneren) Umständen motiviert. Im dritten Schritt erfolgt dann schließlich eine Integration und Korrespondenz situativer und innerer Umstände als Verständnishintergrund der suizidalen Erfahrung. Dabei erfolgt zugleich auch eine Differenzierung und Selektion der verstehbaren Hintergründe der suizidalen Krise. Aus diesen Entwicklungsschritten heraus ergibt sich, dass späterhin in vielen Situationen und auch vielen inneren Verfasstheiten keine suizidale Erfahrung mehr aufkommt und auch nicht mehr sinnvoll erscheint. Im abschließenden Stadium – welches beide Forschungsgruppen etwa mit dem 13./14. Lebensjahr beginnen sehen – wird der Suizid zugleich als ein Paradox verstanden. Dieser Widerspruch bezieht sich darauf, dass der eigene Suizid letztlich nichts wirklich löst, durch ihn jedoch alles Unlösbare beendet wird und so auch das, was den Suizid veranlasst, danach nichts mehr zu bedeuten habe. In diesem Verständnis wird der Suizid folglich als eine zum Tod führende Möglichkeit unter vielen weiteren – jedoch nicht zum Tod führenden – Möglichkeiten verstanden. Dieses Verständnis spiegelt einen Sprung in den Denkfunktionen des Einzelnen wider und ist zugleich auf diese neuen Denkfunktionen angewiesen. Dies kann sehr gut i. S. von Piagets Modell der kognitiven Entwicklung des Kindes verstanden werden. Wie Piaget zeigt, findet in der Zeit um das 14. Lebensjahr der Übergang vom konkret operationellen zum formal operationellen Denken statt: »Die entscheidenste dieser Aktivitäten ist die Bildung des Objekts als solchen oder dessen, was Piaget auch den Plan des konstanten Objekts nennt.« (Furth 1981, S. 116) Dieser Plan meint im Sinne Piagets eine interne und allgemeine Form, in welchem sich das »Ding da draußen« als unabhängig bzw. gewissermaßen »objektiv« gegeben zeigt (S. 366). In der jederzeitigen Intentionalität des Denkens verstehen sich Erkenntnisse eines derart formalisierten operationellen Denkens insofern als innerlicher, da sie eben nicht mehr an externe motorische Reaktionen (z. B. Verhalten, Handeln, leibliches Bewegen im Raum) geknüpft sind. Zugleich sind die Denkoperationen des formalen operationellen Denkens reversibel. Sie sind also nicht mehr an konkrete Objekte gebunden und zeigen das Wirkliche als eine von vielen hypothetischen Wirklichkeiten. Zusammengefasst bedeutet dies, dass der 424 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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14-jährige Mensch (normalerweise) sein Leben in seinem unauflöslichen Zueinander von Selbst und Welt bedenken und sich dessen als eine von mehreren denkbaren Möglichkeiten vergewissern kann – wenn auch eben gerade nicht verwirklichten Möglichkeiten. Diese Fähigkeit – sich des Ganzen seiner selbst im sich entsprechenden Zueinander der jeweils zugehörenden Welt zu vergewissern – findet seine Entsprechung im interpersonalen Raum. Auch hier findet sich eine mehrschrittige Entwicklung, welche von äußeren Umständen über innere Umstände zu einer Integration findet und hierbei zugleich in eine Gemeinsamkeit des Miteinanders führt (Schinkel 2003, S. 85 ff.). Die Freundschaft beispielsweise versteht sich dann als »situationsübergreifend«, womit zum einen gesagt ist, dass die Freundschaft eine neue, gewissermaßen tiefere und umgreifende Situation geworden ist, und zum anderen gesagt ist, dass sich in ihr einzelne Situationen abspielen können. Hierin findet der junge Mensch in einen neuen soziokulturellen Raum hinein und gewinnt in diesem zugleich eine völlig neue Beschämbarkeit. Der Unterschied zwischen dem Selbstverständnis eines 10-jährigen und eines 14-jährigen Menschen besteht also offenbar darin, dass ersterer ein vorwiegend einseitig auf das Äußere oder aber das Innere bezogenes Verständnis seiner selbst aufweist und hierbei auf elternabgeleitete, weitgehend personenunabhängige Regeln zurückgreift. Der 14-jährige Mensch hingegen versteht sich selbst in der Korrespondenz von Situation/Außen und Selbst/Innen in hypothetischer Mannigfaltigkeit der umgreifenden Situation (z. B. Leben, Freundschaft). Dieses Selbstverständnis bedeutet eine vertiefte Selbstvergewisserung, insofern in diesem Vergewissern das Aktuelle stets auf das »größere Ganze« hin überstiegen wird. Eine solche Selbstvergewisserung macht »kleinere« Krisen und aktuelle Probleme besser überwindbar, ermöglicht aber zugleich andere Krisen und Schwierigkeiten, da ja nun die Korrespondenz von Innen und Außen und die hypothetische Andersheit des Eigenen gegenüber den Anderen das Verständnisbedürftige geworden ist. Eine dieser »anderen Krisen« scheint das Erwachen in die eigene Möglichkeit des Sich-töten-könnens zu sein. Dieses Erwachen beginnt – mit allen individuellen Variationen – um das 10. Lebensjahr und ist spätestens im 14. Lebensjahr bei letztlich allen Menschen erfolgreich vollzogen. Die zeitliche Koinzidenz mit der Entdeckung der eigenen Sterblichkeit im Sinne der Irreversibilität des Todes ist dabei keines425 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wegs zufällig. Vielmehr können wir mit Heidegger sagen, dass der Mensch zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr in seine eigene suizidale Erfahrung im Angesicht der eigenen Sterblichkeit erwacht. Denn erst darin, dass der Tod als das radikal Andere des Lebens entdeckt wird – und nicht nur als eine Art von »Schlaf« oder als eine andere Situation, wie wenn man in die Schule, das Theater oder das Kino ginge –, kann ihn als eine letzte Möglichkeit zeigen, um die unerträgliche Verzweiflung doch noch zu verändern. Ansonsten wäre das Versterben durch einen Selbsttötungsversuch schon fast eher ein »Unfall«, da das Kind so aus dem Tod in der Weise zurückzukehren gedachte, als wäre es für einige Zeit ins Kino gegangen und kehrte anschließend nach der Vorstellung nach Hause zurück. Der Mensch fügt seinem Leben in der vertieften und erweiterten Selbstvergewisserung also selbst die Möglichkeit des Suizids hinzu. Er wird in diesem Erwachen zu einem suizidalen Wesen. Dies ist ein neues Niveau eigenen Selbstseins. Denn für die Möglichkeit, sich töten zu können, gilt, dass sie nicht besteht, wenn man nicht um sie weiß. Dieses neue Niveau der Selbstvergewisserung ist radikal. Die zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr von fast allen Menschen eroberten »Ego-Funktionen« betreffen nicht nur einen Sprung der Ego-Entwicklung, sondern sind in Parallelität zur affektiven Entwicklung zu verstehen (vgl. Ciompi 1989). Die kognitive Entwicklung entspricht zugleich einer differenzierteren Impulskontrolle und elaborierteren affektiven Selbstregulation. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, da der Mensch in seiner frühen Adoleszenz sowohl in seine Sozialität und Kulturalität als auch in seine Sexualität erwacht und von daher zugleich eine erhöhte Egozentriertheit aufweist. Die Schutzbedürftigkeit seiner in Ausdifferenzierung befindlichen Identitäten ist in diesen Phasen verständlicherweise sehr hoch, die Möglichkeiten des Beschämtwerdens vielfältig. Insofern verwundert es nicht, dass gerade »Lernstörungen«, die diesen Sprung des Denkens und damit das Verständnis des Hypothetischen als Hypothetisches nicht ermöglichen und so das Bewältigen von Krisen erschweren, als Risikofaktoren jugendlicher suizidaler Krisen verstanden werden müssen (Leenaars/Wenckstern 1991). Es sind insbesondere die Schwierigkeiten der »Impulskontrolle« dieses heranreifenden und sexuell sich aktivierenden Leibes, die aus empirischer Sicht von besonderer Bedeutung für das Suizidrisiko jugendlicher Menschen zu sein scheinen (Horesh et al. 1999; Stein et al. 1998). Der junge Mensch benötigt für diese eben gerade eine umfang426 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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reiche und differenzierte »Realitätsprüfung« (Pfeffer et al. 1995). Er benötigt die tiefere Einsicht in situative und innerliche Zusammenhänge aus einem »größeren Ganzen« und er benötigt die vergewisserbare Unterscheidung von Phantasie, Hypothese und sozial teilbarem und sozial unteilbarem (d. h. leiblichem) Raum. Hilfreich sind hierbei insbesondere gute (familiäre) Beziehungen, wohingegen konflikthafte Gemeinschaften wiederum die suizidale Krise zu befördern vermögen. Die im Übergang zur Adoleszenz gewonnenen Qualitäten der Selbstvergewisserung können hingegen im Lebenslauf auch wieder verloren werden. Denn auch weiterhin gilt, dass ein schlichtes Selbstbewusstsein allein nicht ausreicht, um suizidal werden zu können. Nur im Hinblick des aktuell Gegebenen – betreffs des eigenen Soseins und der situativen Umstände – auf ein »größeres Ganzes« kann auch um den Tod als das radikal Andere des Lebens gewusst werden. Und nur im Hinblick darauf, wie man selbst gerne wäre, kann der Mensch an seiner aktuellen Verfassung und Situation verzweifeln. Diese Formen der Selbstvergewisserung sind an »Ego-Funktionen« gebunden, die beispielsweise bereits infolge einer bewusstseinseinengenden Müdigkeit oftmals nicht mehr gelingen. Zwar ist man noch da und sich dessen bewusst, größere Zusammenhänge aber können nicht mehr konstituiert und erfasst werden. Noch deutlicher wird dies unter dem Einfluss psychoaktiver Substanzen, wenn die Stimmung »himmelblau« oder »rosarot« gefärbt wird und das Denken wieder sehr am Sinnlich-Gegenständlichen haftet. Am prägnantesten ist dies aber vermutlich bei dementiellen Erkrankungen, wobei insbesondere das Wissen um sich selbst im größeren Zusammenhang verloren gehen kann. Aus den Frühphasen der Demenz vom Alzheimer-Typ ist ein häufiges Erwägen des Suizids bekannt, da gerade in diesen Phasen der Verlust eigener kognitiver Fähigkeiten und der schrittweise Verlust der eigenen Identität, wie sie der betreffende Mensch bewusst zu erzählen und zu erinnern vermag, in besonderer Deutlichkeit erlebt wird (Schlimme et al. 2001). Im weiteren Verlauf geht die Möglichkeit, sich töten zu können, dann aber verloren, da der demente Mensch kein selbstbewusstes Verständnis des Lebens und des eigenen Todes mehr zu generieren vermag. Hierin verliert er nicht nur die Möglichkeit des eigenen Suizids, sondern wichtige Wesenszüge des menschlichen Daseins: Er ist nun kein suizidales Wesen mehr. Selbst wenn er niedergeschlagen und verzweifelt wäre, er kann nicht mehr suizidal werden. Man mag diesen Verlust bedauern oder auch wenig bedeutsam finden, jedenfalls verliert 427 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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der Mensch wesentliche Merkmale dessen, was einen Menschen als Menschen auszeichnet, wenn er aus der Möglichkeit, sich töten zu können, herausdämmert. Zusammenfassend können wir festhalten, dass der Mensch im Erwachen in seine Möglichkeit, sich töten zu können, bzw. seine suizidale Erfahrung diese zunehmend als eine in sich widersprüchliche Erfahrung versteht, da der Suizid eben nicht als lebendige Problemlösung in das eigene Leben (zurück-)führt, aber umgekehrt als eine Möglichkeit seines Daseins nicht verloren werden kann. Sich selbst als ein potentiell suizidales Wesen zu vergewissern oder dies nicht zu können macht verständlicherweise einen Unterschied. Der Mensch vergewissert sich als ein Moment – sei es als ein Aspekt, als ein Ableger oder als ein Bestandteil – des Ganzen, als welches sich – hinsichtlich des Todes und der eigenen Möglichkeit, sich den Tod zu geben – das Leben zeigt. Im Erwachen in diese Möglichkeit findet sich auf der anderen Seite ein Erwachen in die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens und des Lebens selbst. Erst darin kann auch die Irreversibilität des Todes wirklich verstanden werden. All dieses Erwachen in diese Möglichkeit des Sichtöten-könnens – und auch das Herausdämmern aus der Möglichkeit, suizidal werden zu können – bedeutet hingegen nicht, dass es nicht auch in anderen Formen der Selbstvergewisserung Selbsttötungen geben kann. Ob dann allerdings im hier gemeinten Sinn von einer suizidalen Erfahrung gesprochen werden kann, ist zumindest fraglich. Der Mensch geht in den Tod nicht wie in die Oper. Und er kann sich selbst als suizidales Wesen nur dann umfassend verstehen, wenn sich ihm sein eigenes Leben in mannigfache und wirkliche Möglichkeiten innerhalb seines Lebens vervielfältigt und sich ihm zugleich die konkrete leibliche Gebundenheit des eigenen Lebendigseins gegeben bleibt.

3.

Das prsuizidale Syndrom und die Verschmelzungsphantasien bei Ringel

Einen wesentlichen Schritt im Gespräch psychodynamischer und empirischer Ansichten und Verständnisse – dem Gespräch von »Warum«, »Wie« und »Wozu« – innerhalb der Suizidologie vollzieht Erwin Ringel (1921–1994). Er veröffentlicht 1953 seine wegweisende Studie zum »präsuizidalen Syndrom«. Die Zunahme suizidaler Menschen in seiner eigenen psychiatrisch-psychotherapeutischen Tätigkeit und die 428 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das prsuizidale Syndrom und die Verschmelzungsphantasien bei Ringel

Schwierigkeit, allgemein sozialepidemiologische Daten mit psychoanalytischen Einsichten sinnvoll miteinander zu verbinden, kann dabei als Ausgangspunkt des ringelschen Verständnisses begriffen werden. Dabei will Ringel »Gesetzmäßigkeiten« innerhalb dieses »fluktuierenden und oszillierenden« Phänomens des Sich-tötens auffinden (Ringel 1999a, S. 7). Er geht dabei davon aus, dass der einzelne Mensch infolge seiner Lebensgeschichte eine »typische Haltung« entwickelt, die in bestimmten »Lebenssituationen« zu einer »Suizidgefährdung« führt (S. 7). Die Zusammengehörigkeit von Suizid und Suizidversuch sieht er dabei in der »Selbstmordtendenz«, die in heutiger Sicht am ehesten als »Suizidalität« bezeichnet werden kann (S. 9). Wie gelingt nun Ringel die Verbindung von empirischen und psychodynamischen Einsichten? Zunächst benennt er das unmittelbare Motiv zum Suizid als den auslösenden Faktor, unterscheidet dieses Motiv hingegen von tiefer liegenden und die Persönlichkeit des Menschen ausmachenden Faktoren. Erstere »sind wichtige auslösende Faktoren, aber sie können die gesamte menschliche Persönlichkeit in all ihren Schichten nicht determinieren.« (S. 11) Damit ist – so Ringel – der Suizid »keine bloße Reaktion auf irgendwelche Schwierigkeiten und Umstände, sondern er ist vielmehr der Abschluss einer allmählich sich entwickelnden und steigernden Verhaltensweise der gesamten Persönlichkeit. Diese Entwicklung erst bringt den Menschen in eine Verfassung, die es verschiedenen Faktoren gestattet, zum Motiv zu werden.« (S. 12) In diesem Sinne versteht Ringel die jeweils aktuellen Motive als »Anlässe«. Die determinierenden Faktoren der Persönlichkeit, die aus seiner Sicht diese Motive als Anlässe aber überhaupt erst möglich machen, sind als die eigentlichen »Ursachen« zu verstehen (S. 12). Während sich Ringel aus psychodynamischer Sicht vorwiegend mit den »Ursachen« beschäftigen will, weist er damit dem empirischen Verständnis zugleich das Feld der »Anlässe« zu. In dieser Auftrennung wird deutlich, dass Ringel den Zeitraum, in welchem bestimmte Faktoren als Anlässe wirksam sein können, als die Phase der »Selbstmordtendenz« versteht. Dem entgegen ist die Suche nach den »Ursachen« insbesondere auf den Zeitraum vor der suizidalen Phase bezogen (S. 12). Hiermit meint Ringel die Persönlichkeit, welche in besonderer Weise zum Suizid neige. Bevor wir uns nun dem ringelschen Verständnis dieser suizidalen Phase zuwenden, soll insofern eine kurze Darstellung und Betrachtung des ringelschen Verständnisses der dem Suizid in besonderer Weise zuneigenden Persönlichkeit erfolgen. 429 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Zunächst die Darstellung: Die Herkunft dieser »suizidgefährdeten« Persönlichkeit findet sich nach Ringel in der Kindheit, in welcher die entscheidende und gewissermaßen prägende Phase der Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet (S. 15). Die weitere Basis des menschlichen Lebens stellt der Selbsterhaltungstrieb dar, welcher nach Ringel bei den späteren Suizidanten »schon in der Kindheit gewissen nicht unbeträchtlichen schädigenden Einflüssen ausgesetzt« war (S. 15). Dabei geht er davon aus, dass nur derjenige Mensch das Leben bewusst und positiv annehmen kann, der ein grundlegendes Gefühl der Geborgenheit habe und insofern andere Menschen und die Welt lieben kann (S. 16). Dieses Verständnis entwickelt Ringel zunächst in psychoanalytischer Manier. Dabei betont er, dass es zumindest fünf unterscheidbare und nennenswerte schädigende Einflüsse gibt, die die Entwicklung dieses grundlegenden Gefühls der Geborgenheit verhindern könnten. An erster Stelle benennt er den frühzeitigen Verlust eines oder beider Elternteile, wodurch ein »Fehlen jeglicher Liebe in der Kindheit« gegeben ist (S. 16). Hierzu zählt Ringel auch uneheliche Kinder oder Kinder, die bei fremden Eltern aufwachsen. Als weiteren schädigenden Einfluss benennt er zerrüttete Familienverhältnisse, die zu einer grundlegenden Unsicherheit des Kindes führen, da es »durch die divergenten Beeinflussungsversuche ganz verwirrt, hin- und hergerissen« ist (S. 19). Auch die biologisch-genetische Basis einer »nervösen Familientradition« hat für Ringel psychische Auswirkungen, da eine konstitutionelle Vererbung stattfinde. Diese zeigt sich ihm in einer fehlerhaften Erziehung, die neben dem Ziel, den Willen des Kindes zu brechen, auch durch die ichhafte Einstellung der Eltern das Kind zu einer Fortsetzung des elterlichen Ich macht (S. 22). Weiterhin benennt er die Stellung in der Geschwisterreihe, wobei er insbesondere das Einzelkind oder das jüngste Kind gefährdet sieht. Das einzige Kind, welches in seiner Sonderstellung alle Liebe der Eltern erfährt und insofern keine Widerständigkeit bei den Eltern erlebt, ist Ringel folgend wiederum unfähig, Misserfolge auszuhalten. Das jüngste Kind der Geschwisterreihe kann hingegen nur dadurch hinreichend Zuwendung erfahren, wenn es auf seiner offensichtlichen Unterlegenheit gegenüber den älteren Geschwistern stetig besteht und diese akzentuiert (S. 24 ff.). Als letzten Einflussfaktor berichtet Ringel noch körperliche Schäden des Kindes selbst, wodurch das Kind grundlegend verunsichert wird und zudem infolge der Reaktionen der Umwelt eine häufige Zurücksetzung 430 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das prsuizidale Syndrom und die Verschmelzungsphantasien bei Ringel

erfährt (S. 27). Soweit die Darstellung der schädigenden Einflussfaktoren nach Ringel. Diese von Ringel benannten Risikofaktoren können sicherlich aus heutiger – insbesondere durch die empirische Säuglingsforschung geprägter – Sicht nicht uneingeschränkt und in dieser Simplizität bestätigt werden. Allerdings geht es uns hier um die innere Logik und Stimmigkeit des von Ringel vorgetragenen Verständnisses, eine aktuelle Kritik dieser Risikofaktoren kann demnach unterbleiben. Gemeinsam ist sicherlich allen von Ringel genannten Einflussfaktoren, dass sie einen Mangel an liebender und wertschätzender Zuwendung und Geborgenheit benennen, wobei es hinsichtlich der Geborgenheit primär um bedeutende Beziehungen mit versorgenden Bezugspersonen, aber auch um den eigenen Leib geht. Wichtig sind diese schädigenden Einflussfaktoren insbesondere deshalb, da sie für Ringel eine zum Suizid neigende Persönlichkeit begründen. Um sein Verständnis der suizidalen Phase nachzuvollziehen, gilt es, die Struktur dieser besonderen Persönlichkeit besser zu verstehen. Für Ringel gilt: erfährt das Kind einen oder auch mehrere der genannten schädigenden Einflüsse in seiner Kindheit, so kann sich die dadurch bedingte Fehlentwicklung in der späteren Persönlichkeit des Erwachsenen als eine »ängstliche Haltung«, eine »Lebensangst« wiederfinden (S. 29). Diese »ängstliche Haltung« hat nach Ringel zwei entscheidende Konsequenzen: zum einen die erlebte Hilflosigkeit gegenüber der Angst, die nicht überwunden werden kann; zum anderen aber hat die Angst auch einen festen Platz im »Lebensplan« erhalten, inwiefern sie zugleich »ein unbewusstes Mittel [ist], die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu lenken« (S. 29). Diese innere Widersprochenheit der Person – unbewusst eine als unüberwindbar erlebte Angst zur Sicherung der Aufmerksamkeit anderer einzusetzen – ist jedoch nur ein Aspekt dieser suizidgefährdeten Persönlichkeit. Denn, so Ringel, – und auch hier können wir die soeben bereits benannte innere Widersprochenheit der Person wieder erkennen – dieser Mensch erlebt ein »verstärktes Unsicherheitsgefühl«, welches einerseits in der steten Erwartung des eigenen Scheiterns besteht, sich aber andererseits auch in einem »ständig schwankenden Verhalten« im Sinne eines »neurotischen Hin und Her« zeigt (S. 30). Mit diesem fundamentalen Unsicherheitsgefühl geht zugleich eine »gesteigerte Empfindsamkeit« im Sinne einer Verletzlichkeit gegenüber anderen einher. Ringel benennt auch diesbezüglich eine innere Widersprochenheit der Person, da nämlich 431 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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der dieserart besonders empfindsame Mensch sich zugleich in einer »Trotzhaltung« gegenüber der Umgebung befindet, die – letztlich gekoppelt mit der erlebten Minderwertigkeit – zu einer »Absolutsetzung des eigenen Ichs« führt und so den Teufelskreis verstärkt (S. 31). Ringel kennzeichnet somit einen Menschen, der in freudscher Perspektive am ehesten zu den narzisstischen Neurosen zu rechnen wäre und rückblickend die spätere Bedeutung der Narzissmustheorie für das psychoanalytische Verständnis der suizidalen Krise bereits überdeutlich ahnen lässt. Ringel benennt sieben Merkmale des in seinem Sinne »fehlentwickelten« Menschen: 1. Entwicklung krankhaft anmutenden Ehrgeizes. 2. Anstreben von unnatürlichen, überhöhten Zielen. Oft geradezu der Versuch, als »gottähnlich« anerkannt zu werden. 3. Verstärktes Messen und ständiges Vergleichen mit der Umgebung. 4. Das Bemühen, die anderen zu verkleinern und zu unterdrücken. 5. Ausprägung von Charakterzügen, die im Grunde im Dienste dieser Entwicklung stehen: Unduldsamkeit, Rechthaberei, Neid, Schadenfreude und Prahlerei. 6. Ein starkes Überhandnehmen und Wuchern der Phantasie. 7. Damit im Zusammenhang häufiges Lügen, das in einigen Fällen bis zu angedeuteter Hochstapelei geht. (Ringel 1999a, S. 31 f.) Infolge dieser Persönlichkeitsstruktur »erscheint die psychische Belastbarkeit« (S. 33) gering und ermöglicht – so Ringel – ganz besonders das Erleben von Traumatisierungen. Unter Traumatisierung wiederum versteht Ringel eine letztlich unabzählbare Reihe von Erlebnissen, die einem solcherart »fehlentwickelten« Menschen begegnen können und insofern nicht nur aus dem äußeren Ereignis, sondern auch aus der inneren Konstellation zu verstehen sind. Ein solches Trauma, welches in einer »langen Kette« bereits vorlaufender Traumata steht, kann nun das Motiv eines Suizids werden (S. 82). In diesem Sinne nutzt Ringel empirische Daten für sein Verständnis der suizidalen Phase bzw. des Suizids. Dabei stellt er folgende These zur Bedeutung situativer Belastungen bzw. Traumata auf: »Je weniger Traumen sich summieren müssen, um schließlich zu einer suizidalen Reaktion zu führen, desto geringer ist die Belastbarkeit oder desto größer ist die endogene Komponente bei dem Betreffenden.« (S. 82) Mit dieser »endogenen Komponente« meint Ringel freilich kein genetisches Dispositiv, son432 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das prsuizidale Syndrom und die Verschmelzungsphantasien bei Ringel

dern gerade seine bereits beschriebene, psychoanalytisch aus der Kindheit heraus verstandene »Disposition zum Selbstmord« (S. 82). Das Entscheidende an einem aktuellen Trauma ist nun, dass der Mensch infolge der Entwertung durch das Trauma meint, »Vor-sich-selbstnicht-bestehen-zu-können« (S. 101). Für Ringel geschieht demnach im Trauma eine Minderung der eigenen Wertigkeit: »Der Wert der eigenen Person scheint gemindert oder aufgehoben, dementsprechend auch der Wert des eigenen Lebens« (S. 101). Dieses »Versagen vor sich selbst«, welches für Ringel in besonderer Weise bei einem »fehlentwickelten« Menschen möglich ist, versteht er als den entscheidenden Punkt und Anlass zum Suizid. Der derart durch ein aktuelles Trauma angestoßene »Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung« – nämlich der Suizid bei einem zum Suizid neigenden Menschen – vollzieht sich nun in einer wiederum erkennbaren, typischen Gesetzmäßigkeit, die Ringel als das »präsuizidale Syndrom« benennt. Das »präsuizidale Syndrom« kennzeichnet Ringel durch die drei folgenden Merkmale (S. 103): 1. Einengung 2. Verstärkung der Aggression 3. Flucht in die Phantasiewelt/Irrealität Zu 1.) Einengung: Einengung versteht Ringel als einen Prozess, der zunehmend und letztlich nur noch im Suizid gesprengt werden kann. Dabei versteht er diese Einengung als einen »Verlust der expansiven Kräfte«, in dessen Folge eine psychische Stagnation eintritt. Damit meint er, dass der Spielraum gestaltbarer Möglichkeiten schrumpft und dieser Verlust an eigenen und aktiv ergreifbaren Möglichkeiten dem Betroffenen unausweichlich erscheint. Die nach Ringel dabei erlebte Übermächtigkeit der Welt, die erlebten Minderwertigkeitsgefühle und die stete Angst vor dem eigenen Scheitern versteht er als Ausdruck der gewissermaßen prämorbiden Persönlichkeit, wie wir sie bereits im ringelschen Sinne dargestellt haben. Die Einengung zeigt sich für Ringel insbesondere darin, dass das erlebte Leiden (also das Scheitern) aufgrund mangelnder Möglichkeiten des (expansiven) Gestaltens sinnlos wird. So verstanden können wir die Einengung vor allem deshalb als unausweichlich verstehen, da der im ringelschen Sinne ohnehin zum Suizid neigende Mensch keine Verwandlung im Bezug auf sich selbst vollziehen kann. Dieses Merkmal der Einengung 433 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wird uns in einer Betrachtung der empirischen Literatur, wenn auch in etwas veränderter Form (als Verschlossenheit, Hoffnungslosigkeit und kognitive Einengung), wiederbegegnen. Zu 2.) Aggression: Ringel sieht diesbezüglich zunächst die Wendung der Aggression gegen das Selbst. Diese Autoaggression versteht Ringel – durchaus im Sinne Freuds – als eine Folge der Hemmung der Aggression gegen andere. Wichtig erscheint ihm aber auch die vom suizidalen Menschen vermeinte »Gottähnlichkeit« des Suizidakts. Dabei betont Ringel, dass diese »Gottähnlichkeit« des Suizidakts wiederum als eine Kompensation infolge der Hemmung der Aggression zu verstehen ist. In diesem Sinne verweist er auf sein Verständnis der prämorbiden Persönlichkeit. Andererseits begegnet uns dieser Aspekt, dass der suizidale Mensch im Suizidakt eine letztverbliebene Selbstmächtigkeit eigener Aktivität sieht, auch in Humes und Amérys Verständnis der suizidalen Erfahrung. Bei diesen nun wiederum versteht sich der Suizid als die letzte und vollkommen freie Tat bzw. als »der Weg ins Freie«. In diesem Sinne zeigt sich der Suizid als die letzte Rettung, die dem Menschen angesichts seiner abgrundtiefen Verzweiflung verblieben ist. Von einer »Gottähnlichkeit« kann so gesehen nicht gesprochen werden, vielmehr ist es eine zutiefst menschliche Möglichkeit, die zudem vollkommen »gottunähnlich« an die eigene Sterblichkeit gebunden ist. Ringel hingegen sucht für diese Erfahrung einen psychoanalytisch interpretierbaren Untergrund, den er in der Aggression zu finden meint. Betrachten wir diesen Aspekt nochmals etwas genauer, so weisen beide von Ringel benannten Merkmale zunächst eine deutliche Nähe zum freudschen Modell des Narzissmus auf. Freud hatte als entscheidenden Aspekt der narzisstischen Neurose das Problem des Ideal-Ich aufgefunden, wie Dieter Wyss Freuds Gedanken zur Herkunft des Ideal-Ich zusammenfasst: »Die narzisstische Verliebtheit des Kindes in sich selbst, unterstützt durch die Liebe der Pflegepersonen zu demselben, wird, nachdem sie der Realität weichen muss, auf das Ideal-Ich übertragen. Die Selbstliebe, die das Ich in der Kindheit genoss, wird in diesem Ideal-Ich festgehalten, in der die Person die Erinnerung an die glückseligen Kindheitsjahre bewahrt. Die Realisierung eines Ideals bedeutet deshalb immer die Verwirklichung des Wunsches, den verlorenen Zustand der Kindheit wiederherzustellen.« (Wyss 1970, S. 64) Um nun Ringels Verständnis auf die Spur zu kommen, müssen 434 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das prsuizidale Syndrom und die Verschmelzungsphantasien bei Ringel

wir ein gedankliches Experiment unternehmen. In diesem nehmen wir an, dass diese psychoanalytische Theorie Freuds tatsächlich zutreffend ist. Dann müsste auch der zum Suizid neigende Mensch diese narzisstische Phase des Autoerotismus im Sinne Freuds durchlebt haben. Im Unterschied zur normalen Entwicklung aber würden dann die Objekte nicht als lustspendend und selbsterhaltend erlebt, sondern sie wären gewissermaßen »böse« geblieben. Entsprechend und folgerichtig würde dann nicht genügend Libido vom Ich abgezogen und auf die Umwelt bzw. die Objekte gerichtet, wodurch wiederum das Ablösen des LustIch durch das Real-Ich erschwert würde. Die Bestätigung des Ideal-Ich durch andere Menschen, welches nun wiederum gerade einem solchen Menschen besonders wichtig sein müsste, würde nun gerade durch diese Überhöhung besonders erschwert. Soweit unser gedankliches Experiment. Durchaus vergleichbar versteht Ringel die Regression, die in der Einengung stattfindet und wiederum sekundär die Liebe auf das eigene Ich richtet, als einen weiteren Hinweis auf das Modell des Narzissmus von Freud (Ringel 1999a, S. 119). Allerdings meint Ringel erstaunlicherweise, sich in seinem Verständnis gerade nicht dem freudschen Narzissmusmodell anschließen zu können (S. 119). Vielmehr sieht er sich selbst stärker in der Linie der Individualpsychologie Alfred Adlers und der damaligen Neopsychoanalyse. Wenn hier also von einer Nähe zum freudschen Modell des Narzissmus gesprochen wird – wie wir dem gedanklichen Experiment folgend annehmen können –, dann gilt es zu beachten, dass Ringel dies durchaus anders gesehen hat. Trotzdem sind aber die Ähnlichkeiten verblüffend: der große Ehrgeiz, überhöhte und geradezu »gottähnliche« Ziele zu erreichen, die von anderen jederzeit bestätigt werden sollen, worin diese Anderen aber stets eigenartig klein werden und ihre Wichtigkeit nur noch als ein bestätigendes »Fußvolk« bzw. Publikum haben sollen. Dies erinnert uns durchaus an das freudsche Modell. Um hier die Zusammenhänge und Differenzen besser verstehen zu können, erscheint es sinnvoll, sich nochmals exkursorisch dem freudschen Modell des Narzissmus zuzuwenden. Betrachten wir Freuds Ausführungen in seiner wesentlichen Schrift »Zur Einführung des Narzissmus« von 1914: »Ein Anteil des Selbstgefühls ist primär, der Rest des kindlichen Narzissmus, ein anderer Teil stammt aus der durch Erfahrung bestätigten Allmacht (Erfüllung des Ichideals), ein dritter aus der Befriedigung der Objektlibido.« (Freud 1974, Bd. III, S. 67) Die Besetzung des Ideal-Ich gilt Freud nun bei den Übertra435 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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gungsneurosen herabgesetzt, sie neigen zur narzisstischen Objektwahl (S. 65). Umgekehrt ist die Besetzung des Ideal-Ich beim Psychotiker besonders erhöht, sie leiden an einem gesteigerten Selbstgefühl, wodurch ein »Verlust der normalen Realfunktion« erfolgt (S. 47). Der sekundäre Narzissmus, welcher zu einer erneuten libidinösen Ich-Besetzung mit Objektlibido führt, ist nun – so Freud – insbesondere im Falle narzisstischer Objektwahl häufig. Entsprechend der obigen ringelschen Ausführungen wäre nun wiederum anzunehmen, dass der zur Suizidalität disponierte Mensch die Objektwahl nach dem narzisstischen Typus – also danach, »was man selbst sein möchte« – betreibt. Soweit stimmt das ringelsche Verständnis mit dem freudschen Narzissmusmodell überein. Der entscheidende Unterschied zwischen dieser freudschen und der ringelschen Kennzeichnung kann nun aber darin gesehen werden, dass bei Ringel diese narzisstische Objektwahl mit dem gesteigerten und überhöhten Ideal-Ich zusammenfällt, welches zugleich übermäßig libidinös besetzt ist. Die Traumatisierung versteht sich demnach als der (narzisstisch) enttäuschende Objektverlust mit nachfolgender, nochmals gesteigerter sekundärer Besetzung eines nunmehr die Realitätsfunktion zunehmend verlierenden Ich. Aus theoretischer Konsequenz würde der suizidale Mensch als psychotisch bzw. zumindest als psychosenah gelten (s. a. »Flucht in die Phantasiewelt«). Wichtig ist aber auch die Schlussfolgerung, dass das freudsche Modell des Narzissmus eben gerade doch nicht geeignet ist, um im ringelschen Sinne den zum Suizid disponierten Menschen hinreichend verstehen zu können. Denn folgen wir dem freudschen Modell konsequent, stoßen wir auf eine eigenartige innerliche Widersprüchlichkeit des suizidalen Menschen, welche in seinem Modell in unklarer Weise bestehen bleibt: einerseits hat er (modellgemäß) ein gesteigertes Selbstgefühl mit überhöhtem Ideal-Ich, andererseits betreibt er (modellgemäß) eine narzisstische Objektwahl, die seinem Ich Libido entzieht. So bleibt es dann unschlüssig, inwiefern ein solcherart narzisstischer Mensch überhaupt eine Objektwahl betreiben soll. Für Ringel hingegen versteht sich gerade diese Objektwahl als wesentlich zum Verständnis des »präsuizidalen Syndroms«: »Er (der Narzissmus J. S.) verhindert die Bildung einer wirklichen mitmenschlichen Beziehung. Die Verliebtheit in das eigene Ich, die daraus abgeleitete unbewusste Verabsolutierung der eigenen Person, führt nämlich statt zu Selbständigkeit, in paradoxer Weise zur vollständigen Unselbständigkeit. Man wird abhängig von Menschen, denn man will ja ständig 436 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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von ihnen anerkannt werden […] Diese Abhängigkeit von anderen Menschen […] also ist es, die den Mitmenschen und ihrem Verhalten eine so große Bedeutung, eine so große Macht einräumt. Man wird nicht mehr durch die eigene Lebenskraft, sondern man wird von anderen am Leben gehalten.« (Ringel 1999a, S. 119) Wie gelangt Ringel zu einer solchen Formulierung? Zwar erkennt und benennt Ringel durchaus, dass sich darin eine gewisse Paradoxie innerhalb der Person ausspricht, aber diese gilt es ja gerade zu verstehen und nicht einseitig aufzulösen. In diesem Sinne nun wird neben Adler, der hier offensichtlich Einfluss auf Ringel hat, der vielfach von Ringel zitierte Harald Schultz-Hencke (1892–1953) wichtig. Schultz-Hencke kann mit seinem Hauptwerk »Der gehemmte Mensch« (1940) als einer der zentralen Vertreter der damaligen Neopsychoanalyse angesehen werden. Der Einfluss Schultz-Henckes findet sich bereits in den Begriffen, die Ringel zur Darstellung seines Verständnisses benutzt. So übernimmt Ringel sicherlich den Begriff der »Haltung«, der unbewusste Grundtendenzen des Charakters benennen soll, von Schultz-Hencke. Auch seine Kennzeichnung, dass sowohl die Verwöhnung als auch die Härte der Erziehung wesentlich zu einer krankhaften Entwicklung beitragen, kann im Rückgriff auf Schultz-Hencke verständlich werden. Auffallend ist zudem, dass Ringel den bei Freud ja zentralen Begriff des Unbewussten nicht benutzt, sondern allenfalls von z. B. »unbewussten Tendenzen« oder »unbewussten Mitteln« redet. Allein schon in sprachlicher Hinsicht findet sich Ringel so in der Linie der Neoanalytiker, zu denen neben dem erwähnten Schultz-Hencke auch die ebenfalls von Ringel zitierte Karen Horney (1885–1952) zu zählen ist. Insbesondere aber scheint uns der dem ringelschen Verständnis der suizidalen Phase zugrunde liegende Gedanke eine direkte Übersetzung von Schultz-Hencke zu sein. Dieter Wyss fasst den Grundgedanken des infolge krankhafter Entwicklung gewissermaßen in Fehlhaltungen »gehemmten Menschen« bei Schultz-Hencke wie folgt zusammen. Da der Mensch auf diese Hemmung reagiere, geschehe nun Folgendes: »Sein Charakter, der durch die Hemmung jener Strebungen schon deformiert ist, entwickelt als Reaktion auf jene Hemmungen noch weitere abnorme Züge: die Bequemlichkeit, die Riesenansprüche und Riesenerwartungen, die Überkompensation und Ersatzbefriedigung.« (Wyss 1970, S. 203) Insbesondere das Merkmal des Zusammengehörens von Riesenerwartungen und Riesenansprüchen und der gewissermaßen zuweilen tollkühnen Überkompensation vor sich und der Umgebung, wie sie 437 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wiederum Adler formuliert hatte und die für ihn als Folge der Hemmung zu verstehen ist, finden sich im ringelschen Verständnis der suizidalen Phase wieder. Zusammenfassend zeigt sich also, dass Ringel in dieser suizidalen Phase eine krisenhafte Zuspitzung der innerlichen Widersprochenheit einer Person sieht, wie sie sich im Zwiespalt von Riesenerwartungen und Riesenansprüchen ausdrückt. Ringels Verständnis nimmt also vermutlich auch deshalb aus heutiger Sicht immer noch einen wichtigen Platz in der Suizidologie ein, da er sich einer psychoanalytischen Theorie bedient, die im Rückblick der psychoanalytischen Theorienbildung für die weitere Entwicklung des psychodynamischen Verständnisses wesentlich war. Dabei kann der Grundgedanke dieses Fortschritts psychoanalytischer Theorienbildung vor allem darin gesehen werden, dass das Aufrechterhalten einer übermäßigen libidinösen Selbst-Besetzung nicht nur aus der eigenen Person gelingt. Vielmehr gilt, dass dies wiederum an eine diesem Ausmaß an Besetzung entsprechende Spiegelung der eigenen Person in wichtigen anderen Personen gebunden ist. Ringel öffnet hier das psychoanalytische Verständnis der suizidalen Krise also zugleich für die interpersonale Dimension, welche im Weiteren für die suizidologischen Verständnismodelle zentrale Bedeutung gewinnen wird. Zu 3.) Flucht in die Phantasiewelt: Die Passivität (das Erdulden), die in der Einengung und dem Verlust jeglicher Selbstmächtigkeit in der Welt deutlich wird, zeigt sich nach Ringel auch in der Flucht in die Phantasiewelt. Anstatt jedoch die Phantasie als ein schöpferisches Suchen nach neuen Gestaltungsmöglichkeiten einzusetzen, tritt hier die Phantasie in den Dienst einer »Weltflucht«. Dies ist für Ringel insbesondere deshalb der Fall, da die Einengung und die zunehmende Aggression in deren Wendung auf das Selbst eine solche gesunde Phantasie unmöglich machen (Ringel 1999a, S. 145). Ringel beschreibt diese schrittweise Zunahme der Beschäftigung mit dem Sich-töten-können, welche in einen als Möglichkeit erlebten Suizid umschlägt und letztlich dazu führt, dass sich das Sich-töten als letzter Ausweg geradezu aufdrängt (S. 153). Zu diesem Prozess nennt Ringel vier Merkmale: 1. Phantasieren des Gegenteils: klein wird groß, machtlos wird mächtig. 2. Fixierung auf die Phantasien: dies entspricht der Einengung und dem Verlust eigener Gestaltungsmöglichkeiten im Gegenzug der leichter verfügbaren Phantasien. 3. Wirklichkeitsähnlichkeit der Phantasien: sie werden nicht nur 438 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das prsuizidale Syndrom und die Verschmelzungsphantasien bei Ringel

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gleichberechtigt, sondern geradezu ein Ersatz für die sonstigen Realitäten. Hieraus folge eine Flucht und die Notwendigkeit, die sich in der Phantasie aufbauende Welt in die Realität zu übersetzen, sie gewissermaßen lebendig zu verwirklichen.

Das sich hierin ausdrückende Verständnis von Phantasie erinnert uns zwar auch an das freudsche Modell, der in der Phantasie vorwiegend etwas Pathologisch-Ersatzbefriedigendes sah. Ringel weist aber diese extreme Einseitigkeit des freudschen Verständnisses der Phantasie zurück. Er verweist ganz explizit darauf, dass eine gesunde Phantasie immer auch als Quelle des »neuformenden Denkens« zu verstehen ist. Allerdings ist nun beim suizidalen Menschen die Phantasie eine passive, da sie sich des Menschen gewissermaßen bedient. Dies ist wiederum für Ringel eine Folge der Hemmung (S. 145 f.). Der Zusammenhang von »präsuizidalem Syndrom« und Selbststruktur zeigt sich – wenn wir Ringel konsequent verstehen – zum einen in dem, was wir als eine »suizidale Verschlossenheit« bezeichnen können. Zugleich aber bemüht sich Ringel um ein Verständnis, inwiefern bestimmte Menschen eher in suizidale Krisen geraten als andere. Ringel formuliert hier eine innere Widersprochenheit des Menschen, die sich in dessen suizidaler Erfahrung nurmehr zuspitzt. Der suizidale Mensch führt ein eingeengtes, unausweichliches, enttäuschendes und ohnmächtiges Leben in der realen Welt, erscheint aber zugleich von großartigen Phantasien beglückt, die mit zunehmender Einengung der realen Welt immer großartiger werden. Diese »Flucht in die Irrealität« – wie Ringel dies nennt – können wir wie einen zweiten Selbstzustand des suizidalen Menschen verstehen, denn schließlich lebt er in dieser Phantasie-Welt als ein vollkommen anderer Mensch. Ringel spricht hier sogar von Dissoziation und meint damit das Auseinandertreten von Realem und Irrealem, welches dann bis in eine Verbindungslosgkeit der beiden Sphären reicht (S. 145). Damit kennzeichnet er zugleich den Suizid als einen letztverbliebenen Akt, in dem das phantasierte eigene »Selbst« als überlebend phantasiert wird und nun vollkommen und »paradiesisch« mit der Phantasiewelt verschmilzt. Insofern sieht Ringel in der Phantasie die entscheidende und »bahnende Kraft […], derer sich Einengung und Aggression oft bis zum Suicid bedienen.« (S. 153) Wir können dieses Verständnis Ringels als in sich schlüssig ansehen, wobei sein entscheidender Grundgedanke der der 439 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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»Verschmelzungsphantasien« ist. Denn erst mit diesem – zugegeben nicht ganz einfachen – Gedanken wird sein Verständnis der suizidalen Erfahrung tatsächlich in sich stimmig. Die »Verschmelzungsphantasien« – verstanden als Illusionen eines narzisstisch schwer gestörten Menschen – machen aus Ringels Sicht sowohl den Suizid attraktiv, als sie auch andererseits zum Suizid drängen. Sicherlich sind an diesem Verständnis einige Fragen anzubringen. Denn wir müssen fragen, warum sich Menschen nicht häufiger suizidieren, wenn sie solch großartige »Verschmelzungen« in ihrem eigenen Tod erwarten. Auch die christliche Religion nimmt ja eine solche »Verschmelzung« nach dem Tod an. Wir könnten jedenfalls in Ringels Verständnis der suizidalen Erfahrung einen Widerspruch zu seinem persönlichen christlichen Glauben sehen. Rückblickend müssten wir seinem Verständnis folgend beispielsweise fragen, ob auch Platon als narzisstisch schwer gestörter Mensch eingeschätzt werden müsste. Inwiefern eine solche retrospektive Pathographie tatsächlich möglich ist, ist sicherlich mehr als zweifelhaft. Die Behauptung, dass es sich bei allen religiösen Vorstellungen eines jenseitigen Lebens in personaler Kontinuität schlicht um illusionäre »Verschmelzungsphantasien« handelt, kann – wenn überhaupt – nur für radikal aufgeklärte Menschen angenommen werden, so dass Ringels Verständnis zumindest in kultureller Hinsicht sowohl limitiert ist als auch seine Herkunft aus der Aufklärung verrät. Dies ist keineswegs als Kritik zu verstehen, sondern gibt Hinweise auf den Untergrund dieses Verständnisses, der im jeweiligen Menschenbild zu finden ist. Wir müssen aber bezweifeln, dass die »Verschmelzungsphantasien« für ein Verständnis der suizidalen Erfahrung auch in den anderen Modellen der Suizidologie tatsächlich von so großer Bedeutung sind, wie Ringels Verständnis fordert. Für die Suizidologie wird jedoch in empirischer Sicht sein Modell des »präsuizidalen Syndroms« bedeutsam, da es in mehrerlei Hinsicht die Möglichkeit der anschließenden empirischen Untersuchung anbietet. So kann beispielsweise nach aktuellen Suizidmotiven Ausschau gehalten werden, die mindestens als aktueller Anlass verstanden werden können. Andererseits gibt es nun ein in Selbstaussagen überprüfbares Verständnis der suizidalen Krise, welches infolge seines prozesshaften Charakters zudem eine empirische Untersuchung eines sich verändernden Prozesses erlaubt. Insbesondere aber können einzelne Merkmale des »präsuizidalen Syndroms« gewissermaßen isoliert untersucht werden. Hierbei kann dann auch gefragt werden, ob die 440 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Verschlossenheit und die Problemlsefhigkeiten

Selbstaussagen des suizidalen Menschen mit anderweitig erhebbaren empirischen Daten beispielsweise betreffend seiner eigenen Identitätsstruktur übereinstimmen.

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In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts nimmt die Verhaltenstherapie entscheidende Veränderungen an ihrer Therapietechnik und ihrem modellhaften Verständnis des Verhaltens vor. Eine der wesentlichen Veränderungen ist das Einbeziehen von Denkstilen und Denkmustern in die Verhaltenstherapie. Einer der Vorreiter ist hierbei Aaron T. Beck (geb. 1921), der schließlich 1972 ein wegweisendes Buch zum Thema der »kognitiven Therapie« bei Depressionen veröffentlicht (Beck et al. 1986). Das von Beck entwickelte modellhafte Verständnis stellt zudem die nächste Entwicklungsphase in den suizidologischen Modellen dar. Dabei interessiert sich Beck insbesondere für die sprachlich benennbaren Motive, die den Menschen für einen Suizid als sinnvolle Handlung entscheiden lassen (Beck et al. 1986, S. 262). Er nennt diese oftmals nur im Blick dieses Menschen sinnstiftend wirkenden Motive »Suizidmotive«. Dabei geht Beck davon aus, dass die tatsächlich wirksamen Suizidmotive dem jeweiligen Menschen bewusst und insofern sprachlich formulierbar sind. Dies entspricht seinem »kognitiven Modell« des Menschen. Die Suizidmotive, die er dabei auffindet, ordnet er in zwei Gruppen ein: 1. Flucht aus dem Leben, welches nicht mehr lebenswert erschien (erlebte Sinnlosigkeit); 2. Manipulation bestehender Beziehungen zu anderen Menschen, welche dadurch enger angebunden werden sollten (Ruf nach Hilfe). Häufig findet Beck eine Kombination beider Suizidmotive, wobei die »erlebte Sinnlosigkeit« insgesamt das häufigere Suizidmotiv darstellt. Den Suizid/Suizidversuch versteht er als eine (psycho-)logische Folge der benannten Motive. Dabei beschäftigt er sich im Weiteren vor allem mit dem erstgenannten Motiv, da er in seinen empirischen Untersuchungen den Eindruck gewinnt, dass es in 50 % der Fälle das alleinige, in weiteren 30 % das kombinierte Suizidmotiv ist, um Suizidabsichten zu hegen oder Suizidversuche zu unternehmen. Sicherlich erinnert das erste Motiv an allgemeine Ausführungen zum Thema 441 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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der suizidalen Erfahrung, wie sie sich auch bei Ringel insbesondere in seiner »Flucht in die Phantasiewelt« finden lassen. Das zweite Motiv ist in dieser Zeit nicht nur den Schriftstellern, sondern auch den Suizidologen bekannt. So nennt insbesondere Stengel die Appellfunktion des Suizidversuchs einen »Ruf nach Hilfe« (Stengel 1961). Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass Beck eine grundlegende psychische Verfassung, einen allgemeinen psychischen Zustand formuliert, der seinem Modell gemäß dem erstgenannten Suizidmotiv stets zugrundeliegen soll. Diese Verfassung nennt er »Hoffnungslosigkeit« (hopelessness). »Der Patient betrachtete den Suizid typischerweise als den gangbarsten Weg, um mit seinen Problemen fertigzuwerden. Er sieht sich in einer schlimmen Situation gefangen, der er nicht entrinnen kann, und es erscheint ihm unerträglich, in dieser Situation weiterzuleben. Er betrachtet den Selbstmord als die einzige Möglichkeit, um mit seinen ›unlösbaren‹ Problemen fertigzuwerden.« (S. 266) An dieser Definition wird deutlich, dass für Beck Motive immer Motive innerhalb einer bestimmten Situation sind und dass diese Motive immer auf den ganzen Menschen verweisen. So verstanden befindet sich der hoffnungslose Mensch also in einer unausweichlichen Situation und in einem unerträglichen Zustand. Diese scheinen im Hinblick auf die becksche Hoffnungslosigkeit wie zwei Pole zu sein, in deren Spannungsfeld der betreffende Mensch seine Suizidmotive formuliert und mit denen er durch die Situation navigiert. Als solche Suizidmotive unterscheidet Beck vier typische Formen: 1. Das Leben ist sinnlos. Ich habe nichts, worauf ich mich freuen könnte; 2. Ich kann das Leben einfach nicht mehr ertragen. Ich kann nie glücklich sein; 3. Ich fühle mich so unglücklich, und das ist der einzige Weg, wie ich dem entkommen kann; 4. Ich bin eine Last für meine Familie und sie werden ohne mich besser dran sein. (S. 266) Beck geht im Weiteren davon aus, dass beim suizidalen Menschen eine kognitive Einengung stattfindet. Zudem nimmt er an, dass der zum Suizid neigende Mensch eine überaus »niedrige Toleranz für Ungewissheit« habe. Er meint damit, dass die erlebte Ungewissheit beim Lösen zunächst unlösbar erscheinender Probleme von zum Suizid neigenden Menschen besonders schlecht ertragen werden kann. So kehrt 442 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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dieser Mensch immer wieder zur »Lösung Suizid« zurück. Wie Beck in einer Übersicht bereits 1975 zeigen kann, entspricht sein Konzept der »Hoffnungslosigkeit« in empirischer Hinsicht eindeutig besser vorhandenen Suizidabsichten, Suizidversuchen und vollzogenen Suiziden als beispielsweise andere Konzepte von Depression und Autoaggression (Beck et al. 1975). Beck veröffentlicht in den folgenden Jahren eine Reihe weiterer Studien, in denen er den von ihm beschriebenen Zusammenhang von suizidaler Krise und Hoffnungslosigkeit bzw. kognitiver Einengung immer wieder bestätigt findet (Übersicht u. a. bei Beck et al. 1989). Dabei entwickelt er zugleich einen psychologischen Test, bestehend aus 20 Falsch-Richtig-Aussagen, der das Ausmaß negativer Erwartungen betreffend der eigenen Zukunft bemisst (Beck Hopelessness Scale BHS, Beck et al. 1989). Beispielhaft sei seine Studie von 1993 zitiert, in der er an 908 ambulanten Patienten erneut die statistische Korrelation und damit die Vorhersagekraft des empirischen Modells der »Hoffnungslosigkeit« für suizidale Krisen untersucht. Dabei differenziert er die untersuchten Personen nach psychiatrischen Störungen, insbesondere auch in Hinsicht einer depressiven Störung und findet statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen suizidalen Krisen und einem früheren Suizidversuch in der Vergangenheit sowie zwischen suizidalen Krisen und der BHS (Beck et al. 1993). Bereits frühzeitig zeigt sich also der empirischen Suizidforschung, dass nicht jeder Depressive, der sich hoffnungslos fühlt, zugleich auch suizidal ist. Bekanntlich wird sich auch das Merkmal der Autoaggression nicht bestätigen, welches noch von Freud herstammte. Anders gesagt: typischerweise erlebt der suizidale Mensch keine Autoaggression; typischerweise ist das Erleben des suizidalen Menschen nicht deckungsgleich mit einer depressiven Episode. Diese empirischen Ansichten haben tiefgreifende Konsequenzen für das Verständnis der suizidalen Erfahrung in der Suizidologie. Denn es ist offenbar auch für die psychoanalytisch fundierte Suizidologie ein grundlegend anderes Verständnis der eigentümlichen inneren Widersprochenheit des suizidalen Menschen gefordert, als wir dies bisher bereits mit Freud, Menninger und Ringel kennengelernt haben. Die weitere empirische Suizidforschung beckscher Prägung wendet sich nach der Entwicklung des Konzepts der »Hoffnungslosigkeit« der Frage zu, inwiefern einige Menschen in zunächst hoffnungslos erscheinenden Situationen suizidal werden und andere Menschen – in empirisch-konzeptuell gleichartig erscheinenden Situationen – nicht. 443 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Die Frage ist, warum der Suizid plötzlich einigen Menschen als Lösung erscheinen kann, wohingegen diesen Menschen andere Möglichkeiten, um die unausweichliche Situation und das unerträgliche Selbst zu überwinden, verloren erscheinen. Unter der Annahme, dass die Situationen tatsächlich gleichartig seien – auch wenn dies sicherlich eine durchaus problematische Annahme ist –, muss der Unterschied im betreffenden Menschen selbst gesucht werden. Der Unterschied könnte, so die in den psychoanalytischen Verständnissen gängige Annahme, in einer gewissen persönlichen »Empfänglichkeit« für den Suizid liegen. In genau dieser Richtung zeigen sich auch entsprechende Weiterentwicklungen des Modells der »Hoffnungslosigkeit«. So verknüpft beispielsweise das »Diathesis-stress-hopelessnessmodel« von David E. Schotte und George A. Clum genau diesen Gedanken mit dem beckschen Modell. Dieses erweiterte Modell wurde 1982 erstmals und 1987 differenzierter von Schotte und Clum vorgestellt (Schotte/Clum 1982; Schotte/Clum 1987). Sie sehen diese »Empfänglichkeit« im fehlenden Zutrauen suizidaler Menschen in ihre eigenen Fähigkeiten. Dabei zeigt sich auch eine empirisch-testpsychologisch messbare Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten, anstehende Probleme zu lösen. Die weit reichende Schwierigkeit, anstehende Probleme zu überwinden, entspricht also der kognitiven Einengung und betont zugleich die Bedeutung tatsächlich anstehender Probleme, die der suizidale Mensch zu lösen hat. Hier nun zeigt sich, dass das reduzierte bzw. fehlende Vertrauen in sich selbst eine doppelte Bedeutung hat: zum einen entspricht dies im Sinne einer self-fulfilling-prophecy einer depressiv imponierenden Selbsteinschätzung; zum anderen entspricht es in gewissen Grenzen durchaus der »Minderung« kognitiver Fähigkeiten. Welcher Art ist nun, jedenfalls den empirischen Erkenntnissen folgend, diese »Minderung«, so dass eine Einschränkung gegeben ist, anstehende Probleme zu lösen? Mit dieser Schwierigkeit, alternative Lösungen und neue Ideen in schwierigen Situationen hervorzubringen, ist nicht nur das reflexiv vergewisserte Selbstbild suizidaler Menschen gemeint – beispielsweise in dem Sinne, dass sich verzweifelte Menschen nur einbilden würden, mit ihren Problemen nicht zurecht zu kommen –, sondern weitergehend auch ihre (subliminale, präreflexive) Selbststruktur (Connell/ Meyer 1991). »It appears that the ability to generate alternative solutions to a problem and to generate new ideas, as measured by the tests of verbal and design fluency, was decreased in the suicidal patients. 444 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Verschlossenheit und die Problemlsefhigkeiten

Possibly, deficiencies in cognitive strategies for suicidal patients arise mainly in situations when alternatives have to be generated by the individual, and no known alternatives are present.« (Bartfai et al. 1990) Das Selbstbild suizidaler Menschen – kein bzw. nur geringes Zutrauen in ihre Fähigkeiten, eigene Lebenskrisen zu überwinden – scheint somit einen Hinweis darauf geben, inwiefern die Verschlossenheit eine spezifisch suizidale Verschlossenheit werden kann. »In this perspective, survival and coping beliefs are positive personality attributes of an individual. Their absence may remove an important bulwark against suicidogenic influence of hopelessness and depression.« (Strohsal et al. 1996) In diesem Modell wird folglich vermutet, dass angesichts erlebter Abwesenheit anderer Lösungsmöglichkeiten der Suizid eher als eine Lösung imponieren könnte. Gewissermaßen erscheint der Suizid als die letztverbliebene vorstellbare Möglichkeit, das anstehende Problem zu lösen. Der Zusammenhang der Hoffnungslosigkeit, der suizidalen Erfahrung und des geringen Vertrauens in die eigenen Problemlösefähigkeiten ist dabei zentral (Rudd et al. 1994). Ein geringes Zutrauen in die eigene Fähigkeit, Probleme zu lösen, geht mit einer schnell auftretenden psychischen Verfassung von Hoffnungslosigkeit einher, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für eine suizidale Verfassung erhöht. Hierzu passt durchaus, dass nach einem überlebten Suizidversuch und mit abnehmender suizidaler Einengung die »interpersonal problem-solving skills« wieder deutlich besser werden (Schotte et al. 1990). »In accordance with Schotte and Clum’s diathesis-stress-hopeless-ness (D-S-H) model of suicidal behavior, interpersonal problem-solving skills would appear to both mediate and moderate the relationship between stress and hopelessness, which, in turn, is predictive of suicidal ideation and behavior. More specifically, an individual with deficient problem-solving skills would tend to become overwhelmed as external stressors mounted progressively more hopeless, and, if conditions persisted unabated, would be considered at increased risk for suicidal behavior. Conversely, an individual with adequate or better problem-solving skills would be capable of generating productive alternatives and would thus minimize the potential for resultant hopelessness, averting such a spiral of deterioration. Given the focus of the D-S-H model and the role posited for problem-solving appraisal and behavior, it is important to consider predisposing vulnerability. A range of factors besides such constructs as problem-solving have been identified as indicative of increased individual vulnerability to suicide

445 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

or suicidal behavior and have subsequently been found to play mediating and moderating roles in the complex suicide equation […].« (Rudd et al. 1994)

Übereinstimmend mit diesem empirisch gestützten Modell der suizidalen Verschlossenheit zeigen Williams und Mitarbeiter 1996 Einengungen des autobiographischen Gedächtnisses suizidaler Menschen. »Suicidal subjects did have difficulty picturing the future in a specific way compared to matched controls, a difficulty that affected their responses to positive, negative, and neutral cues. Second, the degree of difficulty in generating specific images of the future was found to be correlated with the extent to which subjects failed to retrieve specific autobiographical memories from their past.« (Williams et al. 1996) Williams und Mitarbeiter ziehen den naheliegenden Schluss, dass ein verringertes Verfügen über autobiographische Ereignisse – und damit ein verringertes (explizites) Wissen um die Herkunft des eigenen aktuellen Selbstseins – das Entwerfen der eigenen Zukunft einengt und damit zugleich das Lösen aktueller Probleme erschwert. Dieser Zusammenhang ist auch aus psychiatrisch-anthropologischen Untersuchungen zur Depression gut bekannt, überhaupt gelten »pessimistisch-düstere Zukunftsaussichten« als typisch depressiv. In dem beckschen Modell wird der Mensch also immer dann suizidal, wenn er mit seinen »Problemlösefähigkeiten« am Ende ist, keine Lösung mehr für die Situation erkennen und sich ausdenken kann. Bei aller Betonung für kognitive Funktionen und deren messbare Einschränkung in der suizidalen Krise wird zugleich darauf hingewiesen, dass der Betroffene selbst diese Einschränkungen bemerkt und entsprechend hoffnungslos wird. Der Dreh- und Angelpunkt dieses Modells sind also die messbaren und selbst wahrgenommenen »Problemlösefähigkeiten«. Da eigene »Problemlösefähigkeiten« bzw. entsprechende »kognitive Strategien« zu einem großen Teil lebensgeschichtlich erworben sind, kann das becksche Modell zugleich die persönliche Lebensgeschichte des betreffenden Menschen wenigstens aspekthaft thematisieren und bietet so einen Anschlusspunkt für die psychoanalytischen Verständnismodelle. Der Dreh- und Angelpunkt »Problemlösefähigkeiten« liegt – modellhaft verstanden – zudem im strukturellen Sinne »vor« dem entscheidenden Punkt der »Verschmelzungsphantasien« im ringelschen Modell. Denn, so das becksche Modell, erst wenn die konkreten »Problemlösefähigkeiten« überfordert werden, können sonst als irrational kritisierbare »Verschmelzungsphantasien« attraktiv erschei446 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Verschlossenheit und die Problemlsefhigkeiten

nen. Sicherlich könnte aber eingewandt werden, dass auch umgekehrt vermehrte »Phantasietätigkeiten« wiederum die konkreten »Problemlösefähigkeiten« vermindern. Wäre es insofern nicht denkbar, dass hier tatsächlich zwei verschiedene Seiten derselben Medaille angesprochen sind? Diese Schlussfolgerung wäre konsequent und könnte sowohl im ringelschen Modell über das Merkmal der Einengung als auch im beckschen Modell über die konkreten Suizidmotive relativ problemlos vorgenommen werden. Aber auch wenn diese Schlussfolgerung nicht gezogen wird, gilt es zu erkennen, dass das becksche Modell die suizidale Verschlossenheit in einer großen empirischen Bandbreite versteht. Neben dem Einengen des Denkens – verbunden mit einem verminderten Zugriff auf autobiographische Erinnerungen – und dem verringerten Vermögen, aktuell anstehende Probleme gedanklich überwinden zu können – verbunden mit einem pessimistisch imponierenden und demotivierendfehlenden Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, diese Probleme auch tatsächlich lösen zu können – zeigt sich zudem eine emotionale Verschlossenheit im Sinne einer Hoffnungslosigkeit. Unklar bleibt allerdings dennoch, inwiefern eine solche Verschlossenheit notwendig eine suizidale Erfahrung bedeuten muss. Der Hinweis auf die fehlende Problemlösung allein kann noch nicht ausreichend sein, da es sich ganz offenbar um bestimmte Probleme handeln muss, um suizidal zu werden. Kaum jemand wird suizidal, weil ihm nicht die richtige Lösung beim Basteln mit Legobausteinen einfallen will (obwohl dies vielleicht in spezifischen Fällen durchaus vorkommen mag). Wichtige Fragen bleiben demnach bestehen. Es sind Fragen nach weiteren Merkmalen der suizidalen Krise, die die Verschlossenheit als eine suizidale Verschlossenheit verstehbar machen. In unserer Untersuchung haben wir bisher gesehen, dass sich die suizidologischen Modelle vorwiegend auf mögliche Besonderheiten der Person konzentrierten. Während Ringel auf eine mögliche typische innere Konstellation hinweist, die insbesondere mit einer ausgeprägten Phantasietätigkeit zu tun hat und in eine innerliche Widersprochenheit der Person mündet, haben wir im beckschen Modell insbesondere den Hinweis gefunden, dass die eigenen »Problemlösefähigkeiten« überfordert sind und darauf aufbauend eine »Hoffnungslosigkeit« eintritt. Jedoch kann die Antwort auch dahingehend gesehen werden, dass es sich bei suizidogenen Konflikten eben um besondere Konflikte handelt. Aus unserer historischen Betrachtung heraus drängt sich diese Annah447 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

me auf. Denn ganz typischerweise waren es interpersonale Konflikte, die eine suizidale Krise auszulösen vermochten. Dem beckschen Modell folgend könnte dies beispielsweise so verstanden werden, dass das fehlende Zutrauen in eigene »Problemlösefähigkeiten« durch Teilhabe an einem sinnausweisenden »Wir« kompensiert wird, so dass sogar »Verschmelzungsphantasien« im Tod noch als »Illusionen« durchschaut und abgewiesen werden könnten. In gewissem Umfang bestätigen Untersuchungen aus dem Umfeld des beckschen Modells diese hypothetische Erweiterung. So wird der einzelne Mensch durch Teilhabe und Zugehörigkeit zu einer sinnausweisenden und kohärent strukturierten Gruppe vor suizidalen Krisen geschützt (Rubenstein et al. 1989). Zudem fehlt in der Suizidalität insbesondere auch das Zutrauen in die Fähigkeit, soziale bzw. »Beziehungsprobleme« zu lösen (Schotte et al. 1990). So bietet auch das becksche Modell Hinweise darauf, dass es sich bei suizidogenen Konflikten typischerweise um interpersonale Konflikte handeln könnte. Auch wenn das becksche Modell in der empirischen Suizidforschung weitgehend akzeptiert ist, gibt es auch aus emprischer Sicht Kritik. Insbesondere wurde kritisiert, dass die Verschlossenheit allein die Suizidalität noch nicht umfassend verständlich macht und so allenfalls eines von weiteren Merkmalen sein kann. Nicht immer kann das Modell in empirischen Untersuchungen bestätigt werden (Joiner/Rudd 1995; Niméus et al. 1997). Mendonca und Holden verweisen kritisch auf weitere Merkmale, die suizidale Menschen auszeichnen. In ihrer Studie an 97 suizidalen Patienten einer Kriseninterventionsstation finden sie zwar einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen (mit dem beckschen Fragebogen erhobener) »Hoffnungslosigkeit« und suizidalen Menschen, die zugleich an einer depressiven Störung leiden. Allerdings lässt sich dieser Zusammenhang für nicht-depressive suizidale Menschen nicht zeigen. Hingegen zeigt sich für diese Gruppe ein statistisch signifikanter Zusammenhang mit dem Merkmal »unusual thinking« (Mendonca/Holden 1996). Mit »unusual thinking« ist gemeint: »Trouble concentrating, thougts of death or dying, difficulty in making decisions, feeling that everything is an effort, feeling that one’s mind is going blank, feeling that other people are aware of one’s private thoughts, having thoughts that are not one’s own, and feeling blocked about getting things done. This implies that a sense of cognitive distortion, consisting of feelings of loss of control over one’s thoughts, is an important predictor of a more intense level of suicidal intent.« Ins448 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit

besondere benennen Mendonca und Holden also das Merkmal, dass beim suizidalen Menschen kurze Zeit vor dem Suizid das eigene Selbstsein unerträglich wird, dass eine intensive Angst oder gar eine Gewissheit besteht, die »Kontrolle« über sich selbst zu verlieren oder gar bereits verloren zu haben und dass der suizidale Mensch unter verschiedenen formalen Denkstörungen leidet, die mit erheblichen Schwierigkeiten des Entscheidens verbunden sind. Mendonca und Holden verstehen diese psychische Verfassung als einen aktuellen Zustand, der kurz vor dem Suizid/Suizidversuch aufkommt. Sie befinden sich damit in einer Linie mit Edwin S. Shneidmans Modell. Im Unterschied zur suizidalen Verschlossenheit, die sich auf das Thema der »Problemlösefähigkeiten« konzentriert, zeigen sich in Shneidmans Modell vor allem affektive Aspekte im Sinne einer Unerträglichkeit und des Verlusts von Selbstwirksamkeit und Selbstkontrolle. Dies erinnert zwar partiell an das ringelsche Verständnis, nach welchem der suizidale Mensch zunehmend unter die »Kontrolle« seiner zunächst Zuflucht gewährenden Phantasien gerate. Zentral an dieser Kritik des beckschen Modells ist aber, dass insbesondere das Merkmal des Unerträglichen – und zwar verbunden mit der fehlenden eigenen Wirksamkeit (im Sinne von Selbstwirksamkeit und Selbstkontrolle) im Hinblick auf eine Änderung dieser Unerträglichkeit – wesentlich auch für ein empirisches Verständnis der suizidalen Erfahrung ist. Zwar nennt auch Beck diesen Aspekt im Rahmen seiner Suizidmotive (»Flucht vor der Unerträglichkeit eigenen Selbstseins«), will ihn damit aber zugleich als einen Unterpunkt des umfassenderen Bereichs »Problemlösefähigkeiten« einordnen. Jedoch scheint diese modellierende Unterordnung sogar aus empirischer Sicht zweifelhaft.

5.

Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit

Heinz Henseler beschreibt 1974 in einer umfangreicheren Arbeit die suizidale Krise als Ausdruck einer »narzisstischen Krise« und zeichnet dies mit 50 Kasuistiken konkret nach (Henseler 1984). Entsprechend versteht er suizidale Krisen aus der Entwicklung des »narzisstischen Systems« heraus. Dabei können wir Henselers Verständnis der suizidalen Krise durchaus als Vorbereitung eines selbstpsychologischen Verständnisses der suizidalen Erfahrung ansehen (Milch 2001, S. 239). 449 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Aufgrund seiner zeitlichen Verortung soll Henselers Verständnis stellvertretend für ein psychoanalytisches Verständnis der 70er Jahre herangezogen werden. Dies hat seinen Grund darin, dass in der psychoanalytischen Wendung hin zur Narzissmustheorie und Selbstpsychologie eine Parallelität zu den Wandlungen der empirischen Modelle gesehen werden kann, welche sich ebenfalls zunehmend mit dem Selbst des suizidalen Menschen beschäftigen. Henselers Modell findet sich damit in Parallelität mit dem beckschen Modell. Henseler sieht sich in der Situation, dass aus empirischer Sicht zwar vieles über »äußere Umstände der Suizidhandlung« bekannt ist, hingegen vor »Interpretationen des psychischen Erlebens von Suizidanten« zurückgeschreckt wird (Henseler 1984, S. 15 ff.). Die Ursache dieses Zurückschreckens sieht er vor allem darin begründet, dass sinnstiftende Interpretationen häufig ohne empirische Daten auskommen müssen und insofern schnell dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt sind oder aber am Suizidalen vorbeiverstehen. Nun kann allerdings dem suizidalen Menschen nicht wirksam geholfen werden, seine suizidale Krise zu überwinden, wenn seine suizidale Erfahrung nicht auch verstanden wird. Unter der Annahme, dass es sich bei Suiziden und Suizidversuchen um ein zutiefst sinnhaftes Verhalten handelt, will Henseler mit der hermeneutischen Methode diesen Sinn entschlüsseln. Zum damaligen Zeitpunkt hat die hermeneutische Methode einen bedeutenden Einfluss auf die psychoanalytische Theorienbildung, sie ermöglicht das Abgleichen empirischer Daten mit dem Selbstverständnis suizidaler Menschen. Bevor wir uns Henselers Modell zuwenden können, gilt es also einen kursorischen Überblick über seine Methode zu gewinnen. Wieso, so können wir fragen, gelingt mit der hermeneutischen Methode ein Abgleichen empirischer Daten mit dem Selbstverständnis suizidaler Menschen? Die hermeneutische Methode wird insbesondere auch durch Jürgen Habermas (geb. 1929) an und in das psychoanalytische Denken heran- und hineingetragen. Wegweisend ist dabei sein 1968 erschienenes Buch »Erkenntnis und Interesse«, welches entscheidend in den Positivismusstreit der 60er Jahre eingreift. Im Positivismusstreit zwischen der neo-marxistischen Frankfurter Schule und den Wissenschaftstheoretikern des Kritischen Rationalismus geht es insbesondere um die Frage, inwiefern Sozialwissenschaften rein naturwissenschaftlich-empirisch arbeiten können oder ob sie prinzipiell schon immer einen verstehenden Aspekt beinhalten. Habermas kann dabei zeigen, 450 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit

dass Erkenntnis und Interesse einen unauflöslichen Zusammenhang auch im Wissenschaftlichen haben. Er spricht insofern vom »erkenntnisleitenden Interesse«. Dabei unterscheidet er zwei »Gegenstandsbereiche«, die Erfahrung und Handeln sowie Aussagen über Erfahrung und Handeln in sich koppeln. Diese benennt er als »instrumentales Handeln« und »kommunikatives Handeln«, wobei ersteres in technischer, experimenteller und zweckrationaler Hinsicht und letzteres in hermeneutischer bzw. verstehender Hinsicht wissenschaftliche Diskurse ermöglicht. Diese interne Kopplung versteht sich dabei als »erkenntnisleitendes Interesse«. »Aussagen über den Phänomenbereich von Dingen und Ereignissen (oder über Tiefenstrukturen, die sich an Dingen und Ereignissen manifestieren) können nur in Orientierungen für zweckrationales Handeln (in Technologien und Strategien), Aussagen über den Phänomenbereich von Personen und Äußerungen (oder über Tiefenstrukturen gesellschaftlicher Systeme) können nur in Orientierungen für kommunikatives Handeln (in praktisches Wissen) rückübersetzt werden. Die erkenntnisleitenden Interessen wahren die Einheit des jeweiligen Systems von Handlung und Erfahrung gegenüber dem Diskurs.« (Habermas 1988, S. 399 f.) In diesem Sinn versteht Habermas die Psychoanalyse als ein hermeneutisches Verfahren, welches kontextgebunden den kausalen Zusammenhang zwischen Ursprungsszene, Abwehr und Symptom als im Wiederholungszwang repräsentierte »Invarianz der Lebensgeschichte« aufhebt, da es den im Unbewussten als Selbstobjektivierung niedergeschlagenen kausalen Zusammenhang als »hermeneutisch verstehbaren Sinnzusammenhang« formuliert (S. 330 ff.). In genau diesem Sinn will Henseler Äußerungen und Daten über Suizidhandlungen und suizidale Persönlichkeiten »als Bedingungen oder/und Manifestationen des gesuchten gemeinsamen psychodynamischen Geschehens« der suizidalen Verfassung verstehen (Henseler 1984, S. 22). Er unternimmt deshalb zunächst eine umfangreiche Bestandsaufnahme empirischer Einsichten und überträgt diese auf psychoanalytische Verständnisansätze. Dabei gewinnt er den Eindruck, dass der Suizidant a) in früher Kindheit traumatisiert worden ist; b) in seinem Selbsterleben stark verunsichert ist; c) unter der Herrschaft eines strengen und rigiden Gewissens steht; d) mit seinen Aggressionen nicht angemessen umgehen kann; e) unter Kontaktschwierigkeiten leidet (S. 59). Auf der Suche nach einem angemessenen Interpretationsmodell durchwandert er verschiedene psychoanalytische 451 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Theoriemodelle, um schließlich – angesichts fehlender Angemessenheit bisheriger Modelle – zur Narzissmustheorie zu gelangen. Mit dieser nun verbindet er die Hoffnung, »ein einheitliches und umfassenderes theoretisches Bezugssystem« gefunden zu haben, um die suizidale Psychodynamik einem besseren Verständnis zuführen zu können (S. 73). Im Weiteren betont er wiederholt die Einsicht, dass sich in der suizidalen Erfahrung eine tiefe Ambivalenz findet und weist darauf hin, dass das präsuizidale Syndrom in der Beschreibung von Erwin Ringel bereits einen Teil der gesuchten allgemeinen suizidalen Psychodynamik widerspiegelt (S. 65, 68). Henseler versteht die suizidale Krise als »narzisstische Krise« und folglich die Psychodynamik aus der Entwicklung bzw. der infolge frühkindlicher Traumatisierung »fehlgeleiteten« Entwicklung des narzisstischen Systems. Dabei sieht er den Ausgangspunkt jeglicher suizidalen Krise im narzisstischen Sinne in dem Schritt aus dem sog. frühkindlichen »Primärzustand«. Im Primärzustand wird für Henseler keine Trennung von Selbst und Welt, von Innen und Außen erlebt. Sondern, so mutmaßt Henseler, dies »muss ein Zustand von Harmonie, Behagen, Spannungsfreiheit, fragloser Sicherheit und Geborgenheit sein« (S. 74). Nun könne zwar dieser Zustand nicht erinnert werden – was ja nebenbei bemerkt auch fraglos unmöglich wäre, wenn die Annahme fehlender Differenz den Zustand korrekt wiedergibt –, aber indirekt sowohl aus dem »Verhalten des Säuglings« aber auch aus der tiefen Sehnsucht des Menschen nach einem solchen »Paradies« und auch aus psychopathologischen Zuständen geschlossen werden (S. 74). Diese Annahme und Eingangsvoraussetzung seines Verständnisses widerspricht nun allerdings seiner im Vorfeld dargestellten hermeneutischen Methode und wäre übrigens im habermasschen Sinne als positivistisch abzulehnen. Auch infolge der neueren, intensiver empirisch orientierten Säuglingsforschung zeigt sich aus empirischer Sicht, dass die psychoanalytische Annahme eines paradiesischen »Primärzustandes« als eine haltlose Unterstellung angesehen werden muss (Stern 1991; Dornes 1997). Es stellt sich aber noch eine andere Frage. Da Henseler die weitere Entwicklung des Kleinkindes als die zunehmende Erschütterung dieses »Primärzustandes« versteht, der schließlich in die Trennung von Selbst (Ich, Innen) und Nicht-Selbst (Welt, Außen) führt – er bezeichnet diesen Schritt als »Urverunsicherung« (S. 75) – müsste ja letztlich jeder Mensch sich im narzisstischen Sinne »fehlgeleitet« entwickeln 452 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit

und nachher ein hohes Risiko für suizidale Krisen aufweisen. Denn schließlich ist diese »Urverunsicherung« alternativlos für die menschliche Entwicklung, da er sonst im »Primärzustand« verbliebe. Henseler geht aber davon aus, dass die späterhin suizidalen Menschen diesen Schritt so massiv erlebt hätten, dass ihnen ihr »Urselbstvertrauen« zugleich mit verloren ging. Und nur insofern konnte diese »Urverunsicherung« nur noch »fehlgeleitet« kompensiert werden, sei es im Sinne einer erhöhten Möglichkeit der Regression auf diesen (verlorenen) Primärzustand oder durch Verleugnen des Negativen (Negatives als Fortsetzung der »Urverunsicherung«) und Idealisieren des Realen (Realität als Fortsetzung des »Primärzustandes«). Dahingegen sieht Henseler die normale Entwicklung des »narzisstischen Systems« darin, dass ein verinnerlichtes Ideal des eigenen Selbstseins dem realen Dasein ausgleichend und als eine Art »Rückendeckung« zur Seite steht (S. 79). Die in der normalen Entwicklung unverzichtbaren Kompensationsmechanismen sind die Angleichung an die Realität und die Verinnerlichung des Ideals. Streng genommen formuliert Henseler in dieser These – im Gefolge von Heinz Kohut (1913–1981) – eine stete innerliche Widersprüchlichkeit zwischen zwei differenten Selbstzuständen, die beim lebenden Menschen jedoch eine Funktionseinheit bilden (S. 80). Das Angleichen an die Realität führt zu einem realen Selbst, welches sich von einem Ideal-Selbst unterscheidet und zugleich in einem steten Bezug damit verbleibt. »Merkwürdigerweise kann ein Mensch auf ein gewisses Maß an Vollkommenheitsillusion nicht verzichten […] Jeder Mensch trägt neben dem realen Bild der eigenen Person (reales Selbst) in sich ein dunkles, kaum bewusstes, aber erschließbares Idealbild seiner selbst, welches ihm die Gewissheit gibt, bei allen tatsächlichen Fehlern und Mängeln im Grunde doch ›ganz in Ordnung‹ zu sein. Dieses so genannte Idealselbst ist ein kleiner Privatwahn, den wir uns gönnen, weil wir ohne ihn nicht leben können. Das Ideal-Selbst hat eine Art Pufferfunktion. Würden wir uns jeweils so fühlen, wie es dem realen Bild unserer Person entspricht, würden wir ständig hin und her gerissen sein in unserem Selbstgefühl. Das Ideal-Selbst kann diese Schwankungen dämpfen, indem es dem Über-Ich und der Außenwelt gleichsam versichert: Tatsächlich bin ich heute miserabel, aber das ist nur vorübergehend; eigentlich und im Grunde bin ich gut.« (S. 77)

Dem entgegen stehen Menschen ohne dieses verinnerlichte und erreichbare, »rückendeckende« Ideal-Selbst der Aufgabe des Aufrechterhaltens eines positiven Selbstgefühls vollkommen anders gegenüber. 453 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Henseler nennt vier »Kompensationsmechanismen«, die dann noch zur Verfügung stehen, um reale Kränkungen aushalten und ertragen zu können (S. 80): 1. die Realitätsprüfung und eventuell Realitätsangleichung sowie 2. den Rückzug auf verinnerlichte Idealbilder; wenn das nicht ausreicht, 3. die Verleugnung und Idealisierung; und wenn das nicht genügt, 4. Verschmelzungsphantasien und deren Agieren als Ausdruck der Regression auf den harmonischen Primärzustand. Im ersten Fall (1. und 2.) geht es also insbesondere um die vorübergehende Aufkündigung des Zusammenhangs von Ideal-Selbst und realem Selbst, die als eine Art Notfallreaktion durchaus auch beim (psychisch) gesunden Menschen vorkommen könne. Problematischer ist in Henselers Sicht die Verleugnung und Idealisierung, wobei »die schmerzliche Realität« verleugnet wird und durch großartige, gegenteilige Phantasien ersetzt wird. Hierdurch ergibt sich eine immer größere Diskrepanz von realem Selbst und Ideal-Selbst, welches nun auch als grandioses Selbst bezeichnet werden könnte und gewissermaßen unkorrigierbar geworden ist (S. 81 f.). Entsprechend wird alles, was im Dienste des realen Selbst steht, in einer unerträglichen Diskrepanz zum Ideal-Selbst erlebt. So werden Aggression und Abgrenzung häufig als katastrophal in seinen Auswirkungen phantasiert. Als allerletzte Möglichkeit verbleiben dann – um ein positives Selbstgefühl zu retten – nur noch »Verschmelzungsphantasien« und deren »Agieren« in Beziehungen als Ausdruck versuchter »Regression« auf diesen harmonischen »Primärzustand«. Letztlich können wir dies so verstehen, dass nach Henseler ein stetes Abgleichen von Ideal-Selbst und realem Selbst geschieht, wobei das reale Selbst im Mittelpunkt steht und das IdealSelbst gewissermaßen eine Art »Rückendeckung« darstellt. Die stete Implikation beider Selbste vom jeweils anderen her ist hierbei der gesunde »Normalfall«. Geht nun dieses stete Verweisen und Abgleichen verloren, geschieht auf der einen Seite eine Verschlossenheit – im Sinne des beckschen Modells als ein Verlust von »Problemlösefähigkeiten« in der sozial teilbaren Realität verständlich – und auf der anderen Seite ein Sich-Verlieren in Phantasien – im Sinne des ringelschen Modells als ein Fliehen in private »Verschmelzungsphantasien« verständlich. Henseler verbindet also die beiden Modelle, indem er beiden Modellen einen jeweils anderen Selbstzustand zuordnet, die im gesun454 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit

den »Normalfall« so eng miteinander verwoben sind, dass sie zumeist gar nicht voneinander unterschieden werden. Henselers Modell bietet auch ein Verständnis derjenigen »Probleme«, die in besonderer Weise geeignet sind, suizidale Krisen zu provozieren und auszulösen. Denn der narzisstisch gestörte Mensch neigt modellgemäß dazu, alle Beziehungen mit anderen Menschen im Sinne »narzisstischer Objektbeziehungen« zu gestalten. Henseler versteht die Gestalt »narzisstischer Objektbeziehungen« ausgehend von Freud im bereits erwähnten Sinne. »Haben selbstunsichere Menschen einen Partner gefunden, der so ist wie sie, der so ist, wie sie früher einmal waren, oder der so ist, wie sie eigentlich sein möchten, bedeutet das eine hohe narzisstische Zufuhr, einen Gewinn von Sicherheit, womit ihr labiles narzisstisches System stabilisiert wird. Da der narzisstische Charakter der Objektbeziehungen aber eine starre Bedingung ist, sind solche Verbindungen sehr konfliktanfällig.« (S. 83) Dies hat nach Henseler damit zu tun, dass die Idealität der Beziehung letztlich auf einer Illusion gründet, die stets durch die Realität gestört werden kann. Das dargestellte Verständnis von Henseler erinnert in mancherlei Hinsicht an die theoretischen Annahmen, die auch Ringel – hierbei der Neopsychoanalyse folgend – angenommen hat. Auch hier erscheint uns der entscheidende Punkt der zu sein, dass beim zum Suizid neigenden Menschen eine innerliche Widersprüchlichkeit vorliegt. Diese innerliche Widersprochenheit der Person findet sich im Zusammengehören von Riesenerwartungen und Riesenansprüchen und der zuweilen tollkühnen Überkompensation vor sich und der Umgebung. Auch Henseler könnte diesem Zusammenhang wohl zustimmen, formuliert ihn aber in einem anderen, strenger systematischen Modell, welches seinerseits dieses Zusammengehören kohärent verständlich machen kann. Hierbei führt die zunehmende Diskrepanz und Widersprochenheit von realem Selbst und Ideal-Selbst zur Manifestation von Riesenerwartungen und Riesenansprüchen und entsprechenden großartigen Kompensationen. Ringel hat später das Konzept der suizidalen Krise als narzisstische Krise aufgenommen und sich darin – durchaus zu Recht – zugleich bestätigt gefühlt. So sieht Ringel in seiner großen Schrift zur suizidalen Erfahrung aus dem Jahr 1978 im fehlenden »Urvertrauen« die Basis für späterhin entstandene suizidale Krisen (Ringel 1999b, S. 14 ff.). Zugleich formuliert er dabei ein sehr allgemeines Konzept der frühen kindlichen Entwicklung, welches sich nach den Polen »Urvertrauen vs. Urmisstrauen« ordnet (S. 14). Dieses sehr all455 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

gemeine Konzept Ringels bietet rückblickend noch etwas leichter als das etwas kompliziertere Verständnis von Henseler einen Wechselpunkt zu empirischen Modellen an, in denen niedrige Selbstachtung (»low self-esteem«) wiederum einen entscheidenden Stellenwert hat. Die These hierzu ist, dass sich der »gekränkte« Mensch mit geringer Selbstachtung und gering ausgeprägtem Urvertrauen niemals seiner selbst sicher sein kann. Tatsächlich können wir Ringels Verständnis der späten 70er Jahre partiell auch als Ausdruck der zunehmenden empirischen Forschung zu diesem Thema verstehen. Ein in diesem Sinne selbstunsicherer bzw. narzisstisch gestörter Mensch muss nun als ein Mensch verstanden werden, der sich stets aufgefordert erlebt, seine erlittenen narzisstischen Kränkungen nicht zur »narzisstischen Katastrophe« anwachsen zu lassen. Eine Möglichkeit, dies zu verhindern, besteht nach Henseler darin, dass dem völligen Zusammenbruch des narzisstischen Gleichgewichts aktiv zuvorgekommen wird. Dies dadurch, indem das reale Selbst endgültig aufgegeben und darin das Ideal-Selbst gerettet wird. Dieses versteht Henseler als einen aktiven Versuch der Regression auf den Primärzustand, wobei gezwungenermaßen mit einem diffus erlebten Objekt (also einem konkreten Weltaspekt) verschmolzen wird (Henseler 1984, S. 84). Er formuliert diesbezüglich fünf Thesen, welche aus seiner Sicht die suizidale Psychodynamik verständlich machen können (S. 85): 1. Der zur Selbstmordhandlung neigende Mensch ist eine in ihrem Selbstgefühl stark verunsicherte Persönlichkeit. 2. Das heißt für sein subjektives (bewusstes und auch unbewusstes) Erleben, dass er sich vermehrt bedroht fühlt, in einen Zustand totaler Verlassenheit, Hilflosigkeit und Ohnmacht zu geraten, aus dem er sich selber nicht retten kann. 3. Zum Schutz seines Selbstgefühls bedient er sich deshalb in hohem Maße der Realitätsverleugnung und der Idealisierung der eigenen Person wie seiner Umgebung. 4. Reichen diese Schutzmechanismen nicht aus, muss er zu noch primitiveren Mitteln greifen, nämlich zu Phantasien vom Rückzug in einen harmonischen Primärzustand. 5. Indem er diese Phantasie in Handlung umsetzt, kommt er der drohenden narzisstischen Katastrophe aktiv zuvor und rettet für sein Empfinden sein Selbstgefühl. Er verzichtet zwar auf seine Individualität zugunsten einer Verschmelzung mit einem diffus 456 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit

erlebten primären Objekt, gewinnt aber Sicherheit, Geborgenheit, Ruhe und Seligkeit. In diesem Verständnis von Henseler geht es also darum, dass der Mensch letztlich Todes- und Suizidphantasien entwicklt. Denn erst hierin kann das unspezifische Konzept der narzisstischen Krise tatsächlich als suizidale Krise kenntlich werden. Wie Henseler selbst sagt, ist dieses Konzept der narzisstischen Krise in seiner Struktur eben beispielsweise auch auf Alkoholrückfälle bei Alkoholabhängigen oder andere Fluchtbewegungen aus der »Realität« anwendbar. Die Stärke dieses Konzepts liegt aber gerade in dieser Unspezifität, da es andere Variablen, beispielsweise aus dem biologischen oder sozialen Bereich, nicht ausschließt. Diese Stärke kann durchaus als eine allgemeine Eigenart unspezifischer Strukturkonzepte – wie des Stress-Modells oder auch anderer Vulnerabilitäts-Modelle (vgl. auch das Diathesis-stress-hopelessness-Modell) – verstanden werden, insofern diese als prinzipiell besonders anschlussfähig für andere Modelle angesehen werden können. Henselers Modell kann jedoch noch weitere Aspekte anderer suizidologischer Modelle aufnehmen. So kann innerhalb seines narzisstischen Verständnisses der suizidalen Erfahrung sowohl die Umkehrung der Aggression gegen sich selbst als auch die erschwerte Kontrolle von Impulsen und »Flüchtigkeit von Suizidimpulsen« schlüssig reformuliert werden. In Henselers Sicht zeigt sich die Autoaggression beispielsweise als Ausdruck einer tiefergehenden Störung, sie ist gewissermaßen ein Epiphänomen und kann keineswegs als zentrales Merkmal der suizidalen Krise gelten (S. 87). Das Appellverhalten wiederum versteht sich aus seiner Sicht vorwiegend als »Versuch, das für das narzisstische Gleichgewicht unverzichtbare, aber enttäuschende Objekt zurück zu gewinnen und die Kränkung auszugleichen« (S. 89). In diesem Sinne wird dann auch verständlich, inwiefern insbesondere der Verlust einer narzisstisch geliebten Person Anlass für eine suizidale Krise sein kann. In diesem Sinne gilt für Henseler: »Die Suizidhandlung ist eine Konfliktlösung.« (S. 89) In seinen Verständnisbemühungen unterstreicht Henseler insbesondere das Auseinandertreten von Phantasie und Realität in der suizidalen Erfahrung. Die »realitätsfernen Vorstellungen vom Tod« zeigen den Tod entweder als »Zuflucht aus einer unerträglichen Situation« oder als »Zuflucht in einen harmonischen Zustand« (S. 90). Darin auch liegt aus seiner Sicht die »beruhigende Wirkung« des Ent457 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

schlusses, sich umzubringen. Denn nun ergreift der Mensch ein letztes Machtmittel, welches ihm nicht genommen werden kann, insbesondere aber in Hinsicht der Phantasie den eigenen Tod als ein Opfer erscheinen lässt (S. 92). Um aber in eine solche Verfassung zu gelangen – die häufig durch den Verlust eines narzisstisch geliebten Objekts entsteht –, bedarf es eines Konflikts, der eine besondere narzisstische Wertigkeit besitzt. Denn diese sind aus Henselers Sicht besonders geeignet, um die suizidale Qualität einer narzisstischen Krise zu bedingen. Wir hatten bereits gesehen, dass dies insbesondere hinsichtlich der interpersonalen Dimension, dem Geborgensein in einer Gemeinschaft, anzunehmen ist. Henseler benennt insofern auch drei typische interpersonale Konfliktmuster (S. 93): 1. Konflikte in Bezug auf die psychosexuelle Identität, 2. Konflikte in Bezug auf Wert und Macht, 3. Konflikte in Bezug auf das Akzeptiertsein schlechthin. Zu 1.): Dem narzisstisch verunsicherten Menschen ist in den frühen Kinderjahren die »für die normale Geschlechtsentwicklung notwendige Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil nicht möglich« gewesen (S. 120). Die Kompensation findet sich in einer »narzisstischen Objektbeziehung«, wobei der Partner idealisiert wird und »zur Aufrechterhaltung der eigenen narzisstischen Sicherheit« dient (S. 120). Zwar sind im Rahmen dieser Beziehung Entwertungen auch des Partners möglich, aber zur suizidalen Krise kommt es erst infolge einer »brüsken Konfrontation mit der Realität des Partners«, die diesen alles andere als ideal zeigt und so den latenten narzisstischen Konflikt innerhalb des Menschen aufbrechen lässt. Zu 2.): In Henselers Sicht ist dies die inhomogenste Gruppe. Sie gleicht sich allerdings in dem Punkt, dass diese Menschen in ihrer vom Prinzip her geordneten Familie ein grundlegendes Gefühl von fehlender Vollwertigkeit entwickelt haben, insofern sie sich »nie als gleichwertige Partner fühlen konnten«. In dieser Gruppe zeigt sich entsprechend auch eine deutliche Geschlechterspannung, insofern Henseler in seiner Untersuchung dieser Gruppe von 8 Patienten insgesamt 7 Frauen und nur 1 Mann zuordnen konnte. Allerdings findet sich eine vergleichbare Partnerwahl. »Er ist jemand, der eine ähnliche Problematik hat, der aber besser in der Lage ist, mit ihr fertig zu werden. Er wird dann als starker Mann, als Retter in der Not erlebt, an dessen Macht und Größe man partizipieren kann.« (S. 139) Diese »narzisstische Ob458 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit

jektwahl« fällt damit zumeist auf einen sadistischen Partner. Bricht im steten Machtkampf dann die »basale Solidarität« ein, bleibt als letztes Mittel oftmals nur noch der Suizidversuch (S. 135). zu 3.): Die Menschen dieser Gruppe durchlitten in ihrer frühen Kindheit Traumatisierungen, durch welche das Selbstgefühl grundlegend schwer erschüttert worden ist. Sie haben sich als schlechthin nicht akzeptiert erlebt und prüfen in ihren Beziehungen, »ob es überhaupt jemanden gibt, der dauerhaft zu ihnen hält, der für sie da ist, der sie annimmt.« (S. 161) Das stark überhöhte und als grandios bezeichenbare Ideal-Selbst kann die stets sich wiederholenden Enttäuschungen in der Realität nur schlecht abpuffern und führt fast regelhaft in »narzisstische Katastrophen« – also in eine Überforderung der »narzisstischen Problemlösefähigkeiten« –, die dann die Flucht in »Verschmelzungsphantasien« auslösen. Der Suizidversuch wird zumeist ohne längere Vorbereitungszeit in einer Situation unternommen, in welcher die Hoffnung, doch noch irgendwann als Mensch akzeptiert zu werden, endgültig verloren erscheint (S. 152 f.). Der Aspekt des Appells scheint, so jedenfalls Henselers Modell, in diesen suizidalen Erfahrungen weitgehend zu fehlen. In psychiatrischer Hinsicht weisen die Menschen dieser Gruppe zudem häufig krankheitswertige Störungen von Phobien, Ängsten, Depressionen und Sucht auf (S. 165). Bei dieser Gruppe findet sich darüber hinaus, so Henselers Erfahrung aus längerfristigen Therapien, die größte Ambivalenz in Beziehungen, die sich in einem raschen Wechsel des Kontakts in der nachfolgenden Therapie zeigt. Henseler nimmt zwar nicht an, dass im Suizid notwendig die »Verschmelzung« phantasiert und anvisiert werden muss. Aus seiner Sicht treten aber immer dann Suizidphantasien auf, wenn die »narzisstische Katastrophe« eingetreten ist und das aktuelle Selbstsein schlechthin unerträglich ist. Zusammenfassend sieht Henseler also zwei Formen einer Konfliktlösung im Suizid, die wir wie folgt zusammenfassen können (S. 89 ff.): 1. Es wird aus der ausweglosen und das Selbstgefühl vernichtenden bzw. diese Vernichtung androhenden Situation herausgesprungen in einen Zustand, der zwar unklar, aber zumindest eine aktive Beendigung dieser unaushaltbaren Bedrohung ist. 2. Es wird aus der steten Bedrohung des Selbstgefühls in eine harmonisch und verschmelzend erlebte Phantasie aktiv hineingesprungen.

459 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Henselers Modell betont damit – auch wenn er selbst dies nicht explizit sagt –, dass es eine zunehmende Paradoxalisierung in der suizidalen Erfahrung gibt. Denn schließlich zeigt sich in seinem Modell als Drehund Angelpunkt des Verständnisses der suizidalen Krise als eine prinzipiell erlebte Unvereinbarkeit von Ideal-Selbst und realem Selbst. Streng verstanden müssen wir seinen Ausführungen folgend also annehmen, dass sich der suizidale Mensch in die Entscheidung gestellt sieht, eines dieser beiden Selbste aufgeben zu müssen. Dies kann er aber im Leben gar nicht durchhalten, so dass sich die suizidale Krise verschärft. Weiterhin müssen wir in diesem Modell annehmen, dass dieser Widerspruch dem suizidalen Menschen bewusst und einsichtig ist und zumindest im Sinne einer Spannung erlebt wird. Jedoch kann, so wir Henselers Modell folgen, dieser Widerspruch von Realität und Idealität in der suizidalen Krise nicht aufgelöst werden, die Spannung bleibt bestehen. Wenn der Suizid in diesem Modell eine Art von »Problemlösung« darstellt, dann in dem Sinne, dass er als die »Flucht aus der inneren Widersprochenheit« verstanden werden kann. Dieses Modell hat allerdings einige Schwierigkeiten, die es anzusprechen gilt. Hier ist zum einen die Bedeutung der Phantasie und des Ideals zu befragen. Sicherlich versteht sich das ideale Selbst auch als ein phantasiertes bzw. phantasierbares Selbst, welches ein persönliches, d. h. lebensgeschichtliches Muster aufweist. Dieses kann aber keineswegs mit dem angenommenen »Primärzustand« als eine Art von psychoanalytischer »unio mystica« verglichen werden. Zum einen, weil der »Primärzustand« als solcher eine retrospektive Annahme ist. Zum anderen, weil sich diese Annahme nach heutigem Kenntnisstand über die Fähigkeiten von Säuglingen nicht halten lässt (s. o.). Zum dritten aber insbesondere deshalb, da der angenommene »Primärzustand« mit dem, was er benennen soll, von vornherein nichts zu tun haben kann. Denn entweder soll er einen Zustand des Säuglings benennen, von dem wir aber direkt nichts mehr wissen, oder er soll eine adulte Phantasie von einem solchen säuglingshaften Zustand benennen, womit er dann aber nicht mehr »der Primärzustand« wäre, sondern seinerseits eine (psychoanalytische) »Verschmelzungsphantasie«. Aus Gründen der logischen Konsequenz müsste Letzteres angenommen werden. Dann aber wird der Status der erlebten »Verschmelzung« als Phantasie fragwürdig. Denn die Ungeschiedenheit von mir und meiner Welt mag zwar nicht der »Normalfall« sein, ist aber dennoch die unbezweifelbare Voraussetzung dafür, dass ich mir in meiner Welt gegeben sein kann. Ohne 460 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit

ein präreflexives und präobjektivierendes, passives Gegebensein als Inder-Welt-sein könnte mir nichts begegnen, am wenigsten ich mir selbst. Damit tun sich zwei »Abgründe« um Henselers Modell auf. Der erste Abgrund ist, dass die fehlende Unterscheidung von »Verschmelzung« und »Phantasie« die Behauptung ermöglichen würde, dass seinem Modell gemäß der suizidale Mensch die Ungeschiedenheit des Inder-Welt-seins nahezu ständig erlebe. Inwiefern er sich in diesem eudaimonischen Zustand noch töten müsste, wäre jedenfalls fragwürdig. In dieser Richtung würde das Modell alle Verständniskraft verlieren. Der zweite Abgrund ist die übliche Schwierigkeit derjenigen Modelle, die argumentieren, dass der suizidale Mensch zwingend in seinem Tod ein »Paradies« erblicken müsse. Dieses Problem hatte schon Platon umgetrieben, der eine doppelte antisuizidale Absicherung um seinen sokratischen Dialog »Phaidon« legte. So einleuchtend der Gedanke einer »Flucht in die Phantasiewelt« ist, so unverständlich bleibt, inwiefern sich dann nicht noch viel mehr Menschen den Tod geben, wenn sie in ihrer Verzweiflung im Tod das »Paradies« erblicken. Geht das Modell dann nicht davon aus, dass das Leben dem Menschen in einer »verschmelzungslosen« Kargheit wesentlich erfüllender sein soll als ein Leben mit der sicheren Aussicht auf »Verschmelzung«? Auch wenn Henselers Modell dieses Problem nicht berücksichtigt, so müssen wir annehmen, dass er ganz offenbar davon ausgeht, dass der suizidale Mensch seine Phantasien immer noch als Phantasien durchschauen kann. Dem suizidalen Menschen ist, so die Konsequenz, der Suizid als Flucht aus der inneren Widersprochenheit seiner Person immer noch erkennbar. Damit aber wird diese innere Widersprochenheit zum zentralen Dreh- und Angelpunkt seines Modells, wobei sich diese – modellgemäß und erfahrungsbestätigt – in der suizidalen Erfahrung immer weiter aufspannt. Trotz dieser eleganten Anbindung des Modelles an die suizidale Erfahrung bleibt aber weiterhin für psychoanalytische Verständnisse zu fordern, dass ihre Modelle tatsächlich eine Unterscheidung zwischen einer primären Ungeschiedenheit und der Phantasie leisten. Unklar bleibt dennoch abschließend, inwiefern eine Therapie dem verzweifelten Menschen helfen könnte, deren Versprechen nur eine karge Realität ohne Aussicht auf »fraglose Geborgenheit« ist, da sie in ihrer Realitätsprüfung alle »fraglosen Geborgenheiten« als Illusionen zu durchschauen meint. Diese gewisse Überheblichkeit des psychoanalytischen Wissens haben sowohl Jean Améry, Karl Jaspers als auch In461 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

geborg Bachmann rückhaltlos kritisiert. Sie ist zudem im Sinne der hermeneutischen Methode ihrerseits positivistisch. Auch Erwin Ringel hat sich dieser Schwierigkeit gestellt. Für ihn gibt das Leben selbst eine Antwort auf die Frage nach dem »Wozu«: »Es gilt also, die Mitte zu finden zwischen Todesverdrängung und übertriebener gedanklicher Todesbezogenheit. Können Philosophie und Religion weiterhelfen? Sicherlich sind sie wichtig, aber eines scheint klar: das Todesproblem kann rein gedanklich nie gelöst werden, sondern eher mit dem Heranführen des gelebten Lebens an ihn. In diesem Sinne heißt leben lernen, nicht für sich allein zu leben. Sterbenkönnen bedeutet die Bereitschaft, für andere da zu sein, sich für andere aufzugeben.« (Ringel 1999b, S. 238) Hierzu gehört aber unabdingbar, die Geborgenheit im Anderen dann auch als fraglos (im eigenen Theoriegebäude) annehmen zu können. Im dargestellten psychoanalytischen Modell der 70er Jahre gelingt dies zumindest noch nicht.

6.

Die Unertrglichkeit des Selbst und der psychische Schmerz: Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Edwin S. Shneidman

In den 70er Jahren entwickelt der amerikanische Psychologe Edwin S. Shneidman (1918–2009) ein empirisch fundiertes Verständnis der suizidalen Krise, welches insbesondere die Unerträglichkeit des eigenen Selbstseins in der suizidalen Erfahrung betont. Sein Verständnismodell wendet sich demnach ebenfalls der Selbsterfahrung des suizidalen Menschen zu und entspricht damit dem Trend zeitgenössischer psychodynamischer Verständnisse. Shneidmans Verständnis der suizidalen Erfahrung kulminiert in dem Kunstbegriff »psychache«, womit er einen unerträglichen und als unausweichlich erlebten psychischen Schmerz meint. »Psychache refers to the hurt, anguish, soreness, aching, psychological pain in the psyche, the mind. It is intrinsically psychological – the pain of excessively felt shame, or guilt, or humiliation, or loneliness, or fear, or angst, or dread of growing old, or of dying badly, or whatever. When it occurs, its reality is introspectively undeniable. Suicide occurs when the psychache is deemed by that person to be unbearable. This means that suicide also has to do with different individual thresholds for enduring psychological pain.« (Shneidman 1993, S. 51) Shneidman veröffentlicht bereits 1957 mit Norman Faberow ei462 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Edwin S. Shneidman

nige Thesen zum empirischen Verständnis des Suizids, die mit diesem Gedanken arbeiten. Auch wenn sich Shneidman damals noch intensiv mit der Frage nach der inhärenten Logik des Suizids bzw. der suizidalen Krise in Hinsicht auf den »Appellcharakter« beschäftigt, betont er bereits in dieser frühen Arbeit, dass sich viele Menschen das Leben aufgrund einer »excruciating pain« nehmen, der eindeutig ein psychischer ist (Shneidman/Farberow 1957). Zugleich benennt er die Widersprochenheit in der suizidalen Erfahrung, dass einerseits der eigene Suizid als das Ende des aktuellen Daseins gesehen wird und zugleich aber davon ausgegangen wird, dass man selbst doch noch irgendwie für die anderen präsent sei. Hierin sieht Shneidman später eine Fortschreibung dieser Unerträglichkeit. Shneidman versteht die Unerträglichkeit in Hinsicht auf lebensnotwendige Bedürfnisse, welche jeweils individuell beim Einzelnen definiert sind. Diese lebensnotwendigen Bedürfnisse unterscheiden sich von solchen Bedürfnissen, die das Leben lebenswert oder gar glücklich machen (Shneidman 1993, S. 53). Auch erstere können außerordentlich unterschiedlich sein, für den Einzelnen scheinen sie jedoch als konstante Bilder des absolut Lebensnotwendigen, ohne welches das Leben keinerlei Sinn mehr anzubieten in der Lage ist. In einer solchen Situation, in welcher alle Möglichkeiten, diese lebensnotwendigen Bedürfnisse zu leben, verloren sind, wird der psychische Schmerz unerträglich. Der Mensch, so Shneidman, ist gewissermaßen »durcheinander« und impulsiver, die menschliche Möglichkeit des Sich-töten-könnens begegnet dem Betroffenen als einzig verbliebene Flucht aus dieser Unerträglichkeit. Deshalb auch erscheint der Suizid, so Shneidman, dem suizidalen Menschen als im Vergleich beste Möglichkeit – und zwar als besser im Vergleich zum Weiterleben mit dem psychischen Schmerz, der sich aus der Sicht des suizidalen Menschen als unüberwindlich darstellt (S. 55 f.). Dieses Modell von Shneidman zeigt uns den suizidalen Menschen als ein selbstbewusstes Wesen, welches seine Situation und seine eigenen Möglichkeit erfährt, reflektiert und schließlich nach einiger Zeit feststellt, dass seine Situation des psychischen Schmerzes – angesichts seiner »Problemlösefähigkeiten«, wie wir mit Bezug auf das becksche Modell sagen könnten, und angesichts seiner phantasierbaren Wunschwelten, wie wir mit Bezug auf die psychodynamischen Modelle sagen könnten – unausweichlich und insofern unerträglich ist. In dieser Situation erscheint ihm der eigene Tod als die letzte Möglichkeit, seinem psychischen Schmerz zu entkommen. 463 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Sicherlich erinnert uns dies auch an Henselers Modell, in welchem die widersprüchliche Spannung zwischen Ideal-Selbst und realem Selbst das entscheidende Maß für die Frage nach der Verzweiflung ist. Allerdings nimmt Shneidman für sein Modell nicht in Anspruch, dass der suizidale Mensch irgendwelcher »Verschmelzungsphantasien« bedarf. Sondern in seinem Modell reicht die schlichte Aussicht auf Erleichterung vom psychischen Schmerz, die der eigene Tod gewährt, um ihn attraktiv erscheinen zu lassen. Aber es erinnert uns dann doch wieder an das Verständnis der suizidalen Erfahrung als narzisstische Krise, da in Shneidmans Modell der Suizid ebenfalls als Flucht erscheint. Insofern wird auch zuweilen von der »Escape Theory of Suicide« geredet (Baumeister 1990). »In this theory, suicide is viewed as an attempt to escape aversive self-awareness.« (Dean et al. 1996) Dieses Modell entspricht dem Erleben suizidaler Menschen ziemlich gut, wie auch die Arbeitsgruppe um Konrad Michel wiederholt zeigen konnte. Es betont die verzweifelte Seite des suizidalen Menschen, ohne jedoch dessen Sicht, im Tod eine letzte Rettung zu sehen, auszublenden oder im Sinne von »Phantasien« zu überhöhen (Michel et al. 1994). Es stellt sich hingegen auch für dieses Modell die Frage, inwiefern bestimmte Menschen eher suizidal werden als andere. Oder in der Begrifflichkeit dieses Modells formuliert: Inwiefern erleiden manche Menschen eher eine unerträgliche Intensität psychischen Schmerzes? Sicherlich gilt es, sowohl nach der typischen Struktur bestimmter Anlässe, Konflikte oder Situationen als auch nach der Struktur der Person zu fragen, die besonders häufig einen solchen psychischen Schmerz erfährt. Es ist von daher naheliegend, sich nochmals mit dem – psychoanalytisch als Narzissmus bezeichneten – Zusammenhang von Selbstbewertung und suizidaler Erfahrung aus einer empirischen Perspektive zu beschäftigen. Denn es ist genau dieser Zusammenhang, den Shneidmans Modell in den Mittelpunkt stellt. Menschen, die sich auch sonst eher wenig achten oder selbst schlecht bewerten, sind als besonders gefährdet für suizidale Krisen anzusehen. Wir erinnern uns hier an Kierkegaard, der genau diese Weise des Zu-sich-verhaltens als wesentlich für die Verzweiflung ausgemacht hatte. Zwar ist empirisch-psychologisch Kierkegaards Verständnis des Selbst und der Verzweiflung gar nicht abbildbar, da es eine ausgedehnt-elaborierte Selbstverständigung einer an sich notwendigen Gegebenheit, nämlich der Selbstgegebenheit, ist. Das empirische Konzept der Selbstachtung (»self-esteem«) greift aber zumindest mehr 464 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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oder weniger die spontane und unüberlegte, gefühlsbetonte Bewertung von sich selbst in der Selbsterfahrung auf. Auch wenn dies nur einen Aspekt des Zu-sich-verhaltens betrifft, kann entprechend diesem Konzept – beispielsweise mit einfachen Selbstaussagen des Betreffenden – eine direkte Perspektive auf dessen Selbststruktur gewonnen werden. Diese Selbsterfahrung hat zumindest zwei unterschiedliche Seiten: a) Die gefühlsbetonte Selbstbewertung ist bereits präreflexiv gegeben, kann nicht verweigert werden und gehört insofern zum Zu-sich-verhalten schon immer dazu; b) Die reflexive Selbstbewertung nimmt das eigene Sosein – das »Wie-man-sich-gerade-gegeben-ist« – in den Blick. Selbstachtung kann insofern durchaus als ein Strukturmerkmal der Person verstanden werden, ohne die Personen als Personen nicht vorkommen können. Selbstachtung ist dabei zudem weniger situativ abhängig, als wir zunächst vermuten könnten. Diese weitgehende Stabilität der Selbstachtung ist dabei insbesondere eine unausweichliche präreflexive Gegebenheit, die wir nur mühsam verändern können. Jedoch gilt dies auch für die reflexive Selbstbewertung, wie bereits in den 80er Jahren in longitudinalen Studien an Kindern und Jugendlichen gezeigt werden kann. Hierbei erweist sich das bewusste und explizite Selbstbild beim einzelnen Menschen über das Leben hinweg als weitgehend stabil (Dusek/Flaherty 1981). Es stellt sich die Frage, ob naheliegende Verbindungen zwischen der Selbstachtung und typischen Konfliktsituationen für suizidale Krisen gegeben sind. Wenn beispielsweise tiefgreifende Beziehungskonflikte im Unterschied zum Scheitern in beruflicher/schulischer Hinsicht viel eher zu suizidalen Krisen führen, ist dies nicht nur ein Hinweis darauf, dass das eigene Verhalten in Beziehungen dem Betreffenden weniger veränderbar erscheint (Joiner/Rudd 1995). Es ist auch ein Hinweis darauf, dass insbesondere diejenigen Menschen in tiefgreifende Beziehungskonflikte geraten können, die sich selbst eher gering schätzen. Dies, da sie häufig davon überzeugt sind, dass andere Menschen hohe Erwartungen an sie stellen, denen sie zu entsprechen hätten, die sie aber eben nicht erfüllen können (Dean et al. 1996). So intensiviert sich wiederum ihre abwertende Selbsteinschätzung. Dabei bestätigt sich auch der Zusammenhang, dass eingeschränkte positive Zukunftsperspektiven mit einer niedrigen Selbstachtung gekoppelt sind und dass dies wiederum die Chance erhöht, suizidal zu werden. Das gilt insbesondere für jugendliche Menschen: »Adolescents with low self-esteem may feel unable to bring about positive changes in 465 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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their lives and are likely to have negative expectations for the future.« (Overholser et al. 1995; vgl. de Man et al. 1993) Dieser Zusammenhang von eingeschränkten positiven Zukunftsaussichten, eingeschränkten »Problemlösefähigkeiten« und dem stabilen Gefühl, sich selbst nicht wirklich achten zu können, zumindest aber nicht so zu sein, wie man gerne sein würde, ist zentral für Shneidmans Modell. Wir können modellgemäß mit ein wenig Übertreibung sagen, dass ein solcher Mensch schon immer ein wenig »psychache« hat, der gewissermaßen niemals ganz verschwindet, allenfalls in bestimmten gelungenen Situationen verdeckt wird. In Situationen, in denen der Mensch dann »mit seinem Latein am Ende« ist, sich nicht mehr zu helfen weiß und auch dem Ganzen keinen Sinn mehr zu entnehmen vermag, steigert sich die Intensität des psychischen Schmerzes und kann dann bis ins Unerträgliche gehen. Entsprechend Shneidmans Modell gilt, dass sich in diesem Moment der eigene Suizid als Flucht anbietet und dass er in dieser Verfassung als beste Möglichkeit bedacht wird. Diese Zusammenhänge können auch im Modell der »Salutogenese« formuliert werden, wie es von Aaron Antonovsky (1923–1994) vorgestellt wurde (Antonovsky 1979; ders. 1983; ders. 1987). Dabei geht es Antonovsky primär um ein empirisch prüfbares Konzept, welches verständlich macht, inwiefern manche Menschen gesund bleiben, obwohl andere Menschen in empirisch vergleichbar scheinenden Situationen erkranken (sog. »Salutogenese«). Dabei gilt, dass ein fehlendes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, anstehende bzw. auftretende Probleme erfolgreich zu bewältigen (»zu managen«, manageability), als auch ein geringes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, anstehende bzw. auftretende Situationen angemessen verstehen zu können (comprehensibility), wesentliche Faktoren sind, um nicht gesund bleiben zu können und kein stimmiges Gefühl des Eigenen im Ganzen (sense of coherence) zu haben. Nichts anderes scheint in der suizidalen Erfahrung zu geschehen (Petrie/Brook 1992). Wir können uns zugleich Petries und Brooks Kritik am beckschen Modell anschließen, wenn darauf verwiesen wird, dass das reine Lösen von Problemen nicht ausreichend ist, um sich wohl zu fühlen. Dem Menschen geht es auch immer darum, in einer gegebenen Situation eine Bedeutung und einen Sinn (meaning) zu finden und die Frage nach dem »Wozu« für diesen Moment beantworten zu können. »However, over the longer period, manageability of their view of whether they have the resources to cope with, and manage, the demands placed on them, and comprehensibility, 466 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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the extent to which one perceives the world as making sense, are the subscales most closely related to suicidal thoughts and behaviour at six months (after attempted suicide J. S.).« (Petrie/Brook 1992) Offenbar gilt in diesem Modell: »A high SOC (Sense of coherence) score, which implies a tendency for the individual to regard life as having some purpose, and to believe that difficulties can be overcome and that the world is understandable, was in this sample clearly associated with a low level of current suicidal ideation.« (Mehlum 1998) Dieses Modell bestätigt nicht nur erneut, dass Menschen mit negativ getöntem Selbstbild leichter in eine (suizidale) Verschlossenheit hineingeraten. Es betont zugleich, dass sich der Mensch selbst kohärent zu verstehen genötigt sieht. Gewissermaßen wird derjenige Mensch, der sich selbst nicht kohärent und sinnvoll verstehen kann, eher suizidal oder aber ist bereits suizidal. Shneidmans Modell trägt dem Umstand Rechnung, dass der Mensch ein sinnausweisendes Selbstverständnis benötigt – »comprehensibility« wäre in seinem Modell ein »lebensnotwendiges psychisches Bedürfnis« – und auf eine Antwort auf die Frage nach dem »Wozu« seines Lebens nicht verzichten kann. Ein solches sinnausweisendes Selbstverständnis fehlt nun aber in der suizidalen Erfahrung nicht schlechterdings, sondern kommt eben in suizidaler Weise zu sich. In einer suizidalen Erfahrung wird freilich nicht, gewissermaßen in freier Erfindung, von sich selbst als schwach und hilflos erzählt. Vielmehr setzt die in dieser Erzählung gefasste Selbstbeschreibung eine entsprechend beschreibbare (präreflexiv gegebene) Struktur seiner selbst voraus, welche wiederum eine dieser Struktur zugehörige Selbstvergewisserung überhaupt erst ermöglicht. Die besondere Dramatik besteht also darin, dass diesem Zusammenhang des Zu-sich-verhaltens nicht fundamental ausgewichen werden kann. Dennoch aber braucht es mehr für eine suizidale Verfassung als nur eine Unerträglichkeit, wie auch Shneidman betont. Die reine Verzweiflung reicht noch nicht aus, um bereits suizidal zu sein. Denn nur wenn im Tod auch eine letzte Rettung anvisiert werden kann, macht die »Flucht« in den eigenen Tod für den verzweifelten Menschen tatsächlich Sinn. In Shneidmans Modell bedarf es hier jedoch keiner »Verschmelzungsphantasien«, sondern es reicht die Erkenntnis, dass der Tod den psychischen Schmerz beenden wird: »A conscious decision that egression – leaving, exiting, or stopping life – is the only (or at least the best possible) solution to the problem of unbearable pain.« (Shneidman 1993) So müssen wir streng 467 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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genommen auch für das shneidmansche Modell schlussfolgern, dass sich der Mensch in der suizidalen Erfahrung als zweiseitig erfährt: auf der einen Seite erlebt er den unerträglichen psychischen Schmerz der aktuellen Verfassung ohne Aussicht auf Veränderung, auf der anderen Seite erfährt er das Versprechen der Flucht aus diesem psychischen Schmerz im eigenen Tod. Dabei geht es, jedenfalls für Shneidman, in der suizidalen Erfahrung um eine in der Person angesiedelte Widersprochenheit, die sich insbesondere im Gewand der Differenz von Idealität und Realität zeigt. Inwiefern sich hier aber eben gerade auch eine Differenz eröffnet, die sich um die Frage nach dem »Wozu« der ganzen Veranstaltung bzw. dem Sinn des eigenen Lebens ordnet, ist zwar zu vermuten, aber in Shneidmans Modell nicht explizit erörtert.

7.

Exkurs: Suizidale Selbstspaltung und suizidale Interaktion bei Jrgen Kind

Jürgen Kind (geb. 1938) veröffentlicht 1992 eine viel beachtete psychoanalytische Untersuchung zur suizidalen Erfahrung, in welcher er insbesondere auch Formen lebensbegleitender suizidaler Erfahrungen betrachtet, d. h. Menschen, die wiederholt in suizidale Krisen geraten und denen Suizidalität beinahe alltäglich präsent ist. Der theoretische Rahmen, der in großen Teilen die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie nutzt, ermöglicht Kind zugleich die Betrachtung der suizidalen Erfahrung im sozialen Feld. Er bemüht sich dabei ganz besonders um ein psychodynamisches Verständnis der suizidalen Verfassung von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Dennoch erarbeitet er aber kein rein störungsspezifisches Verständnis, sondern ein umfassenderes psychologisches Verständnis, welches die bisher untersuchten Modelle sinnvoll fortsetzt. Kind versteht »Suizidalität« »nicht lediglich als Zeichen einer seelischen Dekompensation […], sondern darüber hinaus als eine psychische Funktion. Diese wird als ultima ratio dann eingesetzt, wenn intrapsychische oder interpersonelle Krisen auf andere Weisen nicht mehr handhabbar scheinen.« (Kind 1992, S. 13) Diese Grundannahme Kinds spricht die Notwendigkeit an, dass wir nach dem Sinn der suizidalen Erfahrung fragen müssen, wenn wir diese Erfahrung verstehen wollen. Kind meint damit jedoch nicht einen Sinn des reinen Appells oder der simplen Flucht vor der Unerträglichkeit, sondern er meint 468 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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einen spezifischen, gewissermaßen intrapsychischen Sinn. Jede suizidale Erfahrung, so Kind, ist auch immer ein Hinweis auf »einen komplexen psychischen Reorganisationsvorgang«. So verstanden ist sie auch als eine »regulierende« evtl. sogar »stabilisierende Funktion« zu verstehen, die allerdings lebensgefährlich sein kann. In diesem Rahmen spricht er von der »suizidalen Interaktion« als einer »Geiselnahme des Ich am Selbst«, deren Ziel die Änderung einer Objektbeziehung ist, welche dann wieder das »Gefühl der Existenzberechtigung« auszusprechen vermag (S. 21 f.). In den »suizidalen Interaktionen« geht es in Kinds Verständnis vorwiegend um Beziehungen, in denen Schuld, ohnmächtige Wut und Abhängigkeiten »im Stile frühkindlicher Objektbeziehungen reinszeniert« werden (S. 11). Sicherlich gibt es auch Suizide ohne solche Weisen des Miteinanders, jedoch können wir Kinds Hinweis folgen, dass im Falle »suizidaler Interaktionen« die therapeutischen Möglichkeiten größer sind und dass in diesen Fällen die suizidale Krise immer auch in ihrer Funktion innerhalb der Beziehung verstanden werden muss. Gerade in dieser noch gegebenen zwischenmenschlichen Interaktion zeigt sich, so Kind, die Möglichkeit therapeutischer Interventionen, da bei Verlöschen dieser Interaktionen die Verschlossenheit (die »Geiselnahme des Ich am Selbst«) so vollständig sei, dass der Suizid gewissermaßen innerlich »beschlossen« sei. In Kinds Modell versteht sich die suizidale Erfahrung folglich als eine »psychische Funktion«, die in ausweglosen Situationen und unerträglichen Implikationen eingesetzt wird, um diese Verfassung als Krise »lebbar« zu machen, wenn auch diese »Lebbarkeit« zum Suizid hinführen würde, wenn nicht rechtzeitig die Option, sich töten zu können, wieder aufgegeben werden kann, da sie zur Stabilisierung und Regulierung der (inter-)personalen Struktur nicht mehr benötigt wird. In dieser Beschreibung wird die wesentliche Schwierigkeit des psychoanalytischen Konzepts der »Objektbeziehung« deutlich, da in diesem Konzept zwei unterscheidbare Aspekte verwoben sind: a) das Interagieren von zwei unterschiedlichen Personen; b) die »Objektbeziehung« als sie selbst, dem streng verstanden ebenfalls der Rang eines »Subjekts« zugewiesen werden kann. Diese »Interperson« können wir als Sozialität verstehen, als das gemeinsame »Wir«. Wenn Kind von unerträglichen »Objektbeziehungen« spricht, so meint er also nicht nur eine unerträgliche Implikation innerhalb einer Person oder zwischen zwei Personen, sondern dass die Beziehung selbst unerträglich geworden ist. Eine solche Beziehung wäre, so könnten wir es formulieren, für jeden in ihr 469 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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beteiligten Menschen unerträglich. Es bedarf folglich keiner weiteren personalen Voraussetzungen, um diese Gemeinsamkeit letztlich als unerträglich zu erfahren. Wir müssen aber zugeben, dass Kind einer solchen Interpretation seines Modells von »Objektbeziehungen« vermutlich widersprechen würde, da er mutmaßen könnte, dass mit diesem gemeinsamen Wir-Selbst eine Art von »Super-Subjekt« gemeint sein könnte. Dies ist jedoch nicht gemeint, denn dieses Wir-Selbst steht nicht »über« oder »neben« dem sonstigen Subjekt. Sondern dieses »Wir« ist die stets gegebene interpersonale Dimension eines jeden beliebigen Zustandes, den ein Mensch überhaupt einnehmen kann, solange er lebt. Wenn wir diesem Verständnis folgen – wonach also zu einer Beziehung immer drei gehören, wobei dieses Dritte die umgreifende Struktur ist, in der die beiden als Bezogene aufeinander bezogen sind –, wird der Gedanke der »suizidalen Interaktion« nochmals anders fruchtbar für ein Verständnis der suizidalen Erfahrung. Denn dann kann das gemeinsame »Wir«, beispielsweise auch von suizidalem Patienten und nicht-suizidalem Therapeuten, ebenfalls als suizidal verstanden werden. Der Therapeut ist hierbei gewissermaßen im Gemeinsamen seinerseits »suizidal« geworden. Allerdings nun nicht in dem Sinne, dass er sich selbst das Leben nehmen möchte. Sondern in dem Sinne, dass er gemeint ist, doch bitte die verzweifelte Seite des Anderen zu retten. Der Therapeut stellt in dieser suizidalen Gemeinsamkeit dann die letzte Möglichkeit – abgesehen vom Suizid – dar, um das »Wozu« des Lebens doch noch einmal anders zu beantworten. Er ist darin die dem Suizid widersprechende und von den rettenden Möglichkeiten des Lebens redende Seite des suizidalen Menschen. Der Appell, so lernen wir hier, beschreibt also die innere wie auch die interpersonale Widersprochenheit in der suizidalen Erfahrung. Jedoch, obwohl Kinds Verständnismodell diese erweiterte Interpretation zulässt, ist damit der Gehalt seines Modells nicht ausgeschöpft. Denn zentral für sein Modell ist weiterhin dieses suizidale Miteinander, wobei er dem Gedanken der »Interaktion« als einem Wechselspiel zweier bereits zuvor bestehender Entitäten folgt. Er sieht hierin zwar nicht den Aufbau eines gemeinsamen Wir-Selbst, sondern den Erhalt und die Differenzierung einer bereits gegebenen »Objektbeziehung«. Freilich ist dies ja in den allermeisten »suizidalen Interaktionen« auch zutreffend, da es um bereits bestehende Beziehungen geht. Jedoch zeigt dies, dass Kinds Modell der oben vorgeschlagenen 470 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Beschreibung des Miteinanders als einer umgreifenden Struktur, als »Wir«, folgen müsste, um ein erfahrungsangemessenes Modell zu entwickeln. So aber beschreibt Kinds Modell im Wesentlichen das Spiel in der Beziehung, ohne eine Beschreibung der Beziehung als Umgreifendes anbieten zu können, und erlaubt so »nur« ein Verständnis, wie sich diese Beziehung in der »suizidalen Interaktion« erhält und differenziert. Kind entwirft also ein Modell des suizidalen Spiels in der Beziehung und nicht ein Modell suizidaler Bezogenheit. Löst er damit die Schwierigkeit des henselerschen Modells, die darin besteht, dass dem Modell folgend auf die Annahme oder Unterstellung von »Verschmelzungsphantasien« beim suizidalen Menschen nicht verzichtet werden kann? Diese Schwierigkeit versucht Kind zu entschärfen, ohne den Gedanken aufgeben zu wollen, dass es sich in der suizidalen Erfahrung um eine »Rückkehr« der »psychischen Funktionen« auf ein gewissermaßen »kindliches Niveau« handele, worin die schwere »narzisstische Krise« lebbar werde. Um dieses Entschärfen leisten zu können, unterteilt er Henselers Konzept der »Urverunsicherung« in zwei »Übergangsbereiche« der Persönlichkeitsentwicklung, in denen er drei wichtige Schritte aus dem »Primärzustand« unterscheidet (S. 23): 1. die Entwicklung der Kategorien »gut« und »böse« als Voraussetzung für die grobe Unterscheidung zwischen angenehmen und unangenehmen Erlebnissen und Erfahrungen, 2. die Differenzierung desjenigen, was zu einem selbst gehört, von demjenigen, was der Außenwelt zuzuordnen ist (Bildung der Kategorien »Selbst« und »Nichtselbst«) und 3. die Aufhebung der in eine nur gute und eine nur böse Teilwelt gespaltenen Weltsicht (die Integration guter und böser Selbstund Objektrepräsentanzen). Während die ersten beiden Schritte noch näherungsweise dem Konzept Henselers entsprechen, geht der dritte Schritt über Henselers Konzept hinaus. Der dritte Schritt zeichnet insbesondere den zweiten »Übergangsbereich« (Übergangsbereich II) aus, wobei die »Spaltungstendenzen« mit zunehmender Integration der »Selbst- und Objektrepräsentanzen« immer »ich-fremder« werden (S. 86). Damit meint Kind, dass das einseitige Erleben und Erfahren von anderen Menschen bzw. seiner selbst zunehmend als Aspekte ein- und desselben »Objekts« bzw. seiner selbst erlebt und erfahren werden, womit »Spaltungen« schließlich vom Betroffenen als Vereinseitigungen wahrgenommen werden können. Im 471 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Beginn dieses »Überganges II« wird hingegen diese »Spaltung« noch als angemessen erlebt, was Kind folgend bedeutet, dass diese Vereinseitigungen gar nicht erst reflexiv hinterfragt werden können. Sicherlich kann diese strenge »Schwarz-Weiß-Trennung«, die für Kind beim jungen Menschen vorkommen soll, nur als theoriegeleitete Unterstellung verstanden werden. Denn bereits 1992 ist in der empirisch-psychologischen Literatur ausführlich bekannt, dass beispielsweise das Konzept des »primären Autismus«, der Verschmolzenheit und Undifferenziertheit von Selbst und Welt in den ersten Lebensmonaten, unzutreffend ist (vgl. Stern 1991). Auch die abstrakte Unterscheidung »Gut/Böse« muss wohl eher als eine Weiterentwicklung und Differenzierung zuvor anders unterschiedener Aspekte verstanden werden, da diese Unterscheidung immerhin einige formale Denkoperationen erfordert, welche üblicherweise erst im späteren Kindheitsalter erworben werden (Piaget 1990). Unbenommen dieser Kritik gilt aber, dass Kinds Entwicklungsmodell aufs Engste mit seinem Verständnismodell der suizidalen Erfahrung verknüpft ist. Denn für ihn versteht sich die suizidale Krise in ihrer psychischen Funktion entsprechend der »Übergangsbereiche« der kindlichen Entwicklung, auf denen der betreffende Mensch gewissermaßen stehenbleibt bzw. auf das er in krisenhaften Situationen rasch zurückkehrt. Da diese Besonderheiten der Funktionen suizidaler Krisen für ein Verständnis des unterschiedlichen Miteinanders mit suizidalen Menschen hilfreich sind, ist es aufschlussreich, sich – trotz aller gebotenen Kritik – zunächst in Kinds eigenem Theorierahmen zu bewegen: 1. »Fusionäre Suizidalität im Übergangsbereich I«: Kind sieht die Funktion dieser suizidalen Erfahrung darin, dass sich – unter Aufrechterhaltung eines vollständig gespaltenen Welterlebens – eine Phantasiewelt anbietet, mit der als vollkommen real erlebten Möglichkeit des Verschmelzens. Und zwar, so Kind, verschmelzen in dieser Phantasie nur positive Aspekte des Objekts mit positiven Aspekten des Selbst. Kind reformuliert hier letztlich Henselers Modell, nach welchem die »Verschmelzungsphantasien« die entscheidende Anziehung für den Suizid angesichts der verzweifelten Lage sind und eine (psychische) Aufspaltung entlang der Linie Realität-Idealität bedeuten. An ein solches Verständnis sind im Prinzip diesselben Fragen zu richten, wie sie bereits an Henselers Modell gestellt wurden. Dabei geht es darum: a) inwiefern müssen Verschmelzungserlebnisse zwingend als Phantasie deklariert werden; b) inwiefern muss sich ein Mensch noch töten, 472 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wenn er bereits in seinen Phantasien die vollkommene Erfüllung zu finden vermag. Wir hatten diese Fragen auch bereits bei Ringels Modell des »präsuizidalen Syndroms« thematisiert. Zusammenfassend müssen wir aber zu diesem Verständnisansatz festhalten, dass elaborierte »Verschmelzungsphantasien«, wie sie für diese Modelle zu fordern sind, in der suizidalen Erfahrung eher selten sind, wenn sie auch durchaus vorkommen können. Dabei scheinen sie, im Falle ihrer Gegebenheit, durchaus ein entscheidender Motivator für den betreffenden Menschen zu sein, sich das Leben zu nehmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie nicht als »Vorstellungen« bzw. »Phantasien« von dem betreffenden Menschen kritisiert werden können. Jedoch kann diesbezüglich auch die Frage des Selbstopfers (und des phantasierten Publikums) aufgegriffen werden. Denn wie es bereits Euripides seine Iphigenie sagen lässt: »Hellas geb’ ich meinen Leib zum Opfer hin.« (Euripides 1950, S. 54 f.) 2. »Antifusionäre Suizidalität im Übergangsbereich I«: Kind sieht in dieser suizidalen Erfahrung den Ausdruck von »Selbstobjekt-Beziehungen«. Mit dem Konzept der »Selbstobjekt-Beziehungen« greift Kind ein Konzept von Heinz Kohut auf (Kohut 1973). Mit dem Begriff »Selbstobjekt« ist von Kind gemeint, dass die betreffende Person einen anderen Menschen nicht primär als eine eigenständige Person ansieht und erlebt. Dabei gilt im psychoanalytischen Modell: Die »innere Repräsentanz« dieses anderen Menschen (sog. »Objektrepräsentanz«) zeigt diesen nicht als ein konstantes und eigenständiges Subjekt mit eigenem Erlebnis- und Aktivitätszentrum (sog. »Objekt«), sondern als einen Teilaspekt von ihm selbst. In diesem Sinne kann auch vom »Modus psychischer Äquivalenz« gesprochen werden (Streeck 2007, S. 55 f.). Damit ist gesagt, dass der betreffende Mensch ungefragt und unhinterfragt davon ausgeht, dass der andere Mensch in genau identischer Weise fühlt, handelt und denkt wie er selbst. Das »Selbstobjekt« ist also in diesem Modell als eine besondere Form der »Objektrepräsentanz« zu verstehen, die allerdings ihren Charakter als »Repräsentanz« in Differenz zum echten Menschen als der anderen Person (sog. »Objekt«) für den Betreffenden nicht mehr kenntlich zu machen vermag. Gerade dies aber ist ein wesentliches Kennzeichen von »Repräsentanzen« im psychoanalytischen Verständnis. Sie sind keine »Repräsentanzen« im fundamentalen Sinne eines radikalen Konstruktivismus, sondern sie sind transparente »Repräsentanzen«, die sich als genau das zeigen, was sie für den betreffenden Menschen sind: inner473 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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liche »Platzhalter« der gemeinsamen Interpersonalität und des Anderen als Person. Bei der Objektrepräsentanz »Selbstobjekt« ist dies jedoch anders. Hier wird der andere Mensch förmlich aufgesogen (Kind 1992, S. 58 ff.). Insofern sind solche »Selbstobjekte« andererseits auch wiederum eben gerade keine Objektrepräsentanzen, da ihnen wesentliche Merkmale derselben – jedenfalls modellgemäß – fehlen. »Selbstobjekt-Beziehungen« sind folglich streng verstanden rein innerliche Beziehungen, da sie mit dem »repräsentierten« Menschen nichts gemeinsam haben müssen. Sie werden aber, so dieses objektbeziehungstheoretische Modell, von dem betreffenden Menschen überhaupt nicht als rein innerlich erlebt, sondern erscheinen ihm als vollkommen wirklichkeitsgetreu. Insofern auch eignen sie sich in besonderem Maß für die Regulation des eigenen Befindens und Bedürfens. In Letzterem sieht Kind die wesentliche Funktion der »Selbstobjekt-Beziehungen«, so dass sich die Funktion der suizidalen Erfahrung gerade daraus ergibt, dass das Verschmelzen mit dem »Selbstobjekt« verhindert werden soll. In der suizidalen Erfahrung geht es hier also um einen Rest von Selbständigkeit, wobei der »Gegner« das »Selbstobjekt« ist. In der Phantasie wird, so Kind, das vollständige Verschmelzen oftmals als unmittelbar bevorstehend und bedrohlich erlebt, so dass nur noch das Zerschneiden dieser »Selbstobjekt-Beziehung« die Auflösung der eigenen Struktur zu verhindern vermag (S. 59 f.). Sicherlich ist dieses Verständnis im Rahmen therapeutischer Beziehungen außerordentlich hilfreich, da es aus Therapeutensicht verständlich macht, wieso sich der Patient wie die »Marionette« eines für ihn wichtigen Menschen erlebt, zugleich aber – da er in dieser Erfahrung »als Marionette ohne lebensspendendes allmächtiges Objekt nicht lebensfähig« ist – diesen »lebensspendenden Anderen« nicht aufzugeben vermag und so schließlich in dieser Widersprochenheit seiner Person suizidal wird (S. 60). Dennoch stellen sich Fragen an dieses Verständnismodell, die insbesondere den Status von »Selbstobjekten« und »Objektrepräsentanzen« betreffen. Denn wir müssen in Kinds Modell ja letztlich annehmen, dass diese »antifusionäre Suizidalität« nur deshalb auftreten kann, da die »Selbstobjekt-Beziehung« bereits einen Zweifel in sich trägt, der die scheinbare Ununterschiedenheit von einem selbst und dem anderen betrifft. Anders gesagt: von Anfang an sind »Selbstobjekte« immer nur dann problematisch, wenn der betreffende Mensch deren prinzipielle Selbständigkeit und Eigendynamik als fühlendes, den474 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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kendes und handelndes Lebewesen erkennt. Nun müssen wir aber dieser modellhaften Annahme widersprechen, da der Mensch dies bei einem anderen Mensch in einem basalen Sinne immer schon sofort bemerkt. Schließlich ist die basale Unterscheidung von unbelebten und belebten Wesen bereits in der frühesten Kindheit von enormer und wesentlicher Bedeutung. Der besondere Charakter des »Selbstobjekts« wäre dann also gar nicht eine primäre Ununterschiedenheit von Selbst und Nicht-Selbst, sondern die fundamentale »Analogisierung« des eigenen Erlebens und des Erlebens der anderen Person, eine daraus resultierende »sekundäre Gleichmacherei« und Unkenntlichkeit des anderen Menschen als Anderen (Streeck: Modus psychischer Äquivalenz). Kinds Verständnismodell folgend tritt also immer dann eine »antifusionäre Suizidalität« auf, wenn diese fundamentale »Analogisierung« in Zweifel gezogen wird. Diese setzt in seinem Modell aber genau in dem Moment ein, in dem der betreffende Mensch für sich erkennt, dass er von dem anderen doch eigentlich im Sinne eigenständiger Erlebnisweisen unterschieden ist. Diese Unterschiedlichkeit ist unerträglich, da sie nicht nur den anderen und ihn selbst als eigenständig zeigt, sondern zugleich die Angewiesenheit auf diesen anderen für den Betreffenden deutlich macht. Die sonstige Unkenntlichkeit dieser eigenen Struktur als »Repräsentanz« des anderen Menschen bringt insofern sofort die Gefahr der Verschmelzung auf. Kinds Verständnismodell gemäß erscheint dem Betroffenen dann der Suizid als die bessere und auch letztverbliebene Möglichkeit. Es stellt sich die Frage, ob wir in diesem Modell den Suizid als eine letzte verbliebene Autonomie verstehen können. Denn in der »antifusionären Suizidalität« bietet der Suizid ja modellgemäß tatsächlich die Möglichkeit, sich von diesem »Selbstobjekt« zu befreien und diese eigentümlich bedrohliche Seite von einem selbst loszuwerden. Streng verstanden ist die »antifusionäre Suizidalität« also in dem Sinne »antifusionär«, da derjenige mit sich selbst identisch bleiben will und sich im Erlebnis der Letztverteidigung eigenen Selbstseins bewegt. Sie ist jedoch zugleich in dem Sinne »anti-fusionär«, da diesem Menschen auf anderen Wegen keinerlei Rettung möglich erscheint. Die Unmöglichkeit, sich mit dem Ganzen ungeschieden erleben zu können und sich des unzerreißbaren Strukturganzen auch in der sonst im Leben immer wieder notwendigen Unterscheidung von mir und anderem gewiss zu bleiben, führt in die Verzweiflung. Der besondere Gewinn dieses Verständnismodells liegt an diesem Punkt also darin, dass verständlich 475 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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wird, dass auch eine weitere Differenzierung des Eigenen in Unterscheidung von Anderem in die Verzweiflung führen kann, da die trotzdem noch gegebene Angewiesenheit des Eigenen auf dieses Andere unerträglich wird. 3. Die »borderline-nahe, manipulative und resignative Suizidalität (Spaltung ich-synton)«: Die bisherigen Ausführungen zu Kinds Modell sind noch ziemlich nah an den bereits bekannten Modellen orientiert. Erst mit dieser Verständnisweise der suizidalen Erfahrung beginnt der eigentliche Neugewinn des kindschen Modells. Dabei versteht Kind diese Suizidalitätsform aus dem zentralen Thema von Beziehungen im sog. »Übergangsbereich II«. Die Frage an die nahen (primären) Bezugspersonen in diesem Bereich lautet: »Wie sicher bin ich im anderen repräsentiert?« (S. 72) Während den meisten Menschen die erlebte Gewissheit gegeben ist, dass sie zumindest mit einem anderen Menschen (z. B. der primären Bezugsperson) positiv und wertschätzend verbunden sind und – in Kinds Begrifflichkeit gesprochen – eine positive und sichere »Objektrepräsentanz« bei diesem Menschen besitzen, sind sich Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ dessen vollkommen unsicher. Diese Unsicherheit meint eine kindliche Ungewissheit, ob der andere einen vermisst, wenn man weg ist, oder ob der andere einem im Grunde doch gut ist und einen mag, wenn er gerade anderweitig zugewandt ist oder er sich gerade über einen ärgert. Diese Ungewissheit der fraglosen Geborgenheit im Anderen ist nach Kind der im weiteren Leben fortbestehende Hintergrund und zugleich der gegebene Ausdruck dieser Persönlichkeitsstörung und kann in seinem Modell sogar als deren wesentliches Strukturmerkmal verstanden werden. Dies hat in seinem Verständnismodell tiefgreifende Konsequenzen, da es bedeutet, dass sich der betreffende Mensch auch als Erwachsener bzw. Jugendlicher in seiner Selbsterfahrung immer nur in Abhängigkeit von der gerade anwesenden wichtigen Bezugsperson bewerten kann. Dies führt zu sehr extremen und wechselhaften Selbstwertungen, in denen sich der Betreffende beispielsweise sowohl als vollkommen unnötig, überflüssig und verachtet bewerten kann, zudem aber, wenn sich der andere ihm vor allem wertschätzend zuwendet, auch als vollkommen gebraucht, benötigt und geliebt bewerten kann. Kind verkompliziert sein Modell zwar dadurch, dass er diese nicht primär als moralische Bewertungen zu verstehenden Selbstbewertungen als »böse« oder »gut« benennt und dieser Erfahrungsweise zudem noch 476 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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eine frühkindliche Differenz unterlegt. Jedoch macht seine Annahme, dass sich ein Mensch aus der fehlenden Sicherheit einer (früh-)kindlichen empathischen interpersonalen Geborgenheit heraus nur in reiner Abhängigkeit vom Anderen bewerten kann, nicht zugleich auch die von Kind ebenfalls getroffene Annahme erforderlich, dass »böse/ schlecht« und »gut« im Vorfeld dieses »Übergangsbereichs II« in dem Sinne getrennt voneinander erlebt würden, als wenn es zuvor für den betreffenden Menschen ausschließlich »nur gute« und »nur böse« Dinge, Wesen oder Personen gegeben hätte. Diese Kritik soll die punktuelle und spontan umfassende Begeisterungsfähigkeit von Kindern für irgendetwas nicht negieren. Jedoch ist die Annahme, dass es normalerweise in der kindlichen Entwicklung zwei voll ausdifferenzierte und streng getrennte »psychische Bereiche« für ein- und densselben Gegenstand oder für ein- und diesselbe Person geben soll, wenig überzeugend. Aufschlussreich ist dabei, dass für Kinds Modell diese zweite Annahme nicht einmal zwingend erforderlich wäre. Denn die bei Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung von Borderline-Typ auffindbare »Schwarz-Weiß-Trennung« im Sinne zweier differenter Weisen, sich zu sich zu verhalten, könnte eben auch als vollkommen anders entstanden konzeptualisiert werden. Von wesentlicher Bedeutung ist aber, dass Kind sein Modell auf ein zentrales Thema des menschlichen Lebens, nämlich die Notwendigkeit, sich als fraglos im Anderen geborgen erleben zu können, konzentriert. Er betont damit den Zusammenhang der suizidalen Erfahrung mit der Verzweiflung, die eben insbesondere aus einer sozialen Isolation erwachsen kann. Allerdings soll aber die Geborgenheitserfahrung eben gerade nicht als eine »Selbstobjekt-Beziehung« verstanden werden, da Kind mit diesem Konzept immer schon eine eskalierte und damit prinzipiell problematische Form meint, die zu »sekundärer Gleichmacherei« bis hin zur vollständigen Unkenntlichkeit des anderen Menschen als Anderen führt. In genau diesem Bereich der »Geborgenheit« im Gemeinsamen operiert nun für ihn die »Suizidalität« als »psychische Funktion« im »Übergangsbereich II«. Er unterscheidet dabei drei speziellere Funktionen im menschlichen Miteinander, die die suizidale Krise übernehmen kann (S. 87 ff.): a) »Objektsicherung« (S. 87 ff.): Die Notwendigkeit einer suizidalen »Objektsicherung« lässt sich nach Kind am ehesten so verstehen, dass es dem betreffenden Menschen keineswegs gewiss ist, dass der beinahe als allmächtig erlebte Andere auch wieder zurückkehrt. Dies 477 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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bedeutet, dass alles, was dieser Andere tut, äquivalent zum Eigenen ist: geht er weg, so geht er weg, weil man selbst schlecht ist; bleibt er da, so bleibt er da, weil man gut ist. Dennoch bleibt der Andere leiblich eigenständig und wird insofern irgendwann gehen müssen. Diese Gefahr erfordert, den Anderen zu manipulieren, wobei für diese Manipulation der Weg über sich selber genommen wird. So ist das Manipulierte der suizidale Mensch selber, der sich gewissermaßen selbst als Geisel nimmt. Hierdurch kann das Wiederauftauchen des Anderen bereits im Vorfeld gesichert werden. Es ist zuzugeben, dass Kind in diesem Modell davon ausgeht, dass es dem zu sicherenden Anderen nicht egal ist, ob sich der betreffende Mensch töten würde oder nicht. Diese ungefragte Voraussetzung ist zumindest zu benennen, auch wenn es nur wenige Menschen geben mag, denen der Suizid eines anderen Menschen tatsächlich egal ist. b) »Objektänderung« (S. 94 ff.): Kind geht davon aus, dass der Mensch eine ständig bestehende Bewegung hin zur fraglosen Geborgenheit im Anderen aufweist. So gilt auch, dass der (beinahe allmächtige und nun mittlerweile suizidal-manipulativ gesicherte) Andere letztlich aus dem Grunde bei einem bleiben soll, weil man selber gut ist. Dies erfordert, da sich der Mensch hier in Analogie zum anderen Menschen bewertet, den Anderen »gut« zu machen. Kind sieht auch hier die suizidale Krise als die Funktion, die den Anderen dazu zwingen könne, die sonst in der Beziehung unintegrierbaren guten Aspekte von einem selbst zu sehen und zu würdigen. c) »resignative Suizidalität« (S. 104 ff.): Wenn weder »Objektsicherung« noch »Objektänderung« auf dem Wege der suizidalen Krise gelingen, wird die Situation für den Betreffenden, so Kind, hoffnungslos. Denn dann braucht gewissermaßen nicht mehr gelebt zu werden. Dann aber, so Kind, geht es nur noch darum, mit den eigenen und dennoch noch als »gut« bewerteten Aspekten zu überleben: Der Betreffende wird in einem resignativen Sinne suizidal. Diese Annahme Kinds wirft das Rätsel auf, wie denn dieser Mensch bei sich noch Aspekte als »gut« bewerten kann, wenn er zuvor so ausschließlich in seiner Selbstbewertung von den Bewertungen des Anderen abhängig gewesen sein soll. Wir können uns dies allenfalls mit der bereits erwähnten Grundannahme im kindschen Modell verständlich machen, dass der Mensch eine ständig bestehende Bewegung hin zur fraglosen Geborgenheit im Anderen aufweist. Im Hinblick auf diese innere, an eine Sehnsucht erinnernde Bewegung könnte dann auch ein Abgleichen und Resignie478 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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ren vom betreffenden Menschen vollzogen werden. Die modellgemäße »resignative Suizidalität« setzt insofern voraus, dass der Andere bereits nicht mehr als die einzige und ausschließliche Macht erlebt wird, die der Selbstbewertung zugrundeliegt, wenn er auch die wichtigste und bedeutendste Macht geblieben ist. So weit Kinds Verständnis der suizidalen Interaktion. Die besondere Qualität an seinem Verständnismodell ist also zum einen, dass er die Formen der suizidalen Krise im therapeutischen Miteinander mit Personen verständlich macht, die an einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ leiden. Zum anderen können wir sein Modell nutzen, um das suizidale Miteinander zwischen zwei Menschen besser zu verstehen. Wenn wir der erweiternden Kritik folgen, zeigt sich, dass im suizidalen Miteinander der andere Mensch für den suizidalen Menschen zu einem Wesen wird, welches zu retten vermag. Diese extreme Vereinseitigung des anderen Menschen, in der dieser förmlich zu einem »Engel« wird, ist nun aber in der suizidalen Erfahrung auch bei Menschen zu finden, die keineswegs an schweren Persönlichkeitsstörungen leiden. Und zudem findet sich eine solche »Angelisierung« des anderen Menschen bereits bei Paulus als Antwort auf die Frage nach dem »Wozu« des Lebens im Angesicht eines geglaubten ewigen Lebens nach dem Tode. Sie findet sich auch in Goethes »Werther« und ebenso wie im Konzept des Appells, des »Cry for help«, in der modernen Suizidologie. Sie zeigt sich als eine Vereinseitigung des Anderen, die aus der eigenen Verzweiflung heraus erforderlich geworden ist. In der suizidalen Gemeinschaft geschieht damit also genau das, was Kind als besonders kritisch (und kritischerweise als störungsspezifisch) beschreibt: der einen Seite wird alles Gute, der anderen Seite alles Böse zugewiesen. Zugleich aber gerät derjenige Mensch, der verzweifelt und suizidal in diesem Miteinander an den zum »Engel« erhobenen Anderen appelliert, ihn doch endlich zu retten, in eine Opferposition. Dieses muss nicht zwingend den Suizid einfordern, wie bei Iphigenie oder Werther, sondern kann auch in einen Suizidversuch führen, in dem dann dem anderen Menschen eine »faire Chance« eingeräumt wird, ihn zu retten. Diese gottesgerichtliche Qualität ist in der Suizidologie vielfältig beschrieben und mutet wie eine Lebensstrategie an, für einige Zeit eine Erneuerung der eigenen Existenzberechtigung zu erhalten (vgl. u. a. Stengel 1961). Als wesentlich zeigt sich demnach, dass sich auch im suizidalen Miteinander eine polare Aufspaltung ergibt, die einer »Spaltung« des suizidalen Menschen in zwei polar widersprüchliche Seiten 479 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

seiner selbst entspricht. Diese polare »Spaltung« der Person in zwei vollkommenen differente Weisen, wie zu sich verhalten wird, ist auch der zentrale Gedanke der vierten interpersonalen Funktion der suizidalen Krise bei Kind. In dieser zeigt sich, dass der betreffende Mensch eine »integrationsnahe Suizidalität der depressiven Position (Spaltung ich-dyston)« als den letzten und verzweifelten Versuch erfährt, die deutlich erkannten negativen Seiten von sich selbst nicht als eigene akzeptieren und integrieren zu müssen (Kind 1992, S. 112 ff.). Wir können Kinds Verständnis der psychischen Entwicklung nicht in allen Aspekten folgen. Dennoch teilen auch wir die wesentliche Grundannahme seines Verständnismodells, dass sich Menschen fraglos im Anderen geborgen erleben müssen, um ihrerseits ihr Leben als sinnvoll erfahren zu können. Von dieser Grundannahme ausgehend formuliert Kind ein suizidales Spiel in Beziehungen, in dem es um das absichernde Bewahren eines anderen Menschen geht, in dem der Betreffende positiv geborgen sein will. Jedoch misslingt in dem kindschen Modell eben gerade ein Verständnis dieser Gemeinschaft, da es eben modellgemäß gerade nicht zur Bildung einer (intern) vollziehenden Struktur in den beteiligten Personen kommen soll, sondern sich angeblich alles auf der Ebene von »Repräsentanzen« bewegt. Wie dann aber Gemeinschaft von Gemeinsamen verstanden werden soll, bleibt rätselhaft. Die zumindest in Kinds Modell in Aussicht gestellte Interpersonalität bleibt insofern eigenartig karg und einsam. Eine tief empfundene Geborgenheit wird in diesem Modell so auch eher in pathologischen Begriffen formuliert, als in strukturell nachvollziehbaren Begrifflichkeiten (wie beispielsweise bei Martin Buber). Damit entleert sich das Modell eines von ihm ausgehenden Verständnisses, dass es nämlich genau der Verlust von »selbstobjekthaften« Qualitäten des Gemeinschaftlichen ist, der in besonderer Weise für suizidale Krisen prädestiniert. Auch die zweiseitige Bewegungsrichtung der Verzweiflung, wie wir sie mit Kierkegaard formuliert hatten, kann erst im erweiterten Verständnis des kindschen Modells formuliert werden. Denn es ist ja die interpersonale Struktur selbst, die verzweifelt: verzweifelt so gemeinsam sein wollen, wie man gemeinsam nicht ist – verzweifelt nicht so gemeinsam sein wollen, wie man gemeinsam ist. Ein suizidaler Partner, ein suizidaler Freund und ein suizidaler Patient sind auch für die Gemeinsamkeit kein Born der Freude, sondern Anlass zur Sorge, zum mühevollen Bewahren der eigenen Selbständigkeit und zuweilen auch zur Verzweiflung. Kind würde dies nicht bezweifeln, im Gegenteil 480 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Exkurs: Suizidale Selbstspaltung und suizidale Interaktion bei Jrgen Kind

bemüht er sich ja gerade um ein Verständnis dieses Zusammenhangs. Allerdings ist sein Modell hierfür letztlich insofern ungeeignet, da es die tief empfundene Gemeinschaft eben gerade nicht in ihren »selbstobjekthaften« Qualitäten beschreiben will. Unbenommen dieser Kritik ist anzuerkennen, dass Kind in seinem Modell den innenperspektivischen Sinngehalt der Möglichkeit, sich töten zu können, insbesondere hinsichtlich seiner interpersonalen Qualität in den Blick rückt. Der Suizid zeigt sich ihm als eine »Fluchtbewegung« aus dem interpersonalen Feld, welcher eine letzte Rettung für den verzweifelten Menschen darstellt. Damit bricht zwar auch in Kinds Modell erneut die in psychoanalytischen Verständnissen gängige Schwierigkeit auf, dass diese letzte Rettung hinsichtlich des Todesverständnisses doch wieder über das Konzept der »Verschmelzung« formuliert wird, die dabei einen pathologischen Charakter zugeschrieben bekommt. Streng verstanden entleert sich so zwar sein Modell des zuvor mühsam gewonnenen Verständnisses der suizidalen Erfarung. Es verweist aber in dieser Entleerung auf den Umstand, dass Menschen einer fraglosen Geborgenheit in anderen Menschen bedürfen, um sinnausweisend leben zu können. In diesem Verweis wird deutlich, dass auch die völlig eskalierte und trotzige Verzweiflung noch eine interpersonale Dimension aufweist, die aber eben gerade im präsenten Verlust dieser Dimension liegt (»Erfahrung der Einsamkeit«). Kind gelingt es also trotz aller Schwierigkeiten seines Modells, die interpersonale Dimension der suizidalen Erfahrung in ihrem sinnstiftenden Charakter zu formulieren. Auch wenn sein psychoanalytisches Verständnismodell diese Gemeinsamkeit nur aus einer interaktionellen Perspektive beschreibt, wird deutlich, dass es (modellungemäß) im Wesentlichen der Verlust der »selbstobjekthaften« Qualitäten von Gemeinschaften zu sein scheint, der in suizidale Krisen zu führen vermag. Wertvoll wird insofern die von seinem Modell ausgehende Beschreibung der erfahrenen Polarisierung im suizidalen Miteinander in Entsprechung zu einer, vom suizidalen Menschen in sich auffindbaren Widersprochenheit. In dieser suizidalen Gemeinschaft »spaltet« sich das Miteinander in einen verzweifelten Menschen und einen anderen, gewissermaßen in suizidale Geiselhaft genommenen Menschen auf, wobei der verzweifelte Mensch opferbereit an den anderen appelliert, ihn doch endlich zu retten – während sich der andere zeitgleich bemüht, neben aller Sorge um den suizidalen Menschen seine Selbständigkeit zu bewahren. Diese Erfahrung der Polarisierung der Gemeinsamkeit 481 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

entspricht zutiefst der Erfahrung der innerlichen Widersprochenheit des suizidalen Menschen.

8.

Suizidale Erfahrung, Beziehungen und die interpersonale Dimension

Das Miteinander mit einem suizidalen Menschen zeigt sich uns im Verlauf unserer Untersuchungen in der Gestalt dramatischer Appelle bis hin zu opferbereiten Dramen. Es findet sich bereits in den antiken Dramen sowohl die völlige Distanzierung des suizidalen Menschen zu seinen Mitmenschen als auch die Darstellung des Miteinanders als unerträglich. Bei Sophokles geht Aias aus dem sozialen Feld in die Einsamkeit am Strand, um sich auf sein Schwert zu stürzen (Sophokles 1990). Iphigenie entschließt sich nach fruchtlosen, aber dramatischen Appellen an ihre Eltern, sie nicht zu töten, letztlich doch zum freiwilligen Selbstopfer: »Hellas geb’ ich meinen Leib zum Opfer hin.« (Euripides 1950, S. 54 f.) Die Sorge um den anderen wird für Antilochos fast unerträglich, da er fürchtet, dass Achill »die Kehle sich selbst mit dem Eisen durchschnitte« (Ilias XVI, 34). Bereits in den antiken Darstellungen finden sich also auch die bisher im Verlauf dieser Untersuchung aufgefundenen Formen des suizidalen Miteinanders. Wie aber versteht sich nun dieses suizidale Miteinander in der modernen, empirisch fundierten Suizidologie? Wir hatten bereits gesehen, dass sich die moderne Suizidologie immer mehr auf die These konzentriert, dass der Anlass zur suizidalen Krise zumeist ein Konflikt zwischen Menschen ist und dass der Suizid eine Flucht aus der inneren Widersprochenheit ist, die sich im interpersonalen Feld (wieder-)findet. Diese These ist angesichts der Notwendigkeit des Menschen, sich fraglos in anderen Menschen aufgehoben und geborgen zu fühlen, naheliegend. Dabei zeigen sich bereits in den antiken Darstellungen vor allem die tiefe Beschämung und Entehrung vor wichtigen anderen Menschen aber auch der Verlust geliebter Personen als Anlässe, um suizidal zu werden. Während Aias aus der tiefen Beschämung und Entehrung im Angesicht aller Griechen heraus suizidal wird, wird Achill suizidal angesichts des Verlust seines liebsten Waffengefährten und Freundes Patroklos. Diese interpersonale Dimension haben wir in den suizidologischen Verständnismodellen bereits intensiv in ihren innerlich angesiedelten Auswirkungen kennen482 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung, Beziehungen und die interpersonale Dimension

gelernt: sei es als narzisstische Krise oder als drohender Verlust »selbstobjekthafter« Qualitäten von Beziehungen. Dabei betonen diese Verständnismodelle, dass sich die innere Widersprochenheit in der suizidalen Erfahrung auch im Miteinander auswirkt und zu typischen Verhaltensweisen führt. Dies meint nicht nur die suizidale Erfahrung selbst, sondern insbesondere ihren interpersonalen Appellcharakter. Diesen haben wir in den suizidologischen Verständnismodellen als »Ruf nach Hilfe« finden können, wie Erwin Stengel diesen für ein Verständnis von Suizidversuchen zentralen Aspekt des suizidalen Miteinanders formuliert (Stengel 1961). Darüber hinaus haben wir in den suizidologischen Verständnismodellen diese interpersonale Dimension auch in soziologischen Modellen finden können, die traditionell insbesondere auf Émile Durkheims fundierende Untersuchung zum Suizid zurückgehen. Wenn wir von eher sozialepidemiologischen Untersuchungen absehen, in denen verschiedene Suizidraten und -häufigkeiten sowie Risikofaktoren eine zentrale Rolle spielen, zeigt sich, dass die suizidologischen Verständnismodelle vor allem einer interaktionellen Perspektive verpflichtet sind. Die interaktionelle Perspektive, die sich überwiegend im Grenzgebiet von Soziologie und Sozialpsychologie ansiedeln ließe, versteht den Menschen in einem wechselseitigen Geflecht von Beziehungen, die zwischen den einzelnen Individuen bestehen bzw. gebildet werden. Ein solches Verständnis haben wir sowohl bei Durkheim als auch beispielsweise bei Kind gefunden. Die wissenschaftsbildende Ausformulierung leistet hingegen bereits Georg Simmel (1858–1918), der eine Soziologie der persönlichen Beziehung formuliert (Lenz 1998, S. 26). Zentraler Begriff in der simmelschen Soziologie ist der Begriff »Wechselwirkung«. »Wechselwirkung« bedeutet, dass ein Individuum das andere Individuum beeinflusst und diese Beeinflussung wiederum weitere gegenseitige Veränderungen der Individuen nach sich zieht. In diesem Spiel bilden die Wechselwirkungen die Formen für die individuellen Bestrebungen, Erwartungen und Neigungen, welche je nach der sozialen Einheit unterschiedlich ausfallen. Dabei bringen diese Wechselwirkungen letztlich eine »überpersönliche« Einheit hervor, die als Gruppe, Kreis oder auch Gesellschaft erscheinen können (Simmel 1992 Bd. 11, S. 237). Im simmelschen Verständnis zeichnet sich der moderne und individualisierte Mensch nun dadurch aus, dass er in vielen verschiedenen sozialen Sphären sozialisiert ist. Er ist insofern »fragmentarisch« und 483 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

offenbart in Beziehungen zumeist nur Teile seines Innenlebens (S. 387). Für Simmel weist jedoch jeder moderne Mensch einen »tiefsten Individualitätspunkt« auf, der ihn prinzipiell von allen anderen Menschen unterscheidet. Dieser Punkt bleibt theoretisch auch in persönlichen Beziehungen unklar, wobei Simmel die Zweierbeziehung allerdings so versteht, dass in ihr dieser Rest doch aufgelöst werden könne (S. 104 f.; vgl. Schinkel 2003). Mit dem Konzept der Wechselwirkung legt Simmel die Grundlage für ein interaktionelles Verständnis von Sozialität. Gesellschaften und Gemeinschaften können diesem Ansatz folgend in Beziehungsgeflechte aufgelöst werden, die dann wiederum in ihren wechselseitigen Interaktionen beschrieben werden können. Sicherlich kann an einem solchen Verständnismodell – insbesondere aus einer phänomenologischen Perspektive – grundlegend kritisiert werden, dass mit der modellhaften Auflösung des Interpersonalen in ein Spiel der Wechselwirkungen innerhalb dieser Interpersonalität gerade das aus dem Blick gerät, was untersucht und betrachtet werden soll: eben die Interpersonalität selbst (vgl. Zahavi 2010). Mit den Worten Martin Bubers formuliert, wird hier aus dem »Grundwort Ich-Du« das Grundwort »Ich-Es«. Denn »Begegnung« (im buberschen Sinn) ist unmittelbar und kann gerade nicht in einem Hin- und Herwirken von etwas zwischen zwei bereits gegebenen Personen verstanden werden: »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. […] Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.« (Buber 1965, S. 15 f.) Ohne dass wir uns der Begrifflichkeit Bubers verpflichtet fühlen, könnte dies als eine wichtige Erweiterung und Vertiefung der interaktionellen Verständnismodelle gerade von Seiten der Suizidologie verstanden werden. Dabei folgt diese Kritik dem Ansatz, dass die suizidologischen Verständnismodelle nur allzu häufig in ein Gestell des Psychologischen verfallen, insbesondere hinsichtlich eines Verständnisses ungefragter Geborgenheit. Denn alle gestellhafte Beschreibung kann die gelebte Erfahrung des Miteinanders niemals vollständig wiedergeben oder gar ersetzen. Vielmehr bleibt die Erfahrung des bergenden Miteinanders der (reflexive) Bezugspunkt für alle Beschreibungen. Dies gilt auch für die suizidologischen Gestelle und Modelle. In einem solchen Gestell können zudem Fragen nach dem »Wie« und dem »Warum« nicht mehr wirklich beantwortet werden, da jedweder Sinn immer nur aus der Perspektive der betreffenden Person verstanden werden kann. Dies ist insbesondere für ein Verständnis des 484 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung, Beziehungen und die interpersonale Dimension

suizidalen Miteinanders bedeutsam, da es sich hier ganz offensichtlich um ein »konflikthaftes Miteinander« handelt, in dem das Miteinander selbst zur Disposition steht. Denn dieser Form der Interpersonalität fehlt gerade das, was die Gemeinschaft und das Miteinander ausmacht: das erlebte und erfahrene Gemeinsame des »Ich-Du«. Von diesem Gemeinsamen spricht Heinrich Rombach als einem »Wir-Selbst« und betont damit, dass wir gemeinsam in einer Situation sind, die uns gemeinsam betrifft und die wir gemeinsam als unsere Situation bewältigen müssen (Rombach 1994a, S. 167 ff.). Wir können also sagen: Nur innerhalb dieses interpersonalen Wir begegnen wir uns als Ich und Du, welches eine direkte Erfahrungsweise der Erste-Person-Perspektive des Anderen beschreibt, ohne indes zu behaupten, dass mir die Perspektive des Anderen in gerade der voll umfänglichen Weise zuglänglich wäre, wie nun einmal dem anderen Menschen. So verstanden drängt sich tatsächlich der Eindruck auf, dass es gerade diese Gemeinsamkeit ist, dieses Wir, welches beim suizidalen Menschen in seiner Verzweiflung verloren gegangen ist bzw. dessen fraglose Gegebenheit er nicht mehr als tragend erfahren kann. So verwundert es uns wenig, dass ein Mensch auch schwierige Phasen des Lebens besser bewältigt, wenn er sich gut in einer Familie aufgehoben fühlt. Gerade die empirische Suizidologie betont auf vielfältigste Weise, dass es in Krisenzeiten von besonderer, insbesondere auch suizidprotektiver Bedeutung ist, in einem gemeinsamen Wir zu verbleiben. Sei es, dass dies die Selbstachtung stärkt (Morano et al. 1993). Sei es, dass schlicht weniger tiefgreifende Beziehungskonflikte auftreten, die wiederum in eine suizidale Krise münden können (Joiner/Rudd 1995). Sei es, dass gerade in der suizidalen Erfahrung die interpersonalen »Problemlösefähigkeiten« eingeschränkt sind und Unterstützung und Nachsicht in diesen Konflikten erforderlich ist (Schotte et al. 1990). Dieser gewissermaßen »anomiefreie« Zustand einer Erfahrung des ungefragten Aufgehobenseins in einer Gemeinschaft – der streng verstanden im durkheimschen Sinne in unserer Kultur gar nicht mehr gegeben sein könnte, da die Kultur sich seinem Verständnis nach viel zu schnell dafür ändere – wird zumeist modellgemäß als »konfliktfreie soziale Integration« bezeichnet (Lester 1994b; Adjacic-Gross 1999). Zwar kann gefragt werden, ob der Begriff »konfliktfreie soziale Integration« angemessen eine ungefragte Geborgenheit im Miteinander beschreibt. Davon aber abgesehen kann angenommen werden, dass hiermit genau eine solche Erfahrung gemeint ist. 485 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Dennoch ist nicht jede Familie und nicht jedes Wir suizidprotektiv. Vielmehr geht es darum, sich im Gemeinsamen empathisch und wohlmeinend aufgehoben zu fühlen. So bieten allgemein Familien dann wenig Schutz vor suizidalen Krisen, wenn sie wenig unterstützend, wenig einfühlsam und sehr kontrollbedürftig miteinander umgehen (McGarvey et al. 1999; Randell et al. 2006). Einen Einfluss scheint hier auch die soziale Weitergabe von eher mäßigen »Problemlösefähigkeiten« in diesen Familien zu haben (Jeglic et al. 2005). Ebenfalls wenig Schutz bieten Familien, in denen suizidales Verhalten zum möglichen Verhaltensrepertoire in der Familie gehört. Dies ist von Bedeutung, da nicht nur etwa 3/4 aller suizidalen Menschen eine im weiteren Sinne »familiäre« Vorgeschichte mit Suizidversuchen oder Suiziden aufweisen (Runeson 1998). Sondern dies ist auch im engeren Sinne für den einzelnen Menschen von Bedeutung. So ist die Bewältigung des Verlusts eines nahen Angehörigen durch Suizid eine besondere Herausforderung und kann insbesondere bei Eltern von Suizidenten mit eigenen Suizidversuchen einhergehen (Waern 2005). Die Suizidversuche von nahen Angehörigen und Bekannten mögen gar eine Versuchung darstellen, wenn diese ihren Suizidversuch positiv zu bewältigen vermochten. Letztlich gibt es auch Familien, in denen der Tod durch Suizid wie eine Familientradition weitergegeben wird (Schleiffer 1979; Runeson/Åsberg 2003). Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwiefern nicht bei jedem Suizid von einem suizidalen Miteinander gesprochen werden darf. Schließlich nimmt jeder Suizident eine gewisse »Nachahmung« vor, auch wenn er sich in zeitlich großem Abstand zu einem »Vorbild« tötet und sich vollkommen von allen gegenwärtigen Menschen isoliert haben mag (Schlimme et. al. 2010). Noch weitergehend können aber auch Gemeinschaften selbst suizidal werden. Zwar sind kollektive Selbsttötungen von mindestens sieben Menschen im Verlauf der über 2000-jährigen kulturgeschichtlichen Überlieferung eher selten, dennoch stellen sie eine wichtige Besonderheit des suizidalen Miteinanders dar (Eilers u. Räder 1992). Von Bedeutung ist, dass nahezu alle kollektiven Selbsttötungen von vorbestehenden Gruppen ausgeführt werden, die sich in einem verhärteten Konflikt mit Fremdkollektiven befinden (z. B. kriegerische Auseinandersetzungen) (S. 116). Kollektive Ehrenkodices (z. B. als ideologische Ausrichtung des Kollektivs) (50 %) und sinnstiftende (religiöse) Kontexte (25 %) räumen dabei dem Suizid zumeist einen spezifischen, letztlich eher positiv konnotierten Platz ein. Dennoch sind auch hier im suizi486 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung, Beziehungen und die interpersonale Dimension

dalen Miteinander Unterschiede auszumachen. Echte »Massensuizide« bzw. gleichzeitig durchgeführte Suizide von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft sind dabei keineswegs der »Normalfall«. Bei einer gemeinsamen, auf den Tod bezogenen »ideologischen Ausrichtung« nehmen sich tatsächlich zuweilen alle Menschen einer solchen Gemeinschaft nach entsprechenden gemeinsamen Vorbereitungen einheitlich und zeitgleich das Leben (S. 117). Nur noch näherungsweise sind aber diejenigen Gruppensuizide als »Massensuizid« zu bezeichnen, die religiös motiviert in einer im sozialen Abschwung befindlichen Gruppe von dominanten Mitgliedern der Gruppe durchgeführt werden. Hier tötet sich die Gemeinschaft selbst, indem sie sich förmlich von außen motiviert als Gruppe auslöscht. Abhängig eingebundene Gruppenmitglieder werden hierbei häufig ermordet (S. 117). Noch eindeutiger keine »Massensuizide« sind diejenigen Gruppentötungen, die im Zusammenhang mit kriegerischen oder kolonialen Auseinandersetzungen stehen. Nach einer längeren Entbehrungs- bzw. Entehrungsphase, in welchem sich die hoffnungslose Unterlegenheit und Ausweglosigkeit des kulturellen und auch individuellen Überlebens immer deutlicher herauskristallisiert, und in spontaner Erwartung der unerträglichen Demütigung durch die »Eroberer« geben sich einzelne Mitglieder der Gruppe den Tod oder suchen ihn in einem letzten und verzweifelt geführten Kampf. Solche »letzten Gefechte« werden meist extrem fremdaggressiv vorgetragen und bewegen sich fast immer innerhalb komplexer Ehrenkodices, in denen die Demütigung des Gegners in der eigenen Todesverachtung eine Rolle spielt (S. 116 ff.). Auch »Zweiersuizide«, bei denen sich zwei Personen gemeinsam das Leben nehmen, können als ein solches suizidales Miteinander verstanden werden. Zwar sind Zweiersuizide häufiger als Gruppensuizide, müssen aber mit geschätztem einen Prozent aller Suizide als selten gelten. Insofern stellt sich der Einzelsuizid gewissermaßen als »Normalfall« dar (Haenel 2001, S. 46). Dies gilt auch, obwohl einer der berühmtesten Selbstmörder, nämlich Heinrich von Kleist, einen Zweiersuizid beging. Die besondere Qualität von Zweiersuiziden ist dabei die gemeinsame soziale Isolation aufeinander, die auch als »encapsulated unit« bezeichnet wird (Hemphill/Thornley 1969). Wichtig ist die auch empirisch bestätigte Einsicht, dass ein Partner die Idee des gemeinsamen Suizids in die gemeinsame Isolation einbringt, worin sowohl ein Appell an das Gemeinsame als auch ein Opfer für eine letztgültige Gemeinsamkeit gesehen werden kann (Haenel 2001, S. 55 ff.). 487 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Das suizidale Miteinander mit einem anderen Menschen oder in einer Gemeinschaft muss also nicht zwingend in die Differenz von einem suizidalen Menschen und einem um diesen besorgten Menschen führen, der gewissermaßen »anti-suizidal« ausgerichtet ist. Das Miteinander kann sich auch gemeinsam gegen einen Dritten verbünden und aufeinander einengen. Das Appellieren an den anderen Menschen erfolgt dann weniger in dem Sinne, dass der andere ein Rettendes im Leben eröffnen soll, sondern eher in dem Sinne, dass er mit dem bereits verzweifelten Menschen gemeinsam sterben soll. Wie aber versteht sich dann der assistierte Suizid? Sprengt er nicht dieses suizidale Miteinander auf, da er die Gemeinsamkeit des Sich-selbst-tötens verweigert und stattdessen ein Exponent der Gemeinschaft von allen gemeinsam getötet wird? Auf den ersten Blick entsteht tatsächlich der Eindruck, als handele es sich hier womöglich nur um eine Unterstützung einer autonomen Entscheidung (Küchenhoff 2007). Zwar könnte eingewandt werden, dass echt autonome Entscheidungen eine solche Unterstützung nicht nötig hätten. Doch dieses Argument überzeugt nicht wirklich, da sonst alles, was konkrete gemeinschaftliche Unterstützung erfordert von vornherein die Autonomie so einschränken müsste, dass von Autonomie nicht mehr gesprochen werden dürfte. Das Besondere beim assistierten Suizid ist ganz offenbar, dass sich der verzweifelte Mensch nicht selbst zu töten vermag. Insofern stellt sich die Frage nach dem assistierenden Anderen. Aus welcher Motivation vermag dieser assistierende Andere die Selbsttötung tatsächlich zu unterstützen? Gewöhnlich wird von Befürwörtern des assistierten Suizids oder der aktiven Sterbehilfe auf die autonome Entscheidungsfähigkeit der betreffenden Person verwiesen (Birenbaum-Carmeli et al. 2006; Schramme 2007; Wittwer 2009). Dieser Verweis auf eine »rationale Begründung« der Suizidentscheidung weist immer auch auf die verweisende Person zurück und zeigt, dass ihr Verweis aus einem internen Nachvollziehen bzw. einer hierin sich vollziehenden Identifikation mit der betreffenden Person erfolgt. Es ist gerade dieses nachvollziehende und einfühlende Miteinander, welches den assistierenden Anderen die Entscheidung für sich selbst nachvollziehen lässt und welches der um Assistenz bittende Mensch sucht. Das Besondere an dieser Gemeinschaft ist die Einengung auf die spezifische Situation des Suizids, wobei diese Engführung wiederum das Herausbilden einer Gemeinschaft erleichtert, da alles im Hinblick auf den Suizid interpretiert und verstanden werden kann. So steht die Situation von vornherein in 488 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung, Beziehungen und die interpersonale Dimension

der Entscheidung und kann ohne eine solche nicht verlassen werden. Also auch hier ein suizidales Miteinander, wobei hier die »Aufspaltung« nicht entlang der Entscheidung für oder gegen den Suizid sondern entlang des aktiven suizidalen Handelns erfolgt, da sich der assistierende Andere in der Vorstellung bewegt, genauso zu handeln, wenn er sich in derselben Situation befände. Bemerkenswert ist für uns, dass in diesem suizidalen Miteinander, wenn der andere Mensch eben gerade keine suizidprophylaktische bzw. »anti-suizidale« Haltung einnimmt, im letzten Moment die prinzipielle Unwägbarkeit der Zukunft nicht mehr gesehen wird. So kommt dann die Frage nicht mehr auf, ob nicht der suizidale Mensch doch noch zukünftig ein anderes sinnstiftendes »Wozu« seines Lebens aufzufinden vermöchte, welches ja ganz offenbar in einer neuen oder veränderten Gemeinschaft liegen könnte. Die gemeinsame suizidale Erfahrung findet vielmehr einen Dritten, an den appelliert wird, den Suizid doch zuzulassen. Hierbei kann der Appell auch dahingehend formuliert werden, einem doch endlich den Tod zu geben. Deutlich werden hier sowohl die gemeinsame suizidale Einengung als auch die Unerträglichkeit der gemeinsamen Situation, in der nur noch der Tod des einen, vieler oder gar aller Mitglieder der (spontan-situativen/vorbestehenden) Gemeinschaft als letzte Rettung verblieben scheint. Wir können also durchaus sagen, dass gemeinsame (Zweier-, kollektive, assistierte) Suizide von einem suizidalen Wir-Selbst vollzogen werden, welches in seinen Strukturmomenten keine wesentlichen Unterschiede zu einem einzelnen suizidalen Menschen aufweist. Sicherlich bedeutet diese Identifikation nicht, dass Suizidbegründungen nicht aus einer bestimmten Perspektive als »rational« bezeichnet werden können (Schramme 2007). Auch sollte aus dieser Einsicht in die suizidale Gemeinschaft nicht angenommen werden, dass ausschließlich eine solche suizidale Gemeinschaft die Basis eventueller Rationalität von Suizidbegründungen darstellt. Als Beleg kann hier David Hume gelten, der zwar eine aus seiner Sicht rationale Begründung für den Suizid vorlegte, sich selbst aber nicht das Leben nahm. Wir können also nicht Gemeinschaft und Rationalität gegeneinander ausspielen, auch wenn beide aufeinander verweisen. Vielmehr gilt es, die sinnstiftende Qualität von Gemeinschaft für uns als Menschen zu erkennen. Von dorther wird ja auch verständlich, inwiefern Konflikte zwischen Menschen, in denen die interpersonale Gemeinschaft verloren gegangen ist oder verloren zu gehen droht, in besonderem Maße in suizidale 489 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Krisen münden. Dies gilt auch, obwohl in der akuten Suizidentscheidung interpersonale Motive dann meist nicht mehr von vordringlicher Bedeutung sind, sondern häufiger nur noch einen untergeordneten Einfluss haben (Michel et al. 1994). Wir müssen allerdings zugeben, dass es Suizidversuche gibt, die nur in sehr geringem Maß einen Charakter des Appells aufweisen und stark durch eine Impulsivität gekennzeichnet sind (Holden et al. 1998). Auch gibt es Hinweise, dass nahezu ein Viertel der Suizidversuche nur einen minutenlangen Planungsvorlauf haben, so dass von einem spontanen Suizidversuch gesprochen werden könnte (Conner 2004). Dennoch können wir aus dieser enormen Spontanität mancher Suizidentscheidungen – in denen zuweilen auch ein »Suizid-Notfallplan« abgerufen werden mag – nicht direkt schlussfolgern, dass die interpersonale Dimension für die betreffenden Menschen unbedeutend gewesen sei. Vielmehr ist anzunehmen, dass der Anlass gebende Konflikt zwar eine interpersonale Dimension aufweist, dass aber der Appell an diesen anderen Menschen von vornherein wenig sinnausweisend erscheint. Denn nur solange eine gewisse Hoffnung auf eine positive Veränderung der Gemeinsamkeit besteht, kann sinnstiftend an den anderen Menschen dieser Gemeinsamkeit appelliert werden. Andernfalls bliebe dem suizidalen Menschen nur noch, sich für diese Gemeinsamkeit, die letztlich unerreichbar geworden ist, zu opfern. Tatsächlich findet sich dieses Opfern für ein unerreichbar gewordenes Gemeinsames als eine weitere Möglichkeit des suizidalen Miteinanders. So kann dies als der entscheidende Punkt von Abschiedsbriefen verstanden werden, wobei einerseits gilt, dass es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Briefschreibern und Nicht-Briefschreibern zu geben scheint (O’Connor et al. 1999) und andererseits gilt, dass Abschiedsbriefe eine zunächst überraschende Einheitlichkeit aufweisen (Shneidman 1993, S. 103). »Actual suicide notes typically contain such phrases as ›I love you … I am sorry … I am in pain (central theme) … I have lost the way … don’t blame yourself … you drove me to this … please be good to our child … fix the sparkplugs on the car … don’t come into this room …‹ For one who seeks deep insight into the reasons for human self-destruction, the profound reasons that individuals intentionally end their lives, these typical excerpts from genuine suicide notes are not very illuminating.« (S. 98) Der zentrale Aspekt in diesen typischen und wiederkehrenden Phrasen ist hingegen das Selbstopfer für den anderen Menschen. Denn hierin finden beide Men490 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung, Beziehungen und die interpersonale Dimension

schen, aus der Sicht des Sich-Opfernden, doch noch einmal im Gemeinsamen als Gemeinsame zueinander. Ganz besonders deutlich formuliert dies Goethe in seinem »Werther«. Auch Werther ist alle Hoffnung auf eine Rettung im Irdischen verloren gegangen, so dass ihm das Irdische selbst überflüssig geworden ist. Er will sich für Lotte aus der unauflöslichen Gleichung Albert-Lotte-Werther entfernen: »Es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewissheit, dass ich ausgetragen habe, und dass ich mich opfere für dich. Ja, Lotte! warum soll ich es verschweigen? Eins von uns dreien muss hinweg, und das will ich sein! O meine Beste! in diesem zerrissenen Herzen ist es wütend herumgeschlichen, oft – deinen Mann zu ermorden! – dich! – mich! – So sei es denn!« (Goethe 1998, Bd. 6, Die Leiden des jungen Werther, S. 104) So kann er Lotte zugleich als seine Retterin bewahren, auch wenn er dies nur im Selbstopfer für sich gewinnen und absichern kann. Könnte nicht eingewandt werden, dass doch kaum mehr von einem suizidalen Miteinander gesprochen werden kann, wenn das Gemeinsame nur noch außerhalb aller Möglichkeiten liegt? Dieser Einwand trifft insofern nicht zu, da dieses gemeinsame Wir dennoch die Basis darstellt, innerhalb derer das Opfer überhaupt nur sinnvoll ist. Denn ein Opfer (lateinisch: sacrificium, »das, was geheiligt ist«) von etwas Belebtem oder Unbelebtem begründet und erneuert in einem mehr oder weniger rituellen Prozess das Miteinander von dem opfernden Menschen und dem Empfänger dieses Opfers. Auch wenn der Empfänger des Opfers zumeist Geistwesen oder Götter sind, kann dies auch ein anderer Mensch sein. Im Selbstopfer für einen anderen Menschen wird demnach die wechselseitige Bezogenheit wiederhergestellt und zugleich abgesichert, obwohl sie sonst verloren gegangen ist. Das Selbstopfer ist hier die letzte verbliebene Möglichkeit, um dieses Gemeinsame nochmals zu gewinnen. Dabei ist zu beachten, dass ein »Opfer selten spontan zu sein scheint; es tritt häufiger als eine regelmäßige Verpflichtung auf oder als Erwiderung auf ein Gebot oder eine Forderung.« (Bowker 1999, S. 740) Diese Forderung liegt in unserem Verständnis des suizidalen Miteinanders in der »Verweigerung« des anderen Menschen, den verzweifelten Menschen zu retten. Dabei ist diese »Verweigerung« nicht primär als ein aktives – oder gar böswilliges und absichtliches – Verweigern zu verstehen, sondern ist die Interpretation des suizidalen Menschen. Dieser versteht das Verhalten des anderen Menschen als ein »Verweigern«, obwohl dieser aus seiner eigenen Sicht vielleicht nur um eine gewisse Selbständigkeit ringt. Erstaunli491 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

cherweise nutzen jedoch die suizidologischen Verständnismodelle dieses Merkmal des Selbstopfers kaum, um suizidale Krisen und Suizidentscheidungen begreiflich zu machen. Wir werden uns diesem Erstaunen und der daraus folgenden Frage, wie dies verstanden werden kann, in der abschließenden Zusammenfassung dieses Abschnitts zuwenden. Wir können für uns festhalten, dass für ein Verständnis der suizidalen Erfahrung nicht nur das Zusammenspiel von Ich und Wir beim suizidalen Menschen oder das suizidale Spiel zwischen verschiedenen Menschen von besonderer Bedeutung ist, sondern auch die Frage nach dem suizidalen Miteinander gestellt werden muss. Dabei ist es zunächst wesentlich, dass jede Gesellschaft eine Ordnung aufweist, auf deren Erhalt sie sowohl angewiesen als auch orientiert ist. Von daher ergibt sich eine Ablehnung des Suizids als gegen die sozial verbindliche Ordnung gerichtet, da der freiwillige Tod die Souveränität dieser Ordnung zumindest in Frage stellt (Ahrens 2001, S. 21 ff.). Dies gilt auch, wenn sich eine Gemeinschaft entwickelt, die gemeinsam suizidal ist und von der sich ein Exponent oder verschiedene Mitglieder selbst töten. Dann nämlich zeigt sich ein suizidales Spiel zwischen verschiedenen Gemeinschaften, wobei die sich tötende Gemeinschaft das unterlegene, im Abschwung befindliche Wir ist. Dieses suizidale Spiel innerhalb eines gemeinsamen Wir können wir dabei insbesondere mit den Weisen des Appells und des Opfers sowie der Scham und des Verlusts verstehen. Während die Beschämung vor wichtigen anderen Menschen und somit vor der Gemeinschaft als narzisstische Krise verstanden werden kann, bedeutet sie in der interpersonalen Dimension einen Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dass dies bis in den Tod führen kann, ist bereits bei »Aias« ein zentrales Thema und wird insbesondere auch von Platon genannt. Beim Verlust einer wichtigen anderen Person steht ebenfalls der Verlust des Wir im Vordergrund. Der Appell wiederum thematisiert das Ausgeschlossensein aus dem Wir, mündet jedoch dann in eine Opferhaltung, wenn es aussichtslos erscheint, den wichtigen anderen Menschen für die Gemeinsamkeit zurück zu gewinnen. Zuweilen mündet dies in eine »trotzig« erscheinende Isolation des verzweifelten Menschen als Extremform des suizidalen Miteinanders. All diesen Formen des suizidalen Miteinanders ist gemeinsam, dass es dem verzweifelten Menschen jeweils darum geht, sich wieder (oder erneut) aufgehoben und geborgen zu fühlen. Denn ganz offenbar ist er in seiner Verzweiflung aus diesem Gemeinsamen herausgefallen. Dem entspricht, dass ein solches Wir, in dem sich der Mensch unge492 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidentscheidung und Impulsregulationsfhigkeiten

fragt aufgehoben erlebt, ein entscheidender Schutz für diesen Menschen vor einem tatsächlichen Suizid ist. Zunächst gewinnt sich dieser Schutz daraus, weil Beschämungen und Kränkungen in einer solchen Gemeinsamkeit seltener auftreten. Im Weiteren aber kann sich dieser Schutz auch dann gewinnen, wenn in diesem suizidalen Miteinander eine gewissermaßen »anti-suizidale« Haltung von den anderen Personen eingenommen wird. Ein solches Miteinander können initial gerade auch Suizidforen im Internet darstellen, in denen gewissermaßen gesichtsunabhängig ein vertrauensvolles Miteinander möglich ist, ohne sofort in beschämende oder bedrängende Situationen geraten zu müssen (te Wildt 2007). Die suizidologischen Verständnismodelle thematisieren die interpersonale Dimension der suizidalen Erfahrung hingegen vorwiegend aus der Sicht des Individuums, welches entsprechend des interaktionellen Verständnisansatzes ein suizidales Spiel innerhalb von wechselwirkend organisierten Beziehungen betreibt. In diesen Modellen zeigen sich Beziehungskonflikte als Hauptanlässe für suizidale Krisen. Das Verständnis dieses Miteinander ist in diesen Modellen jedoch stark auf die Aspekte der Scham und Beschämung sowie des Appells und des Appellierens beschränkt. Dahingegen scheint aber zudem der Aspekt des Opfers und Selbstopferns im suizidalen Spiel bedeutend. Darüber hinaus kann zudem ein solches Miteinander auch selbst suizidal werden. Dies zeigt, dass auch ein gemeinsames Wir-Selbst in einem weiteren gemeinschaftlichen Rahmen aufgenommen bleibt. So verweist die suizidale Erfahrung des einzelnen Menschen auf seine Gemeinschaften und von dort auf die gesellschaftliche Ordnung und deren Orientierung hinsichtlich der Möglichkeit, sich töten zu können.

9.

Suizidentscheidung und Impulsregulationsfhigkeiten

Kein Mensch nimmt sich leichtfertig das Leben. Dies ist angesichts der Bedeutung der Entscheidung durchaus naheliegend, da der eigene Tod nicht rückgängig gemacht werden kann. Auch wenn diese Einsicht erst im Verlauf des Lebens etwa ab dem 10. Lebensjahr beginnend aufkommt, verleiht ja gerade diese besondere Qualität dem Tod seine Qualität, als letzte Rettung verblieben zu sein. Insofern steckt in der Ansicht, dass es der Verzweiflung bedarf, um suizidal zu werden, zugleich die Feststellung, über diese Entscheidung nachgedacht zu haben, 493 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

sie erwogen zu haben und nicht nur spontan und unüberlegt zu ergreifen: »I believe that no man ever threw away life, while it was worth keeping.« (Hume 1995, #8) Die Langfristigkeit der Engführung der suizidalen Erfahrung bis zur Suizidentscheidung betont insbesondere das Drei-Phasen-Verlaufsmodell von Pöldinger (Pöldinger 1982), in dem die zweite Phase des Erwägens im Prinzip unabschließbar sein kann und für den Rest des Lebens anhalten könnte. Dagegen erscheint auf den Theaterbühnen, bereits beginnend mit Sophokles »Aias«, der Suizid oftmals als eine sehr spontane und impulsive, ja aus der Not geborene Handlung: »Mach schneller zu! Geziemend ist es nicht für den erfahrnen Arzt Beschwörungen zu leiern bei der Wunde, die den Schnitt verlangt.« (Sophokles 1990, 581 f.) Mit diesen Worten drängt Aias seine geliebte Gefährtin Tekmessa und den sein Volk repräsentierenden Chor, ihn endlich in Ruhe zu lassen, damit er sich das Leben nehmen könne. Solche Eile hat sicherlich auch etwas mit der zur Verfügung stehenden Zeit bei Theaterstücken zu tun, trifft aber dennoch einen wichtigen Aspekt der suizidalen Erfahrung. Denn auch wenn Suizide oftmals lange Zeit erwogen werden und von langer Hand als eine Art von »Notfallplan« im Innern abgelegt sind, wird der Suizidversuch im letzten Moment meist sehr impulsiv, spontan und in überraschender Plötzlichkeit vollzogen. Dies betont auch einen unverkennbaren Punkt von Entscheidungen überhaupt (Graumann 1986). Denn nach Entscheidungen, die die eigene Person sehr tiefgreifend bzw. umfassend betreffen, ist alles irgendwie anders als vor diesen Entscheidungen (sog. »RubikonModell«, nach Heckhausen 1986). Schließlich binden die Konsequenzen, die aus dem eigenen Verhalten folgen, die Entscheidung unnachgiebig an einen selbst. So ist man zwar als Arzt nur wenig in der eigenen Personalität verändert, wenn sich ein Patient zwecks Blutdruckeinstellung zunächst nicht für ein bestimmtes und empfohlenes Medikament sondern für eine als mögliche Alternative empfohlene veränderte Lebensführung entscheidet, jedoch sieht dies aus Patientensicht völlig anders aus. Und es ist ebenfalls vollkommen anders, ob man sich dazu entscheidet, eine bestimmte Zigarettenmarke zu rauchen oder ob man sich dazu entscheidet, das Rauchen ganz aufzugeben. Während ersteres eine Entscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Tönungen von zur Schau stellbaren Identitätsaspekten betrifft, kann letzteres die eigenen Möglichkeiten vollkommen überfordern. Solche umfassenden und tiefgreifenden Entscheidungen sind re494 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidentscheidung und Impulsregulationsfhigkeiten

trospektiv immer als »plötzlich gegeben« zu charakterisieren. Diese Qualität weist auch die Suizidentscheidung auf und ist in der Suizidforschung weitreichend in den meisten Modellen aufgenommen. Diese gewisse Plötzlichkeit wird von Pöldinger in seinem Drei-Phasen-Verlaufsmodell ebenso beschrieben wie in den psychoanalytischen Modellen der suizidalen Erfahrung (Hendin 1991). In den empirischen Modellen ist dieser Aspekt zumeist eng mit dem Modell »Flucht vor dem unerträglichen Selbst« verknüpft. Dabei scheint der Gedanke dieses Zusammenhangs auch darin zu liegen, dass der psychische Schmerz gewissermaßen nur noch sprunghaft überwunden werden kann, da ja alles längerfristige und schrittweise »Überwachsen« gerade verloren scheint. Dennoch aber bezieht sich diese Zäsur der Entscheidung nicht primär auf die Plötzlichkeit der Suizidhandlung. Sondern sie liegt darin, dass nach der Entscheidung zum Suizid bereits alles verändert ist und »in einem anderen Licht« erscheint. Unnachahmlich hat dies Jean Améry beschrieben, aus seiner Erfahrung heraus, noch zu Abend zu essen, während oben im Hotelzimmer schon der Abschiedsbrief und die »gehorteten Tabletten« für ihn bereit liegen: »Um neun Uhr abends soll es geschehen – […]. Um neun Uhr, jetzt ist es sieben, zweimal sechzig Minuten zu je sechzig Sekunden also, der Sekundenzeiger trottet unermüdlich, schon ist eine Minute vergangen, zwei, drei, fünf, fünfzehn gingen dahin, man kann die Uhr zerschlagen, nicht aber das leise Ticken der reinen Zeit abstellen. Und in der Zeit, die noch verbleibt – es kann sich im Stunden handeln, aber auch nur um Minuten, die einer sich noch gönnt – wird die Zeit als solche verspürt. Man trägt sie in sich […] Noch eineinhalb Stunden, eine kleine Ewigkeit. Ein Nichts. Es reden jetzt der Leib und der Geist zugleich, ihr Stimmenrauschen ist hörbar im Raume. Der Körper weiß, er wird in 90 Minuten, Zeit, in der ein Spielfim normalerweise abrollt, nicht mehr er selber sein. […] Der Leib begehrt auf, schon jetzt, und wird noch wilder revoltieren, sobald sein Sein ihm entzogen wird. Der Geist – man lasse mir die vereinfachenden Allerweltsbegriffe hingehen, sie drängen sich auf, sobald das Denken an seine Grenzen gerät – der Geist befiehlt. Und bäumt sich seinerseits dagegen auf, dass er aus der Zeit genommen wird und damit alle Zeit, die in ihm aufgeschichtet ist, verschwindet.« (Améry 1999, S. 92 ff.).

Alles ist anders nach der Entscheidung zum Suizid. Und dies gilt offenbar auch, wenn die Entscheidung sehr spontan und plötzlich getroffen wird. Bereits die Minuten, die vergehen, bis die Suizidtat unwiderruflich vollzogen ist, sind vollkommen überdeterminiert durch den gleich 495 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

eintretenden Tod infolge der beschlossenen Suizidhandlung. Dennoch, in diesen Minuten bleibt auch Zeit, um nachzudenken und die Entscheidung zu prüfen, gegebenenfalls auch zu revidieren. Dem Leben kann eine erneute Chance eingeräumt werden, der Suizid kann auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Es ist entsprechend naheliegend anzunehmen, dass ein Mensch, der zu impulsiven Entscheidungen tendiert, der sehr kurzfristig in seinem Handeln orientiert ist und der seine Impulse nur schlecht zu regulieren und zu steuern vermag, ein deutlich höheres Risiko aufweisen müsste, auch tatsächlich einen Suizidversuch zu begehen, wenn er erstmal suizidal geworden ist. Genau diesen Zusammenhang benennt die empirische Suizidforschung als »Impulsivität«. Dieses Missverhältnis von »Impulsregulationsfähigkeit« und »Impulsaufkommen« kann sowohl aus einer Einschränkung der Impulsregulationsfähigkeit als auch aus einem erhöhten Impulsaufkommen oder beidem resultieren. Darüber hinaus sind damit zum einen Merkmale der Person gemeint, welche stabil durch die Lebenssituationen beim betreffenden Menschen aufgefunden werden können, als auch zum anderen ausdrücklich Merkmale der aktuell gegebenen suizidalen Erfahrung. In einer übersichtsartigen Studie unterscheiden Holden und Mitarbeiter 1998 zwei empirisch differente Weisen der suizidalen Erfahrung. Im einen Fall zeigt sich insbesondere eine Unerträglichkeit des aktuellen Selbstseins, die mit einer ernsthaften Suizidabsicht verbunden ist. Zudem korreliert dies mit dem Erleben eines aktuellen Kontrollverlusts, einer erhöhten Impulsivität ohne stattfindende Reflexion – also vorwiegend einer eingeschränkten Impulsregulationsfähigkeit – und dem unausweichlichen Wunsch, dem Ganzen zu entfliehen (sog. »internal pertubations«; Holden et al. 1998). Dem gegenüber findet sich eine zweite Form der suizidalen Erfahrung, die deutlich stärker »beziehungsorientiert« ist, in der sich der angekündigte Suizid eher wie ein Appell an die anderen Menschen verstehen lässt und in dem deutlich seltener ein ernsthafter Wunsch besteht, tatsächlich zu versterben (sog. »extrapunitive/manipulative« motivations; Holden et al. 1998). In diesem Sinne wird verständlich, dass »mehr oder weniger spontane« bzw. impulsive Suizidversuche vorwiegend bei denjenigen suizidalen Menschen vorkommen, die der Unerträglichkeit bzw. ihrer Verzweiflung des aktuellen Selbstseins entfliehen wollen (Schnyder et al. 1999; Nordström et al. 1996). Nahezu 80 % der Menschen unterneh496 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidentscheidung und Impulsregulationsfhigkeiten

men nach diesen Studien ihren Suizidversuch impulsiv und zudem im Sinne einer Flucht vor der Unerträglichkeit. Diese empirische Erkenntnis kann sehr gut mit Shneidmans Modell des psychischen Schmerzes verstanden werden und gilt offenbar auch, wenn die suizidale Handlung wie ein »Notfallplan« innerlich bereits bereitliegt. Dear versteht diese Impulsivität als »dysfunctional impulsivity« und bezeichnet damit »the tendency to engage rapid, error-prone information processing because of an inability to use slower, more methodical approach«, wobei diesem »methodisch-reflektierten Nachdenken« eben gerade bestimmte Aspekte der eigenen personalen Struktur entgegen stehen (Dear 2000; Dickman 1990). Sicherlich ist mit einer solchen Unterscheidung der Wunsch verbunden, eine »funktionale Impulsivität« gegenüber einer typisch suizidalen Impulsivität abgrenzen zu können. Wäre diese Unterscheidung möglich, so würde dies im Falle einer »dysfunktionalen Impulsivität« bedeuten, dass explizit suizidale Impulse besonders schlecht reguliert werden könnten. Eine solche spezifisch eingeschränkte »Impulsregulationsfähigkeit« erscheint in der suizidalen Erfahrung insofern denkbar, da sich in dieser Verfassung alles um die Möglichkeit, sich töten zu können, ordnet und bewegt. Jedoch bleiben Zweifel inwiefern eine solche eingeschränkte Impulsregulationsfähigkeit in der personalen Struktur exakt für suizidale Impulse vorgegeben sein soll. Eine solche Annahme treffen im Übrigen auch die psychoanalytischen Modelle nicht, vielmehr gehen sie zugleich von einer Zunahme suizidaler Impulse aus, die die gegebenen (eingeschränkten) Impulsregulationsfähigkeiten überfordern. Zudem ist in diesem Zusammenhang zu fragen, ob nicht zumindest ein »Suizid-Notfallplan« bei den meisten Menschen vorliegt, der dann »nur« impulsiv in die Tat umgesetzt wird. Gerade ein solcher »Suizid-Notfallplan« könnte den bekannten Zusammenhang verständlich machen, dass Menschen, die bereits einen Suizidversuch unternommen haben – oder zumindest kurz davor waren – oder nächste Angehörige haben, die bereits einen Suizid versucht haben, besonders häufig erneut einen Suizidversuch unternehmen (Joiner et al. 2005). Jedoch gibt es auch Hinweise, dass eingeschränkte Impulsregulationsfähigkeiten und ein erhöhtes Aufkommen von Impulsen geradezu typisch für die suizidale Erfahrung sind. So lassen sich anhand der eingeschränkten Impulsregulationsfähigkeiten und des erhöhten Impulsaufkommens suizidale von nicht-suizidalen, aber ebenfalls psychisch 497 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

erkrankten Menschen unterscheiden (Horesh et al. 1997). Dies zeigt sich auch noch vier Wochen nach einem Suizidversuch (Corruble et al. 1999). Unklar bleibt in diesem Modell allerdings, ob nun eher das erhöhte »Impulsaufkommen« oder die eingeschränkten »Impulsregulationsfähigkeiten« verantwortlich für die erhöhte Impulsivität in der suizidalen Erfahrung sind. Dies ist auch insofern schwer zu differenzieren, da die Impulsregulationsfähigkeiten des Menschen auch so verstanden werden können, dass sie bereits ansetzen, noch bevor überhaupt ein Impuls in eine mehr oder weniger willkürliche Bewegung bzw. intentionale Handlung oder gar die Erfahrung eines gespürten Impulses mündet. Es stellt sich also die Frage, ob es eine ununterbrochene Linie zwischen den ersten Anfängen eines Impulses und dem tatsächlich ausgeführten Verhalten gibt, oder ob vielmehr eine Vielfalt von anfänglichen (präreflexiven) Impulsen zunehmend differenziert, abgeglichen und verbunden in ein somit bereits mehrfach reguliertes Verhalten münden. Von diesen modellinhärenten Fragen unbenommen können wir aber jedenfalls festhalten, dass das empirische Modell für die suizidale Erfahrung ein die persönlichen »Impulsregulationsfähigkeiten« überforderndes »Impulsaufkommen« annimmt, wobei Letzteres insbesondere auch das Aufkommen suizidaler Impulse meint. Die von uns bereits mehrfach beschriebene innere Widersprochenheit der Person findet sich also auch in diesem empirischen Konzept der Impulsivität wieder. Denn Impulse nennen wir das »Aufbrechen« einer tieferen Struktur immer dann, wenn die Bewegung des Aufbrechens dieser Struktur schneller geschieht, als der erlebte Rhythmus der aktuellen Situation und Verfassung. Dabei kann dieses Aufbrechen in unterschiedlichster Hinsicht geschehen und reicht von klaren Gedanken über mehr oder weniger fassbare Bilder bis hin zu dumpfen Ahnungen. Entscheidend ist für uns in diesem Zusammenhang, dass diese »aufbrechenden Motive« auf eine andere Struktur als die aktuell im Vordergrund stehende, von sich selbst erfahrene personale Gegebenheit verweisen. In der suizidalen Erfahrung ist diese andere Seite nun typischerweise genau die innerlich Widersprochene. So wird aus der verzweifelten Erfahrung, in der alles Rettende im Leben verloren ist, in die Erfahrung gewechselt, dass die Möglichkeit des eigenen Todes eine letzte Rettung verspricht. Diese beiden Erfahrungsweisen des aktuell sich vollziehenden eigenen Lebens sind in der suizidalen Erfahrung offenkundig aneinander gebunden, implizieren stetig einander und drängeln sich förmlich in den Vordergrund. Dabei ist es 498 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidentscheidung und Impulsregulationsfhigkeiten

von entscheidender Bedeutung, dass sich in der suizidalen Erfahrung dieses Wechselspiel der Impulse auf zwei sich widersprechende Erfahrungsweisen eingeengt hat. Aber, so könnte aus suizidologischer Sicht eingewandt werden, wird mit einem solchen phänomenologischen Verständnis, welches die Struktur dieser Erfahrung des Impulsiven in der suizidalen Erfahrung zu beschreiben versucht, nicht der eigentliche Ansatz des empirischen Konzepts der Impulsivität ausgehebelt? Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieses Konzept der Impulsivität nicht als die heutige empirische Antwort auf die Frage nach der »Irrationalität« des Suizids/Suizidversuchs verstanden werden kann. Dieses Argument folgt der Annahme, dass der Suizid unvernünftig wäre und der Mensch nur unvernünftigerweise den Suizidimpulsen folgen könnte. Eine »rationale« Begründung des Suizids würde dann von vornherein entfallen. Gegen diesen Einwand ist allerdings znächst vorzubringen, dass es durchaus eine innere Rationalität der Suizidbegründungen gibt (Schramme 2007). Diese liegt zwar nicht in einer »vernünftigen Bilanzierung«, sondern in der aus persönlicher Sicht vernünftig begründeten Annahme, das Leben nicht mehr im anvisierten Sinne sinnvoll führen zu können; eine durchaus sehr antike Konzeption von Lebensführung, die wir sowohl bei den Stoikern als auch bei Montaigne kennengelernt hatten. Diese spezifische Rationalität ist aber zuzugeben, auch wenn die Suizidbegründung die prinzipielle Offenheit des Lebens – und damit die Potentialität, neue Antworten auf den Sinn des eigenen Lebens zu finden – nicht in den Blick nimmt. Dennoch ist es zutreffend, dass der Suizid eine Antwort darauf sein kann, dass wir uns als Aufgabe gegeben sind. Dies gilt, auch wenn im Suizid das primär passive Gegebensein des Lebens nur aspekthaft angenommen wird, da sich der Mensch als Aufgabe ja nur dann verweigern kann, wenn er sich für diesen Akt der Verweigerung noch als Aufgabe gegeben bleibt. Das empirische Konzept der »Impulsivität«, welches annimmt, ein strukturelles Missverhältnis zwischen (eingeschränkten) »Impulsregulationsfähigkeiten« und (erhöhtem) »Impulsaufkommen« zu beschreiben, kann also keine Irrationalität oder Unvernünftigkeit des Suizids, des Suizidversuchs oder gar der suizidalen Erfahrung begründen. Jedoch verweist es darauf, dass in der suizidalen Erfahrung das Ganze (was auch immer jeweils beim Betreffenden damit gemeint sein soll) irgendwie drängender und dringlicher geworden ist. Und es macht uns verständlich, inwiefern der Suizid auch dann plötzlich gewählt wird, 499 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

wenn er zuvor schon lange erwogen worden war. So können wir festhalten, dass es praktisch keine suizidale Erfahrung ohne die Erfahrung eines (sich ankündigenden) Missverhältnisses zwischen (eingeschränkten) Impulsregulationsfähigkeiten und (erhöhtem) Impulsaufkommen gibt. Auch wenn sich dies bei dem einen suizidalen Menschen eher als ein spontan aufbrechendes Appellieren an die anderen Menschen findet und sich bei dem anderen eher als ein (ständiges) Aufflackern von Suizidimpulsen zeigt. Jedenfalls scheint sich das erhöhte Impulsaufkommen in der suizidalen Erfahrung insbesondere auf suizidale Impulse zu beziehen.

10. Risikofaktoren eines suizidalen Wesens Die Untersuchungen der suizidologischen Verständnisse der suizidalen Erfahrung, aber auch der Verständnisweisen in der europäischen Kulturgeschichte, hat uns unsere Wesenhaftigkeit als suizidales Wesen vor Augen geführt. Dabei vergewissern wir uns dessen als eine »Kann«Bestimmung: der Mensch versteht sich als suizidales Wesen, da er sich töten kann, sein Sich-töten-können aber nicht loswerden kann. Offenbar fordert das Leben vom Menschen, im Laufe seines Lebens lebensernst über den Suizid nachgedacht zu haben. Dieses Nachdenken über die eigene hypothetische Wirklichkeit des Suizids weist in den allermeisten Fällen eine kathartische Qualität auf, wie überhaupt nur jede 5. bis 30. suizidale Krise zu einem Suizidversuch führt (vgl. Crosby et al. 1999; Weissman et al. 1999; Goldney et al. 2000; Kuo et al. 2001; Hintikka et al. 2001; Renberg 2001). Zweifellos stehen für die aktuelle Suizidologie aber diejenigen Menschen im Mittelpunkt des Interesses, deren suizidale Krisen mit einem Suizid enden oder in einen Suizidversuch münden. Insofern fragt das suizidologische Verständnis nach eventuellen Besonderheiten, Eigentümlichkeiten und Charakteristiken derjenigen Menschen, die ein besonders hohes Risiko dafür aufweisen, aus ihrer suizidalen Erfahrung heraus eine suizidale Handlung vorzunehmen. Anders gesagt: sie sucht nach Risikofaktoren für suizidales Verhalten. Diese Frage verweist auf die Herausforderung, die uns angesichts einer methodischen Fundierung in der Phänomenologie mit dem Konzept des Risikofaktors zugemutet wird. Denn Risikofaktoren verstehen sich im phänomenologischen Zugriff eigenartig doppelbödig. Zum 500 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Risikofaktoren eines suizidalen Wesens

einen sollen die Risikofaktoren der suizidalen Erfahrung – den suizidologischen Verständnissen gemäß – als Faktoren verstanden werden können, die in funktionaler Qualität nachvollziehbar machen, inwiefern Menschen suizidal werden, Suizidversuche sowie Suizide unternehmen. Sie werden über Bevölkerungsstudien »statistisch gesichert« und müssen insofern nicht notwendig individuell zutreffen (Schneider 2008, S. 119). Zum anderen müssen einzelne Risikofaktoren, wenn ein Mensch in Entsprechung eines solchen Risikofaktors suizidal geworden ist bzw. diesen Risikofaktor aufweist, in weitere subspezifische Qualitäten aufgetrennt werden, um bei demjenigen Menschen erneut verständnisausweisende Kraft zu gewinnen. Diese doppelbödige Qualität von konkret benannten Risikofaktoren kann aus suizidologischer Sicht nicht verhindert werden, so dass sie zum Verständnis der suizidalen Erfahrung nur begrenzt beizutragen fähig sind. Risikofaktoren stellen also weder eine notwendige Bedingung für eine suizidale Erfahrung bzw. für einen Suizidversuch oder einen Suizid dar – beispielsweise im Unterschied zum Vermögen, sich Zu-sich zu verhalten, welches eine solche notwendige Bedingung ist –, noch sind sie eine hinreichende Bedingung für eine suizidale Erfahrung bzw. für einen Suizidversuch oder einen Suizid. Jedoch können sie gerade wegen ihrer vergröbernden Vereinfachung besonders gut in personale bzw. lebensweltliche Umstände übersetzt werden. Auch wenn hierdurch jeweils interpretatorische Verkürzungen der konkreten suizidalen Erfahrung des einzelnen Menschen erfolgen, erleichtern sie damit den suizidprophylaktischen Handlungsalltag für professionelle Helfer. Risikofaktoren sind insofern, bei allen Schwierigkeiten, die sie im Einzelfall aufweisen, von besonderem Interesse für die Suizidologie. Von daher verwundert es nicht, dass der suizidologische Diskurs immer wieder bemüht ist, die Kenntnisse um Risikofaktoren zu erweitern und zu präzisieren. Folgen wir den aktuellen suizidologischen Verständnissen, so finden sich insbesondere die folgenden Risikofaktoren: psychische Störungen, körperliche Erkrankungen, soziale Bedingungen, negative Lebensereignisse, frühere Suizidversuche sowie »andere Faktoren« (männliches Geschlecht, höheres Alter, Nachahmungseffekte) (vgl. Übersicht bei Schneider 2008). Dabei gilt für die suizidologischen Modelle, dass sie auf die verschiedenen Risikofaktoren üblicherweise im Sinne eines »Diathesis-Stress-Modells« zurückgreifen, sprich: je mehr Risikofaktoren, desto höher das tatsächliche Risiko. Dabei ist sicherlich die Frage erlaubt, inwiefern es spezifische »Färbungen« der suizidalen 501 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Erfahrung bzw. von Suizidversuchen und Suiziden bei psychischen Störungen, den Geschlechtern oder auch der Lebensphase gibt, beeinflussen diese doch im fundamentalen Sinn die Erfahrungsmöglichkeiten des betreffenden Menschen. Wie kann hier also die Verbindung der jeweiligen Risikofaktoren zur tatsächlich gegebenen suizidalen Erfahrung verstanden werden? Bevor wir aber auf diese wichtige Frage eingehen, ist anzumerken, dass diesen Modellen entsprechend auch »Schutzfaktoren« anzunehmen sind, welche nicht nur in der schlichten Abwesenheit von Risikofaktoren bestehen müssen, sondern eigenständig positiv formuliert sein können. Als solche sind, wie sich im Verlauf unserer kurzen Betrachtung der Risikofaktoren zeigen wird, insbesondere verlässliche und wertschätzend erlebte Beziehungen zu anderen Menschen zu nennen. In welcher Weise nun sind die in sozialepidemiologischen Studien statistisch gesicherten Risikofaktoren mit der gegebenen suizidalen Erfahrung verbunden? Bei dieser Verbindung sind zwei Punkte zu unterscheiden: a) eine immer erst rückblickende Interpretation der suizidalen Erfahrung bzw. des suizidalen Verhaltens als Ausdruck und Folge eines bestimmten individuellen oder situativen Umstands, welche insbesondere bei überlebten Suizidversuchen für die betreffende Person interessant sein kann; b) ein schon gegebener situativer oder individueller Umstand, welcher die jeweilige suizidale Krise von vornherein mitgestaltet und – möglicherweise – in spezifischer Weise »einfärbt«. Während im ersten Fall der Weg der statistischen Sicherung nachverfolgt wird, wird im zweiten Fall berücksichtigt, dass der jeweilige Mensch nicht ohne seine gegebenen Risikofaktoren suizidal werden kann. Beispielsweise kann ein Mann nicht ohne den Risikofaktor »männliches Geschlecht« und eine Frau nur ohne diesen Risikofaktor suizidal werden. Während also die Suizidologie mit der epidemiologischen Methode den ersten Weg beschreitet, interessieren sich andere suizidologischen Verständnismodelle letztlich immer auch für den zweiten Fall, wenn sie nicht nur schlicht das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Risikofaktoren im jeweiligen Einzelfall konstatieren wollen. Wie aber kann nun diese Einfärbung der jeweiligen suizidalen Erfahrung betreffend der jeweiligen Risikofaktoren verstanden werden? Beginnen wir mit dem bereits genannten Risikofaktor des »männlichen Geschlechts«. Der Risikofaktor des »männlichen Geschlechts« verweist auf den statistischen Umstand, dass Männer relativ gesehen mehr Suizide un502 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Risikofaktoren eines suizidalen Wesens

ternehmen als Frauen. Er ist insofern immer nur für Männer zutreffend, womit jedoch das dennoch gegebene Risiko »weibliches Geschlecht« nicht negiert wird. Damit bewegt sich dieser Risikofaktor folglich immer in einer Geschlechterspannung, welche aus der Polarität der zwei Geschlechter auf den verschiedensten Ebenen (Leiblichkeit, Selbstverständnis inklusive Kenntnis genetischer Anlage, Interpersonalität inklusive sozialer Rolle) entsteht. Die »geschlechtlichen Färbungen« können dabei ihrerseits keineswegs kategorisch verstanden werden – im Unterschied beispielsweise zu einer biologisch verstandenen Differenz der Geschlechter oder auch zu den persönlichen Selbstvergewisserungen geschlechtlicher Leiblichkeit –, sondern können allenfalls als in sich stimmige Typen von »weiblicher suizidaler Erfahrung« und »männlicher suizidaler Erfahrung« formuliert werden, auch wenn diese (vermutlich) von lebenden Menschen in dieser Einseitigkeit gar nicht verkörpert und gelebt werden können. Formuliert man solche überzeichneten Suizidstereotype hinsichtlich des Interpersonalen, so lässt sich das »Weibliche« eher als »tragend und regulierend«, das »Männliche« eher als »rivalisierend und abstützend« verstehen (Leenaars 1991; Gerisch 1998, S. 246; Kind 2001; Rachor 2001; Israel et al. 2001). Inwiefern es sich hierbei um biologisch vorgezeichnete oder um kulturell interpretierbare Rollen handelt, ist für diese vereinfachende Beschreibung von Verhaltensmustern nicht erheblich, auch wenn die Frage sicherlich spannend und die Antwort aufschlussreich wäre. Für den hier dargestellten Risikofaktor »männliches Geschlecht« zeigt sich aber, dass er sich von der Frage der »Färbung« kategorial unterscheidet. Denn da die »männliche Färbung« eines Suizids auch darin gefunden werden kann, dass sich eine Frau in Isolation mit einer »harten Methode« das Leben nimmt, ändert es nichts am Risikofaktor »männliches Geschlecht«, wenn ein Mann nach vielfältigsten Appellen mit einer »weichen Methode« aus dem Leben scheidet. Es stellt sich also die Frage, ob nicht der Risikofaktor »männliches Geschlecht« letztlich auf die leiblich vermittelte »männliche Färbung« zurückgeht und ob nicht eine rivalisierend-abstützende Weise des Miteinanders aussagekräftiger hinsichtlich des Suizidrisikos ist als das biologische Geschlecht. Etwas anders zeigt sich die Verbindung von Risikofaktor und gegebener suizidaler Erfahrung bei den verschiedenen psychischen Störungen. Auch wenn statistisch der Nachweis unzweifelhaft ist, dass psychische Störungen (depressive Störungen, Angststörungen, psy503 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

chotische Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis, Abhängigkeitsstörungen, Persönlichkeitsstörungen) mit einer relativ erhöhten Suizidrate einhergehen, ist die Verbindung keineswegs einheitlich (vgl. auch Finzen 1995). So ist es bei den depressiven Störungen tatsächlich die »depressive Färbung«, also die depressive Verstimmung mit ihrer Hoffnungs- und Hilflosigkeit, welche mit dem erhöhten Suizidrisiko einhergeht (Wolfersdorf/Keller 2000). Ebenso findet sich das von Angststörungen bekannte Vermeidungsverhalten in der »ängstlichen Färbung« der suizidalen Erfahrung wieder, wenn ein Mensch mit einer ausgeprägten Angststörung den Suizid erwägt, da er die Aussicht auf wiederkehrende Panikattacken als unerträglich erlebt. Jeweils weist der Risikofaktor der psychischen Störung in den genannten Fällen eine direkte Verbindung mit der suizidalen Erfahrung auf, da er seinerseits wesentliche Voraussetzungen für suizidale Krisen hervorbringt. Bei Menschen mit schizophrenen Störungen sind es dabei eher selten psychotische Erlebnisse, wie beispielsweise Stimmen, die einen zum Suizid auffordern, die den entscheidenden Beweggrund zum Suizid darstellen. Vielmehr zeigen phänomenologische Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung schizophren erkrankter Menschen, dass die krankheitsbedingte Einsamkeit bzw. störungsspezifisch strukturelle Schwierigkeit, ein soziales Miteinander leben zu können, wichtige Beweggründe für suizidale Krisen sind (Škodlar et al. 2008). Insofern findet sich hier dann doch häufig eine gewisse »schizophrene Färbung« der suizidalen Erfahrung, welche sich wiederum am ehesten als Verlust der Fähigkeit zur Teilhabe am Gemeinschaftlichen verstehen lässt (»loss of common sense«). Andererseits sind es gerade bei Menschen mit schizophrenen Erkrankungen »realistische« Einschätzungen – »realistisch« in diesen Fällen vorwiegend im Sinne von »interpersonal teilbar« verstanden –, wie die vernünftige Einsicht in die Chronizität der Erkrankung oder das Realisieren des Wiederaufkommens einer Psychose, welche mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergehen (Heilä et al. 1998; Mann et al. 1999; Krupinski et al. 2000; Walsh et al. 2001). Beides sind letztlich Einsichten, wie sie sich auch für andere chronische psychische und insbesondere für chronische körperliche Erkrankungen finden lassen, die ihrerseits mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergehen – insbesondere auch dann, wenn sie mit chronischen Schmerzen verbunden sind (Harris/Barraclough 1997). Zudem gehen schwere psychische Störungen typischerweise mit weiteren Einschränkungen einher, die wir bereits bei verschiedenen suizidologischen Verständnis504 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Risikofaktoren eines suizidalen Wesens

modellen als wichtige Merkmale der suizidalen Erfahrung kennengelernt hatten, wie beispielsweise eingeschränkte kognitive Lösungsfähigkeiten oder eine erschwerte Impulsregulation. Diese relative Vielfalt der Verbindungen zwischen Risikofaktor und gegebener suizidaler Erfahrung findet sich auch bei den Abhängigkeitserkrankungen. Hier stehen neben der sozialen Vereinsamung insbesondere auch eigene psychotraumatische Erfahrungen im direkten Zusammenhang mit der suizidale Krisen (vgl. Roy/Janal 2007), so dass diesbezüglich nicht von einer »süchtigen/abhängigen Färbung« gesprochen werden kann. Jedoch finden sich auch hier krankheitsbedingte Zusammenhänge, da der hohe Konsum psychotroper Substanzen seinerseits die Fähigkeiten einschränkt, mit herausfordernden Lebenssituationen positiv bewältigend zurechtzukommen. Hierbei sind insbesondere eine gesteigerte Impulsivität, beispielsweise im Rahmen einer Alkoholintoxikation, und eine hohe Instabilität von persönlichen Beziehungen im längeren Verlauf bedeutungsvoll (Hendin 1991; Nielsen et al. 1996; Mann et al. 1999). Betrachten wir die genannten Verbindungen der verschiedenen »psychischen Störungen« als Risikofaktoren mit der suizidalen Erfahrung, so zeigen sich einige störungsspezifische Einflüsse, die diese überhaupt erst mitbedingen (depressive Verstimmung, Angst vor der Angst, Vereinsamung, eingeschränkte Lösungsmöglichkeiten bzw. erschwertes Bewältigungsverhalten). Es finden sich insofern durchaus spezifische Färbungen. Andererseits zeigen sich dem suizidologischen Verständnismodell gemäß die psychischen Störungen vor allem als Mediatoren, um in eine entsprechend suizidale Verfassung hineinzukommen, in die Menschen prinzipiell auch ohne psychische Störungen gelangen könnten. So kann also mit einiger Berechtigung gesagt werden, dass Menschen mit psychischen Störungen schlichtweg häufiger in krisenhafte Situationen geraten, in denen dann entsprechend Verzweiflung aufzukommen vermag. Die suizidale Erfahrung von psychisch kranken Menschen ist, so gesehen, nicht grundsätzlich anders als die suizidale Erfahrung von psychisch gesunden Menschen. Es gilt von daher die Feststellung von Asmus Finzen: »Suizidalität ist Symptom zahlreicher psychischer Störungen. Sie begleitet den therapeutischen Prozess. Sie ist Nebenwirkung therapeutischer Verfahren – der aufdeckenden Psychotherapie ebenso wie des Einsatzes von neuroleptischen oder antidepressiven Medikamenten. Sie ist nicht überwiegend Zeichen der Verschlimmerung des Grundleidens. Oft ist sie – wie bei 505 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Depressionen und bei den Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis – Begleiterscheinung einer kritischen Phase der Wiederherstellung.« (Finzen 1997, S. 20) Andererseits sagt dies aber nicht, wie es zumeist mit dem medizinisch-psychiatrischen Modell bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts zuspitzend argumentiert wurde, dass nun prinzipiell jede suizidale Erfahrung vor dem Hintergrund psychischer Störungen entsteht bzw. nur vor diesem Hintergrund überhaupt möglich sein kann. Im Gegenteil kann gesagt werden, dass psychische Störungen den Menschen in besonderem Maße dazu befähigen, suizidal zu werden. Dies, da sie Erlebnisweisen und Situationen entsprechen bzw. hervorbringen, in denen Menschen üblicherweise suizidal werden können. Insofern zeigen sich psychische Störungen nicht nur in einem sozialepidemiologisch-statistischen, sondern auch in einem lebensweltlich-persönlichen Sinn als Risikofaktoren. Als weiterer Risikofaktor, den wir betrachten müssen, bevor wir uns dem Risikofaktor der eigenen Suizidversuche in der Vorgeschichte zuwenden, bleibt noch der Risikofaktor des hohen bzw. höheren Alters. Hier nun findet sich sehr viel klarer eine »Färbung« der suizidalen Erfahrung, als wir dies bei den psychischen Störungen aufweisen konnten. Dies wird bereits darin deutlich, dass im Alter dem Menschen die Endlichkeit seines Lebens und die Unumkehrbarkeit des gelebten Lebens besonders deutlich vor Augen tritt. Während die Jugend von sich selbst nur die Kindheit kennt, kennt das Alter alle vorlaufenden Lebensphasen und gilt in unserer Kultur zudem als die letzte Phase des Lebens. Dabei gewinnt das Alter erst darin eine spezifisch kulturelle Qualität, wenn sich der alte Mensch seines Alters vergewissert, womit zugleich gesagt ist, dass einem alten Menschen seine eigene Lebensgeschichte wichtig ist. Denn der alte Mensch lebt zunehmend und vorwiegend, wie Norberto Bobbio (1909–2004) im hohen Alter von 85 Jahren von sich selbst erzählt, in einer »Welt der Erinnerungen«, deren einziger Wächter und Erzähler er selbst geworden ist (Bobbio 1999). Er lebt aus seiner Lebensgeschichte heraus eine Zukunft, die ihrerseits auf das Bewahren und Vermitteln des Vergangenen bezogen ist. Für das höhere Alter können wir – ausgehend von Selbstzeugnissen von Schriftstellern des 20. Jahrhunderts – sagen: »Die Individualität wird im Alter vom Verdacht der Vergeblichkeit bedrängt. Die Selbstverwirklichung stößt aufgrund der individuellen Schwäche an ihre Grenze, ohne dass zu einem glaubhaften Allgemeinen, welches das Individuelle aufheben und bergen könnte, Zuflucht genommen werden 506 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Risikofaktoren eines suizidalen Wesens

kann.« (Salzberger 2003, S. 168) Dabei gilt jedoch, dass aus einer »sinnvollen Vergangenheit« eine »sinnvolle Zukunft« besser gelebt werden kann – auch entgegen der Alterserfahrungen der zunehmenden Vereinzelung durch das Versterben von Partnern, Freundinnen und Freunden und durch die in transatlantischen Gesellschaften gestiegene Mobilität zunehmende Entfernung von Kindern und Kindeskindern und damit auch den Verlust der Zuhörer und Gesprächspartner (Maris 1981; Haight/Hendris 1998). Auch sozial empirische Befunde sprechen dafür, »dass der Mangel sozialer Ressourcen dominanter wirksam ist als materielle Lebenslagendimensionen. Allerdings scheint materielle Sicherung eine Voraussetzung antisuizidaler Lebenslagen zu sein« (Schulz-Nieswandt 1997, S. 52). Dies gilt umso mehr, da es in dieser Lebensphase zum »Nachlassen von körperlich fundierten Glückserfahrungen und ekstatischen Momenten [… und …] einer weltzugewandten Neugierde« kommt (Salzberger 2003, S. 169). Diese altersbedingte Verlangsamung und Minderung des Aktivitätsniveaus und des Aktivitätsradius (sog. »Minderung der Vitalität«) formuliert Bobbio als eine erzwungene Verlangsamung des Lebens in der Paradoxie zur zunehmenden Kürze des Lebens: »Wer in den letzten Lebensabschnitt eingetreten ist, macht eine Erfahrung, die ihn mal mehr, mal weniger erschrecken wird: Es ist der Gegensatz zwischen der Langsamkeit, zu der er gezwungen ist, wenn er seine tägliche Arbeit verrichtet, für deren Erledigung er eigentlich viel mehr Zeit zur Verfügung haben müsste, und dem unvermeidlichen Nahen des Endes. Der junge Mensch ist schneller und hat mehr Zeit vor sich. Der alte Mensch kommt nicht nur langsamer voran, auch die Zeit, die ihm noch bleibt, um die Arbeit, die er in Angriff genommen hat, zu Ende zu führen, wird immer knapper. Die Zeit drängt. Ich müsste schneller werden, um noch rechtzeitig anzukommen, stattdessen erlebe ich Tag für Tag, dass ich gezwungen bin, mich immer langsamer zu bewegen.« (Bobbio 1999, S. 60)

Der alte Mensch muss sich individuell und in persönlicher Typik der Endlichkeit seiner mühsam erarbeiteten Persönlichkeit und der fraglichen Vergeblichkeit aller vorlaufenden Lebensanstrengung im Sinne seiner lebensgeschichtlich fundierten personalen Struktur stellen. Auch Bobbio findet eine persönliche Note für diese Erfahrung: »Man sagt, die Weisheit eines alten Menschen bestehe im resignierten Akzeptieren der eigenen Grenzen. Doch um sie akzeptieren zu können, muss man sie erkennen. Um sie zu kennen, muss man versuchen, 507 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

ihnen einen Sinn zu verleihen. Ich bin nicht weise geworden. Die Grenzen kenne ich wohl, aber ich akzeptiere sie nicht. Ich gestehe meine Grenzen ein, aber nur, weil ich nicht anders kann.« (Bobbio 1999, S. 61) Die lebensgeschichtlich fundierte Identität vergewissert sich demnach im Alter – angesichts ihrer begrenzten Vitalität und ihrer unausweichlichen Endlichkeit – immer auch entlang der Frage nach der Vergeblichkeit ihrer lebensgeschichtlichen Fundierung: »Das Individuum entwickelt sich nicht in eine Richtung eines Zustandes, in dem die Lebensbejahung leichter fiele, sondern sie wird schwieriger.« (Salzberger 2003, S. 169) Der Umstand, dass die Lebensbejahung im Alter nicht einfacher, sondern schwieriger wird, macht verständlich, inwiefern die Entscheidung zum Suizid bei älteren Menschen oftmals eine »rationale Färbung« gewinnt. Diese »rationale Färbung« ist nicht gleichbedeutend mit der Frage nach einer definierten Rationalität der Entscheidung, wie sie insbesondere auch aus einer philosophischen Perspektive gestellt werden kann (Birnbacher 1990; Schramme 2007; Nickl 2008). Sondern sie beschreibt die Eigenart, dass uns jüngeren Menschen die Verzweiflung des alten Menschen endgültiger und insofern nachvollziehbarer erscheint. Denn auch wir haben beispielsweise keine Antwort auf die Frage, woher denn die Verwandten, Kinder sowie Freundinnen und Freunde kommen sollen, wenn es sie alle bereits gegeben hat und sie nun mittlerweile alle schon verstorben sind. Es ist ein nachvollziehbarer Umstand, dass im höheren Alter eben keine weit reichende Offenheit der Zukunft mehr gegeben ist, welche die Hoffnung erlaubt, dereinst einmal »in ferner Zukunft« eine ausreichend tiefe Lebenszufriedenheit erreichen zu können. Lebenszufriedenheit wird im Alter also offenbar dringlicher und zugleich schwieriger erreichbar, wird sowohl von ihrer Vorübergehendheit begleitet als auch in ihrer Illusion dereinstiger ausreichender Tiefe entlarvt, denn: »Nur die allerobersten Erscheinungen sind uns bekannt, aber wir wissen nicht, was uns im Grunde bestimmt und selbst die Spanne eines langen Lebens reicht nicht aus, das, was wir in Wahrheit sind, in Erfahrung zu bringen.« (Rombach 1993, S. 285 f.) Es zeigt sich folglich, dass der Risikofaktor »Alter« in einem sehr spezifischen Sinn eine Verbindung mit der gegebenen suizidalen Erfahrung aufweist. Denn die Vergänglichkeit der Bemühungen, die Unveränderlichkeit der Situation und die Unausweichlichkeit des Gegebenen werden angesichts der zunehmenden Nähe des eigenen Todes zugespitzt. Hierin ist die Suizidentschei508 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Risikofaktoren eines suizidalen Wesens

dung allen Menschen innerlich nachvollziehbar und erscheint insofern jedem Einzelnen, der sich mit der Suizidentscheidung eines alten Menschen beschäftigt, von vornherein begründeter, ja geradezu »rational«. Und dies ganz unabhängig von der Frage nach einer anderweitig begründbaren Rationalität der betreffenden Suizidentscheidung. Bereits der Umstand des höheren Alters des Betreffenden verleiht dem Suizid infolge der lebensphasischen Todesnähe eine »rationale Färbung«. Vergleichbar der »Utopia« von Thomas More findet sich hier wie dort eine gemeinsame Einigkeit über die Suizidwürdigkeit einer Lebenssituation und mündet in eine gemeinschaftliche »Erlaubnis« zum Suizid. Denn wenn sich alle beteiligten Menschen einig sind, dass das Leben unerträglich, ausweglos und ohne Rettung mit Ausnahme des Todes ist, ist jedenfalls in dieser Situation kein Argument gegen den Suizid mehr zu gewinnen. Dies potentiell mögliche interne Nachahmung des Verhaltens anderer ist auch von entscheidender Bedeutung zum Verständnis des Risikofaktors der eigenen Suizidversuche in der Vorgeschichte, der abschließend betrachtet werden soll. Bereits versuchte Suizide sind, unabhängig von allen bereits benannten Risikofaktoren der wesentliche Risikofaktor mit statistischer Vorhersagekraft. Dabei ist die Kenntnis, dass Menschen, die bereits einmal einen Suizidversuch absolviert haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut einen Suizid versuchen werden, mittlerweile suizidologisches Allgemeingut (Schneider 2008). Dies gilt auch im Sinne einer »familiären Suizidgeschichte« (Suizide bzw. Suizidversuche der Eltern oder Geschwister) (Vijayakumar/Rajkumar 1999; Roberts et al. 1998). Dabei gibt es zudem auch Familien, in denen eine Tradierung suizidalen Verhaltens erfolgt (Schleiffer 1979; Runeson/Åsberg 2003). Dies geht weit darüber hinaus, dass Familienmitglieder keine zureichende Unterstützung in ihren Lebenskrisen erfahren – ein ebenfalls wichtiger Risikofaktor (McGarvey et al. 1999; Randell et al. 2006) –, und es geht ebenfalls darüber hinaus, dass es auch Familientraditionen der eingeschränkten Problemlösefähigkeiten hinsichtlich interpersonaler und emotionaler Herausforderungen gibt (Jeglic et al. 2005). Sondern es meint tatsächlich die transgenerationale Weitergabe suizidalen Verhaltens. Es ist aufschlussreich, dass sich auch in den »Abschiedsbriefen« Unterschiede zwischen Menschen mit vorhergehenden Suizidversuchen gegenüber Menschen ohne entsprechende Vorgeschichte finden lassen. »Those without a suicidal history tended to be unable to endure 509 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

the pain of loss they were experiencing, and this seems to have been the primary motivation for their suicide. The ›previous attempt‹ group more often recounted problems about the development of meaningful attachments or appeared to perceive the suicide act as an extreme form of self-punishment.« (O’Connor et al. 1999) Unterschiede zeigen sich auch, wenn die Nachgeschichte eines überlebten Suizidversuchs genauer betrachtet wird. Dies betrifft nicht nur das erhöhte Risiko eines erneuten Suizidversuchs, zumeist im Ablauf der nächsten zwölf Monate (Hawton 2006), sondern auch, dass andere vorbestehende, aber potentiell veränderliche Risikofaktoren, wie beispielsweise psychische Störungen, oftmals weiter bestehen. So zeigen sich bei der Hälfte der Personen auch noch 8 1/2 Jahre nach einem Suizidversuch deutliche psychopathologische Auffälligkeiten im Sinne psychischer Störungen (Curran et al. 1999). Nachvollziehbarerweise gibt es neben den genannten Risikofaktoren auch Schutzfaktoren, welche »statistisch gesichert« die Manifestation einer suizidalen Erfahrung sogar bei Vorliegen anderer Risikofaktoren erschweren. Im Wesentlichen findet sich hier der Faktor der Interpersonalität, der allerdings lebensphasisch unterschiedlich gestaltet ist. Jeweils handelt es sich aber um das Aufgehobensein in einem Geborgenheit vermittelnden und verlässlich zugänglichen »Wir«, sei es als Familie aus der Kinder, Eltern- oder Großelternperspektive, sei es als Beziehung aus der (Ehe)Partner- oder Freundesperspektive. Dabei fördert die Gemeinschaft – zumindest im positiven Fall – ein aktives Bewältigungsverhalten ihrer jeweiligen Exponenten. Indem der Andere – vor allem im gemeinsamen Gespräch – intern die Situation des Betreffenden nachzuvollziehen sich bemüht, kann er nicht nur für sich selbst die Verzweiflung nachempfinden, so dass sich der Betreffende verstanden fühlt. Sondern das gemeinsame Gespräch ermöglicht im besten Fall das Auffinden von alternativen Handlungsoptionen und eine damit einhergehende Veränderung der Situation als Handlungsraum, so dass der Betreffende wieder in wirksamer Weise seine Ziele in seinen Situationen verfolgen kann. Dies gilt insbesondere auch für Jugendliche (Bründel 1993, bes. S. 226; de Man et al. 1993; Morano et al. 1993; Chabrol/Sztulman 1997; Günter et al. 1999). In völlig undramatischer Weise können wir zudem festhalten, dass auch die Auseinandersetzung in künstlerischer Gestalt – wie sie Goethe beispielsweise mit seinem Werther vollzogen hat – als ein solcher »Gesprächspartner« dienen kann. Diese einen zweiten Blick erfordernde und ermöglichende 510 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zwischenfazit I.

Reflexion stellt eine andere Form des Handelns in der Situation des Verzweifelns dar. Sie eröffnet aber auch die Möglichkeit, eine erfahrene Irritation rückblickend so aufzunehmen, dass ein Rettendes sich abzuzeichnen vermag. Es zeigt sich also zusammenfassend, dass Risiko- und Schutzfaktoren tatsächlich auf zwei unterschiedliche Weisen auf die suizidale Erfahrung Einfluss nehmen. Sie sind in den suizidologischen Verständnismodellen der suizidalen Erfahrung oftmals bereits Bestandteil des Modells und zeigen sich damit als »statistisch gesicherte« Mediatoren für suizidale Krisen, obwohl sie andererseits – im Einzelfall des Betroffenen – generell unvermeidbare Gegebenheiten aller für den Betroffenen potentiell möglichen Erfahrungen sind. In diesem zweiten Sinne »färben« sie von vornherein die individuell gegebene suizidale Erfahrung, ohne dass sich diese deshalb in der Weise ihrer Gegebenheit in einem fundamentalen Sinne strukturell von anderen suizidalen Erfahrungen unterscheiden würde.

11. Zwischenfazit I. Die leitende Frage der suizidologischen Verständnismodelle ist die Frage nach dem »Warum« der suizidalen Krise. Dementsprechend zielen die Modelle nur sekundär auf ein Verständnis des innenperspektivischen Sinns, den eine Person ihrer suizidalen Erfahrung, ihrem überlebten Suizidversuch oder ihrem anstehenden Suizid zumisst. Dennoch ragt die Sinnhaftigkeit der suizidalen Erfahrung in die suizidologischen Verständnismodelle hinein. Dabei wird der Sinn vor allem darin gesehen, dass der Suizid eine Flucht aus der Unerträglichkeit darstellt und eine gewisse Erleichterung verspricht. In manchen Modellen, insbesondere in den psychoanalytischen Modellen, zeigt sich der Suizid aber auch insofern als ein attraktives Ziel, da der eigene Tod mit »Verschmelzungsphantasien« aufgeladen sei. Wesentlich ist aber, dass diese Phantasien üblicherweise – und entgegen der Annahme in den psychoanalytisch geprägten Modellen – noch als Phantasien durchschaubar bleiben, wobei sie zwar (im religiösen Sinne) geglaubt, aber eben nicht gewusst im Sinne eines wissenschaftstheoretischen »justified belief«) werden können. Unthematisiert bleibt in den suizidologischen Verständnismodellen hingegen die Erfahrungsqualität des eigenen Todes als Selbstopfer. Gerade hierin scheint aber ein wesentlicher Sinn des 511 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

eigenen, auch phantasierten Todes zu bestehen. Ist doch das Selbstopfer mit Wünschen, Phantasien und Vorstellungen darüber verbunden, wie dieses Opfer mit demjenigen, dem dieses Opfer gebracht wird, für einen letzten Moment die verlorene Gemeinschaft nochmals herzustellen vermag. Allerdings bleibt festzuhalten, dass sich der Suizid in den suizidologischen Verständnismodellen – abgesehen von der Flucht aus der Unerträglichkeit – tatsächlich als wenig sinnausweisend zeigt. Er gewinnt diesen Modellen gemäß seine besondere Qualität offenbar daraus, dass in ihm der Tod als das radikal Andere des Lebens selbständig und eigenaktiv angezielt werden kann und dass der Betreffende sein Leben als aktuell verzweifelnd erfährt. Wie es jedoch verstanden werden kann, dass sich für einen Menschen – so verzweifelt er auch immer sein mag – im eigenen Tod eine letzte Rettung auszuweisen vermag, wird nicht thematisiert, sondern eher wie selbstverständlich angenommen. Ganz so, als ginge notwendigerweise eine gewisse Verzweiflung auch mit einer suizidalen Krise einher. Die fehlende Befragung dieser als selbstverständlich angenommenen Gegebenheit führt jedoch dazu, dass die suizidologischen Verständnismodelle für die existentiellen Zusammenhänge der suizidalen Erfahrung erstaunlich »blind« bleiben und die Frage nach dem »Wozu« bzw. dem Sinn des eigenen Lebens nur ausnahmsweise thematisieren. Dies ist anders, wenn als leitende Frage nach dem »Wie« der suizidalen Erfahrung gefragt wird, da dann die Grundfrage dieser Erfahrung selbst in den Blick rückt. Diese Grundfrage der suizidalen Erfahrung ist aber eben gerade die Frage nach dem »Wozu« bzw. dem Sinn des eigenen Lebens. Dabei ist zuzugeben, dass diese Frage im Hintergrund der suizidologischen Verständnismodelle (in gewisser Hinsicht) dennoch eine Antwort findet, welche als unbefragte Basis in die Frage nach dem »Warum« der suizidalen Krise mitgenommen werden kann bzw. von einigen Modellen unbemerkt mitgenommen wird. Dieser Hintergrund ist der des Gestells (oder Modells), in dem die Antwort auf diese Frage in der weiteren Zurechtstellung liegt. Das »Wozu« des Gestells liegt in der Selbststeigerung des Gestellhaften, welches wesentlich ein Machen ist. Insbesondere für »gestellhafte« Verständnismodelle gilt dabei der Grundsatz der Machbarkeit: »Machen, was machbar ist, und machbar machen, was noch nicht gemacht werden kann.« (Baruzzi 1996, S. 33) Auf die hier untersuchten Modelle bezogen bedeutet dies, dass in ihrem Hintergrund das kulturelle Bild einer umfassenden Machbarkeit 512 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zwischenfazit I.

mitläuft, welches behauptet, dass das »Wozu« bzw. der Sinn des eigenen Lebens hergestellt und gemacht werden könnte. Sicherlich müssen wir zugeben, dass Lebenssinn, Glück und Zufriedenheit nicht im Sinne der Machbarkeit herzustellen sind. Insofern ist darauf zu verweisen, dass insbesondere im sich zurücknehmenden Sein-lassen des Gegebenen ein Sinn des Lebens gewonnen werden kann. Aber, in welcher Gestalt auch immer der einzelne Mensch reflexiv eine lebensgemäße Konsequenz seiner suizidalen Erfahrung erfasst; jedenfalls ist es für ein Verständnis dieser Grundfrage der suizidalen Erfahrung erforderlich, die Struktur dieses Erfassens der eigenen Existenz im Angesicht des Ganzen des eigenen Lebens – präsentiert in der Möglichkeit, sich töten zu können – zu verstehen. Dies erfordert tatsächlich ein vertieftes Verständnis der suizidalen Erfahrung in einem umfassenderen Verständnis des Humanen, als es üblicherweise in den suizidologischen Verständnismodellen gewährt wird. Die leitende Frage eines solchen Verständnisses ist aber eben gerade nicht mehr die Frage nach dem »Warum« der suizidalen Krise, sondern die Frage danach, wie es ist, suizidal zu sein? Sehr viel genauer und präziser lässt sich mit den suizidologischen Verständnismodellen hingegen die Unerträglichkeit und Verzweiflung des suizidalen Menschen in ihrer Entwicklung konzeptualisieren. Dabei lässt sich folgendes Modell beschreiben, welches sich wie eine Zusammenfügung der hier untersuchten Verständnismodelle verstehen lässt: Voraussetzung für die suizidale Erfahrung ist die Möglichkeit, sich seiner selbst hinsichtlich eines großen Ganzen vergewissern zu können. Vor diesem Hintergrund »entwirft« der Mensch im Verlauf seines Lebens ein Bild, eine Gestalt oder ein Ziel von sich selbst, wie er sein möchte. Dieses »Ideal«, welches keineswegs vollkommen bewusst sein muss und auch kein Entwurf im strengen künstlerischen Sinne ist, ist zudem eingebunden und aufgehoben in Gemeinschaften. Als zentral wird in den Verständnismodellen angesehen, dass der Mensch mit Hilfe seiner »Problemlösefähigkeiten« und seiner »Impulsregulationsfähigkeiten« immer wieder seinen als notwendig erachteten Lebenszielen nachgehen kann und den Eindruck bewahrt, sie – gegebenenfalls mit Unterstützung seiner Gemeinschaften – in seinem Leben trotz aller Herausforderungen, Probleme und Widrigkeiten erreichen zu können. Von Bedeutung ist dabei, dass es insbesondere Konflikte mit wichtigen anderen Menschen sind, die die Differenz von Anvisiertem und Gewünschtem gegenüber dem Erreichbaren und 513 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie I: Verschlossenheit, Unertrglichkeit, Selbstspaltung

Gegebenen unmissverständlich deutlich machen können. Die spontane Selbstbewertung in der (suizidalen) Krise jedenfalls fällt negativ bis vernichtend aus. Beschämende Bloßstellungen innerhalb einer wichtigen Gemeinschaft – gewissermaßen die interpersonale Seite der Medaille einer schweren narzisstischen Kränkung – scheinen typischerweise Anlass für eine suizidale Krise werden zu können. Den suizidologischen Verständnismodellen folgend steigert sich in der suizidalen Erfahrung die innere Widersprochenheit der Person: Die Differenz von dem, wie man ist, und dem, wie man sein will, wird für den Betreffenden immer deutlicher. Zugleich nehmen die konkreten, insbesondere interpersonalen »Problemlösefähigkeiten« ab und der Betreffende beschäftigt sich zunehmend mit seinen Wünschen und Befürchtungen, die auch von »Suizid-« oder »Opferphantasien« bis hin zu »Verschmelzungsphantasien« reichen können. Dies befördert wiederum die Isolation. Zumeist wird an die wichtigen anderen Menschen um Hilfe appelliert. Letztlich kann hier für den suizidalen Menschen aber auch sichtbar werden, dass die anderen ihm nicht mehr werden helfen können und dass er sich für die Gemeinschaft nur noch zu opfern vermag. Die »Hoffnungslosigkeit« und Verzweiflung steigert sich bis in die Unerträglichkeit, der Gedanke an den Suizid verspricht eine Flucht aus dieser Unerträglichkeit, aus der eigenen Widersprochenheit und eine Flucht aus dem beschämend-verletzenden interpersonalen Feld. In einem Wort: der Suizid erscheint als der letzte Weg, um diesem unerträglichen psychischen Schmerz zu entkommen. Das Aufkommen von Suizidimpulsen nimmt in dieser Verfassung zu, wobei die »Impulsregulationsfähigkeiten« zugleich geringer werden. Die Wahrscheinlichkeit, den Suizid tatsächlich zu vollziehen, steigt an, auch wenn der betreffende Mensch noch nicht fest entschlossen ist. Den Modellen folgend kann in dieser Verfassung – in Pöldingers Drei-Phasen-Verlaufsmodell heißt diese Phase »Phase der Ambivalenz«; besser wäre vermutlich die Bezeichnung »Phase der Unentschiedenheit« – auch ein sehr spontaner Entschluss zum Suizid gefasst und umgesetzt werden. Soweit die Zusammenfassung der suizidologischen Verständnismodelle, in der drei zentrale Merkmale der suizidalen Erfahrung erkennbar sind: a) Verschlossenheit, welche u. a. die eingeschränkten Problemlösefähigkeiten und Impulsregulationsfähigkeiten, die Hoffnungslosigkeit und die soziale Isolation mit zunehmender Beschäftigung mit der eigenen Innerlichkeit meint; b) Unerträglichkeit, die von der spontan negativen Selbstbewertung über die fehlende »innerliche 514 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zwischenfazit I.

Rückendeckung« durch das eigene Anvisierte und Gewünschte sowie durch wichtige andere Menschen bis zur als faktisch angesehenen Unerreichbarkeit des sinnstiftenden »Wozu« des Lebens reicht; c) innerliche Widersprochenheit, die immer auch eine interpersonale Dimension aufweist. Die innerliche Widersprochenheit klingt bereits in der Unerträglichkeit in ihrer affektiven Konsequenz mit an. Sie ist zudem mit der Unentschiedenheit hinsichtlich der Suizidentscheidung verbunden. Wichtig ist freilich, dass die Widersprochenheit auf die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens verweist. Diese Kopplung der Widersprochenheit mit der Frage nach dem »Wozu« in der suizidalen Erfahrung wird auch darin erkennbar, dass immer dann in den suizidologischen Verständnismodellen diese innere Widersprochenheit deutlich wird, wenn auch die Frage nach dem Sinn des Suizids (zumindest aspekthaft) aufgegriffen wird. Wir können annehmen, dass es sich bei dieser Widersprochenheit insbesondere um einen Widerspruch des Sinns handelt, der jeweils das Ganze (aus der Sicht der betreffenden Person) unterschiedlich ordnet und interpretiert. In den suizidologischen Verständnismodellen formuliert sich diese Widersprochenheit jedoch vor allem unter identitätstheoretischen Aspekten, so dass sogar von einer »suizidalen Selbstspaltung« gesprochen werden könnte (z. B. IdealSelbst vs. Real-Selbst). Zusammenfassend ergeben sich damit drei wesentliche Merkmale der suizidalen Erfahrung, die in den suizidologischen Verständnismodellen von ausgezeichneter Bedeutung sind: Verschlossenheit, Unerträglichkeit, innere Widersprochenheit (Selbstspaltung). Diese drei Merkmale haben für die hier unternommene Untersuchung bzw. für ein phänomenologisches Verständnis der suizidalen Erfahrung insofern eine weitreichende Bedeutung, da sie letztlich als Dreh- und Angelpunkte genutzt werden können, um aus der Frage nach dem »Warum« der suizidalen Krise in die Frage nach dem »Wie« der suizidalen Erfahrung zu wechseln. Auch wenn dies nur auf den ersten Blick scheinbar ohne phänomenologische epoché gelingt – und diese dann doch notwendig wird, wenn denn die Strukturbeschreibung der suizidalen Erfahrung abseits eines Mitfühlens bzw. Nachempfindens verstanden werden soll –, so verweist dieser Umstand darauf, dass diese drei Merkmale offenbar wesentlich zur wirklich gemachten suizidalen Erfahrung gehören.

515 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

VII. »Der Fall Franza«

… und ich habe den Tod gewählt, für alle Geständnisse Ingeborg Bachmann

Ingeborg Bachmann (1926–1973) gilt als die bedeutendste österreichische Lyrikerin und Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Ihr »Schreiben nach 1945« – also ein Schreiben nach dem Holocaust – führt den Leser unwiderstehlich in die Innenwelten schwerst traumatisierter Menschen hinein und öffnet zugleich Perspektiven des Weiterlebens. Ebenso sehr wie Bachmann auf dem »Recht auf das Private, das Geheimnis« (Weigel 1999, S. 19) und auf der Unbeschreiblichkeit des Menschen besteht, widerstehen ihre literarischen Figuren festlegenden Deutungswegen. Dies fordert uns zu einem vorsichtigen Verständnis der aufgewiesenen Innenwelten auf und bietet darin die Möglichkeit, ungewohnte Perspektiven zu gewinnen, die eine Übersetzbarkeit und Nähe zur Innenperspektive psychiatrisch relevanter Störungen bewahren. »Der Fall Franza« kann neben anderen Verständnisweisen auch als Darstellung der suizidalen Erfahrung gelesen werden. Dies liegt, wie sich zeigen wird, nicht nur im Suizid der Protagonistin begründet. Insbesondere die Zusammenhänge von Trauma und suizidaler Erfahrung, von der lebenslangen Suche nach Rettung und der permanenten Suche nach einer Möglichkeit des Weiterlebens gegen die eigene, stetig sich aufdrängende Möglichkeit, sich töten zu können, sind in »Der Fall Franza« eindringlich und nachvollziehbar dargestellt. Dabei stellt die enorme Vielfalt der Dimensionen von »Der Fall Franza« auf den ersten Blick eine besondere und schier unüberwindliche Schwierigkeit dar. Denn Bachmann eröffnet und bearbeitet in ihrem Werk neben der autobiographischen Dimension insbesondere auch weit reichende philosophische, gesellschaftlich-kulturelle und literarische Dimensionen. Eine dieser enormen Vielfalt und Tiefe auch nur annähernd angemessene Interpretation kann verständlicherweise im Rahmen der hier unternommenen Untersuchung der suizidalen Erfahrung nicht geleistet werden. Gesellschaftskritische und literarische 516 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das »Todesarten-Projekt«

Aspekte werden dementsprechend nur ausschnitthaft aufgenommen. Denn im Zentrum unserer Untersuchung steht die Frage, welches Verständnis der suizidalen Erfahrung Bachmann uns mit »Der Fall Franza« hinterlassen hat. Um dieser Frage nachgehen zu können, müssen wir aber zumindest eine grobe Positionierung von »Der Fall Franza« im Hinblick auf Bachmanns Schreiben und ihre Lebensgeschichte vornehmen. Damit entlasten wir uns zugleich von der Aufgabe, in der dann folgenden Untersuchung ihres im Roman hinterlegten Verständnisses der suizidalen Erfahrung ständig Querverweise in dieser Hinsicht vornehmen zu müssen, so dass wir uns auf die Frage konzentrieren können, wie es ist, suizidal zu sein.

1.

Das »Todesarten-Projekt«

Im Frühjahr 1971 erscheint der Roman »Malina«, der von Bachmann einerseits als Auftakt für das noch nicht geschriebene Buch »Todesarten« bezeichnet wird, andererseits der Beginn von mittlerweile 1000 Seiten ist, die sie vor diesem Roman bereits seit 1963/64 verfasst hat (Weigel 1999, S. 509 ff.). Die nach Bachmanns Tod auch als »Todesarten-Projekt« bezeichneten Arbeiten reichen im Falle des FranzaBuches bis ins Jahr 1963 zurück und sind bereits 1966 soweit fertig gestellt, dass Bachmann Anfang 1966 Lesungen aus dem Buch »Todesarten« – dies ist 1966 der Franza-Roman – vornimmt. Die parallele Arbeit an zwei bis drei weiteren Romanen, an Gedichten – wie beispielsweise an »Böhmen liegt am Meer« (1964) –, welche motiv-genetisch große Verwandtschaft zeigen, lässt bei Bachmann selbst aber erst 1967 den Gedanken eines »Todesarten-Projekts« aufkommen (S. 513 f.). Die posthume Zusammenstellung des »Todesarten-Projekts« als aus den drei Romanen »Malina«, »Der Fall Franza« und »Requiem für Fanny Goldmann« bestehend ist insofern eine Zuordnung, wie sie von Bachmann selbst nur im Ansatz vorgenommen wird. Angesichts einer Autorin, die stets auf Umwegen gearbeitet zu haben scheint, ist allerdings für den Leser und Rezipienten die Zusammenordnung eine Hilfestellung. So gesehen wäre »Der Fall Franza« ein Fragment aus dem Projekt »Todesarten«, welches von Ingeborg Bachmann nicht vollendet wurde und letztlich aus den drei Romanen »Malina«, »Der Fall Franza« und »Requiem für Fanny Goldmann« hätte bestehen können. Während »Malina« ein abgeschlossener Roman ist, 517 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

gibt es von »Franza« eine Fassung, welche – je nach Sichtweise – sowohl als unabgeschlossenes Romanfragment oder als abgeschlossener Fragmentroman verstanden werden kann. Letztlich scheinen beide Sichtweisen nachvollziehbar, wobei der unvermittelte Wechsel zwischen Romanfragment und Fragmentroman m. E. der Erfahrung des Lesers am besten zu entsprechen scheint. Das »Requiem für Fanny Goldmann« ist hingegen nur in konsequenten Fragmenten vorhanden. Alle drei Romane beschäftigen sich mit modernen Todesarten und dem modernen Verbrechen. Insofern sagt Bachmann in ihrer Vorrede zum »Fall Franza«: »Das ist ein Buch über ein Verbrechen.« (Bachmann 1997, S. 7) Sie führt weiter aus: »Es versucht, mit etwas bekanntzumachen, etwas aufzusuchen, was nicht aus der Welt verschwunden ist. Denn es ist heute nur unendlich viel schwerer, Verbrechen zu begehen, und daher sind diese Verbrechen so sublim, dass wir sie kaum wahrnehmen und begreifen können, obwohl sie täglich in unserer Umgebung, in unserer Nachbarschaft begangen werden. Ja, ich behaupte und werde nur versuchen, einen ersten Beweis zu erbringen, dass noch heute sehr viele Menschen nicht sterben, sondern ermordet werden. Denn nichts ist ja, wenn auch nicht gewaltiger, das vielleicht, aber jedenfalls ungeheurer als der Mensch, wenn ich Sie an eine Schulstunde erinnern darf. Die Verbrechen, die Geist verlangen, an unsren Geist rühren und weniger an unsre Sinne, also die uns am tiefsten berühren – dort fließt kein Blut, und das Gemetzel findet innerhalb des Erlaubten und der Sitten statt, innerhalb einer Gesellschaft, deren schwache Nerven vor den Bestialitäten erzittern. Aber die Verbrechen sind darum nicht geringer geworden, sie verlangen nur ein größeres Raffinement, einen anderen Grad von Intelligenz, und sie sind schrecklich. […] Die wirklichen Schauplätze, die inwendigen, von den äußeren mühsam überdeckt, finden woanders statt. Einmal in dem Denken, das zum Verbrechen führt, und einmal in dem, das zum Sterben führt. Denn es ist das Innen, in dem alle Dramen stattfinden, kraft der Dimension, die wir oder imaginierte Personen diesem Leidenmachen und Erleiden verschaffen können.« (S. 8 f.) Der »Fall Franza« ist also ein Buch über das Verbrechen, damit aber auch das Buch über die Identität des Opfers und dessen Suizid.

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Die autobiographische Dimension des »Falls Franza«

2.

Die autobiographische Dimension des »Falls Franza«

Die Figur der Franza zeigt auffällige Parallelen zu dem, was über Bachmanns Lebensgeschichte bekannt ist. Diese Kenntnisse über Bachmanns Leben stützen sich neben Fremdaussagen insbesondere auf das wenige, was Bachmann über sich selbst gesagt hat, was als eher dürftig gelten kann, solange ihre autobiographischen Hinterlassenschaften noch bis in das Jahr 2023 versiegelt sind. Dennoch können eine ganze Reihe von Parallelen benannt werden. 1.) Zunächst kann die kulturell-historische und topographische Nähe des Gailtals, dem Raum des Aufwachsens von Ingeborg Bachmann, und Galiciens, dem Raum des Aufwachsens der Romanfigur Franza, benannt werden. 2.) Hinweise auf die autobiographische Dimension ergeben sich auch aus der von Bachmann benannten traumatischen Erfahrung, als sie im 12. Lebensjahr den Einmarsch von Hitler in Klagenfurt erlebte und späterhin den 13 Jahre jüngeren Bruder vergötterte. Denn ganz ähnlich zeigt es sich bei Franza, die die »Eltern noch kannte« und den Bruder in einer besonderen Mutter-SchwesterBeziehung erlebt. 3.) Im Zusammenhang mit der Besetzung ihrer Heimat durch Hitler-Deutschland und die Teilhabe ihres eigenen Vaters, der sie für das »Vaterland« verließ, kann im Roman auf die Stellvertretung des Vater-Mannes Jordan verwiesen werden. 4.) Beeindruckend ist auch die Parallele, die sich aus Bachmanns Erfahrungen der Befreiung ergeben, in welcher ein linksintellektueller Jude aus Wien, der als englischer Offizier in ihrem Heimatdorf stationiert war, offenbar einen besonderen Eindruck auf sie machte. Die Nähe zum Soldaten im Franza-Roman scheint augenfällig. 5.) Des Weiteren kann Bachmanns eigener Aufbruch in eine innere Unsicherheit nach der Matura mit Franzas Wegzug nach Wien verglichen werden. 6.) Noch augenfälliger ist allerdings, dass Bachmann selbst zweimal in ihrem Leben Objekt männlicher Autorschaft wurde. Zum einen bei Hans Weigel im Roman »Unvollendete Symphonie« (1951) und bei Max Frisch im Roman »Mein Name sei Gantenbein« (1964). Franzas Objektivierung durch die psychiatrische Autorschaft ihres Lebenspartners Jordan drängt sich hier als Parallele auf. 7.) Erwähnung findet in Hinsicht der autobiographischen Dimension des »Falls Franza« auch die Ägyptenreise mit Adolf Opel im Frühjahr 1964, welche für Bachmann offenbar mit dem Gefühl verbunden war, gerettet zu sein und die Vergangenheit überwinden zu können. Hier scheint sich Franzas Ägyptenreise zu 519 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

spiegeln. 8.) Weiterhin kann darauf hingewiesen werden, dass Bachmann, wie die literarische Figur Franza, in ihrem Leben oft in die Opferposition gezwungen wurde, unter Ängsten, Verzweiflung und selbstdestruktivem Verhalten mit Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit litt. Wie gezeigt drängen sich diese Parallelen zwischen der literarischen Figur und der Autorin auf. Andererseits kann es in der Literatur als durchaus normal gelten, dass literarische Figuren autobiographische Züge tragen. Es stellt sich also vielmehr die Frage, wie weit diese autobiographische Dimension im Fall der Romafigur Franza geht. Insbesondere Weigel beschäftigt sich mit diesem Problem einer Parallelisierung und weist darauf hin, dass Bachmann dieses selbst gesehen und Parallelisierungen dann verdeckt und verwischt habe (Weigel 1999, S. 299 ff.). Seitdem Bachmann 1952 zunehmend als gefeierte Dichterin in die Öffentlichkeit tritt, verweigert sie konsequent das Bereitstellen von Informationen und Erzählungen über ihre eigene Lebensgeschichte. Den Schutz einer letzten Privatsphäre, den Bachmann selbst 1971 nochmals in aller Klarheit formuliert (S. 300), nutzt sie offenbar auch im privaten bzw. halböffentlichen Raum. So zitiert Weigel beispielsweise Hans Werner Henze, der als ein guter Freund »der Bachmann« galt, in einem Interview aus dem Jahr 1986: »Außerdem weiß ich auch gar nicht viel. Denn Frau Bachmann hielt unter ihren Freunden auf eine strenge Trennung. Sie hielt nichts von Gruppenbildung. Deswegen glauben heute auch viele, die sie gekannt haben, die einzigen zu sein, die in Sachen Bachmann wirklich zuständig sind.« (zit. nach Weigel 1999, S. 301). Diese Überlegungen zeigen nicht nur, dass die Aussagen von Max Frisch über das Zusammenleben mit »der Bachmann« in seinem Roman keineswegs als Reportage des wirklichen Lebens zu gelten haben. Sondern es wird zugleich deutlich, welchen Vertrauensbruch Frisch mit seiner Veröffentlichung (zumindest aus Bachmanns Sicht) beging, da hiermit vieles in die Öffentlichkeit gelangte, was Bachmann ihrer Privatsphäre zugeordnet hatte. Weigel warnt, von solchen Überlegungen ausgehend, vor einer Psychologisierung der Literatur Bachmanns, da beispielsweise gerade am letzten Punkt die Gefahr droht, dieses Verletztwerden durch Frisch mit dem sonstigen Verschleiern des Privaten in einen paranoiden Erlebniszusammenhang zu rücken. Andererseits feiert bei Bachmann der viel beschworene Zusammenhang von »Genie und Wahnsinn« seine Auferstehung. Bachmanns literarisches Arbeiten eröffnet nämlich selbst immer wieder die Zu520 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Franza

sammenhänge zu ihrer eigenen Biographie, indem sie eigene Erfahrungen nutzt, vermischt, stilisiert und ineinander verschiebt. Sicherlich kann hier nicht von einem Zusammenhang zwischen der Autorin und ihrer Literatur in einer einfachen und linearen Weise gesprochen werden. Denn es ist zu beachten, dass Bachmann stets diese Zusammenhänge zu steuern und zu formen bemüht ist. Aber gerade hierdurch ködert sie uns mit auffälligen Parallelisierungen, wie im »Fall Franza«, um sich damit zugleich als lebendige Person und Autorin unserem Zugriff als Leser wieder zu entziehen. Die Schwierigkeit, hier einen einfachen Zusammenhang von Autobiographie und Werk herzustellen, scheint über Bachmanns literarisches Arbeiten hinaus ein Aspekt zu sein, der sie uns in besonderer Weise bedeutsam und interessant erscheinen lässt. Vielleicht kann dies ja sogar als ein weiterer Aspekt von Bachmanns literarischer Arbeit verstanden werden, wie Weigel nahe legt (S. 321). Um diesen vor allem in literaturwissenschaftlicher Sicht außerordentlich spannenden Herausforderungen zu entgehen, bietet sich das Lesen des »Falls Franza« als ein Werk an, welches abseits autobiographischer Bezüge zu stehen kommt. Dieses verneint nicht die erwähnten Parallelen, misst ihnen aber nur insofern Bedeutung zu, als aus ihnen deutlich wird: Die Autorin weiß, wovon sie spricht. Die Frage, woher diese Kenntnis kommt, wird aber dann zugunsten der Suche nach einer inneren Stimmigkeit der literarischen Figur Franza zurückgelassen.

3.

Der »Fall« Franza

Der Roman beginnt mit dem Satz: »Der Professor, das Fossil, hatte ihm die Schwester zugrunde gerichtet.« (Bachmann 1997, S. 10) Er zeigt Martin (Erzählperspektive »Er«) auf der Reise, in welcher er einem Kriminalpolizisten vergleichbar auf der Suche nach Indizien seiner zugrundegerichteten Schwester ist. Der »Fall« ist aber, wie sich zeigen wird, nicht nur ein kriminalistischer »Fall«, sondern zugleich ein psychiatrischer. Martin, Franzas Bruder, geht im Beginn des Romans in den Tunnel und ihm schwinden alle Orientierungen. In einem Sprung in sein ortloses Denken versucht er, sich seiner zu vergewissern und damit zu orientieren: Wo bin ich? Tunnel! Irrtum! Hat der Tunnel ein Ende? Dem Fossil in die Arme! Stop! Stop! Welche Gewissheiten? Telegramm von der Schwester! Lebensbahn rast fort und fort! Fossil 521 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

anrufen? Scheidung. Das Fossil verweist ihn in die Grenzen einer desillusionierten Welt. Gedemütigt! S-O-S! Unendliche Gedankenarbeit. Erinnerungen werden rekonstruiert, als wäre er ein Mordkommissar. Anruf beim Fossil. Der redet von theologisch fundierter Psychotherapie. Eine starre und erstarrte Welt. Franzas Briefe sind allesamt unvollendete Hilferufe an Martin. Er findet Texte ihrer Wiener Identität, allesamt in Kürzeln und Chiffren, die er nicht versteht. Hier war jeder und alles unschuldig am Fehlen von allem. Einzige Gewissheit: Franza rettete ihm das Leben, als er zehn Jahre alt war. Nun muss er ihr Leben retten. Aber wo ist sie? Gewissheit Nummero Zwei: entweder ist sie zu Hause, oder tot. Zuhause ist in Galicien, da fährt er jetzt von Wien aus hin. Diese hier kolportageartig wiedergegebene Einleitung des Romans entfaltet das Thema und die Geschichte. Es gibt zwei widerstreitende und unversöhnliche Personen: das Fossil, Professor Jordan, Psychiater aus Wien und letztlich weltbekannt für seine Arbeiten über die medizinischen Versuche bzw. Verbrechen der Nazi-Zeit an Menschen in Konzentrationslagern, Ehemann von Franza und Psychotherapeut, der allen anderen die Grenzen seines desillusionierten Verständnisses des Menschen aufzwingt. Martin, der Bruder, Geologe und irrtümlich mit einer Stipendienreise nach Ägypten ausgestattet, dem Exponenten eines heimatlichen, sicheren und vertrauten Ortes sowie ein Anti-Fossil, dem Unverstehbaren des Menschen zugetan und darin gewissermaßen waffenlos gegen die Fossile der Welt. In Franza prallen diese Welten innerlich aufeinander, liegen miteinander in hassendem Wettstreit und suchen gegenseitige Zerstörung, ohne sich voneinander wahrhaft trennen zu können. Zugleich aber sind die Beziehungen keineswegs so klar, wie sie zur Zeit des Verfertigens dieses Romans traditionell der Frau zugänglich gegeben waren (Weigel 1999, S. 516). So hat Jordan auch Charakteristika des Vaters, der ihr obendrein als Psychiater begegnet, wohingegen Martin auch Eigenarten eines Kindes und eines Geliebten aufweist. Diese unsichere Positionierung Franzas in den Beziehungen, diese fehlende Orientierung am Herkömmlichen wird für unser Verständnis des Romans noch wichtig werden. In ihrer Heimkehr nach Galicien versucht Franza den vertrauten, sicheren Ort ihrer Herkunft zu finden, der zugleich untrennbar mit Martin verknüpft ist. Zwischen ihre ursprüngliche geschwisterliche Untrennbarkeit in der Kindheit als ein geschwisterliches Wir brach damals im Ausgang des 2. Weltkrieges die Einsicht, dass Franza nicht nur 522 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Franza

Martin stets rettete, wenn dies erforderlich war, sondern dass sie selbst Schutz suchte und benötigte (Bachmann 1997, S. 27). Franza, der nun mittlerweile alles genommen ist, besteht auf diesen Ort ihrer Herkunft. Wenn sie aus ihrer »Totenstarre« (einer Art von dissoziativer Abwesenheit) zurückkommt, redet sie gegenüber Martin von der gemeinsamen Vergangenheit und von den lange verstorbenen Eltern, von denen Martin nichts weiß (S. 43). Sie berichtet ihm auch vom Kriegsende, in welchem sie mit zwei Themen lebte: »Besetzen, das war ein Wort, an dem Franza herumhoffte und mit dem sie herumlief, sie stellte sich unendlich viele Soldaten vor, mit Gewehren im Anschlag, die jeden Quadratmeter besetzten, ein Heuschreckenschwarm, der jeden Meter Galicien ausforschte und durchstreifte. Und Vergewaltigen, das war ein anderes Wort, unter dem Franza sich frühlingszeitraubende Dinge vorstellte, und da sie mit niemand sprechen konnte, wurden Vergewaltigung und Streitmächte zu ersehnten Idolen und den Ereignissen, die im Kommen waren, das um so mehr, als in Galicien nichts geschah, schlechterdings nichts, nur das Dorf starb aus und gehörte ihr allein, für ihr Warten in einem Wunder und auf Wunder allein.« (S. 44)

Dieses Jugendgefühl Franzas, welches von erwachender und unerfüllter Sexualität sowie innerer Unruhe redet, wird sich später in ihrem Ehemann, dem Wiener Fossil des Professor Jordan, bestätigen und erfüllen. Er wird sie durchforsten und jeden Quadratmillimeter ihrer Innerlichkeit in seinem verständnislosen Psychotherapeuten-Verständnis besetzen und darin zur Unmenschlichkeit reiner triebtheoretischer Mechanismen vergewaltigen. Der Verlust des Gefühls des Beheimatetseins geht damit einher, dass sie vom Fossil zer- und entblättert und vom undurchschaubaren Ehemann durchschaut wird. Martin erzählt in dieser Phase in Galicien seinerseits Geschichten aus seiner Zeit nach ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend, versucht ihr damit ein Versöhnen ihrer Wiener Ehezeit und der Gemeinsamkeit Galiciens zu ermöglichen. Er setzt dies absichtlich ein während er sich zugleich fragt, welche »Einschlüsse« in ihr seien, die sie zerstört hätten und dieses »Übel«, die häufig wiederkehrenden Anfälle von Angst und »Totenstarre« bewirken würden. »Er hatte Franza bald nicht nur zum Gehen und Stehen gebracht und zum Reden, zum Darüberhinwegreden jedenfalls, sondern er entdeckte, dass sie sich ablenken ließ und manchmal sogar gegen das Übel ankam, wenn er mit ihr sprach. Sie benutzte ihn wie einen Sauerstoffapparat, sie hörte begierig zu, sie 523 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

erzählte auch selber ein wenig, aber nur, damit etwas im Gang blieb, damit er sie beatmete und nicht müde wurde, sie verlangte auch lebhaft zu wissen, was er getan habe ›ob der Enns‹ und in all den Jahren. (Jetzt tu doch nicht so, als ob du dich je dafür interessiert hättest! also tu nicht so …) Aber dann erzählte er ihr doch etwas, er wusste, er musste etwas einwerfen in sie, damit sie weiter funktionierte, nicht grad eine Münze, aber ein Stück von seiner Arbeit, einen Gedanken, damit sie sich mit etwas befassen konnte.« (S. 60 f.) Martins Versuch, eine andere Franza als die »Wiener Franza« neu zu beleben und zu stärken, zugleich aber ihr Mitkommen auf seine geplante Reise nach Ägypten zu verhindern, treibt Franza schließlich in eine unerträgliche Situation. Denn Franza will nicht mehr von Martin getrennt sein, um nicht endgültig ihr Gefühl von Heimatlichkeit zu verlieren. Nachdem Martin einen letzten Versuch unternimmt, sie auf sich selbst zu verweisen und sie nicht mit nach Ägypten zu nehmen – womit aus Franzas Sicht nur der Verweis zu Rückkehr in ihre Wiener Identität gemeint sein kann, obwohl Martin gerade meint, dies nicht zu meinen –, begeht sie einen Suizidversuch, indem sie ins Wasser geht. Sie wird aber von Martin und einem »fremden Wildwestreiterartigen Motorradfahrer« gerettet. Martin erkennt die Unmöglichkeit, seine Schwester in Galicien lassen zu können, ohne einen weiteren Suizidversuch zu riskieren, und nimmt sie demnach doch mit auf seine Ägypten-Reise. Für Franza ist, wie sich zeigen wird, ihr Heimatgefühl in fundamentalem Sinn zugrundegerichtet. Bachmann arbeitet dies bereits von Anfang an auf den verschiedensten Ebenen heraus. So ist das Heimatgefühl, welches sich im Dorf Galicien für Franza finden soll, grundsätzliche Fiktion und insofern sowieso gewissermaßen nicht existent. Bachmann lässt dies bereits im Namen des Dorfes »Galicien« deutlich werden. So kann zwar Zeller nachweisen, dass jegliche Topographie in »Galicien« der Topographie von Bachmanns Heimatgegend bei Villach entspricht, sich aber die bedeutsame Ausnahme findet, dass es dennoch keine Entsprechung zum Dorf »Galicien« gibt (Zeller 1988, S. 20 f.). Diese Heimat ist also wirklich rein fiktional, gerade wenn der Versuch einer autobiographischen Interpretation gemacht wird. Das Wort »Galicien« erinnert darüber hinaus an das Wort »Galizien« und dessen vor allem jüdisch geprägte Kultur, welches seit dem zweiten Weltkrieg (seither zwischen Polen und GUS aufgeteilt) keine Heimat mehr sein kann und als »historische Landschaft« betitelt werden muss. Bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als hier eine eigene Heimatlichkeit 524 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Franza

und Kulturalität entsteht, ist Galizien umstrittenes Gebiet. Zunächst österreichisch, zunehmend »polnisiert« und nach dem 1. Weltkrieg polnisch, ist Galizien als eigenständige Heimat ebenso unsicher, besetzt und vergewaltigt wie Franzas Heimatgefühl. Diese literarische Verschiebung und Verdichtung entrückt das Dorf »Galicien« (als das Land Galizien) aus der erlebbaren Heimatlichkeit der Autorin und nötigt den Leser zur Anerkennung einer Paradoxie: einerseits ist dem Leser das Heimatgefühl sinnbildlich zugrundegerichtet, andererseits leuchtet es aus dieser Fiktion um so sehnsuchtsgebietender hervor. Auf der gemeinsamen Reise von Martin und Franza nach und durch Ägypten wird zum einen die Struktur von Franzas Wiener Identität deutlich, zugleich aber auch der innerliche, hassende und unversöhnliche Wettstreit zwischen der Wiener Franza und einer anderen, in Galicien beheimateten Franza. Die Wiener Identität ist dabei vom Durchschautwerden durch den Ehemann geprägt. Ihre Beziehung zu ihm ist unausweichlich und unerträglich, denn es gibt letztlich keinen Ausweg in der Wiener Gesellschaft, da der einzige Ausweg eben gerade ihr Ehemann als Psychotherapeut selbst wäre. Aber gerade in der Entzifferung durch den Psychotherapeuten geschieht ja die konstante Traumatisierung. Für Franza zeigt sich hier der Faschismus als ein privates Verhalten, hatte sie doch an ihren Mörder wie an ihren Vater geglaubt (Bachmann 1997, S. 152). »Die Angst ist nicht disputierbar, sie ist der Überfall, sie ist Terror, der massive Angriff auf das Leben. Das Fallbeil, zu dem man unterwegs ist, in einem Karren, zu seinem Henker, angeblickt von einer verständnislosen Umgebung, einem Publikum, und mein Publikum war mein Mörder. Aber der blickte nicht böse.« (S. 77) Franza wird in diesem Blick zum klinischen Fall. Insofern ist sie dann eben nicht mehr Franza – wie für ihren Bruder – sondern der »Fall Franza«. Ihr nächtlicher Traum, in welchem sie von ihrem Ehemann in der Gaskammer eines Konzentrationslagers ermordet wird, ist zugleich durchzogen von seiner Übersetzungsarbeit des Lebendigen in die analytische Sprache des inhumanen Psychotherapeuten, der aus allem Lebendigen eine psychische Mechanik macht (S. 78 f.). Die Vergewaltigung ist exakt diese Mechanisierung, in welcher das Undurchschaubare des Menschen entblättert und entziffert wird: »er konnte keinen Menschen verlängert sehen, über die Grenze hinaus, die er ihm setzte.« (S. 73) Das besonders Erschreckende daran ist für Franza, dass sich dieser große Entzauberer in sein Opfer einzufühlen vermag: »er wusste, was in mir vorging und er genoss es.« 525 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

(S. 82) So versteht sie sich selbst so, wie ihr Ehemann sie versteht. Sie hasst sich selbst, erlebt sich als »niedrige Rasse« und weiß doch, dass er mit ihrer geraubten und zerstörten Identität der heimatlichen »Franza« nichts anfangen kann, außer sie weiter zu schänden und darin stetig weiter zu verletzen (S. 84 f.). So sehr Bachmanns Verständnis des Psychoanalytikers als »Entzifferer« aus heutiger Sicht eine unzulässige Vereinfachung darstellt, so ist doch in der frühen freudschen Psychoanalyse dieses Element von großer Bedeutung. Bachmann greift diesen Aspekt in besonderer Vereinseitigung auf und skizziert eine »geschlossene Bedeutungsmaschine« (Schuller 1984, S. 152 f.). Das Motto dieser »Bedeutungsmaschine« könnte wie folgt formuliert werden: Hinter jedem Symbol kann noch ein anderes Symbol ausgemacht werden, welches jedoch nur für den Experten des Entzifferns sichtbar ist. Bachmann verlegt zudem und darüber hinaus sehr sorgfältig äußere Ereignisse in die innere Erfahrungswelt der Protagonisten, wo sie dann ihren traumatischen Charakter zu beweisen vermögen, um wiederum durch den Leser »entziffert« zu werden. Insofern erscheint das Fortschreiten des Romans wie ein archäologisch-geologisches Verfahren, welches immer tiefer in Franzas Erfahrungswelt hinabsteigt, bis in die tiefsten kulturellen Schichten vordringt. Dies wird auch dadurch noch akzentuiert, dass sowohl Jordan als psychoanalytischer Entzifferungskünstler und Martin als Geologe vorgestellt werden, womit sowohl deren gedanklich-wissende Nähe herausgestellt wird, als auch die rationalen Verständnismechanismen gezeichnet werden, innerhalb derer sich Franza in der westlichen Kultur zu bewegen hat (Weigel 1999, S. 520 ff.). Franzas »Jordanische Zeit«, wie das 2. Kapitel heißt, ist dabei wie eine Tortur. Diese beschreibt Bachmann ganz im Sinne des ihr gut bekannten Jean Améry, den sie insgesamt für ihr »Todesarten-Projekt« verschiedene Male als Gewährsmann für Trauma, Tortur und Verzweiflung heranzieht (Höller 1993, S. 284 ff.). Im Falle Franzas wird dies insbesondere in ihrem plötzlichen Unbeteiligtsein und vollständig situationsentrückten Danebenstehen deutlich, wenn sie in ihre »Todesstarre« verfällt – so wie jedenfalls Martin es von Außen wahrzunehmen in der Lage ist. Franza selbst jedoch erlebt in diesen Momenten die Tortur. Sie erlebt, in den Worten Amérys, zum wiederholten Male den »ersten Schlag«, der eine vollständige Ohnmacht und »Verfleischlichung« des Menschen herbeiführt (Améry 2002, S. 55–85). Es stellt sich die Frage, inwiefern diese Traumatisierung überwunden werden 526 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Transzendenz, Trauma und die Mglichkeit, sich tten zu knnen

kann. Für Franza bietet sich die Ägyptenreise an, die weitab der Fossile stattfindet.

4.

Transzendenz, Trauma und die Mglichkeit, sich tten zu knnen

Auf ihrer Reise durch Ägypten erlebt sie die Wüste, die zur »Chiffre« der Transzendenz wird: »Alles leer und vorhandener, als was sich für vorhanden ausgibt. Nicht das Nichts, nein die Wüste hat nichts zu tun mit dem erspekulierten Nichts der Lehrstuhlinhaber. Sie entzieht sich der Bestimmung« (Bachmann 1997, S. 86). Die Undurchschaubarkeit der Wüste für die mechanisierenden Fossile rettet nicht nur die Transzendentalität der Wüste, sondern bedeutet auch einen Zugang zur Transzendenz für Franza selbst: die Wüste ist die Rettung. Sie gibt in ihrer letztlichen intellektuellen Unfassbarkeit und ihrem Erfahrungsmerkmal des »Unendlich mehr« der Hoffnung Raum, dass ein neues Selbstwerden beginnen könnte, in welchem die Wiener Franza durch (eine neue, eine beheimatete) Franza überwunden werden könnte (S. 92). Und doch kann Franza ihrer Wiener Identität nicht vollkommen entkommen. »Seit sie aus dem Bus herausgewankt war, hatte ein Kampf in ihr angefangen, in ihr gingen zwei Gegner aufeinander los, mit einer vehementen Entschlossenheit, ohne sich mehr zu sagen als: Ich oder Ich. Ich und die Wüste. Oder Ich und das andere. Und ausschließlich und nichts Halbes duldend, fingen Ich und Ich an, gegeneinanderzugehen.« (S. 89) Diese Wiederbelebung einer sich beheimatet fühlenden Franza, welche in diesem Heimatgefühl an die kindliche Franza in Galicien Anschluss gewinnt, findet in der Wüste ein neues Rettendes und darin zugleich einen neuen Ansatzpunkt in ihrem Leben. Dies erzwingt zwar für Franza häufige Reorientierungen, denen sie in Ägypten unterliegt, um die Situationen zumindest partiell neu zu definieren. Allerdings gestaltet sich dieses Neue auch als brüchig, da die Wiener Struktur stets impliziert bleibt und hereinbricht. Letztlich scheitert ihr Versuch, ein neues Selbstwerden zu beginnen. Angedeutet ist dieses Scheitern bereits darin, dass der ägyptische Ort, an welchem sich Franza so heimisch fühlt, selbst dem Untergang geweiht ist. Er liegt nämlich im Bereich des zukünftig aufzustauenden Assuan-Stausees, der demnächst fertig gestellt sein wird und dazu führen wird, dass das gesamte Gebiet mit Wasser überflutet werden wird: 527 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

»Ich fahre nach Wadi Halfa. Daran kann ich mich klammern. Denn es wird untergehen […]« (S. 152). Zuweilen auch bleibt Franza in diesem Hin und Her der zwei Seelen in ihrer Brust stecken und verfällt erneut in ihre »Totenstarre«. Zuweilen aber überfällt sie auch nur die Angst vor der unerträglichen Wiederkehr von Erinnerungen an ihre Wiener Zeit. Bezeichnenderweise schlägt schlussendlich der Versuch der Wiedergeburt aus dem fruchtbaren Nilschlamm fehl: »Sie wühlte ihre Füße in den Schlamm und bat Martin, sie in Schlamm einzupacken. Du wirst sehen, sagte sie, mit fiebernder Feierlichkeit, ich werde vom Nilschlamm geheilt werden. Er deckte sie mehr und mehr zu, es machte ihm großen Spaß, sie fing an, wie eine Mumie auszusehen, hob sich nur in Umrissen vom Strand ab. Bevor er mit einer dünnen Schicht ihr Gesicht bedeckte, sehr zärtlich, sagte sie noch, so zum Beispiel wäre es mir recht. Dann lag sie ganz still da und spürte den Schlamm langsam trocken werden. Martin stand auf, weil das Präsidentenschiff vorbeizog, und wie die Kinder und Frauen, die an den Ufern halb im Wasser standen und die Hände wie einen Schirm über die Augen hielten, sah er hinüber. Er mahnte Franza zu gehen, die Sonne war unberechenbar. Ehe ein Hauch von Rot oder Bräune kam, war die Haut verbrannt. Bei dem Versuch, sich zu regen, merkte Franza, dass sie sich nicht bewegen konnte, dann, dass sie ihm nicht antworten konnte, bei dem ersten unhörbaren Wort bröckelte ihr der Sand in den Mund und die Augen, und der Schlamm hielt sie mit einem Zentnergewicht auf dem Boden fest. Sie war eingemauert. Er sah ungeduldig auf sie nieder, verstand nicht, dass sie nicht rufen und nichts erklären konnte. Sie versuchte zu schreien. Er (Martin) merkte noch immer nichts. Das Blei beschwerte ihre Badekappe. Sie war lebendig begraben.« (S. 105)

Bachmann erfindet hier ein Symbol für Franzas Scheitern, für ihre Unmöglichkeit, trotz aller Gefahr ein Rettendes zu finden. Denn anstatt einen inneren Kitt aufzufinden, der Franza gegen das Trauma schützt und ihre diffundierenden Identitäten neu zu beheimaten vermag (ihr eine Einigung auf einen skopos in ihrer Lebensführung erlaubt), verdunstet die erhoffte Kraft des Rituals in wenigen Minuten, so dass nur eine äußerlich mit Schlamm eingekrustete Franza (ein mechanisierter Kadaver) am Nilufer liegen bleibt. Bachmann kennzeichnet mit diesem erfundenen Symbol auch ein zeitspezifisches, kulturelles Problem. Denn Franzas Frage nach dem »Wozu« ihres Lebens kann eben angesichts fehlender metaphysisch und teleologisch abgesicherter Letztbegründungen des menschlichen Daseins nicht mehr abseits des konkreten Lebens beantwortet werden, sondern findet unwillkürliche 528 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Transzendenz, Trauma und die Mglichkeit, sich tten zu knnen

Antwort aus der Art und Weise, wie der einzelne Mensch sein Leben zu führen vermag. Alle Versuche, dies mit »fieberhafter Feierlichkeit« spontan (absichtlich und selbstbewusst) herzustellen bleiben rein äußerliche Schlammpackungen, die im schlimmsten Fall zu Verpanzerungen und Verhärtungen des eigenen Lebens führen. Dies zeigt sich auch für Franza. Die im Nilschlamm einbetonierte Wahrheit ihres eigenen Daseins ist die umfassende Unbeweglichkeit, ist eine Erfahrung des inneren Totseins. So muss auch Martin letztlich, trotz aller Versuche, einen Keil zwischen sie und Wien, zwischen sie und sie zu treiben, feststellen: »Ein paar Tage Wüste hatten ihn getäuscht, die Verwüstung ging weiter. Sie war todkrank.« (S. 107; vgl. auch S. 115) In einem Haschischrausch wird Franza diese Verdopplung ihrer selbst nochmals unausweichlich deutlich: sie hat zwei Ichs, zwei Identitäten, zwei Körper. Einerseits will sie fliehen (von der Wiener Franza) und andererseits will sie ankommen (in der neuen Franza) (S. 115 ff.). Die Wiener Identität, welche stets impliziert ist und als gegenwärtig erlebt wird, drängt sich jedoch immer wieder in den Vordergrund, Franzas Ängste werden intensiver und die »Totenstarre« häufiger. Franza verliert zunehmend die Übersicht und Möglichkeit, das eigene Erleben noch wirksam zu beeinflussen. Je mehr sich ihre aktuelle Erfahrung auf die Wiener Identität einengt, desto mechanischer vollziehen sich ihre Erfahrungen und Handlungen und desto weniger Einfluss scheint sie selbst noch abseits ihrer (altbekannten und gewohnten Wiener) Ohnmacht (auf sich und ihre Situation) in selbstwirksamer Weise nehmen zu können. Letztlich vermischen sich sogar Bilder aus ihrer Wiener Erfahrungswelt mit ihren aktuellen Wahrnehmungen, so dass alles – die ägyptische Wüste und die Wiener Verwüstungen – ununterscheidbar werden. Die Wüste verliert schließlich ihren rettenden Charakter, Franzas Bilder des Göttlichen werden brüchig. Dieser Zerbruch ihrer Gottesvorstellung meint letztlich, dass die Transzendenz für Franza nurmehr als Vorstellung kenntlich wird. Streng verstanden ist dies bereits der Zerbruch, da das Göttliche bzw. Rettende demnach scheinbar als Illusion entlarvt werden kann (S. 119 ff.). Franza sieht in einer traumartigen Sequenz ihren Bruder, der zum Vater entkleidet wird bzw. ihren Vater, wie er stetig entkleidet bzw. immer wieder desillusioniert wird, um schließlich einen Gott zu erkennen, der sich dahinter verborgen hatte. Dieser wandelt sich zu ihrem Mörder und stellt somit ihre Suche eines Rettenden fundamental in Frage (S. 152). Dieser »Gott« ist letztlich für Franza unerträglich, 529 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

da er die Einfallsstelle für die ständigen Auflösungen ihrer Selbstgewissheit und Beheimatung ist. Er ist das Loch, durch welches Wien stets in sie hineinragt. So erlebt sie erneut den Nullpunkt, nun aber als einen grausamen Gott. In dieser Krise stellt sich für sie immer wieder die Frage: Wer bin ich? Wie Alvarez in seiner Betrachtung der Suizide von Künstlern, Literaten und Artisten des 20. Jahrhunderts ausführt, sei diese stete Wiederkehr der innersten Unbestimmbarkeit auch oftmals der »grausame Gott«, der den Suizid ernötige, da alle erneute Rettung im Leben verloren scheine (Alvarez 1999, S. 277 ff.). Mit Alvarez können wir sogar verstehen, inwiefern erst dadurch, dass der Künstler seinen eigenen Tod und seine eigene Verletzlichkeit dem Publikum vorführt, er zugleich sein eigenes Dasein an die noch verbliebenen Grenzen des Daseins zu führen vermag (S. 296 f.). Zugleich aber zerbricht für Franza mit dieser Gottesvorstellung auch ihre Einordnung in ihre aktuelle westliche Welt (vgl. Weigel 1999, S. 524 ff.). Denn die christlich geprägte, populäre Gottesvorstellung des rettenden und verzeihend-aufhebenden Gottes zerbricht durch die (aufklärerische) Einsicht in die Unbestimmbarkeit dessen, was als göttlich erfahren wird. Bachmann kennzeichnet das Göttliche folglich als den unentscheidbaren »Nullpunkt«, der weder notwendig rettend noch notwendig zerstörend ist, sondern sich schon immer als beides zeigen kann. Eine an sich aufklärerische Einsicht, welche auch Friedrich Hölderlin in seinen bereits zitierten Passagen des »Patmos« auf den Punkt bringt: »Wie Feuer, in Städten, tödlichliebend / Sind Gottes Stimmen.« (Hölderlin 1992, Bd. I, S. 465) Aber, und auch dies ist eine aufklärerische Einsicht wie sie insbesondere nach Kant durch die Aufklärung gehen wird: Es ist uns unmöglich zu beurteilen, ob diese Erfahrung des Umgreifenden, Unbestimmbaren, Göttlichen überhaupt auf eine solche Entität verweist, die »hinter« dieser Erfahrung als ihr Geber zu stehen scheint und dann als »Gott« benannt werden könnte. »Gott« ist gewissermaßen eine »ästhetische Erfahrung«, wie Hölderlin zu Beginn in »Patmos« sagt: »Voll Güt’ ist; keiner aber fasset/ Allein Gott.« (S. 463) Die Einsicht Franzas, dass das Unfassbare letztlich weder fruchtbarer Ursprung noch Nachweis eines (wie auch immer gearteten) Gottes sein muss, führt Franza in die Aussage: »Die arabische Wüste ist von zerbrochenen Gottesvorstellungen umsäumt.« (Bachmann 1997, S. 120) Franza hat damit nun das Rettende aus ihrer Sicht endgültig verloren. »Es ist mir nun nicht mehr zu helfen.« (S. 132) 530 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Transzendenz, Trauma und die Mglichkeit, sich tten zu knnen

Damit bleibt ihr nur noch der Weg in die Empfindungslosigkeit, um sich vor dem ständigen Hereinbrechen der Wiener Erfahrungen zu bewahren und zu retten. Angesichts ihrer fehlenden Wirksamkeit, ihr eigenes Erleben in günstigem Sinne zu beeinflussen, sieht sie nur im eigenen Tod eine letzte Rettung für sich selbst. Zugleich erfährt sich Franza im Wissen um diese Möglichkeit als ein exemplarisches Opfer der Fossile, welches zugleich stellvertretend für alle Opfer steht (»Ich bin eine Papua«, sagt Franza). Dieser Position als Opfer der Fossile und der gnadenlos durchschauenden Psychotechniker entspricht die Wiener Franza, die sie ständig mit sich herumträgt, die sie nicht loszuwerden vermag. Ihre Erfahrung des stellvertretenden Opfers für alle Opfer formuliert Franza sehr deutlich: »Die ganze Schande kommt in mir zusammen, weil sie sonst niemand spürt.« (S. 109) Franza wird von Bachmann darüber hinaus zu einer Art »Heiligem Franziskus« stilisiert, der sich bekanntlich selbst als der Nachfolger Jesu verstand. Dies kennzeichnet Bachmann durch einige besonders augenfällige Parallelen zu Jesus Christus. Auch Franza wird 33-jährig sterben, sie ist gewissermaßen im »Jordan« getauft, sie wird nach dem Zerbruch der Gottesvorstellung sagen: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen.« Zeller weist zudem eine ganze Reihe von weiteren Parallelen mit Jesus Christus und dem Heiligen Franziskus auf, die Bachmann für Franza gestaltet (Zeller 1988, S. 34 ff.). Franza verkündet, ebenso wie Jesus und Franziskus, eine Botschaft. Allerdings ist ihre Botschaft keine frohe Botschaft, die dann als religiöse Lehre gewusst werden kann, sondern es ist eine Botschaft der Unbestimmbarkeit dieser Erfahrung des Göttlichen, so wie Franza sie selbst erlebt und so wie sie jedem Menschen zugänglich ist. Es ist zudem die Botschaft, dass die Möglichkeit, sich töten zu können, eine letzte Rettung und Zuflucht darstellt, wenn der Tortur im Leben nicht mehr ausgewichen werden kann. Um zu sterben sucht sie einen KZ-Arzt, einen Schänder der NSZeit auf, der sie ebenso ausmerzen soll wie die Juden im KZ. Dieser verweigert ihr jedoch den Wunsch und flüchtet letztlich sogar vor ihr. Auch wenn diese unerhoffte Wirksamkeit ihrer Aggressivität, die sich in der Flucht des SS-Arztes ausdrückt, nochmals eine kurze Atempause ermöglicht (Lennox 1984, S. 174 f.), stirbt Franza innerhalb ihrer inneren, letztlich unerträglichen Spannung. Zum letzten Mal geschändet an den Füßen der Pyramiden von Gizeh, findet sie einen Weg aus der »Totenstarre« in die Schreie »Nein, Nein«, indem sie ihren Kopf an die Steine schlägt und sich so noch einmal selbst zu spüren, ihr Erleben zu 531 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

verändern und darin kurzfristig zu retten vermag. Jedoch verstirbt sie an den Folgen der Kopfverletzungen, aber sie stellt zufrieden fest: »Ich bin wenigstens in der Wüste gewesen.« (Bachmann 1997, S. 144) Mit ihrem letzten Atem verflucht Franza die »Weißen«. Es ist der Fluch einer von der Kultur der »Weißen« geschändeten Frau. Er führt gewissermaßen zu einer Retraumatisierung der »Weißen«, da sie hierin die Schuld für ihren Tod überantwortet bekommen. Die »Weißen«, das sind in Bachmanns Symbolik zugleich die Wissenden, die in ihrem scheinbar alles umfassenden und jegliches entziffernden Wissen bereits innerlich verstorben sind. Sie können sich angesichts ihrer fehlenden Anerkennung, das Unfassbare schlicht als Unfassbares zu fassen, nicht mehr als Mensch verhalten, sondern setzen allem und jedem die Grenzen ihrer eigenen Erkenntnis. (Die Kritik Bachmanns richtet sich also letztlich auch auf eine Verwechselung der »natürlichen Erfahrung« und der Beschreibung dieser »natürlichen Erfahrung«, welche im Falle wissenschaftlicher Erkenntnisse mittels methodengebundener Reflexionen erfolgt.) Franza ist entsprechend ihrer sich selbst zugewiesenenen Funktion als »Stellvertreterin« auch eine Märtyrerin, die für ihre (aufklärerische) Botschaft der Grenzen der Erkenntnis, der Uneinholbarkeit der (präepistemisch gewissen) Erfahrung des Lebens durch alles objektivierende Wissen und der letztlichen Unbestimmbarkeit dessen, was als Transzendenz erfahren wird, ihr Leben wagt und opfert. Sich zu töten eröffnet damit für Franza die Möglichkeit, sich fundamental gegen die Kultur der »Weißen« zu stellen und zugleich die Unwägbarkeit des einzelnen Menschen und die Unauslotbarkeit dessen, was wir als unser Leben erfahren, in ihrer eigenen Person und ihrem Handeln nachzuweisen. In diesem Sinn ist das Sich-töten-können tatsächlich die letzte Rettung, um sich dem entziffernden und entblätternden Wissen der anderen Menschen zu entziehen und die Ohnmacht zurückzulassen – wenn auch nur für den Moment des Hand-an-sich-legens.

5.

Suizidale Erfahrung bei Franza

Ingeborg Bachmann entwickelt in ihrem Fragmentroman/Romanfragment ein Verständnis der suizidalen Erfahrung, wie sie insbesondere einem traumatisierten Menschen zugänglich scheint. Es zeigt sich, dass Franza in einer inneren Widersprüchlichkeit ihrer selbst verfangen und festgelegt ist. Das scheinbar letztgültig Entzifferbare ist dabei ihr trau532 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung bei Franza

matisiertes Wiener Selbst, in welches sie im Erleben des Unbestimmbaren (wie beispielsweise im Nilschlamm) immer wieder abrutscht. Nun zeigt sich aber dieses Unbestimmbare nicht nur als ein Zerstörendes, sondern eben auch als ein Rettendes. Die Erfahrung dieses Rettenden ist jedoch im Bemühen, dieses Rettende zu sichern und für sich selbst fruchtbar zu machen, an ein (neues) Selbstwerden gebunden. Der Versuch, eine neue Identität zu generieren, indem Franza Anschluss an ihre galicische Kindheit findet, schlägt allerdings letztlich fehl. Die Erfahrung der Heimatlichkeit und Geborgenheit in Galicien ist für Franza tatsächlich unwiederbringlich verloren. In dieser Situation kann ihr auch die Leere der Wüste und das darin sich zeigende »unendlich mehr« nicht mehr helfen. Das einzig Unverlorene ist nun die Unbestimmbarkeit dessen, was in der Erfahrung der Transzendenz gegeben ist. Dieses aber zeigt sich sowohl als Rettendes als auch als Zerstörendes. Im wiederholten Umschlagen des Rettenden in die Tortur erweist sich diese für Franza schließlich als die lebensgeschichtlich letztgültig festgelegte tiefste Innerlichkeit. Hierin verliert sich für sie das Rettende im Leben, alles erscheint lebensgeschichtlich bis zum Tode festgelegt. An genau diesem Punkt aber bietet sich für Franza ein neues Rettendes an: es ist ihr eigener Tod. Dies erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich und ist von Bachmann in der Figur der Franza zunächst widersprüchlich angelegt bzw. als widersprüchliche Erfahrung thematisiert. Bachmann löst diese Widersprüchlichkeit jedoch im Verlauf des Romans unter Verweis auf das Selbstopfer, welches zugleich ein Opfer für die Menschlichkeit ist. Die Lösung dieser Widersprüchlichkeit scheint ein wesentlicher Aspekt von Bachmanns Arbeiten zu sein, die posthum zum »Todesarten-Projekt« gerechnet werden. Holler benennt den »Prozess der Ablösung, des Absterbens von Teilen des Ich, der das Überleben in der Wirklichkeit und das Überdauern in der Kunst garantiert […]« (Holler 1993, S. 234) als deren zentrales Thema und führt weiter aus: »Befreiung bedeutet in der literarischen Utopie […] Rückerstattung des Geheimnisses […] Die Bedeutungsaspekte aus dem kultischen Ritual, Offenbarung, Reinheit und Erlösung verleihen den Menschen und Dingen wieder ihre unangreifbare Würde.« (S. 263) Besonders deutlich wird dies in den Gedichten, die Bachmann in dieser Zeit schreibt. Hier bringt sie in wenigen Sätzen diesen erfahrenen Widerspruch und dessen Lösung auf den Punkt. So schreibt sie im Gedicht »Böhmen liegt am Meer«: 533 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn. Zugrund, das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.

Dem zugrundegerichteten, im Untergang befindlichen Menschen ist das Rettende im Leben verloren. Jedoch schließt sich in diesem Untergang eine letzte Rettung auf. Diese ist unverlierbar und bezieht sich eben gerade auf das Unbestimmbare, welches dem Menschen (auch in Folge seiner Sterblichkeit) innerlichst ist und ihm in der Möglichkeit, sich töten zu können, unwiderruflich versichert ist. Auch im Falle von Franza ist es ihre bereitwillige Hingabe ihres Lebens, die ihr nicht genommen werden kann. Selbstverständlich bezieht sich das Wort »unverloren« auf Paul Celan, der damit die Sprache meinte, die trotz des Holocaust unverloren geblieben ist. Holler sieht in diesem Gedicht »ein Ich, das willentlich den Weg in die Selbstzerstörung geht: um alles durchzumachen, um ›zugrund gerichtet‹, ›von Grund auf‹ zu wissen – und mit dieser tiefen Einsicht in die Welt nie mehr verloren zu sein.« (Holler, S. 129, in: Bachmann 1998) Bachmann benennt folgerichtig in anderen Gedichten auch die rettende Qualität, die sich im Sich-töten-können ausspricht und die durchaus (im Stile einer suizidalen Dialektik) eine erneute Zuwendung zum Leben bedeuten kann. Besonders deutlich wird dies in ihrem Gedicht »Mit einem Dritten sprechen« (Bachmann 2000, S. 76). Mit einem Dritten sprechen und ich habe den Tod gewählt, für alle Geständnisse ihn, hab ihm erzählt, diesem wahnwitzigen Tod, den ich nicht vorstellen kann, den ich rasch herbeiführen, aber nie vorstellen kann, hab ihm erzählt. Der Tod, dem ich erzählt der ist dreißig Tabletten bitter, der ist einen Fenstersturz lang, und ich sag ihm, wenn wir

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Suizidale Erfahrung bei Franza

allein sind, er so lang einen Sturz lang, er so kurz, einen Schlaf lang, bis er dem Schlaf die Sorge abnimmt um mich, ich erzähl diesem Dritten. Ich sag: mach mir seinen Mund vor, und dieses Aug, mach mir vor wie es war, mach es mir rückgängig, mach mir vor, wie ich sag: Noch einmal, und ich bin.

Nach Bachmann findet sich der suizidale Mensch zwar offenbar in einer innerlichen Widersprüchlichkeit dessen, was von ihm als unbestimmbar erfahren wird und welches sich ihm sowohl in seinem Tod als auch in seinem Innersten ankündigt. Im Verlust jeglicher Rettung im Leben ist der Mensch so zwar zugrunde gerichtet und im (unaufhaltsamen) Untergang begriffen. Er kann aber seine innerste Unbestimmbarkeit und seinen Tod nicht nur als nichtendes Nichts erleben, sondern hierin auch ein letztes Rettendes finden, da sich im Tod zugleich jegliche (beispielsweise traumatische), als fremdbestimmt erfahrene Vorfestlegung der eigenen Erfahrung dekonstruieren lässt. Diese letzte Rettung findet sich für den suizidalen Menschen darin, dass diese (ihn als Mensch im Innersten auszeichnende) Unbestimmbarkeit auch noch das Trauma, welches ihm gerade noch als seine letztgültige Festlegung erschien, als Illusion entlarven kann. Es ist diese Desillusionierung, welche der Tod betreibt, inwiefern eine letzte Rettung im Sich-tötenkönnen nicht verloren werden kann. Denn der eigene Tod hebt, auf schlicht lebenspraktische Weise, den anderweitig unaufhebbar scheinenden Widerspruch der verzweifelten Lebenserfahrung auf. Dieser findet sich für Franza ja gerade darin, dass sie diejenige Art und Weise der eigenen Lebensführung, die erforderlich wäre, um das Rettende in ihrem eigenen Leben fruchtbar werden zu lassen, trotz der besten Absichten nicht leisten kann. Für Franza scheint deshalb zu gelten, was Eberhard Döring im Bezug auf Émile Michel Cioran feststellt: »[…] es können nur binnenperspektivische ›Wahrheiten‹ vertreten werden, wie 535 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

»Der Fall Franza«

sie sich für das Empfinden der jeweils Betroffenen darstellen. Und wie es glückliche ›Welten‹ gibt, so eben auch unglückliche, die beide für sich reklamieren können, dass sie im Spektrum unserer Existenz vorkommen […] Das ›Aroma der Existenz‹ kann daher in recht verschiedenen Angeboten zu finden sein. Der Geschmack daran fällt ohnedies unterschiedlich aus.« (Döring 1994, 209–213) Die suizidale Erfahrung, so wie Bachmann sie im »Fall Franza« versteht, ist allerdings zugleich ein literarischer Protest gegen die Entzifferungs- und Entblätterungslogik einer psychologisierten bzw. psychologisierenden Aufklärung. Denn allein schon das Wissen, dass man sich gegen alle Modelle töten kann – und dass man dies sogar auf eine Weise tun kann, die allen (zum gegebenen Zeitpunkt verfügbaren) psychologischen Modellen widerspricht, da sie die Fülle der suizidalen Erfahrung niemals vollkommen beschreiben oder darlegen können – und dass darüber hinaus in dieser Möglichkeit auch noch ein Rettendes für das eigene, ansonsten sinnlos gewordene Leben gefunden werden kann, ist ein Affront gegen alle psychologischen Gestelle. Natürlich kann gesagt werden, dass es kein menschliches Existieren gibt, welches nicht in wenigstens fundamentalster Hinsicht gewissen beschreibbaren Regularien entsprechen würde. Jedoch kann auch gesagt werden, dass rekonstruierende (Wissens-)Modelle niemals die »natürliche Erfahrung« ersetzen können, die ja konkret und zunächst gemacht werden muss. In Bachmanns Roman steckt also eine fundamentale Kritik an denjenigen psychologischen Modellen des Menschen, die den Menschen in eine wissende Systematik und ein psychologisches Gestell hineinverstehen. Denn hierbei droht tatsächlich die »natürliche Erfahrung« des einzelnen Menschen durch die modellgemäße Interpretation dessen, was als Erfahrung zulässig ist, ständig rückblickend ersetzt zu werden. In dieser übergriffigen und grenzziehenden Systematik, die einem Wissen des Fossils entspricht, erscheint dem Betreffenden das Unbestimmbare (dieses unfassbare »Unendlich mehr« der gelebten Erfahrung) bei entsprechend langer Eingewöhnung in das modellgemäße Erleben schließlich nur noch als dieses oder jenes Festgelegte (»der« Nullpunkt, »die« Transzendenz, »das« nichtende Nichts). Alles Rettende wird dann als Illusion weggewischt. Damit aber, so Bachmann, wird (Mit-)Menschlichkeit unmöglich. Diese Kritik erweist sich aus ihrer Sicht zum Beispiel daran, wie sie Franza feststellen lässt, dass Kniefälle in der westlichen Kultur nicht mehr möglich sind: »Niemand fiel in dieser Welt, aus der sie kamen, 536 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidale Erfahrung bei Franza

auf die Knie.« (Bachmann 1997, S. 91) Das in den frühen sechziger Jahren verfasste Romanfragment nimmt gewissermaßen den empörenden Aufschrei der deutschen Öffentlichkeit über den Kniefall Willy Brandts voraus. Fehlende Humanität und mangelnde Demut, grausames Festhalten an systematisierenden Modellen von angeblicher Menschlichkeit werden von Franza in ihrem letzten Atemzug geradezu prophetisch und hexenhaft verflucht. Hiermit erfüllt Bachmann auch ihren Anspruch der Vorrede, nämlich zu zeigen, wo die Verbrechen unserer Zeit stecken. Beispielsweise in der überheblichen Konstruktion einer eigenen Identität, die sich von aller Vergangenheit abzuheben und hierin zugleich alle anderen in die Grenzen ihrer eigenen bewussten Identität zu stecken versucht. In einer solchen alltäglichen Praxis wird dieser Mensch seinerseits zum erfahrungsmäßig starren Fossil, beschädigt aber zudem viele umstehende Menschen. Die Möglichkeit, sich töten zu können, zeigt sich so als ein letztes (anti-nomisches) Mittel, um der fossilen Erstarrung des Menschen in seinen psychologisierenden Wissenssystemen entgegenzuwirken. Und es ist insbesondere in der Weise eines Selbstopfers ein letztes Mittel, um den bereits zu Fossilien gewordenen anderen Menschen unwiderleglich nachzuweisen, dass es in ihrem Leben um unendlich viel mehr geht, nämlich um ein menschlichen Miteinander. Mitmenschlichkeit erfordert, so scheint uns Bachmann hier nahezulegen, die Anerkennung der eigenen Sterblichkeit und der leiblichen Eingebundenheit in Interpersonalsituationen in ihren präepistemischen Gewissheiten. Und es erfordert hierbei insbesondere die Anerkennung der letztlichen Unbestimmbarkeit des eigenen Lebens, mithin, wie wir mit Blick auf unsere bisherige Untersuchung sagen können, die methodenkritische Beachtung des Unterschieds zwischen der natürlichen Erfahrung und der (noch so elaborierten) Beschreibung dieser Erfahrung, was seinerseits eine reflexiv uneinholbare Erfahrung ist. Beides zeigt sich dem Menschen auf vollkommen unnachgiebige Weise in seiner Möglichkeit, sich töten zu können.

537 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

VIII. Der »Fall« Jean Amry

Der Suizidant aber stirbt aus eigenem Entschluß. Gnade könnte er nur selbst sich gewähren … Jean Améry

Jean Améry (1912–1978) ist eine der schillerndsten Gestalten der deutschsprachigen Essayistik und essayistischen Literatur nach dem zweiten Weltkrieg und gilt als einer der bedeutendsten europäischen Intellektuellen der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Sein Denken ist voller reflexiver Klarheit, insbesondere auch über sich selbst. Er eröffnet uns in seinen Schriften zudem ein Verständnis für Erinnerungen, die wir nicht nur ohne ihn nie gehabt hätten, sondern auf die wir auch gerne – darin ihm vergleichbar – verzichtet hätten. Améry hat die Shoah aber nicht nur aus der Opferperspektive erlebt und für andere nacherlebbar gemacht, sondern hieraus auch unnachgiebige Konsequenzen für das weitere Denken und Handeln abgeleitet. Diese bestehen vor allem darin, dass die Aufklärung – als kulturelles Projekt und als Aufklärung des Menschen über sich selbst – niemals abgeschlossen ist, aber auch nicht aufgegeben werden dürfe. Diese allseits anerkannte und unverkennbare Konsequenz seines Denkens drückt sich wie in einem Vermächtnis in seinem abschließenden Satz seines essayartigen Romans »Charles Bovary. Landarzt« aus, den er als letztes Werk vor seinem Tod 1978 veröffentlichte (Heißenbüttel 1988; Höller 2003). Dieser vielzitierte Satz lautet: »Hier liege ich: Continua viam viator …« Wenn wir also den Weg hier weitergehen, müssen wir uns auch der Rahmenbedingungen dieses essayartigen Abschnitts klar werden. Amérys eigene Essays sind überaus scharfsinnige, trocken zeitkritische und literarische Kleinode, so dass letztlich kaum etwas schwieriger erscheint, als einen Essay über Améry zu schreiben. Améry hätte aber an dem Bemühen als solches sicherlich seine Freude gehabt, da es ihm ja gerade darum ging, dass sich ein jeder Mensch um eine Klarheit und Konsequenz seines Fühlens und Denkens bemüht, da nur hiermit die Humanität im eigenen Handeln erreicht werden könne. Ob er jedoch an diesem essayartigen Abschnitt seine Freude gehabt hätte, ist eine 538 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Tabuisierung des Suizids?

andere Frage, die ich mich nicht zu beantworten getraue. Wir müssen notfalls auch ohne seine emotionale Rückendeckung auskommen und sollten uns stattdessen auf die innere Kohärenz und Konsequenz seiner Gedanken konzentrieren. Neben dieser Schwierigkeit, dass Essays über Améry immer im Schatten seiner eigenen Essays stehen, ist auch zu bedenken, dass ein Essay über sein Verständnis der suizidalen Erfahrung und das Sich-töten-können ebenfalls nicht darum herumkommt, seinen Suizid zur Kenntnis zu nehmen. Dies ist eine besondere Herausforderung, da ja sein Verständnis der suizidalen Erfahrung und des Suizids durch seinen eigenen Suizid weder aufgewertet noch abgewertet werden kann. Der Suizid war seine Tat, die hierin zwar weitestmögliche Reichweite, aber nicht zwingend den höchstmöglichen Rang in seinem Leben erreichte. Es würde die Lebensleistung eines jeden Menschen vollständig vernichten, wenn man ihn nur von seinem Tod her verstehen wollte. Dennoch kommen wir nicht umhin, uns unter anderem auch mit seinem Suizid zu beschäftigen. Bleibt uns noch die Frage der »trockenen Zeitkritik«. »Trocken« mag hier als understatement erscheinen, zumal sich Améry eher durch ein passioniertes Ringen insbesondere als Kritiker von Kultur, Literatur und Philosophie verstehen lässt. »Trocken« passt aber insofern, als seine Essays zum Suizid recht prägnant einige fundamentale Schwierigkeiten des damaligen Suizidpräventionsdiskurses auf den Punkt bringen. Sicherlich kann hier eingewandt werden, dass mit Améry doch in dessen eigener Sprache vom Freitod gesprochen werden müsse. Wir werden sehen, ob dieser Einwand zutrifft. Wichtiger erscheint die Frage, ob seine Einwände in einem Verständnis der suizidalen Verfassung anzukommen vermögen und wie sich dies auf den Diskurs der Suizidprophylaxe auswirkte bzw. aktuell einfügt. Ist seine Kritik noch im Recht oder befindet sie sich in einem gedanklichen Leerlauf?

1.

Tabuisierung des Suizids?

»Die Relativierung des Wertes des Lebens und die Enttabuisierung des Suizids erniedrigen die Suizidschwelle und sind deswegen unter suizidprophylaktischen Aspekten kritisch zu sehen.« So lautet der Merksatz aus einem unter Studierenden der Medizin durchaus gängigen und wegen seines klaren Aufbaus allseits beliebten Lehrbuchs der Psychiatrie, welches erstmals 1996 erscheint. In diesem Satz findet sich der 539 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

Hinweis auf eine direkt daneben stehende Abbildung, welche den Umschlag von Amérys »Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod« zeigt. Im Fließtext steht erläuternd: »Wird der Wert menschlichen Lebens allgemein unter bestimmten Bedingungen in Frage gestellt oder gar der Suizid als Ausdruck menschlicher Freiheit zur Lösung bestimmter Problemsituationen akzeptiert, so wächst die Bereitschaft derer, die sich im Leben aus verschiedenen Gründen nicht zurechtfinden, ihrem Leben ein Ende zu setzen, anstatt mühsam nach anderen Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Insofern muß die Enttabuisierung des Suizids, wie sie sich in den letzten Jahren, insbesondere im Gefolge von Jean Améry, der den Suizid als Akt höchster Willensfreiheit des Menschen philosophisch feierte, unter dem Aspekt der Suizidprävention fragwürdig erscheinen.« (Möller 1996, S. 365; Hervorhebungen im Original) Diese Zeilen psychiatrischen Lehrbuchwissens wirken angesichts der Lebensgeschichte Amérys und der Beweggründe seines Schreibens wenig einfühlsam. Aber auch wenn wir isoliert die innere Kohärenz von Amérys Aussagen zum Thema des Suizids in Betracht ziehen, verwundert zumindest, dass Améry hier in die Gruppe der Menschen eingereiht wird, die den Wert des Lebens in Frage stellen. Denn sucht nicht Améry in seinen Überlegungen zum Suizid das genaue Gegenteil, nämlich eine letzte Würde des Menschen, die ihm angesichts einer lebenslangen Verzweiflung, die zu einem nicht unerheblichen Anteil durch die Erfahrungen im Holocaust verursacht war, im Leben verloren schien? Wir werden dies genauer betrachten. Aber zunächst fragt sich, ob hier Améry zum Opfer des psychiatrischen Diskurses wird, da er als der viel schlimmere Täter angeklagt wird. Vor welchem Hintergrund wird diese Klage von Hans-Jürgen Möller, als Ordinarius für Psychiatrie in München einer der höchsten deutschsprachigen Vertreter seines Faches unserer Zeit, geführt? Der Hintergrund der Anklage ist das umfassende Eintreten für den verzweifelten Menschen, dem in seiner suizidalen Erfahrung geholfen werden soll und durchaus geholfen werden kann, wie Möller zu Recht ausführt (S. 378 ff.). Vor diesem Hintergrund erstaunt das Missverständnis aber umso mehr. Wie kommt es zu diesen eigentümlichen Verwirrungen? Ist es eine Unkenntnis der améryschen Schriften oder ist es eine Absolutheit des Suizidverbots, welche hier im psychiatrischen Lehrbuchdiskurs mitschwingt und welches diese Verwirrungen im Stile eines postaugustinischen Durcheinanders stiftet? Es stellt sich also die Frage: Betreibt Améry tatsäch540 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Tabuisierung des Suizids?

lich eine Aufklärung über die Tabuisierung des Suizids? Gab es denn eine solche Tabuisierung des Suizids? Nicht zuletzt stellt dies auch die Frage, ob denn für eine erfolgreiche Suizidprophylaxe eine solche Tabuisierung des Suizids wirklich erforderlich ist. »Als ich Arzt in der Psychiatrischen Klinik wurde (1946), war die Haltung gegenüber dem Selbstmörder – noch über das Grab hinaus – eine bewußt oder unbewußt vorwurfsvolle, auch der Gerettete bekam zu spüren, daß er etwas getan hatte, was sich nicht ›schickt‹.« (Ringel 1999b, S. 235) Diese rückblickende Feststellung stellt Erwin Ringel seinem 1978 erschienenen Essay zu Améry voran, den er mit »Ein Recht auf Scheitern?« überschreibt. Aber gab es dieses Tabu des Suizids außerhalb des eher katholisch geprägten Rahmens, in dem sich Ringel hier zu bewegen scheint, wirklich? Erwin Stengel vertritt in seinem bahnbrechenden Artikel zum »Selbstmord und Selbstmordversuch« in der ersten Ausgabe der »Psychiatrie der Gegenwart« 1961 eine durchaus konträre Haltung zumindest für den psychiatrischen Diskurs, wenn er schreibt, dass sich bei der Suche nach den Suizidmotiven »viele Forscher von der Tendenz zu rationalisieren beeinflussen lassen und die Erklärungen der Patienten allzu bereitwillg übernommen (haben). Ein Beispiel dieser Tendenz ist der beliebte Begriff des »Bilanzselbstmordes«, der alles so schön und sauber erklärt. Es ist erstaunlich, daß die Frage, was mit der Bilanz geschieht, wenn der Selbstmord mißglückt, niemals aufgeworfen wurde. Kommt es dann vielleicht zur Bilanzfälschung? Oder wird eine neue Bilanz aufgestellt? Die Tatsache, daß dieser Begriff nur in bezug auf »geglückte« Selbstmorde benützt wird, d. h. wenn die »Bilanz« abgeschlossen ist, spricht dafür, daß er nicht so sehr einem Bedürfnis des Selbstmörders, als dem des Untersuchers entspricht.« (Stengel 1961, S. 56) Einige Seiten später stellt er fest, »daß die heroische und rationale Seite des Selbstmordes viel zu sehr betont werde.« (S. 70) Von einer ethisch-moralischen Tabuisierung des Suizids im psychiatrischen Diskurs kann nach dem Bericht Stengels also keineswes gesprochen werden. Wenn aber der Suizid im psychiatrischen Diskurs gar nicht tabuisiert war, könnte Améry die Aufregung auch nicht durch eine Enttabuisierung erreicht haben. Sicherlich könnte eingewandt werden, dass doch immerhin beim »Normalbürger« der Suizid tabuisiert war – beispielsweise im Gefolge der postaugustinisch-kirchlichen oder postkantianisch-staatlichen Doktrin. Dieser Einwand würde aber zumindest insofern erstaunen, als unklar bliebe, inwiefern die kritische Aufklärung des »Normalbürgers« unter 541 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

humanitären Gesichtspunkten problematisch sein soll. Hat etwa der psychiatrische Diskurs außer einem doktrinären »Verbleib in der Herde« nichts zu bieten? Was also ist passiert? In den 50er Jahren gilt der Suizid als »Enigma«, dem psychologisch nicht wirklich beizukommen ist und wird mit eher traditionellen Vorstellungen eines letztlich düster bleibenden »Selbstmordtriebs« erörtert, wie es Manfred Bleuler noch in der 12ten Auflage des Klassikers »Lehrbuch der Psychiatrie von Eugen Bleuler« im Jahr 1972 vornimmt (Bleuler 1972, S. 471). Daneben entwickelt sich ein Bemühen psychologisch-psychiatrischer Fachvertreter, die fragen, wie denn die suizidale Verfassung überhaupt verstanden und somit auch wirksam verhindert werden könne. Ringel selbst hat in den 50er Jahren das »präsuizidale Syndrom« beschrieben (Ringel 1999a), Stengel fügt 1961 im erwähnten Artikel den Gedanken hinzu, dass in der suizidalen Verfassung immer auch ein Appell an die anderen Menschen gesehen werden müsse – der berümte »cry for help« –, Sainsbury erarbeitet 1975 in der zweiten Ausgabe der »Psychiatrie der Gegenwart« ausführliche Überlegungen, die darauf hindeuten, dass unbenommen des genaueren psychologischen Verständnisses in jedem Fall die psychische Verfassung des suizidalen Menschen auf den Punkt der Verzweiflung hinsteuert und dass dies auch ganz abseits schwerer psychischer Erkrankungen der Fall zu sein scheint (Sainsbury 1975, S. 576 ff.). Ergänzend gelingt Vera Szondi 1975 ein psychologisch-philosophisches Verständnis des Suizids auch bei schwerst psychisch kranken Menschen, die in ihrem Suizid offenbar einen letzten und entschiedenen Akt sehen, mit dem ihnen scheinbar eine letzte eigenständige Lebensäußerung gelinge (Szondi 1975, S. 91 ff.). Von einer Tabuisierung des Suizids im psychiatrischen Diskurs kann hier also nicht gesprochen werden, vielmehr nimmt das psychologische Verstehen der suizidalen Erfahrung in dem institutionellen Raum der Psychiatrie gerade ihren Anfang. Sicherlich könnte eingewandt werden, dass Goethe und Hume ein solches psychologisches Verstehen rund 200 Jahre früher schon geleistet hatten und dass das Niveau dieser psychologischen Debatten zudem noch weit vom Niveau der philosophischen Debatten in der Antike oder der jaspersschen Existenzphilosophie entfernt ist. Dennoch hat der psychiatrische Diskurs in den 70er Jahren, auch im Gefolge seiner eigenen Selbstaufklärung in den Jahren nach dem Krieg und der soeben erst verfassten Psychiatrie-Enquete, gerade das sichere Gefühl, in besonders humaner Weise die Verzweiflung des suizidalen Menschen zu ent542 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Tabuisierung des Suizids?

decken, zu thematisieren und dem suizidalen Menschen gewissermaßen unabweisbare Hilfsangebote zu unterbreiten. Wer kann dazu schon »Nein« sagen? Als Améry 1976 seine Essays zum Suizid veröffentlicht, ist er als passionierter Kritiker bereits bekannt und hat seinen festen Platz im kulturellen Diskurs, wenn auch vorwiegend als Essayist und Auschwitz-Überlebender. Er ist sich der kulturellen Aufregung, die seine Essays auslösen werden, gewiss. »Ich bin schrecklich neugierig, was Du zu meinem Suizid-Exzess sagst, der bestimmt Lärm machen wird«, schreibt er am 24. Februar 1976 an Hans Paeschke im sicheren Vorgefühl. Améry liegt richtig. Seine Essays rütteln die gerade in Entstehung begriffene Fachöffentlichkeit, die sich mit dem Thema der Suizidprophylaxe beschäftigt, gehörig durcheinander. Bereits vor Erscheinen des Buches gibt es Einladungen zu gemeinsamen Erörterungen durch die Geschäftsführung der Deutschen Gesellschaft für Selbstmordverhütung (DGS) und schließlich auch durch Hermann Pohlmeier (1928– 1996), damals Ordinarius für medizinische Psychologie in Göttingen, Vorsitzender der DGS und eine der herausragenden Gestalten der deutschsprachigen Suizidforschung in den 70er und 80er Jahren (Bormuth 2005c). Améry lehnt zunächst jeweils ab, sagt dann aber nach einem Treffen mt Michael Heinrich, dem Geschäftsführer der DGS im Herbst 1976 schließlich auf Drängen Pohlmeiers doch zu. Zwischen Améry und Pohlmeier entwickelt sich anschließend ein respektvoller, freundschaftlicher Briefverkehr (Bormuth 2005c). Am 16. September 1977 gibt es dann in Hamburg die verabredete, von Pohlmeier veranstaltete und durchaus publikumswirksame Podiumsdiskussion mit Jean Améry, Gabriele Wohmann, Artur Reiner, Claus Roxin und Hermann Pohlmeier sowie – als zweitem Vertreter einer sich entwickelnden, der Selbstmordverhütung verpflichteten Psychiatrie und Psychologie – Erwin Ringel (Pohlmeier 1978). Die Kontroverse auch in dieser Podiumsdiskussion bezieht sich darauf, dass Améry die These vertritt, dass der Suizid für alle Menschen der »Weg ins Freie« sei. Erwin Ringel wirft Améry in der Diskussion vor, dass er hierdurch die Menschen geradezu ermutige, sich das Leben zu nehmen, weil er den Selbstmörder als den moralisch überlegenen Menschen darstelle anstatt zu betonen, dass diesem Menschen geholfen werden müsse (S. 17 f.). Améry hingegen lehnt diese Interpretation seiner Position als eine Fehlinterpretation ab, da er diese angebliche Höherbewertung des Suizidenten gar nicht vertrete und vermutet von daher ein Miss543 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

verständnis zwischen beiden (S. 18 f.). Gerade wenn wir Ringels Essay zu Améry lesen, wird dieses Missverständnis schnell deutlich. Denn Ringel räumt in seinem Essay zwei Grenzen der Suizidprophylaxe ein: a) wo dem Menschen trotz allen Bemühens wirklich nicht geholfen werden könne; b) wo der Mensch trotz allen Bemühens keine Hilfe wolle (Ringel 1999b, S. 248 f.). Améry, so der Vorwurf Ringels, wolle sich die erste Grenze dadurch bewahren, dass er die Hilfe schlicht ablehne, wohingegen Améry für sich reklamiert, dass diese Ablehnung die einzige Hilfe für ihn sei. Ganz offenbar entzündet sich dieses Missverständnis an der fraglichen Verbindung dieser beiden Grenzen bzw. an dem von Améry in der Diskussion betonten Punkt: »Er kann es tun oder auch nicht.« (S. 15) Hier geht es um die Grenzen des psychologischen Verständnisses. Denn wenn psychologisch tatsächlich alles im vorhinein bestimmbar wäre, würde dem Menschen aller Freiraum genommen. Das Missverständnis geht damit auch um die fundamentale Frage, ob das psychologische Verständnis auf die Annahme einer wie auch immer gearteten Freiheit des einzelnen Menschen verzichten kann oder nicht. Angesichts der Lebensgeschichte Amérys ist klar, dass für ihn ein solcherart umfassendes psychologisches Verständnis nichts anderes als die Fortsetzung des Holocaust unter Normalbedingungen wäre. Ringel nimmt diese Angst bei Améry in der Podiumsdiskussion sehr treffend wahr, wenn er auf diese Sorge zu sprechen kommt. Er betont, dass sie unbegründet sei, da Psychotherapie eben nicht bedeutet, zur »Anpassung zu erziehen« und dass sie keineswegs auf »Ertragen aufgebaut« ist (S. 18). Améry geht auf diesen wichtigen Punkt in der Diskussion aber leider nicht ein, vielleicht war es ihm unmöglich. In seinem Essay verfolgt Ringel diese zumindest aspekthaft zutreffende Einsicht jedoch nicht konsequent weiter. Vermutlich hätte sie ihn dazu geführt, die radikale Notwendigkeit zu verstehen, warum Améry meinte, er müsse alle psychotherapeutische Hilfe ablehnen. Stattdessen nimmt er ein amérysches Gedankenspiel von der anderen Seite auf: »Welchen Sinn hätte es dann […], wenn das Leben an sich nichts anderes bliebe als ein Aufenthalt im Konzentrationslager?« (Ringel 1999b, S. 237) Während Améry von hierher fundamental nach der Freiheit des Einzelnen fragt, wirken Ringels Antwortbemühungen auf diese Frage eigenartig unbeholfen, wenn er a) Améry über die »Unvordenklichkeit des Todes« aufklären will, b) ihm das Thema der Vergänglichkeit des Lebens vor Augen führen möchte und c) ihn daran erinnert, dass man sich als 544 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Tabuisierung des Suizids?

Mensch nicht alles gefallen lassen müsse (S. 237 ff.). Sicherlich ist in keiner der drei Antworten die Meisterschaft Amérys diese Fragen betreffend erreicht und sicherlich hätte Améry über diese Punkte keine Aufklärung gebraucht. Aber auch Ringel wirkt in diesen drei Antworten für seine Verhältnisse eigentümlich unplastisch. Über die Gründe mag spekuliert werden, vielleicht hat er respektvollerweise Améry, der zu dem Zeitpunkt des Abfassens des Essays ja noch lebte, nicht unter die Menschen einreihen wollen, denen »auf Erden nicht zu helfen war« (S. 248). Wichtig ist hingegen für unser Verständnis des Missverständnisses, dass in Ringels Bemühungen die Annahme mitschwingt, dass der suizidale Mensch bis ins Tiefste hinein psychologisch determiniert ist und dass diese psychologische Determinierung sogar noch seine illusionären Verkennungen über fundamentale Aspekte des Lebens verständlich macht. Wenn aber diese Annahme umfänglich zuträfe, wäre das Leben tatsächlich nichts anderes als ein »Aufenthalt im Konzentrationslager«. Améry sieht und kennt diese Konsequenz. Ringel sieht diese schreckliche Konsequenz seiner Psychologie als vollkommen unbegründet. Seine persönliche Betonung der Grenzen der Suizidprophylaxe ist in vollem Umfang ernst gemeint und er bleibt betreffend der eigenen Möglichkeiten durchaus methodenkritisch und bescheiden. Es ist also Amérys Grundhaltung, dass die Entscheidung zum Suizid eine ganz persönliche, ganz private und insbesondere ungezwungene Entscheidung ist, die in dieser Podiumsdiskussion polarisiert. Offenbar ist es gerade diese Grundhaltung, die die Grenzen der Suizidprophylaxe so unmissverständlich offenlegt und die damit den Widerspruch von seiten derer provoziert, die den Suizid weitgehend ablehnen bzw. verhindern wollen. Damit aber wird nun endlich verständlich, wie es Jahrzehnte später zu dem erstaunlichen Vorwurf der »Enttabuisierung« seitens des psychiatrischen Diskurses kommen kann, obwohl es weder vorher im psychiatrischen Diskurs eine strenge Tabuisierung gab noch Améry seine Mitmenschen wirklich zum Suizid auffordert. Der Vorwurf scheint zu entstehen, da Améry an den Grundfesten der persönlichen Antwort rüttelt, die auf die Frage nach dem »Wozu« des Lebens gegeben wird. Aber diese Frage muss unnachgiebig gestellt werden, wenn eine Suizidprophylaxe erfolgreich sein will. Schließlich kann sie sich nur darin behaupten, dass sie sinnstiftende Antworten auf diese fundamentale Frage gibt. Eine Tabuisierung des Suizids würde hingegen einer erfolgreichen Suizidprophylaxe entgegenstehen. 545 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

Nur das offene, »enttabuisierende« und »enttabuisierte« Gespräch über dieses Thema kann wirklich sinnstiftend sein. Dies kommt zeitgenössisch in der vielfältigen Auseinandersetzung mit Améry zum Ausdruck und zeigt, dass die Notwendigkeit der »Enttabuisierung« der Sinnfrage, der Frage nach dem »Wozu« des Lebens, auch den damaligen Fachvertretern bekannt war. Der rückblickende Vorwurf der »Enttabuisierung« betrifft also insbesondre auch den psychiatrischen bzw. suizidprophylaktischen Diskurs selbst, da es eben nicht um die »Enttabuisierung« des Suizids, sondern vielmehr um die »Enttabuisierung« der Frage nach dem »Wozu« des menschlichen Lebens ging (und, wie diese Untersuchung zum »Wie« zeigt, immer noch geht). Wie aber bereits Pohlmeier in dieser Podiumsdiskussion formuliert, kann uns Menschen die schlichte Gegenüberstellung von »Zwang und Freiheit« im Leben nicht wirklich weiterhelfen (Pohlmeier 1978, S. 16). Freiheit, so können wir fortfahren, erschöpft sich nicht in einer absoluten Verfassung völliger Losgelöstheit von allem und jedem. Freiheit wirft die Frage auf, ob wir so zu leben vermögen, wie wir es möchten. Dies bedeutet zugleich, dass bestimmte Zwänge und Notwendigkeiten gegeben sein müssen, wenn Freiheit Wirklichkeit werden soll. Beispielsweise nützt es dem Menschen wenig, wenn er von dem Zwang befreit wird, dass sich sein rechtes Bein zwingend bewegt, wenn er es sich vornimmt. Und es nützt einem Menschen auch wenig, wenn er wochenlang darauf hinarbeitet, eine bestimmte Arbeit fertigzustellen, nur um am Ende ohne alles dazustehen, da sich das ganze Werkstück beim letzten Schliff unerklärlicherweise in Luft auflöst. Zuzugeben ist aber, dass wir uns oftmals wie unter Zwang erleben und den sicheren Eindruck gewinnen, uns aus bestimmten Verstrickungen nicht befreien zu können. Wird der »Zwang« hinsichtlich des Suizids so verstanden, stellt sich aber tatsächlich die Frage, in welcher Verfassung sich ein Mensch befindet, der sich zum Suizid entscheidet. Und ist es dann nicht eine nachvollziehbare Konsequenz, dass dieser suizidale Mensch die Position vertritt, dass der Suizid ein »Weg ins Freie« für jedermann sei? Es gilt also, sich der inneren Logik der améryschen Position zu vergewissern. Und es gilt, die Frage zu stellen, ob sein Verständnis des Suizids als »Weg ins Freie für jedermann« Verbindungen zu seiner psychischen Verfassung, seiner suizidalen Verfassung und seiner Lebensgeschichte aufweist. Denn schließlich gilt nicht zuletzt auch die Frage, ob nicht in jeder suizidalen Erfahrung (also auch in der psychologisch verstrickten) – jedenfalls nach dem Auflösen eines übergeord546 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das Leben und die Tortur

neten Sinns des Lebens bzw. nach der Ästhetisierung des »Wozu lebe ich« zum »Wie lebe ich« – die Frage nach dem »Wozu« des Lebens unnachgiebig gestellt wird.

2.

Das Leben und die Tortur

Jean Améry wird am 31. Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren. Die ersten Jahre lebt er teilweise in Bad Ischl, einem ländlichen Ort der Erholung für die Reichen und einem rustikalen Ort für die dort Tätigen, und in Wien. Nach dem Tod seines Vaters 1917 wird er vor allem von seiner Mutter, seiner Tante Herta sowie verschiedenen und wechselnden Kindermädchen aufgezogen. 1918 wird er in Wien eingeschult. Hier lernt er Ernst Mayer kennen, einen guten Freund, der ihn durch sein Leben begleitet und mit dem er eine Art Schicksalsgemeinschaft hat, die bis zum Suizid reicht, denn Ernst wird sich zwei Jahre nach Jean Améry das Leben nehmen. Wie Irene Heidelberger-Leonhard in ihrer Biographie darlegt, pendelt Hans in den ersten zwölf Lebensjahren zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite lebt er in einer »Sommerwelt« in Bad Ischl zwischen ländlich-bäuerlichen Menschen mit zuweilen rauen Sitten. Und auf der anderen Seite gibt es die »Winterwelt« in Wien, wo er zwischen städtisch-bürgerlichen Menschen mit zuweilen feinen Sitten lebt (Heidelberger-Leonhard 2005, S. 24 ff.). Hans hofft in der jeweils anderen Welt für seine erlernten Fähigkeiten und Manieren der anderen Seite anerkannt zu werden: Das Landvolk soll ihn für seine feinen Umgangsformen ebenso anerkennen wie das Stadtvolk für seinen zuweilen rauen Charakter. Aber wie er im nachhinein zugeben muss, war dies nicht der Fall. Im Gegenteil hatte er das Gefühl, zwischen zwei Welten zu hängen und innerlich geteilt zu bleiben (S. 24). Dennoch sind auch für Jean Améry rückblickend diese ersten Jahre nicht vollständig verloren. Er berichtet von speziellen Erfahrungen mit den Mädchen vom Lande, die in der Stadt unmöglich gewesen wären, und er liebt den Wald. Rückblickend ordnet und stilisiert er sich in seinen »Unmeisterlichen Wanderjahren« 1971 zu einem »siebzehnbis zwanzigjährigen Waldgänger« des »Irrationalismus« (Améry 2002, Bd. 2, S. 208 u. S. 196). Er wirft sich unnachgiebig, schonungslos und in einer für den Leser geradezu selbstzerquälenden Weise intellektuelle Blindheit, Entfremdung von allem Humanen und eine verklärende Su547 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

che nach dem großen Ganzen vor, die ihn als »Waldgänger« nahe an den Faschismus geführt habe. Der Wald wird in diesem mimetischen Bild zur Chiffre der Transzendenz: »Waldesdunkel, Waldeinsamkeit – Magie der ewigen einen Chiffre Wald« (S. 192). Und der jugendliche Hans wird zum Bild des sehnsüchtig nach Geborgenheit suchenden Menschen, der sich zwar im Gewirr des Unterholzes verliert, aber in dieser Begrenzung zugleich anzukommen vermag: »Er suchte Schatten im totalen Wald, er fand ihn.« (S. 207) Dieses zugleich an Camus erinnerende Bild des absurden Menschen – getrieben von der Suche nach Klarheit und gefangen in den Verstrickungen der Welt – findet eine ängstigende Befreiung in einem radikalen Kahlschlag: »Der Wald wurde abgeholzt, da stand ich, erkennbar auf weite Sicht für jedermann. Ich wollte nicht sehen, wie rundum die Bäume fielen, einer nach dem anderen. Ich duckte mich ins Unterholz.« (S. 211) Sicherlich, diese Schilderung ist eine beispielhafte Aufforderung zur eigenen Selbstkritik und auch auf eine Provokation des Lesers angelegt. Aber sie geht über ein bloßes »Schaut her, so schonungslos gehe ich mit mir ins Gericht« hinaus. Jaspers’ Bemühen um ein Denken der Transzendenz im Begriff der Chiffre soll hier ebenso ins Lächerliche gezogen werden wie der in der Absurdität selbstzufriedende Existentialismus camusscher Prägung. Dies liegt sicherlich im linksintellektuellen Trend der Zeit und ist auch insofern wenig originell. Doch versteckt sich hier nicht eine autobiographische Wahrheit, wenn er sich rückblickend die Tendenz des sehnsüchtigen Sich-im-Wald-verlierens vorwirft? Bei Améry findet sich, so Heißenbüttel, eine »halluzinative Aufladung und Aufwertung der literarischen Erfindung«, welche als eine »Gegenposition der Ästhetik« verstanden werden kann (Heißenbüttel o. J. S. 6). »Noch ein Wort«, schreibt beispielsweise Améry 1975 in seinem grandiosen Essay zu Thomas Mann, »das Wort ganz einfach eines Lesers, der das zauberische Gebirge seit fünfundzwanzig Jahren zu durchwandern nicht müde wurde, der ganze Absätze der Thomas-Mann-Prosa auswendig weiß, so daß sie längst ein Teil seiner inneren Welt sind.« (Améry 2003, Bd. 5, S. 25) Sowohl Heißenbüttel als auch Höller verstehen Amérys eigene literarische Aktivität – als Leser, Kritiker und Autor – als »Bewältigungsversuche eines Überwältigten«, in denen ihn die Literatur über die zerstörerische Gewalt der Diesseitigkeit, über die Festschreibung des Menschen in seinem Körper hinausführt (Heißenbüttel o. J., Höller 2003). So zeigt sich auch hier ein sehnsüchtiges Sich-im-Wald-verlieren, im Wald einer 548 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das Leben und die Tortur

scharfsinnig-reflexiven Literatur. Doch kehren wir zunächst zur Biographie zurück. Hans Mayer verlässt im 12. Lebensjahr die Schule, die folgenden zwei Jahre in seiner Biographie sind verloren (Heidelberger-Leonhard 2005, S. 28 f.). Améry hätte sie nur selbst aufklären können, so dass spekuliert werden darf, was wir hier aber nicht tun wollen. Jedenfalls scheint Hans eine gewisse romantische Sehnsucht zu haben, als er, nach kurzem Intermezzo in Berlin, 1930 anfängt, in einem Wiener Buchladen eine Lehre zu absolvieren. Er wechselt, offenbar noch im selben Jahr, in den Buchladen der Volkshochschule Leopoldstadt, in dem er bis 1938 tätig ist. Für Hans Mayer wird diese Zeit zu seiner »Studienzeit« (S. 34 ff.). Leopold Langhammer (1891–1975), Direktor der Volkshochschule, sieht in ihm einen interessierten und klugen jungen Mann, den es zu fördern gilt. Hans liest Philosophie, beschäftigt sich mit Literatur. Er hört wichtige Figuren der österreichischen Literaturszene: Hermann Broch (1886–1951), Elias Canetti (1905– 1994), Robert Musil (1880–1942), Max Brod (1884–1968), Ernst Waldinger (1896–1970), um nur einige zu nennen. Hans träumt davon, ein Schriftsteller und Geschichtenerzähler zu sein. Rückblickend hat Améry das für diese Lebensphase typische Gefühl, in dieser Zeit aus den dunklen Gefilden des Kindermärchenwaldes zu erwachen. Er nimmt sein Leben nochmals anders und in gefühlter Neuartigkeit in den Blick, findet sich selbst als ein Individuum unter vielen anderen Individuen im Leben vor: sein Wald wird abgeholzt. Als Waldarbeiter dienen ihm dabei vor allem die Mitglieder des »Wiener Kreises« wie Moritz Schlick (1882–1936), Rudolf Carnap (1891–1970), Hans Hahn (1879–1934) und Ludwig Wittgenstein (1889–1951), die regelmäßig in der Volkshochschule auftreten und über ihre Idee einer neuen Philosophie berichten. Diese neue Philosophie will sich empirisch fundieren und alle romantischen Attitüden hinter sich lassen. Hans nimmt diese Wünsche nach Klarheit und Beweisbarkeit in sich auf und wird das, was man aus heutiger Sicht vielleicht einen revoltierenden Existentialisten, einen proletarisch intellektuellen Neinsager, vielleicht aber auch schlicht einen engagierten Aufklärer nennen könnte. Hans Mayer wird politisch aktiv – ist Mitglied des Wiener Aufstandes von 1934 – und er beginnt, intensiv zu schreiben. Mit seinem Freund Ernst gründet er eine eigene, allerdings wenig erfolgreiche literarische Zeitschrift »Die Brücke« und schreibt seinen ersten Roman »Die Schiffbrüchigen«, der allerdings erst posthum 2007 veröffentlicht 549 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

wird (Heidelberger-Leonhard 2005, S. 45 ff.). Auch andere kleinere Versuche des eigenen Schreibens verlaufen nicht sehr erfolgreich und bleiben hinter den Wünschen offenbar zurück. Privat hingegen läuft es zunächst gut, auch wenn sich Österreich politisch bereits auf dem Weg in den Ständefaschismus und damit in einen offenen Antisemitismus befindet. Privat ist er glücklich liiert mit Regine Berger (»Gina«), die ihn mit seinen jüdischen Wurzeln konfrontiert und ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem jüdischen Glauben bringt, obwohl er von seiner Mutter weitgehend ohne Glaubenshinweise erzogen wurde. Sicherlich hat er jüdische Wurzeln, aber 1933 tritt er zunächst aus der jüdischen Gemeinde aus, um nach der Heirat 1937 wieder einzutreten (S. 67). Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland am 11. März 1938 wird die Repression und öffentliche Diskriminierung der Juden in Österreich unübersehbar drastisch, so dass sich Hans und Gina ebenfalls mit Auswanderungsideen beschäftigen. Aber erst im Dezember 1938 emigrieren beide über Köln nach Antwerpen und von dort nach Brüssel. Im Rückblick berichtet Améry 1968, dass ein befreundeter Studienkollege, mittlerweile aktives Mitglied bei den Faschisten, im Dezember 1938 bei ihnen in seiner »winzigen Garni-Wohnung« erschienen sei und ihnen den »freundschaftlichen Rat« gegeben habe, dass die Kristallnacht vom 9. 11. 1938 in Deutschland kein Einzelereignis bleiben würde, sich in Österreich wiederholen werde und es also höchste Zeit sei, aus Wien und Österreich zu verschwinden (Améry 2002, Bd. 2, S. 790 f.). Hans und Gina verlieren keine Zeit und kommen schließlich wohlbehalten in Antwerpen an. Über Kalterherberg in der Eifel werden sie von menschlich-anständigen Menschenschmugglern aus Köln durch die verschneite »dreißig Kilometer tiefe Sperrzone« geführt: »die ganze Ausreise« hat für ihn einen »widerlogischen und traumhaften Charakter« (S. 801). Am 10. Mai 1940 überfällt Deutschland Belgien, Hans Mayer wird wie alle jüdischen Männer inhaftiert. Er wird schließlich nach Gurs abtransportiert, wo er am 28. Juli interniert wird und von wo er am 6. Juni 1941 flieht, um im September 1941 in Brüssel Gina wiederzufinden (Heidelberger-Leonhard 2005, S. 75 ff.). Nun tritt er dem Widerstand bei und organisiert gemeinsam mit Marianne Brandt, einer fast zwanzigjährigen aber bereits erfahrenen Widerstandskämpferin, eine kleine Gruppe, die Flugblätter mit Anti-Nazi-Sprüchen und offenen Aufrufen zum Widerstand gegen das NS-Regime verteilt (S. 79). Bei dieser Form eines fast schon nai550 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Das Leben und die Tortur

ven, zumindest aber mutigen Widerstands war es wohl unvermeidlich, letztlich durch die Gestapo im Juli 1943 verhaftet zu werden. Hans Mayer wird zum Fort Breendonk verbracht, wo er gefoltert und verhört wird. Es wird ihn über 20 Jahre Lebensarbeit kosten, bevor er 1966 über die Folter und den Holocaust wirklich berichten kann. Sein Essay »Jenseits von Schuld und Sühne« gehört aber vielleicht zum Wichtigsten, was jemals über den Holocaust geschrieben worden ist. Marianne Brandt hingegen wird die Deportation nicht überleben (S. 368). »Im Bunker hing von der Gewölbedecke eine oben in einer Rolle laufende Kette, die am unteren Ende einen starken, geschwungenen Eisenhaken trug. Man führte mich an das Gerät. Der Haken griff in die Fessel, die hinter meinem Rücken meine Hände zusammenhielt. Dann zog man die Kette mit mir hinauf, bis ich etwa einen Meter über dem Boden hing. Man kann sich in solcher Stellung oder Hängung an den hinterm Rücken gefesselten Händen eine sehr kurze Weile mit Muskelkraft in der Halbschräge halten. Man wird während dieser wenigen Minuten, in denen man die äußerste Kraft verausgabt, keine Fragen beantworten. Das in einem einzigen Körperbereich, nämlich in den Schultergelenken, gesammelte Leben reagiert nicht, denn es erschöpft sich ganz und gar im Kraftaufwand. Was mich betrifft, so mußte ich ziemlich schnell aufgeben. Und nun gab es ein von meinem Körper bis zu dieser Stunde nicht vergessenes Krachen und Splittern in den Schultern. Das eigene Körpergewicht bewirkte Luxation, ich fiel ins Leere und hing an den ausgerenkten, von hinten hochgerissenen und über dem Kopf nunmehr verdreht geschlossenen Armen. Tortur, vom lateinischen torquere, verrenken: Welch ein etymologischer Anschauungsunterricht! Dazu prasselten die Hiebe mit dem Ochsenziemer und mancher von ihnen durchschnitt die dünne Sommerhose, die ich an diesem 23. Juli 1943 trug.« (Améry 2002, Bd. 2, S. 72 f.)

Hans Mayer berichtet seinen Folterverhörknechten eine gute Geschichte. Er erzählt sie so gut, dass sie ihm glauben und er – ohne jemanden verraten zu haben – auf seine weitere Reise in den Holocaust geschickt wird. Am 15. Januar wird er mit 655 anderen Deportierten nach Auschwitz gebracht, wo er 2 Tage später ankommt. 417 der ihn begleitenden deportierten Menschen werden sofort ermordet. Mayer wird einer Abeitsgruppe zugeteilt, wird schließlich als Schreiber in einem Industriekomplex eingesetzt und lernt hier auch Primo Levi kennen (Heidelberger-Leonhard 2005, S. 89 ff.). Hans Mayer überlebt den Holocaust, als einer von 615 Überlebenden der 25.437 deportierten belgischen Juden. Rückblickend bescheinigt sich Améry Heimweh: »Ich spürte es zum ersten Mal durchdringend, als ich mit fünfzehn 551 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

Mark fünfzig am Wechselschalter in Antwerpen stand, und es hat mich so wenig verlassen wie die Erinnerung an Auschwitz oder an die Tortur oder an die Rückkehr aus dem Konzentrationslager, als ich mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt stand, noch einmal überaus leicht geworden nach dem Tod des einzigen Menschen, um dessentwillen ich zwei Jahre lang Lebenskräfte wach erhalten hatte.« (Améry 2002, Bd. 2, S. 89) Gina war kurz nach seiner Verhaftung an einem angeborenen Herzfehler gestorben, für ihn letztlich ein »unfaßbares Ereignis« (Bormuth 2005a, S. 7 f.). So bleibt keiner, der ihn in Brüssel erwartet oder herbeisehnt. Jedoch gibt es Hilfe, insbesondere von Ilya Prigogine (1917–2003) und seiner Frau Marina, die Hans am Brüsseler Bahnhof in Empfang nimmt. Es entwickelt sich eine lebenslange Freundschaft (Heidelberger-Leonhard 2005, S. 87 f.). Hans Mayer versucht mit den Ereignissen zurechtzukommen, das Erlebte zu bewältigen, die körperliche Beschädigung zu überwinden. Er hat wiederholt Suizidgedanken und er scheint die Hoffnung nicht aufzugeben, dass es etwas Gutes und Rettendes geben müsste. Seine Heimatlosigkeit, die er 1966 auch mit dem Verlieren der Sprache vergleicht (»Und wir verloren die Sprache« Améry 2002, Bd. 2, S. 88), drückt sich deutlich in seiner Namensänderung 1955 aus: aus dem deutschen Hans wird das französische Jean, aus dem deutschen Mayer das französische Anagramm Améry (Heidelberger-Leonhard 2005, S. 145). Letztlich aber muss Jean Améry 1966 gestehen: »Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. […] Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden.« (Améry 2002, Bd. 2, S. 79)

3.

Freiheit im letzten Moment?

Und wir verloren die Sprache. Dies ist natürlich ein Satz, der es in mehrerlei Weise in sich hat. Insbesondere wenn wir bedenken, dass ihn Améry nicht kurze Zeit nach seiner Zeit im Widerstand, nicht kurze Zeit nach seiner Folter, nicht kurze Zeit nach dem Holocaust geschrieben hat, sondern ihn nach Jahren auch gerade des eigenen intensiven Schreibens verfertigt. Améry wirkt für uns keineswegs sprachlos, vielmehr würden wir bei der Lektüre seiner Texte von einer enormen Wortgewalt sprechen. Zudem neigt er zum Sich-im-Literaturwald-verlieren, was ebenfalls ohne Sprache – gerade auch in diesem Sinne einer 552 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Freiheit im letzten Moment?

ästhetischen Sprachfertigkeit – unmöglich wäre. Und doch ist für ihn die Sprache eben nicht »unverloren«, wie Paul Celan antworten wird. Améry bleibt verzweifelt und könnte allenfalls in dieser Verzweiflung »unverloren« sein. Wir finden diesen Gedanken auch bei Ingeborg Bachmann (1926–1973) in ihrem 1964 verfertigten Gedicht »Böhmen liegt am Meer« (Bachmann 2000): Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn. Zugrund, das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.

Dem Zugrundegerichteten ist das Rettende im Leben verloren, seine Verzweiflung ist ihm sicher. In diesem Verlust des Rettenden zeigt sich hingegen unerwartet eine unverlierbare letzte Rettung. Im Wissen um dieses unverlierbare Sich-Zugrunde-richten bis in den Tod kann bei aller Sicherheit der eigenen Verzweiflung noch Unbestimmbares im Leben gefunden werden. Auch für Améry ist der suizidale Mensch zugrundegerichtet und verzweifelt, aber sein Suizid gilt ihm dennoch als eine ganz freie Entscheidung (Améry 1978/1999, S. 76 u. S. 99 f.). Dieser Punkt ist für Améry wichtig und er ist sich dieser Freiheit zum Suizid sicher. Als derjenige, der die Sprache verloren hat, schreibt und spricht er gewaltige Sätze, die diesen Gedanken einer Freiheit im letzten Moment unmissverständlich auf den Punkt bringen: »Er kann es tun oder auch nicht« (Améry in Pohlmeier 1978, S. 15), sagt er in der erwähnten Podiumsdiskussion. »Der Suizidant aber stirbt aus eigenem Entschluß. Gnade könnte er nur selbst sich gewähren« (Améry 1978/ 1999, S. 91), schreibt er in seinen Essays zum Suizid. Aber könnte gegen diese These einer Freiheit im letzten Moment nicht eingewandt werden, dass es sich hier um einen Menschen handelt, der sich in der Suche nach sich selbst und seiner Freiheit in Wortgefechten verliert? Für Améry versteht sich die suizidale Erfahrung als eine verzweifelte »Suche nach dem Ich«, denn: »Der Zurückgebliebene ist allein: ein Ich« (S. 76). Diese Suche ist eine endlose »Spiegelfechterei«. Der suizidale Mensch, insbesondere der, der beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen, ist mit sich allein, ist zurückgeblieben und »ist nur noch bei sich«. Ihm geschieht das »Grauenerlebnis des Ich vor dem Spiegel«, welches nach Améry allerdings jedem Menschen widerfahren könne. Es lautet:

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»Ich bin; ich werde nicht sein, aber ich bin. Bin was? Bin ich. Wer aber bin ich? Ich. […] Wer bin ich? Der Leib, der auch schon entgleitet. Präziser noch: das Antlitz, das Leib ist und zugleich mehr als das. Es sucht, wenn einer Hand an sich legt, sich im Spiegel. […] Findet sich als Antlitz: Augen, die nun zu Vieren angestrengt gegeneinander, starren, ein Mund, verzerrt von Angst. Das Gesicht, das sich begegnet, hat noch nicht das Ich. Das Ich hat im Gesicht noch nicht sich selber. Etwas wie ein Grauen steigt auf, das von der im Suizidär aufgestauten Angst sich unterscheidet. Wenn nämlich einer sich sagt: Das bin also ich. Wieso bin ich das? […] Denn nun ist es ja so, daß das Ich […] am Ende seiner selbst steht. Es hat die Welt verneint und mit ihr sich selber: es muß sich abschaffen und verspürt schon halb sich als Gewesenes, Verwesendes. Da versucht es ein letztes Mal zu sich zu gelangen. Vier Augen starren, zwei Münder verziehen sich in grausamem Hohn oder großem Weh. […] Wird dieser (der Suizid J. S.) aber ins Werk gesetzt, dann ist das Entsetzen vor der Leere, ist der horror vacui angesichts des Rätsels Ich wohl scheußlich präsent, wird aber eingeschlungen von der baren Todesangst […]« (76 ff.)

Wieder ein Sich-verlieren, allerdings verliert sich der suizidale Mensch nicht im Kindermärchenwald und auch nicht in der literarischen Aktivität, sondern schlicht in sich selbst. Und entdeckt sich dabei als eine wohlgesetzte Illusion. Hier könnte eingewandt werden, dass dann alles als Illusion gefasst werden müsste. Dann gäbe es aber auch die Vergangenheit der Folter nur im Einzel-Ich und diese könnte radikal materiell alleine durch die Vorstellungskraft wirklich geändert werden. Das Ich des Einzelnen hätte unbeschränkte Gewalt über Zeit und Raum, könnte sich sogar seine eigene Geburt ausdenken. (Alles, die Existenz meiner selbst und auch die von Ihnen wäre mein Hirngespinst!) Aber dies wäre Solipsismus und Améry hätte gar nicht zu verzweifeln brauchen, wenn er sich so frei hätte ausdenken können. Wenn wirklich alles Erlebte und Wahrgenommene eine radikale Konstruktion desjenigen wäre, der es erlebt und wahrnimmt, dann würden wir uns heutzutage einen Améry ausdenken. Noch genauer: Ich würde mir Améry ausdenken, da ja für mich alles eine Illusion meines Bewusstseins wäre. Wie dann allerdings diese multiplen Innenwelten miteinander in Kontakt kommen könnten, wenn Diskurse und Berührungen, Sprechen und Naturgesetze nur noch und ausschließlich interne Konstruktionen im Stile einer »Matrix« sind, bliebe vollends rätselhaft (Schlimme 2007a). Denkt man den Solipsismus radikal, so zwingt sich zur Lösung dieses Problems der Gedanke der Weltseele auf, welche die ansonsten unverbundenen Einzelseelen miteinander zusammenbindet. In der Sprache 554 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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eines radikalen Neurokonstruktivismus wäre dies das Weltgehirn, das als Meta-Hirn die Mannigfaltigkeit der Einzelgehirne zueinander zu ordnen und miteinander zu verbinden vermöchte. Das Gehirn Gottes, ein fürwahr absurder Gedanke. Diese Schwierigkeiten eines Solipsismus hat Améry durchaus bedacht. Wenn aber seine Tendenz, sich zu verlieren, nicht in den Solipsismus führt, wohin führt sie dann? Améry reagiert schockiert und tief verletzt, als ihm sein Freund Hans Paeschke in einem Brief am 05. 03. 1976 auf die Lektüre seiner Suizid-Essays genau diesen Vorwurf entgegenhält: »was mich […] beim Lesen ergriff, auch in Trauer, ist die Einsamkeit, aus der heraus Du dies geschrieben hast. […] Wenn es mit dem Anderen so bestellt ist, muss man dann nicht folgern, dass es das Du nicht gibt, also die Liebe nicht gibt? Immer wieder kommst Du auf das Ich, das sich behaupten, bewähren muss. […] Deine Einsamkeit steht an der Grenze zum Solipsismus.« (zit. nach Heidelberger-Leonhard 2005, S. 328) Und er antwortet: »Denn wenn sogar Du in mir einen Solipsisten siehst (und nicht den Aufklärer, der ich gerade in diesem Buch noch rücksichtsloser als im ›Altern‹ habe sein wollen) – was werden denn erst die Kritiker sagen?« (Améry 2007, Bd. 8, S. 520). In diesem Antwortbrief vom 15. 03. findet sich auch die Aufklärung darüber, wohin dieses Sich-verlieren aus seiner Sicht führt. »Du sagst, ich käme immer wieder auf das ›Ich‹ zurück. Aber nicht ich rekurriere auf dieses (zugleich empirische und transzendentale) Ich, sondern es ist die ontologische Grundkondition des Menschen, die uns alle in diese Sackgasse treibt – es sei denn, wir seien gläubig in irgendeinem Sinne: über diesen aber lässt sich nicht mehr diskutieren. Doch, die Liebe gibt es. Aber sie hat ganz geringe Chancen, und tatsächlich kann nur ein Mystiker sich einreden, es stürbe in ihr die Spiegelfechterei des Ich mit sich selber, dessen Ich mit dem Anderen ist, der ›dunkle Despot‹. Le contraire est vrai: à relire chez Proust. – Und dann der ›süße Tod‹, mein Gott, es ging ja mein ganzes Bemühen dahin, ihn als den verkehrt geschauten ›Bruder des Schlafes‹ zu demaskieren. Ach nein, da ist keine Süße – Was sag ich? ›Wir vergehen wie Rauch von starken Winden‹.« (S. 520, Hervorhebung im Original) Das Leben, so lernen wir hier, gibt, so jedenfalls Améry, aus sich heraus keine Antwort auf die Frage nach seinem »Wozu«. Das Sich-Verlieren führt also in die »Sackgasse«, aber führt es auch an das Ende der Gasse? Vielmehr bleibt dieses Ende auch bei Améry eigentümlich offen, da sich der Mensch selbst nicht auszuschöpfen vermag. So findet auch Améry sich im Suizid nicht endgül555 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

tig vor, auch wenn er dann am Ende seines Lebens steht. »Nach den letzten Selbstgesprächen, die vielleicht vor dem Spiegel stattfinden, wo er seinem schon abgeurteilten Ich nachjagt, ohne es einzufangen, nur um es noch zu erlegen, kommt unerbittlich der Augenblick, der frei gewählte, an dem er Hand an sich legt.« (Améry 1978/1999, S. 92) Hier wählt jemand, der sich auch im Suizid nicht wirklich und endgültig zu fassen vermag, aber dennoch vorkommt. Er kann sich also nicht selbst gesetzt, gemacht oder erfunden haben. Also kein Solipsismus, sondern Einsamkeit und Verzweiflung. Und zugleich das Wissen um eine Freiheit im letzten Moment. Denn in diesem letzten Moment ist der Geist der Freiheit am nächsten, ist das Ich ganz bei sich, »ein absurder Freiheitsrausch« (S. 154). »Wer Hand an sich legt, ist grundsätzlich ein anderer als der, welcher sich dem Willen der anderen preisgibt: mit diesem geschieht etwas, jener handelt von sich aus. Er ist es, der die Frist setzt, er kann nicht auf rettende Schickungen vertrauen.« (S. 92) Améry wird nicht müde, zu betonen, dass dieses »Freie ein Leeres« ist (S. 148) und dass es der Entschluss zum Suizid ist, der dieses Freie hervorbringt (S. 135 ff.; vgl. bes. Hartmann 2005). »Der Ernst des Beschlusses und der auf ihn folgenden Schlüssigkeiten sind tödlich: Und tödlich wird die Befreiung sein, und die Freiheit wird mit dem gewalttätigen Ausbruch aus dem Zwang verschwinden. So ist der Freitod zwar der atemgebende Weg ins Freie, nicht aber dieses Freie selber. Was die traumhafte Schönheit dieses Weges, wenn er auch verwachsen ist vom Dorngestrüpp des Trennungsschmerzes, nicht zerstört.« (S. 144, Hervorhebung im Original) Aber, so müssen wir hier gegenfragen, ist hier nicht ein Ideal von Freiheit angenommen, in welchem Freiheit als eine radikale Loslösung von allen Zwängen angesetzt wird? Einerseits »Ja«, denn diese radikale, idealische Freiheit kann nur abseits des Lebens gegeben sein. Und andererseits »Nein«, da abseits des Lebens nichts mehr gegeben wird. Améry ist sich dieses Gegensatzes bewusst (S. 111 ff. u. 140 ff.). Trotzdem klagt er diese Freiheit gegen alle Notwendigkeiten des Lebens ein, dass nur im Suizid diese maximale Freiheit anvisiert werden kann (Schlimme/Škodlar 2008). In den »Skizzen, die Améry in ›Träger der Freiheit‹ und in Hand an sich legen vom Wesen des Menschen entwirft, [scheint] wieder die harte Konfrontation des radikalen Freiheitsbestrebens mit äußerlichen Hemmnissen in den Vordergrund zu treten. In die Zukunft zu handeln bedeutet daher stets, Tribut zu bezahlen an Kausalität und Determinismus. Vor diesem Hintergrund eröffnet 556 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Freiheit im letzten Moment?

sich der Raum für ein Bedürfnis nach Vernichtung des letztlich grundsätzlich, nicht nur gegenüber der Gesellschaft, unfreien Lebens.« (Hartmann 2005, S. 101) Sicherlich meint dies keinen strengen Solipsismus und auch der Andere ist nicht unwichtig oder abwesend (S. 93 ff.). Jedoch zieht sich der Suizident auf sich selbst zurück. Die Einsamkeit und Verzweiflung hat Hans Paeschke durchaus treffend wahrgenommen, so wie auch Erwin Ringel später in der Podiumsdiskussion die Angst vor dem übermäßigen Bestimmtwerden wahrnimmt. Dieses fast schon trotzige Beharren auf dieser abstrakten Freiheit – »Der Mensch denkt, die Multikausalität lenkt« – gegen alle Widersprüche verweist auf ein dem Beharren unterliegendes Begehren. In der Person Jean Améry scheint eine Sehnsucht zu bestehen, sich doch im Leben verlieren zu dürfen, ohne den zwingenden Notwendigkeiten des Lebens gehorchen zu müssen. Es geht darum, die Freiheit als eine völlige Loslösung von allem zu bewahren, obwohl der Mensch weiß, dass sich Freiheit immer erst als eine lebendige bewahrheiten kann. Es gilt, die Freiheit zu verteidigen und sich einen Freiheitsraum nur für sich zu bewahren: »Mit dem Aufhören der Welt durch den Tod wird das Sich-selbst-Gehören des Suizidanten bestätigt.« (S. 115) Amérys Leben gibt keine andere Antwort auf das »Wozu« des Lebens als die, sich eine letzte Freiheit zu bewahren und gegen alle zudringlichen Notwendigkeiten des eigenen Lebens zu verteidigen (Schlimme/Škodlar 2008). Deshalb muss Améry, der immer noch an seinen ausgerenkten Armen über dem Boden baumelt, auch auf die Hilfe von Erwin Ringel verzichten. Denn die Hilfe ist die Abschottung, in der das Ideal der Freiheit im letzten Moment und für diesen letzten Moment erreicht wird. Der Suizid ist für ihn der Weg ins Freie, wobei dieses Freie die allernächste Annäherung an das Ideal der Freiheit, einer Freiheit des »Ich« jenseits aller Notwendigkeiten und Verstrickungen des Gegebenseins ist. Und es ist auch klar, dass gegen die Logik des Lebens, dieses unauflösliche Gegebensein, nur der Akt eines Sich-das-Leben-nehmen und nicht der schlichte Tod als ein letzter Versuch interpretiert werden kann, aus dieser Logik auszubrechen. Sich selbst als Aufgabe wirklich zu verweigern, gelingt nur im Suizid. Dennoch ist die Suizidtat nur möglich, da sich der Mensch als Aufgabe erkennt, auch wenn es ihm verzweifelnderweise nicht gelingt, diese Aufgabe zu bewältigen. Und so wählt er den Suizid, weist die Aufgabe der Bewältigung zurück und findet darin als stets bereits Überwältigter 557 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

eine letzte Befreiung. Auch deshalb bleibt der Suizid für Améry ein »ontologisches Neinsagen«.

4.

Der eigene Suizid

Auch wenn Améry darum ringt, dass sein Suizid am 17. Oktober 1978 seine freie Entscheidung ist, die in keiner Weise durch seine Lebensgeschichte begründet wird, können wir nicht umhin, diese Verbindungen zu sehen. Es ist offenkundig, worum es Améry geht, fühlt er sich durch das gelebte Leben doch zu sehr bestimmt, zu genau festgelegt. Dies ist ja gerade seine Verzweiflung, dass er diese Bestimmtheit durch seine Erlebnisse, die ihm gegeben worden waren, die er sich nicht ausgesucht hatte, die er sich niemals ausgesucht hätte, nicht überwinden und auflösen konnte. Insofern ist es durchaus schlüssig, dass er zumindest in seiner Suizidtat eine vollkommen freie Entscheidung sehen will, da dieser ihm die einzig verbliebene Möglichkeit scheint, sich selbst so zu ändern, dass er sich als denjenigen, der er geworden war, los werden kann (Schlimme/Škodlar 2008). Alle Interpretationen betreffend Amérys eigenen Suizid werfen demnach unnachgiebig die Frage auf, ob wir seine Aussage, dass sein Suizid seine freie Entscheidung ist, ernstnehmen. Denn dann sind alle Interpretationen immer nur Annäherungen, sie zeigen Bedingungen auf, die für seinen Suizid förderlich oder zumindest günstig sind. Eine lückenlos-eindeutige psychologische Determination darf dann von vornherein gar nicht erwartet werden. Dennoch gibt es deutliche Hinweise auf günstige Bedingungen dafür, dass Jean Améry sich letztlich in einer selbstbestimmten Manier den Tod gibt. Im Wesentlichen sind es vier Hintergründe, die seine »Todesneigung«, seine hohe Bereitschaft zum Suizid nachvollziehbar machen: a) die lebenslange Beschäftigung mit dem Thema, die sich bereits in dem gottesgerichtlich-suizidalen Duell von Eugen Althager im Roman »Die Schiffbrüchigen« zeigt, den Améry mit Anfang zwanzig niederschreibt (Améry 2007, S. 296 ff.); b) die zwei Suizidversuche, von denen der erste 1943 nach der Folter, der zweite 1974 verübt wird. Den zweiten Suizidversuch beschreibt Améry ausführlich in seinen SuizidEssays (Améry 1978/1999, S. 85 ff. u. 91 ff.); c) seine zum »Normalzustand« gewordene, immer wiederkehrende Verzweiflung – »Missvergnügt bin ich sowieso« (Brief an Wolfgang Kraus am 30. 11. 1975, 558 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der eigene Suizid

Améry 2007, Bd. 8, S. 502) – und die wiederkehrenden Erinnerungen an seine Tortur, welche er nicht nur in seinen Essays, sondern auch in seinen Briefen immer wieder zum Ausdruck bringt: »Ich stehe nach wie vor auf bestem Fusse mit dem bearbeiteten Freitod. Offenbar aber wehrt doch die Kreatur sich hartnäckig. Es kann aber auch sein, dass mein pathologisches Pflichtgefühl mir nicht gestattet, alles hinzuwerfen«, schreibt er am 16. März 1976 an seinen Freund Ernst Mayer (S. 523); d) das Nachlassen der körperlichen Vitalität, die ihn früh einholt und seit dem Holocaust begleitet, wie er Ernst am 16. Februar 1972 berichtet: »man wird ebenso unsicherer wie abergläubischerer, wenn man ständig um die Funktionsfähigkeit des Kadavers bangen muss!« (S. 394). All dies macht seine »Todesneigung« aus seiner Person und Lebensgeschichte verständlich. Fraglich kann auch seine »Kritik aus Passion« an der zeitaktuellen bundesdeutschen Gesellschaft als ein weiterer möglicher Hintergrund gedacht werden, zeigen sich ihm doch die Normierungen zunehmend als einen – wie er es zynisch nennt – »ehrbaren Antisemitismus«, so dass er seinen Suizid als eine letzte gesellschaftliche Kritik stilisiert haben könnte (Bormuth 2005b, S. 202 ff.). Konkreter Anlass für den Suizid ist jedoch der weitgehende Verriss seines großen Romans »Charles Bovary. Landarzt« durch die bundesdeutsche Kritik (Heidelberger-Leonhard 2005, S. 335 ff.). Sicherlich geht er auch mit riesengroßen Hoffnungen an die Publikation, ist dem Werk mit Haut und Haaren verschrieben und insofern durch jegliche Kritik rasch verletzt und gekränkt. Bemerkenswert ist auch, dass die sehr ähnliche Abweisung seines »Lefeu oder Der Abbruch« 1974 seinen zweiten Suizidversuch provozierte, den zu überleben er als »mit das Schlimmste« empfindet, was ihm angetan worden sei (Améry 1978/1999, S. 86). Die konkreten Umstände seines Todes sind schnell erzählt: Améry befindet sich auf einer Lesereise aus seinem neuen Buch, die er in Marburg am 13. Oktober abbricht, um überraschend nach Salzburg abzureisen. In seinem Hotelzimmer im Österreichischen Hof (heute: Hotel Sacher Salzburg) nimmt er am 17. Oktober 1978 Barbiturate in tödlicher Dosis. Für die Hotelleitung und die Polizei, für seine Frau und für seinen Lektor hat er jeweils einen Brief hinterlegt, Geld für die Hotelrechnung ist reichlich dabei (Heidelberger-Leonhard 2005, S. 348 ff.). Alles wirkt »minutiös vorbereitet« und es stellt sich die Frage, ob es sich hier um sein letztes »Meisterwerk« handelt – sein Suizid wird auf der Frankfurter Buchmesse, die am 18. Oktober beginnt und 559 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

ihn als Autor erwartet, punktgenau einschlagen – oder um das Eingeständnis, dass ihm auf Erden nicht zu helfen war. Heidelberger-Leonhard vermutet eher Letzteres und hat einige gute Argumente auf ihrer Seite (S. 350).

5.

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Jean Amry

Die suizidale Erfahrung versteht sich bei Améry aus der Verzweiflung, die seiner Sehnsucht des Sich-Verlierens – sei es im Kindermärchenwald, sei es in der literarischen Aktivität, sei es im Wissen um die eigene Möglichkeit des Suizids – kontrastiert und zugleich kenntlich macht, dass existentielle Aufklärung und scharfsinniges Denken abseits irrational-romantischer Verklärung allein noch nicht ausreicht, um die Frage nach dem »Wozu« des Lebens sinnstiftend zu beantworten. Dieses Denken macht zudem die Paradoxie kenntlich, dass der Tod die radikale Alterität zur »Logik des Lebens« ist. Hierin gewinnt der Tod aus der Sicht des aufgeklärten Améry dann doch eine rettende Qualität, die sich aber aus menschlicher Sicht nur auf den Weg zum Tod bezieht. Denn der Suizident wird, wie Améry betont, nirgendwo ankommen. »Da blieb als Ausweg nur der Tod, ein Nicht-Weg, da er doch nirgendwohin führte.« (Améry 1978/1999, S. 36) Améry erfasst die Situation vor dem Suizid in ihrer inneren Struktur, wobei sich die suizidalen Menschen trotz aller »unverwechselbaren Einzigartigkeit ihrer Situation« (S. 19) in einer grundlegend vergleichbaren Situation befinden, denn »der Moment vor dem Absprung macht alle Unterschiede irrelevant und stellt eine aberwitzige Egalität her« (S. 20). Améry beschreibt diese Verzweiflung auch mit den Worten, es sei »als befände er sich in einem schmalen Raum, dessen Wände immer enger zusammenrücken. Dabei wurde sein Kopf größer, wie ein Ballon, den man aufbläst, und zugleich dünner. Der Kopf schlägt an alle vier einander unerbittlich sich nähernden Mauern. Jede Berührung schmerzt und hallt wieder, wie der Schlag auf eine Kesselpauke. Am Ende trommelt der nach allen Richtungen rennende […] Schädel einen rasenden Wirbel – bis er. Bis er zerspringt […].« (S. 15 f.) Aber selbst dieses Bild kann derart umgewandelt werden, dass es diese letzte Freiheit ausdrückt. »Ein Schmied legte seinen Kopf zwischen die Blöcke eines Schraubstocks und drehte mit der Rechten das Gerät zu, bis der Schädel zerbrach. Von anderen Todesarten […] ähn560 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Jean Amry

lich grausamer Art hat ein jeder schon vernommen. Der Mann, der sich mit dem Rasiermesser die Kehle durchschneidet. Der japanische Dichter und Krieger Mishima stößt sich die Spitze seines Säbels in den Bauch, wie das Ritual es befiehlt. Ein Strafgefangener dreht aus seinem Hemd, das er zerreißt, eine Schnur, windet sie um seinen Hals, erhängt sich an den Gitterstäben seiner Zelle. Gewaltsame Todesarten: die Hand wird tatsächlich angelegt.« (Améry 1999, 70) Das Bild des Kopfes, der zwischen Wände oder Blöcke gespannt wird, bis er zerspringt, ist ein Bild, welches Améry in seinen Essays zum Suizid wiederholt nutzt (S. 82, 88 u. 126). Es korrespondiert mit dem Bild der Verzweiflung, in dem das Leben selbst zum Schraubstock wird und den Geist zwischen den Notwendigkeiten des Lebens einspannt, bis er platzt. Améry bleibt in seinem Nachdenken über den Suizid ganz aufgeklärt-existentieller Denker. Das Thema einer Unsterblichkeit der Seele beschäftigt ihn nicht, sondern er versteht den Tod als eine Grenzsituation, als ein »Nichts«. Im Moment des Entschlusses zum Suizid, in dem Moment, wo der Mensch wirklich Hand an sich legt, gewinnt der Mensch für Améry weitestmögliche Freiheit von den Notwendigkeiten des Lebens. Er kann sich selbst zwar nicht wirklich verlassen, aber er kann gegen sein Leben »Nein« sagen und so die Grenzenlosigkeit des Geistes behaupten, auch wenn er hierbei nicht zugeben darf, dass er das Leben zu diesem »Neinsagen« benötigt, um dieses Verbleiben im Leben tatsächlich konstatieren zu können. Es ist, wenn wir Améry hier folgen, die Paradoxie, dass der suizidale Mensch im Suizid einen »Weg ins Freie« sieht, obwohl doch gerade dieses anvisierte »Freie« prinzipiell unmöglich ist und obwohl wiederum die fehlende »Freiheit« den Menschen erst suizidal werden lässt. Améry hält standhaft – geradezu trotzig verzweifelt – daran fest, dass der Suizid ein Weg ins Freie ist. So lässt sich seine Zuspitzung, im Suizid eine Rettung für jeden Menschen sehen zu wollen, letztlich als eine suizidale Konsequenz verstehen. Améry zeigt, dass auch für den aufgeklärten Menschen der Tod noch die Aussicht auf einen letzten Rest von Freiheit gewährt, wenn das Leben die Frage nach seinem »Wozu« nicht mehr sinnstiftend beantworten kann. Dieses ist ihm gewissermaßen selbst geschehen. Denn die persönliche Verzweiflung Jean Amérys wird ja auch aus den Erfahrungen der Folter und des Holocaust verständlich. Auch wenn der Gedanke des Suizids bereits für den jugendlichen Hans Mayer ein sinnstiftendes Thema ist, wenn er Eugen Althager in den »Schiffbrüchigen« in gottesgerichtlicher Qualität bei seinem Duell gegen einen 561 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der »Fall« Jean Amry

hoffnungslos überlegenen Gegner antreten lässt. Vielleicht aber kann diese jugendliche Beschäftigung mit dem Thema auch noch als der Lebensphase »Jugend« zugehörig gedeutet werden. Sicherlich aber hätte er sich die Erfahrungen in der Shoah nicht ausgesucht, eine andere Lebensgeschichte gewünscht. Dennoch würde Améry den Punkt zurückweisen, dass seine Entscheidung zum Suizid von seiner Lebensgeschichte abhängig gewesen sei – obwohl wir kaum umhinkönnen, diesen Zusammenhang zu erkennen und zu betonen. Denn es ist gerade diese Abhängigkeit, diese im Leben unauflösliche Verbundenheit mit seiner Lebensgeschichte, mit den eigenen verzweifelnden Erlebnissen und Erfahrungen und dem eigenen Sosein, welches ihn zur sehnsüchtigen Suche nach einer Freiheit von diesen Zwängen und Notwendigkeiten nötigt. Und in seiner Sicht müssen wir zugeben, dass er einen Weg aus diesen Zwängen herausfindet: es ist der eigene Tod. Das Wissen um diesen Weg verleiht ihm zwar eine gewisse Gelassenheit, ist aber zugleich mit dem Wissen darum verbunden, dass es ein Weg ins Nirgendwo ist. Ein Gefühl der Freiheit verleiht dieser Weg ins Nirgendwo nur für einen Moment. Prekärerweise für den letzten Moment, also dann, wenn sich der Mensch zum Suizid entschlossen hat und die Zwänge und Notwendigkeiten des Lebens nicht mehr fürchten muss, obwohl er gewissen Notwendigkeiten des Lebens aspekthaft noch unterworfen bleibt. Améry enttabuisiert also den Suizid nicht, sondern er klärt über die Möglichkeit, sich töten zu können, auf. Für ihn kann nicht irgendetwas über dem Leben Stehendes – wie ein Gesetz, eine Lebensform oder ein Gott – eine Antwort auf die Frage nach dem »Wozu« des Lebens geben. Sondern das Leben selbst muss eine Anwort auf diese Frage nach seinem eigenen »Wozu« geben. In Ermangelung aller anderen sinnstiftenden Antworten – auch wenn diese sehnsüchtig erwünscht sind – kann für Améry aber immer noch der Suizid als eine Antwort gegeben werden. Es ist eine Antwort des radikalen (ontologischen) »Neinsagens«, die sich das Leben hier gibt. Dennoch ist diese Antwort immerhin insofern sinnausweisend, da im letzten Moment für diesen letzten Moment noch eine Freiheit gefunden und erlebt wird. So wird der Suizid auch für den aufgeklärten Menschen eine letzte Rettung, wenn ihm alles Rettende im Leben verloren ist. Und insofern auch entschließt sich Améry keineswegs leichtfertig für den Suizid, sondern kann trotz aller »Todesneigung« im Wissen um diese Möglichkeit zunächst andere Wege des Sich-verlierens erproben. »Neulich fragte 562 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zum Verstndnis der suizidalen Erfahrung bei Jean Amry

mich ein junger Mann: si vous plaidez pour le suicide, pourquoi vous ne vous êtes pas suicidé? Ich antwortete, einigermaßen beschämt und verlegen: un peu de patience s. v. p.« (Brief an Inge Werner, 21. 12. 1975, zit. nach Heidelberger-Leonhard 2004, S. 392 Anm. 12) Der Suizid selbst ist dann aber natürlich doch eine definitive Antwort, da er die Offenheit des Lebens gegen die Ungewissheit des Todes eintauscht. Insofern bleibt der suizidale Mensch, entgegen dem Freiheitsrausch nach dem Entschluss zum Suizid, doch auch verzweifelt. Vielleicht überbetont Améry in seiner Kennzeichnung des Suizids als letzte Rettung diesen Punkt des Freiheitsrausches, vielleicht setzt er aber auch nur ein notwendiges Gegengewicht gegen die Konzentration des suizidologischen Diskurses, der sich ganz auf die Verzweiflung einzuengen scheint. Denn der suizidale Mensch weiß, im Unterschied zum nur verzweifelten Menschen, dass eine Befreiung in seinem Tod verfügbar ist: Er mag sich nicht ändern können, aber er kann sich loswerden. Dieses Wissen um die Möglichkeit des Suizids hat bereits etwas Erleichterndes und behält etwas Erleichterndes bis zum letzten Moment, selbst dann, wenn sich derjenige vollkommen klar darüber ist, dass es ein »Weg ins Nirgendwo« ist. Améry klärt über diese letzte Rettung im Tod aus der Sicht des suizidalen Menschen auf. Er regt eine Offenheit des Gesprächs über die suizidale Erfahrung an, er fordert eine Antwort auf das »Wozu« des Lebens auch von den anderen – und glaubt zu wissen, dass sie als ebenfalls Überwältigte auch keine positive Antwort mehr geben können. Er benennt den unverlierbaren Wert des Lebens, der sich sogar dem völlig verzweifelten, schon immer überwältigten und im »Zustand von Stalingrad« (Hermann Burger) lebenden Menschen im Anvisieren seines Suizids nochmal darin zeigt, dass auch ihm eine letzte Rettung gewährt wird.

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IX. Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

Nichts ist so wichtig in der suizidalen Erfahrung wie das Rettende. Sei es, dass man es verloren hat, sei es, dass man verzweifelt darauf hofft, sei es, dass man es im Suizidieren oder gar im Tod versprochen erlebt. In der suizidalen Erfahrung gilt eben nicht nur das kleistsche Motto einer unerträglichen und selbstgewissen Verschlossenheit: Mir kann auf Erden nicht geholfen werden. Es ist im Gegenteil eine der (verzweifelten) Erfahrungen des suizidalen Menschen, dass der eigene Tod, das Sich-den Tod-geben als ein Rettendes erscheint. Denn sogar Kleist hätte schreiben können: Mir kann auf Erden der Suizid helfen. Die hölderlinsche Einsicht, dass in der Krise das Rettende zu erscheinen vermag, gilt auch für die suizidale Erfahrung: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« (Hölderlin 1998, Bd. I, S. 463) Nun müssen wir aber zugeben, dass zunächst – wie Hermann Burger einwandte – das Zerstörende wachsen muss, um überhaupt in eine Krise zu gelangen, in der das Rettende dann zu erscheinen vermag (»Wo aber Gefahr ist, wächst das Zerstörende auch.« Burger 1980, § 643). Wenn der Mensch jedoch in eine solche Gefahr geraten ist, dann kann allein das Rettende daraus eine Situation des Lebens machen, die schließlich auch im Rückblick als Krise bezeichnet werden wird. Es kann aber offenbar daraus auch eine suizidale Verfassung machen, welche in den Tod zu führen vermag – und die zweite Bedeutung der burgerschen »Zerstörung« offenbart. Wir müssen uns also fragen, wie dieses Rettende, welches in so unterschiedliche Lebenswege hineinführt, verstanden werden kann. Oder gemäß der phänomenologischen Methode gefragt: Wie kann die Erfahrung des Rettenden in der suizidalen Erfahrung verstanden werden? Die Erfahrung des Rettenden kann zunächst mit drei Strukturmerkmalen beschrieben werden, welche wir bereits mit Bezug zu JeanLuc Marion formuliert hatten: a) das Rettende ist nicht vorhersehbar oder vorwegnehmbar, sondern kommt, wann es will. Es kommt insbesondere überhaupt nur dann, wenn es besonders benötigt wird; 564 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

b) das Rettende ist gerade deshalb rettend, da es von sich her (unfassbar) weit über das hinausgeht, was die aktuelle Situation so bedrängend, einengend oder auch verzweifelnd macht. Hölderlin beschreibt dieses »unendlich mehr« in »Patmos« mit dem Hinweis: »Keiner aber fasset / Allein Gott« (Hölderlin 1998, Bd. I, S. 463); c) das Rettende erzwingt einen tiefgreifenden, bruchhaften Wandel der aktuellen Struktur. Es ist insofern, bei aller rettenden Kraft, dennoch »Wie Feuer, in Städten, tödlichliebend«, wie Hölderlin sagt (S. 465). Denn mit dem Einfinden in einer neuen Struktur ist notwendigerweise zugleich das Zurücklassen der alten Struktur verbunden, inwiefern auch der Betreffende erst im Rückblick feststellen kann, dass auch wirklich eine Rettung geschehen ist. In jeder Erfahrung des Rettenden ist folglich etwas appräsentiert, was zwar nicht direkt benannt und definiert werden kann, welches aber unzweifelhaft über das direkt Fassbare hinausgeht und auf etwas letztlich Unbestimmbares verweist (Marion 2002, S. 222 ff.). Damit ist zugleich gesagt, dass dieses Unbestimmbare wesentlich durch diesen Verweis in der Erfahrung strukturiert wird. Zugleich aber, und dies zeichnet diesen erlebten Verweis eben gerade aus, erscheint wiederum diese Erfahrung durch dieses Unbestimmbare gegeben (Merkmal »b«). Es ist genau diese »Identität in der Differenz«, welche wesentlich die Erfahrung der Transzendenz ausmacht (Merleau-Ponty 1986, S. 286). Die Erfahrung der Transzendenz zeichnet sich also dadurch aus, dass in dieser Erfahrung auf einen Geber oder Schöpfer verwiesen wird, der sich jedoch in diesem Moment des jetzt gerade ereignenden Gebens bis zur vollkommenen Unkenntlichkeit »hinter« das Gegebene, also auch einen selbst, zurückgezogen hat und wiederum nur in diesem Verweis überhaupt gegeben sein kann (Marion 2002, S. 226). »Mehr« kann letztlich in einer phänomenologischen Einstellung über »die« Transzendenz gar nicht ausgesagt werden, da sie sich einer weiteren Bestimmung entzieht. Das Rettende wird nun in der Gefahr als das Aufscheinen eines solchen, über das aktuell Gegebene hinausgehenden »Etwas« erlebt. Es scheint zudem, und dies ist »a)« Strukturmerkmal, auch in zeitlicher Hinsicht zu einem zuvor unbestimmbaren Zeitpunkt in der eigenen Erfahrung auf. Es kann weder angezielt noch beabsichtigt werden, sondern begegnet zu einem unvorhersehbaren Zeitpunkt inmitten der Angst und Verzweiflung. Der Schiffbrüchige, der um sich herum nur noch die Wüste des auf und ab wogenden Salzwassers sieht, der gerade dabei ist, alle Hoffnung auf Rettung fahren zu lassen und sich resignativ in sein Schicksal fügt, 565 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

während die Sonne erbarmungslos auf seinen Schädel brennt, wird von dem plötzlich längsseits kommenden Boot vollkommen überrascht: Damit hat er nicht gerechnet! Vielleicht ist er sogar verstört und kann es gar nicht fassen. In diesem Sinne ist »das Rettende« zunächst wie eine verstörende Erfahrung, von welcher noch nicht gesagt werden kann, wie sie sich dereinst im Rückblick darstellen wird (Merkmal »c)«). Diese initiale Verstörung ist auch ein Kennzeichen der Kreativität bzw. des kreativen Handelns (Mertens 1999). Auch hier ist zunächst (noch) keine Sinnhaftigkeit des Erfahrenen gegeben, sondern sie muss erst im weiteren Verlauf erschlossen werden: »Die kreative Handlung kann in ihrer inhaltlichen Konkretion in den Planabsichten gerade nicht erfaßt werden. Damit hängt zusammen, daß die kreative Innovation als Überraschung erlebt wird [… und] sie im Moment ihres Auftretens als Störung des Erwartbaren erfahren [wird].« (S. 30 u. 33) Der durch die »Störung« ermöglichte Perspektivenwechsel erlaubt so im Rückblick, das überraschende Ereignis als kreative Handlung in den weiteren Handlungsvollzug aufzunehmen (S. 36 f.). Diese weitergehende Interpretationsarbeit des zunächst überraschenden, zuweilen verstörenden Erlebnisses einer Rettung zeigt, dass es keineswegs unwesentlich ist, was im weiteren Verlauf nach dem Einwirken dieses »Rettenden« mit dem Betreffenden passiert. So kann das längsseits kommende Boot unbemannt und Leck geschlagen sein, so dass im Verlauf die Hoffnung auf Rettung erneut schwindet. In dieser Situation hat sich der betreffende Mensch nicht tiefgreifend verändert, er ist weiterhin ein Schiffbrüchiger. Wenn nun aber das Boot ein bemanntes Rettungsboot eines anderen Schiffes ist und derjenige schließlich im Kreis seiner Familie zu Hause angekommen ist, dann ist er durch dieses rettende Boot tiefgreifend verändert worden: aus dem Schiffbrüchigen wurde ein geretteter Mensch. Diese tiefgreifende Veränderung der Person wirkt typischerweise länger nach – auch über das Ankommen zu Hause hinaus. Aber selbst dann, wenn sich der Betreffende als unverändert erfährt, ist die Rettung erst dadurch eine Rettung geworden, indem sie seine Situation und ihn als darin Gefangenen grundlegend geändert hat und aus dem Schiffbrüchigen einen Nicht-mehr-Schiffbrüchigen gemacht hat. Dies ist das dritte Strukturmerkmal der rettenden Erfahrung, dass sie die von der Rettung betroffene Person grundlegend verändert, sowohl in der gefahrvollen Situation, als auch typischerweise darüber hinaus. Dieses dritte Merkmal ist ein geradezu klassisches, kulturhis566 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

torisch jedenfalls sehr gut bekanntes Merkmal, welches insbesondere in religiösen Kontexten wiedergefunden werden kann und eng mit dem Opfer verbunden ist. Sicherlich aber ist dieses Rettende keine Rettung für alle Zeiten. Ein Schiffbrüchiger kann erneut schiffbrüchig werden; ein Mensch, der eine suizidale Krise erfolgreich bewältigt und überwunden hat, kann erneut suizidal werden. Gerrettet zu werden ist aber dennoch insofern eine besondere Erfahrung, da sie auch im Rückblick nicht vollständig definiert werden kann. Die Unvorhersehbarkeit, die gewisse Zufälligkeit der Ereignisse ist es ja gerade, die die gefahrvolle Situation heraufbeschworen und damit wiederum die Rettung überhaupt erst als Rettung ermöglicht hat. Ein Mensch mit exzellenten Schwimmfähigkeiten, der mit seinem Paddelboot im gut bewachten Schwimmbad kentert, wird es kaum als Rettung aus höchster Not erfahren, wenn er am Beckenrand aus dem Wasser steigt. Er ist eben auch kein Schiffbrüchiger, sondern ein zahlender Badegast. Wenn wir von dieser Beschreibung der Erfahrung des Rettenden ausgehend die suizidale Erfahrung untersuchen, so können wir fünf verschiedene Merkmale benennen, die als Rettendes in der suizidalen Erfahrung verstanden werden können: a) jede mögliche suizidale Erfahrung impliziert die Erfahrung des eigenen vorgestellten Todes als »irgendwie mehr« verglichen mit dem, was (sonst) gerade gegeben ist; b) jede mögliche suizidale Erfahrung ist an die Kenntnis gebunden, sich selbst den Tod in einer wirksamen Weise geben zu können; c) jede mögliche suizidale Erfahrung präsentiert die Aussicht auf eine tiefgreifende (unumkehrbare) Veränderung seiner selbst und der eigenen Situation im Anschluss an den Suizid oder Suizidversuch; d) jede mögliche suizidale Erfahrung präsentiert die Möglichkeit, mehr oder weniger unsichere Suizidtechniken zu verwenden, um eventuelle rettende Kräfte im Diesseits herauszufordern; e) jede mögliche suizidale Erfahrung bleibt auch im Rückblick bzw. nach der Überwindung der suizidalen Krise »irgendwie mehr«. Auffallend an diesen Merkmalen, welche hier thesenhaft vorgestellt sind und die es im Weiteren genauer zu betrachten gilt, ist das zweite Merkmal. Es widerspricht auf fundamentale Weise dem, was wir über die Erfahrung des Rettenden gesagt hatten. Denn während das Rettende zu einem Zeitpunkt erscheint, der vollkommen unvorhersehbar eintritt und eben gerade nicht mit zureichender Sicherheit von der betreffenden Person herbeigeführt werden kann, ist der Suizid eben genau deshalb ein Rettendes, da er in selbstwirksamer Weise herbeigeführt werden kann. Dieser, insbesondere von 567 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

David Hume betonte Umstand, der sich in gewisser Hinsicht aber bereits bei Seneca auffinden lässt, ist von wesentlicher Bedeutung für ein Verständnis des Rettenden in der suizidalen Erfahrung. Es ist jedoch auch ein Umstand der suizidalen Erfahrung, der in den suizidologischen Verständnissen der Suizidalität, so wie wir sie bisher betrachtet haben, nur wenig Beachtung fand, ohne hingegen unbekannt zu sein. Vielmehr begegnet er uns in einer (mehr oder weniger) pauschal kritisierten Weise, sei es als Phantasien oder Ausdruck einer wie auch immer gearteten pathologischen Entwicklung. Bevor wir uns der Beschreibung dieses eigentümlichen, für die suizidale Erfahrung jedoch wesentlichen Merkmals genauer zuwenden, ist es insofern angebracht, eine Kritik der suizidologischen Verständnisse der suizidalen Erfahrung vorzunehmen.

1.

Kritik der Suizidologie I

Die Darstellung der suizidologischen Verständnisse, wie wir sie im Abschnitt VI vorgenommen haben, kann durchaus als eine Fortsetzung der europäischen Kulturgeschichte der Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung angesehen werden. Denn ebenso, wie beispielsweise das epochale Verständnis des Sich-töten-könnens von Seneca Teil unserer Kulturgeschichte geworden ist und zur Kulturgeschichte (stetig) beigetragen hat, wird auch dereinst, wenn sich künftige Menschen mit ihrer suizidalen Erfahrung bzw. ihrer Möglichkeit, sich töten zu können, beschäftigen, unsere Zeit Teil ihrer Kulturgeschichte geworden sein und zu ihrer Kulturgeschichte beigetragen haben. In welcher Weise dieser Beitrag gestaltet sein mag, ist uns nicht zugänglich, es können allenfalls Spekulationen darüber angestellt werden. Spannend ist es für uns jedoch, sich die Frage zu stellen, welches die »Grundlage« unserer aktuellen suizidologischen Verständnisse ist, welche unter anderem dazu beiträgt, dass die Erfahrung des Rettenden im Suizid, wie sie in der suizidalen Erfahrung ja eben gerade wesentlich ist, weitgehend abgeblendet wird. Wie kommt es zu dieser Abblendung? Das aktuelle Verständnis der suizidalen Erfahrung in unserer Kultur zeigt diese als ein menschliches Phänomen, welches in einer unausweichlichen Situation und einem unerträglichen Selbstsein aufzukommen vermag, wenn jeglicher Zugang zum gelingenden Leben verloren scheint. Dabei wird in diesem Verständnis das gelingende Leben ohne 568 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kritik der Suizidologie I

Bezug zur (wie auch immer gearteten) Transzendenz bestimmt, vielmehr scheint es im Leben einzig und allein um Gesundheit und Wohlbefinden zu gehen. Auf der anderen Seite steht der Suizid jedoch auch als diejenige menschliche Möglichkeit, die es in allen Kulturen gegeben hat, um Phasen der unausweichlichen Unerträglichkeit zu beenden. Hierbei wird im eigenen Suizid ein »Weg ins Freie«, wenn auch nicht diese Freiheit selbst, oder ein »Opfer für Anderes«, wenn auch keines für das eigene Leben gesehen. In den suizidologischen bzw. psychiatrischen Verständnissen der suizidalen Erfahrung gelten diese beiden Perspektiven als eindeutig suizidale Einschätzungen, die üblicherweise auf eigentümliche Weise nicht dieselbe Berechtigung aufweisen, wie andere Sichtweisen des Menschen. Sie sind gewissermaßen »falsch«, »eingebildet«, »krankhaft« oder zumindest »eingeengt«. Und es ist eben gerade ihr Kennzeichen, dass die psychiatrischen bzw. suizidologischen Verständnisse den Menschen auch insofern von der Verantwortung für seine Suizidtat oder seinen Suizidversuch freizusprechen vermögen. Dabei ist es unzweifelhaft, dass der entscheidende Unterschied zwischen der suizidalen Erfahrung und der nicht-suizidalen Erfahrung auch darin besteht, dass im Suizid ein Rettendes gesehen wird. Diese Einschätzung kann ein Mensch zwar auch in einer nicht-suizidalen Verfassung haben, beispielsweise wenn er den Suizid als eine Option für sich erkennt, die er in gewissen Situationen zu wählen in der Lage wäre. Ein weiterer und wesentlicherer Unterschied besteht aber zudem darin – und dies haben die suizidologischen Verständnisse sehr pointiert dargestellt und beschrieben –, dass der suizidale Mensch keine Möglichkeit des Überwindens seiner Krise erkennen kann, mit der er sich dem Leben erneut auf eine bessere Art und Weise zuwenden könnte. Seine (suizidale) Sichtweise ist es eben gerade, seine Krise als unüberwindbar zu verstehen. Es handelt sich für den suizidalen Menschen ja schließlich nicht um eine Krise, sondern um seinen Untergang. Er ist nicht der Schiffbrüchige, der von einem Rettungsboot überrascht werden wird, sondern er ist der Schiffbrüchige, der irgendwo im Pazifik untergehen wird. Im distanzierten, fremdpsychischen Verständnis hingegen verstehen sich diese Krisen nun typischerweise als grundsätzlich überwindbar. Die kulturellen Schwierigkeiten, die dann auftauchen, wenn die Einschätzung der »Krise« als Untergang geteilt wird, sind uns bereits wiederholt begegnet. Der entscheidende (zu einer anderen Entscheidung führende) Unterschied zwischen der suizidalen und der nicht-suizidalen Einschätzung ist also der, dass es sich nur um eine 569 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

vorübergehende Lebenskrise oder aber eben doch um den eigenen Untergang handelt. In ihrer Einschätzung der suizidalen Erfahrung als Krise ordnen die psychiatrischen bzw. suizidologischen Verständnisse die suizidale Sichtweise, dass die eigene Verzweiflung unüberwindbar sei, folglich als eine »subjektive Sicht« in ihre scheinbar objektive Sicht ein. »Es ist von entscheidender und bleibender Bedeutung für unsere Kultur, dass ihr erster wissenschaftlicher Diskurs über das Individuum seinen Weg über den Tod nehmen musste. Um in seinen eigenen Augen zum Gegenstand der Wissenschaft zu werden, musste sich der abendländische Mensch seiner eigenen Zerstörung stellen; aus der Erfahrung der Unvernunft sind alle Psychologien, ist selbst die Möglichkeit der Psychologie geboren worden; aus der Einführung des Todes in das medizinische Denken ist eine Medizin geboren worden, die sich als Wissenschaft vom Individuum präsentiert […] Die Möglichkeit des Individuums, zugleich Subjekt und Objekt seiner eigenen Erkenntnis zu sein, führt dazu, dass sich die Struktur der Endlichkeit im Wissen umkehrt […] (Die Endlichkeit J. S.) spielt zugleich die kritische Rolle der Grenze und die fundierende Rolle des Ursprungs […] Die Medizin hält dem modernen Menschen das hartnäckige und beruhigende Gesicht seiner Endlichkeit vor; in ihr wird der Tod ständig beschworen: erlitten und zugleich gebannt; wenn sie dem Menschen ohne Unterlass das Ende ankündigt, das er in sich trägt, so spricht sie ihm auch von jener technischen Welt, welche die bewaffnete, positive und volle Form seiner Endlichkeit ist.«(Foucault 1991, S. 207 f.)

So wie Michel Foucault (1926–1984) hier 1963 die Medizin sprechen lässt, so spricht auch die Suizidprophylaxe. In diesem Sinne fungiert der Tod als Regulator des kulturellen Dispositivs, welches dem (durch seine Kultur geprägten) Einzelnen unbemerkt auch ein absichtlich anzuvisierendes Ziel der eigenen Lebensführung vor- und aufgibt (nämlich das der Selbstbestimmung). Dabei ist das kulturell Anvisierte zugleich als Fortschreibung des göttlichen Souveräns zu verstehen und kann insofern auch als der kulturell herrschende »Souverän« bezeichnet werden. »Der Selbstmord kann nur dort verboten sein, wo es eine Souveränität gibt, die noch über das Leben selbst gebietet und es der Willkür anheim gegeben ist – d. h. dort, wo das Leben sich in letzter Konsequenz auf bloßes Dasein reduziert. Ein solches Dasein bemisst sich maßgeblich an den Kategorien von Funktionalität und ökonomischer Effizienz.« (Ahrens 2000) Eine solche Reduktion des Menschen vollzieht sich auch im Gefolge der wissenschaftlichen Suizidologie. Sie vollzieht sich, da die wissenschaftliche Herauspräparierung von Risiko570 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kritik der Suizidologie I

faktoren und Risikosituationen scheinbar die gefährliche Freiheit des Sich-töten-könnens zu bannen vermag. Dieses Herauspräparieren nimmt die wissenschaftliche Suizidologie im Dienst des kulturell herrschenden Dispositivs vor. Dennoch wirft jeder neue Suizid die beunruhigende Frage auf, ob hierdurch die Möglichkeit, sich töten zu können, tatsächlich gebannt werden kann. Denn schließlich widerspricht die menschliche Möglichkeit, sich den Tod geben zu können, dem Herrschaftsanspruch eines Dispositivs, auch wenn dieser Widerspruch eigenartig »weltlos« erscheint. Diese scheinbare »Weltlosigkeit« entsteht dadurch, dass der Versuch, sich vermittels des eigenen Suizids gegen den Souverän zu stellen, schließlich nur im Leben gelingen kann (Ahrens 2000). Scheitert der Suizid in dieser Hinsicht etwa an seiner eigenen Paradoxie? Bei genauerer Betrachtung scheint dies jedoch nur begrenzt zutreffend – begrenzt nämlich auf das Leben des einzelnen Suizidenten –, da jeder Suizid und jede suizidale Erfahrung anderen Menschen von der Möglichkeit kündet, sich das Leben (wie es nun mal gerade ist) nehmen zu können, und sich zugleich in den kulturimmanenten Diskurs einfügt, der von anderen Menschen auf mehr oder weniger suizidale Weise weitergeführt wird. Die Suizidologie muss also nicht nur das Sich-töten-können als Suizid bannen, sondern zugleich den suizidalen Diskurs entschärfen. Kann ihr dies allein mit den Mitteln einer Reduktion des Menschen auf ein Gestell gelingen? Die Geschichte der Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung hat uns gezeigt, dass die vordringliche Frage in den meisten Verständnissen nicht die Frage nach dem »Wie« oder dem »Warum«, sondern die Frage nach der Erlaubnis für oder wider den Suizid war. Solange jedoch das Verständnis der suizidalen Erfahrung von einem Gott, dem Staat, der Kultur oder einem Schicksal her zu formulieren ist, bleibt auch die Frage nach der Erlaubtheit des Suizids die zentrale Frage. Wenn jedoch das Sich-töten-können vom kulturell herrschenden Dispositiv verboten ist, kann der Zusammenhang von suizidaler Erfahrung und der uneinholbar transzendenten Qualität des Rettenden in dieser suizidalen Erfahrung in den kulturell gegebenen Verständnissen nicht offen thematisiert werden. Die Frage nach der suizidalen Erfahrung – und insbesondere nach der Erfahrung des Rettenden in dieser Erfahrung – gelangt so gesehen immer nur gegen den Widerstand des Herrschaftsanspruchs eines gegebenen Dispositivs in den Blick. Denn nur dann kann die suizidale Erfahrung als Erfahrung in den Blick ge571 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

nommen werden. Es ist folglich schon immer eine gewisse epoché, eine Urteilsenthaltung, erforderlich, um überhaupt die suizidale Erfahrung als eine Erfahrungsweise von vielen anderen möglichen und ebenso gültigen Erfahrungsweisen verstehen zu können. Auch wenn dies nicht gleich eine phänomenologische epoché sein muss, so ist zumindest eine insoweit skeptische Urteilsenthaltung erforderlich, als die Herrschaftsberechtigung des Dispositivs in Zweifel gezogen werden muss (was folglich im Dispositiv der Selbstbestimmung durchaus gelingen kann). Ganz offenbar vollziehen die suizidologischen Verständnisse durchaus eine solche Urteilsenthaltung, wenn auch nur bis zu einem gewissen Punkt. In den psychiatrischen Verständnissen des 19. Jahrhunderts hatten wir gesehen, dass die suizidale Erfahrung als eine subjektive Perspektive des Einzelnen in das scheinbar »objektive« bzw. kulturell herrschende Verständnis eingeordnet wurde. Dieses Einstellen der suizidalen Perspektive in die »wissenschaftlich-objektive« Perspektive »entlarvt« dann die Suizidentscheidung als eine unter krankheitsbedingt falschen Voraussetzungen getroffene Entscheidung. Dieses Muster der Einordnung findet sich zum Teil auch in den aktuellen suizidologischen Verständnissen. Jedoch wird in den letzten Jahren unter dem Eindruck einer verstärkten Betonung der Selbstbestimmung des Einzelnen der suizidalen Einschätzung wieder verstärkt Rechnung getragen. Dabei wird häufig angenommen, dass es durchaus eine als rational zu bezeichnende Begründung für die eigene Suizidentscheidung geben kann, wobei argumentiert wird, dass diesbezüglich die Frage für den Betreffenden im Raum stehe, ob er sein Leben auf eine solche Weise weiterleben könne, so dass es für ihn lebenswert erscheine (Birnbacher 1990; Schramme 2007; Nickl 2008; Wittwer 2009). Üblicherweise wird damit gesagt, dass eine solche »rationale Suizidentscheidung« einer der beiden Extrempole auf einer dimensionalen Skala von »Rational-Irrational« sei. Wir werden in unserem letzten Abschnitt sehen, inwieweit sich eine solche Argumentation auf die suizidale Erfahrung selbst zu stützen vermag, oder ob auch andere Begründungslinien denkbar (bzw. aus einer erfahrungsgesättigten Perspektive geboten) sind. Unbenommen dieses nicht unpopulären Modells einer dimensionalen Anordnung findet sich in den aktuellen suizidologischen Modellen dennoch üblicherweise die Einordnung der suizidalen Erfahrung als »subjektive Sicht« in ein scheinbar objektivierbares suizidologisches Verständnismodell, womit zugleich die Gültigkeit der Einschätzung 572 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kritik der Suizidologie I

des suizidalen Menschen bezweifelt wird. Sicherlich müssen wir aber zugeben, dass ein Mensch auch aus einer depressiven Verfassung heraus seine Lage durchaus »realistisch« einschätzen kann. Wichtiger aber noch als diese Anerkennung, dass auch Menschen mit psychischen Störungen durchaus vernünftige Ansichten haben können, ist das Eingeständnis, dass der Maßstab, an dem entschieden wird, ob das eigene Weiterleben als lebenswert erachtet wird oder nicht, nur ein Maßstab des betreffenden Menschen sein kann. Er muss demnach auch von diesem betroffenen Menschen selbst als sein Maßstab angelegt werden. Wird also die suizidale Erfahrung als »subjektive Sicht« in ein scheinbar »objektives Modell« eingeordnet, so werden zwar scheinbar auch alle eventuellen Unwägbarkeiten oder Unbestimmtheiten, wie sie im sich vollziehenden menschlichen Leben unvermeidbar sind, ausgeschleust. Aber es werden auch alle personalen Fragen des Menschen beispielsweise nach dem »Sinn der ganzen Veranstaltung« unbeantwortbar. Denn mit dieser Systematisierung und Objektivierung wird der Mensch zugleich für diese systematisch-objektivierten Modelle zurechtgestellt und somit letztlich auf das von anderen Menschen an ihm modellgemäß Ermessbare begrenzt. Unbestimmbares wird aus einem solchen modellhaft-systematischen Menschenbild, wenn es denn nicht bestimmt und angeglichen werden kann, also einfach entfernt (Baruzzi 1993, S. 350 ff.). Diese Tendenz einer gestellhaften Reduktion findet sich auch in den suizidologischen Verständnissen. Durch sie gelingt es zwar zunächst, die Möglichkeit, sich töten zu können als Suizid und den suizidalen Diskurs als vordergründig-symptomatisches Reden zu bannen – hintergründig aber bricht die Möglichkeit des Suizids in seiner antisouveränen, anomischen und diskurskritischen Qualität in den suizidprophylaktisch überformten Kulturen auf: In jedem einzelnen Suizid, in jeder konkreten Alltagssituationen der suizidprophylaktisch tätigen Menschen, in jeder Vergewisserung eines Menschen, sich das Leben nehmen zu können. Bei genauerer Betrachtung der suizidprophylaktischen Praxis zeigt sich freilich, dass diese gestellhafte Reduktion in den suizidologischen Modellen nur die wissenschaftlich geprägte Seite der Suizidprophylaxe ist. Denn die Tendenz einer derartigen gestellhaften Reduktion gewinnt ihre (kulturell) überformende Kraft in der Suizidprophylaxe schließlich nicht primär aus der Verwissenschaftlichung des Faches der Psychiatrie, sondern dadurch, dass sie sich tagtäglich im suizidprophylaktischen Alltag tatsächlich zu beweisen vermag. Dies 573 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

aber gelingt ihr überhaupt nur, da sie auf ein im Leben rückgebundenes Grundmuster der Suizidprophylaxe verweist, welches daher von wesentlicherer Bedeutung für die Suizidprophylaxe ist. Dieses Grundmuster (wir können Anleihen bei Seneca nehmen, wir haben es bei Freud kennengelernt) ist die therapeutische Lösung. Ihr kann sich letztlich kein Mensch entziehen, dessen Kultur suizidprophylaktisch überformt wird. Dabei geht der suizidprophylaktische Gedanke schlicht davon aus, dass die suizidale Erfahrung eine Krise im Lebenslauf ist, die folglich überwunden werden kann, auch wenn der suizidale Mensch dies aktuell anders sehen mag. Dieses drückt sich beispielsweise auch in den in Deutschland und Österreich möglichen Zwangsmaßnahmen aus, die dem Betroffenen die Möglichkeiten des Sich-tötens (zumindest vorübergehend) nehmen werden und die ein ernsthaft suizidaler Mensch dulden muss, wenn er in den institutionellen Sog unseres staatlichen und medizinischen Apparats gerät. Dabei gilt die Gegenüberstellung: Während der suizidale Mensch seinen Untergang vorhersieht, redet die suizidprophalyktische Haltung von einer vorübergehenden Lebenskrise und bannt den Tod im Bild der überwindbaren Krise. So begegnet uns die Endlichkeit bzw. Sterblichkeit des Menschen in zurechtgestellter Weise als Regulator in der suizidprophylaktisch überformten Kultur unserer Zeit wieder. Akzeptieren wir das Argument der gestellhaften Reduktion der suizidalen Erfahrung in den suizidprophalyktischen Modellen, so ist die folgende Frage naheliegend: Könnte denn die suizidprophylaktische Haltung nicht mehr vertreten werden, wenn sie die gestellhafte Reduktion in ihren Modellen aufgeben würde? Auf den ersten Blick scheint diese Frage nicht einfach zu beantworten. Denn, so könnte argumentiert werden, die Anerkennung der suizidalen Einschätzung würde diese aus ihrer Einordnung in die wissenschaftliche Sicht herauslösen und ihr eine prinzipielle und unhintergehbare Eigenheit zuweisen. Dann aber könnte (so wäre jedenfalls ein denkbares Argument) scheinbar jede suizidale Einschätzung als umfassend begründet und jede suizidale Handlung als vollkommen selbstbestimmt interpretiert werden, unabhängig von ihrer tatsächlich geleisteten Begründung und der in ihr konkret auffindbaren Selbstbestimmung. Irgendwelche Kriterien erschienen dann überflüssig, da fremdmaßstäblich. Dieses Argument scheint auch der zentrale Angelpunkt in Hinsicht auf neuere gesellschaftliche Wiederbelebungen des Suizids als »menschliches Recht« zu sein. Es ist aber ein wenig tragfähiges Argument, da es dann für jede 574 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Kritik der Suizidologie I

persönliche Ansicht infolge ihrer erstpersonalen Qualität als »persönliche Ansicht« gelten müsste, egal ob es sich um Mord und Totschlag, die Frisur des Nachbarn oder die Existenz von Elektronen handelt. Vielmehr ist die betreffende Einschätzung im fortgesetzten Leben unter ihren eigenen Maßstab zu stellen, den sie in ihrer Einschätzung mitliefert (um den Grad der Übereinstimmung des eigenen Lebens mit dem selbstgesetzten Maßstab prüfen zu können). Dann aber zeigt sich, dass die suizidale Erfahrung keineswegs in sich einheitlich, sondern gerade in sich widersprüchlich ist. Sie blendet nämlich ihrerseits aus, dass sie selbst eine vorübergehende Erfahrungsweise ist. Und es ist ja tatsächlich erst dieses Ausblenden, welches aus der schwer erträglichen Verzweiflung eine wahrhaft unerträgliche werden lässt (in dem Sinne, dass wenn einem auf Erden nicht mehr zu helfen ist, einem allein noch der Suizid helfen kann, da er ins wie auch immer geartete Jenseits führt). Die suizidale Erfahrung blendet demnach die transzendente Qualität des eigenen Lebens, dieses Unausschöpfbare des eigenen Lebens bis zum letzten Atemzug, ab. Insofern auch ist das Strukturmerkmal der Einengung von wesentlicher Bedeutung zum Verständnis dessen, wie es ist, suizidal zu sein. Auch wenn die suizidologischen Modelle in ihrer gestellhaften Reduktion also die transzendente Qualität des Rettenden in der suizidalen Erfahrung abblenden, würde die Anerkennung der Erfahrung, im eigenen Suizid ein Rettendes zu sehen, ganz offenbar keineswegs dazu führen, dass die suizidprophylaktische Haltung vollständig aufgegeben werden müsste. Und auch bezüglich dieser rettenden Qualität des Suizids gilt, dass die suizidale Erfahrung in sich widersprüchlich ist. Schließlich, so hat unsere bisherige Untersuchung eindeutig zeigen können, wäre diese besondere Weise des Sich-rettens nicht erforderlich und gänzlich unattraktiv, wenn es eine im Leben rettende Weise gäbe. Dieser Zusammenhang gilt sogar für Jean Améry (1912–1978) und ist eine der wichtigsten Einsichten seit der Aufklärung: »I believe that no man ever threw away life while it was still worth keeping.« (Hume 1995, #8). Es handelt sich geradezu um einen Lehrsatz zum Verständnis der suizidalen Erfahrung: Ohne Verzweiflung keine suizidale Erfahrung. Erkennen wir die suizidale Erfahrung an, so ist damit nicht verbunden, den vorübergehenden Charakter dieser Erfahrung zu verneinen. Im Gegenteil, wir können überhaupt erst verstehen, wie es zu der Erfahrung des Todes als Rettendem kommt. Dieses, so unsere zweite These, ist nämlich mit der Eigenart verbunden, sich selbst in wirk575 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

samer und absehbarer Weise den Tod geben zu können und so in einer ansonsten ohnmächtigen Situation überhaupt noch einmal in wirksamer (möglicherweise sogar in einer mit dem skopos der Lebensführung übereinstimmenden) Weise aktiv sein zu können. Wenn aber die Anerkennung der suizidalen Erfahrung als Erfahrung – und damit auch in ihrer widersprüchlichen Erfahrungsweise – nicht dazu führt, die suizidprophylaktische Haltung aufgeben zu müssen, so stellt sich eine Verwunderung darüber ein, dass aktuell in unserer Kultur in widersprüchlicher Weise über Sterbehilfe und Suizid diskutiert wird. Zeigt sich in dieser Widersprüchlichkeit nicht letztlich die Widersprüchlichkeit der suizidalen Erfahrung? Wird nicht erst im Bemühen, das Verständnis der suizidalen Erfahrung aus seiner Widersprüchlichkeit herauszulösen, ein Modell der suizidalen Verfassung formuliert, welches jederzeit durch die suizidale Erfahrung selbst kritisiert werden kann? Dann aber wären sowohl die extreme Position eines rigorosen Suizidverhütens als auch die extreme Position eines rigorosen Suizidgewährens (insbesondere im Sinne eines aktiven Tötens des Anderen) letztlich nur die medienwirksame Vereinseitigung der suizidalen Erfahrung. Diese stellt sich wie folgt dar: Während darüber Einigkeit besteht, dass der suizidale Mensch ein verzweifelter Mensch ist, dem das Rettende im Leben abhanden gekommen ist, besteht maximale Uneinigkeit darüber, ob dieses Rettende nun unwiederbringlich verloren ist – wie es die suizidgewährende Perspektive behauptet – oder aber ob das Leben in seiner unabweisbaren Lebendigkeit ein solches Rettendes zukünftig wird hervorbringen können – wie es die suizidverhütende Perspektive behauptet. Allerdings könnte aus suizidaler Sicht dazu gesagt werden, dass das Rettende eben auch im Sich-tötenkönnen erscheint und dennoch dieses Rettende im Tod keineswegs gewiss ist, da der Tod auch nur der »Alles-Vernichter« sein könnte und insofern die spärliche Hoffnung auf Rettung im Leben abzuwarten wäre. Diese Unentschiedenheit und Widersprüchlichkeit scheint kaum auflösbar. Denn weder ist mit einem »menschlichen Recht« auf Suizid gesagt, dass sich der Mensch bei jeder Missbefindlichkeit zu töten habe – dann hätten wir aus der Stoa nichts gelernt –, noch ist mit einem suizidprophylaktisch-suizidologischen Verständnis behauptet, dass ein Suizidant Unrecht tut oder vollkommen »verrückt« wäre – dann hätten wir aus der Aufklärung nichts gelernt. Wir werden uns diesem Thema in unserem abschließenden Abschnitt nach einer phänomenologischen Beschreibung der suizidalen Erfahrungsstruktur nochmals genauer nä576 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Karl Jaspers

hern. Zunächst können wir aber festhalten, dass sich ganz offenbar beide Verständnisse darin einig sind, dass der suizidale Mensch grundlegend verzweifelt ist und dass er dies aus seiner eigenen Sicht unwiderleglich ist. Der (so scheint es) einzige, aber eben entscheidungsweisende und insofern bedeutsame Unterschied der Verständnisse scheint tatsächlich darin zu liegen, »ab wann« denn nun alle Menschen der Ansicht sein sollen, dass diese, vom suizidalen Menschen behauptete Unwiderleglichkeit seiner Verzweiflung, gemeinsamer Konsens sein kann. Diese Zeit aber ist, wie bereits Karl Jaspers (1883–1969) mit Verweis auf Nietzsche formulierte, entweder schon immer oder aber niemals gegeben (Jaspers 1950, S. 325).

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Karl Jaspers

Die Wiederaufnahme des Umstands, dass der suizidale Mensch in seinem selbst herbeigeführten Tod eine Rettung sieht, ist in den suizidologischen Modellen schwieriger als in der alltagspraktischen Arbeit mit suizidalen Menschen. Denn während wir uns im Alltag immer als Mensch auch dadurch beweisen können, dass wir zu den Modellen einen »menschelnden« Abstand halten, können Modelle sich nur vermittels eines neuen Modells von sich distanzieren. Es stellt sich demnach die Frage, wie dieser Zusammenhang von suizidaler Erfahrung und der rettenden Qualität des (vorgestellten und herbeiführbaren) Todes überhaupt in den psychiatrischen bzw. suizidologischen Modellen formuliert werden könnte. Kann der Suizid denn überhaupt als transzendierendes Geschehen in der Psychiatrie bzw. Suizidologie gekennzeichnet werden? Oder ist es allerhöchstens möglich, die Suizidentscheidung im dimensionalen Sinn auch zuweilen und unter gewissen Bedingungen als »besonnen« zu bezeichnen, wie dies bereits Wilhelm Griesinger (1817–1868) getan hat? In dieser Hinsicht scheint es vielversprechend, sich an Karl Jaspers (1883–1969) zu wenden. Gilt er doch in psychiatrischen Kreisen als der Philosoph unter den Psychiatern und hat wesentlich zu einer strukturierten philosophischen Besinnung des psychiatrischen Diskurses beigetragen. Auch heute noch wird wiederholt in Debatten und Beiträgen auf Jaspers Bezug genommen, wenn darauf verwiesen werden soll, dass rein naturwissenschaftlich bemessene Modelle den Menschen nicht verstehen, sondern allenfalls bestimmte Aspekte und Zusammenhänge 577 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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an ihm erklären können (vgl. Fulford et al. 2003; Schramme/Thome 2004; Rinofner-Kreidl/Wiltsche 2008). Dabei sind diese heutigen Bezüge keineswegs streng affirmativ. Im Gegenteil findet sich in den aktuellen Beiträgen immer auch eine kritische Auseinandersetzung, so wie sie auch hier im Folgenden vorgenommen werden soll. Doch wenden wir uns zunächst in aller Kürze der Person Karl Jaspers zu. Karl Jaspers wird am 23. Februar 1883 in Oldenburg geboren, wächst mit seinen Geschwistern bei seinen Eltern auf und absolviert das humanistische Gymnasium in Oldenburg. Nachdem er zunächst das Jurastudium ergriffen hat, wechselt er, unter dem Eindruck einer bereits 1901 diagnostizierten, unheilbaren Lungenerkrankung (Bronchiektasien), 1902 in die Medizin und promoviert 1909 über »Heimweh und Verbrechen«, einer psychiatrisch-psychopathologischen Arbeit. In seiner anschließenden Zeit als Volontär in der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg macht sich nicht nur seine bestehende Lungenerkrankung hemmend bemerkbar – Jaspers kann nur begrenzt ärztlich arbeiten und ist wiederholt angehalten, zu liegen bzw. bestimmte Liegehaltungen einzunehmen, auch um Infektionen im Bereich der Bronchien vorzubeugen –, sondern auch seine Fähigkeit, Übersicht zu gewinnen, positiv bemerkbar. Verbunden mit einem ausgeprägten Methodenbewusstsein verfasst Jaspers nach entsprechendem Auftrag des Springer-Verlags eine »Allgemeine Psychopathologie«, welche ihn in der Psychiatrie schlagartig berühmt macht. Jaspers wendet sich jedoch, obwohl er sich mit der Arbeit zugleich für Psychologie in Heidelberg habilitiert und ihm sogar der Lehrstuhl für Psychiatrie in Heidelberg erreichbar wäre, zunehmend von psychiatrischen Themen ab und philosophischen Fragestellungen zu, wie insbesondere seine 1919 erschienene »Psychologie der Weltanschauungen« zeigt. Seit 1916 als Extraordinarius für Psychologie in Heidelberg tätig, wird er dort 1920 Extraordinarius und 1921 Ordinarius für Philosophie. In den nachfolgenden Jahren, in denen auch intensive Freundschaften mit Martin Heidegger (1889–1976) und seiner (vielleicht berühmtesten) Schülerin Hannah Arendt (1906–1975) bestehen, entsteht seine »Philosophie« (1932). Bereits 1933 wird er jedoch auf Betreiben der Nationalsozialisten aus der Universitätsverwaltung ausgeschlossen, 1937 sogar offiziell entlassen und 1938 mit einem Publikationsverbot belegt. Jaspers bleibt in Heidelberg, auch da eine Ausreise für seine Frau aufgrund ihres jüdischen Glaubens wiederholt abgelehnt wird. Die Situation ist prekär, seiner Frau droht die Deportation. Gerda und Karl sind entschlos578 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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sen, alle Situationen gemeinsam durchzustehen, notfalls gemeinsam Suizid zu begehen. Trotz dieser schwierigen Lage arbeitet Jaspers an möglichen Publikationen. In diese Zeit fällt seine letzte Umarbeitung der »Allgemeinen Psychopathologie«, aber auch seine Werke über »Nietzsche« und die »Wahrheit«. Nach dem Krieg entspannt sich auch die Lage für das Ehepaar Jaspers. Aber unbenommen der umfangreichen Rehabilitierung in Heidelberg und Deutschland (u. a. Goethepreis der Stadt Frankfurt 1947) haben sich aus Jaspers’ Sicht viele Strukturen in der Universitätslandschaft, auch in Heidelberg, nicht zureichend verändert. So nimmt er 1948 den Ruf aus Basel an, siedelt um und zeigt sich nun, neben weiteren philosophischen Arbeiten, zunehmend auch als politischer Schriftsteller. Obwohl ihm aus der Bundesrepublik wiederholt Ehrungen zuteil werden (u. a. Ehrenmitgliedschaften, Ehrenbürgerschaften und Ehrendoktorwürden), er große Popularität genießt und auch philosophische Auseinandersetzung erfährt, erwirbt er 1967 das Baseler Bürgerecht und trennt sich von seiner deutschen Staatsbürgerschaft. Am 26. Februar 1969 stirbt Jaspers in Basel. In welcher Weise nun versteht Jaspers, der 1931 den Suizid seines sechs Jahre jüngeren Bruders Enno erlebt und der in den Jahren des Nationalsozialismus seit 1939 entschlossen war, sich gemeinsam mit seiner Frau selbst zu töten, wenn die Deportation nicht mehr abwendbar wäre (Jaspers 1967, S. 143 ff.), die suizidale Erfahrung bzw. das Sicht-töten-können und den Suizid? In seiner »Allgemeinen Psychopathologie« von 1913 äußert sich Jaspers an zwei Stellen zum Thema des Suizids. Unter Bezug zur Schrift »Über den Selbstmord« des Psychiaters Robert Gaupp (1910) schreibt Jaspers im Abschnitt über »Objektive Psychopathologie«: »Der Selbstmord entspringt aus der Angst, aus gänzlichem Lebensüberdruß und Verzweiflung bei Melancholischen, aus plötzlichen Impulsen bei Verblödungsprozessen. Nicht selten werden nur halb ernst gemeinte Selbstmorde ausgeführt – der Mensch sorgt dafür, daß ein günstiger Zufall ihn doch wieder rettet. Die meisten Selbstmorde werden nicht von Geisteskranken (Menschen mit schizophrenen oder affektiven Psychosen J. S.), sondern von abnorm Veranlagten (Psychopathen) (Menschen mit Persönlichkeitsstörungen J. S.) ausgeführt. Die Selbstmorde der eigentlich Geisteskranken zeichnen sich durch besondere Brutalität und Hartnäckigkeit im Falle des Mißlingens aus und sind daran oft schon erkennbar.« (Jaspers 1913, S. 143) Jaspers liegt mit dieser Aussage hinsichtlich der Suizidmotive bei Menschen mit einer 579 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Melancholie, den (unsinnigen bzw. unbesonnenen) Suizidimpulsen bei Menschen mit einer Schizophrenie und der »Halbherzigkeit« der Suizidversuche bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (Emil Kraepelin sprach hier von »Neurasthenie«) im Trend des psychiatrischen Diskurses zur Jahrhundertwende. Definierter erscheint hier schon die kurze zweite Äußerung, die er im Abschnitt »Die soziologischen Beziehungen«, wiederum mit Bezug zur Arbeit von Gaupp, unterbringt: »Der Selbstmord ist zwar nicht unbedingt ein Zeichen seelischer Abnormität, aber die Mehrzahl der Selbstmörder gehört zu Persönlichkeitstypen, die der Psychopathologe untersucht, oder leidet an greifbaren Erkrankungen.« (S. 300) Und er fährt schließlich unter Bezug auf die Zunahme der Suizide bei erheblichen kulturellen Veränderungen fort: »Die der Anlage nach nicht anders gewordenen Menschen erleben in den veränderten Kulturbedingungen mehr Schicksale von der Art, daß sie in einen verzweifelten und haltlosen Gemütszustand geraten, daß sie reaktiven, depressiven und anderen Psychosen verfallen; sie geraten häufiger in Situationen, in denen das weitere Leben aussichtslos, hoffnungslos, unerträglich erscheinen muß.« (S. 300 f.) Jaspers nimmt in diesen Äußerungen ganz explizit die bereits bei Wilhelm Griesinger ansetzende psychiatrische Diskurslinie auf, nach welcher der Suizid als solcher nicht zwingend krankhaft sein muss und insofern auch nicht unbedingt für den Psychopathologen von Interesse ist. Obwohl er diese, gewissermaßen antikraepelinsche Linie vertritt, äußert er sich nachfolgend dennoch zur Erfahrungsqualität des suizidalen Menschen in einer Weise, dass sich die Frage aufdrängt, inwiefern denn diese Beschreibung nicht für jede suizidale Erfahrung zutreffen könnte. Jedenfalls kann die Beschreibung der suizidalen Erfahrung als eine, in der »das weitere Leben aussichtslos, hoffnungslos, unerträglich erscheint«, auch ohne die Annahme einer hintergründigen psychischen Störung und stattdessen, in griesingerscher Manier, vor dem Hintergrund einer »besonnenen Abwägung« der eigenen Situation formuliert werden. Diese wenigen Äußerungen zur suizidalen Erfahrung bzw. zum Sich-töten-können und zum Suizid finden sich in der zweiten und der dritten Auflage der »Allgemeinen Psychopathologie« von 1920 bzw. 1923 in unveränderter Form (Jaspers 1920, S. 168 u. 371; Jaspers 1923 S. 195 u. 407 f.). Auch in der vierten Auflage, die Jaspers unter dem Eindruck seiner Existenzphilosophie erheblich umarbeitet, finden sich nur minimale Änderungen an diesen Passagen (Jaspers 1973, S. 234 f. 580 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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u. 621 f.). Bei genauerer Betrachtung verraten diese Passagen aber trotz ihrer Dürftigkeit einiges über Jaspers’ Verständnis des Suizids. Sie verraten dies vor dem Hintergrund seiner in der »Allgemeinen Psychopathologie« von 1913 dargelegten und entwickelten Methode, welche sowohl für den Erfolg seines Buches von fundamentaler Bedeutung war, als auch einen tiefgreifenden Zusammenhang mit seinem (existenzphilosophischen) Verständnis des Menschen aufweist. Um dies nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, sich dieser Methode genauer zu vergewissern. Diese Vergewisserung entspricht zudem dem von Jaspers geforderten »Methodenbewusstsein«, welches seiner Ansicht nach von entscheidender Bedeutung für die Humanität und Wissenschaftlichkeit der Psychiatrie ist. In seiner »Allgemeinen Psychopathologie« von 1913 zielt Jaspers im Interesse einer solchen Wissenschaftlichkeit auf eine methodologische Fundierung der Psychopathologie. Dabei geht er von dem aus, was im Bewusstsein gegeben ist. »Aus dem einheitlichen Bewußtseinsstrom isolieren wir einzelne Zusammenhänge« – wie beispielsweise Halluzinationen, einen Gedanken oder einen Affekt – und sammeln und beschreiben diese Erlebnisqualitäten ganz so, als handle es sich um »Gegenstände« (Jaspers 1913, S. 12 f.). Diese »deskriptive Phänomenologie« ist aber nur ein erster Schritt, bleibt es doch hier bei einem »statischen Verstehen« (S. 13). Anschließend ist zu fragen, »wie Seelisches aus Seelischem mit Evidenz hervorgeht« (S. 13). Jaspers zielt hier auf ein Verständnis der (Ab-)Folge der Zusammenhänge des seelischen Erlebens, welches die Aufgabe des »genetischen Verstehens« ist. Dieses orientiert sich an psychischen Funktionen – von ihm auch als »Ablaufweisen des Seelenlebens« benannt (S. 25) –, so beispielsweise an der Frage, wie etwas zur Vorstellung gelangt (S. 14). Dabei meint Jaspers mit »Verstehen« »das von innen gewonnene Anschauen des Seelenlebens«, welches vom »Erklären« zu unterscheiden ist (S. 14). Beim »Erklären« »muß man dem wirklich erlebten Seelenleben einen theoretisch für die Zwecke des Erklärens erdachten Unterbau hinzudenken« und prüfen, inwiefern dieser erdachte Unterbau für die »Erklärung des wirklich erlebten Seelischen« fruchtbar ist (S. 14 f.). Ein solches »Erklären« bezeichnet Jaspers in seinen frühen psychopathologischen Schriften auch als ein »als ob Verstehen«, welches er insbesondere in der Psychoanalyse in ihrer Annahme auf bestimmte, nur indirekt erfahrbare subliminale Prozesse gegeben sieht. So schreibt er in einem Artikel 1913 sehr deutlich: »In zahlreichen Fällen handelt es sich 581 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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bei Freud nicht um ein Verstehen und ins Bewußtsein Heben unbemerkter Zusammenhänge, sondern um ein ›als ob Verstehen‹ außerbewußter Zusammenhänge.« (Jaspers 1963, S. 338; vgl. auch Bormuth 2002) Eine solche Psychopathologie hat eindeutige Grenzen, wie Jaspers bereits initial in seiner »Allgemeinen Psychopathologie« ausführt: »Seine Grenze (die des Psychopathologen J. S.) liegt darin, daß er, wenn er dem einzelnen Menschen gegenübertritt, diesen niemals ganz in seine psychologischen Begriffe auflösen kann. Je mehr er auf Begriffe bringt, als typisch, als regelmäßig erkennt und charakteristiert, desto mehr erkennt er, daß sich ihm etwas Unerkennbares verbirgt, das er erfassen, fühlen, ahnen, das er aber nicht greifen und einfangen kann. Für ihn als Psychopathologen ist es genug, wenn er von der Unendlichkeit jedes Individuums weiß, die er nicht ausschöpfen kann; als Mensch mag er, davon unabhängig, noch mehr sehen; oder, wenn andere dieses Mehr, das etwas Unvergleichbares ist, sehen, soll er ihnen nicht mit Psychopathologie darein reden. Zumal ethische, ästhetische, metaphysische Wertungen sind völlig unabhängig von psychopathologischer Wertung und Zergliederung.« (Jaspers 1913, S. 1) Dabei benennt er drei typische Wege, auf denen der Psychopathologe die Grenzen seiner wissenschaftlichen Möglichkeiten übersteigt: a) das »somatische Vorurteil«, insbesondere im Sinne einer »Hirnmythologie«, b) das »philosophische Vorurteil«, insbesondere im Sinne einer nicht-erfahrbaren spekulativen Konzeptualisierung und c) die »Übertreibung richtiger Anschauungen« bzw. das »Verabsolutieren einzelner Gesichtspunkte« (S. 9). Aus diesen methodischen Vorüberlegungen ergibt sich konsequenterweise, dass »wahre, natürliche Krankheitseinheiten« nur dann als solche gelten dürfen, wenn sie »im Gesamtbilde übereinstimmen«, also »gleiche Ursachen, gleiche psychologische Grundform, gleiche Entwicklung und Verlauf, gleichen Ausgang und gleichen Hirnbefund« aufweisen (S. 260). Diese Gleichartigkeit des Gesamtbildes versteht Jaspers als eine »Idee im Kantischen Sinne«, deren erfahrungsmäßige Realisierung dem Menschen prinzipiell unmöglich ist. Und zwar nicht deshalb, so müssen wir für Jaspers schlussfolgern, weil es das, worauf die Idee verweist, de facto gar nicht gibt, sondern deshalb, weil der Mensch zu dessen Erkenntnis eine »vollendete Kenntnis aller einzelnen Zusammenhänge« besitzen müsste, die er nicht besitzen kann (S. 263). So verstanden gibt es »für die psychiatrische Wis582 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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senschaft tatsächlich« keine realen Krankheitseinheiten, auch wenn es sie in Wirklichkeit vielleicht gibt (S. 265). All dies bedeutet für Jaspers aber nicht, dass die Vertreter der »Einheitspsychose« – also die Vertreter der These, dass alle psychischen Störungen nur dimensionale Variationen einer einzigen großen Erkrankungseinheit seien – Recht hätten; es bedeutet aber auch nicht, dass die These der Schizophrenie bzw. Dementia praecox als eine »natürliche Krankheitseinheit« zutreffend wäre – so wie Kraepelin sie für die Schizophrenie verteidigt hatte (Kraepelin 1899). Im Gegenteil dient Jaspers die These der Krankheitseinheiten nach der Gleichartigkeit des Gesamtbildes ausschließlich als »wahrer Orientierungspunkt« für die Forschung des Faches der Psychiatrie (Jaspers 1913, ebd. 263). Betrachten wir Jaspers’ »psychologische Hermeneutik« (Manfred Spitzer) kritisch, so müssen wir anerkennen, dass die von Jaspers betonte »saubere Trennung« von Verstehen und Erklären in dieser Striktheit kaum durchzuhalten ist. Zudem liefert für Jaspers, zumindest in seinen frühen psychiatrischen Arbeiten, diese »psychologische Hermeneutik« – also das statische Verstehen, das genetische Verstehen und die Idealtypen der Symptomkomplexe – in methodischer und wissenschaftlicher Hinsicht keine gleichwertige Alternative zu den somatischen und hirnorganischen Erklärungsebenen (Bormuth 2002a, S. 42 ff.). Letzteres gilt insbesondere für den Bereich der Schizophrenien, denn zwar vermag das psychologische Verstehen das »Seelenleben« bzw. das Erleben des betroffenen Menschen auszuleuchten (obwohl es das bei den Schizophrenien eben für Jaspers gerade nicht zureichend kann; später als sog. Unverständlichkeitsparadigma bezeichnet; vgl. Baeyer 1955) Es vermag aber nicht die wirkliche Pathogenese aufzuzeigen und den »hirnorganischen schizophrenen Prozess« in seiner (neurophysiologischen) Qualität zu erklären (Jaspers 1922, S. 172). Zudem ist zuzugeben, dass Jaspers die interpersonale Dimension in ihrer wechselseitig-gemeinsamen Erfahrungsqualität nicht zureichend berücksichtigt (Blankenburg 1984). Denn der Schritt vom »statischen Verstehen« zum »genetischen Verstehen«, den Jaspers leichthin als ein »Hineinversetzen«, als ein »Einfühlen« bezeichnet (Jaspers 1913, S. 13 f. u. 17 f.), erfordert ein gemeinsames hermeneutisches Vorverständnis, innerhalb dessen dieses »Hineinversetzen« in den anderen Menschen überhaupt gelingen kann: »Mit dem Hinweis auf die anschauliche Vergegenwärtigung individuellen seelischen Erlebens, auf das Hineinversetzen in Seelisches, wird ein, wenn nicht das 583 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Grundproblem der Psychiatrie, das ist die Frage nach der Möglichkeit der Verständigung und des Verstehens, übersprungen.« (Straus 1963, S. 940) Insbesondere dieser Kritikpunkt verweist darauf, dass Jaspers mit seinem Methodenpartikularismus letztlich als »fundamentalste Ebene methodologischer Reflexion […] den Gegensatz […] von Anschauung und Analyse« anzielt (Rinofner-Kreidl 2008, S. 86). So ist Jaspers zwar in den frühen Auflagen seiner »Allgemeinen Psychopathologie« noch nicht zur vollen Klarheit hinsichtlich dieses Gegensatzes gelangt, dennoch aber behauptet seine methodische Gegenüberstellung verschiedener Beschreibungszugänge seelischer Gegebenheit nicht, dass es sich um jeweils unterschiedliche Gegebenheiten handelt. Sondern gerade im Gegenteil wird er sich als methodisch reflektierender Mensch der Begrenztheit seiner jeweiligen (wissenschaftlichen) Beschreibungsweise bewusst und erkennt sowohl die Unabschließbarkeit dieser (wissenschaftlichen) Beschreibungen als auch die gegebene Identität des unterschiedlich analysierbaren Gegenstandes an. Der Gegenstand kann nur direkt anschaulich als Ganzer erfasst werden, ohne aber in diesem anschaulichen Erfassen vollständig beschrieben zu werden. Denn schließlich ist es »unsere natürliche, vorwissenschaftliche Erfahrung« (S. 83), welche diesen unterschiedlichst beschreibbaren Gegenstand als unzweifelhaft Identischen in seiner Gänze erfahren lässt. »Das Ganze ist nicht zu wissen.« (Jaspers 1947, S. 346) Es ist genau dieser Punkt, an dem Jaspers philosophierend in Kenntnis der Grenzen des möglichen Wissens ansetzt: »So ist dieses (Jaspers’ J. S.) Philosophieren eine Bewegung zum Wissen hin, auf Totalität des Seins ausgerichtet, bis an die ›äußersten Grenzen‹ vordringend und dort die ›Frage‹ entdeckend, die über diese ›Grenze‹ hinausreicht.« (Paprotny 2003, S. 39) Die »Frage« ist die nach ihm selbst als Existenz im Angesicht der letztlich unbestimmbaren Transzendenz. In genau diesem Sinne schreibt Jaspers in seinen Vorlesungen »Vernunft und Existenz« aus dem Jahr 1935: »[…] ich bin Existenz nur in eins mit dem Wissen um Transzendenz als die Macht, durch die ich eigentlich ich selbst bin. […] Ohne Existenz fiele der Sinn von Transzendenz.« (Jaspers 1960, S. 44) Dabei gilt, dass sowohl Existenz als auch Transzendenz nicht konkret und kriterial bestimmt werden können, da sonst »der eigentliche Gedanke des Umgreifenden verlorengeht« (S. 54 u. S. 43). »Kein gewußtes Sein ist das Sein. In jedem Augenblick, in dem ich das Sein selbst in einem Gewußtsein aufgehen lasse, ist mir die Transzendenz verschwunden und bin ich selbst mir 584 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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verdunkelt. Wir müssen aber, trotz der ständigen Abgleitungen, um das Umgreifende uns wirklich zur Gegenwart zu bringen, es dennoch denken, daher es auch erst in jeweils falscher Bestimmtheit denken, diese aber dann überschreiten, um in dem gesamten Gang dieser Weisen des Erdenkens des Umgreifenden an seinen Ursprung zu dringen, der nicht mehr Gegenstand wird.« (S. 55 f.) Genügt das Wissen um diese letztliche Unbestimmbarkeit, um seine eigene Klagemauer zu durchbrechen und im Leben als »Existenz« ausharren zu können? Einerseits scheint dies Jaspers zu genügen, zumal dieses Wissen nicht ohne Voraussetzungen im Dasein gegeben sein kann. Denn es erfordert eine durchgängig vernünftige Haltung, in welcher die Vernunft in letzter Konsequenz und Kohärenz auch diese Kriterien der Konsequenz und Kohärenz noch außer Kraft zu setzen vermag (S. 48 f.). »Existenz, angewiesen auf die Vernunft, durch deren Helle sie erst Unruhe und den Anspruch der Transzendenz erfährt, kommt unter dem Stachel des Fragens der Vernunft erst in ihre eigentliche Bewegung. Ohne Vernunft ist Existenz untätig, schlafend, wie nicht da.« (S. 49) Andererseits reicht für Jaspers die vernünftige Haltung nicht aus, um als Existenz zu sich zu kommen. Denn eine »existenzlose Vernunft« gerät in eine Beliebigkeit, da sie sich nicht auf das Leben zu verpflichten braucht (S. 50). Die vernünftige Haltung, welche das eigene Leben stets den Kriterien der Konsequenz und Kohärenz unterwirft und so sogar noch diese Kriterien der Vernunft als unvernünftig umzuwerten vermag, ist demnach eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um zu existieren. Existenz ist für Jaspers keine abgehobene intellektuelle Veranstaltung, sondern bleibt auf das Leben als Dasein und Natur angewiesen und ist eher als dieses Aufeinander-Angewiesensein zu verstehen. Die Existenz lässt dabei über die reine Daseinswirklichkeit hinaus eine weitere, »höhere« Wirklichkeit entstehen, welche zwar der reinen Daseinswirklichkeit »Rang und Grenze zu geben« vermag, diese aber nicht »hervorbringen« kann, auf die sie angewiesen bleibt und deren sie sich gewiss ist (Jaspers 1960, S. 56). Existieren im Sinne von Jaspers meint genau dieses Entstehen einer »Wirklichkeit« über die sonstige »Wirklichkeit« hinaus, welche sich als aus der nur als Chiffre im Irdischen erscheinenden, da »an sich« unbestimmbaren Transzendenz herkommend auf diese wiederum zubewegend ihrer selbst gewiss wird. Der Mensch verbleibt folglich, wenn er sich als Existenz ergreift, als methodenbewusst Fragender in dieser »Schwebe« zwischen Wissen und Nichtwissen, ohne das Ganze jemals umgreifen 585 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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zu können, welches ihn umgreift und von dem er in präepistemischer Gewissheit anschaulich überzeugt ist. Damit nun stellt sich die Frage, ob denn der Suizid, wenn er nicht als er selbst ein Thema für die Psychopathologie ist, so doch immerhin ein Thema für die Existenzphilosophie ist? Und es stellt sich zudem die Frage, ob nicht die Psychiatrie von dorther Einsichten in die suizidale Erfahrung und den Suizid zu gewinnen vermag, welche Jaspers zwar auch in seiner vierten, existenzphilosophisch stark überformten Auflage der »Allgemeinen Psychopathologie« nicht direkt formuliert hat, die er aber dennoch durch seine strenge Ablehnung des Suizids als direktes Thema der Psychopathologie indirekt kenntlich gemacht hat. Bereits in der 1919 veröffentlichten »Psychologie der Weltanschauungen« findet sich eine ausführliche Thematisierung des Suizids im Bezug auf sein in dieser Schrift neu eingeführtes Konzept der Grenzsituation: »Das Wagen des Lebens will nicht den Tod, sondern das Leben. Sein Sinn wird auch und gerade erfüllt, wenn das Wagnis bestanden wird. Es ist ein Akt im Prozess des Selbstwerdens, nach welchem dieser Prozess weitergeht. Ganz anders sieht der Tod aus, wenn er als ultimum refugium gewählt, wenn in ihm, nicht als einem Wagnis, sondern als einem Gewollten, das Selbst, das sonst in Gefahr wäre, bewahrt wird. Der Selbstmord hat ein Pathos, wie das Wagen des Lebens, aber das Selbst, das in ihm erhalten werden soll, ist gar nicht ein Prozess des Selbstwerdens, sondern ein Bestimmtes, Festes, z. B. Würde, ästhetisch genießendes Dasein usw. Es sind orthodox fertige Anschauungen, die bei allen konkreten Schwierigkeiten ihrer irrealen Weltbilder, Wertungen, Ziele in dem Gedanken des Selbstmords nicht nur Trost, sondern Pathos finden.« (Jaspers 1919, S. 367) Dieses Opfern seiner selbst für eine bestimmte Form und Gestalt des eigenen Selbst, welche vielleicht tatsächlich im weiteren Lebenslauf nicht mehr wiedergefunden oder bewahrt werden könnte, bemüht sich, wie Jaspers zutreffend festhält, um die Fixierung von »etwas«, was gar nicht fixiert werden kann, sondern immer nur im Vollzug gegeben ist: ich selbst. Jaspers kritisiert insofern auch die gehäuseartige Festlegung des Daseins im Suizid aus existenzphilosophischer Sicht, da sie die Grenzsituation eben nicht als Grenzsituation aufnimmt und sich nicht auf das weitere Existieren im Durchhalten der antinomischen Struktur des Daseins einlässt, sondern sich »weltflüchtig« um die Antinomien drumherumdrückt (S. 212 u. 222 f. u. 258). Andererseits klingt in dieser Passage auch die Anerkennung für den suizidalen Menschen durch, 586 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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dass von ihm ein solches Selbst überhaupt gesehen wird und bewahrt werden will. Denn schließlich sind wiederholte Krisen und die in ihnen aufkommende Verzweiflung über die Unausweichlichkeit der eigenen Grenzsituationen – Jaspers nennt als solche in der »Psychologie der Weltanschauungen« neben dem Leiden den Kampf, den Tod, den Zufall und die Schuld (S. 226 ff.) – im Verlauf des eigenen Selbstwerdens nicht zu verhindern, sondern, wie Jaspers betont, geradezu notwendige Phase und Bedingung, um zur Existenz zu gelangen (S. 210 ff. u. 247 ff.). Noch prägnanter – und in durchaus folgerichtiger Weiterentwicklung – formuliert Jaspers sein Verständnis des Suizids und der suizidalen Erfahrung in seiner 1932 erschienenen »Philosophie«. Der Suizid – Jaspers spricht wohlüberlegt durchgehend von »Selbstmord« (Jaspers 1994, II, S. 300 ff.) – versteht sich für Jaspers als eine Handlung, welche die Grenzsituationen überschreitet, wohingegen die suizidale Erfahrung die jeweilige Grenzsituation bzw. die eigene Existenz in klarer Weise vor Augen zu bringen vermag. Dabei gilt dies aus seiner Sicht nicht schlicht für jeden Suizid. Denn der Suizid kann auch aus einer »psychologischen Verstrickung« heraus ergriffen werden und ist dann keine »unbedingte Handlung« (S. 301). Jaspers betont, dass dann »der Mensch nicht wirklich weiß, was er tut« und dass er den Suizid nicht aus der Grenzsituation heraus, sondern im Sinne einer »nicht zur Klarheit gebrachten Flucht« ergreift (S. 310). In diesen Fällen, in denen der Suizid dann wie ein »Faktum« erscheint, kann er vermittels einer »Konstruktion« verstanden werden. Mit Bezug auf diese psychologische Sichtweise, welche jedoch den Suizid überhaupt nur als eine »bedingte Handlung« und gar nicht als »unbedingte Handlung« im existenzphilosophischen Sinn verstehen kann, schreibt er passagenweise aus seiner eigenen »Allgemeinen Psychopathologie« ab bzw. lehnt sich eng an die dortigen Passagen an (vgl. S. 302 f.). Er betont aber, dass »weder Geisteskrankheit noch Psychopathie« einen »Ausschluß von Sinn« bedeuten und dass »alles empirische Wissen vom Menschen an seiner Grenze fordert, die Existenz in möglicher oder wirklicher Kommunikation zu befragen.« (S. 303) Alle konstruierbare psychologische Verstrickung muss also weder zutreffend sein, noch vermag deren Beschreibung den Suizid als »unbedingte Handlung«, welche er jedenfalls für Jaspers im Prinzip immer sein kann, zu »erhellen«. Dabei gilt für Jaspers, dass, da der Mensch um seine Sterblichkeit weiß, »der Tod in die Sphäre der Freiheit« rückt (S. 301). »Sofern sie (die Selbsttötung J. S.) aber eine freie Handlung der Existenz in der 587 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

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Grenzsituation sein kann, ist sie offen für mögliche Existenz, ihre Frage, ihre Liebe, ihren Schrecken.« (S. 304) Jaspers konstruiert im Folgenden verschiedene existentielle Transpositionen, welche ein mögliches Verständnis des einzelnen Suizids als »unbedingte Handlung« erlauben. Sie erlauben aber dieses Verständnis dennoch nur bis zu einer Grenze, da die »Konstruktionen« sich »überschlagen« und (diskursiv) »zu Ende geführt« den Suizid gerade unnötig machen, ablehnen oder überwinden müssten. Denn, die Einsicht dieser »Konstruktionen« ist für Jaspers gerade, dass der suizidale Mensch in letzter Konsequenz in die Frage nach seiner Existenz einzutreten vermag. Die suizidale Erfahrung »kehrt sich um zur Frage: Warum bleiben wir am Leben?« (S. 307) Jaspers Antwort auf diese Frage ist zweideutig. Während er zum einen ausführt, dass es der »Symbolcharakter« des Lebens ist, der uns einen Sinn im Leben erlaubt (»Nicht ein gewußter Sinn in der Welt als Endzweck hält uns am Leben, sondern in den Lebenszwecken, die uns erfüllen, die Gegenwart der Transzendenz«, S. 307), verweist er zum anderen auf das schon immer Gegebene des eigenen Daseins, das schon immer vollzogene Leben (S. 307 f.). Diese »fraglose Lebenslust« entspricht dem Umstand, dass es »keine entsprechende Totalhandlung, in der ich mir das Leben gebe«, gibt und dass das Weiterleben somit immer auch nur ein »Unterlassen« ist. Anders gesagt: für Jaspers ist die suizidale Erfahrung eine ausgezeichnete Situation, in der ich mir selbst als Existenz klar werden kann, nämlich als Dasein im Angesicht der Transzendenz (gewissermaßen eine existenzphilosophisch glückliche Grenzsituation). Noch deutlicher tritt dieser Gedanke in einer weiteren »Konstruktion« hervor, welche Jaspers unter dem Begriff der »Unerträglichkeit des Lebens« entwirft: »In gänzlicher Verlassenheit, im Bewußtsein des Nichts, ist dem Einsamen der freiwillige Untergang wie eine Heimkehr zu sich selbst. Gepeinigt in der Welt, ohnmächtig, den Kampf mit sich und der Welt fortzuführen, in Krankheit oder Alter dem Versinken in Kümmerlichkeit ausgesetzt, von dem Herabgleiten unter das Niveau des eigenen Wesens bedroht, wird es ein tröstender Gedanke, sich das Leben nehmen zu können, weil der Tod wie eine Rettung erscheint. Wo unheilbare körperliche Erkrankung, Mangel aller Mittel und völlige Isolierung in der Welt zusammenkommen, kann in höchster Klarheit ohne Nihilismus das eigene Dasein nicht überhaupt, sondern das, welches jetzt noch bleiben könnte, negiert werden. Es ist eine Grenze, wo Fortleben keine Pflicht mehr sein kann: wenn der Prozeß des Selbstwerdens nicht mehr möglich ist, physisches

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Karl Jaspers

Leid und Anforderungen der Welt so vernichtend werden, daß ich nicht bleiben kann, der ich bin; wenn zwar nicht die Tapferkeit aufhört, aber mit der Kraft die physische Möglichkeit schwindet; und wenn niemand in der Welt ist, der liebend mein Dasein festhält. Dem tiefsten Leid kann ein Ende gemacht werden, oblgeich und weil die Bereitschaft zum Leben und zur Kommunikation die vollkommenste ist.« (S. 308 f.)

Hier zeigt sich für Jaspers der Suizid als »die letzte Freiheit des Lebens« (S. 309). Dann, so Jaspers, ist der Suizid eine »unbedingte Handlung«. Und dies, obwohl die suizidale Erfahrung ja gerade darauf zugeht, das sich derjenige als Existenz zu ergreifen vermag. Doch, so Jaspers, der Mensch ergreift sich darin, sich selbst den Tod zu geben. Und doch gilt gerade auch in dieser Hinsicht, wie Jaspers ausführt, dass sogar diese Situation noch als Grenzsituation ergriffen und weitergelebt werden könnte: »Auf ihrem Grunde (der unerträglichen Situation J. S.) erst vermag jedoch das Ertragen des Lebens im tiefsten Elend aus der Unerforschlichkeit der das Leben – und seine in jedem Falle noch möglichen Erfahrungen – fordernden Transzendenz aufzuleuchten.« (S. 309) Es verfängt sich für Jaspers also nicht jeder Suizid in einer »psychologischen Verstrickung«, da der Suizid eben immer auch der »Akt höchster Eigenmacht des völligen Aufsichselbststehens« sein kann – auch gegen alle psychologischen oder gesellschaftlichen Verstrickungen hindurch (S. 314). Somit bleibt im Angesicht des Menschen, der sich selbst getötet hat, immer »unser existentielles Schaudern«. Wie bereits ausgeführt, gelten nach Jaspers diese Überlegungen auch für diejenigen Suizidenten, die zugleich bzw. hintergründig an einer psychischen Störung leiden. Wie gesagt: »Weder Geisteskrankheit noch Psychopathie bedeuten Ausschluß von Sinn.« (S. 303) Hiermit nun versteht sich, inwiefern Jaspers’ Abstinenz zur psychopathologischen Beurteilung des Suizids in seiner »Allgemeinen Psychopathologie« zugleich eine Aussage zum Verständnis der suizidalen Erfahrung ist. Denn das Wenige, was für Jaspers aus psychiatrisch-psychopathologischer Sicht zum Suizid gesagt werden kann, hat er in seiner »Allgemeinen Psychopathologie« bereits 1913 formuliert. Er hat dem auch in seiner vierten, existenzphilosophisch stärker überarbeiteten Auflage nichts Nennenswertes hinzugefügt. Dahingegen hat er sich bereits 1919 in der »Psychologie der Weltanschauungen« dem Thema aus einer eher existenzphilosophischen Sicht in einer Verständnisweise genähert, die er in seiner »Philosophie« folgerichtig fortgesetzt hat. Wir 589 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

können für Jaspers also festhalten: So wie aus einer psychopathologischen Sicht zum Suizid eben nur wenig gesagt werden kann, so kann andererseits kaum bezweifelt werden, dass eine existenzphilosophische Erörterung ohne ausführlichere Beschäftigung mit dem Umstand, dass sich der Mensch das Leben nehmen kann, nicht auszukommen vermag. In dieser Einschätzung nun bewahrheitet sich Jaspers’ Methodenbewusstsein, wonach sich der Suizid bzw. die suizidale Erfahrung in unterschiedlichen methodischen Zugriffen sehr unterschiedlich verstehen. Oder wie er in seiner Philosophie festhält: »Die Handlung […] (des Suizids J. S.) kann als Gegenstand statistischer und kasuistischer Untersuchung unter den Gesichtspunkten der Psychologie niemals als unbedingt erkannt werden.« (S. 301) Um genau diesen Aspekt des »Unbedingten« aber geht es in der suizidalen Erfahrung aus seiner existenzphilosophischen Sicht: die Freiheit des eigenen Daseins im Angesicht der Transzendenz bzw. des Sich-töten-könnens. Vor dem Hintergrund seiner methodologischen Überlegungen erschließt sich für uns, dass es für Jaspers gewichtige methodische Gründe gibt, die eine nähere Thematisierung des Suizids bzw. der suizidalen Erfahrung im Rahmen seiner psychiatrisch-psychopathologischen Schriften zurückweisen. Zwar ist die Annahme sicherlich zutreffend, dass sich Jaspers auch durch den Suizid seines Bruders Enno im Jahre 1931 dazu motiviert fühlte, den Suizid genauer zu bedenken (Kirkbright 2004, S. 105 ff.). So schreibt Jaspers in einem Brief am 17. August 1966 an Hannah Arendt, seine Schülerin aus Heidelberger Tagen, anläßlich des Themas des Suizids auch über den Suizid seines Bruders Enno, erwähnt aber beispielsweise auch die Schwester Max Webers, Lili Schäfer, welche mit seiner Frau »befreundet« war und die sich im Jahre 1920 das Leben »in einer Verstrickung« nahm (Jaspers/Arendt 1985, S. 688). Jedoch erscheint es aus unserer Sicht übertrieben, hierin nun den entscheidenden Anlass zur Thematisierung des Sich-tötenkönnens in seinen existenzphilosophischen Schriften vermuten zu wollen (Bormuth 2005b). Denn neben den methodologischen Beweggründen ist es die existenzphilosophische Wendung selbst, die die suizidale Erfahrung verstärkt in den Blickpunkt des Menschen rückt. Und dies zudem, da auch die umgekehrte Verweisung genauso zutreffend ist, ist es doch die suizidale Erfahrung, welche den existenziellen Charakter des menschlichen Lebens unabweislich deutlich werden lässt. Jaspers hat dies ähnlich gesehen und schreibt in genau diesem Sinne in »Von der Wahrheit«: 590 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Karl Jaspers

»Selbstmord ist das Äußerste des Durchbruchs im Menschen. Allein der Mensch ist imstande, sich absichtlich das Leben zu nehmen, wie er allein weiß, daß er sterben muß. Selbstmord ist der Akt radikalster Negativität. Er ist keineswegs auf einen einzigen Sinn zu bringen. Aber mit ihm geschieht ein Durchbruch, der jede Ordnung zerschlägt. Es zeigt sich eine Macht im Menschen, die sich nicht bedingungslos in ein Dasein eingeschlossen weiß. Der Mensch kann absolut Nein sagen. Dieses Nein ist unendlicher Deutung fähig aus den Mächten, welche Ordnung durchbrechen. Daß aber dieser Durchbruch im Menschen geschieht, ist ein Grundtatbestand, der täglich von neuem realisiert wird. Im Auffassen des Menschseins darf er nie vergessen werden.« (Jaspers 1947, S. 718 f.)

Die suizidale Erfahrung ist für Jaspers also eine mögliche, zuweilen gar notwendige Erfahrung in Grenzsituationen, welche aber auch die Anerkennung der antinomischen Struktur des eigenen Daseins und damit das Ergreifen seiner selbst als Existenz im Vollzug des Zu-sich-verhaltens möglich macht. In diesem Sinne ist die suizidale Erfahrung nicht nur gefährlich, und von daher eher negativ konnotiert, sondern auch fruchtbar, und von daher eher positiv konnotiert. Mit einer rein psychopathologischen Betrachtung wird man, und hierin ist Jaspers sicherlich zu folgen, der suizidalen Erfahrung aber nicht gerecht. Und auch eine rein psychologische Betrachtung übersieht die in der suizidalen Erfahrung mitgegebene Aufforderung, sich selbst als Existenz zu ergreifen. Denn dieses Ergreifen gelingt nur im Angesicht der Transzendenz, deren letztliche Unbestimmbarkeit eben auch die Möglichkeit des Menschen einschließt, sich selbst das Leben nehmen zu können. Für den verzweifelten Menschen mag diese existenzphilosophische Aufforderung zunächst als eine Zumutung erscheinen, da es ihm scheinbar den Suizid nahelegt. Auf den zweiten Blick jedoch – und vieles kommt in der suizidalen Erfahrung ja auf einen solchen zweiten Blick an – wird die Ernsthaftigkeit der Situation und der Umfang der Herausforderung deutlich, die das eigene Leben in dieser Möglichkeit des Sich-töten-könnens an einen selbst stellt. Die Herausforderung besteht nämlich genau darin, das eigene Leben in der Art und Weise, in der es gerade geführt wird, als eigenes anzuerkennen und zu ergreifen. Erst dies bedeutet Existieren im jaspersschen Sinne. Dass der Mensch hiermit niemals an ein anderes Ende als seinen eigenen Tod kommen kann, ist eben gerade die antinomische Struktur des menschlichen Daseins, welches sich immer wieder in Grenzsituationen findet, welches für Jaspers fortwährend Wagnis bleibt und beständig die Transzendenz 591 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

neu und in letztlicher Unbestimmbarkeit zu erfahren vermag: »Das Ziel der philosophischen Lebensführung ist nicht zu formulieren als ein Zustand, der erreichbar und dann vollendet wäre. Unsere Zustände sind nur die Erscheinung des ständigen Bemühens unserer Existenz oder ihres Versagens. Unser Wesen ist Auf-dem-Weg-sein.« (Jaspers 1976, S. 109) Auf diesem Weg liegt auch die suizidale Erfahrung mit der menschlichen Möglichkeit des Sich-töten-könnens, die als eigene Situation zu ergreifen dazu befähigt, die transzendente Qualität in dieser letzten Rettung zu sehen. Dies heißt auch, wie Jaspers am 17. August 1966 schreibt: »Die ›freie Welt‹ ist nicht frei, denn sie verbietet den Selbstmord. – Sie ist demokratisch, nicht aristokratisch, in diesem Fall zugunsten der Mehrzahl der Selbstmorde, die psychisch begründet sind (die geretteten Selbstmörder sind meistens nachher dankbar, gerettet zu sein), zuungunsten der Minderzahl, die richtig frei ihren Tod wollen. Wie anders die Antike!« (Jaspers/Arendt 1985, S. 688) Und dennoch fordert für Jaspers dieses Ergreifen der suizidalen Erfahrung als eigene Situation gerade dazu auf, das Leben, wenn auch in anderer bzw. veränderter Gestalt, fortzusetzen, worin sich die widersprüchliche (antinomische) Strukur menschlichen Existierens erneut nachweist. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern Jaspers’ Einschränkung, dass nämlich die suizidale Erfahrung nur wenige Menschen (die nicht »psychologisch verstrickten«) unmissverständlich dazu auffordert, das »Wozu« des eigenen Lebens im Angesicht des Sich-töten-könnens zu reflektieren, zutrifft. Es ist kaum anzunehmen, dass die pychologisch benennbaren »Verstrickungen« dieser Reflexion wirklich grundsätzlich immer entgegenstehen (sicherlich mag dies vorkommen), so dass sich der Verdacht aufdrängt, dass die von diesen Menschen geleisteten Reflexionen Jaspers schlicht als nicht tiefgreifend genug erschienen.

3.

Die suizidologische Rekonstruktion des Zusammenhangs von suizidaler Erfahrung und Rettendem

Die existenzphilosophische Kritik der gestellhaften Reduktion des Menschen, so wie wir sie im Anschluss an Karl Jaspers formulieren können, zeigt, dass es dem Menschen um sich selbst geht und dass er sich selbst, seine Welt und die Anderen zu keinem Zeitpunkt seines Lebens vollständig analysieren, beschreiben und wissen kann, obwohl ihm das Ganze jederzeit auf anschaulichste Weise präsent ist. Die Ers592 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zusammenhang von suizidaler Erfahrung und Rettendem

te-Person-Perspektive des Menschen ist also nicht nur eine »subjektive Sicht«, welche in eine »objektive Sicht« eingeordnet werden könnte. Sondern sie ist die Sicht, welche der Mensch nicht verlassen kann und in der er erkennt, dass es in seinem Leben um ihn selbst geht. Dies aber bedeutet nun nicht, dass er auf frei erfindbare Art und Weise eine objektivierte Sicht in seine subjektive Sicht auflösen könnte. Vielmehr ist der Mensch schon immer in leiblichen, lebensgeschichtlichen und interpersonalen (kulturellen) Vorzeichnungen begriffen, welche als präreflexive Gegebenheiten keineswegs zu seiner willentlichen und selbstbewussten Disposition stehen. Im Gegenteil, der Mensch kann seinen Situationen, von denen Jaspers ja nur eine Handvoll als Grenzsituationen beschreibt und zu denen eben gerade auch die menschliche Fähigkeit der wissenschaftlichen Objektivierung gezählt werden könnte, nicht wirklich ausweichen. Die Einsicht in diese unausweichliche Gegebenheit führt ja gerade mit Edmund Husserl zu der Aussage, dass nur über das »Wie« der Gegebenheit, über die Erfahrung als Erfahrung, gültige Aussagen getroffen werden können. Jedoch stellt sich für uns hier die Frage, ob denn die existenzphilosophische Beschreibung der suizidalen Erfahrung, wie Jaspers sie zweifellos geliefert hat, in den suizidologischen Modellen vermittels der therapeutischen Grundannahme aufgenommen werden kann bzw. im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts aufgenommen wurde. Bei dieser Frage ist zunächst festzuhalten, dass die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs von suizidaler Erfahrung und Rettendem in den suizidologischen Modellen keineswegs voraussetzunglos ist. Es gilt insofern zunächst zu klären, welcher Art diese Voraussetzungen sind. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts scheint es sich hierbei vor allem um eine »weltanschauliche Haltung« zu handeln. So bemerkt beispielsweise der Psychiater Weichbrodt in seiner Untersuchung zum Suizid, dass es zu seiner Zeit viele Ärzte gebe, die den Suizid in bestimmten Situationen als angemessen ansähen und fügt hinzu, dass es eben eine Frage der »Weltanschauung« sei (Weichbrodt 1937, S. 175). Diese Frage der »Weltanschauung« scheint sich sogar im christlichtheologischen Diskurs der Moderne wiederzufinden, kehrt hier allerdings im Gewand der Paradoxien des paulinischen Verständnisses wieder und kulminiert somit im nebulösen Konzept des »göttlichen Zeichens«. Wir erinnern uns: Paulus – und in seinem Gefolge auch Augustin – differenziert den Suizid vom Märtyrertod entlang der Gottgewolltheit gegenüber der menschlichen Eigenmächtigkeit. Der 593 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

Märtyrer erhält bei Paulus eben gerade von Gott das Zeichen, dass sein Tod keine Verzweiflungstat ist, sondern eine Verherrlichung seines Glaubens an diesen Gott, für den er sich opfert. Diese Differenz beherrscht auch die Debatte im 20. Jahrhundert (Lenzen 1987, S. 124 ff.). So verteidigt beispielsweise Karl Barth (1886–1968) diese Differenz, welche letztlich ja entscheidend für die innere Logik des Opfertodes Christi ist, wohingegen Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), Sohn des Psychiaters Karl Bonhoeffer (1868–1948), zeigt, dass diese Unterscheidung nicht wahrhaft in menschlicher Logik geführt werden kann und insofern aus moralischen Überlegungen ferngehalten werden muss. Auch für die aktuelle theologische Diskussion kann von dieser Argumentation ausgehend gesagt werden: »Die Hypothese einer göttlich verfügten Selbsttötung wird sich niemals widerlegen noch nachweisen lassen, insofern kann sie einem Missbrauch auch nicht entzogen werden.« (Lenzen 1987, S. 130) Eine »weltanschauliche Haltung« versteht das Rettende vorwiegend vor dem Hintergrund letzter Zwecke oder ontologischer Auslegungen des menschlichen Daseins. Eine solche »weltanschauliche Haltung« muss durch die (der Aufklärung verpflichtete) Suizidprophylaxe notwendigerweise kritisiert werden. Denn sie würde den einzelnen Helfer in der Suizidprophylaxe dazu zwingen, mit dem suizidalen Menschen vordringlich und vorwiegend »letzte Fragen« zu thematisieren. Dies aber ist, wie bereits Stengel ausführt, für den suizidalen Menschen üblicherweise nicht hilfreich, um die suizidale Verfassung zu überwinden. Vielmehr gilt es, sich der verzweifelten Seite der suizidalen Erfahrung zuzuwenden. Denn, wie Stengel ausführt, handelt es sich bei der Verzweiflung um eine als notwendig zu erkennende Voraussetzung für die suizidale Sicht auf das eigene Dasein (Stengel 1961, S. 65). Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, inwiefern er den Appellcharakter der Suizidalität, den »Cry for Help«, so stark betont (S. 65 ff.). Dabei gilt es für Stengel, jeweils »zu einer Formulierung der in jeder Selbstmordhandlung enthaltenen Botschaft zu gelangen.« (S. 69) Wie er zudem bemerkt, steht er mit dieser Ansicht in seiner Zeit noch gewissermaßen allein, stattdessen herrscht oft eine »weltanschauliche Haltung« unter seinen psychiatrischen Kollegen. Er ist der Ansicht, »daß die heroische und rationale Seite des Selbstmordes viel zu sehr betont werde. Die Psychiater seien von der unpsychologischen und unbiologischen Idee des ›Bilanzselbstmordes‹ allzu sehr beeindruckt worden.« (S. 70) Sicherlich kann auch gefragt werden, ob in dieser Tendenz zur 594 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zusammenhang von suizidaler Erfahrung und Rettendem

»weltanschaulichen Haltung« eine verkürzte Aufnahme der zeitgenössischen Existenzphilosophie gesehen werden kann? Andererseits ist aber zuzugeben, dass es gerade die jasperssche Existenzphilosophie ist, die ein angemessenes, sozusagen »nicht-weltanschauliches« Verständnis von »Krise« entwickelt. Dieses Verständnis muss jedoch zwei Voraussetzungen erfüllen, um eine suizidologische Rekonstruktion zu erlauben: a) es muss verständlich machen, wie die suizidale Erfahrung in den Charakter des Vorübergehenden eingebunden ist; b) es muss verständlich machen, wie in dieser Krisenerfahrung das Rettende im eigenen Tod, im Sich-töten-können, gesehen werden kann. Um diese Rekonstruktionen zu leisten, ist nun das jasperssche Konzept der Grenzsituation hervorragend geeignet. Dies wird deutlich, wenn wir uns das Verständnis der Krise vergegenwärtigen, welches Jaspers im Anschluss an seine existenzphilosophischen Überlegungen in der vierten Auflage der »Allgemeinen Psychopathologie« formuliert: »Krisis. Im Gange der Entwicklung heißt Krisis der Augenblick, in dem das ganze einem Umschlag unterliegt, aus dem der Mensch als ein Verwandelter hervorgeht, sei es mit neuem Ursprung eines Entschlusses, sei es im Verfallensein. Die Lebensgeschichte geht nicht zeitlich ihren gleichmäßigen Gang, sondern gliedert ihre Zeit qualitativ, treibt die Entwicklung des Erlebens auf die Spitze, an der entschieden werden muss. Nur im Sträuben gegen die Entwicklung kann der Mensch den vergeblichen Versuch machen, sich auf der Spitze der Entscheidung zu halten, ohne zu entscheiden. Dann wird über ihn entschieden durch den faktischen Fortgang des Lebens. Die Krisis hat ihre Zeit. Man kann sie nicht vorwegnehmen und sie nicht überspringen. Sie muss, wie alles im Leben, reif werden. Sie braucht nicht als Katastrophe akut zu erscheinen, sondern kann im stillen Gange, äußerlich unauffällig, sich für immer entscheidend vollziehen.« (Jaspers 1973, S. 586)

In dieser Kennzeichnung nennt Jaspers drei entscheidende Aspekte, die für eine suizidologische Rekonstruktion der rettenden Qualität des Suizids in der suizidalen Erfahrung notwendig sind. Wesentlich ist zunächst, dass der Mensch in der Krise der damit verbundenen Erfahrung nicht in einer Weise ausweichen kann, als wenn es ihn nicht betreffen würde bzw. nicht um ihn ginge. Es ist gerade dieser unausweichliche Selbstbezug, der in der Krise den Menschen auf sich selbst als den, um den es in seinem Leben geht, zurückwirft (Grenzsituation). Nur infolge dieses Selbstbezugs kann der Mensch überhaupt über sich in einer Weise verzweifeln, dass er sich als ohnmächtig und ausweglos erlebt. Damit kommen wir zum zweiten Aspekt, den Jaspers als wesentlich für 595 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

die Krise ansieht. Es geht um die Unmöglichkeit für den Betreffenden, in seiner Krise strategisch zu handeln. Denn nur, da eben gerade nicht so weitergemacht werden kann wie zuvor und nur, insofern jegliche »Problemlösungsstrategie« verloren wurde, wird die Situation zur Grenzsituation, in der ein Rettendes erforderlich ist. Zur Erfahrung der Krise gehört demnach auch die Erfahrung, dass man sich selbst und seine Situation nicht (vollkommen) auszurechnen und zu bestimmen vermag. Im jaspersschen Sinne ist diese Erfahrung des Unbestimmbaren – wenn denn die Krise als Grenzsituation aufgenommen wird – eine Erfahrung der Transzendenz, des Umgreifenden und des Unbestimmbaren. Jaspers’ Konzept der Krise als Grenzsituation bietet also drei wichtige Aspekte, welche in besonderer Weise für die suizidologische Rekonstruktion des Zusammenhangs von suizidaler Erfahrung bzw. der Möglichkeit, sich töten zu können, und dem Rettendem fruchtbar gemacht werden können: a) unausweichliche Betroffenheit; b) Notwendigkeit des Rettenden; c) Erfahrung der Transzendenz. Dabei geht Jaspers’ Verständnis der Krise letztlich auf Jacob Burckhardt (1818–1897) zurück, der als Kunsthistoriker das damals gängige geschichtsphilosophische Verständnis von Krise in Anknüpfung an das theologischheilsgeschichtliche Krisenverständnis verändert (Kahre/Felber 2001, S. 42 f.). Wie Kahre und Felber ausführen, findet sich dieses Krisenverständnis jedoch bereits im Alten Testament, in welchem sich Krisen als Wendepunkte im Leben des einzelnen Menschen verstehen, welche ihn auf das Göttliche ausrichten. Krisen zeigen sich im Alten Testament insofern als positive Ereignisse im göttlich gesicherten Lebensweg. Hingegen gibt es in der hippokratischen Medizin ein Verständnis, in welchem die Krise als das Maximum des gestörten Gleichgewichtszustandes der Körpersäfte verstanden wird. Hier erscheint die Krise geradezu als derjenige Moment, in dem sich entscheidet, ob die Krankheit zur Genesung oder zum Tode führt (S. 32 f.). Dieses Verständnis, in welchem sich eine Krise als Störung eines Gleichgewichtszustandes versteht, findet insbesondere in systematischen Verständnissen seine Wiederkehr und setzt sich von daher auch ins Diathesis-Stress-Modell fort, welches wir bei der Betrachtung der suizidologischen Verständnisse der suizidalen Verfassung wiederholt als wichtiges Modell aufgefunden hatten. Ein solches Krisenverständnis betont jedoch sehr einseitig den Aspekt des Katastrophalen in der Krise, wohingegen Jaspers insbesondere auch den Aspekt der »Katharsis« betont. Letzteres zeigt 596 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zusammenhang von suizidaler Erfahrung und Rettendem

Krisen vorwiegend auch als notwendige Werdenskrisen auf dem Lebensweg des Menschen (sog. »Lebensveränderungskrise«, nach Caplan 1964; s. auch Sonneck 2000) – oder eben als Grenzsituationen, in denen sich der Mensch selbst als Existenz bzw. als Wesen, dem es um sich selbst im Angesicht des Ganzen geht, klar werden kann. Die suizidprophylaktischen Verständnisse beschreiben diese Krisen als einen wochen- bis monatelangen Prozess. In diesem durch eine Konfrontation angestoßenen Prozess werden zunächst die eigenen »Problemlösefähigkeiten« überfordert und die betreffende Person gerät, trotz aller Bemühungen, in einer Spirale der Selbstabwertung und Einengung in eine nahezu verzweifelte Lage (vgl. Etzersdorfer 2008a, S. 184 f.). In dieser Zuspitzung finden sich die bereits genannten Merkmale der suizidalen Erfahrung zunehmend wieder (Unerträglichkeit, Verschlossenheit, Widersprüchlichkeit), wobei die Krise ihren Ausgang in einer erfolgreichen Bewältigung, einem resignativen Rückzug – mit einer hohen Suizidgefahr – oder auch einer anderweitigen Chronifizierung – beispielsweise im Sinne einer Angststörung oder einer depressiven Störung findet. Davon zu unterscheiden ist die durch einen traumatischen Schock ausgelöste Krise, welche in der scheiternden Bewältigung eines plötzlich hereinbrechenden Lebensereignisses – beispielsweise dem Verlust eines nahen Angehörigen – ihren Ausgang nimmt (S. 185 f.). Trotz aller Unterschiedlichkeit verläuft aber auch diese Krisenform in durchaus vergleichbaren Schritten. Diese suizidologische Rekonstruktion zeigt damit auch im suizidologischen Verständnis suizidale Krisen als Krisen, in denen sowohl die Katastrophe als auch die Katharsis möglich werden könnte. Diese Rekonstruktion erkennt zudem die Unentschiedenheit als Kennzeichen der Krise an, die im basalsten Sinne schlicht die jederzeit gegebene Möglichkeit des Sich-töten-könnens meint (Schlimme 2007b). Die suizidale Krise als Grenzsituation zu verstehen erfüllt also die Anforderung, die suizidale Verfassung als Aspekt der »Krise« zu verstehen. In ihr gilt die suizidale Erfahrung als »Höhepunkt« der Krise bzw. als Moment der unausweichlichen Einsicht in die verzweifelnde und unerträgliche Situation als eigene Situation. Sie erfüllt zudem die Anforderung, verständlich zu machen, inwiefern der suizidale Mensch in seinem Suizid eine letzte Rettung zu sehen vermag. Denn es ist gerade die zwingende Selbstwirksamkeit in der suizidalen Handlung, die hier das Rettende überhaupt erst zu provozieren vermag, welches in der radikalen Andersheit des eigenen Todes auf unvorhersehbare Wei597 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

se verborgen scheint. Und auch wenn in dieser Rekonstruktion diese suizidale Sicht als »eingeengt« beschrieben wird, da die suizidale Erfahrung die prinzipielle Offenheit des eigenen Lebens eben nicht in den Blick nimmt, folgt hieraus gerade nicht notwendigerweise eine »Subjektivierung« der suizidalen Einschätzung. Dabei rekonstruiert der Gedanke der »Krise« im existenzphilosophischen Gefolge die rettende Qualität des Suizids ohne »weltanschauliche Haltung«, da er schlicht darauf verweist, dass dem Menschen in der suizidalen Erfahrung unausweichlich bewusst wird, dass a) es in seinem Leben um ihn selbst geht; b) ihn nur etwas Unvorhersehbares zu retten vermag; c) dieses Unvorhersehbare »mehr« ist als das aktuell Gegebene. Der in der Suizidprophylaxe tätige Mensch wird also nicht aufgefordert, vordringlich und vorwiegend Fragen nach dem »Wozu« des Lebens zu thematisieren. Er wird aber sehr wohl dazu aufgefordert, die Thematisierung dieser Frage in der suizidalen Erfahrung anzuerkennen und nicht nur als »pathologische Folge« der Verzweiflung zu diskreditieren. Vielmehr gilt es zugleich, die Offenheit des Lebens bzw. den vorübergehenden Charakter der Krise zu betonen, um die suizidale Erfahrung als Grenzsituation aufnehmen zu können.

4.

Suizid als Problemlsung?

Einen etwas anderen Ansatz, um die rettende Qualität des Suizids in das suizidologische Modell zu integrieren, stellt die Idee dar, den Suizid als eine konkrete Lösung für ein als sonst unlösbar erfahrenes Lebensproblem zu beschreiben. In diesem Verständnis zeigt sich der »Suizid als Problemlösung«. Jean Baechler (geb. 1937) führt in seiner 1975 erschienenen Arbeit »Les Suicides« diesen Ansatz ein, da er bei der Bearbeitung der empirischen und psychodynamischen Einsichten zu dem Phänomen »Suizid/Suizidversuch« den Eindruck gewinnt, dass ein entscheidender Aspekt in der Fragestellung fehlt, der ein Verständnis dieses Phänomens überhaupt erst möglich machen würde. Dieser Aspekt ist für Baechler eben die These, dass es sich beim Suizid um eine Lösungsstrategie handelt (Baechler 1981, S. 9 ff.). Er schlägt insofern eine etwas veränderte Definition für den Suizid vor: »Selbstmord bezeichnet jedes Verhalten, das die Lösung eines existentiellen Problems in einem Anschlag auf das Leben des Subjekts sucht und findet.« (S. 22) Wenn man wie Baechler davon ausgeht, dass der Suizid aus der 598 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizid als Problemlsung?

Sicht des suizidalen Menschen »eine Lösung für ein Problem« ist, stellt sich die Frage, für welche Probleme der Suizid denn eine Lösung sein kann. Baechler unterscheidet elf verschiedene idealisierte Typen, vier »Kategorien« zugeordnet, welche jeweils eine spezifische Lösung im Suizid zu finden vermögen. Da es sich um idealisierte Typen handelt, die in der Wirklichkeit in »reiner« Form nicht notwendig vorkommen, nimmt er weiter an, dass im Normalfall verschiedene Typen gemeinsam bzw. vermischt vorkommen. Dabei ist die baechlersche Typologie aus der Sicht von Menschen, die soeben einen Suizidversuch überlebt haben, tatsächlich sinn- und verständnisausweisend (Smith/Bloom 1985). Jedoch, so die naheliegende Gegenfrage, macht der Tod nicht alle Lösungen unnötig? Inwiefern soll von einer »Problemlösung« gesprochen werden, wenn der eigene Suizid (in Kenntnis der Unsicherheit des eigenen Wissens vom Tode) alle Probleme und alle Lösungen für immer erledigt? Gores argumentiert insofern im kritischen Anschluss an Baechler, dass sich der Suizid als ein »Aus-dem-Feld-gehen« verstehen ließe, wenn die eigene Lebensgeschichte und die aktuelle Situation das aktuelle eigene »Handlungsfeld« so eingeengt habe, dass der betreffende Mensch (handlungs-)ohnmächtig geworden sei (Gores 1981, S. 207 ff.). Gewissermaßen transzendiert der Suizid das bisher Gewordene, seine Tödlichkeit zeigt sich dem suizidalen Menschen als endgültige Total-Lösung. »Denn mit der Fassung des Suizid-Entschlusses ist es verbunden und mit dem hier vorgestellten Ansatz begründbar, dass alle anderen Problemlösungsmöglichkeiten plötzlich gegenstandslos werden, weil die Suizid-Tat als durchschlagendes Problemlösungsmittel gleichzeitig alle empfundenen Spannungen zunichte macht.« (S. 227) So kann tatsächlich von einer Strategie im eigenen Sich-töten letztlich nur über das Miteinander mit anderen, zurückbleibenden Menschen gesprochen werden, da sich für den Suizidenten eben gerade das gesamte »strategische Feld« durch die »Strategie« gewissermaßen aufgelöst hat. Für den suizidalen Menschen bleibt der Suizid also ein »durchschlagendes Problemlösungsmittel«, wohingegen für die Hinterbliebenen die Herausforderungen des Lebens damit nicht aufhören. Was gewinnen die suizidologischen Verständnisse mit dieser Kennzeichnung des Suizids? Zunächst wird deutlich, dass sich der Suizid nicht wirklich als eine spezifische Strategie für spezifische Schwierigkeiten formulieren lässt – auch wenn suizidales Verhalten eine solche spezifische Strategie im 599 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

menschlichen Miteinander darstellen kann. Zugleich aber wird deutlich, dass der suizidale Mensch in seinem Suizid einen spezifischen Sinn erkennt, in ihm etwas »Über-die-aktuelle-Situation-hinausführendes« erkennt. Dieses »Hinausführen« ist durchaus etwas Rettendes, aber andererseits nichts im Leben Rettendes, da es ja den eigenen Tod meint. Die These des »Suizids als Problemlösung« verweist also auf das Merkmal der suizidalen Erfahrung, dass im Suizid immer auch eine rettende Qualität erlebt wird, welche aber wiederum mit dem Verständnisansatz der »Problemlösung« nicht nachvollziehbar wird. In dieser Hinsicht ist an die Aussage von Hermann Burger zu erinnern: »Des Rätsels Lösung will der Suizidant nicht, er will, dass die Lichter auslöschen und alles ein Ende hat.« (Burger 1980, § 497) Die »Problemlösung Suizid« versteht sich also als diejenige Problemlösung, die Problemlösungen ein für alle Mal überflüssig und unnötig macht. Oder anders gesagt: es ist wie das Durchschlagen des gordischen Knotens, welches das Problem nicht löst, sondern das Problem nur aufhebt, da es dessen unabdingbare Voraussetzungen (leibliches, situatives und interpersonales Eingebundensein) zerstört. Dieses ist dem suizidalen Menschen üblicherweise durchaus bekannt und bewusst, ja, der eigene Tod gewinnt überhaupt erst seine rettende Qualität, da er diese durchschlagende Qualität aufweist und eben grundsätzlich anders ist als das Leben. So kommen wir auch in der suizidologischen Kennzeichnung des Suizids als Problemlösung darauf zurück, dass der Suizid dem verzweifelten Menschen nur deshalb als Rettendes erscheint, da er einerseits das völlig Andere ist und andererseits in selbstwirksamer Weise herbeigeführt werden kann. Diese rettende Qualität des Suizids in der suizidalen Erfahrung verweist darauf, dass das Sich-töten-können tatsächlich nur deshalb eine letzte Rettung darstellt, da der im Tod gewonnene eigene Zustand eine unvorhersehbare und über das aktuell Gegebene hinausgehende Qualität aufweist. Diese Qualität verliert der eigene Tod auch nicht dadurch, dass man ihn sich selbst geben kann. So gelangen wir wieder in das Verständnis der suizidalen Krise als Grenzssituation zurück, worin sich beweist, dass der Suizid nur insofern als eine »Problemlösung« zu erscheinen vermag, da er die unabdingbaren Voraussetzungen aller (irdischen bzw. selbstgewissen) Gegebenheit für einen selbst aufhebt.

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Der berlebte Suizid als Transzendenzerfahrung

5.

Der berlebte Suizid als Transzendenzerfahrung

Nachdem wir die ersten drei Merkmale der rettenden Qualität der suizidalen Erfahrung in ihrer suizidologischen Rekonstruktion genauer untersucht haben, stellt sich die Frage nach der Rekonstruktion der verbliebenen beiden Merkmale in den suizidologischen Verständnismodellen. Wir hatten das Merkmal der unsicheren Suizidtechnik bereits angesprochen, da diese gottesgerichtliche Qualität in den suizidologischen Modellen bereits bei Karl Menninger differenziert aufgegriffen wird. Dabei erscheint eine solche Art des Umgangs mit sich letztlich wie eine Strategie, um für einige Zeit eine Erneuerung der eigenen Existenzberechtigung zu erfahren (vgl. Stengel 1961; Kind 1992, S. 112 ff.). Jedoch ist diese besondere rettende Qualität daran gebunden, dass der Suizidversuch auch tatsächlich überlebt wird, so dass im Rückblick überhaupt eine »Existenzberechtigung« erfahren werden kann. Es stellt sich also die Frage, inwiefern die suizidale Erfahrung auch im Rückblick »irgendwie mehr« bleibt. Hierfür kommen vorwiegend zwei Erfahrungsweisen in Betracht: a) die Erfahrung des Suizidversuchs kann selbst eine transzendente Qualität aufweisen, beispielsweise im Sinne einer sogenannten »Nah-Todeserfahrung«; b) die Erfahrung, einen potentiell lebensgefährlichen Anschlag auf das eigene Leben überlebt zu haben, kann eine transzendente Qualität aufweisen, beispielsweise im Sinne einer Erfahrung von Bestimmung oder Schicksal. Betrachten wir zunächst die suizidologische Rekonstruktion der ersten Erfahrungsweise. Menschen in todesnahen Situationen erleben häufig die sonst unsere westliche Kultur beherrschende Differenz von Welt und Mensch nicht mehr, sondern sie erleben eine Ungeschiedenheit des In-der-Welt-seins. Sich außerhalb des eigenen Körpers (»outof-the-body experience«) oder in einem nicht-physischen Körper zu befinden, einen Tunnel zu passieren, Lichtgestalten zu treffen oder auch der Eindruck, selbst zu versterben, sowie ein filmartiger Lebensrückblick gehören in unterschiedlicher Häufigkeit zu einer solchen Erfahrung. Zumeist imponieren solche Berichte als Erfahrungen der Transzendenz (Greyson/Stevenson 1980). Eine entscheidende Folge einer solchen »Nah-Todeserfahrung« (»Near-Death Experience« NDE) ist dabei der nachfolgend erlebte Neubeginn des eigenen Daseins unter veränderten Vorzeichen. Hierbei muss das Erlebte nicht zwingend positiv interpretiert werden, sondern kann eben auch in einer negativ 601 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

konnotierten Aufnahme der Erfahrung bestehen (Greyson/Stevenson 1980; Bates/Stanley 1984; Greyson 1993). Sozialepidemiologische Untersuchungen legen dabei nahe, dass 30–40 % derjenigen Menschen, die dem Tode nahe kommen, eine solche Erfahrung machen, wobei dies insbesondere für Menschen mit einer besonderen Befähigung zu dissoziativem Erleben zutrifft (ca. 5 % der Bevölkerung) (Greyson 1993; Greyson 2000). Es stellt sich die Frage, ob ein solches Erleben auch im Zusammenhang mit Suizidversuchen auftritt und ob hierüber eine Rekonstrukion dieses Merkmals in den suizidologischen Modellen gelingen kann. Trotz spärlicher Datenlage – die Frage nach einem solchen Erleben gehört schlicht nicht zum Standardrepertoire empirischer Befragungen von Menschen nach überlebten Suizidversuchen – fassen Bates und Stanley bereits in den 80er Jahren zusammen, dass nur etwa jeder dritte Suizident eine »Nah-Todeserfahrung« im o. g. Sinne bei einem Suizidversuch erlebt und es somit eine geringere Wahrscheinlichkeit hierfür gibt als bei sonst eingetretenem klinischen Tod (Bates/ Stanley 1985). Erwähenswert ist zudem, dass gerade bei Intoxikationssuizidversuchen ein solches Erleben auch drogeninduziert verändert sein kann und dass die Erfahrung der fraglosen Geborgenheit insbesondere auf anderen Wegen wesentlich zielsicherer, selbstwirksamer und wahrscheinlicher ist. So ist zwar anzunehmen, dass eine solche Erfahrung einen Einfluss auf den weiteren Umgang mit dem überlebten Suizidversuch hat, auch wenn dies in den suizidologischen Modellen derzeit noch nicht genauer rekonstruiert ist. Dennoch scheint diese Erfahrungsweise letztlich seltener zu sein als die andere, im Folgenden zu betrachtende Erfahrung, in welcher das eigene Überleben des Suizidversuchs als eine nicht genauer zu bestimmende transzendente Einwirkung gedeutet wird, die sich in der Rettung des eigenen Lebens zu erkennen gegeben hat. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wird in Befragungen deutlich, dass Menschen, die einen Suizidversuch überleben, dieses Überleben üblicherweise als Ausdruck einer (wie auch immer gearteten) transzendentalen Einwirkung deuten (O’Donnell et al. 1996). Hinweis auf einen solchen »kathartischen Effekt« geben auch Untersuchungen, die die vor dem Suizidversuch geäußerten Motive mit denjenigen vergleichen, die kurze Zeit nach dem überlebten Suizidversuch geäußert werden. Zwar haben die Motive ihr Muster üblicherweise nicht verändert, jedoch hat sich das im Handeln und Verhalten angezielte Ziel geändert: Nach dem Suizidversuch geht es vorwiegend um 602 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Der berlebte Suizid als Transzendenzerfahrung

das Weiterleben und nicht um einen erneuten und sofortigen weiteren Suizidversuch (Wright/Adam 1986). Einen positiven Effekt ihres überlebten Suizidversuchs benannten in einer qualitativen Befragung etwa ein Jahr nach dem Suizidversuch 82 % der Befragten. Zentraler Tenor der positiven Effekte war der Neubeginn, die neue Chance und das Auffinden eines neuen Lebenssinns (Michel et al. 1994). Fischer ermittelte in ihrer Übersichtsarbeit Anfang der 80er Jahre, dass zwischen 57 % und 80 % derjenigen Menschen, die einen Suizidversuch überlebt hatten, über dieses Überleben froh waren (Fischer 1981, S. 104). Dies zeigt, dass eine überwundene suizidale Krise bzw. ein überlebter eigener Suizidversuch oftmals rückblickend positiv bewertet wird. Es zeigt aber auch, dass viele Betroffene den überlebten Suizidversuch keineswegs für einen Neuanfang nutzen konnten. So verweist Fischer darauf, dass knapp ein Fünftel der von ihr untersuchten Personen keinen positiven Neuanfang nach ihrem Suizidversuch finden konnten (S. 104 ff.; vgl. auch O’Donnell et al. 1996). In einer aktuelleren Untersuchung zeigten fast die Hälfte der untersuchten Personen, die einen Suizidversuch unternommen hatten, noch 8 1/2 Jahre danach deutliche, als belastend erlebte psychopathologische Auffälligkeiten (Curran et al. 1999). Nicht umsonst gilt in den suizidologischen Verständnissen ein Suizidversuch in der Vorgeschichte als bedeutender Risikofaktor für einen Suizid (vgl. Schneider 2008). Die suizidologische Rekonstruktion zeigt also den überlebten Suizidversuch nicht nur als wichtigen Risikofaktor, sondern zugleich als Ereignis, aus dem heraus ein Neuanfang möglich ist. Letzteres ist aber, wie bereits Stengel betont, eine »günstige Wendung […], die in der Regel nicht bewußt geplant ist.« (Stengel 1963, S. 68) Jedoch ist es im therapeutischen Alltag der Suizidprophylaxe gerade die zentrale Aufgabe, eine solche »günstige Wendung« zu ermöglichen bzw. zu provozieren. Gilt es doch, dabei zu helfen, aus dem überlebten Suizidversuch bzw. der suizidalen Krise einen Neuanfang für das eigene Leben zu gewinnen. Dies erfolgt in einem ersten Schritt durch eine Krisenintervention, wobei der Helfer »eine neutrale, wertfreie und nicht urteilende Haltung einnehmen« sollte (Etzersdorfer 2008b, S. 251). Dabei bedeutet Urteilsenthaltung in der suizidprophylaktischen Krisenintervention nicht, dass dem suizidalen Menschen der Suizidversuch vor den Augen des Therapeuten zugestanden wird. Im Gegenteil, gerade der suizidprophylaktisch tätige Mensch verweist im Miteinander mit dem suizidalen Menschen offen und explizit darauf, dass er im 603 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

Notfall auch Zwangsmaßnahmen einsetzen würde, um den anderen vom Suizid abzuhalten (Wolfersdorf 2007). Freilich ist eine »weltanschauliche Urteilsenthaltung« in der Krisenintervention von zentraler Bedeutung. Die Enthaltung von den eigenen Wertmaßstäben bezieht sich so beispielsweise auf die normative Debatte, wie der Suizid zu bewerten sei oder auf die metaphysische Debatte, worin der »Sinn der ganzen Veranstaltung« bestehen könne. So sehr also das »metaphysische Bedürfnis« des Menschen einerseits anerkannt wird, so sehr wird andererseits die Herrschaftsberechtigung einer bestimmten Weltanschauung abgewiesen. So wird in der Krisenintervention der partnerschaftliche Raum entsprechend des Dispositivs der Selbstbestimmung von weiteren Ansprüchen der Kultur unter der Prämisse freigestellt, dass sich die Beteiligten nicht das Leben nehmen, obwohl sie es durchaus könnten. Die suizidprophylaktische Praxis ist, wenn beide für die Dauer des Miteianders in diese Prämisse einstimmen, ein schlichtes Angebot und eben gerade keine Zwangsveranstaltung, wenn sie auch dennoch keine ergebnisoffene Suizidberatung darstellt. In einem längerfristigen (psychotherapeutischen) Miteinander kann es dann unter Beibehaltung dieser »weltanschaulichen Urteilsenthaltung« darum gehen, diesen Neuanfang konkret zu gestalten. Hierbei ist der Rückbezug auf die eigene suizidale Krise, ihre situativen und persönlichen Umstände und den Umstand, dass es im eigenen Leben offenbar um einen selbst geht, von herausragender Bedeutung. Anders gesagt: es geht darum, die suizidale Erfahrung als Grenzsituation zu erkennen und die antinomische Struktur des eigenen Daseins, sich immer wieder in (anderweitigen) Grenzsituationen befinden zu müssen, sowie das »metaphysische Bedürfnis« nach Sinnerfahrung anzunehmen. Denn eines bleibt auch nach einer suizidalen Krise unverändert: das Können, sich selbst den Tod zu geben.

6.

Zwischenfazit II

Die kulturgeschichtliche Retrospektive der Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung hatte nachgewiesen, dass es sich beim Verständnis des eigenen Sich-töten-könnens jeweils um eine Vergewisserung des Menschen darüber handelte, wie er sich selbst als Mensch in seiner Welt und gegenüber der Transzendenz, Gott, dem Schicksal, der Vorsehung oder dem Sinn seines Daseins als sterbliches Wesen verstand. 604 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zwischenfazit II

In unserem ersten Zwischenfazit (»Zwischenfazit I«) mussten wir hingegen festhalten, dass die suizidologischen Modelle in einer gestellhaften Reduktion verbleiben, sich auf eine detaillierte Rekonstruktion der Verzweiflung konzentrieren und diese Fragen nicht in angemessener Weise selbst aufgreifen. Vielmehr galten diese Fragen als schon immer durch das übergeordnete kulturelle Gestell beantwortet. Wir können nun ein anderes Zwischenfazit ziehen. Denn in den suizidologischen Modellen erfolgt anhand des Konzepts der »Krise« durchaus eine Rekonstruktion der rettenden Qualität des Suizids. Zudem kann der suizidprophylaktisch tätige Mensch entlang einer »weltanschaulichen Urteilsenthaltung« im direkten Miteinander mit einem suizidalen Menschen dem Modell der »Krise« gemäß einen empathischen Abstand zu den anderen suizidologischen Modellen einnehmen und sie dennoch für sein therapeutisches Handeln heranziehen. Der Gewinn dieser Rekonstruktion ist für das alltagspraktische Miteinander enorm und hat zudem Einfluss auf die suizidologischen Modelle selbst. Denn es bietet zugleich ein übergeordnetes Konzept an, in welchem die anderen Merkmale (Unerträglichkeit, Verschlossenheit, Widersprüchlichkeit) sinnausweisend aufgenommen werden können. Dabei kann es zudem verständlich machen, in welcher Weise die suizidale Erfahrung in den Charakter des Vorübergehenden eingebunden ist. Herausfordernd bleibt für das suizidologische Verständnis hingegen die Aufgabe einer Rekonstruktion, wie in dieser Krisenerfahrung das Rettende im eigenen Tod, im Sich-töten-können, gesehen werden kann. Denn die Annahme, dass eine Krise alles »strategische Problemhandeln« unmöglich macht, reicht für die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs tatsächlich nicht aus. Vielmehr gewinnt der Suizid für den suizidalen Menschen seinen spezifischen Sinn darin, dass er in ihm etwas über die aktuelle Situation Hinausführendes erkennt. Es ist also vielmehr anzuerkennen, dass sich dem verzweifelten Menschen die Frage nach dem »Sinn der ganzen Veranstaltung« stellt. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann überhaupt der eigene Tod als das radikal Andere des Lebens eine Rettung versprechen. Es ist diese Erfahrung der Transzendenz, dieses »unendlich mehr«, welches es im Konzept der Krise zu rekonstruieren gilt. Dabei geht es nicht nur um die prinzipielle Offenheit des Lebens, welches auch das Sich-töten-können mit einschließt. Sondern es geht auch um die Frage, wie dieses Konzept der Krise in ein umfassenderes Konzept des persönlich erfahrbaren Sinns des eigenen Lebens eingebunden werden kann. 605 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Suizidologie II: Die Krise und das Rettende

In dieser Hinsicht bleiben die suizidologischen Modelle keineswegs stumm. Erfahrbar wird Sinn diesem Modell gemäß insbesondere im Miteinander mit anderen Menschen, auch wenn, wie wir bereits kritisch anmerkten, hier in den Modellen keine Thematisierung auf der Ebene des buberschen Grundworts »Du-Ich« erfolgt. Erfahrbar wird Sinn aber auch in einem weltanschaulich-teleonomischen Sinn, welcher dem Ganzen eine persönliche Ansicht aufdrückt und einen Sinn aufsetzt. Und dies, obwohl für das »metaphysische Bedürfnis« seit der Aufklärung nicht mehr in ontologischen Ganzheitsaussagen eine ein für alle Mal und bis in alle Ewigkeit mit absoluter Sicherheit bestehende Antwort gegeben werden kann. Es findet sich folglich – wenn auch oftmals unausgesprochen – eine Ästhetisierung des »Wozu«. Diese Ästhetisierung erkennt an, dass der Sinn des eigenen Lebens sich infolge der bestimmten Art und Weise, in der das eigene Leben gestaltet ist, eröffnet. Obwohl sich hiermit auch wichtige Einschränkungen der Aussagen hinsichtlich eines »guten Lebens« aus psychiatrischer (und suizidologischer) Sicht ergeben, bleiben die psychiatrischen Einsichten keineswegs vollkommen aussagelos hinsichtlich der Frage, wie ein gutes Leben geführt werden könnte (Schlimme 2009a). Zwar kann dies im suizidologischen Modell infolge der gestellhaften Reduktion nicht explizit aufgegriffen werden, jedoch gewinnt das Modell dennoch die therapeutisch äußerst günstige »weltanschauliche Urteilsenthaltung«. Diese macht nicht nur suizidprophylaktisches Handeln überhaupt erst möglich, sondern trifft darin zugleich (und dennoch) eine implizite Mitteilung zur Frage nach dem Führen eines guten Lebens. Diese implizite Mitteilung ist eben gerade die »weltanschauliche Urteilsenthaltung« selbst, welche der Krise ihrerseits einen potentiellen Sinn verleiht. Die Mitteilung lautet dabei ganz im Stile des existenzphilosophischen Konzepts der Grenzsituation: Krisen sind vorübergehend und können einen günstigen Neuanfang eröffnen, inwiefern sie rückblickend sogar typischerweise als notwendig erkannt werden können. Weitergehende Antworten sind hingegen schwierig, wenn der Boden der suizidologischen Modelle nicht verlassen werden soll. Anders ist dies aus der existenzphilosophischen Konzeption der Grenzsituation. Sie bietet sich nicht nur im psychiatrischen Diskurs an, um Übersetzungsmöglichkeiten aus den gestellhaften Reduktionen in umgreifendere Verständnisse zu gewinnen (vgl. Fuchs 2008b). Sie kann dies auch für die suizidologischen Modelle leisten, da sie die Ästhetisierung explizit formulieren kann: »Nicht ein gewußter Sinn in der Welt als 606 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Zwischenfazit II

Endzweck hält uns am Leben, sondern in den Lebenszwecken, die uns erfüllen, die Gegenwart der Transzendenz.« (Jaspers 1994, II, S. 307) Sie kann in ihrem expliziten Bezug auf den Umstand des menschlichen Zu-sich-verhaltens nachweisen, inwiefern wir in diese Frage hineinkommen müssen, ohne hingegen eine umgreifende Antwort auf das eigene Umgriffensein geben zu können. Nicht Gott, noch Tod oder Teufel und schon gar nicht blindes Schicksal oder schickliche Vorsehung bieten seit der Aufklärung die Möglichkeit, die Frage nach dem »Wozu« unseres Lebens endgültig zu beantworten. Die Anerkennung der prinzipiellen Offenheit des eigenen Lebens und der gewissen Selbstwirksamkeit hinsichtlich des Führens unseres Lebens, in präepistemischer Gewissheit unseres präreflexiven Eingebundenseins in leiblicher, situativer, interpersonaler und lebensgeschichtlicher Hinsicht, eröffnet aber dennoch die Möglichkeit, dieses »unendlich mehr«, dieses ungeschiedene Eingebundensein, auch tatsächlich zu erfahren. Es ist zuzugeben, dass dies die Anerkennung erfordert, dass die Aussicht auf den eigenen Tod als radikal Anderes des Lebens in Kenntnis des selbstwirksamen Sich-den-Tod-geben-könnens dem (verzweifelten) Menschen als ein Rettendes erscheint. Damit gerät zugleich die Beschreibung der suizidalen Erfahrung in ihrer Struktur in den Blickpunkt. Für die Beschreibung der Gegebenheitsweise der suizidalen Erfahrung sind auch die suizidologischen Modelle in ihrer detaillierten Beschreibung der Erfahrung der Verzweiflung und ihren mühsamen Rekonstruktionen des Rettenden im Konzept der Krise hilfreich. Sie kennzeichnen die suizidale Erfahrung und die Erfahrung der Verzweiflung als eine jeweils vorübergehende Erfahrung, die eben gerade ihren Charakter des Vorübergehenden abblendet. Die suizidale Erfahrung wird damit zugleich in einen umfassenderen Rahmen gestellt, der nach der Struktur der Gegebenheit dieser suizidalen Erfahrung fragt: Wie ist es, suizidal zu sein? Mit dieser Frage wird abseits einer »weltanschaulichen Haltung« aufklärbar, in welcher Weise die menschliche Frage nach dem »Wozu« und die Erfahrung eigener Selbstbestimmung sogar noch innerhalb der suizidalen Erfahrung gegeben sind.

607 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

X. Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

Die Untersuchung der verschiedenen Verständnisse der suizidalen Erfahrung hat gezeigt, dass die suizidale Erfahrung auf unterschiedlichste Weise verstanden und konzeptualisiert werden kann. Dabei haben wir bemerken können, dass die in den Verständnissen jeweils beschriebene Erfahrungsstruktur gewisse Wandlungen erfahren hat. Bestimmte Merkmale dieser Erfahrungsstruktur scheinen hingegen durchgängig in allen untersuchten Verständnissen vorzukommen. Es sind genau diese Merkmale, die für ein Verständnis der Struktur der suizidalen Erfahrung – und damit für die Beantwortung der Frage, wie es ist, suizidal zu sein – wesentlich sind. Und es sind gerade diese Merkmale, die wir durch die »freie Variation« mittels hermeneutisch genauer Untersuchungen der vielfältigsten Verständnisse der suizidalen Erfahrung auffinden. Wir können also nun die Struktur der suizidalen Erfahrung beschreiben und sind demnach beim letzten Schritt unserer Untersuchung angekommen, in welchem es darum geht, die »Ernte einzufahren«. Nun ist »Ernten«, wie wir aus methodischer Redlichkeit zugeben müssen, eine kritische Angelegenheit. Dies gilt auch für die Ergebnisse einer phänomenologischen Untersuchung. Denn schließlich handelt es sich hier beim »Geernteten« nur um ein Verständnis der suizidalen Erfahrung, und nicht um die Sache selbst (getreu dem phänomenologischen Motto: Zum Bewusstsein von den Sachen selbst). Insofern stellt auch unser Untersuchungsergebnis nur das Endergebnis dieser Untersuchung, nicht aber die endgültige Beschreibung der suizidalen Erfahrung dar. Dieser an sich selbstverständlich erscheinende Umstand ist auch deshalb gesondert zu erwähnen, da die Unabschließbarkeit von Untersuchungen auch in der phänomenologischen Praxis explizit bekannt und von großer Bedeutung ist. Deren Bedeutung zeigt sich unter anderem darin, dass wir, die wir hier die phänomenologische Praxis vollzogen haben, dennoch die suizidale Erfahrung nicht los sind. Im 608 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung I

Gegenteil, wir sind auf eine geradezu innigliche Weise in unsere eigene suizidale Erfahrung hineingekommen. Wir müssen uns also am Ende fragen, welchen Gewinn uns das »Ernten« eingebracht hat. Wie bereits zu Beginn der Untersuchung in Aussicht gestellt, zielt dies insbesondere auf das Thema der Selbst- und Fremdbestimmung in der suizidalen Erfahrung (beispielsweise auch hinsichtlich der Suizidentscheidung). Die Unabschließbarkeit eines phänomenologischen Verständnisses zeigt damit zugleich, dass es sich hierbei letztlich um Selbstaufklärungen von Erfahrungen handelt. Verständnisse der eigenen Erfahrungen müssen folglich, da sie an den Weg gebunden sind, auf dem sie sich ergeben haben, von Zeit zu Zeit neu unternommen werden. Denn nur im eigenen Verstehen können sie dem Betreffenden wirklich etwas aufweisen und zeigen. Nun könnte eingewandt werden, dass es sich hierbei um eine relativierende Einstellung handele, so dass jeglichem Verständnis einer wie auch immer gearteten Erfahrung Tür und Tor geöffnet wäre. Dies wirkt zwar auf den ersten Blick zutreffend, bei genauerer Betrachtung erweist es sich jedoch als unrichtig. Denn jedes Verständnis einer Erfahrung wird auf sich selbst zurückgeworfen, da es sich eben immer um Verständnisse der konkret gelebten Erfahrung des Betreffenden handelt. Alle Verständnisse müssen sich nunmal im weiteren Leben bzw. der weiteren Praxis des Betreffenden bewähren und bewahrheiten. Erst hierdurch gewinnen sie Rang und Reichweite. Wir kommen also auf unsere bereits benannte Aufgabe zurück, zu zeigen, worin der Gewinn des »Erntens« für die unterschiedlichsten Praxen (sei es als suizidaler Mensch, als »Suizidhelfer« oder als Helfer in der Suizidprophylaxe) besteht. Um diesen Gewinn ausweisen zu können, ist es jedoch zunächst erforderlich, die Strukturmomente der suizidalen Erfahrung genauer zu beschreiben. Insofern wird in den ersten Schritten eine detaillierte Beschreibung der Erfahrungsstruktur vorgenommen, bevor wir im Weiteren die integrativen Überschneidungen der phänomenologischen Praxis mit den suizidverhütenden bzw. suizidgewährenden Tätigkeiten – den eigentlichen Gewinn dieser Untersuchung – analysieren.

1.

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung I

Der Suizid des anderen Menschen ist auf den ersten Blick ohne Bedingung. Kein Modell und kein Beweggrund kann uns seine Notwendig609 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

keit so erläutern oder verständlich machen, dass wir als Angehörige oder direkt betroffene Helfer aufhören zu fragen: Warum? Wir stehen vor dem Toten wie vor einem Rätsel. In seinem Angesicht bleiben alle erklärenden Antworten Fragment und (mehr oder weniger) unbeholfene Versuche. In genau diesem Sinn sagt Jaspers, dass der Suizid eine »unbedingte Handlung« sei. Diese Charakterisierung entspricht der Erfahrung, die wir im Angesicht des toten Menschen (bzw. seines Leichnams) haben, der sich selbst das Leben genommen hat: Es besteht ein gewisser Respekt vor und eine gewisse Achtung für den anderen Menschen in seiner uns letztlich unverständlich bleibenden Suizidhandlung. Was aber ist damit gemeint, wenn wir davon sprechen, dass eine Handlung letztlich unverständlich bleibt? Verstehen wir nur die Bedingungen nicht, die diese Handlung für den Anderen notwendig werden ließen? Oder gab es solche zwingenden Notwendigkeiten für den Betreffenden gar nicht und sind wir nur nicht bereit, die (mehr oder weniger) freie Entscheidung zum Sich-töten als eine menschlich denkbare Entscheidung anzuerkennen? Oder aber spüren wir im Angesicht des toten Suizidenten schlicht den Anhauch des Todes, unserer eigenen Sterblichkeit, Vergänglichkeit und ewiglichen Nichtigkeit und schließlich unserer eigenen Möglichkeit, uns töten zu können? Oder ist es eine Melange aus verschiedenen Punkten, gar aus allen drei genannten Aspekten? Die verwirrende Rätselhaftigkeit des Suizids verweist letztlich auf die suizidale Erfahrung des Betreffenden zurück, aus der heraus die Entscheidung zum Suizid getroffen wurde. Sie deutet zudem unnachgiebig darauf hin, dass wir selbst suizidal werden können und die Möglichkeit haben, uns das Leben zu nehmen (vgl. auch Schlimme et al. 2010). Sie lässt vermuten, dass es einen letzten und unverständlichen Rest der suizidalen Erfahrung selber gibt. Diesen erfährt aber, wenn es ihn denn gibt, nicht nur der suizidale Mensch, sondern sie müsste sich auch in der phänomenologischen Beschreibung der Erfahrungsstruktur wiederfinden. Dieses Rätsel wird besser fassbar, wenn wir uns das folgende Beispiel einer möglichen suizidalen Erfahrung vor Augen führen: Jemand nimmt sich das Leben, da er unkorrigierbar davon überzeugt ist, anschließend in personaler Kontinuität in paradiesischen Zuständen weiter zu leben. Die Sicherheit der persönlichen Überzeugung überrascht und muss die Gegenfrage dulden, wie diese Kontinuität gesichert wird, wenn der Mensch im Diesseits offenbar abseits solcher paradiesischen 610 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung I

Zustände sein Leben zu fristen hat. Bereits Platon hatte in dieser Gemengelage erkannt, dass die Frage, wie man sich bei aller Unsicherheit der Erkenntnis das Jenseits nach dem Tod vorstellt, die Gefahr des sofortigen Suizids heraufbeschwört. Der derart überzeugte Mensch müsste sich also konsequenterweise sofortig im Anschluss an seine Aussage töten, um wenigstens sich selbst (in kleistscher Manier) überzeugen zu können, oder aber das sofortige Getötet-Werden durch seinen Gegenüber als Erlösung im Stile eines Märtyrers willkommen heißen. Wo findet sich dieser unverständliche Rest in der suizidalen Erfahrung, wenn diese Gegenfrage den betreffenden Menschen in keinster Weise von seiner persönlichen Überzeugung abzubringen vermag und er sich das Leben nimmt? Zeigt sich hier nicht vielleicht doch eine besondere und tiefgreifende Konsequenz seines eigenen Handelns? Bevor die zweite Frage beantwortet werden kann, ist tatsächlich zu klären, auf welche Weise der Betreffende den unverständlichen Rest seiner suizidalen Erfahrung erfährt. Anders gewendet ist es die Frage danach, welchen Status diese persönliche Überzeugung einnimmt. Handelt es sich um ein unkorrigierbares Wissen, so dass von einer wahnhaften Überzeugung gesprochen werden müsste, die allen Formen der (selbst-)kritischen Reflexion gegenüber immun ist (Schlimme 2009b)? Die Unsicherheit würde dann nicht in der Ungewissheit der Überzeugung erfahren, sondern – wie es sich bei Menschen mit wahnhaften Störungen üblicherweise findet – im Miteinander mit anderen Menschen. Sei es, dass diese die Überzeugung nicht teilen, kritisieren oder gar belächeln, sei es, dass diese den Überzeugten mit Beschämung oder Beschädigung bedrohen. Für den wahnhaft Überzeugten sind Interpersonalsituationen oftmals irritierend und einengend, so dass der Betreffende in seiner sozialen Isolierung und Ausgrenzung nicht selten verzweifelt. Der (phantasierte, wahnhaft gewusste) Übertritt in das Dasein nach dem Tode hätte auch von daher eine befreiende und rettende Qualität, welche jedoch erst durch die wahnhafte Erfahrungsstruktur überhaupt mitbegründet wurde. Wenn der betreffende Mensch seine wahnhafte Gewissheit nicht angemessen kritisch befragen kann und sie somit (unkritisiert) alle seine Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken präreflexiv vorzeichnet, dann kann von einer »freien Entscheidung« im idealen Sinne sicherlich nicht mehr gesprochen werden. Vielmehr scheint diese Überzeugung den eigenen Tod geradezu einzufordern, da dies die Richtigkeit der Überzeugung end611 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

gültig vor allen anderen Menschen bestätigen würde. Auf diese Weise könnte der Betreffende versucht sein, die letzte Unsicherheit seiner suizidalen (und wahnhaften) Erfahrung ausräumen zu wollen. Wie verhält es sich aber, wenn der Betreffende eine letzte Unsicherheit hinsichtlich dieser persönlichen Überzeugung hegt? Zwar glaubt derjenige an ein Weiterleben nach dem Tode, gibt aber zu, dies nicht mit letztgültiger Sicherheit wissen zu können. Bei aller Gewissheit des Glaubens erfährt der Betreffende eine weiterbestehende Unsicherheit seiner Überzeugung, welche – sei es platonisch, paulinisch oder postmodern – dem Umstand entspricht, dass wir Menschen nicht wissen können, wie es ist, tot zu sein. In einer solchen Situation mag es zwar vorkommen, dass die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tode einen Menschen dazu veranlasst, sich zu töten. Und es wäre tatsächlich ein konsequenter Ausdruck der Festigkeit seiner Glaubensüberzeugung, wenn er sich im Wissen um die Ungewissheit eines Lebens nach dem Tode für diese Glaubensüberzeugung opfern würde. Der betreffende Mensch würde demnach im Selbstopfer in Übereinstimmung mit sich selbst handeln. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass der Freiraum seiner Handlung überhaupt erst durch seine Fähigkeit zur selbstkritischen Bezweiflung seiner Überzeugung eröffnet wird. Denn nur insofern der Betreffende um die letztliche Ungewissheit seiner Überzeugung weiß, ist er zudem frei, sich auch gegen den sofortigen Suizid zu entscheiden (ohne seine Überzeugung deshalb aufgeben zu müssen). Und nur insofern auch kann der derart überzeugte Mensch sein Leben in bestimmten Situationen überhaupt als ein Opfer anbieten, welches ein gewisses Ausmaß an Freiwilligkeit aufweist. Wir finden also in beiden Beispielen das Merkmal des Sich-opferns als zentralen Angelpunkt, an welchem sich der unverständliche Rest der suizidalen Erfahrung hinsichtlich der Frage der Konsequenz des eigenen Handelns abscheidet. Es mag zunächst merkwürdig erscheinen, dass es gerade das Merkmal des Opferns ist, welches die Übereinstimmung des Suizids mit der eigenen Lebensführung beschreibbar macht. Schließlich gilt uns ein Opfer als freiwillig, da auf es auch verzichtet werden könnte. Jedoch, und dies ist ja gerade die Besonderheit für den Menschen in der suizidalen Erfahrung, ist es ausschließlich das Opfer des eigenen Lebens, welches es erlaubt, in Übereinstimmung mit sich selbst zu verbleiben. Der suizidale Mensch hat folglich die feste Überzeugung, dass er, wenn er das Opfer verweigern würde, zugleich auch dasjenige Verständnis seines Lebens (oder even612 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung I

tuell auch: des Lebens überhaupt) verneinen würde, welches justament dieses Opfer für erforderlich erklärt. Sich zu töten, um dabei das eigene Leben zu opfern, bedeutet demnach in der Sicht des betreffenden Menschen, dass es für ihn ein Verständnis gibt, welches das Opfer seines Lebens zu fordern vermag. Es bedeutet aber auch, dass er dessen Forderung für angemessen und notwendig erachtet. Verständnisse, die in genau dieser Art und Weise gestaltet sind, haben wir im Verlauf der Untersuchung in den unterschiedlichsten Gestalten gefunden. Dabei gilt, dass das Verständnis typischerweise auf eine Struktur (das »Ganze«) verweist, welche das eigene Leben umfasst. Das eigene Leben – und das Leben überhaupt – kommt in ihm vor bzw. wird als in-ihm-seiend erfahren (also als vom Ganzen umgriffen bzw. im Ganzen vorkommend). Es ist folglich die Erfahrung des sprichwörtlichen Ganzen, des tragenden Zusammenhangs, der ungefragten Geborgenheit und fraglosen Gewissheit, der spürbaren Ungeschiedenheit. Diese einzigartige Erfahrung einer auch diese Erfahrung noch umgreifenden Struktur kann zwar niemals vollkommen (bzw. mit Sicherheit) bestimmt werden, findet aber im Verlauf der europäischen Kulturgeschichte die unterschiedlichsten Bestimmungen. Das Ganze, für welches es sich zu leben und zu opfern lohnt, kann dabei insbesondere aus der Perspektive des einzelnen Menschen erfasst werden. Vereinfacht gesprochen ist dies bei Homer und bei Pindar die Zufälligkeit des Lebens im Angesicht des Geschicks, bei Platon die unvollkommene Erkenntnis im Angesicht der Idee, bei Paulus das (fleischliche) Irdische im Angesicht der Liebe Gottes, bei Montaigne die Selbstidentität im Angesicht der Freiheit des Menschen, bei Hume die Gewohnheit im Angesicht der Vernunft, bei Jaspers die Existenz im Angesicht der Transzendenz. Gemeinsam ist diesen Bestimmungen, das bei allem menschlichen Bemühen um das Verständnis des Erfahrenen zugleich ein letzter Rest von klar erkennbarer Unerkennbarkeit in diesem Zueinander bleibt. Insofern ist das, was in diesen Bestimmungen angezielt wird, schon immer »unendlich mehr« als das, was in den Bestimmungen auch tatsächlich erzielt werden kann. Es ist aber nicht nur deshalb »unendlich mehr«, da es einmal die Erfahrung und das andere Mal die Beschreibung der Erfahrung ist. Sondern es ist deshalb »unendlich mehr«, da es eben gerade um die Erfahrung dieses »unendlich mehr« geht. Mit anderen Worten: es ist der Versuch, die »natürliche Erfahrung« dieses »unendlich mehr« reflexiv zu erfassen. Die spannende Frage ist also, ob es überhaupt eine Bestimmung eines solchen Ganzen 613 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

gibt, mit welchem der Betreffende in Übereinstimmung leben mag und kann, in welcher der Mensch in seiner suizidalen Erfahrung grundsätzlich davon frei sein könnte, sich gegebenenfalls auch das Leben nehmen zu müssen, um weiterhin in Übereinstimmung mit sich selbst leben zu können. Diese Frage spielt auch auf die doppelgesichtige Qualität der Freiheit in der suizidalen Erfahrung an. Denn diese meint ebensosehr eine Freiheit zum Suizid, als auch eine Freiheit vom Suizid. In dieser Hinsicht genießt der aufgeklärte suizidale Mensch (auf den ersten Blick) wesentlich mehr Freiraum. Denn mit der Aufklärung wird klar, dass der Mensch in seiner suizidalen Erfahrung frei zum Tode und damit zugleich auch frei zum Leben ist. Der einzelne Mensch wird zur Selbstbestimmung seines Lebens regelrecht aufgefordert, wobei es letztlich die konsequente und kohärente Übereinstimmung mit sich selbst sein soll, die als Zielpunkt eines selbstbestimmt geführten Lebens ausgegeben wird (wie letztlich bereits Platon für das philosophisch geführte Leben formuliert). So unerträglich das Leben zum gegebenen Zeitpunkt für den Betreffenden also auch sein mag, es stellt sich ihm die Frage, ob seine aktuelle Erfahrung des Untergangs unveränderlich anhalten wird – ob also seine (derzeit) für gewiss gehaltene Hoffnungslosigkeit, dass er hieran nichts ändern kann, um wieder in Übereinstimmung mit sich zu leben, zutreffend ist – und ob er diese Erfahrung des anhaltenden Untergangs noch länger ertragen kann oder ob er den Weg in den Tod aufnehmen will. Dabei ist zwar der Tod gewiss, das jedoch, was in ihm erfahren und gegeben sein wird, bleibt dem betreffenden Menschen zwingenderweise ungewiss. Insofern fragt das Sich-töten-können den suizidalen Menschen: »Willst Du nicht lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende?« Die Unsicherheit in der suizidalen Erfahrung des (aufgeklärten, postmodernen) Menschen zeigt sich unter dem Vorzeichen der Selbstbestimmung also nicht nur hinsichtlich der Ungewissheit dessen, was im Tod erfahren und gegeben sein wird, sondern gerade auch hinsichtlich der Ungewissheit, ob die Verzweiflung unwiederbringlich ist oder doch nur vorübergehend sein wird. Dies führt in einen eigenartig anmutenden Widerspruch. Denn wir müssen konsequenterweise annehmen, dass unter dem Vorzeichen der Selbstbestimmung der Suizid dann überhaupt nur noch als Opfer für diese Selbstbestimmung verstanden werden kann. Schließlich ist es ja hinsichtlich der Selbstbestimmung gerade die Aufgabe, selbstbestimmt ein gutes Leben zu führen – nicht jedoch, das Leben möglichst rasch zu beenden. Und zu614 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung II

dem zeigt sich der Suizid nur noch als der Weg ins Freie, aber eben nicht mehr als diese Freiheit selbst. Gerade unter dem Vorzeichen der Selbstbestimmung kulminiert die Frage nach der Konsequenz der Suizidentscheidung (hinsichtlich der Aufgabe, in Übereinstimmung mit sich zu leben) also am Merkmal des Sich-opferns. Der suizidale Mensch opfert sich für seine Idee von Freiheit und Selbstbestimmung, die ihn (widersinnigerweise) geradezu dazu nötigt, sich zu töten, und die ihn zugleich strukturell überdauert. Wo aber bleibt dann im Akt dieses Suizids die Selbstbestimmung, wenn der Mensch gerade durch sein Verständnis von Freiheit dazu genötigt wird, sich für diese derart verstandene Freiheit zu opfern (wie es beispielsweise Améry getan hat)? Ist der Suizid dann nicht der Ausdruck einer präreflexiven Vorzeichnung, in welcher der Betreffende schlichtweg nicht mehr kritisch die Beschreibung der Erfahrung »des Ganzen« von der tatsächlich gelebten Erfahrung des Ganzen unterscheiden konnte? Eine allerdings schwierige Frage, die uns insbesondere dazu auffordert, die im Tod erscheinende Rettung für den suizidalen Menschen noch genauer und dezidierter zu beschreiben.

2.

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung II

Offenbar ist derjenige Mensch suizidal, dem im Sich-töten-können das letzte Rettende aus der unausweichlichen Verzweiflung des eigenen Lebens im Angesicht des verlorenen Rettenden gegeben ist. Mit dieser Erfahrung eines Rettenden im eigenen Tod verstrickt sich der Betreffende in stete Widersprüche, wenn ihm dass Rettende einerseits im Leben verloren gegangen ist – dies ist ja seine Verzweiflung, die ihn zum Sich-opfern für dieses Rettende auffordert – und sich ihm dennoch im letzten Akt des Lebens verkündet. Dass es in unserem Tod tatsächlich um uns geht, dass wir uns letztlich nicht ausweichen können, wird nirgends deutlicher als in der suizidalen Erfahrung bzw. der Möglichkeit, sich töten zu können. Angesichts dieser Möglichkeit kommen wir auf die großen Fragen unseres Lebens und sind gezwungen, uns Antwort zu geben. Sicherlich kann man sich auch in einem anti-aristotelischen Kurzschluss oder in rasender Impulsivität das Leben nehmen. Aber in der suizidalen Erfahrung gilt, dass auch eilige Antworten endgültige Antworten sein können. Ein wenig Überlegung ist also nicht von Nachteil. In dieser Unausweichlichkeit zeigt sich die 615 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

Situation als eine Grenzsituation, die sich der Betreffende unbeabsichtigt selbst mit geschaffen hat (wie ihm mehr oder weniger klar ist und es ihm aber insbesondere, wie wir noch sehen werden, mit der phänomenologischen Praxis klar werden könnte): »Ich scheitere an meinem eigenen Freiheitsideal/an meinen eigenen Zielen eines guten Lebens/ an meinen eigenen Vorstellungen göttlicher Paradiese/an meinen eigenen Zweifeln menschlicher oder göttlicher Liebesintention. Ich scheitere, weil sich all dies plötzlich nur noch in meinem Tod anzukündigen scheint, so dass mir mein Sterbenkönnen zur Rettung geworden ist.« Und dennoch ist der Suizid nicht die logisch-bruchlose Fortsetzung der suizidalen Erfahrung. Zeigt doch die Einsicht, dass gerade der Tod in seiner radikalen Alterität zum Leben nicht das höchste Ziel des Lebens sein kann – wie beispielsweise bereits Aristoteles argumentiert hat. Da jedoch dem suizidalen Menschen das Rettende im Leben unwiederbringlich verloren scheint, stellt sich ihm die Frage, ob der Suizid nicht doch der einzige Ausweg aus dieser Erfahrung ist. Den erfahrenen Verlust des Rettenden bestätigt der suizidale Mensch in der reflexiven Betrachtung seiner eigenen Verfassung und Situation. Dabei wird ihm sowohl deutlich, dass er diesen Verlust keineswegs beabsichtigt hat – obwohl der Verlust unzweifelhaft etwas mit seinen eigenen präreflexiven Gewohnheiten zu tun hat –, und dass es auch weiterhin nicht gelingen wird, sich mit seinen üblichen Maßnahmen und Techniken aus der verzweifelnden Situation zu befreien. Es ist genau dieser Verlust der eigenen Fähigkeit, sich aus schwierigen Situationen herausmanövrieren zu können, welcher die Erfahrung der Verzweiflung vorzeichnet. Denn während es uns üblicherweise gelingt, alltägliche Aufgaben ohne weiteres Nachdenken zu erledigen, bewältigen wir ungewöhnliche Herausforderungen zumeist unter Einsatz reflexiver Fähigkeiten, in denen wir die Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, um deren Erfolg dann im weiteren Verlauf (mehr oder weniger bewusst) zu evaluieren. Wenn aber alle derart verfügbaren Handlungsmöglichkeiten bereits erfolglos ausprobiert worden sind und die Wirksamkeit des eigenen Verhaltens hinsichtlich der anstehenden Herausforderungen damit auch nachweislich für den Betreffenden verloren gegangen ist, wird das Rettende unvorhersehbar. Es ist nun genau diese Unvorhersehbarkeit des Rettenden, welche dessen Verlust auf ausnehmend drastische Weise erfahrbar macht. Denn das Rettende entzieht sich immer wieder aufs Neue. Jegliche Bemühungen, ein neues oder anderes Rettendes im Leben zu finden, 616 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung II

scheitern oder laufen wiederholt ins Leere, so dass immer nur wieder die Verzweiflung bleibt. Alle Angebote, welche die Situation und die anderen Menschen für den Betreffenden bereithalten, genügen nicht, um die Erfahrung des Rettenden zu provozieren. Dieses Entschwinden und Verlieren des Rettenden ist keine bewusste Entscheidung, sondern es ist eine präreflexive (passiv erlittene) Gegebenheit, welche reflexiv gesichert werden kann. Das Rettende, welches sich der Betreffende oftmals sehr konkret vorzustellen vermag, zeigt sich dem suizidalen Menschen entsprechend als unglaublich und unfassbar mächtig. Dies entspricht der reflexiv versicherten Gewissheit: Wenn dasjenige mich ergreifen bzw. sich ereignen würde, dann wäre ich gerettet. Jedoch bleibt dieses Eingreifen ins Leben ungewiss, das Rettende entschwindet stetig in eine darin erneuerte Abwesenheit (worin sich ein weiterer, auf irritierende Weise uneindeutig bleibender »Rest« in der suizidalen Erfahrung zeigt). In der zunehmenden Eskalation des Entschwindens des Rettenden gewinnt das verlorene Rettende zudem oftmals und unbeabsichtigt eine förmlich dinghafte Qualität. Es weist nun nicht mehr nur über die eigene Erfahrung hinaus, sondern ist dasjenige, auf welches in dieser Erfahrung verwiesen wird. Das Rettende selbst wird damit als »über der Erfahrung stehend« erfahren, als ein »transzendentes Etwas« (»der« Gott, »das« Schicksal, »das« Ideal, »die« Freiheit). Es hat aber damit, wie Jaspers sehr treffend bemerkt hat, eben gerade seinen Charakter des Transzendenten (»Umgreifenden«) verloren (vgl. Jaspers 1960, S. 55 f.). Das Rettende wird nun seinerseits immer unwahrscheinlicher und unvorhersehbarer, da es in seiner vollkommen abgehobenen Qualität kaum mehr in den eigenen Alltag vermittelt werden kann. Die übliche Kleinteiligkeit des Rettenden und seine immer erst rückblickend nachzuweisende (wahrhaft) rettende Qualität, die sich eben gerade in der zunehmenden Sicherheit des schrittweisen Wiedergewinnens selbstwirksamer Handlungsmöglichkeiten bewährt, erfordert hingegen eine Geduldigkeit und ein Geschehen-lassen-können, welches angesichts der Verzweiflung kaum mehr ertragen werden kann. Offenbar schwindet in zunehmender Verzweiflung tatsächlich die Fähigkeit des Betreffenden, die Bestimmung des (verlorenen) Rettenden in ihrer zunehmenden Verabsolutierung (wie sie von dem Betreffenden in seiner Erfahrung der wiederholt sich bestätigenden Verzweiflung gewissermaßen aktiv betrieben wird) selbstkritisch zu hinterfragen. 617 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

In der Verzweiflung geht folglich, neben dem Rettenden, genau dasjenige verloren, das für den Betreffenden von lebensrettender Bedeutung sein könnte: die reflexive Besonnenheit, welche eine Kontextualisierung der eigenen Erfahrung und des Erfahrenen erlaubt (dieser Verlust entspricht dem, was in der Suizidologie und im klinischen Jargon als »suizidale Einengung« bezeichnet wird). Will der Betreffende also weiterhin in Übereinstimmung mit sich selbst leben, so drängt sich für ihn zunehmend die Frage in den Vordergrund, ob es nicht an der Zeit wäre, sich für dieses (verlorene) Rettende zu opfern, um es darin zumindest noch ein letztes Mal als Rettendes zu bestätigen. Und wie wir bereits beschrieben hatten, zeigt sich ein potentiell eskalierender Zusammenhang zwischen der Qualität des Überzeugtseins (Glauben versus Wissen) und der Attraktivität des Sich-opferns. Eine gefühlte Notwendigkeit, sich töten zu müssen, würde sich also dann ergeben, wenn dieses konkrete und absolut gesetzte Rettende in keiner Weise (nicht einmal mehr aspekthaft) aufgegeben werden kann, so dass es das Opfer zwingend einfordert. Dabei wird offenbar auch der Widerspruch nicht mehr erkannt, der sich darin zeigt, dass eine so überexakte Bestimmung der Transzendenz (hier: des verabsolutierten und verlorenen Rettenden) eben gerade die transzendente Qualität des Bestimmten (also des Rettenden) aufhebt. In dieser Beschreibung wird deutlich, dass ein Mensch freilich immer auch verzweifelt ist, wenn er auf die Idee kommt, dass es nun wirklich nur noch sein eigener Tod sein könnte, der ihm helfen kann. Dabei sind beide Erfahrungsqualitäten in dem Sinne miteinander verbunden, dass die Verzweiflung über sich selbst und die eigene Situation eine notwendige erfahrungsmäßige Vorbedingung für die Ansicht ist, dass der Suizid eine letzte Rettung darstellt. Umgekehrt erschwert die in der Verzweiflung sich vollziehende Steigerung des Rettenden ins »Überirdische«, in welcher das Rettende in der Erfahrung oftmals schließlich eine dinghafte und transzendentale Qualität als »das« Rettende gewinnt, die Möglichkeit, eine Rettung im eigenen Leben zu erfahren. Der erfahrene, und reflexiv vergewisserte Verlust des Rettenden korrespondiert folglich dem als unerreichbar erlebten Rettenden. Es ist gerade dieser Zusammenhang, der in der suizidalen Einengung in gegenseitiger Bedingtheit eskaliert und als Ausweglosigkeit der Verzweiflung erfahren wird. Dies kann wiederum reflexiv gesichert werden. Und zwar zum einen innerhalb der suizidalen Erfahrung, in welcher dann die Ausweg618 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung III

losigkeit der Verzweiflung im Hier und Jetzt erkannt wird. Dann wird die suizidale Erfahrung klarer und die Qualität des Suizids als letzte Rettung vom Betreffenden deutlicher erfasst. Mit anderen Worten: die suizidale Erfahrung spitzt sich zu, die Wahrscheinlichkeit des Suizids steigt. Zum anderen kann die Reflexion die Eskalation aber auch als strukturelle Dynamik aufklären, in welcher der Zusammenhang zwischen der Übersteigerung dessen, was noch zu retten vermag, und der Vertiefung dessen, was nur noch verzweifeln kann, eingesehen wird. Mit dieser Einsicht ist zwar die suizidale Erfahrung keineswegs erledigt, jedoch wird für den Betreffenden zugleich auch die Veränderlichkeit dieses eskalierenden Zusammenspiels zweier Merkmale der eigenen Erfahrungsstruktur deutlich. Die Erkenntnis der Vorübergehendheit der suizidalen Erfahrung bedeutet zugleich, dass der Betreffende wieder Hoffnung schöpft, dass er im Hier und Jetzt gerettet werden kann – auch wenn er (zutreffenderweise) nicht weiß, wie diese Rettung tatsächlich aussehen könnte. Diese Beschreibung macht deutlich, dass es gerade die reflexive Vergewisserung des vorübergehenden Charakters ist, der die suizidale Erfahrung erträglich werden lässt, wohingegen die reflexiv gesicherte Ansicht, dass die Verzweiflung endlos weiterginge, in besonderer Weise den Suizid als letzte Rettung ausweist.

3.

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung III

In der suizidalen Erfahrung ist der Zweifel ein steter Wegbegleiter. Nicht nur im Sinne einer Verzweiflung, sondern auch hinsichtlich der Frage, ob denn nun wirklich nur das eigene Sich-töten-können (der eigene Tod) als letzte Rettung verblieben ist. Hierbei muss aber nicht zwingend der Weg der suizidalen Erfahrung bis zur letzten paradoxen Klarheit durchgestanden werden (nämlich bis in die Einsicht der Widersprüchlichkeit des Rettenden). Jederzeit kann der Mensch seine suizidale Erfahrung beenden: sei es durch den Suizid oder ein Überwinden in anderer Weise. Insofern können wir sagen, dass es immer das eine oder andere gibt, das vom Betreffenden in dieser Erfahrung noch hätte ausgelotet werden können. Dies gilt nicht nur für uns mit unserer phänomenologischen Beschreibung, sondern auch für den suizidalen Menschen (auch für denjenigen Menschen, der sich suizidiert hat). Dieser Zweifel fragt aber auch, ob denn nicht bereits im Wissen um den Sui619 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

zid, der ja auch noch morgen und in der weiteren Zukunft als eine Möglichkeit gegeben sein wird, ein Rettendes im Leben gegeben ist. Diese Frage beschäftigte insbesondere Seneca und die Stoiker der römischen Kaiserzeit. Auch sie erkannten, dass sich dem suizidalen Menschen nicht nur sein Suizid als die letzte Rettung zeigt, sondern dass sein Wissen um diese jederzeitige Möglichkeit bereits eine Rettung sein kann. Denn in seinem Wissen, sich töten zu können, ist der stoische Mensch in dem Sinne gerettet, dass er wieder in Übereinstimmung mit sich leben kann (sich nämlich den Dingen in angemessener gleicher Gültigkeit zuzuwenden vermag). Dem Menschen zeigt sich in der eigenen Sterblichkeit ein allezeit Unbestimmbares im eigenen Leben, welches dem Verzweifelten eine letzte Rettung verspricht, sei es als Freiheit, als Leben (nach dem Tode) oder als »göttliches Zeichen« (welches ebenfalls als eine verunsichernde Widersprüchlichkeit in der suizidalen Erfahrung erfahren werden kann). Epiktet: »Steht es dir denn nicht frei, auch zu sterben? ›Das steht mir frei.‹ Warum klagst du also?« (Epiktet 1984, III 22) Paulus: »Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. Sintemal aber im Fleisch leben dient, mehr Frucht zu schaffen, so weiß ich nicht, welches ich erwählen soll. Denn es liegt mir beides hart an: ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen. Und in guter Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und Freude des Glaubens, auf dass ihr euch rühmen möget in Christo Jesu an mir, wenn ich wieder zu euch komme.« (Philipper 1,21–26) Es könnte eingewandt werden, dass dies zwar für Stoiker oder Christen (mit ihrem Glauben an ein Jenseits) zutreffen mag, dass aber für uns seit der Aufklärung der Tod als Grenze des Lebens und damit als unüberwindliche Grenze unserer Erfahrung aufgewiesen ist (wie es jedenfalls auch in einer phänomenologischen Beschreibung angenommen werden muss). Denn über das, was nach dem Tod kommt, können wir nur spekulieren, nichts wissen, können nur zweifelnd glauben. Jedoch kommen wir, wenn wir die suizidale Erfahrung verstehen wollen, an dem Umstand nicht vorbei, dass auch den aufgeklärtesten Menschen das Erwägen des eigenen Todes zu retten scheint und seine Verzweiflung erleichtert (wie insbesondere David Hume nachweisen konnte). Ganz offenbar ist dieses Gerettetwerden im eigenen Tod nicht an spezielle Vorstellungen davon geknüpft, was nach dem Tod kommt. Es erleichtert auch, wenn man in ihm ein empfindungsloses Ende des 620 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung III

Lebens oder einen »ewigen Schlaf« sieht. Sogar die Aussicht auf das Fegefeuer kann die Menschen nicht zwingend abschrecken, womit zugleich deutlich wird, dass eine Abschreckungstaktik, wie sie in christlich geprägten Verständnissen zuweilen zum Ausdruck kommt, in der Suizidprophylaxe nicht wirklich erfolgreich sein kann. Die Erfolglosigkeit einer solchen Abschreckung ist durchaus verständlich, denn schließlich ist für den suizidalen Menschen nichts unerträglicher als sein Leben, so dass ihm der Tod nicht schrecklicher erscheinen kann (allenfalls vergleichbar schrecklich, auch wenn ein solcher Vergleich streng genommen »Verhältnisblödsinn« ist). Worin besteht dann aber diese besondere Kraft des Sich-tötens, dass es derart erleichternd erlebt wird, es tun zu können, wenn nicht in diesem Können selbst? Wir hatten bereits gezeigt, dass es die selbstwirksame Qualität ist, die das Sich-töten-können zu einer letzten Handlungsoption (im Angesicht des sonst eingetretenen Verlusts aller anderweitigen Möglichkeiten) in der unerträglichen Situation macht. Das aktive Moment dieser Tat ist zwar damit verknüpft, dass der Tod radikal anders zu sein verspricht als alles bisher Erfahrene. Aber die rettende Qualität ist ebenfalls daran gebunden, dass dieser »andere Zustand« von einem selbst aktiv und selbstwirksam herbeigeführt werden kann. Allerdings kann dieses neue Rettende, welches im Wissen um die eigene Möglichkeit des Sich-töten-könnens aufbricht, nur als »Aussicht auf« gelebt werden (da der Betreffende ansonsten verstorben wäre). Insofern bekundet es sich ebenfalls als eine letzte Rettung, wenn der Betreffende seinen Tod nicht auf direkte Weise herbeizuführen gedenkt (z. B. durch Sprung von einem mehrstöckigen Hochhaus), sondern wenn er auf (mehr oder weniger) indirekte Weise bereit ist, seinen Tod durch das Aufsuchen lebensgefährlicher Situationen entgegen zu nehmen (z. B. durch das Provozieren eines Autounfalls). Von daher erlaubt dieses Wissen um eine jederzeit verfügbare und selbstwirksam herbeiführbare Rettung dem Betreffenden zudem, sich mit allen sonst zur Verfügung stehenden Mitteln wieder auf eine Lebensweise einzuschwingen, die er als übereinstimmend mit seinen leitenden Annahmen eines guten Lebens erkennt. Mit Seneca kann dieser Zusammenhang als eine »suizidale Dialektik« formuliert werden, wobei dieses Wissen als hypomochlion der eigenen Lebensführung angesehen werden kann. In diesem Sinne auch ist Nietzsche zu verstehen, dem der »Gedanke an Selbstmord über manche schlimme Nacht« hinweghalf (Nietzsche 1994, Bd. 3, S. 94). Davon aber unbenommen bleibt es auf andere Wei621 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

se (nämlich hinsichtlich des Umstands, diese Rettende doch beizeiten eventuell aktiv aufsuchen zu müssen) schrecklich, dass es allein das eigene Sterbenkönnen und damit der eigene Tod ist, der hier dem Menschen sein Leben noch zu erhellen vermag. Sicherlich ist es unzweifelhaft, dass wir alle dem Tod ausgeliefert sind. Unsere Sterblichkeit kann zwar selbstbewusst geleugnet werden, kann aber bei allem persönlichen Überzeugtsein von der eigenen Unsterblichkeit dennoch nicht abgewendet werden. Es gibt schlichtweg anzuerkennende präreflexive Gegebenheiten, denen wir nicht entsagen können. Hierzu gehört neben unserer unzweifelhaften Verkörperung auch unsere situative Eingebundenheit in Interpersonalsituationen. In Anerkennung dieser Beschreibung unserer präreflexiven Verfassung wird deutlich, dass jeder Mensch zu einem gegebenen Zeitpunkt den Tod empfängt. Das Empfangen des Todes ist jedoch nicht immer (notwendigerweise) mit dem Eindruck verbunden, gerettet zu werden. Insofern ist es für ein Verständnis der Erfahrungsstruktur der suizidalen Erfahrung von außerordentlicher Wichtigkeit, den Unterschied zwischen einem passiven Getötet-werden und dem aktiven Sich-töten genau zu fassen. Ausgehend von unserer Darstellung der verbliebenen Selbstwirksamkeit des verzweifelten Menschen im Sich-töten-können, worin sich für den Betreffenden die letzte Möglichkeit eines nicht folgenlos bleibenden Eingreifens in die eigene Lebenssituation findet, erweist sich der aktive Charakter als wesentlich für die rettende Qualität des Sich-töten-könnens. Der Tod durch das unerwartete Erfasstwerden von einem Lastwagen, während man gerade ins Gespräch vertieft über eine grüne Ampel schlendert, kann sicherlich nicht als Rettung angesprochen werden (sondern ist ein tragischer Unfall). Ein vollkommen passives Empfangen des eigenen Todes, in welchem dieser nicht einmal willkommen geheißen würde, kann demnach nicht als letzte Rettung qualifiziert werden. Dieser Unterschied ist von zentraler Bedeutung. Denn auf eindeutige Weise sind wir Menschen dem Tod im passiven Sinne ausgeliefert und zugleich aufgefordert, unser Leben entsprechend unserer Annahmen eines guten Lebens aktiv zu führen. Dabei kann es der Mensch auch dem Schicksal, dem Zufall, einem bestimmten Gott oder einer (nicht näher definierten) »größeren Macht« überlassen, ob der Unterschied einen Unterschied macht. So kann er seinen Suizidversuch als Gottesgericht abhalten, russisches Roulette spielen oder ein suizidales Experiment betreiben. Hierbei gilt dann die Hypothese: Lebe ich wei622 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung III

ter, so erweist sich »die« Transzendenz als eine des Lebens, die nicht mit dem Tod verbrüdert ist und ich bin wirklich gerettet; sterbe ich, so wäre es von vornherein hoffnungslos gewesen, ein Rettendes im Leben zu suchen. Diese gottesgerichtliche Qualität des Suizidversuchs als Experiment bringt die innere Widersprüchlichkeit der suizidalen Erfahrung auf den Punkt. Sie erzwingt die Antwort einer »größeren Macht«, wobei diese »größere Macht« nur ein anderer Begriff für etwas erkennbar Unerkennbares des Lebens ist (wofür es sich gegebenenfalls sogar zu opfern lohnt). Um den passiv empfangenen Tod als eine letzte Rettung erfahren zu können, muss das passive Empfangen des Todes also aktiv anvisiert und entweder beabsichtigt oder berücksichtigt worden sein. Ganz offenbar entscheidet hier die Intention des Betreffenden, ob er den Tod als eine letzte Rettung erfahren kann (oder ob er beispielsweise nur tragisch zu verunfallen vermag). In gerade diesem Sinne betont Schopenhauer, dass der »aus Verzweiflung entspringende freiwillige Tod« eine »ganz vergebliche und thörichte Handlung« ist (Schopenhauer 1977, Bd. 2, S. 493 u. 497), wohingegen das »freudige Empfangen« und »willige Enden« in der »Selbstaufopferung für Andere« (S. 469, 480 u. 485 ff.) die höchste Vollendung und Erlösung aus dem ewigen Kreislauf des Leidens darstellt. Auch hier unterscheidet die Intention zwischen den verschiedenen Weisen des Sich-zu-Tode-bringens. Dabei stellt das Empfangen des Todes in der Selbstopferung für Andere die passivste Form (des aktiven Aufsuchens des eigenen Todes) dar und entspricht insofern für Schopenhauer der »Mortifikation des Willens« auf vollkommene Weise, wohingegen das rasche Sich-umbringen aus eigener Verzweiflung als aktivste Form gerade gegenteilig von ihm beurteilt wird. Bedeutsam ist an dieser Unterscheidung aber nicht nur die Differenz von Aktiv-Passiv, sondern auch die interpersonale Einbettung, die für Schopenhauer mit dieser Differenz einhergehen soll. Denn hier zeigt sich einerseits eine aufopfernde Zuwendung an andere Menschen und andererseits eine isolierende Abwendung von anderen Menschen. Während die isolierende Abwendung von anderen, insbesondere von (den für den Betreffenden) bedeutenden Menschen, oftmals die Wahrscheinlichkeit, sich tatsächlich zu töten, erhöht, ist es hingegen nicht zwingend so, dass die aufopfernde Zuwendung zu anderen Menschen suizidale Erfahrungen grundsätzlich verhindert. Und zudem haben die untersuchten Verständnisse der suizidalen Erfahrung gezeigt, dass der 623 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

verzweifelte Mensch üblicherweise an ihm bedeutsame andere Menschen um Hilfe und Unterstützung appelliert. Es findet sich in der suizidalen Erfahrung also zunächst eine Hinwendung an Andere, welche üblicherweise aktiv vorgetragene Handlungen motiviert (sog. »Cry for help«, Stengel). Dabei ist Schopenhauer zuzustimmen, dass diese Zuwendung auch den Charakter des bereitwilligen Opferns für den Anderen haben kann, wie es sich beispielsweise in einer aktiven Weise bei Goethes »Werther« oder bei Shakespeares »Juliet« findet. Jedoch zeigen gerade diese beiden Beispiele, dass die suizidale Erfahrung in dieser Selbstaufopferung für den Anderen auch eine äußerst aktive Form des Sich-tötens motivieren kann. Aber auch die gegenteilige Konstellation ist vorstellbar, in welcher der Betreffende auf eine äußerst passive Art in vollkommen isolierender Abwendung von (zuvor bedeutsamen) anderen Menschen den Tod zu empfangen beabsichtigt. Beispielsweise im Sinne eines mühsamen und in halb-komatöser Weise sich abspielenden »Tottrinkens«, welches zumeist nicht zügig erfolgreich ist – also eine äußerst selbstunwirksame Suizidtechnik darstellt. (Jedoch ist zuzugeben, dass der alkoholintoxikierte Zustand auch suizidales Verhalten erleichtert, da eben gerade die reflexive Rückwendung auf die eigene Erfahrung eingeschränkt wird, so dass die Kontextualisierung der eigenen Situation erheblich erschwert wird. Andererseits kann eine solche suizidale Erfahrung im Rausch durch ein Weitertrinken bis in die Bewusstlosigkeit auch passivisch gewendet werden.) Die von Schopenhauer vorgetragene Annahme, dass das opferbereite Tod-empfangen und das verzweifelte Sich-umbringen jeweils miteinander gekoppelt wären, beschreibt jedenfalls, wie diese genannten Beispiele zeigen, nicht die (einzige) Struktur der suizidalen Erfahrung, auch wenn es mögliche gelebte Erfahrungen vorstellt. Die interpersonale Einbettung der suizidalen Erfahrung ist ganz offenbar nicht identisch mit einer eher aktiven oder eher passiven Weise des Sich-tötens, sondern relativ eigenständig in Hinsicht auf andere Merkmale der Erfahrungsstruktur. Die Vorzeichnung der hilfesuchenden Zuwendung an Andere bedeutet aber nicht, wie die verschiedenen Beispiele zeigen, dass dem suizidalen Menschen die Anderen nur in der Gestalt des »erhofften Retters« begegnen, an die es schlicht um Hilfe zu appellieren gilt. Vielmehr eröffnet diese präreflexive Gegebenheit ein Erfahrungsfeld, in welchem diese Anderen als annehmend, abweisend, beschämend, besonnen, demütig, demütigend, erpresserisch, entspannend, falsch, fies, 624 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung III

(…) rechthaberisch, ruhig, (…) überfordernd, zugewandt, zuhörend oder zurückweisend erlebt werden können (um nur einige der Erfahrungsmöglichkeiten zu nennen). Hieraus ergeben sich vielfältige Verhaltensweisen des Betreffenden, denen jedoch oftmals die Übersichtsfähigkeit im Sinne einer reflexiv versicherten Kontextualisierung und der Einbettung in weitergreifende, insbesondere zukunftsorientierte Situationen zu fehlen scheinen. Diese »suizidale Einengung« macht das Verhalten nicht nur unwirksam hinsichtlich des Aufbaus tragender (und damit rettender) Beziehungen, sondern auch außerordentlich wechselvoll bezüglich der Zu- oder Abwendung zum Anderen. Jedoch kann der suizidale Mensch einen Anderen auch als vorwiegend indifferent und unbedeutend für die eigene aktuelle Situation erfahren, womit sich dann die Erfahrungsmöglichkeiten für diesen Anderen bereits weitgehend erschöpft haben. Auffallend ist, dass der suizidale Mensch vom anderen Menschen zumeist in komplementärer Weise erlebt wird, beispielsweise als leicht kränkbar (»dünnhäutig«), gekränkt verschlossen (»verletzt«) oder ungerichtet hilfesuchend (»verzweifelt«). Die oftmals rasch wechselnde Zu- oder Abwendung des suizidalen Menschen vermittelt hierbei im Miteinander auf besonders eindringliche Weise dessen Kränkbarkeit. Es ist zudem dieser rasche Wechsel, der die Widersprüchlichkeit im Miteinander für den Anderen unausweichlich erkennbar macht. Wir stoßen in unserer Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung also nicht nur wiederholt auf die Merkmale des Opfers, des Rettenden und der Verzweiflung und deren widersprüchliche Verweisungen aufeinander, sondern auch auf Gegebenheiten, welche diese Merkmale verbinden. Als solche zeigt sich neben der notwendigen Gegebenheit, um sich als sterbliches (verkörpertes) Wesen zu wissen, auch die Erfordernis, sich (in der jeweiligen Interpersonalsituation) überhaupt in wirksamer Weise zu sich verhalten zu können. Beide Aspekte sind von fundamentaler Bedeutung für die Beschreibung dessen, was als Person im Sinne eines selbstbewussten Handlungssubjekts gemeint sein kann. Während der suizidale Mensch in geradezu überdeutlicher Weise um sich weiß und über das, was er von sich und seiner Situation reflexiv vergewissern kann, auf unerträgliche Weise verzweifelt, sind ihm exakt all diejenigen situationsverändernden Verhaltensweisen verloren gegangen, mit denen er sein eigenes Befinden (in situativ rückwirkender Konsequenz) verändern könnte. (Und dies, obwohl die suizidale Erfahrung eine ganze Reihe von letztlich nicht ab625 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

schließend zu bestimmenden sowie reflexiv zu versichernden »unsicheren Resten« enthält.) Zugespitzt könnte die Erfahrung des suizidalen Menschen in dem Sinne beschrieben werden, dass ihm nichts mehr übrig geblieben ist, was er noch machen könnte und dass er sich vollkommen dem unerträglichen und verzweifelnden Geschehen überlassen muss – es sei denn, er zieht das letzte (situationsverändernde und hierin zur Erleichterung/Rettung führende) Ass, das ihm noch geblieben ist: Sich-zu-töten.

4.

Die suizidale Erfahrung und die Frage »Wozu«

Die phänomenologische Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung – und die damit geleistete Antwort auf die Frage, wie es ist, suizidal zu sein – zeigt, dass diese Erfahrung auf fundamentale Weise reflexiv gestaltet ist. Dennoch ist die reflexive Versicherung innerhalb der suizidalen Erfahrung erkennbar eingeengt. So fällt es dem Betreffenden beispielsweise schwer, sein aktuelles Erleben abseits seiner widersprüchlichen Erfahrung des Rettenden zu kontextualisieren. Dies ist keineswegs durch den Betreffenden beabsichtigt, vielmehr ist er durch die bereits beschriebenen präreflexiven Gegebenheiten derart voreingestellt, dass seine Reflexion zunehmend und (im äußersten Fall) bis zur Vollständigkeit in den Dienst der widersprüchlich erfahrenen Überzeugung des Rettenden gestellt wird. Der Zweifel, den wir als steten Bestandteil der suizidalen Erfahrung benannt hatten, erlaubt dann letztlich nur mehr ein reflexives Pendeln zwischen der Einsicht, dass die Verzweiflung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lebenslänglich andauern wird, und der Einsicht, dass der eigene Tod offenbar das einzig verbliebene Handlungsergebnis ist, welches hier doch noch eine Veränderung herbeizuführen vermag. Der Mensch, der sich in dieser derart eskalierten suizidalen Erfahrung vorfindet, kann beispielsweise (trotzdem er mit permanentem Nachdenken hinsichtlich existentieller Themen beschäftigt ist) keinen phänomenologischen Einstellungswechsel vornehmen. Denn die phänomenologische epoché würde schließlich erfordern, dass er seine suizidale Erfahrung in ihrer Erfahrungsstruktur betrachten könnte, sich also nicht innerhalb dieser »natürlichen Erfahrung« bewegen würde, sondern auf die Art und Weise der Gegebenheit dieser Erfahrung blicken und sich in der »reflexiven/phänomenologischen Erfahrung« bewegen könnte. Würde er 626 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die suizidale Erfahrung und die Frage »Wozu«

einen solchen Einstellungswechsel vornehmen können, wäre diese kognitive »Aufweitung« bereits als Nachweis einer veränderten präreflexiven Vorzeichnung seiner Erfahrung zu verstehen und würde anzeigen, dass die Suizidwahrscheinlichkeit mittlerweile abgenommen hat. Jedoch ist festzuhalten, dass der suizidale Mensch in einem unausweichlichen Sinne philosophisch aktiv ist, da er als »Existenzphilosoph wider Willen« die Frage nach dem Sinn seines Lebens stellt. Wie diese Untersuchung der Verständnisse der suizidalen Erfahrung ergeben hat, ist die Frage nach dem »Wozu« unseres eigenen Lebens zudem die wesentliche Frage, die in der suizidalen Erfahrung (bzw. angesichts der Möglichkeit, sich töten zu können) unnachgiebig gestellt wird. Dabei hat sich die Antwort auf diese Frage im Verlauf und in Entsprechung der unterschiedlichen Menschenbilder immer wieder verändert. Aus phänomenologischer Sicht stellen sowohl die Renaissance als auch die Aufklärung wesentliche Einschnitte für den (suizidalen) »Existenzphilosophen wider Willen« dar. Denn mit ihnen löst sich diese Frage aus einer metaphysischen Umklammerung, in welcher der Sinn des Lebens schon immer dezidiert definiert war. Dennoch verschwindet das »metaphysische Bedürfnis« (Schopenhauer) nicht. Der Verlust der metaphysischen Umklammerung hat insofern auch Einfluss auf das Verständnis der Möglichkeit, sich töten zu können. Denn im Angesicht eines definierten und bestimmten Souveräns, der über Leben und Tod gebietet und dessen (metaphysische) Gebote wir zu kennen in der Lage uns meinen, stellt sich in der suizidalen Erfahrung vordringlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Sinn im eigenen Leben und dem (metaphysischen) Sinn des Lebens überhaupt. Angesichts eines versicherten bzw. metaphysisch abgesicherten Sinns des Lebens (wie er im Vorfeld der Aufklärung üblicherweise kulturell ausgewiesen wurde), ist es demgemäß in der suizidalen Erfahrung für den betroffenen Menschen vordringlich, zu wissen, ob und unter welchen Bedingungen gegebenfalls sein eigener Suizid überhaupt erlaubt ist. Diese Situation ändert sich mit der Aufklärung, denn seither wird unmissverständlich deutlich, dass sich der Sinn des Lebens für den betreffenden Einzelnen aus dem eigenen Leben ergeben muss. So beantwortet beispielsweise Kleist die Frage nach dem Sinn seines Lebens mit dem paradigmatischen Satz des Untergangs, dass ihm auf Erden nicht zu helfen war – und ihm nur noch der Suizid helfen konnte. Die Art und Weise, wie das eigene Leben geführt wird, gibt somit (ob gewollt 627 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

oder nicht) zugleich die Antwort auf die Frage nach dem »Wozu« des Lebens. Folgt der einzelne Mensch hierbei der Aufklärung und Moderne, so kann er den »Sinn der ganzen Veranstaltung« nicht in einer allgemein-übergeordneten Definition bestimmen. Vielmehr wird ihm deutlich, dass er in der Unsicherheit zu leben hat, ob überhaupt eine Antwort auf diese Frage gegeben werden könnte. Nun ändert dies aber nichts an der grundsätzlichen Notwendigkeit, ein sinnstiftendes Ziel des eigenen Lebens zu formulieren (Stichwort: »metaphysisches Bedürfnis«), wie bereits Aristoteles (wenn auch in einer ganz anderen Ontologie) ausführt: »Wird nun das Erkennen dieses Guts nicht auch großes Gewicht für die Lebensführung haben, und werden wir dadurch nicht wie Bogenschützen, die einen Zielpunkt (skopos) haben, eher das Richtige treffen?« (Aristoteles, NE 1094 a23–25). Da dieser skopos – die eudaimonia – weder umfassend bestimmt noch hergestellt werden kann, wie Aristoteles dezidiert erörtert (NE 1098 a20 ff.), erfordert für ihn die gelungene Lebensführung neben einer eigenen Aktivität auch das zurücknehmende Sein-lassen des Gegebenen. Soll sich also ein Sinn aus dem eigenen Leben ergeben, so bietet sich mit Aristoteles eine Praxis des Seinlassens an: »Zur Praxis des Seinlassens gehört auch, daß ein Tun verachtet wird, das uns und das Tun selbst nicht seinläßt.« (Baruzzi 1996, S. 205; vgl. auch Spaemann/Löw 1980, S. 287) Eine solche Lebensführung erlaubt eine besonders hohe Übereinstimmung mit sich selbst, da der Betreffende schließlich immer sowohl die beabsichtigten (erwünschten) als auch (insbesondere) die unbeabsichtigten (unerwünschten) Konsequenzen seines Handelns in die (reflexive) Bewertung des Grades der Übereinstimmung seines Lebens in sich selbst (hinsichtlich dessen leiblicher Einbettung in seine Interpersonalsituationen über die Zeit hinweg) einbeziehen muss. Offenbar ist diese graduelle Bewertung der Übereinstimmung aber erheblichen lebensphasischen und situativen Schwankungen unterworfen. Wer über sich und seine Umstände verzweifelt, gibt sich vorwiegend eine negative Antwort. Dies erscheint uns banal, verweist jedoch darauf, dass wir, die wir das banal finden, bereits umfassend in dieser Ästhetisierung des Lebenssinns angekommen sind. Freilich gilt es, diese scheinbare Selbstverständlichkeit hier phänomenologisch exakt zu verstehen. Denn als phänomenologische Beschreibung verstanden bedeutet dies nicht, dass der Betreffende den Lebenssinn einfach nur nicht richtig zu erkennen vermag. Vielmehr bedeutet es, dass es den Lebenssinn tatsächlich nicht gibt. Und zwar für ihn in seiner 628 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Die suizidale Erfahrung und die Frage »Wozu«

Erfahrung nicht gibt. Da es aber eine andere Weise des Gebens für den Betreffenden nicht gibt, gibt sich ihm sinnmäßig tatsächlich nichts. Dies sagt nicht, dass ein anderer Mensch, der sich mit dem Betreffenden in einer gemeinsamen Interpersonalsituation befindet, sein eigenes Leben nicht als vollkommen sinnerfüllt erfahren kann. Beispielsweise kann der »Suizidhelfer« die Lebensgeschichte des Suizidwilligen als so verzweifelnd erleben, dass er ein gewissermaßen todbringendes Mitleid entwickelt, welches aber gar nicht zwingend der sinnstiftenden Erfahrung des Suizidwilligen entspricht, der sich zum ersten Mal seit langer Zeit mal wieder richtig verstanden fühlt. Eine fürwahr vertrackte Situation, wo allein die phänomenologisch präzise und eben urteilsenthaltende Beschreibung weiterhelfen kann, wie wir noch sehen werden. Aber auch wenn über »den Sinn des Lebens als solchen« nunmal – aus philosophischer Redlichkeit – nicht einmal mehr gesagt werden kann, ob es ihn denn geben mag, muss sich der suizidale Mensch entscheiden. Denn die schlichte Erkenntnis, dass es offenbar um ihn geht und es die Frage nach dem »Wozu« seines Lebens ist, reicht nicht zwingend für eine Entscheidung aus. Dennoch ist zu bedenken, dass sich der Mensch sogar aus diesem scheinbar sicheren Verhältnis, dass es nämlich in seinem Leben um ihn selbst geht, entfernen kann. Denn die erfahrene Selbstverständlichkeit, dass man sich nunmal gegeben ist und da ist, kann den Menschen als selbstbewusstes Wesen nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich eben doch für (oder gegen) sich entscheiden muss. Und er muss sich entscheiden, da er sich entscheiden kann. Auch wenn ein Mensch »schlicht weiterlebt« impliziert dies, sich nicht zu töten und dass er sich für sich (wenn auch vielleicht nicht vorbehaltlos und nicht explizit) entschieden hat. In der suizidalen Erfahrung nun wird diese »Entscheidung für sich« fragwürdig und der Einzelne ist zu einer expliziten Antwort aufgefordert. Der Aufforderung gemäß erwägt der suizidale Mensch, unter welchen Bedingungen denn sein eigener Suizid überhaupt notwendig oder sinnvoll ist, wobei er dies entsprechend seiner präreflexiven Vorzeichnungen erwägen wird. Die suizidale Erfahrung ist also existenzphilosophisch gesehen eine glückliche Erfahrung, auch wenn sie den Betreffenden sowohl in einer vollkommen unglücklichen Verfassung vorfindet, unbeabsichtigt betrifft als auch oftmals (zu allem Überfluss) unvorbereitet antrifft. Da sich jedoch in der suizidalen Erfahrung seit der Aufklärung – und der 629 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

damit letztlich verbundenen Ästhetisierung des Lebenssinns – nicht mehr vordringlich die Frage stellt, ob denn der Suizid erlaubt ist oder nicht, sondern die Frage stellt, ob man es denn nun tun soll oder nicht, erzwingt die suizidale Erfahrung von vornherein die reflexive Vergewisserung des Sinns des eigenen Lebens. Sie stellt insofern auch eine Situation dar, in welcher über den bisherigen Verlauf des eigenen Lebens nachgedacht wird und die Sinnfrage unnachgiebig beantwortet werden muss. Hierbei muss der Betreffende nicht zwingend und ausschließlich negative Aspekte auffinden, sondern ist auch vor positiven Überraschungen nicht geschützt. Dies betrifft die Neuorientierung und die Neubewertung der eigenen Lebensführung, welche die Erfahrung der Irritation der letztlichen Unbestimmbarkeit des Lebens (die zuvor nur noch in den unbestimmbaren und widersprüchlich sich zeigenden »Resten« der suizidalen Erfahrung gegeben schien) auf neue und ungeahnte (sowie, wie rückblickend schließlich bemerkt werden könnte: rettende) Weise aufzunehmen vermögen. Es verhält sich exakt so, wie Jaspers es in seiner Philosophie 1932 beschrieben hat: »Auf ihrem Grunde (dem Grund der suizidalen Erfahrung J. S.) erst vermag jedoch das Ertragen des Lebens im tiefsten Elend aus der Unerforschlichkeit der das Leben – und seine in jedem Falle noch möglichen Erfahrungen – fordernden Transzendenz aufzuleuchten.« (Jaspers 1994, Bd. II, S. 309) In diesem Sinne ist die suizidale Erfahrung – als prototypische Krise – eine existenzphilosophisch glückliche Situation, da sie zur Klärung des Grades an Übereinstimmung der eigenen Lebensführung im Angesicht der prinzipiellen Offenheit des Lebens auffordert.

5.

Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung

Mit der kulturellen Bewegung der Ästhetisierung des Lebenssinns verändert sich auch das kulturelle Dispositiv, welches die suizidale Erfahrung des Einzelnen vorzeichnet. Dieses neue kulturelle Dispositiv ist die Selbstbestimmung, womit zugleich gesagt ist, dass es kein traditioneller Souverän ist. Denn im Unterschied zu einem traditionell sich gebärdenden Souverän fordert es von demjenigen, den es »beherrscht«, nicht mehr schlichte Unterwerfung, sondern vielmehr die (weitgehend) eigenständige Ausgestaltung des Vorgegebenen. In diesem Sinne hat sich beispielsweise auch der gesellschaftliche Souverän dem kulturell leitenden Dispositiv zu unterwerfen. Damit ist zugleich auch 630 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung

gesagt, dass die im 19. und 20. Jahrhundert aufbrechenden Konflikte zwischen dem Staat und dem Individuum gerade als unterschiedlich ansetzende Bemühungen der Lebensführung des Menschen entsprechend dieses kulturellen Dispositivs verstanden werden können. Wenn aber dieses neue kulturelle Dispositiv dem einzelnen Menschen die Suizidentscheidung überantwortet, wobei der Betreffende offenbar sowohl zum Suizid als auch vom Suizid freigestellt wird, ist derjenige aufgefordert, diese Entscheidung tatsächlich aus seiner suizidalen Erfahrung heraus zu treffen. Es ist nun aber gerade diese Übertragung der Verantwortung, welche kritisch befragt und betrachtet werden muss. Denn, so legen es jedenfalls die üblichen Verständnisse der suizidalen Erfahrung nahe, ein selbstbestimmtes Verhalten ist hinsichtlich der Suizidentscheidung keineswegs selbstverständlich. Tiefgreifende Zweifel finden sich bereits bei Homer, der Achilles in seiner verzweifelnden Trauer über den Tod seines liebsten Gefährten Patroklos als kurzzeitig suizidal darstellt (Homer). Aristoteles fasst die Suizidentscheidung als üblicherweise unüberlegt auf, eine Einschätzung, welche sich beispielsweise im psychiatrischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei Wilhelm Griesinger, wiederfindet (aktuell in den suizidologischen Verständnissen unter dem Stichwort »Impulsivität« verhandelt). Umgekehrt gibt es aber auch Verständnisse, wie beispielsweise die von Seneca, Montaigne und Hume, welche insbesondere den wohlüberlegten Charakter der Entscheidung, sich zu töten, betonen. Und nicht zuletzt unterscheiden nicht wenige Autoren zwischen verschiedenen Formen der Selbsttötung, wobei oftmals eine besonnene und eine unbesonnene (»psychologisch verstrickte«) Weise des Entscheidens differenziert werden (so Platon und Epiktet, aber auch Paulus, Schopenhauer und Jaspers; in neuerer Zeit s. auch Birnbacher 1990; Schramme 2007; Wittwer 2009). Es ist dabei durchweg die besonnen und wohlüberlegt entschiedene Suizidhandlung, welche philosophisch gelobt und gewissermaßen »empfohlen« wird. Diese weist in den jeweiligen Verständnissen zudem regelmäßig ein hohes Maß an Übereinstimmung mit dem sonst (entsprechend der eigenen philosophischen Praxis) geführten Leben auf und wird so üblicherweise als ein Opfer für das Höchste, was demjenigen bekannt ist, angesehen. Wenn es aber derart unsicher – oder jedenfalls zunächst unklar – ist, ob ein Mensch aus der suizidalen Erfahrung heraus eine (im jeweiligen kulturellen Kontext) als selbstbestimmt zu bezeichnende Ent631 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

scheidung hinsichtlich des Sich-tötens zu treffen vermag, so wäre eine entsprechende Suizidberatung wünschenswert, um dem kulturellen Dispositiv zur Geltung zu verhelfen. Schließlich gehört die Inanspruchnahme von Unterstützung durch den Betreffenden zu den angemessenen Verhaltensmöglichkeiten, welche das kulturelle Dispositiv im Interesse einer Selbstbestimmung des Betreffenden geradezu einfordert. Dabei wäre die leitende Frage in der Suizidberatung nicht, ob sich derjenige das Leben nehmen darf oder nicht, denn dieses wäre ihm im Prinzip (wenn auch vielleicht nicht in der Beratungssituation) bereits zugestanden. Sondern die praktisch relevante Frage wäre (sowohl hinsichtlich seines Weiterlebens, als auch hinsichtlich seines Sich-tötens), ob er eine als selbstbestimmt zu bezeichnende Handlung vollziehen würde. Das Dispositiv der Selbstbestimmung polarisiert folglich entlang der Frage, ob im Suizid ein Zeichen der Selbstbestimmung gesehen werden kann oder nicht. Während die Vertreter des extremen Pols der suizidverhütenden Seite hierin eben gerade überhaupt kein Zeichen der Selbstbestimmung erkennen können, sehen die Verfechter des extremen Pols der suizidgewährende Seite hierin durchaus und insbesondere ein solches Zeichen. Beide Extrempositionen betreiben dabei ein Wechselspiel der Zeichendeutung. So wird von der einen Seite darauf hingewiesen, dass verzweifelte Menschen beispielsweise ihre sonst üblichen reflexiven Fertigkeiten nicht zur Verfügung haben, ihre Umstände nicht in sonst üblichem Umfang zu bestimmen vermögen und dass sie in ihrer Erfahrung der Verzweiflung insbesondere den Umstand ausblenden, dass ihre Verzweiflung vorübergehend sein wird. Von der anderen Seite wird im Gegenzug argumentiert, dass die Entscheidung zum Suizid üblicherweise lange erwogen wird, viele Umstände häufig in kompetenter Weise bewertet und betrachtet werden, und dass sich bestimmte verzweifelnde Umstände wiederum doch nicht ändern ließen. Auch wenn Letzteres erst der Rückblick zeigen wird, kann dies die Vorausschau dennoch niemals ausschließen. Beide Begründungslinien, welche dem modernen Menschen spätestens seit der Existenzphilosophie bekannt sind, können das Dispositiv der Selbstbestimmung für sich reklamieren – wenn auch aus unterschiedlicher und sich widersprechender Sicht. Diese Polarisierung wirft, zugespitzt formuliert, die Frage auf, ob es sich beim Suizid um die selbstbestimmte Form des Sterbens in unserer Zeit handelt. Die phänomenologische Methode, so wie wir sie in dieser Unter632 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung

suchung betrieben haben, kann diese Frage (aufgrund ihrer Urteilsenthaltung hinsichtlich der normativen Bewertung eines Verhaltens) nicht direkt beantworten. Sie kann aber einen wichtigen Beitrag zur Antwort liefern, wenn wir die Frage umstellen. Denn anders gewendet fragen wir ja, wie selbstbestimmt die Entscheidung aus der suizidalen Erfahrung heraus ist. Diese Frage kann nun hingegen mit Hilfe einer phänomenologischen Beschreibung der Erfahrungsstruktur tatsächlich beantwortet werden. Allerdings bedarf es hierzu nicht nur einer feinkörnigen Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung (wie wir sie oben bereits geleistet haben), sondern auch einer Beschreibung der Erfahrungsstruktur der Selbstbestimmung. Dabei wird hier Selbstbestimmung zunächst als diejenige Erfahrung verstanden, dass sich der Betreffende als der aktive Initiator seines eigenen Verhaltens erlebt. Das eigene Verhalten selbst zu bestimmen meint aber nicht nur, dass man sich als Initiator seines eigenen Verhaltens erfährt, sondern es impliziert auch, dass der Betreffende für sein eigenes Verhalten verantwortlich ist. Dies aber kann derjenige überhaupt nur sein, wenn er eine gewisse zeitstabile »Einheit seiner Person« bezüglich seines Verhaltens erlebt. Und zwar in zweierlei Hinsicht: a) bezüglich der Initiative des eigenen Verhaltens, wie sie in ihm erfahrbar war; b) bezüglich den Effekten des eigenen Verhaltens in der Welt, wie er sie selbst erfährt. Selbstbestimmung erfordert demnach, dass sich der Betreffende auch beim Erleiden der Effekte seines Verhaltens weiterhin als den Initiator dieses Verhaltens erlebt. Üblicherweise erfährt der Mensch dies als eine selbstverständliche Gegebenheit, bevor er auch nur anfangen kann, darüber nachzudenken. Selbstbestimmung meint also zunächst eine präreflexive Erfahrung, welche keineswegs erfordert, dass man sich bereits genauer über sein eigenes Verhalten vergewissert hat. Jedoch kann der Mensch die Initiative seines Verhaltens auch als fremdartig erfahren, wenn sie für ihn »im Dunkeln« bleibt, er sich mit seinem Verhalten selbst überrascht oder sich sogar getrieben erlebt. In genau dieser Weise argumentiert der medizinische bzw. psychologischpsychiatrische Diskurs bereits im 19. Jahrhundert, dass sich der suizidale Mensch in »psychologischen Verstrickungen« befindet und die Entscheidung zum Suizid letztlich von einem »Teil seiner Psyche« getroffen wird, der nicht seinem Bewusstsein bzw. Ego bzw. »höheren Seelenorgan« entspricht. Nur insofern auch gilt der Betreffende in diesem Diskurs als nicht verantwortlich für seine Tat und nur insofern auch gilt der Betreffende aus heutiger suizidprophylaktischer Sicht als 633 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

nicht zureichend selbstbestimmt in seinem suizidalen Verhalten. Der Erfahrungshintergrund der eigenen (selbstbewussten) Initiative, sich zu töten, zeigt sich dabei dem Betreffenden als Verzweiflung über sich. Wie tatsächlich im Verlauf der Untersuchung deutlich geworden ist, zeigt sich jeweils die Verzweiflung über sich als Erfahrungshintergrund der suizidalen Entschlusslage – über alle kulturellen Zeiten hinweg und auch ganz unabhängig von dem der Erfahrung hinterherhinkenden, da auf die Erfahrung reflektierenden theoretischen Diskurs. Aus dieser Gegebenheit folgt nun aber noch nicht notwendigerweise, dass jede Suizidentscheidung fremdbestimmt wäre. Vielmehr ist zu prüfen, in welcher Weise dieser Erfahrungshintergrund diese Entscheidung tatsächlich vorbestimmt. Denn sogar dann, wenn eine Initiative zunächst als fremdartig und irritierend erlebt wird, folgt daraus noch nicht notwendigerweise, dass sich der Betreffende im Verlauf nicht doch aktiv zum Geschehenden bekennt – und dadurch den »Anstoß von außen« in ein fürderhin selbstbestimmtes Verhalten integriert. Die Vergewisserung der Initiative des eigenen Verhaltens reicht demnach für die Erfahrung der Selbstbestimmung keineswegs aus. Dies ist leicht verständlich, kann sich doch der Mensch nur als selbstbestimmt erfahren, wenn er sich zudem für die Effekte seines Verhaltens verantwortlich fühlt (Drummond 2008). Und zwar sowohl für die erwünschten, als auch zumindest partiell, nämlich insofern er derjenige ist, der die Kaskade von Ereignissen in Gang setzte, für die unerwünschten Effekte (Tengelyi 2007). Insbesondere Laszlo Tengelyi verweist auf den Umstand der unerwünschten (und unvorhergesehenen) Effekte des eigenen Verhaltens. Er betont damit, dass wir nicht nur die aktiven Agenten unseres eigenen Verhaltens sind, sondern dessen Effekte auch passiv erleiden und insofern immer auch passive Subjekte unseres eigenen Verhaltens sind. Dies kann auch positiv gesehen werden, wenn beispielsweise unbeabsichtigte Wirkungen, die initial als Störung erlebt wurden, rückblickend sinnvoll in den weiteren Handlungs- und Erfahrungszusammenhang aufgenommen werden können. Insofern geht die Erfahrung der Selbstbestimmung über die Gewissheit hinaus, der Initiator des gezeigten Verhaltens gewesen zu sein, und erfordert, die Verknüpfung des eigenen Verhaltens mit bestimmten (erwünschten und unerwünschten) Wirkungen in leiblicher, situativer und interpersonaler Hinsicht zu erfahren und anzuerkennen. Fassen wir dies zusammen, so kann man drei verschiedene Bereiche einer selbstbezüglichen (sprich: von einem selbst ausgehenden und 634 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung

auf einen selbst zurückkommenden) Effektivität benennen, welche unsere Erfahrung der Selbstbestimmung im Verhalten strukturieren: a) die Effektivität der eigenen Intentionen das eigene Verhalten betreffend; b) die Effektivität des eigenen Verhaltens hinsichtlich des Verfolgens und Erreichens der eigenen anvisierten Ziele; c) die Effektivität des eigenen Verhaltens auf einen selbst im Anschluss an dieses Verhalten (inklusive erwünschter und unerwünschter Wirkungen) (vgl. auch Schlimme 2010). Sicherlich kann man diese drei Formen der »Selbstwirksamkeit« auf unterschiedlichen, wenn auch miteinander verschränkten Ebenen betrachten, beispielsweise auf der Ebene von Körperbewegungen (»Mikroebene«) oder auf der Ebene von nahen Situationszielen oder fernen Lebenszielen (»Makroebene«). Dabei erfahren wir es eben üblicherweise als vollkommen selbstverständlich, dass unser Verhalten auch tatsächlich in allen drei Bereichen wirksam bzw. selbstwirksam ist. Insofern gilt in einer groben Beschreibung, dass die Reflexion über die Wirksamkeit des eigenen Verhaltens hinsichtlich eines der benannten Bereiche erst einsetzt, wenn die sonst als selbstverständlich erlebte Selbstwirksamkeit brüchig und fragwürdig geworden ist. In solchen Momenten bricht eben gerade die präreflexive Erfahrung der Selbstbestimmung ab und es entsteht ein Gefühl des Fremdbestimmtwerdens. Wenn diese Kennzeichnungen der Erfahrungsstruktur der Selbstbestimmung zutreffen, stellt sich die Frage, wie sich nun die Selbstbestimmung in der suizidalen Erfahrung versteht? Der suizidale Mensch muss nicht nur die erwünschten und unerwünschten Effekte seines Verhaltens erleiden, sondern er will dies sogar. Denn der Suizid wird für ihn überhaupt erst als »letzte Rettung« ausgewiesen, da er den Tod selbstwirksam anzusteuern vermag. Unbenommen der Frage nach der erfahrenen Initiative (Verzweiflung) ist das Sich-töten-können gerade infolge dieser gesicherten Selbstwirksamkeit unter dem Gesichtspunkt einer Selbstbestimmung des eigenen Verhaltens ein sinnvolles Unterfangen, wie bereits Sophokles paradigmatisch Aias ausrufen lässt: »Geziemend ist es nicht für den erfahrnen Arzt Beschwörungen zu leiern bei der Wunde, die den Schnitt verlangt.« (Sophokles 1990, 581 f.) Und nur insofern der Schnitt auch tief ins Fleisch eindringt und den Tod herbeiführt, ist Aias’ Suizid auch schon immer in einer gewissen (noch näher zu ermittelnden) Hinsicht selbstbestimmt. Dennoch erfährt sich der suizidale Mensch gerade in seiner Verzweiflung als fremdbestimmt, ist es doch gerade das Verzweifelnde, dass er die Definiertheit und Bestimmtheit seiner Umstän635 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

de nicht zu verändern vermag. Die sich hieraus gewinnende Initiative des suizidalen Verhaltens kann für den Betreffenden vollkommen unklar und fremd bleiben, auch wenn ihm die Verzweiflung als Erfahrung voll bewusst ist. Es ist folglich primär der Zusammenbruch aller sonst und zuvor als (mehr oder weniger) selbstverständlich erfahrener Selbstwirksamkeit, die eigenen (Lebens-)Ziele erreichen zu können, welcher das Sichtöten-können in seiner (üblicherweise) stets verbliebenen Selbstwirksamkeit als eine eigene Verhaltensmöglichkeit hervortreten lässt. Dieses Hervortreten im eigenen Handlungsraum bleibt zumeist nicht unbemerkt. Denn der Betreffende sichert reflexiv, dass es das Sich-töten-können ist, welches eine Rettung des Lebens in Übereinstimmung mit sich selbst zu erlauben scheint. Diese Ansicht, dass es nur noch der eigene Tod ist, der eine Veränderung des als unveränderlich und unwiederbringlich erfahrenen eigenen Untergangs (die Verzweiflung) anbietet, verhärtet sich oftmals im Lauf der suizidalen Erfahrung. Wir hatten bereits beschrieben, wie diese Einsicht den Charakter einer nahezu unkorrigierbaren Überzeugung gewinnen kann und wie der Zweifel hierbei in den Dienst der suizidalen Erfahrung genommen wird. Es zeigt sich in der suizidalen Erfahrung folglich eine zirkuläre Bewegung (circulus vitiosus), die wie eine Grundströmung einen tendenzierenden Kontext der eigenen Willensbildung darstellt. Diese Grundströmung der Erfahrung ist dabei zunächst noch nicht sehr mitreißend. Wie die suizidologischen Untersuchungen wiederholt haben zeigen können, ist es in den frühen Phasen der suizidalen Erfahrung immer wieder (mit mehr oder weniger Aufwand) möglich, das eigene Befinden als eine Verfassung zu reflektieren, die man gerade hat. Dieser Einstellungswechsel, in welchem die eigene Situation mit einer gewissen Distanz in den Blick gerät und in welcher der Betreffende sich als »Existenzphilosoph wider Willen« wiederfindet (also die Frage nach dem »Wozu« seines Lebens angesichts seiner Möglichkeit stellt, die scheinbar verlässlichste Gegebenheit seiner Erfahrung verlassen zu können, nämlich seine Selbst-Gegebenheit), ist ganz offenbar dasjenige Merkmal, inwiefern die suizidale Erfahrung als prototypische Krise eine existenzphilosophisch gesehen »glückliche Situation« darstellt. Andererseits ist es aber gerade diese reflexive Wendung, die in der suizidalen Erfahrung zwingenderweise vollzogen wird, die dem Betreffenden den Eindruck vermittelt, hier von sich her etwas bestimmen zu können. Sicherlich kommt es darauf an, zu verstehen, was hier mit 636 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung

»etwas bestimmen« gemeint ist. Bevor wir uns damit genauer beschäftigen, ist auf den Umstand hinzuweisen, dass es für eine phänomenologische Beschreibung der Erfahrung der Selbstbestimmung in der suizidalen Erfahrung gerade darauf ankommt, zu verstehen, dass der Eindruck der Selbstbestimmung an diese (der suizidalen Erfahrung schon immer innewohnende, eigenaktive) reflexive Wendung gebunden ist. Dabei geht es bezüglich dieses »etwas bestimmen« zunächst nur um die (in Folge einer eigenen Aktivität) gewonnene Ansicht, dass man selbst mit der Verhaltensmöglichkeit des Sich-tötens eine selbst ausführbare (und Veränderung zusichernde) Handlung zur Verfügung hat. Die eigene Aktivität, welche in dieser reflexiven Sicherung der eigenen Verzweiflung und in der reflexiven Vergewisserung der eigenen Möglichkeit, sich töten zu können, (im Sinne eines reflexiven Probehandelns) erfolgreich ausgeübt wird, vermittelt (ihrerseits) die Erfahrung eines selbstwirksamen, da neue Handlungsmöglichkeiten schaffenden, Aktivseins. Die Erfahrung des suizidalen Menschen, etwas zu bestimmen, bezieht sich also zunächst darauf, dass der Betreffende gedanklich eine Verhaltensmöglichkeit gesichert hat, die ihm selbst verfügbar ist und eine Veränderung seiner Erfahrung verspricht (also ein erwartbar selbstwirksames Verhalten ist). Die Erkenntnis einer Freiheit zum Suizid ist insbesondere für Menschen, die der modernen Machbarkeitsideologie folgend präreflexiv als »Selbstwirksamkeits-Junkie« und »Autonomie-Fanatiker« »aufgestellt« sind, von sinnstiftender Qualität. In diesem Sinne hatten wir bereits (unter anderem mit Bezug auf die stoische Philosophie der römischen Kaiserzeit) festgehalten, dass allein schon das Wissen um diese Möglichkeit als hypomochlion der eigenen Lebensführung fungieren kann. Zu diesen Menschen wäre in gewisser Hinsicht auch Jean Améry zu zählen, der der Einsicht folgend, im Moment des Hand-ansich-legens maximal möglich der Freiheit nahe zu kommen, tatsächlich Hand an sich legte. Dabei aber, und dies ist die spannende Erkenntnis der phänomenologischen Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung, blendet der Betreffende (mehr oder weniger) unbeabsichtigt die notwendigen präreflexiven Vorzeichnungen seiner eigenen suizidalen Erfahrung aus (in welcher sich ja die reflexive Sicherung dieser Erkenntnis abspielt) – und damit auch die prinzipielle Offenheit des eigenen Lebens und die hiermit wiederum verbundene Vorübergehendheit der eigenen Verzweiflung (was auch für Améry zutrifft, der sich seiner stets wiederkehrenden Verzweiflung sehr bewusst war 637 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

und, orientiert an einem hehren Freiheitsideal, annahm, diese Freiheit im Akt der Selbsttötung näherungsweise anzutreffen – wobei er den Erfahrungshintergrund für diese Annahme dann doch wieder ausblendete). Es ist vor dem Hintergrund dieser phänomenologischen Beschreibung der Erfahrungsstruktur, in welche eingelassen der Betreffende die Ansicht seiner Selbstbestimmung im Sich-töten gewinnt, jedenfalls eindeutig, dass ein Suizid, der im Namen der Selbstbestimmung erfolgt, nicht allein schon deshalb als selbstbestimmt gelten kann. Vielmehr ist anzuerkennen, dass die Selbstbestimmung, so wie sie in der suizidalen Erfahrung möglich ist, der Erfahrung der Verzweiflung hinterherhinkt. Insofern ist David Humes Satz unverändert zutreffend, und wird durch die phänomenologische Beschreibung der Erfahrungsstruktur aufgewertet, dass kein Mensch sein Leben weggab, solange es für ihn noch lohnte, es zu behalten. Es ist demnach die eigene (reflexive) Aktivität des Erkennens und Benennens der eigenen (verzweifelnden) Umstände und der darin sich ergebenden (letzten) selbstwirksamen Handlungsmöglichkeit, an welcher die ganze Debatte um die Frage nach der Selbstbestimmung ansetzt und kippt. Denn trotz aller Einschränkungen der Selbstbestimmung in der suizidalen Erfahrung wird ein letzter Rest an Selbstbestimmung in dieser Einsicht, sich töten zu können, gewonnen. Dieser (zugegebenermaßen) »kleine Rest« muss aber gar nicht künstlich aufgewertet, sondern vielmehr in seiner Minimalität anerkannt werden. Er wirft nämlich die Frage nach der (reflexiven) Bewertung des Grades der Übereinstimmung seines Lebens in sich selbst (hinsichtlich dessen leiblicher Einbettung in seine Interpersonalsituationen über die Zeit hinweg) bezüglich des (reflexiv gesicherten) Sich-opferns als eigenem Lebensabschluss auf. Es ist so gesehen weniger die Frage, ob der Betreffende noch so leben kann, wie er möchte, der einen Suizid für den Betreffenden rational erscheinen lässt, sondern vielmehr die Passung zwischen dem eigenen Sich-töten als Opfer für diesen (ansonsten) verloren scheinenden skopos des eigenen Lebens. Der auf den ersten Blick kaum gegebene Unterschied erweist sich bei näherer Betrachtung als wesentlich, da er die umgekehrte Begründungslinie beschreibt und die präreflexive Vorzeichnung der Verzweiflung anerkennt. Diese Beschreibung bezieht zudem den Umstand mit ein, dass der Betreffende üblicherweise ausblendet, dass er präreflexiv durch seine Verzweiflung vorbestimmt (und damit auch in seinen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten eingeengt) ist. 638 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung

Wir kommen also auf die bereits formulierte Einsicht zurück, dass es das Merkmal des Sich-opferns ist, an welchem sich die Frage der Selbstbestimmung des suizidalen Menschen (jedenfalls in phänomenologischer Perspektive) entscheidet. Der suizidale Mensch, so hatten wir gezeigt, opfert sich für seine Idee von Freiheit und Selbstbestimmung, die ihn (widersinnigerweise) geradezu dazu nötigt, sich zu töten, und die ihn zugleich strukturell überdauert. Wir haben bereits phänomenologisch nachgezeichnet, dass der verzweifelte Mensch in der eigenen reflexiven Sicherung seiner Möglichkeit, sich töten zu können, eine selbstwirksame und situationsverändernde Handlung für sich gewonnen hat. Es gilt nun, diese minimale Freiheit gerade auch in ihrer präreflexiven Einbettung noch genauer zu beschreiben, wenn sich der Mensch ja offenbar gerade durch sein Verständnis von Freiheit dazu aufgefordert erfährt, sich für diese derart verstandene Freiheit zu opfern. Die Freiheit wäre nun aber tatsächlich restlos aufgebraucht, wenn der Betreffende die persönliche Überzeugung, dass die aktuelle Verzweiflung endlos anhalten wird und dass nur noch der Tod eine letzte Rettung darstellt, in keinster Weise kritisch befragen könnte. Denn dann würde es sich streng genommen um eine wahnhafte Überzeugung handeln, die ihren Charakter des »Glaubens an etwas« verloren und sich in ein »Wissen von etwas« gewandelt hat (Schlimme 2009b). Dies mag in manchen Fällen tatsächlich geschehen, so dass sich der Betreffende dann tatsächlich ausschließlich gemäß seiner wahnhaften Überzeugung verhalten kann. Jedoch bleibt oftmals (jedenfalls aber in den früheren Phasen der sich schrittweise einengenden suizidalen Erfahrung) ein letzter Zweifel bestehen, ob denn die Verzweiflung nun wirklich unveränderlich ist. Es ist dieser letzte Zweifel, der der Grundströmung der eigenen Erfahrung mehr oder weniger reflexiv zu widerstehen vermag und einen Einstellungswechsel und damit überhaupt erst eine Freiheit des eigenen Wollens erlaubt. In diesem letzten Zweifel findet sich damit für den Betreffenden zugleich der Hinweis auf die letztliche Unbestimmbarkeit und prinzipielle Offenheit des Lebens und die Notwendigkeit, das Geschehende auch geschehen lassen zu können, wenn denn diese Offenheit und die darin sich ankündigende Möglichkeit eines (neuen und anderen) Rettenden nicht endgültig verschlossen werden soll. In unserer phänomenologischen Beschreibung der Erfahrung der Selbstbestimmung haben wir dargestellt, wie die vom Betreffenden erfahrene Willensfreiheit in die leibliche und interpersonale Situation 639 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

eingebunden ist und sich das eigene Wollen aus dieser heraus gewinnt. Die Erfahrung der Willensfreiheit bezieht sich trotz des Gefühls der Freiheit der Entscheidung nicht auf eine losgelöste Form des Wollens. Denn würde sich dieses freischwebende Wollen nicht auf bestimmte Ziele, Absichten und Intentionen hin verpflichten und sich zugleich auf bestimmte Motive oder Hintergründe beziehen, dann könnte es überhaupt nicht als dieses oder jenes kenntlich werden. Eine Freiheit aber, in welcher wir aller Selbigkeit ledig wären, kann der Mensch in seiner Lebenswirklichkeit nicht meinen, denn er will ja selbst – als dieser Mensch, der er hier und jetzt ist, geworden ist und sein will – frei sein. Zwar versteht sich eine solche Autonomie, in der der Betreffende ein von jeglicher personalen Selbigkeit befreites Wollen aufbieten kann, als ein in der Aufklärung formuliertes Ideal der vernünftigen Lebensführung des Menschen (Baruzzi 1993, S. 177 ff.; vgl. auch Schmitz 2001). Jedoch kann sich der Mensch immer nur kurzzeitig und phasenhaft als diesem Ideal entsprechend aus seiner weitverzweigten »Selbstentfremdung« in leibliche, interpersonale und situative Strukturen als »autonomes Ich« gewinnen. Aber selbst hier bleibt er noch auf diesen Akt des Zurückgewinnens als dieser oder jener angewiesen (Rombach 1993, S. 49). Eine reflexive Begründung, welche sogar noch diese präreflexiven Eingebundenheiten auf ihre reflexive Eigenleistung zurückführen möchte, gelangt demnach (bei allen Bemühungen) zu keinem Zeitpunkt an ihr Ende – wie bereits auf dem Höhepunkt der Aufklärung selbstkritisch diskutiert wurde (vgl. Henrich 1992, S. 98). Der Mensch kommt so auch hinsichtlich seines Wollens nicht um die Anerkennung präreflexiver Gegebenheiten herum, welche ihm als präepistemische Gewissheiten eben tatsächlich vor aller Reflexion gewiss sind und wie eine Grundströmung sein explizites Wollen vorstrukturieren (vgl. Schlimme 2007a; 2007c; 2008). Das Wollen des Menschen entschwindet also weder in einer verbindungs- und fassungslosen »Willensfreiheit« in den Weiten des »Subjektivismus« noch in einem festgefassten »Willensdeterminismus« in den Engen des »Objektivismus« (vgl. auch Jaspers 1994, II, S. 163–170). Vielmehr scheint zu gelten, dass es gerade der Einstellungswechsel ist, in welchem der Betreffende sein aktuelles Wollen als eingebettet in präformierende Strukturen erkennt und dank dessen eine daran sich anschließende Anerkennung dieser erkannten Vorzeichnung seines (selbstbewussten) Wollens gelingt, welches die Freiheit seines Wollens von gewissen aktuellen Umständen erlaubt. Frei640 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung

heit gewinnt sich also, wenn der Betreffende die Grundströmung seiner aktuellen Erfahrung aufnehmend eine durchreichende Interpretation durch alle seine Situationen hindurch – also in anderen Worten: aufs Ganze gesehen – findet (was nicht bedeutet, dass er dieser Grundströmung in ihrer Hauptrichtung folgen müsste). Heinrich Rombach spricht in dieser Hinsicht vom »interpretativen Überformen«, welches das Wollen des Menschen zu sein hat, wenn es ein Leben in Übereinstimmung mit sich selbst erreichen will (Rombach 1993, S. 358 f.). Denn, und dies scheint von enormer Bedeutung gerade hinsichtlich der Frage der Selbstbestimmung in der suizidalen Erfahrung, das Bestimmen dieses Grades der Übereinstimmung ist kein theoretischer Akt im Sinne eines »reflexiven Herumdenkens«. Es ist eine Erprobung im eigenen Leben, da sich nur im passiven Erleiden der Folgen des eigenen Verhaltens, welches nicht nur die beabsichtigten, sondern eben gerade auch die unbeabsichtigten (und oftmals unvorhergesehenen) Wirkungen beinhaltet, die Übereinstimmung wirklich erweisen kann. In der suizidalen Erfahrung bricht hingegen alle weitere Selbstwirksamkeit zusammen (d. h. der Betreffende erleidet durchgängig nur die unbeabsichtigte Wirkung der restlos fehlenden Veränderung seines Befindens bzw. seiner Situation infolge jedweden, sonst als wirksam gekannten oder gemutmaßten Verhaltens). Insofern ist auch der Wechsel aus einer präreflexiv gegebenen Erfahrung in eine reflexiv vergewisserte Erfahrungsstruktur, in dem der Betreffende dann den Grad der Übereinstimmung prüfen kann, seinerseits verändert. Die eigene, interpersonal unabgesicherte Reflexion bietet zunächst die Ansicht einer unwiederbringlichen Verzweiflung, aus der voraussichtlich nur noch der eigene Tod (als selbstwirksam Herbeiführbares) herausführt. Diese in einer eigenen (reflexiven) Aktivität sich gewinnende Erkenntnis bzw. in dieser Erkenntnis sich gewinnende Handlungsmöglichkeit ist jedoch – im Interesse einer Selbstbestimmung – ihrerseits auf ihre präreflexiven Voraussetzungen zu befragen, anstatt dem (zur Handlung drängenden) Eindruck, dass ein Opftertod für die Selbstbestimmung angezeigt sei, ohne nähere Prüfung nachzugeben. Dass diese Prüfung im Einzelfall zuweilen nicht mehr gelingen mag, zeigt das Ausmaß der suizidalen Einengung, welche in solchen Fällen sogar die reflexive Kontextualisierung der eigenen Erfahrung unmöglich macht. Dieser Mangel spiegelt sich, so der Betreffende den Suizidversuch überlebt und die suizidale Erfahrung hinter sich gelassen hat (was 641 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

keineswegs zeitgleich zusammengehören muss), bekanntlich darin wieder, dass derjenige seine eigene Handlung, die ihm zum vormaligen Zeitpunkt so notwendig und schlüssig erschien, rückblickend oftmals nur noch als »Kurzschluss« einzuordnen vermag. Eine tiefgreifende Selbstbestimmung ist auf dem Wege des Suizids also für den Betreffenden nicht zu finden. Im Gegenteil ist es der letztverbliebene Akt im verzweifelten (und fremdbestimmten) Untergang, den der Einzelne vor dem Hintergrund einer (ansonsten) umfassend eingebrochenen Selbstwirksamkeit als einzig verbliebene, keineswegs für das eigene Erleben folgenlos bleibende (und insofern selbstwirksame) Handlungsmöglichkeit erkennt (wobei er üblicherweise die Vorübergehendheit seiner Verzweiflung ausblendet). Diese im Erkennen gewonnene Handlungsmöglichkeit kann der Betreffende zum letzten Akt seiner Selbstbestimmung hochinterpretieren. Hierbei bietet sich insbesondere das von Seneca eingeführte Argument an, welches besagt, dass es die fehlende Möglichkeit ist, das Leben künftig so führen zu können, wie man das Leben führen will, die den eigenen Suizid begründet (vgl. auch Schramme 2007). So sehr dieses Argument den suizidalen Menschen von der Rationalität seiner eigenen Entscheidung überzeugen kann, müsste er aber dennoch zugeben, dass es die Art und Weise seiner gewollten Lebensführung ist, die hier das Opfer des eigenen Lebens verlangt. Dies gilt insbesondere dann, wenn es die Selbstbestimmung ist, die er sich (dem kulturellen Dispositiv folgend) als skopos der eigenen Lebensführung setzt. Unbeachtet bleibt dabei durch den Betreffenden nämlich, dass seine reflexive Einschätzung durch zwei (präreflexiv bleibende) Gewissheiten vorgezeichnet ist: a) durch die Gewissheit, dass die von ihm anvisierte Art und Weise der Lebensführung das Opfer lohnt; b) durch die Gewissheit, dass die Verzweiflung, die die von ihm gewünschte Lebensführung unmöglich zu machen scheint, tatsächlich unwiederbringlich ist. Beide präreflexiven Vorzeichnungen könnten – zumindest prinzipiell – durch den Betreffenden auch reflexiv vergewissert werden, obwohl zugegebenermaßen gerade der dafür erforderliche Einstellungswechsel vom Betroffenen nicht mehr ohne einen intersubjektiven Dialog vorgenommen werden kann. Denn mit dieser Vergewisserung – welche er beispielsweise durch eine »Suizidberatung« im Interesse einer Selbstbestimmung gewinnt – würde sich dem Betreffenden seine als selbstbestimmt erfahrene Möglichkeit, sich töten zu können, schlagartig als erheblich und umfassend fremdbestimmt zeigen, da sie eben gerade erst durch diese 642 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung

beiden präreflexiven Gewissheiten überhaupt für ihn sinnausweisend werden konnte. Die (vom Betreffenden erfahrene) Qualität des Selbstbestimmten im Sich-töten-könnens ist ganz offenbar in der suizidalen Erfahrung in diese präreflexiven und unverfügbar erscheinenden Gegebenheiten (deren eventuelle Veränderlichkeit vom Betreffenden eben gerade nicht erkannt werden kann) eingekapselt. All dies sagt freilich nicht, dass der Suizid eines Menschen nicht auch durch andere Menschen, insbesondere durch diejenigen, an welche der Betroffene hilfesuchend zugewandt war, im Rückblick (von dieser in der suizidalen Erfahrung eingekapselten Erfahrung der Selbstbestimmung ausgehend) als letzter »freier Akt« hochinterpretiert werden kann. Und es sagt ebenfalls nicht, dass der Betreffende seinen geplanten bzw. vollzogenen Suizid nicht im Vorfeld bzw. im Moment der Suizidhandlung als selbstbestimmt erfahren kann. Es besagt aber, dass diese Erfahrung der Selbstbestimmung im höchsten Maße abhängig ist von einem entsprechenden, alles andere als selbstbestimmt zu nennenden Erfahrungshintergrund. Und es besagt, dass dieser Hintergrund (der ja seinerseits eine Erfahrung ist, nämlich die der Verzweiflung), wenn seine Struktur vom Betreffenden unreflektiert bleibt, nicht zureichend in seiner vorzeichnenden Qualität für die eigene Erfahrung der Selbstbestimmung im Hand-an-sich-legen erkannt werden kann. Dieser Einstellungswechsel würde hingegen nicht nur die Angewiesenheit der eigenen Einschätzung und Bewertung der Suizidoption zeigen, sondern auch erkennbar machen, dass die Bewertung des Grades der Übereinstimmung eines bestimmten Handelns mit sich selbst nicht ausschließlich theoretisch geprüft werden kann, sondern eine Erprobung im fortgesetzten (eigenen) Leben erfordert. Die phänomenologisch feinkörnige Beschreibung der Erfahrungsstruktur der Selbstbestimmung in der suizidalen Erfahrung zeigt demnach, dass die Übertragung der Verantwortung der Suizidentscheidung an den Einzelnen im Namen der Selbstbestimmung den Betreffenden zu überfordern droht, da sie ihn in einer verzweifelten Lage antrifft. Die Übertragung sollte, so könnte eine Forderung im Gefolge des kulturellen Dispositivs der Selbstbestimmung lauten, also nur dann erfolgen, wenn zugleich eine jederzeit verfügbare Suizidberatung durch Mitmenschen vorgehalten und angeboten wird, die auf ein selbstbestimmtes Handeln des Betreffenden setzen und den Betreffenden darin unterstützen. Dabei gilt jedoch, dass sich diese Beratung nicht 643 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

nur bemühen müsste, die ansonsten unreflektierten Vorbedingungen der suizidalen Einschätzung (nämlich im Sich-töten eine letzte Rettung zu sehen) im Miteinander aufzudecken, sondern auch, dass sie einen Freiraum für die dennoch vollzogene Selbsttötung belassen müsste. Denn nur, wenn sie diesen noch näher zu fassenden Freiraum beließe, bliebe der in der suizidalen Erfahrung dennoch gegebene minimale (wenn auch eingekapselte und vorgezeichnete) Rest an erfahrbarer Selbstbestimmung anerkannt und gewahrt. Und nur dann könnte der Suizidberater im Dispositiv der Selbstbestimmung auf vertrauenswürdige Weise praktisch tätig sein. Wir werden diesen notwendigen Freiraum, der eher ein »Schlupfloch« des menschlichen Miteinanders darstellt, im folgenden Kapitel näher bestimmen. Die Freiheit in der suizidalen Erfahrung ist, wie insbesondere die vorhergehenden Beschreibungen der Erfahrung der Selbstbestimmung gezeigt haben, immer auch eine Freiheit vom Suizid. Denn auch wenn dem suizidalen Menschen im eigenen Sich-töten-können das letzte Rettende aus der unausweichlichen Verzweiflung seines eigenen Lebens im Angesicht des verlorenen Rettenden erscheint, ist der Suizid nicht die notwendige Konsequenz dieser Ansicht. Vielmehr ist der suizidale Mensch bis zum letzten Moment seines Lebens in einem sehr definierten Sinne »frei« in seiner Entscheidung. Entscheidet er sich für den Suizid, so ist dieses »Ja« zum eigenen Tod dann aber nicht nur das Eingeständnis, dass das Rettende gegen alle Bemühungen immer wieder entschwindet und definitiv verloren scheint, sondern zugleich auch ein Opfer des eigenen Lebens für etwas, für das es das eigene Leben aufs Ganze gesehen zu opfern lohnt. Dennoch bleibt nach der Entscheidung zum Suizid (und üblicherweise sogar nach der vollzogenen Suizidhandlung bis zum Schwinden des Selbstbewusstseins) oft ein letzter Zweifel, so dass es (im Falle der schließlich vollzogenen Selbsttötung) erforderlich war, die getroffene Entscheidung aufrechtzuerhalten. Dieser Zweifel verweist – gegen den geradezu überwertigen Charakter der persönlichen Überzeugung, dass einem auf Erden nur noch der Suizid helfen kann – auch auf die Anstrengung abfordernde Offenheit des Lebens und auf die Unabschließbarkeit der möglichen Antworten, welche wir Menschen auf die Frage nach dem Sinn der ganzen Veranstaltung »Eigenes Leben« geben können. Er verweist damit zugleich auf die Widersprüchlichkeit der suizidalen Überzeugung und stellt somit letztlich das »Ja« zum Sich-töten in Frage. So wird der suizidale Mensch unausweichlich zum »Existenzphilosophen wider Willen«, 644 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Sterben zur rechten Zeit?

der (mit seinen veränderten reflexiven Fähigkeiten) den Grad der Übereinstimmung seiner anvisierten Suizidhandlung mit seiner sonstigen Lebensführung bestimmen und überprüfen muss, wobei es ihm bis zum letzten Moment zudem ungewiss bleibt, ob das Sich-töten wirklich seine einzige Rettung ist (bzw. ob die Verzweiflung sonst wirklich unverändert andauern wird). Das letzte Geheimnis des Suizids des anderen Menschen kann also auch eine Phänomenologie der suizidalen Erfahrung nicht lüften. Dies würde auch insofern verwundern, da es schließlich dem suizidalen Menschen selber nicht möglich ist, dies zu tun. Aber sie kann aufweisen, in welcher Weise der Suizid dem suizidalen Menschen in seiner selbstbezogenen Vergewisserung als ein freier Akt erscheint, da in dieser selbstbezogenen Vergewisserung ein »Umkippen« der Erfahrung geschieht. Dabei ereignet sich in diesem »Umkippen« zugleich ein Abblenden der bestimmenden, in diesem Abblenden gerade präreflexiv bleibenden Vorzeichnungen dieses reflexiven Erkennens und Benennens des Sich-töten-könnens (als letzte Rettung). Es ist diese Koppelung in der Struktur der suizidalen Erfahrung, welche die phänomenologische Methode tatsächlich detailliert aufweisen kann, da sie die präreflexiven Gegebenheiten zu beschreiben vermag, ohne die daraus sich gewinnende Reflexion bzw. reflexive Absicherung in ihrem prinzipiell selbstaufklärenden Charakter leugnen zu müssen.

6.

Sterben zur rechten Zeit?

Die phänomenologische Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung beantwortet zunächst die Frage danach, wie es ist, suizidal zu sein. Nachfolgend haben wir die Frage nach dem »Wozu«, wie sie sich in der suizidalen Erfahrung stellt, und die Selbstbestimmung, wie sie in der suizidalen Verfassung erfahren wird, ausführlich thematisiert. Damit stellt sich nun die Frage, welche praktischen Konsequenzen aus dem phänomenologischen Verständnis für den konkreten Praxisalltag gezogen werden können. Worin also besteht der Gewinn unserer Untersuchung? Schließlich ermöglicht die phänomenologische Methode nicht nur ein spielerisches Außer-Kraft-setzen selbstverständlich erscheinender Gewohnheiten, sondern insbesondere den Aufweis der sonst präreflexiv bleibenden Gegebenheiten (und gegebener, aber eventuell änderungsfähiger Gewohnheiten) der aktuellen Erfahrung. 645 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

Ein Gewinn für die tägliche Praxis einer »Suizidberatung« ist also berechtigterweise zu erwarten. Die grundlegend alltagspraktische Frage für den suizidalen Menschen und die ihm zugewandten Menschen, die sich mit ihm in gemeinsamen Interpersonalsituationen befinden, ist die Frage, ob denn wirklich keine andere Hilfe mehr in Sicht ist. Anders gefragt heißt dies: Ist es die rechte Zeit, sich das Leben zu nehmen oder nicht? In philosophischer Perspektive ist diese Frage insbesondere von Friedrich Nietzsche (1844–1900) gestellt worden. Nietzsche hat dabei eine Perspektive zum Suizid eingenommen, die in gewisser Hinsicht auch an die stoische Philosophie erinnert. Für Nietzsche ist bekanntlich der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen das neue Schwergewicht und löst das alte Schwergewicht – den christlichen Gott – ab. So radikalisiert er zwar den Nihilismus und die Transzendenzlosigkeit des menschlichen Daseins mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr, will aber andererseits aufgrund der Verwandlung, die das Denken dieses Gedankens provoziert, zudem umfassender Ja-Sager zum Leben werden. Im Unterschied beispielsweise zu Kleist, der unter dem Verlust transzendental-metaphysischer Absicherung und Geborgenheit des menschlichen Daseins leidend in eine Vieldimensionalität auseinander tritt, die durch die geglaubte Transzendenz und das ewige Leben nach dem Tod nicht mehr zureichend gekittet werden kann, sieht Nietzsche im gesichtslosen und zufälligen Schicksal genau einen solchen Kitt für eine ästhetisierte Existenz – jedoch unter der Voraussetzung, das zu ihm »Ja« gesagt werden kann in der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Diese ewige Wiederkehr des Gleichen erinnert zugegebenermaßen an das buddhistische Konzept des Karma. Auch dieses Konzept behauptet eine ewige Wiederkehr des Lebens, wobei das aktuelle Leben vollkommen durch das eigene Karma bestimmt ist (Ryogi 1995, S. 80–86). In seiner Eingeflochtenheit in das Schicksal, in welchem der einzelne Mensch immer wieder ein Ja-Sager werden muss, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit des Heraustretens aus dem Schicksal. Muss denn der Mensch immer ein Ja-Sager zum eigenen Dasein bleiben? Dies ist nach Nietzsche keineswegs so. Der Ausweg aus dem Schicksal ist für ihn der Suizid, welches ein »Nein« zum Leben und ein »Ja« zum Tod ist. In diesem Sinne des möglichen Auswegs wird Nietzsches 157. Aphorismus aus »Jenseits von Gut und Böse« verständlich: »Der Gedanke an Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.« (Nietzsche 1994, Bd. 3, 646 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Sterben zur rechten Zeit?

S. 94) Nietzsche greift hier aber zugleich auch die Position der Stoiker auf, die ebenfalls in der Freiheit zum Tode ein »Trostmittel« im Sinne eines »autopädagogischen Tricks«, eines hypomochlion der gelingenden Lebensführung sehen. Dennoch kann dieser mögliche Ausweg nicht über den Ernst der Lage hinwegtäuschen. Dies gilt insbesondere auch für die Frage, ob denn nun der Suizid wirklich ein Heraustreten aus dem Schicksal oder doch vielmehr das letztgültige schöpferische Ja-Sagen zum Leben ist. Für Nietzsche ist er beides und steht als freiwilliger Tod dem natürlichen Tod gegenüber. Für die ästhetisierte Existenz, welche aus der »metaphysischen Umklammerung« befreit und einem beinahe zufälligen Schicksal unterworfen ist, ist nämlich der Suizid, so können wir hier im Anschluss an Nietzsche formulieren, zugleich das tiefste JaSagen zum eigenen Schicksal. Der vollbringende Tod ist, wenn wir Nietzsche hier folgen, für uns (post-)moderne Menschen der freiwillige Tod, in welchem wir sogar noch unseren eigenen Tod als Schicksal schaffend hervorbringen. In gerade diesem Sinn schreibt Nietzsche im Zarathustra: »Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.« (Nietzsche 1994, Bd. 2, S. 159) Während der natürliche Tod für Nietzsche demnach der Tod zur »unrechten Zeit« ist, ist der gewollte Tod für Nietzsche der »Tod zur rechten Zeit«. Dieser »freie Tod« ist für Nietzsche ein ausnehmend positives Geschehen, er ist für ihn ein »Fest«. So kommen wir notwendigerweise zu der Frage: »Und wann werde ich wollen? – Wer ein Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben.« (S. 159) Wann aber mag das sein? Jaspers meint mit Bezug zu Nietzsche: Der rechte Zeitpunkt sei wohl, wenn der Mensch noch »er selbst« ist. Aber wann ist der Mensch noch er selbst? »Das aber ist, wenn der Zeitpunkt tatsächlich bestimmt werden sollte, entweder nur in allgemeinsten, unbestimmten Wendungen zu sagen – deren Anwendung im Einzelfall, wenn sie argumentierend vollzogen würde, wohl das Ergebnis hätte, dass es stets noch nicht oder jederzeit schon die rechte Zeit sei.« (Jaspers 1950, S. 325) So verstanden wird sich Nietzsches Rede von der rechten Zeit ihrerseits zum widersprüchlichen Geheimnis. Hierin finden wir unsere phänomenologische Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung und der in ihr sich ergebenden Erfahrung von Selbstbestimmung wieder, wobei sich letztere derart in die präreflexiven Bedingungen der suizidalen Erfahrung eingekapselt zeigt, dass eine eindimensionale Einschätzung der Suizidhandlung als selbst647 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

bestimmt nicht möglich ist. Dies bedeutet aber auch, dass offenbar aus dem phänomenologisch sauberen Verständnis der suizidalen Erfahrung keine allgemeinen Kriterien abgeleitet werden können, die es für einen Außenstehenden (wie beispielsweise einen Suizidberater) mit Sicherheit erkennbar machen, ob es nun die rechte Zeit für den betreffenden Anderen sei, sich zu töten. Bedeutsamer erscheint insofern, dass für Nietzsche die rechte Zeit gekommen ist, wenn es etwas gibt, für das sich der Mensch zu opfern vermag. Hatten wir doch bereits gezeigt, dass es das Merkmal des Sichopferns ist, an dem sich das Ausmaß der Übereinstimmung der Suizidhandlung mit dem skopos der Lebensführung differenzieren lässt. Nun ist allerdings zuzugeben, dass keineswegs spontan und sofort das eigene Leben verlangt wird, wenn ein Mensch etwas für sich Wichtiges im Leben gefunden hat. Im Gegenteil gilt es ja zunächst, für dieses Wichtige zu leben. Nietzsche scheint also vielmehr gemeint zu haben, dass man für dieses Wichtige sein Leben zu wagen bereit sein muss. Aber, so müssen wir fragen, gehört zu diesem Wagnis nicht auch die Unsicherheit, ob der Tod denn nun wirklich kommt? Schließlich gilt im Wagnis: entweder ist es ein Wagnis, dann kommt der Tod nicht notwendigerweise, obwohl wenn er kommt, so kommt er im Bereitschaftsmoment; oder es ist sicher, dass der Tod kommt, dann ist das eigene Verhalten aber ohne jedes Wagnis, sondern vorherige Gewissheit. Letztlich zeigt sich also, dass der »freie Tod für Ziel und Erben«, wenn er denn als Wagnis strukturiert sein soll, nicht an das Sich-töten gebunden ist, sondern an eine bestimmte Weise des Lebens. Denn in jeder Art des Sterbens kann dieser »freie Tod für Ziel und Erben« gesehen werden, auch im plötzlichen Unfalltod und sogar in der suizidalen »Reise nach Jerusalem«. Entscheidend ist vielmehr, dass der jeweilige Mensch überhaupt »Ziel und Erben« hat, für die er sein Leben zu wagen in der Lage wäre. Letzteres ist individuell und symbolisiert die Struktur des Eingebundenseins in leiblicher, situativer, interpersonaler und lebensgeschichtlicher Hinsicht bezüglich der Frage »Wozu«. Die Ästhetisierung des Lebenssinns befreit demnach nicht davon, dass dasjenige, was das Leben sinnvoll macht, auch einjeniges ist, für welches das Leben geopfert werden könnte. Im Gegenteil: in der Erfahrung der eigenen Sterblichkeit wird dem aus der metaphysischen Umklammerung entlassenen Menschen unmissverständlich deutlich, dass er sein Leben nur einmal zu opfern vermag und dass das jeweilige Wagen des eigenen Lebens auch den Untergang bedeuten kann. Nicht anders ergeht es 648 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Sterben zur rechten Zeit?

ihm in der suizidalen Erfahrung und im Wissen darum, sich den Tod geben zu können. Unterschiedlich ist allerdings, dass in der suizidalen Erfahrung der bisherige Lebenssinn fragwürdig geworden ist: sei es, da er als nicht mehr erfüllend oder als nicht mehr erfüllbar erfahren wird. So wird die Aufforderung zum »freien Tod« zu einer Aufforderung, sich über den Sinn des eigenen Daseins zu vergewissern und – angesichts der Möglichkeit des Sich-töten-könnens und der Entlassung aus der metaphysischen Umklammerung – zu erkennen, dass die Art und Weise, das eigene Leben zu führen (das »Wie« des Lebens), als einzige Antwort auf die Frage nach dem »Wozu« gegeben werden kann. Dies beinhaltet zugleich, das Leben ab sofort und künftig auch auf die erkannte Art zu führen – auch wenn dies dann erfordert, das eigene Leben für dieses »Wozu« wagen zu müssen. Nicht jeder besonnene Suizid ist also alleine schon deshalb selbstbestimmt, da er besonnen ist (womit zugleich gesagt ist, dass Besonnenheit eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für einen zureichend selbstbestimmt entschiedenen und vollzogenen Suizid ist). Vielmehr stellt sich die Frage nach dem Prüfstein, an welchem der besonnene Mensch diese Entscheidung prüft. Dieser Prüfstein kann aber (auch wenn der Betreffende Kants kategorischen Imperativ nutzt, um die Widerspruchslosigkeit seiner Handlungsmaxime zu prüfen) nicht nur ein theoretisches Herumdenken sein, sondern muss eine lebenspraktische Erprobung beinhalten. Dies ist hinsichtlich der Suizidentscheidung insofern bedeutsam, da die Entscheidung zum Sich-töten eben eine nachfolgende lebenspraktische Erprobung der Übereinstimmung der durchgeführten Handlung mit dem skopos der eigenen Lebensführung, welche die beabsichtigten und unbeabsichtigten (und unvorhergesehenen) Folgen des eigenen Wirkens auf die eigene Situation und Erfahrung einbezieht, nicht möglich sein wird. Da also jedes praktische »Ja« zum Sich-töten (mit hoher Wahrscheinlichkeit, je nach Suizidtechnik) eine endgültige Antwort im eigenen Leben darstellt, kann die tatsächliche Übereinstimmung des Suizids mit der eigenen Lebensführung nur im Vorhinein geprüft werden. Letzte Zweifel und Unsicherheiten hinsichtlich der Einschätzung des Grades der Übereinstimmung können also aus prinzipiellen Gründen niemals ausgeräumt werden. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Entscheidung zum Suizid nicht dennoch getroffen werden kann. Es bedeutet aber sehr wohl, dass diese Unsicherheiten und Limitationen in einer Suizidberatung nicht unterschlagen werden dürfen. 649 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

Derzeit gibt es entsprechend des kulturellen Dispositivs in den transatlantischen Gesellschaften eigentlich nur zwei Formen der Suizidberatung. Zum einen die der psychiatrischen und psychotherapeutischen Landschaft angegliederte und institutionalierte Suizidprophylaxe, welche im idealen Fall in der konkreten Beratungssituation eine »weltanschauliche epoché« hinsichtlich der Frage der rechten Zeit einnimmt. Hierbei ist zu beachten, dass der in der institutionalisierten Suizidprophylaxe praktisch Tätige diese Urteilsenthaltung nur unter dem Einverständnis vornimmt, dass die Beteiligten im Beratungsprozess am Leben bleiben (obwohl sie sich durchaus selbst töten könnten). Dennoch ist der in der Suizidprophylaxe praktisch Tätige, so beispielsweise in Deutschland und Österreich, durchaus juristischerseits verpflichtet und berechtigt, in transparenter und fremdüberprüfbarer Weise Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, die im Falle einer Suizidhandlung das Leben des Suizidwilligen auch gegen seine explizierte Intention absichern. Ausgehend von der phänomenologischen Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung ist anzuerkennen, dass solche Zwangsmaßnahmen keineswegs unproblematisch sind. Denn schließlich droht eine solche suizidprophylaktische Form der Suizidberatung zu unterschlagen, dass jede Suizidentscheidung, die aus der suizidalen Erfahrung heraus getroffen wird, immer auch einen minimalen Rest von Selbstbestimmung aufweist. Der Aufweis der in der suizidalen Erfahrung eingekapselten Form der Selbstbestimmung macht aber deutlich, dass eine zwangsweise Fremdbestimmung des suizidwilligen Menschen durch andere Menschen nicht unreflektiert in Kauf genommen werden sollte. Insbesondere die Beteiligten einer institutionalisierten Suizidprophylaxe sind aufgefordert, sich der Grenzen und der von ihnen her zu leistenden Beschränkungen zu vergewissern, die sich aus den Erfahrungen derjenigen ergeben, für deren Hilfe und Unterstützung sie antreten. Dabei findet sich dieser minimale Rest von Selbstbestimmung zumindest auf eine ganz unbeabsichtigte Weise in der institutionalisierten Suizidprophylaxe berücksichtigt, was bereits dadurch entsteht, dass ein zum Suizid entschlossener Mensch üblicherweise in der Lage ist, den Hilfsangeboten aus dem Weg zu gehen oder die ihm gegenübersitzende Person in »falscher Sicherheit« zu wiegen. Unbeabsichtigt wird er hierbei durch seine soziale Isolation unterstützt, welche jedoch zugegebenermaßen auch eine häufige Vorwegnahme einer suizidalen Erfahrung darstellt. Allerdings stellt sich die 650 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Sterben zur rechten Zeit?

Frage, ob denn solche unreflektierten (und fraglich unbeabsichtigten) »Schlupflöcher« im institutionalisierten Praxisalltag bereits ausreichend sind, um dem kulturellen Dispositiv der Selbstbestimmung folgend dem suizidalen Menschen zu einer erweiterten Selbstbestimmung zu verhelfen. Diese Frage aufgreifend, welche insbesondere im Interesse der Selbstbestimmung in verlässliche, transparente und praktikable Weisen eines unterstützenden Miteinanders aufgelöst werden sollten (Birnbacher 2006), hat sich eine geradezu gegenläufige Bewegung der Suizidgewährung gebildet. Dabei erscheint es in letzter Konsequenz unerheblich, ob hier auf eine aktive oder passive Art der Suizidgewährung gedrungen wird, da auch die passive Art der Sterbehilfe eindeutig und beabsichtigt dem Ziel des Sterbens verpflichtet ist (Schramme 2007; vgl. auch Hoerster 2009) bzw. das Leben des Betreffenden für die Art der Hilfe absichtlich gewagt wird. Vielmehr steht ja insgesamt die Frage der Beihilfe zur Debatte, welche entsprechend der gegebenen Situationen zu thematisieren ist. Insbesondere in den Niederlanden, der Schweiz und Oregon gibt es mittlerweile etablierte, juristisch abgesicherte und transparente Wege einer aktiven Suizidbeihilfe. Auch hier unternimmt der praktisch Tätige (und potentielle Suizidhelfer) in der Beratungssituation eine vergleichbare Urteilsenthaltung unter dem Einverständnis, dass die Beteiligten zunächst am Leben bleiben (obwohl sie sich auch selbst töten könnten und hierbei vielleicht späterhin auch praktische Unterstützung erhalten) (vgl. Wedler 2008). Es gilt eben auch aus der Sicht der potentiell aktiv suizidgewährend Tätigen, wie Wittwer treffend zusammenfasst: »Bevor einem Menschen dabei geholfen werden dürfte, sich auf möglichst schmerzfreie Weise zu töten, müsste sorgfältig geprüft werden, ob seine Lebensumstände nicht so geändert werden könnten, dass er den Wunsch zu sterben aufgäbe.« (Wittwer 2009, S. 94) So nachvollziehbar diese Position zunächst erscheint, gelangt sie aber dennoch sofort in Schwierigkeiten, da eben eine solche Prüfung (wie bereits wiederholt argumentiert) nur durch das fortgesetzte Leben erfolgen kann. Dann aber wäre diese Überprüfung – wenn man es denn mit der Sorgfalt Ernst nehmen würde – zu keinem Zeitpunkt des Lebens abgeschlossen. Im Gegenteil müssen wir anerkennen, dass diese »Prüfung«, ob wir selbstbestimmt zu einem »guten Leben« gelangen können, ja gerade die stete Aufgabe des menschlichen Lebens ist. In dieser sorgfältigen Prüfung nun würde der suizidale Mensch zu einem gegebenen Zeitpunkt die Prüfung ab651 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

brechen, wenn er sich das Leben nimmt. Schließlich erfordert der Suizid ein klares »Nein« auf die Frage, ob die Lebensumstände nicht auch wieder besser werden könnten, und impliziert damit auch das Abblenden der radikalen Offenheit des Lebens und der Unvorhersehbarkeit des Rettenden. Wir finden uns also in der bereits angedeuteten »vertrackten Situation« wieder, welche wir mit dem Hinweis kommentierten, dass eine phänomenologische Beschreibung der Struktur der suizidalen Erfahrung und der in ihr eingekapselten Erfahrung der Selbstbestimmung weiterhelfen würde. In der Situation einer Suizidberatung gibt es, wenn wir die phänomenologische Beschreibung der Erfahrungsstruktur der Selbstbestimmung in der suizidalen Erfahrung akzeptieren, zwei Fragen, die es zu beantworten gilt: a) ob es eine benennbare Form der praktischen Unterstützung (unter Absehung der Suizidbeihilfe) für den Betreffenden gibt, welche es aus seiner Sicht möglich machen könnte, die (die suizidale Erfahrung ermöglichende) Verzweiflung vielleicht doch zu verändern; b) ob es ein explizierbares »Wozu« des Lebens für den Betreffenden gibt, wofür sich aus seiner Sicht das eigene Leben zu wagen (oder gegebenenfalls auch zu opfern) lohnt. Die gemeinsame Reflexion auf die aktuelle Lebenssituation kann entlang dieser Fragen die präreflexiven Gegebenheiten aufdecken, die den Erfahrungshintergrund der suizidalen Erfahrung darstellen und zugleich anerkennen, dass es ein sinnstiftendes »Wozu« des Lebens gibt, für welches es nicht nur zu leben lohnt, sondern eben auch das Leben zu wagen gilt. Die in dem Beratungssprozess involvierten Personen werden hinsichtlich dieser Fragen nicht innerhalb von »fünf Minuten« zu einem Ergebnis kommen können, welches sie anschließend auch Dritten gegenüber vertreten könnten. Jedoch ist erwartbar, dass es ein absehbares Ende einer solchen sorgfältigen Prüfung geben wird. Die Dauer, der Verlauf und das Ergebnis dieses Beratungsprozesses sind dabei sicherlich individuell, kann aber angesichts der Erfahrungsstruktur der suizidalen Erfahrung, wenn auch mit einigen Unsicherheiten, präjudiziert werden. Dabei scheinen vier Extreme vorstellbar: a) Die suizidale Erfahrung wird im gemeinsamen Gespräch als Krise erkennbar, wobei der Prozess zudem in eine Behandlung des Erfahrungshintergrundes der suizidalen Erfahrung mündet (z. B. Schmerzzustände, Rauschzustände, Krisen infolge psychischer oder interpersonaler Störungen). Im besten Fall kann die Behandlung erfolgreich den Erfahrungshintergrund so verändern, so dass es sich für den 652 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Sterben zur rechten Zeit?

Betreffenden wieder für sein formuliertes »Wozu« zu leben lohnt. Diese auf den ersten Blick eindeutig scheinende (und sicherlich häufigste) Situation kann sich aber nun in zwei weitere Extreme auftrennen. b) Dabei gibt es nun gerade bei diesem Beratungsergebnis den nicht ungewöhnlichen Fall, dass der die suizidale Erfahrung vorbestimmende Hintergrund nicht ohne das Wagnis des Lebens verändert werden kann. Dies gilt insbesondere bei Menschen, die sich infolge verschiedenster körperlicher Erkrankungen in Leidenszuständen (wie insbesondere Schmerzzuständen) an ihrem Lebensende befinden, welche mit der zum gegebenen Zeitpunkt verfügbaren medizinischen Leistung im Wachzustand nicht mehr zureichend gelindert werden können. Diese unter dem Begriff einer »terminalen« oder »palliativen Sedierung« gefasste Form einer Sterbehilfe lässt das (bereits eingesetzte) Sterben des Betreffenden insbesondere unter der vom Betroffenen vorab festgelegten (und vom Menschen üblicherweise gewünschten) Maßgabe einer Schmerz- und Leidensfreiheit unter Einsatz potentiell tödlicher Dosen von sedierenden Schmerzmitteln (z. B. Opiaten) geschehen (Birnbacher 2006; Wedler 2008). Es ist so gesehen ein Wagen des Lebens für einen schmerz- und leidensfreien Zustand, welcher als »Wozu« des Lebens vom Betreffenden in seiner gegebenen Situation (beispielsweise im Beratungsprozess) ausformuliert werden konnte (oder beispielsweise im weiteren Vorfeld dezidiert durch den Betreffenden expliziert wurde, Stichwort: Patientenverfügung). Es ist zudem die gemeinsame Anerkennung der anderweitigen Unveränderlichkeit der verzweifelnden Umstände, welche üblicherweise an der leiblichen Eingebundenheit des Menschen festgemacht werden können (Stichwort: terminale Erkrankung; siehe beispielsweise die Sterbehilfe bei S. Freud). c) Ebenfalls nicht ungewöhnlich ist jedoch, dass der Betreffende zwar die Behandlungsmöglichkeiten annimmt, ohne aber mit Hilfe der Behandlung im absehbaren Verlauf eine Lebensführung erreichen zu können, die vom Betreffenden als »Wozu« seines Lebens anvisiert war (wie es beispielsweise im Falle chronischer (psychischer), auf absehbare Zeit aber eben gerade nicht tödlicher Erkrankungen nicht selten der Fall ist). Der Betreffende mag dann aktiv vom Suizidberater die praktisch tätige Unterstützung bei der Herbeiführung des eigenen Todes anfordern. Bei der hier anvisierten Todesart handelt es sich nun erkennbar jedoch nicht um einen Suizid, den man eben definitionsgemäß selbst ausführen muss, sondern um ein Getötet-werden (auch 653 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

wenn diesbezüglich gerne vom »assistierten Suizid« gesprochen wird) (vgl. Gehring 2006). In diesem Fall, in welchem dem Betreffenden der potentiell mögliche Suizid nicht von der Hand gehen will, würde der angefragte Suizidberater nun aber tatsächlich ein eigenes Motiv benötigen, um den an ihn appellierenden Anderen auch töten zu können (vgl. zu diesem Argument z. B. Lauter 1998). Das Argument der Selbstbestimmung entfällt aber gerade deshalb, da, wie Petra Gehring ausführt, der suizidale Mensch es ja eben gerade nicht selbst tun will. Dieser Hinweis ist auch aus der phänomenologischen Beschreibung der suizidalen Erfahrung insofern nachvollziehbar, da es ja gerade die erwartbare Selbstwirksamkeit der (eben für das eigene Erleben nicht folgenlos bleibenden) eigenaktiven Suizidhandlung ist, die dem Sichtöten-können seine rettende Qualität verleiht. Das angefragte Getötetwerden müsste also selbstwirksam provoziert werden (beispielsweise im Duell, sei es nun ritualisiert oder im Kampf »Mann gegen Eisenbahn«). Wenn aber die »Beihilfe zur Selbstbestimmung« als Argument entfällt, müssten für den Suizidberater andere Argumente verfügbar sein, um dem suizidalen Menschen den Tod zu geben. Derartige Argumente sind, wenn wir vom oben unter b) genannten Fall absehen (bei dem das Motiv des Sterbehelfers vom Wissen der anderweitigen Unveränderlichkeit des Leidenszustandes im Angesicht des kurzzeitig absehbaren Versterbens des Betroffenen in Kenntnis der ärztlichen Kunst zum gegebenen Zeitpunkt gespeist wird, so beispielsweise die Motivlage von Max Schur bei seiner Sterbehilfe bei Siegmund Freud; Schur 1973, S. 620), jedenfalls unter dem Dispositiv der Selbstbestimmung und unter den üblichen Normalsituationen unserer transatlantischen Gesellschaften nicht wirklich verfügbar. In diesem Fall c) nun müsste der zum Suizid entschlossene tatsächlich auf die »Schlupflöcher« der Suizidberatung zugreifen, worin sich zum einen seine (selbstbewusste) Entschlossenheit, zum anderen aber auch seine (fortgesetzte) Verzweiflung demonstrieren würde. Die Praxis der Suizidberatung kann hierin ihre humanisierende Fähigkeit zum Sein-lassen nachweisen, da die in ihr Tätigen diese Grenze ihrer beratenden Praxis explizit vergewissern und gegenüber Dritten, beispielsweise mit dem Verweis auf die Struktur der suizidalen Erfahrung, argumentieren. Gerade für eine solche (humanisierende) Vergewisserung ist die phänomenologische Methode geeignet, da sie die ansonsten unreflektiert bleibenden, änderungsfähigen Gewohnheiten der eigenen Praxis aufzufinden hilft. Droht doch sonst die Suizidberatung 654 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Sterben zur rechten Zeit?

immer wieder in eine überwachungsartige, sterbepolitische Institution abzudriften, deren skopos der täglich geübten Praxis dann nicht mehr die wohl verstandene Selbstbestimmung des Beratenen ist, sondern anderweitige, dem Dispositiv der Selbstbestimmung widerstreitende Maximen. Damit ist auch gesagt, dass die Gemeinschaft für den suizidalen Menschen eine Verantwortung diesbezüglich hat, die im Beratungsprozess aufgefundenen Änderungsanforderungen nicht dadurch zu missachten, dass der Erfahrungshintergrund der suizidalen Erfahrung beim Betreffenden auch noch verschärft wird. Diese an sich selbstverständlich erscheinende Tatsache rekurriert darauf, dass der Sterbeappell tatsächlich die unzureichend reflektierte und im weiteren Leben unzureichend geprüfte Explikation der hilfesuchenden Zuwendung entsprechend der präreflexiven Vorzeichnung seiner suizidalen Erfahrung ist. Der Sterbeappell ist ja gerade, und dies ist aus phänomenologischer Sicht ein wesentlicher (da von der suizidalen Erfahrung nicht abkoppelbarer) Punkt, durch den Betreffenden in Entsprechung seiner suizidalen Erfahrung gehandelt, ohne aber die präreflexiven Voraussetzungen seiner reflexiven Vergewisserung (der Verzweiflung, des Sterbewunsches in der Ansicht, dass der eigene Tod die letzte Rettung darstellt) zureichend erkannt zu haben. Genau in dieser Situation hat der Beratungsprozess seine prototypische Aufgabe, um den Einstellungswechsel zu ermöglichen und damit zu einem selbstbestimmten Handeln durch den Betroffenen überhaupt beizutragen. Kritisch wäre es, wenn hingegen die situativen (medizinischen, psycho- und soziotherapeutischen, pflegerischen) und interpersonalen Voraussetzungen für einen solchen Suizidberatungsprozess entfallen. Denn eine als selbstverständlich durch den Betreffenden erwartbare Unterstützung in seiner Selbstbestimmung, wie sie die Suizidberatung explizit formuliert, muss sich schließlich auch im Alltag des Betreffenden erproben können. Es ist zuzugeben, dass in bestimmten Ausnahmesituationen die zwischenmenschliche Selbstverständlichkeit, dass der Erfahrungshintergrund der suizidalen Erfahrung beim Betreffenden nicht auch noch verschärft wird, hinfällig sein kann. Mögliche derartige Situationen sind dabei vielfältig vorstellbar, so beispielsweise in der Folter oder im gemeinsamen Überlebenskampf. Diese Situationen sind aber nur in den »entlegensten Regionen« unserer heutigen transatlantischen Gesellschaften auffindbar, womit gesagt ist, dass die Situationen eben ge655 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

rade von der üblichen zwischenmenschlichen Unterstützung abgeschnitten sind. Beispielsweise kann ein solches Motiv generiert werden, wenn ein Mensch bei einer gemeinsamen Achttausenderbesteigung im Himalaya die anderen Mitwanderer infolge verschiedener bei einem Absturz zugezogener Verletzungen seinerseits in direkte Lebensgefahr bringt, wenn sie den Betreffenden nicht zurücklassen würden. Hier, in dieser entlegenen Situation, sind die Verletzungen für den Betreffenden also sicher tödlich, auch wenn sie es nur aufgrund der Entlegenheit sind. Ganz offensichtlich finden sich aber in diesen entlegenen Situationen übergeordnete Sinnformationen, die den in dieser Grenzsituation verbundenen Menschen das Opfer ihres Lebens gleichermaßen schlüssig macht (wie beispielsweise das Überleben anderer). Sicherlich kann eine solche entlegene Situation auch »künstlich« hergestellt werden, beispielsweise wenn einem schwerst pflegebedürftigen Menschen an seinem Lebensende eine angemessene palliative Behandlung aktiv durch die pflegenden/behandelnden Anderen versagt wird. Diese künstlich entlegene Situation mag dann andere Menschen wiederum zu einem tödlichen Mitleid anregen und kann zu erstaunlichen Argumenten führen, wenn beispielsweise mitgeteilt wird, dass das Töten ja deshalb gerechtfertigt sei, da die palliative Behandlung verweigert werde. Inwiefern aber derjenige, der den Anderen töten will, nicht selbst die palliative Behandlung initiieren könnte (und geradezu alltagspraktisch unter Verweis auf Fall b) dazu verpflichtet wäre), bleibt unter unseren gesellschaftlichen Voraussetzungen unklar – jedenfalls so lange, wie wir uns nicht auf der Flucht vor raubenden, vergewaltigenden, folternden und mordenden Banden befinden. d) Der suizidale Mensch lässt sich auf den Beratungsprozess zum gegebenen Zeitpunkt nicht ein und bleibt an einer sofortigen und selbst vollzogenen Tötung (noch in der Beratungssituation) interessiert, ohne seine Gründe genauer darlegen zu wollen. Im Rückgriff auf die Beschreibung der Erfahrungsstruktur des suizidalen Menschen ist dann zwingend anzunehmen, dass der Betreffende die ihn in seiner Selbsteinschätzung bestimmenden (noch präreflexiv bleibenden) Gegebenheiten nicht zureichend in ihrer ihn vorbestimmenden Qualität zu erkennen vermag. Eine tiefergreifende Selbstbestimmung der anvisierten Suizidhandlung, die sich auch aus einer über das aktuelle Befinden und die unkorrigierbare persönliche Überzeugung des eigenen Tods als Rettendes hinausgehenden Motivlage gewinnt, ist insofern nicht erkennbar, so dass auch Zwangsmaßnahmen zur fürsorgenden Sicherung 656 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Sterben zur rechten Zeit?

des Lebens des Betreffenden geboten sind. Jedenfalls dann, wenn es im Miteinander mit der Selbstbestimmung des Einzelnen wirklich Ernst gemeint ist – und nicht nur eine oberflächliche und vordergründigsprunghafte Entscheidung bereits als selbstbestimmte Lebensführung qualifizieren soll. In der Praxis der hier beschriebenen Suizidberatung gilt also (in allen vier Extremen) der therapeutische Blick, der sagt: Du bist weit mehr, als gerade jetzt. Dieser »optimistische« Grundzug sieht auch dort noch eine Offenheit, wo der andere Mensch bereits verzweifelt. Der in dieser Praxis Tätige hält sich – gerade auch in Grenzsituationen – an das hölderlinsche Motto, dass das Rettende immer auch dort zu finden ist, wo es besonders benötigt wird. Dieser »Optimismus« gewinnt sich aber nicht aus einer schlichten Uminterpretation des Gegebenen, sondern kann allenfalls die völlige Hoffnungslosigkeit vermeiden, da die abgrundtiefe Verzweiflung immer auch ein Hinweis auf ein mögliches Rettendes im Leben ist, welches eine Uminterpretation des Gegebenen mit sich bringen würde. Dies kann beispielsweise auch das Wissen um das Sich-töten-können sein, welches oftmals mit dem Vergewissern dieser Möglichkeit bereits unnötig wird, da dieses Wissen den betreffenden Menschen aus der Verzweiflung herauszuhebeln vermag. Und es kann auch das Wissen des suizidberatend Tätigen darum sein, dass der Beratene eventuell doch den Suizid außerhalb der Beratungssituation wählen wird. Es ist aber gerade dieses Wissen, welches der Suizidberater mit seinem »therapeutischen Blick« aushalten muss, um die in der besonnen überlegten und gemeinsam im Wissen der Vorübergehendheit der Verzweiflung und der Möglichkeit des Sich-opferns erprobte, auf absehbare Zeit durch den Betreffenden leistbare (und bereits geleistete) Lebensführung auch tatsächlich gemäß des kulturellen Dispositivs der Selbstbestimmung prüfen zu können. Die Freiheit zum Suizid ist ebenso anzuerkennen wie die Minimalität der Selbstbestimmung im Sich-töten. Die Grenzen der Suizidberatung anzuerkennen bedeutet auf die aktuelle Praxis der institutionalisierten Suizidprophylaxe gewendet keine Revolution, nicht mal eine richtige Revolte. Es bedeutet aber, die Gebundenheit der Selbstbestimmung anzuerkennen. Dies muss bis hin zum Suizid abseits der Beratungssituation gehen können, jedenfalls dann, wenn der phänomenologischen Beschreibung der Erfahrungsstruktur, so wie wir sie hier dargelegt haben, gefolgt wird. Denn nur diese Anerkennung macht die suizidale Erfahrung für den 657 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

Beratenen auch zu einer »existenzphilosophisch glücklichen Situation«. Schließlich wird erst darin die Aufforderung zum (nietzscheschen) »freien Tod« zu einer Aufforderung, sich über den Sinn des eigenen Daseins zu vergewissern und – angesichts der Möglichkeit des Sich-töten-könnens und der Entlassung aus der metaphysischen Umklammerung – zu erkennen, dass nur die Art und Weise, wie das eigene Leben geführt wird (das »Wie« des Lebens), die Antwort auf die Frage nach dem »Wozu« geben kann. Dies beinhaltet freilich zugleich, das Leben ab sofort und künftig (mit der notwendigen Unterstützung und gegen erwartbare Widrigkeiten) auf die erkannte Art zu führen. Auch wenn dies dann erfordert, das eigene Leben für dieses »Wozu« wagen zu müssen. In diesem simplen Verweis auf eine der Struktur der suizidale Erfahrung entsprechenden Suizidberatung steckt eine gewisse erfrischende Naivität der hier vertretenden Haltung. Denn es wird hierin davon ausgegangen, dass ein Sich-verstanden-fühlen dem suizidalen Menschen in seiner widersprüchlichen Verfassung von Verzweiflung und Sich-töten-können hilft, um seine suizidale Erfahrung als Grenzsituation, als »existenzphilosophisch glückliche Situation« aufzunehmen. Lässt er seine suizidale Erfahrung als einen solchen »Nullpunkt« aufbrechen, kann er sich von einem neuen Rettenden auf eine Weise ergreifen lassen, so dass sich seine suizidale Erfahrung in ein ursprünglich neues, erprobbares Selbstwerden wenden kann. (Dies gilt im Übrigen auch für den suizidberatend Tätigen, da er eben gerade im dennoch vollzogenen Suizid eines seiner Beratenen die eigene Praxis in ihrer ansonsten unreflektiert bleibenden Gebundenheit an gewisse Vorannahmen erkennen kann.)

7.

… und alles hat seine Zeit

»Der Suizidant indessen ist noch da, wenn ›er‹ da ist, er steht mit einem Bein in der Logik des Lebens, mit dem anderen in der Logik des Todes. Wo sich die beiden Systeme kreuzen, wird das Ausharren zur Bermuda-Existenz.« (Burger 1988, § 236) Kann der Mensch sein Leben tatsächlich auf längere Sicht als ein suizidales führen, wie Hermann Burger hier darstellt, oder misslingt ein solches Ausharren in der »Bermuda-Existenz«, da sich der Betreffende (und dies gilt bekanntlich auch für Burger, der sich 1989 das Leben nahm) früher oder später entscheiden wird, entweder das Leben wieder lieb zu haben oder den 658 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

… und alles hat seine Zeit

Suizid zu wählen? Sicherlich gewinnt das suizidale Verständnis des eigenen Daseins in diesem Ausharren eine Reichweite, die über die vorübergehende Qualität der Krise hinausgeht. Es stellt sich also abschließend für unsere phänomenologische Untersuchung die Frage, ob die suizidale Erfahrung nicht nur die Frage nach dem »Wozu« des eigenen Lebens stellt, sondern ihrerseits eine eigene Antwort auf diese Frage bereithält, die den Betreffenden nicht in den Suizid hineinweist. Eine mögliche, wenn auch ihrerseits nur vorübergehende Antwort findet sich im Rückbezug auf Montaigne darin, dass in der steten Präsenz des Wissens darum, sich töten zu können, eine identitätsschaffende Vergewisserung der eigenen Person als diese Person gewonnen werden kann. Jedoch bricht in dieser Wiedererkennung zugleich eine irritierende Unbestimmbarkeit im eigenen Leben auf, die sich insbesondere in zwei Punkten findet: hinsichtlich der Frage, ob es denn eine rechte Zeit für den Suizid gibt; hinsichtlich der Frage, was nach dem Tode einem selbst gegeben sein wird. Davon ganz unbenommen stellen sich Fragen nach dem »Wozu« des Lebens, wenn man sich aus dem Leben zu entfernen vermag, und nach dem Eigenanteil bei dem Gewinn eines solchen (mehr oder weniger) erfüllenden Lebenssinns. Montaigne formuliert denn auch das »Sterben lernen« als die eigentliche Aufgabe eines guten (philosophischen) Lebens, da nur darin eine Übereinstimmung der Art und Weise des Sterbens und der Art und Weise des Lebens gesichert werden kann. Hintergründig geht es Montaigne dabei um die Würde des (durch und durch unperfekten) Menschen, die er eben gerade auch im eigenen Sterben zu bewähren vermag. »Darum bildet diese Schlußszene den Prüfstein, an dem sich alle Handlungen unseres Lebens messen lassen müssen. Sie ist der Tag der Tage, der Richttag aller andern. ›Dieser Tag‹, sagt einer der Alten, ›spricht über all meine vergangnen Jahre das Urteil.‹ Dem Tod stelle ich deshalb die Bewertung der Frucht meines Sinnens und Trachtens anheim. Dann wird sich zeigen, ob meine Worte nur Lippenbekenntnisse sind oder mir aus dem Herzen kommen.« (Montaigne 1998, I, S. 124) Dieser ›Alte‹, von dem Montaigne spricht, ist Seneca, der in seinem 26. Brief an Lucilius schreibt: »[…] jener Tag kommt, der über all meine Jahre das Urteil fällen soll […] Unerschrocken bereite ich mich daher auf jenen Tag vor, an dem ich ohne Trug und Schönfärberei mich selbst beurteilen werde, ob ich mannhaft rede oder auch so empfinde, ob am Ende alles nur Heuchelei war oder eine Posse, was ich an trotzigen Worten dem Schicksal entgegengeschleudert habe.« (Seneca 2007, XXVI, 4) Sicher659 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

lich erreicht der Betreffende, Montaigne und Seneca gemäß, in der Vergewisserung des Sich-töten-könnens zunächst eine »exzentrische Position«, aus welcher heraus er den Grad der Übereinstimmung seiner anvisierten Selbsttötung mit dem skopos seines Lebens prüfen kann. Jedoch wird er zunehmend durch die Grundströmung der suizidalen Erfahrung in die Enge der reflexiven Möglichkeiten, welche innerhalb der suizidalen Erfahrung möglich sind, hineingezogen. Das persönliche Einrichten in der suizidalen Erfahrung ist von daher nicht wirklich gemütlich, da es steter (reflexiver) Anstrengung bedarf, um gegen die Grundströmung dieser Erfahrung anzuarbeiten. Von daher wird es durchaus verständlich, inwiefern den Stoikern im Angesicht des Wissens, sich töten zu können, nicht nur eine letzte »Freiheitsversicherung« beschert wurde, sondern gerade auch die Aufmerksamkeit auf den glücklichen Augenblick (»carpe diem«, Horaz) gelang. Die Willigkeit, mit der sich der stoische Philosoph seine Möglichkeit, den Tod zu geben, vor Augen führt, ist hingegen daran gebunden, dass für sie der eigene Tod den Menschen nicht aus dem lebendigen Kosmos (heimarmene und pronoia) herausnimmt. Auch deshalb kann der stoische Mensch in der Gewissheit, sich töten zu können, den Drehpunkt finden, an dem er mit seinem Nachdenken jederzeit ansetzen kann, um sich aus der leidenschaftlichen Verstrickung mit seinen Umständen herauszuhebeln und wieder in die richtige apathische (und augenblicksorientierte) Einstellung hineinzudrücken. Anders hingegen stellt es sich seit der Aufklärung dar, findet doch seither im Wissen um die Uneinsehbarkeit des Todes bereits eine Konzentration auf das irdische und vergewisserbare Leben statt. Damit zeigt sich dem suizidalen Menschen die gestellte reflexive Anstrengung viel eher als eine (existenz-)philosophische Aufgabe wider Willen, die ihn aus seiner gewohnten Lebensführung herausreißt und zur Erkenntnis zwingt, dass er es selbst in die Hand nehmen muss, wenn sich sein Leben für ihn als sinnausweisend zeigen soll. Wie bereits differenziert beschrieben kann diese Aufgabe im weiteren Verlauf der Erprobung zur Aufgabe führen, wenn der Betreffende alle ihm nur erdenklichen Möglichkeiten (wiederholt) erfolg- und wirkungslos in seinen Situationen ausprobiert hat. Er findet sich dann in der Enge und Ohnmacht der suizidalen Erfahrung wieder. In der suizidalen Erfahrung ist nun das Entschwinden und Verlieren des Rettenden keine bewusste Entscheidung, sondern eine präreflexive (passiv erlittene) Gegebenheit, welche reflexiv gesichert werden kann. Der Zusammenhang, dass eine so überexakte Bestimmung 660 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

… und alles hat seine Zeit

der Transzendenz (hier: des verabsolutierten und verlorenen Rettenden) eben gerade die transzendente Qualität des Bestimmten (also des Rettenden) aufhebt, kann dann zuweilen nicht mehr erkannt werden. Vielmehr zeigt sich der Suizid dann als ein Opfer für den skopos des eigenen Lebens. Dieser Zusammenhang galt, wie bereits ausgeführt wurde, auch im Dispositiv der Selbstbestimmung. Der suizidale Mensch opfert sich dann in seinem Suizid für seine Idee von Freiheit und Selbstbestimmung, die ihn (widersinnigerweise) aber eben geradezu dazu nötigt, sich zu töten, und die ihn zugleich strukturell überdauert. Es ist genau diese Opferbreitschaft, die sowohl Seneca als auch Montaigne hier im Zeichen der Selbstbestimmung einfordern. Sie will den minimalen Rest an Selbstbestimmung in der suizidalen Enge stark machen, droht dabei aber stets den Erfahrungshintergrund dieser suizidalen Einsichten in seiner (darin umfassend präreflexiv bleibenden) vorwegbestimmenden Qualität und damit auch die prinzipielle Offenheit des Lebens zu unterschlagen (obwohl dies, wie eine Suizidberatung ergeben könnte, keineswegs der Fall sein muss). Das Rettende ist eben notwendigerweise erfahrungsgebunden. Es kann abseits der eigenen Erfahrung nicht gegeben sein. Das Erscheinen des Rettenden sagt insofern nichts darüber aus, ob es als ein Nachweis einer (wie auch immer gearteten) Transzendenz angenommen werden kann (oder eben nicht). Und auch wenn es sich im eigenen Tod zeigt, ist es letztlich doch die selbstwirksame Verhaltensmöglichkeit des Sich-töten-könnens, woraus sich die rettende Qualität des Todes in der suizidalen Erfahrung gewinnt. Eine Phänomenologie der suizidalen Erfahrung betont also, bei allem Verständnis für die suizidale Sichtweise, dass das primär passive Gegebensein zwar unbeachtet bleiben oder geleugnet werden mag, dass der Mensch aber letztlich gerade auf diese primäre Passivität, welche sich eben in unserer Leiblichkeit auf (bekanntlich) zweideutige Weise erweist, in seiner Möglichkeit des Sterbens zugreift. In der fundamentalen Offenheit unserer Erfahrung liegt demnach auch immer die Chance, durch die suizidale Erfahrung hindurch in eine neue ›Lebendigkeit‹ zu gelangen. Denn in dieser letztlichen Unbestimmbarkeit der eigenen Erfahrung und ihrer Hintergründe wird zugleich klar: Nichts und niemand kann einen Menschen bis ins letzte und umfassend festlegen. Jeder Mensch ist als Mensch stets mehr als der, als der er gerade hier und jetzt festgelegt wird. Er ist als Mensch schon immer darüber hinaus. Dies bedeutet nicht, dass sich der Mensch nicht als festgelegt erleben kann und im Sinne des Wortes »festgelebt« 661 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Eine Phnomenologie der suizidalen Erfahrung

ist. Und es ist zuzugeben, dass wir immer in der einen oder anderen Weise auch festgelegt sind. Jedoch, wir legen uns nicht primär bewusst oder absichtlich fest, sondern wir leben uns fest. In diesem Sinne ist die suizidale Erfahrung – als prototypische Krise – eine existenzphilosophisch glückliche Situation, da sie uns eben gerade zur Klärung des Grades an Übereinstimmung unserer eigenen Lebensführung im Angesicht der prinzipiellen Offenheit unserer Erfahrung auffordert. Und da unsere Erfahrung der Selbstbestimmung über die Gewissheit hinausgeht, der Initiator unseres eigenen Verhaltens zu sein, erfordert die Bestimmung des Grades der Übereinstimmung, die Verknüpfung unseres eigenen Verhalten mit den (erwünschten und unerwünschten) Wirkungen in leiblicher, situativer und interpersonaler Hinsicht zu erfahren und anzuerkennen. Das Dispositiv der Selbstbestimmung erfordert eine Lebensführung, in welcher der Betreffende immer sowohl die beabsichtigten (erwünschten) als auch (insbesondere) die unbeabsichtigten (unerwünschten) Konsequenzen seines Handelns in die (reflexive) Bewertung des Grades der Übereinstimmung seines Lebens in sich selbst (hinsichtlich dessen leiblicher Einbettung in seine Interpersonalsituationen über die Zeit hinweg) einbezieht. Dabei gibt es auch in dieser (phänomenologisch unterstützbaren) Praxis keine Sicherheit für uns, dass wir in unserer suizidalen Erfahrung grundsätzlich davon frei sein könnten, uns gegebenenfalls auch das Leben nehmen zu wollen, um weiterhin in Übereinstimmung mit uns leben zu können. Jedoch ist es in dieser Praxis eindeutig, dass der Mensch zu keinem Augenblick seines Lebens vor positiven Überraschungen geschützt ist. Oder wie es Augustin im Hinblick auf den Grundgedanken des Ostergeschehens formulierte: transitus per passionem. Es geht hier also nicht um Beliebigkeit – denn auch diese will als Beliebigkeit gelebt sein –, sondern um die Verlässlichkeit und Verbindlichkeit der Erfahrung, in der der Mensch in das Ganze dieser Erfahrung geöffnet ist. Die letztliche Unbestimmbarkeit kann also, jedenfalls solange der Mensch lebt, nicht ausgeräumt werden. Sie kann auch dem suizidalen Menschen nicht genommen werden und findet sich in der suizidalen Erfahrung in Gestalt bleibender Zweifel wieder. Und nur deshalb kann der nachfolgende Satz den Abschluss dieser Untersuchung bilden: Die suizidale Erfahrung ist das große Privileg des Menschen, um sich darüber zu vergewissern, dass er es letztlich doch selbst bestimmt, wie sinnvoll ihm sein Leben erscheint. 662 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

Nachwort

Das hier aufgewiesene Verständnis der suizidalen Erfahrung mag erschreckend sein. Vielleicht führt es den einen oder anderen sogar in Versuchung, suizidal zu werden. Es hat dies auch mit mir selbst getan, in aller Ausführlichkeit und Inniglichkeit, die diesem Phänomen wohl möglich ist. Allerdings kann dies bei einem phänomenologischen Verständnis streng genommen gar nicht ausbleiben und muss sogar als Nachweis eines gelungenen Aufweisens des anvisierten innenperspektivischen Verständnisses verstanden werden. Im Bemühen um ein innenperspektivisches Verständnis findet sich der Verstehende nunmal im Phänomen wieder – genau dies ermöglicht ja erst das Beschreiben der Erfahrungsstruktur. Als besonders erschreckend mag dabei erlebt werden, dass dann keine im Vorhinein versicherbare Bewertung der suizidalen Widersprüchlichkeit mehr vorgenommen werden kann. Vielmehr zeigt sich einem hierin die prinzipielle Offenheit unserer Erfahrung, welche aufs Ganze und die eigene Sterblichkeit gesehen durchaus irritiert. Die suizidale Erfahrung ist dabei sowohl in persönlicher als auch in kultureller Sicht kein Phänomen, welches es loszuwerden gilt – ganz abgesehen davon, dass dies ja auch gar nicht möglich scheint. Sondern es ist ein Phänomen, welches es zu gestalten und hervorzubringen gilt und welches zugleich die Aufgabe des Sich-Überwindens und der unmissverständlichen Selbstvergewisserung in sich trägt. Jedoch ist anzuerkennen, dass es immer wieder Menschen gibt und geben wird, die sich für den Suizid entscheiden werden, wie umfassend ihre Entscheidung dabei auch immer durch ihren Erfahrungshintergrund vorgezeichnet sein mag. So kann gesagt werden, dass es die kulturelle Herausforderung ist, jedem einzelnen Menschen einer Gemeinschaft die suizidale Erfahrung in einer Weise zu ermöglichen, dass er sie fruchtbar und persönlich sinnbringend wird überwinden können. Denn auch ich möchte in einer Gemeinschaft leben, in der ich die Sicherheit habe, dass man sich um mein Leben bemüht, selbst wenn 663 https://doi.org/10.5771/9783495997383 .

ich die Hoffnung auf bessere Zeiten aufgegeben habe. Dennoch, soviel kann aus phänomenologischer Sicht gesagt werden, eine letzte Sicherheit kann und darf es nicht geben, da sonst eben gerade der Charakter der suizidalen Erfahrung zerstört würde.

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