Verkehrte Welt: Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire [Reprint 2013 ed.] 3111252159, 9783111252155

Frontmatter -- VORWORT -- INHALT -- EINLEITUNG -- I. DIE BEURTEILUNG DER SATIRE IM 17. UND IM FRÜHEN 18. JAHRHUNDERT --

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Polecaj historie

Verkehrte Welt: Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire [Reprint 2013 ed.]
 3111252159, 9783111252155

Table of contents :
EINLEITUNG
I. DIE BEURTEILUNG DER SATIRE IM 17. UND IM FRÜHEN 18. JAHRHUNDERT
1. Das Ärgernis der Satire
2. Das Problem der Ordination
3. Zwischenbilanz
4. Die Aufgabe
II. LISCOWS SATIREN GEGEN PHILIPPI
a) Anlaß und Verlauf der Auseinandersetzung
b) Liscows Selbstrechtfertigung
c) Die Satire als ästhetisches Gebilde. Medien der satirischen Darstellung: Verkehrung, Verstellung, Verzerrung
d) Spiel mit dem Stoff und den Figuren
e) Die zwecklose Satire
III. LISCOW UND RABENER IN MAUVILLONS UND UN- ZERS BRIEFWECHSEL »ÜBER DEN WERTH EINIGER DEUTSCHEN DICHTER«
Kritik der moralistischen Literaturbetrachtung
IV. DIE VERFEHLTE SATIRE
Jung-Stillings »Schleuder eines Hirtenknaben«
V. DIE »GEFALLENDE« SATIRE
Über Rabener und die Moralsatire als säkularisierte Predigt
a) »Lebenslauf eines Märtyrers der Wahrheit«
b) »Eine Todtenliste von Nikolaus Klimen«
c) »Roman einer alten Spröden«
VI. POLEMIK UND SATIRE
Versuch einer Abgrenzung der polemischen von der satirischen Negation an Lessings Anti-Goeze
1. Vorgeschichte und Chronologie
2. Ein »heiliger Krieg«?
3. Polemische Taktik
4. Der »einseitige Dialog«
5. Invektive, Polemik, Kritik - Satire
VII. DIE ENTDECKUNG DER IMMANENTEN SATIRISCHEN QUALITÄTEN DER SPRACHE
Georg Christoph Lichtenberg
1. Zum »Timorus«
2. »Ars observandi«
3. Physiognomik des Stils
4. Lichtenbergs sprachsatirische Experimente
VIII. DIE REHABILITIERUNG DER SATIRE
Die Beurteilung der Satire und des Satirikers in der Poetik und Ästhetik des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts
a) J. G. Sulzer
b) C. F. Flögel
c) F. Schiller
d) J. Paul
IX. MUNDUS PERVERSUS
Zu Goethes »Reineke Fuchs«
a) Der »unpolitische« Goethe
b) Die vernichtende Idee des Satirischen
c) Die politische Tendenz des »Reineke Fuchs«
d) Satirische Mimesis
e) Umkehrung und Verkehrung
f) Satirisches Epos - Epische Satire
g) Perversio - Ordo
X. DIE SATIRE ALS »COMPLEMENT DER GESETZE«
BIBLIOGRAPHIE

Citation preview

HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE H E R A U S G E G E B E N VON H E L M U T DE B O O R UND HERMANN KUNISCH

BAND 15

KLAUS LAZAROWICZ VERKEHRTE WELT V O R S T U D I E N ZU E I N E R

GESCHICHTE

D E R D E U T S C H E N SATIRE

VERKEHRTE WELT VORSTUDIEN ZU E I N E R G E S C H I C H T E DER D E U T S C H E N SATIRE

VON

KLAUS L A Z A R O W I C Ζ

M A X N I E M E Y E R V E R L A G T Ü B I N G E N 1963

Als Habilitationsschrift gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ©

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1963 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Satz und Druck : Buchdruckerei Eugen GÖbel, Tübingen

VORWORT

Danken möchte ich allen, die meine Arbeit gefördert haben. Besonderen Dank schulde ich Herrn Professor Klinisch für die Aufnahme der »Verkehrten Welt« in die Hermaea-Reihe; der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung einer Drudsbeihilfe; und den Beamten der Bayerischen Staatsbibliothek und der Universitätsbibliothek München für ihre Hilfe bei der Bücherbeschaffung. Zu danken habe ich endlich meiner Frau. Ihr, meiner besten Helferin, ist dieses Buch gewidmet. Steinebach/Wörthsee, im September 1963 K. L.

INHALT

EINLEITUNG I. DIE BEURTEILUNG DER SATIRE IM 17. U N D IM F R Ü H E N 18. J A H R H U N D E R T

1

1. Das Ärgernis der Satire

1

2. Das Problem der Ordination

2

a) M. Opitz, Buch von der deutschen Poeterey

3

b) D. G. Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie

5

c) M. D. Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dichtkunst d) Chr. Thomasius, Höchstnöthige Cautelen e) Chr. Weise, Politischer Näscher

6 8 10

f) J. B. Mencke, Ausführliche Vertheidigung Satyrischer Schriften

11

g) Chr. Wernicke, Epigramme

16

h) Chr. F. Hunold (Menantes), Satyrischer Roman

17

i) J. Chr. Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst . .

18

3. Zwischenbilanz

21

4. Die Aufgabe

25

II. LISCOWS SATIREN GEGEN P H I L I P P I

28

a) Anlaß und Verlauf der Auseinandersetzung

28

b) Liscows Selbstrechtfertigung

34

c) Die Satire als ästhetisches Gebilde. Medien der satirischen Darstellung: Verkehrung, Verstellung, Verzerrung . . .

VI

42

d) Spiel mit dem Stoff und den Figuren

52

e) Die zwecklose Satire

65

III. LISCOW UND RABENER I N MAUVILLONS UND UNZERS BRIEFWECHSEL »ÜBER D E N W E R T H E I N I G E R DEUTSCHEN DICHTER«

72

Kritik der moralistischen Literaturbetrachtung

72

IV. D I E V E R F E H L T E SATIRE Jung-Stillings »Schleuder eines Hirtenknaben« V. D I E »GEFALLENDE« SATIRE Über Rabener und die Moralsatire als säkularisierte Predigt . .

84 84 95 95

a) »Lebenslauf eines Märtyrers der Wahrheit«

102

b) »Eine Todtenliste von Nikolaus Klimen«

105

c) »Roman einer alten Spröden«

110

VI. POLEMIK U N D S A T I R E

118

Versuch einer Abgrenzung der polemischen von der satirischen Negation an Lessings Anti-Goeze

118

1. Vorgeschichte und Chronologie

119

2. Ein »heiliger Krieg«?

129

3. Polemische Taktik

144

4. Der »einseitige Dialog«

162

Zum Stil der Anti-Goeze

162

a) Einseitigkeit

165

b) Öffentlichkeit

165

c) Irritation

166

d) Rhetorik

168

e) Dialektik

170

f) Theatralik

172

g) Witz

174

5. Invektive, Polemik, Kritik - Satire

177

VII. D I E E N T D E C K U N G D E R IMMANENTEN S A T I R I S C H E N QUALITÄTEN D E R S P R A C H E

185

Georg Christoph Lichtenberg

185

1. Zum »Timorus«

191

2. »Ars observandi«

196 VII

3. Physiognomik des Stils

202

4. Lichtenbergs sprachsatirisdie Experimente

207

a) Die Entlarvung des »Superfeinen«

207

b) Die Entlarvung der Phraseologie

213

VIII. DIE REHABILITIERUNG DER SATIRE

219

Die Beurteilung der Satire und des Satirikers in der Poetik und Ästhetik des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts a) J. G. Sulzer

219

b) C. F. Flögel

226

c) F. Schiller

228

d) J. Paul

245

Jean Pauls Theorie des Humors IX. MUNDUS PERVERSUS Zu Goethes »Reineke Fuchs« a) Der »unpolitische« Goethe

251 257 257 257

b) Die vernichtende Idee des Satirischen

263

c) Die politische Tendenz des »Reineke Fuchs«

270

d) Satirische Mimesis

272

Der Prozeß

272

e) Umkehrung und Verkehrung

276

f) Satirisches Epos - Episdie Satire

293

g) Perversio - Ordo

298

X. DIE SATIRE ALS »COMPLEMENT DER GESETZE« . . . BIBLIOGRAPHIE

VIII

219

304 320

EINLEITUNG

Meine Vorliebe für die Satire gab den ersten Anstoß zu dieser A r beit. Auch die nächsten Impulse gingen von vorwissenschaftlichen Regungen aus: ich wurde neugierig auf das, was bisher über die deutsche Satire geschrieben worden w a r ; doch schon nach den ersten Orientierungsschritten stellte sich ein Gefühl der Enttäuschung darüber ein, daß der Gegenstand meiner Liebhaberei von der literarhistorischen Forschung kaum beachtet, ja, wie der gekränkte Liebhaber argwöhnte, offensichtlich mißachtet worden war. Auf der Suche nach einem zuverlässigen Auskunftsmittel über die Geschichte der deutschen Satire stieß idi zwar auf die Darstellungen von Flögel und Ebeling. Aber die Bücher dieser Außenseiter erwiesen sich als veraltet und unbrauchbar 1 . Erst nach der Musterung des bereits Vorhandenen begann sich der wissenschaftliche Ehrgeiz zu regen. Wir haben, konstatierte ich, historische Darstellungen des deutschen Romans, der Novelle, des Dramas, 1 C. F . Flögeis vierbändige »Geschichte der komischen Litteratur« (Liegnitz und Leipzig 1784/87) ist zwar ein respektheisdiender Wurf. Aber dieses Werk ist zu früh erschienen. So imponierend Flögeis bibliographische Kenntnisse und die Weite seiner Belesenheit auch sein mögen, so ist andererseits doch nicht zu übersehen, daß es ihm an dem erforderlichen ästhetischen Rüstzeug fehlte, das ihm die Bewältigung seiner Aufgabe ermöglicht hätte. Darin besteht (wenn man von Flögeis Schwäche für die Mikrologie absieht) der Hauptmangel seiner Darstellung, der auch durch eine völlige Neubearbeitung nicht zu beheben wäre. Flögel hatte sich darum bemüht, literarhistorisches Neuland zu erschließen. D e r Archivar F. W . Ebeling kapriziert sich dagegen vor allem darauf, in seiner an Flögel anknüpfenden »Geschichte der komischen Literatur in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts« (3 Bde., Leipzig 1869) die professoralen Literarhistoriker der Borniertheit und Ignoranz zu überführen. Dergleichen wäre allenfalls in K a u f zu nehmen, wenn das Buch imstande wäre, die Informationswünsche des an den Animositäten des Verfassers nicht interessierten Lesers zu befriedigen. Das ist indessen nicht der Fall. In Ebelings Darstellung herrscht vielmehr eine totale terminologische Konfusion und ein schrankenloser, sich in teilweise grotesken Fehlurteilen (etwa über Liscow, Lichtenberg und J e a n Paul) niederschlagender Subjektivismus, der sich auch bei der Auswahl der Texte und bei der Bemessung des den einzelnen Autoren zugestandenen Raumes störend bemerkbar macht. Endlich zeigte sich, daß auch H . Schneegans' »Geschichte der grotesken Satire« (Straßburg 1894) für den Historiker der deutschen Satire wenig ergiebig war. Einmal wegen der Beschränkung auf eine satirische Sonderform; zum andern deshalb, weil der Romanist Schneegans an einer Bestandsaufnahme und Analyse von deutschsprachigen Satiren kaum interessiert war.

IX

der Lyrik und, seit der Hochblüte der Gattungs-Geschichtssdireibung, auch eine Geschichte des Liedes, der Ode, der Elegie, der Ballade und des Sonetts. Eine heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Geschichte der deutschen Satire gibt es dagegen nicht. Hier war eine Lücke zu schließen. Eine Art produktiven Neides auf die mustergültigen Leistungen der klassischen Philologie auf dem Gebiet der Satire-Forschung kam, wie ich offen bekennen will, jetzt auch ins Spiel. Es ärgerte mich, daß es viel einfacher war, sich über die Geschichte der römischen Satire zu orientieren als über die historische Entwicklung der deutschen. Aber gerade durch das Studium der Arbeiten von Ulrich Knoche und Otto Weinreich wurde mein Tatendrang merklich gedämpft. Ich mußte erkennen, daß diese Darstellungen sich die Erträge des Fleißes und des Scharfsinns mehrerer Gelehrten-Generationen hatten zunutze machen können. Zwar braucht auch der Historiker der deutschen Satire nicht ganz von vorn anzufangen. Seine Ausgangsbasis ist jedoch verhältnismäßig schmal und nicht genügend gesichert. Keine Frage, daß hier noch viel Detail-Arbeit zu leisten ist, bevor daran gedacht werden kann, ein Knoches »Geschichte der römischen Satire« vergleichbares Gegenstück in Angriff zu nehmen. Eine weitere Abkühlung erfuhr mein Eifer durch Otto Maußer. Maußer hatte im Nachwort zum ersten Band der von ihm herausgegebenen »Satirischen Bibliothek« (München 1913) die Ansicht vertreten, daß eine Geschichte der satirischen Literatur in Deutschland nur geschrieben und daß die Begriffe Satire, satirisch, satirische Kunst erst dann zulänglich geklärt werden könnten, wenn möglichst viele Texte neu ediert und ein »Goedeke der satirischen Produktion« (a.a.O., S. 114) geschaffen sein würde 2 . Daß das in den Bibliotheken und Archiven aufbewahrte satirische Schrifttum dringend der bibliographischen und editorischen Erschließung bedarf, stand auch für mich außer Zweifel. Auf einem Trugschluß schien mir dagegen Maußers Behauptung zu ruhen, nach der die Definition des Satire-Begriffs oder der Entwurf einer Ästhetik des Satirischen erst nach Vorlage aller erreichbaren Quellen erwogen werden könne. "Wer satirische Texte edieren will, muß wissen, was eine Satire ist. Wie aber war das in Erfahrung zu bringen? War es überhaupt in Erfahrung zu bringen? Mußte man nicht vielmehr wenigstens eine ungefähre Vorstellung, eine — ich ris2 Ansätze dazu schon bei Erduin Julius Koch, im »Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod«, 1. Bd., Berlin 2 1795, S. 145-205.

X

kiere das anstößige Wort: Ahnung vom Wesen des Satirischen haben, bevor man daran gehen konnte, satirische Texte herauszugeben? Damit stand ich unversehens vor jenem philosophischen Ärgernis des hermeneutischen Zirkels, das zumal der Gattungs-Historik so schwer zu schaffen gemacht hatte 3 . Maußer konnte mir bei der Lösung dieser Problematik nicht helfen. Seine selbstsicher vorgetragene These, daß jede Satire »im Grunde Polemik« sei (a.a.O., S. 114), schien mir überdies anzudeuten, daß er keineswegs eine abgeklärte Vorstellung vom Wesen der Satire und der Polemik besessen hatte. Gegen einen synonymen Gebrauch dieser Begriffe sträubte ich midi zunächst instinktiv. Und um mir Klarheit über die Sachlage zu verschaffen, beschloß ich, der Frage nach dem Verhältnis der Satire zur Polemik besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Bereits im Anfangsstadium meiner Arbeit war mir deutlich geworden, daß eine Satire nicht auf Grund von äußeren Merkmalen zu identifizieren ist. Die Satire ist, wie schon Flögel gesehen hatte, ein »Proteus«, weil der Satiriker jede einfache Form und jede Großform zum Medium seines spezifischen Gestaltungswillens machen kann. Die Mitarbeiter von Viëtors »Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen« konnten sich wenigstens im Stadium der Material-Sichtung und -Auswahl auf äußere Kriterien stützen. Dem Historiker der Satire dagegen bieten sich solche Anhaltspunkte nicht. Seine Arbeit wird auch dadurch erschwert, daß er bei dem Prozeß des Sammeins und Sichtens ganz auf sich allein gestellt ist: Werktitel oder von den Autoren selbst gegebene Gattungsbezeichnungen erweisen sich immer wieder als irreführend. So ist beispielsweise Hunolds »Satyrischer Roman« keine Satire, sondern ein pornographischer Schlüssel-Roman; und Johann Karl Wezel bekennt in der Vorrede zum zweiten Band seiner »Satirischen Erzählungen« (1777/78), daß der Titel auf die in diesem Bändchen enthaltenen Stücke »wenig oder gar nicht paßt«; er habe ihn, fügt Wezel hinzu, nur »um der Käufer willen« nicht verändert und wolle es »seinen Lesern gern vergeben, daß sie sich mit seinem Titel entzweien, wenn sie nur mit ihm und seinem Buche in guter Freundschaft« blieben. Solcher Freimut ist selten. In der Regel verzichten die Satiriker auf eine Deklarierung ihrer Werke. Vielleicht trägt dieser Umstand auch ein wenig zur Erklärung jenes merkwürdigen Sachverhalts bei, daß 3

Vgl. K. Viëtor, Die Geschichte literarischer Gattungen; in: Geist und Form, Bern 1952, S. 292-309; zuerst u. d. T.: Probleme der literarischen Gattungsgeschichte (DVS IX/1931) veröffentlicht; Hinweise auf die einschlägige Literatur: a.a.O., S. 365-367. XI

zwei der bedeutendsten und keineswegs harmlosesten Werke der satirischen Weltliteratur - Swifts »Gulliver« und Goethes »Reineke Fuchs« - sich als Kinderbücher einzubürgern vermochten. Erst im weiteren Verlauf meiner Überlegungen und praktischen Vorarbeiten begann mir deutlich zu werden, daß die Satire - wie schon Herder fand - »unsichtbar« ist; oder, wie idi es zunächst für midi als heuristisches Prinzip festlegte, daß es sich hier um eine Entelechie handelte. Die vordringlichste Aufgabe der Satire-Forschung, folgerte ich, mußte es daher sein, die Entfaltung dieser gestaltprägenden Energie (die in allen Gattungen und Arten anwesend sein kann) zu erkunden und an ausgewählten Texten zur Anschauung zu bringen. Damit stand ich vor der Frage, wie dieses Programm zu realisieren sei. Inzwischen hatte ich meine ursprünglich weitgespannten Pläne erheblich reduziert und beschlossen, meine Experimente (denn mehr durfte ich nach Lage der Dinge nicht zu bieten hoffen) an Zeugnissen eines verhältnismäßig eng umgrenzten Zeitraumes durchzuführen. Meine Wahl fiel auf das 18. Jahrhundert. Nicht nur wegen der Fülle und Vielgestaltigkeit des satirischen Schaffens in dieser literarischen Blütezeit. Ausschlaggebend war vielmehr auch in diesem Fall ein im Irrationalen wurzelndes Motiv: meine Liebe zur Literatur dieses außerordentlichen Jahrhunderts, in dem sich die verschiedenartigsten literarischen Strömungen überlagern und an dessen Ende die Werke der Klassiker und Romantiker maßstabsetzend in Erscheinung treten. Die Frage nach einer der Sache angemessenen Darstellungs-Methode wurde durch diese Entscheidung freilich nicht gefördert. Zwar war ich von vornherein geneigt - ermuntert durch die hervorragenden Leistungen der Stilkritik — der phänomenologischen Methode den Vorzug vor dem deduktiven oder induktiven Verfahren zu geben. Wenn ich dennoch längere Zeit unschlüssig blieb, lag das weniger an der neuerdings unübersehbar gewordenen Diskreditierung dieser Methode durch fahrlässige Interpreten. Viel mehr machte mir die Frage zu schaffen, wie die von Husserl und seinen Schülern empfohlene Art der Annäherung an die »Sachen selbst« gegen den begründeten Verdacht der Unsolidität zu verteidigen sei. Hier kam mir nun Moritz Geiger (ehemals einer der führenden Vertreter der Münchener phänomenologischen Schule) zu Hilfe. Geiger hatte sich in einem Vortrag über die »Phänomenologische Ästhetik« 4 mit den Einwänden gegen die »auf dem Wege phänomeno4

XII

Abgedruckt in: Zugänge zur Ästhetik, Leipzig 1928, S. 136-158.

logischer Versenkung in das Wesen der Tatsachen« (a.a.O., S. 152) gewonnenen Einsichten kritisch auseinandergesetzt. Ich kann den Gang seiner Argumentation hier nicht im einzelnen nachzeichnen. Nur die Ergebnisse von Geigers Erörterung der Möglichkeiten und Grenzen einer auf dem Boden des »Objektivismus« stehenden, methodisch disziplinierten »Wesensintuition« (153) seien wenigstens auszugsweise mitgeteilt. Nachdem Geiger, schon damals kursierende Mißverständnisse korrigierend, klargestellt hat, daß die phänomenologische Ästhetik nicht »die reale Wirklichkeit ihrer Gegenstände« erforschen will, sondern allein deren »phänomenale Beschaffenheit« (139,157), unterzieht er die aus einer »antiphänomenologischen Einstellung« (141) erwachsenden Fehler und Irrtümer der traditionellen Ästhetik einer kritischen Prüfung. Für midi waren Geigers Bedenken gegen die Wirkungs-Ästhetik von besonderem Interesse. Die Frage etwa nach dem Wesen des Tragischen wird nach Geigers Ansicht nicht dadurch beantwortet, daß man angibt, das Tragische bewirke Furcht und Mitleid und durch sie eine Reinigung der Leidenschaften. In diesem Fall werde nämlich statt der Angabe, »was eine Sache sei, zur Antwort gegeben, wie sie psychologisch wirkt« (142). (Auch die Frage nach dem Wesen des Satirischen war von den meisten Poetikern und von zahlreichen Satirikern des 17. und 18. Jahrhunderts in ähnlicher Weise beantwortet worden nämlich mit dem Hinweis auf den Besserungseffekt des Satirisierens.) Das Problem der psychischen oder moralischen Wirkung aber liegt, wie Geiger feststellt, außerhalb der Ästhetik als Einzelwissenschaft. Hier, wo es sich um die »Struktur der ästhetischen und künstlerischen Gegenstände und ihre Wertbestimmung« handelt, könne nur die »Analyse der Objekte selbst zum Ziele führen« (142). Die Eigenart der phänomenologischen Methode wird nun von Geiger gegen Deduktion und Induktion abgegrenzt: sie suche »weder aus einem obersten Prinzip heraus ihre Gesetzmäßigkeiten« zu gewinnen noch durch die »induktive Häufung einzelner Beispiele«, sondern dadurch, daß sie »am einzelnen Beispiel das allgemeine Wesen, die allgemeine Gesetzmäßigkeit erschaut« (145). Es ist klar, daß eine derartige Verfahrensweise als wissenschaftliches Skandalon empfunden werden mußte. Und es ist wohl auch nicht zu bestreiten, daß diese Methode auf den Dilettantismus und Subjektivismus eine starke Anziehungskraft ausgeübt hat. Gegenüber dem Vorwurf des Dilettantismus oder Subjektivismus macht Geiger jedoch geltend, daß es sich bei dieser Methode nicht um die Erschauung »komplexer Gegenstände« handle; damit eine solche WesensXIII

erfassung gelingen könne, müsse das Kunstwerk vielmehr sachgerecht analysiert werden, und das erfordere mehr als ein „bloßes denKopf-indie-Hand-stützen und Anschauen - es erfordert umfassende Kenntnisse und umfangreiche Vorarbeiten« (148). Prinzipiell sei zwar beispielsweise das Wesen des Tragischen »am einzelnen Kunstwerk vollkommen sicher und eindeutig« zu erschauen, »ohne Rücksichtnahme auf die historische Entwicklung« (148). Die Hereinnahme historischer Fakten habe nur eine methodisch-negative Bedeutung, wodurch Fehler in der Wesenserfassung vermieden werden könnten. Da jedoch bei der phänomenologischen Konzeption des Wesens die platonische Idee Pate gestanden habe, könne von dieser ahistorischen Wesensauffassung kein direkter Weg zum Verständnis historischer Entwicklungen führen. Der historischen Entwicklung ist, wie Geiger meint, nicht mit einem statischen, sondern nur mit einem dynamischen Wesensbegriff beizukommen. Das heißt: das Tragische selbst - um bei Geigers Beispiel zu bleiben - muß »als der Veränderung, der inneren Umgestaltung, der Entwicklung fähig angesehen werden« (149). Erst wenn die statische Wesensauffassung durch einen »Zusatz Hegeischen Geistes« (150) flüssig gemacht worden sei, könne der »Wesensbegrifi zum Hilfsmittel der historischen Betrachtung« (150) werden. Hier hatte ich nun nicht nur eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der phänomenologischen Ästhetik zur Geschichte gefunden, sondern auch die philosophische Rechtfertigung einer Methode, die ihre praktische Bewährungsprobe inzwischen längst bestanden hat. Das einzelne Werk »qualitativ zu bestimmen, bleibt für den Erklärer das Problem der Probleme«, hatte Heinrich Wölfflin bereits 1921 erkannt 5 . Durch Moritz Geigers methodologische Instruktion ermutigt, entschloß ich mich, meine Arbeit auf die qualitative Bestimmung ausgewählter Texte zu konzentrieren - in der Hoffnung, damit der historischen Satire-Forschung nützliche Vorarbeit zu leisten. Wer sich auf die Analyse von Einzelwerken konzentriert, muß darauf verzichten, den berechtigten Anspruch auf Vollständigkeit zu befriedigen. Die möglidist lückenlose bibliographische und editorische Erschließung aller künstlerisch oder kulturgeschichtlich wertvollen Quellen bleibt, unabhängig von dieser Entscheidung, natürlich ein wichtiges Desiderat der Satire-Forschung. Aber es kann jetzt schon gesagt werden, daß die Neuherausgabe der zahllosen, zumeist pseudosatirischen Dutzendprodukte aus den moralischen Wochenschriften 5 H Wölfflin, Das Erklären von Kunstwerken; in: Kleine Bücherei zur Geistesgesdiidite, l . B d . , Köln o. J., S. 38.

XIV

weder für die Definition des Satire-Begriffs noch für den Entwurf einer Poetik oder Ästhetik des Satirischen ergiebig sein kann. Auch von hier aus gesehen erweist sich die Beschränkung auf einige repräsentative Zeugnisse als durchaus legitim. Eine ausführliche theoretische Rechtfertigung des Auswahlprinzips scheint mir entbehrlich. Denn über Wert und Unwert des selektiven Verfahrens entscheidet vor allem die praktische Arbeit, die sich vor der Instanz des Kenners zu bewähren hat e . Vorausschicken möchte ich nur noch, daß ich bei der Auswahl und Analyse der Texte auch die Absicht verfolgte, Kriterien für die Unterscheidung der eigentlichen Satire von den moralistischen oder didaktischen Schriften satirischen Einschlags, der Polemik und der Kritik zu ermitteln. Daß Liscow, dem Schöpfer der modernen »autonomen« Satire, die erste Studie gewidmet ist, wird hoffentlich die Billigung der Kenner finden. Callenbach, Lindenborn oder Stranitzky konnten ihm diesen Platz nach meiner Uberzeugung nicht ernsthaft streitig machen; denn diese Autoren sind noch in der literarischen Welt des 17. Jahrhunderts beheimatet. Chronologisch gesehen gehört zwar auch Christian Reuters 6 Die Schwierigkeiten, die der Auswahl und Sammlung von echten Satiren entgegenstehen, hatte bereits E. J. Kodi deutlich erkannt. Seine Bemerkungen zu dieser Problematik sind immer noch aktuell, weshalb wir sie hier ungekürzt wiedergeben: »Wollte man die ganze Summe der satirischen Äußerungen der Deutschen Nation, in so fern dieselben schriftlich aufgezeichnet sind, bestimmen, so würde man auch auf alle diejenigen Werke Rücksicht nehmen müssen, die bey einem ganz unsatirischen Zwecke und Inhalte offenbare Ausfälle oder Ironien gegen gewisse Anomalien in der moralischen Welt enthalten. Das unübersehbare Heer von Streitschriften, Recensionen, literarischen Reisen, moralischen Wochenschriften etc. könnte dazu eine reiche Ausbeute liefern. Selbst Vorreden . . . und Dedicationen . . . würden hier in Anschlag kommen müssen. Und eben so würde man solche gelegentlich angebrachte Satiren in verschiedenen Werken des metrischen Vortrages, vorzüglich in moralischen Lehrgedichten auffinden können. So interessant eine solche genaue Berechnung unseres satirischen Schatzes auch immer seyn möchte, so schwierig oder vielmehr unmöglich ist sie, so bald man auf den unermeßlichen Umfang unserer Literatur sieht, zu deren vollständiger Kenntnis kaum ein Menschen-Alter zureichen würde. Besondere Sammlungen f ü r die Deutsche Satire existiren bis jetzt nicht. Sie sind auch nicht möglich, so bald man den Begriff der Satire so faßt, wie er hier zum Grunde liegt. Der Mühe werth wäre es indessen, eine Auswahl derjenigen Deutschen Satiren zu veranstalten, welche in Horazischer und Juvenalischer Manier gearbeitet, und bisher mit dem sehr unbestimmten Namen, poetische Satiren, bezeichnet worden sind. Man würde wenigstens dadurch am leichtesten und sichersten überzeugt werden können, wie wenige und unbedeutende Producte der Art wir seit Lauremberg, (der hierin primus auctor war) aufzuweisen haben, und wie arm unsere Literatur an Satiren seyn würde, wenn man den ganzen Begriff auf diese Gattung einschränken wollte« (a.a.O., S. 204 f.). Von Kochs Vorschlag angeregt, veröffentlichte ein Anonymus den vorzügliche Sachkenntnis bezeugenden »Plan einer Sammlung: Satyren der Deutschen« im Journal von und f ü r Deutschland, 1791, 10. Stüde, S. 895-900.

XV

»SchelmufFsky« (1696/97) in das 17. Jahrhundert. Angesichts der sprachsatirischen Errungenschaften dieses Romans wäre seine Behandlung im Rahmen meiner Arbeit jedoch mit guten Gründen zu rechtfertigen gewesen. Ich habe mich nach reiflicher Überlegung aber dazu entschlossen, die Untersuchung dieses ergötzlichen Unikums später in einer separaten Studie vorzulegen. Das Wesen der Sprachsatire ließ sich, wie ich midi überzeugen mußte, in einer Analyse von Lichtenbergs Schriften besser veranschaulichen; nicht zuletzt deshalb, weil Lichtenberg - im Gegensatz zu Reuter - als praktizierender Satiriker und als Theoretiker der Satire aufgetreten ist. Uber den Gang der Untersuchung orientiert die Inhaltsübersicht. Hinzuzufügen habe ich an dieser Stelle noch, daß auch die Theoretiker der Satire nicht vollzählig zu Wort kommen. Das Streben nach Vollständigkeit hätte zumal bei der Musterung der Poetiken des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts zu ermüdenden Wiederholungen geführt, die ich dem Leser ersparen zu dürfen glaubte. Außer Betracht gelassen habe ich ferner die Erörterung von modell-philologischen Fragen. Die Abhängigkeit der deutschen Satiriker des 18. Jahrhunderts von antiken und zeitgenössischen Vorbildern, Stoffen und Inventionen ist bekannt und ζ. B. bei Rabener bereits gründlich erforscht. Mit der ganz anders gearteten Thematik dieses Buches war die Untersuchung von EinflußFragen 7 nicht zu verbinden. Endlich bleibt mir noch zu sagen, daß die gegenwärtige Situation der Universität München mir für das »holde Spiel immerwährenden Ausschleifens und Verbesserns« (Broch) nicht viel Muße gegönnt hat. Der Leser möge glauben, daß diese private Bemerkung keine versteckte captatio benevolentiae enthält. Es kommt mir hier nur darauf an, ein beklagenswertes historisches Faktum festzuhalten, durch das Forschung und Lehre an den meisten deutschen Universitäten stark behindert werden. Im übrigen weiß ich sehr wohl, daß auch ein unter günstigeren Umständen entstandenes Buch vor dem strengsten Anspruch immer unfertig ist und im Grunde nur dazu da ist, überholt zu werden. Im Bewußtsein der Vorläufigkeit aller wissenschaftlichen Arbeit wage ich es, mein Buch aus der Hand zu geben.

7 Vgl. dazu die ausgezeichnete Studie von Dietrich Gerhardt, Stil und Einfluß; in: Stil- und Formprobleme in der Literatur, hg. von P. Böckmann, Heidelberg 1959, S. 51—65.

XVI

I. DIE BEURTEILUNG DER SATIRE IM 17. U N D IM FRÜHEN 18. J A H R H U N D E R T

1. Das Ärgernis der Satire Daß der Teufel bei der Erfindung der Satire seine Hand im Spiel gehabt haben müsse, ist von den Verächtern dieser »beißenden« Schreibart und erst recht von den Opfern der Satiriker nie bezweifelt worden. Ihnen galt die Satire als eine »unanständige A r t der Poesie« wenn sie sie nidit überhaupt als schlechthin »unchristliche Schreib-Art« 2 angeprangert und verworfen haben. Aber auch den Satirikern selbst war ihr Gesdiäft verdächtig. Der Autor der »Nachtwachen« (1804) zögert jedenfalls nicht, den Teufel für die Entstehung der Satire verantwortlich zu machen 3 . Nun ist der satirische Naditwächter des »Bonaventura« z w a r ein Ironiker, dessen zweideutige Offenheit einem planen Verständnis durchaus entzogen ist. Aber es ist doch wohl kein Zufall, daß der Teufel nicht nur in mittelalterlichen Satiren 4 , sondern auch bei Rost, Jean Paul, Hauff, Ε. T. A . Hoffmann und Grabbe eine wichtige Rolle innehat. Vermutlich hätten sich die meisten Satiriker des 18. Jahrhunderts mit Bonaventuras Deszendenz-Theorie nicht einverstanden erklärt; 1 J. B. Mencke in seiner »Ausführlichen Vertheidigung Satyrischer Schriften« (in Philanders von der Linde [d. i. J. B. Mencke] Schertzhafften Gedichten, Leipzig Ί722). Die »Vertheidigung« ist nicht paginiert. 2 Chr. L. Liscow, Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften, Frankfurt und Leipzig 1739, S. 105. 3 Deutsche Literatur, Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen ; Reihe Romantik, Bd. 16: »Es war alles auf ihr (: der Erde) so empfindsam und gut eingerichtet, daß es dem Teufel, der sie einst zum Zeitvertreibe sich beschaute, zum Ärger gereichte; um sich an dem Werkmeister zu rächen, schickte er das Gelächter ab, und es wußte sich gesdiickt und unbemerkt in der Maske der Freude einzuschleidien, die Menschen nahmen's willig auf, bis es zuletzt die Larve abzog und als Satire sie boshaft anschaute« (S. 104). 4 Vgl. P. Lehmann, Die Parodie im Mittelalter, München 1922, S. 85 ff. (Während des Druckes dieser Arbeit erschien die 2., neu bearbeitete und ergänzte Auflage: Stuttgart 1963). S. a. M. Osborn, Die Teufelliteratur des 16. Jahrhunderts, Berlin 1893; P. Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung, I. Bd., Hamburg 1949, S. 221 ff. und Felix Th. Schnitzler, Die Bedeutung der Satire für die Erzählform bei Grimmelshausen, Diss. (Masch.) Heidelberg 1955, S. 219 ff.

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denn es gehört schon ein beträchtliches Maß an Selbstironie oder von jener erst in der Romantik kultivierten Haltung des ästhetischen Zynismus dazu, sich zur Nachkommenschaft des Satans zu bekennen. Andererseits aber haben sich fast alle Satiriker im 18. Jahrhundert mit der Frage beschäftigt, ob es erlaubt sei, seinen Nächsten zu schelten oder zu verspotten. Es besteht kein Zweifel, daß viele von ihnen schlechten Gewissens geschrieben haben. Einige haben ihre satirischen Schriften widerrufen (u. a. Jean Paul), andere (Liscow und Rabener) haben es vorgezogen, den Platz, der dem »Glücke und der Ehre eines Autors so gefährlich seyn kann« 5 , bald zu räumen. Aufschlußreich ist ferner, daß man in diesem Jahrhundert kaum einen Satiriker oder Herausgeber von Satiren findet, der sich nicht in einer Rechtfertigungsschrift gegen die eigenen Gewissensskrupel, gegen eingebildete oder ausdrücklich erhobene Angriffe von außen verteidigen zu müssen glaubt. G. W. Rabener hat sich in dieser Beziehung besonders hervorgetan: seine Verteidigungsschriften füllen nahezu einen Band seines vierbändigen Gesamtwerks. Aber auch weniger ängstliche Autoren und die zeitgenössischen Dichtungstheoretiker haben es für notwendig gehalten darzutun, daß die Satirenschreiber besser seien als ihr Ruf. Überblickt man die satirische Literatur und die dichtungstheoretischen Schriften des hier behandelten Zeitabschnitts, so zeigt sich, daß viele der eigentlich zu »offensiver Kritik« β verpflichteten Satiriker sich, genaugenommen, in der Defensive befunden haben. Eine paradoxe Situation, die es zu erläutern gilt 7 . 2. Das Problem der Ordination Gegen welche Vorwürfe setzt man sich zur Wehr? Die Hauptanklage lautet, daß der Satiriker keinen Auftrag habe, über die Torheiten und Laster seiner Mitmenschen zu richten. Er maße sich ein Amt an, so wird immer wieder erklärt, das im Grunde Gott allein sich vorbehalten habe 8 und dessen Verwaltung er nur mit den Geistlichen und den Vertretern der weltlichen Obrigkeit teilt. Der Autor, der seine Mitmenschen mit der »satirischen Peitsche«9 züchtigt, handelt nach Ansicht 5

G. W. Rabeners Briefe, hg. von C. F. Weiße, Leipzig 1772, S. 216. Lichtenberg, Aphorismen; ed. Leitzmann, D L D 136, F 140. 7 Zum Folgenden vgl. Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. I (Barock und Frühaufklärung) Berlin ! 1958; Bd. II (Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang) Berlin 1956. 8 U. a. von Mencke in seiner »Ausführlichen Vertheidigung Satyrischer Schrifften«. 9 Jean Paul, Auswahl aus des Teufels Papieren; in: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe. I. Abt., 1. Bd. Weimar 1927, S. 299. 6

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dieser Kritiker aus selbstangemaßter Gewalt und versündigt sich gegen das christliche Liebesgebot, das alle Menschen verpflichtet, die Sünden und die moralischen Gebrechen ihrer Brüder geduldig zu ertragen und zu verzeihen. Den »ungebetenen Predigern« 10 zumal des ausgehenden 17. und des frühen 18. Jahrhunderts hat diese in der Tat fundamentale Anschuldigung sehr zu schaffen gemacht. Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts scheint sich die Kraft dieser Anklage allmählich zu verbrauchen. Die religiös motivierten Bedenken verlieren gegenüber den Erwägungen der politischen oder moralischen Zulässigkeit der Satire oder ihrer ästhetischen Zweckmäßigkeit immer mehr an Bedeutung. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist das Problem der Selbstbestallung des Satirikers nicht mehr Gegenstand der Diskussion. Erst Theodor Haecker hat es im 20. Jahrhundert erneut aufgegriffen und zu lösen versucht Die Dichter des Barockzeitalters und der Frühaufklärung, die »einen Genie zur Satyre« hatten 12 , haben indessen, allen Feindseligkeiten zum Trotz, der »gefährlichen Arbeit« 18 des Satirisierens nicht entsagt und sie häufig als Anwälte in eigener Sache gegen jede Verketzerung verteidigt. Auf der Seite ihrer Gegner standen (wie wir gleich sehen werden) audi die meisten der zeitgenössischen Dichtungstheoretiker. a) Mit deutlich spürbarer Reserve handelt Martin Opitz in seinem »Buch von der Deutschen Poeterey« (1624) 14 von der Satire. Durch zwei Dinge habe sich die »Satyre« zu legitimieren: durch die »lehre von gueten sitten vnd ehrbaren wandel, vnd höffliche reden vnd sdiertzworte« (20) 15 . Dem Satiriker wird damit nahegelegt, sich an die Hora10 Vorbericht zur »Satyrischen Bibliothek«, 1. Sammlung, Frankfurt und Leipzig 1760; nidit paginiert. 11 Dialog über die Satire; in: Essays, München 1958. Der Dialog beginnt mit folgenden Sätzen : »Es kann nicht einer Christ sein und ein Satiriker zugleich, ich meine in Mark und Bein, von Grund aus, aus der Wurzel, funditus, mit Herz und Galle. Er muß das eine sein oder das andere. Ceci tuera cela! Man kann nicht zwei Herren dienen, der Liebe und dem Haß« (S. 361). 12 J. B. Mencke, Ausführliche Vertheidigung . . . 13 Gottlieb Wilhelm Rabeners Sämmtliche Schriften, 2. Tl., Leipzig 1777, S. 28. 14 Hall. Neudr. Nr. 1, Halle «1955. 15 Ähnlich äußert sich auch A. Buchner über die »Satyra«, die, wie er sagt, die »Fehler und Laster der Menschen höflich (!) durchziehet und mitten unter dem Lachen und Sdiertzen nützliche Anweisung zur Tugend thut« (A. Buchners Anleitung Zur Deutschen P o e t e r e y . . . , hg. von Othone Prätorio, Wittenberg 1665, S. 10); in der von G. Göze besorgten Ausgabe von Buchners Poeterey - deren Authentizität übrigens von den Erben des nädist Opitz wohl bedeutendsten Poetikers des 17. Jahrhunderts bestritten wurde - heißt es, daß die Satyra »schertzweise / und in lachendem

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zische Empfehlung zu halten und das Nützliche, das heißt hier: die Sittenlehre durch eine ergötzliche Darbietungsart annehmbar zu machen. Eine kaum zu realisierende Forderung, denn Opitz bemerkt ausdrücklich, daß die »Seele« der Satire die »harte Verweisung der laster vnd anmahnung zue der tugend« (20) sei; es entgeht ihm auch nicht, daß sich die satirische Praxis durchaus nicht immer im Einklang mit seiner Theorie befindet: die »harte« Verweisung, bemerkt er, werde »mit allerley stachligen vnd spitzfindigen reden« geübt, die der Satiriker »wie mit scharffen pfeilen vmb sich scheußt« (20). Eine Ermunterung zum Satirisieren wird man aus diesen widerspruchsvollen Bemerkungen nicht herauslesen können. Vielmehr besteht kein Zweifel, daß Opitz den Satirikern mißtraut hat. Zwar bescheinigt er den satirischen Scribenten, daß »sie vngeschewet sich vor feinde aller laster angeben« und »jhrer besten freunde ja jhrer selbst audi nicht verschonen« ; doch täten sie das einzig zu dem Zweck, »damit sie nur andere bestechen mögen« (20). Die moralische Entrüstung des Satirikers erscheint Opitz also unglaubwürdig. Er hat darin offenbar nur einen fadenscheinigen Vorwand für die Entfaltung einer im Grunde unverantwortlichen literarischen Tätigkeit gesehen. In dem Abschnitt über das Epigramm wird Opitz noch deutlicher. Der Epigrammatiker sei gut beraten, erklärt er, wenn er vor allem im »Lobe16 vornemer Männer vnd Frawen, kurtzweiligen schertzreden« usw. (20) zu bestehen suche. Von »spöttlicher hönerey vnd auffruck anderer leute laster vnd gebrechen« (21) rät Opitz ab. Es sei eine »anzeigung eines vnverschämten sicheren gemütes, einen jetwedern, wie vnvernünfftige thiere thun, ohne vnterscheidt anlauffen« (21). Da für Opitz die »Satyre ein lang Epigramma, vnd das Epigramma eine kurtze Satyra« ist (20), dürfte seine Empfehlung und Ermahnung auch Muthe von allerley nützlichen Sachen / sonderlich aber / wie der Tugend nach zu jagen / die Laster aber zu meiden seind / Unterricht gibet / und höfliche (!) Vermahnung thut« (A. Buchners kurzer Weg-Weiser zur Deutschen T i d i t k u n s t . . . , hg. von Georg Göze, Jena 1663, S. 39). Über die einzelnen Ausgaben von Buchners Poetik unterrichtet H . H. Borcherdt, A. Buchner und seine Bedeutung für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts, München 1919, S. 45 ff. 18 Vgl. Grimmelshausen, Satyrischer Pilgram, in: Simplicissimi Staats-Kram, Nürnberg 1695; Das I.Kapitel: Von Gott / und dessen Lob; s. a. 2. Tl., I.Kapitel, S. 63 : »In summa / die Poeten schleppen sich mit allerhand zwar schönen und sinnreichen / aber jedoch an sich selbst magern und hungrigen Versen / andere entweder damit zu loben oder zu schelten / welches sie beydes zu übermachen pflegen. Wann sie aber ihre Talenta zu den Ehren Gottes anlegten / so solte man sie billich nicht nur wie den Petrardia durch den gantzen Senatum Romanum in Capitolio mit Lorbeern bekräntzen: sondern wie dem Bembo und Bibbiena beschehen / mit rothen Cronen würdigen.«

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für die Satiriker gelten. Was sich hier äußert, ist der Glaube, daß alle Menschen Sünder seien und daß es daher der Ausdruck schamlosen Hochmuts sei, sich über seinen Nächsten zu erheben und seine Sünden in »spöttlicher hönerey« öffentlich zu brandmarken. b) Diese Auffassung wurde freilich nicht von allen Dichtungstheoretikern des 17. Jahrhunderts vertreten. So definiert etwa Daniel Georg Morhof: »Eine Satyre ist ein Gedichte / darinnen die heimlichen Laster / die bey etlichen Personen im Schwange gehen / gestraffet und hönisch auffgezogen worden / und hat zur Endursache / die Verbesserung der Sitten« ( 6 7 7 ) " . Auch hier wird, wie bei Opitz und Buchner, die Verbesserung der Sitten zum Hauptzweck der Satire erklärt. Die Frage nach der Zulässigkeit dieser Schreibart scheint für Morhof nicht mehr aktuell gewesen zu sein. Großen "Wert legt er dagegen auf eine deutliche Unterscheidung der Satiren, die er »Schimpff- oder Straff-Gedichte« (677) nennt, von den Pasquillen, »welche ehrliche Leute anrüchtig machen / und also billig nicht gelitten werden« (677) 18 . Diese Abgrenzung enthält zugleich eine Wertung: Morhof unterscheidet die durch ihre moralische Tendenz sanktionierte Strafschrift von der amoralischen und daher strafwürdigen Schmähschrift, deren Ziel nicht die Bloßstellung des Lasters, sondern die Verhöhnung oder Verdächtigung der Tugend ist. Er bedauert, daß es nur wenig Satiren in deutscher Sprache gebe. Die Satiren von Lauremberg und Rachel, Grimmelshausens »Satyrischer Pilgram« und Chr. Weises »Politischer Näscher« werden als verheißungsvolle Ansätze begrüßt. »Solche Arbeiten ergötzen und erbauen zugleich / und können«, wie Morhof abschließend respektvoll bemerkt, nur von »tieffsinnigen oder weitsehenden ingeniis ersonnen werden« (681). Hier hat sich ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Aber die alten Skrupel sind damit durchaus nicht für immer beschwichtigt. 17 Daniel Georg Morhofens Unterridit von der Teutsdien Sprache und Poesie / Deren Ursprung / Fortgang und Lehrsätzen / Sampt dessen Teutsdien Gedichten / Jetzo von neuem vermehret und verbessert / und nach deß Seel. Autoris eigenem E x emplare übersehen / zum andern mahle / Von den Erben / herauß gegeben. Lübeck und Frankfurt 1700; Erstdruck: Kiel 1682. 18 Audi A. Büchner hatte sich energisch von den Pasquillanten distanziert. Nach seiner Auffassung sind Autoren, die »ehrliche Leute durdiziehen / und mit ihren Lästerversen / den guten Nahmen / welchen sie erlanget / ihnen abzuschneiden bemühet seyn / durchaus nidit für rechtschaffene Poeten zu halten / angesehen / daß sie diese herrliche Gabe Gottes gröblich misbraudien / und der so schönen Kunst einen schändlichen Schandfleck anthun« (A. Buchners Poet. Aus dessen nachgelassener Bibliothek hg. von Othone Prätorio, Wittenberg 1665, S. 35).

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c) Auch Magnus Daniel Omeis weist in seiner »Gründlichen Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dichtkunst« (Nürnberg 1704) darauf hin, daß in der zeitgenössischen deutschen Literatur kaum Satiren von Rang zu finden seien. Mit Ausnahme von Joachim Rachel, der der »Selbst-Erfindung« und »schicklichen Schreib-Art« (224) nach einen gewissen Anspruch auf Originalität erheben könne, gebe es fast nur Ubersetzungen von lateinischen und französischen Vorlagen. Omeis findet diesen Sachverhalt aber durchaus nicht beklagenswert. Für Satiriker, die sich anheischig machen wollen, diese Lücke zu schließen, stellt er einen bemerkenswert »gründlichen« Katalog von Forderungen, Ratschlägen und Warnungen zusammen. Nach seiner Ansicht gehören »zu dieser Poesie ein fröliches Gemüt und munterer Kopf / ein gutes Judicium, lustig- und lächerliche Einfälle / stachlichte / doch nicht garstigund unzüchtigeWorte / wolersonnene Gleichniße und Sprüchwörter / eine merkliche Erfahrenheit und scharfes Einsehen in die allgemeine oder auch privat-Laster / irraisonable Gewohnheiten / und allerlei Begebenheiten gegenwärtiger Zeiten« (225) 1β ; ferner die fleißige Lektüre des 19 Von dieser Definition profitiert nodi der anonyme Verfasser der »Anleitung zur Poesie / Darinnen ihr Ursprung / Wachsthum / Beschaffenheit und rechter Gebrauch untersuchet und gezeiget wird«, die 1725 bei M. Hubert in Breslau erschien. Im 13. Kapitel (Von moralischen Gedichten und Satyren) dieser Anleitung lesen wir: »Zur satyrischen Schreib-Art gehört ein lustiges Naturell, reifes Judicium, lustige und lächerliche Einfälle, stachlichte Redensarten, gute Erfahrung von der Menschen Lebens-Art, absonderlich des Ortes, davon man schreibet. Die Schreib-Art an sich selbst muß voller weit hergeholten Metaphoren, lächerlicher und sinnreicher Reden, dergleichen die Sprüchwörter, und endlich voller seltsamen Beschreibungen seyn, die in andern Gedichten nicht gedultet werden« (§ 5, S. 123); der zweite Teil dieses Paragraphen ist aus Morhofs »Unterricht« entlehnt, wo es heißt: »In der (satirischen) Redensart werden weithergeholete / verwegene Metaphorae, sinnreiche lächerliche Reden und Sprüchwörter / seltzame Beschreibungen zugelassen / die in andern Carminibus eines emsthafften argumenti nicht gebilliget werden« (a.a.O., S. 678). Ebenfalls ohne Quellenangabe übernimmt der Anonymus auch Omeis' Hypothese über die Entstehung der Satire. Mit seinem Gewährsmann vertritt er die Ansicht, daß die Satiren »von den Hirten ihren Ursprung haben. Denn wenn solche in die Städte gekommen, und der Bürger üppiges Leben gesehen, werden sie ohnfehlbar ihre Glossen darüber gemacht, und in Gedichte verfasset haben. Hernach bey den alten Griechen wurden solche Satyren den Tragoedien angehängt: damit sie das Widerige und Traurige der Tragoedie mit etwas angenehmen und lächerlichen temperirten. Sie sind aber hernach weggeschafft worden, bis hernach Horatius, Juvenalis und Persius unter denen Römern hierinnen die Bahn gebrochen, und solche Schreib-Art wiederum in ihren Gedichten angewendet« (Anleitung, S. 121 f.); bei Omeis lautet der entsprechende Abschnitt: »Von den Hirten mögen auch wol die Satyren oder Straf-Gedichte ihren Ursprung genommen haben; indem jene / anfangs der Poëterey / wann sie in die Städte gegangen / und das ihnen ungewöhnliche üppige Leben gesehen / mit dergleichen Gedichten die Bürger anzustechen und auszumachen pflegten. Dargegen diese / weil ihnen die Ausfilzung weh gethan / die Hirten mit den Namen der Satyren beschimpfet; als von welchen hernach diese Gedichte ihren Namen empfangen«

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Horaz, Juvenal und Persius; für nützlich hält Omeis audi das Studium der Schriften Jacob Baldes (»qui inter Satyricos nostrorum temporum Latinos familiam ducit«) und der von Lauremberg, Rachel und Weise veröffentlichten Satiren (vgl. 225 f.). »Wer diese / wo nicht alle / doch meiste / requisita nicht bei sich findet«, heißt es abschließend, »der bleibe zu Hause; damit / indem er andere will durchziehen und auslachen / er selbst mit größerem Recht nicht ausgelachet und durchgezogen werde« (226). Es ist offenkundig, daß angehende Satiriker sidi durch derartige Anweisungen nicht zu einem Wettstreit etwa mit Juvenal oder Boileau aufgefordert fühlen konnten. Das lag indessen auch gar nicht in der Absicht des Verfassers der »Gründlichen Anleitung«. Omeis war nämlich der Meinung, daß es gut sei, der satirischen Schreibart »nicht allzu sehr anzuhangen« ; und zwar aus folgenden Gründen: »Wann man diese oder jene Laster / unter Poetischer Freiheit / will durchstriegeln / so kan man gar leicht in eine Scurrilität / Lästerung / eigene Rachgier u. d. Übel verfallen. Es gehöret eine gar große Klugheit hierzu / daß man der Sache nicht zuviel thue: ist also rathsamer / sich solcher StadielSchrifften zu enhalten / und die edle Zeit auf Geistliche oder andere löbliche Gedichte anzuwenden / dadurch man vielleicht nachdrücklicher sich erbauen und ergetzen / auch den Nechsten mit Christlicher Bescheidenheit ermahnen und beßern möge« (226). Hier wird dieselbe Warnung ausgesprochen, die wir schon aus Opitz' »Poeterey« kennen. Der legitime Auftrag des Poeten sei es, behauptet audi Omeis, zu loben20 und nicht zu tadeln. Damit könne der eigent(a.a.O., S. 223). Als eine Kompilation aus Morhof und Omeis erweist sich ferner die im 13. Kapitel (§ 4) der »Anleitung« vorgetragene Definition der Satire (vgl. Anleitung, S. 120 f., Morhof, a.a.O., S. 677; Omeis, a.a.O., S 225). Schließlich sei nodi erwähnt, daß sogar die Persius-, Juvenal- und Horaz-Charakteristik der »Anleitung« nahezu wörtlich mit dem entsprechenden Passus in Omeis' Poetik übereinstimmt. Das »Aussdireiben« von Autoritäten war in der damaligen Zeit durchaus üblich; Omeis selbst profitierte vor allem von Morhof und Weise; vgl. G. W. Sacers Bemerkungen über die Gepflogenheiten der »Kunst-Diebe« im 9. Kapitel seiner satirischen Poetik »Reime dich / oder ich fresse dich«, Noithausen 1673, S. 23 ff. Mit Recht setzt sich dagegen der von der zeitgenössischen Kritik als Plagiator denunzierte Gottsched in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner »Critisdien Dichtkunst« (1737) gegen den Vorwurf des Ausschreibens zur Wehr. Gottsched hat, im Gegensatz zu vielen anderen Poetik-Verfassern, seine Entlehnungen stets genau nachgewiesen. 20 Vgl. G. Ph. Harsdörffer: »Wir Menschen können die Neigung zum Bösen nicht von uns werffen; aber selbe wol im Zaum halten / und beherrschen. Man kan wol bey Frölidikeiten ein erfreuliches Schertzwort hören lassen: aber nicht mit groben Schandbossen / und Narrendeutungen / die den Christen nicht geziemen / aufgezogen kommen: jenes ist höflich und zulässig / dieses unhöflich / verwerflich / und bey groben Gesellen / aber nicht bey ehrlichen und tugendliebenden Personen gebräuchlich...

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liehe Z w e c k der D i c h t u n g - d e n N ä c h s t e n z u bessern - sicherer erreicht w e r d e n als m i t der z u r B e f r i e d i g u n g v o n R a c h e g e l ü s t e n v e r f ü h r e n d e n » D u r c h s t r i e g e l u n g « der Laster. U b e r d i e M o t i v i e r u n g dieser A u f f a s s u n g brauchen w i r nicht m e h r z u sprechen. O m e i s selbst h ä l t e i n e n ausdrücklichen H i n w e i s a u f d i e christliche E i n s c h ä t z u n g des h ö h n i s c h e n T a d e l s nicht f ü r g e b o t e n . E s m a g n u r n o c h e r w ä h n t w e r d e n , d a ß sich seine D e f i n i t i o n der S a t i r e e n g a n M o r h o f a n l e h n t 2 1 u n d d a ß er w i e d i e m e i s t e n P o e t i k e r des 17. u n d t e i l w e i s e auch noch des 1 8 . J a h r h u n d e r t s d i e S a t i r e fälschlicherweise v o m griechischen S a t y r s p i e l h e r l e i t e t 2 2 . d) M i t ä h n l i c h e n A r g u m e n t e n w i e O p i t z , Buchner u n d O m e i s w e n d e t á c h auch Christian

Thomasius23

g e g e n d i e S a t i r e u n d d i e Satiriker.

Ein löblicher Poet schreibet allezeit solche Gedidite / die zu Gottes Ehre zielen / große Herren / und gelehrte Leute belustigen / die Unverständigen unterweisen / der Verständigen Nachsinnen üben / die Einfältigen lehren / die Betrübten trösten / und der Frölidien Freude vermehren« (Poetischer Trichter, 1. Teil, 1. Stunde, S. 8; Nürnberg 1650). 21 Vgl. Omeis, a.a.O., S. 225: »Heut zu Tage verstehen wir durch eine Satyre / ein stachlicht- hefftig- und doch lustiges Gedicht / welches entweder auf Dramatische Art / oder nur Erzehlungs-weise / die im Schwang gehende Mängel und Laster / audi den daher entspringenden so öffentlichen als privat-Ubelstande / mit herb- und spitzigen Worten durchhechelt / um dadurch die sündliche und böse Gewohnheiten verhaßt zu machen / und die Leute zu beßern«; s. a. Morhof, a.a.O., S. 677. 22 Erst I. Casaubonus hat in seinem Werk »De Satyrica Graecorum Poesi, et Romanorum Satira« (2 Bücher, Paris 1605, bes. S. 278 ff.; dt. Ausg. von Rambach, Halle 1774) den »Unterschied zwischen dem griechischen Satyrspiel und der römischen Satire erkannt und aufgezeigt« (vgl. I. Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, Beihefte z. Zeitschr. f. roman. Philologie, N r . 92, Halle 1940, S. 129; im 16. Jahrhundert war die Satire noch ständig mit dem Satyrspiel zusammengetan und verwechselt worden; vgl. I. Behrens, a.a. O., S. 211). Omeis (a.a.O., S. 224) erwähnt Casaubons Werk zwar; aber da er bereits den Titel falsch zitiert, ist anzunehmen, daß er es nicht eben sehr genau gelesen hat. Ober das Verhältnis der römischen zur modernen Satire unterrichten U. Knoche, Die römische Satire, Göttingen 21957, S. 7-13; O. Weinreich in der Einleitung zu den von ihm herausgegebenen »Römischen Satiren«, Zürich 1949, S. V I I - X X I I I und W. Kroll, Artikel Satura, Realencyclopädie der class. Altertumswissenschaft (Neue Bearbeitung) 2. Reihe, 3. Halbband, Stuttgart 1921, Sp. 192-200. Aus diesen Arbeiten geht hervor, daß die Etymologie uns ihre Hilfe bei der Bestimmung des modernen Begriffs der Satire und des Satirischen versagt. Das Wort Satire (die Form Satyra wurde fälschlicherweise in Anlehnung an greh. satyros konstruiert) leitet sich von lat. satura (mit zu ergänzendem lanx) her, was ursprünglich soviel wie Füllsel, Gemengsei, buntes Allerlei bedeutete. Von dieser Bedeutung nahm die literarische Verwendung von satura ihren Ausgangspunkt. Es ist deutlich, wie weit die modernen Anschauungen über das Wesen und die Aufgabe der Satire von der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes abgerückt sind. 23 Höchstnöthige Cautelen Welche ein Studiosus Juris, Der sich zu Erlernung der Rechts-Gelahrtheit Auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will, zu beobachten hat. Halle 1713.

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Besonders scharf wird die »geschriebene Injurie« (worunter sowohl die Personalsatire als audi das Pasquill verstanden werden kann) verurteilt. Aber auch vor den »behutsam« geschriebenen Satiren glaubt Thomasius seine Studenten warnen zu müssen. Dem »Liebhaber der Weißheit« wird nahegelegt, sich dieser Schreibart zu enthalten. »Denn es kan nicht fehlen / er muß sich Feinde dadurch machen / und den Leser bessert er auch nicht damit / ja seine eigne heimliche Ehr- und Rachgierde wird dadurch nur gestärcket« (158 f.). Die »Höchstnöthigen Cautelen«, denen dieser Abschnitt entnommen ist, stellen eine Art Studienführer dar; sie sind von einem Juristen für Studierende der Jurisprudenz verfaßt. Es ist daher begreiflich, daß Thomasius (der in seiner Jugend übrigens selbst Satiren verfaßt hatte) 24 sich verpflichtet fühlte, die satirischen Ambitionen seiner jugendlichen Leser vorsorglich zu dämpfen. Beachtung verdient seine beiläufig hingeworfene Feststellung, daß der Satiriker außerstande sei, den Lasterhaften durch seine Schriften zu bessern. Damit berührt Thomasius eine wichtige Frage, die später von Mauvillon und Unzer, Lichtenberg und anderen in den Mittelpunkt der Erörterung über das Wesen und die Funktion der Satire gerückt wird. Nur ein indirekter moralischer Effekt wird der Satire zugestanden: Thomasius vermerkt ausdrücklich, daß die Lektüre satirischer Schriften nicht schädlich sei, da sich »darinnen die Thorheit und Laster der Menschen deutlich beschrieben und mit lebendigen Farben abgemahlet« finden, wodurch sie einem um die »Erkenntnis des allgemeinen und seines eignen Elendes« (159) bemühten Liebhaber der Weisheit nützlich sein könnten. Wir werden später sehen, daß die meisten der hier zusammengestellten Argumente für und wider die Satire nur geringfügig modifiziert in Gottscheds »Critischer Dichtkunst« wieder auftauchen. Bevor wir aber auf das den »Strafschriften« gewidmete Kapitel dieser umstrittenen Poetik eingehen (deren Verfasser übrigens selbst zum Gegenstand zahlreicher Satiren wurde) 25 , sollen zuvor einige Satiriker zu Wort kommen.

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Vgl. K. Borinski, Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland, Berlin 1886, S. 343, Anm. 4. 25 U . a. in den »Critisdien Betraditungen und freyen Untersuchungen zum Aufnehmen und zur Verbesserung der deutschen Schau-Bühne« von Bodmer (Bern 1743); die »Critisdien Betraditungen« enthalten audi das gegen Gottsched gerichtete »Vorspiel« von Rost.

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e) Mit Witz und Geschick verteidigt sich Christian Weise gegen seine Kritiker. Im 36. Kapitel seines »Politischen Näschers«28 wird die Frage aufgeworfen, ob der Autor der debattierfreudigen »Drei ärgsten Erznarren in der ganzen Welt« (diesen satirischen Roman hatte Weise 1673 unter dem Pseudonym Catharinus Civilis veröffentlicht) recht daran getan habe, die Torheiten der Narren zu verspotten. Bereits der Titel des Romans erregt Anstoß. Es sei unchristlich, behauptet einer der Teilnehmer an dem von Weise inszenierten kritischen Diskurs über »Catharinus Civilis«, seinen Bruder einen Narren zu schelten (vgl. 365 f.). Ein Buch aber, in dem »alles in die Narren-Schule gejaget wird« (366), sei verwerflich und unnütz. »Was wird auch die Welt gebessert / wenn sie solche Possen lieset?« (366) Wer die Schwachheit »öffentlich durchhechelt«, dürfe sich nicht wundern, wenn dadurch Unmut und Verdruß erregt werde. Außerdem sei zu vermuten, daß der Autor, anstatt das Laster und die Torheit zu beschämen, vielmehr »bißweilen gar aus eigener Privat-Rache einen Stich nach dem andern ausgetheilet / und einen Schimpff so eingerichtet hätte / daß ihrer viel mit Fingern auf den ehrlichen Mann weisen müsten« (366). Ein Student, der - wie es nicht ohne Selbstironie heißt - den »Auctorem besser kennen oder . . allbereit bessere Judicia von dem Buche gehöret haben« (367) mochte, übernimmt es, Weise gegen diese Vorwürfe zu verteidigen. »Daß ein Mensch des höllischen Feuers schuldig ist / wer seinen Bruder einen Narren heist« (368), wisse der Verfasser wohl. Doch, fährt er fort, wie werden »Salomon und Jesus Sirach zu rechte kommen / daß sie auch ziemlich offt mit Narren umb sich werffen?« (368) Es sei ein Unterschied, ob man seinen Bruder öffentlich als Narr bloßstellt oder ob man ganz allgemein von Lastern spricht, ohne sie auf bestimmte Personen zu beziehen. Das zweite Verfahren habe der Verfasser der »Drei ärgsten Erznarren« angewandt: er rede »von Lastern in einer andern Gestalt / und unter gedichteten Personen / derer sich keiner anzunehmen hat« (369). Ferner sei zu bedenken, daß die Ethica eine »bittere Artzney« 27 sei, die »von allen moralischen Patienten nicht gern angenommen wird«. Daher sei es notwendig, daß »bißweilen ein Philosophus aufftritt / und die Artzney mit lustigen und 2 e Christian Weisens Politischer Näsdier / Aus Unterschiedenen Gedancken hervorgesudit / Und Allen Liebhabern zur Lust / Allen Interessenten zu Nutz / Nunmehro in Druck befördert. Leipzig 1693; vgl. H . Haxel, Studien zu den Lustspielen Christian Weises ( 1 6 4 2 - 1 7 0 8 ) . Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Sdiuldramas; Diss. Greifswald 1932, S. 72 ff. 2 7 Vgl. Chr. L. Liscow, Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften, Frankfurt und Leipzig 1739, S. 283 ff.

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angenehmen Zucker dergestalt temperirt / daß sie hernach besser zu Halse geht« (369). Endlich sei zu vermuten, daß Gott und die Natur nicht ohne Grund hin und wieder »lustige Ingenia« erweckt hätten. Unter Berufung auf die satirischen Schriften des Erasmus von Rotterdam weist der Student (alias Chr. Weise) nach, daß man auch »im Schertze« großen Nutzen stiften könne. »Wäre die Welt nicht so harthörig / so dürffte ihre Thorheit nicht mit solchen Mitteln curiret werden« (370). Indessen habe der Autor der »Drei ärgsten Erznarren« ja niemand mit »unzüchtigen, Gotteslästerlichen und andern Possen« (367) beleidigt, sondern nur sagen wollen: »Das ist der ärgste Narr / der wegen einer zeitlichen Lust die ewige verschertzet / nach diesem / der wegen einer lustigen Viertel-Stunde in zeitliche Schande geräth / endlich / der wegen einer elenden Ergötzligkeit seine Gesundheit in die Schantze schlägt. Soll er nun sprechen / es wären kluge Leute / die solches thun: Oder soll er die That bey ihren rechten Nahmen nennen?« (371 f.). Damit endet der Streit. Die Kritiker verstummen; und Crescentio die passive Hauptfigur dieser traktatartigen Schrift, deren eigentliche Leistung im Zuhören besteht — zieht als Stellvertreter des Lesers das Fazit aus dem Diskurs und erwägt, mit der Zeit »muthiger .. an dergleichen [satirische] Schreib-Art zu gedenken« (372). Der Leser aber wird mit der Uberzeugung entlassen, daß die scherzhaft vorgetragene Scheltrede des Satirikers nicht sträflich sein könne, da sich sogar die Propheten des Alten Testaments ihrer bedient hatten. f) Mit dem Advokaten-Geschick der Weiseschen Selbstrechtfertigung kann sich Philander von der Linde (d. i. Johann Burkhard Mencke) nicht messen. Seine »Ausführliche Vertheidigung Satyrischer Schriften« 28 wird ohne Ironie vorgetragen. Neben einer Anzahl von uns bereits bekannten, zeittypischen Argumenten enthält sie jedoch einige Bemerkungen, die es verdienen, wenigstens kurz erörtert zu werden. Die meisten Menschen, erklärt Mencke, hätten von der Satire so »böse und gefährliche Ideen« (1), daß es verwegen sei, Satiren zu schreiben; »noch viel verwegener« aber sei der Versuch, »denen Leuten ihre einmahl gefaste Vorurtheile zu benehmen« und ihnen einen »bessern Concept« von der Satire beizubringen (1). Es sei aussichtslos, sie davon zu überzeugen, daß der Satiriker das Recht habe, »die Eitelkeit der Welt 28 In; Philanders von der Linde Schertzhaffte Gedichte / Darinnen So wol einige Satyren, als auch Hochzeit- und Schertz-Gedichte, Nebst einer Ausführlichen Vertheidigung Satyrischer Sdirifften enthalten. Leipzig 1722 (Erstdruck: 1706). Die Seitenzählung der unpaginierten »Vertheidigung« vom Vf.

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zu belachen, und die allgemeinen Irrthümer und Fehler, so fern sie wider die Vernunfft selber streiten, mit scharfer Feder fürzustellen« (1 f.). Nur weil er nicht wünsche, daß ihm ein Platz unter der Statue des Pasquino angewiesen werde, wolle er darlegen, »wie weit die Satyre von einer Schmähschrift entfernt« (2) und daß »zwischen einem Satyrico und einem Pasquillanten einiger Unterschied zu machen« sei (1). Mendie räumt ein, daß die satirische Schreibart zwar »ungemeines Saltz und Schärfie« erfordere, weil die »Laster dadurch eben so wol, als die Flekken durch das Scheide-Wasser, müssen ausgebissen werden« (2). Doch hätten schon die Alten zwischen dem satirischen Salz und dem sal nigrum, dem »verläumderischen Saltze«, unterschieden, wie man aus ihren Bemerkungen über die »Ertz-Pasquillanten« Archilochos, Hipponax, Bion usw. entnehmen könne. Zwar werde sowohl in den Satiren als auch in den Schmähschriften etwas getadelt, jedoch mit dem Unterschied, daß der Satiriker die Untugenden und den Übelstand angreift, der Pasquillant hingegen häufig auch die Tugend lächerlich macht. Vor allem aber müsse man den »Endzweck« deutlich vor Augen haben: während der Satiricus darauf zielt, »wie er die verderbten Sitten der Menschen verbessern und sich also um seinen Nechsten wol verdient machen möge« (2 f.), tastet der Pasquillant die Leute »an ihrem ehrlichen Nahmen an, und suchet ihren Ruhm durch Lästerungen und Verläumdungen wo nicht gar auszulöschen, dennoch zu schmälern und zu schwächen« (3). Das alles ist nicht neu. Hervorzuheben wäre in diesem Zusammenhang nur, daß Mencke unter Berufung auf Boileau den freilich recht zaghaften Versuch unternimmt, die Personal-Satire und damit das umstrittene Redit der Namensnennung zu verteidigen. Allerdings müsse ein Satiricus »mit Benennung lasterhaffter Personen gar behutsam gehen, wenn er nicht einen Injurien-Proceß an den Halß haben will, zumal da die Personen etwan von Extraction und ansehnlicher Familie sind« (4). Das klingt reichlich servil. Indessen war es ja nicht Menckes Absicht, Märtyrer der Wahrheit heranzubilden. Angesichts der im 18. Jahrhundert herrschenden politischen und gesellschaftlichen Zustände ist seine Ermahnung zur Vorsicht durchaus verständlich. Mencke hält die satirische Manifestation des Unwillens über die Fehler von Standespersonen zwar für ein erlaubtes, jedoch höchst gefährliches Unternehmen. Es sei nichts dagegen einzuwenden, erklärt er, wenn man den Leuten ihre Fehler auf eine »hönische und gesaltzene Manier« (12) vorhält; doch stünde es einem »Privatus« nicht an, »über die Staats-Fehler zu judiciren« (12). Als »ein guter Freund« wolle er 12

daher allen Satirikern raten, daß »sie sich um grosser Herren Gebrechen nicht bekümmerten, und die Sorge dieselben zu verbessern ihren SeelSorgern lediglich überliessen« (12). Wer z.B. die Talentlosigkeit eines schlechten Poeten verspottet, riskiere wenig oder nichts. Ist die Person, deren Laster und »Foiblessen« der Satiriker beschreiben und strafen will, jedoch »von hohen Ansehen, von einer guten Familie, von großen Vermögen usw.« (6), so handle er »wo nicht unrecht, dennoch verwegen, wenn er ihn nennet, wäre es auch gleidi Stadt- und Welt-kiindig, daß es ein Betrüger, ein Debauchante, ein Ridicule und dergleichen sey« (6). Nur wenn man gar keine Gefahr dabei laufe und die Standespersonen ohnehin »verhaßt und infam« genug sind, sei nicht einzusehen, warum man sie illustrationis gratia nicht nennen sollte, zumal diese Exempel gleichsam die »Seele der Satyre« und die Namen die Seele der Exempel seien (7). Diese Erwägungen sind durchaus geeignet, selbst zum Gegenstand einer Satire zu werden. In der Aufstellung von Vorsichtsmaßregeln kann Mencke durchaus mit Rabener konkurrieren. Er unterwirft sich in einer peinlich anmutenden Weise den politischen und gesellschaftlichen Realitäten. Die Folge davon ist, daß die Kompetenz des Satirikers auf die Verspottung von Bagatell-Delikten oder von Leuten, die sich nicht wehren können, eingeschränkt wird. Ein solcherart an die Kandare genommener »Sittenrichter« wäre ein guter Untertan, aber kein Satiriker. Das sieht auch Mencke. Und daher will er unter allen Umständen den Vorwurf entkräften, daß er ein Anwalt des Opportunismus sei. Auf die Frage, ob ein Satiricus die »Fehler des Staats entdecken, und zum andern grossen Herren ihre Untugenden fürhalten dürfte« (7), reagiert er, nicht ungeschickt, mit der Gegenfrage, ob es einem Politicus erlaubt sei, Staats-Fehler zu kritisieren und ob ein Prediger die Laster hoher Potentaten strafen dürfe (vgl. 8). Diese Frage wird bejaht. Aber, fährt Mencke in seiner Argumentation fort, wenn auch der Geistliche und der Satiriker denselben »Endzweck« — nämlich die »Verbesserung der Sitten« (8) - hätten, so sei der Geistliche durch eine »besondere Vocation« zur seelsorgerischen Betreuung verpflichtet, dem christlichen Satiriker dagegen sei die Vermahnung des Nächsten nur auf Grund einer »allgemeinen Obligation« (die sich aus 1. Thess. V, 14 f. herleiten läßt) gestattet. Mencke unterscheidet also zwischen offizieller Befugnis und stillschweigender oder gewohnheitsmäßiger Zulassung. Die allgemeine Obligation aber, das ist seine Uberzeugung, bietet dem Satiriker nur einen unzureichenden Schutz vor den Vergeltungsmaßnahmen der 13

großen Herren. Deshalb wiederholt er seine Warnung: »Wer nicht durch den Character eines Ambassadeurs oder ordinirten Predigers protegiret wird, giebet denen, welche sich durch seine Satyren getroffen finden, durch die scharffe Schreib-Art, die von dergleichen Schafften unmöglich kan abgesondert werden, Gelegenheit an die Hand, daß sie ihn vor einen Pasquillanten und Majestäten-Schänder angeben, und in Leib und Lebens-Gefahr bringen können« (8 f.). Diese Frage ist Mencke so wichtig, daß er sie an einer andern Stelle der »Vertheidigung« noch einmal aufrollt: »Straffen und Belohnen«, heißt es da, »stehet zwar eigentlich alleine GOTT und hoher Obrigkeit zu«, und die Ankündigung von Strafen und Belohnungen sei die »vornehmste Pflicht derer Prediger und Gesetzgeber«. Doch »loben und tadeln ist allen Menschen zugelassen, damit die Frommen beständig seyn, und Böse sich schämen und bessern lernen« (12 f.). Wir haben es für notwendig gehalten, ausführlich zu zitieren, weil es uns wichtig erschien, zunächst die zeitgenössischen Ansichten über die Vollmacht und die Aufgabe des Satirikers, über die Zulässigkeit der Satire oder die Gründe ihrer Verpönung zur Sprache zu bringen. Der Leser möge diese Ausführlichkeit, bei der Wiederholungen nicht immer zu vermeiden waren, einstweilen in Kauf nehmen. Wir werden uns dafür später in unseren Detailuntersuchungen von satirischen Texten des 18. Jahrhunderts mit kurzen Rückverweisen auf diese Zusammenstellung von Meinungen, Irrtümern und wirklichen Erkenntnissen begnügen können. J. B. Mencke gehört übrigens zu den wenigen Theoretikern, denen es nicht genügte zu beweisen, daß die Satire an sich weder böse noch verwerflich sei (vgl. 12), er stellt auch nodi einige Ratschläge zusammen, wie man Satiren schreiben solle. Einen solchen Wink hatten wir bisher nur bei Thomasius gefunden, der diejenige Satire, die den Charakter einer freilich durchschaubaren »Zweideutigkeit« anzunehmen weiß, als die beste bezeichnet29. Auch Mencke empfiehlt die ironische Schreibart. Man müsse, fordert er, das Tadelnswerte als »etwas heßliches und ungereimtes mit seinen natürlichen Farben abzumahlen suchen« (13). Die Darstellung müsse so geartet sein, daß sich der Leser vor dem abgebil2 9 Vgl. Thomasius: »Die gröste Kunst eines Satyrici bestehet darinnen / daß er zweydeutig schreibet / dodi so / daß der Leser den verborgenen Verstand und die rechte Meinung ohne sonderbahre Mühe errathen kan« (a.a.O., S. 158); s. a. Klopstock: »Die rechte Ironie ist eine gar keusche Dirne, enthält sich mit großer Strenge des Mitlachens. A m besten hat sie's troffen, wenn nicht etwa nur, wer mit H a u t und H a a r Gauch ist, sondern auch der Kliigling denkt, sie meine das in allem Ernste, was sie sagt« (Die deutsche Gelehrtenrepublik; Sämtl. Werke, 8. Bd. Leipzig 1855, S. 109).

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deten Laster ekelt. Damit dieser Effekt erzielt werde, genüge es jedodi nicht, einfach zu sagen, was verboten oder schädlich sei, sondern »es brauchet allerhand Ironien, Sarcasmos, Hyperbolen und andere Inventiones mehr, denen Leuten vor dasjenige, was sie lieben, einen Abscheu zu machen« (13). Mencke erkennt also - und das ist immerhin ein gewisser Fortschritt - was die Satire bei einerlei »Endzweck« mit der Predigt oder dem moralischen Traktat von solchen moralpädagogischen oder erbaulichen Schriften unterscheidet. Nach Weises Vorbild benutzt Mencke auch die Heilige Sdirift zur Verteidigung der satirischen Schreibart. Mit einer Fülle von Belegen weist er nach, daß auch in der Bibel »Ironien und dergleichen andere Figuren, deren sich vornehmlich die Satyrici bedienen . . . zu finden seyn« (16 f.). Die »Ausführliche Unterredung von der Deutschen Poesie und ihren unterschiedenen Arten« 3 0 bringt in den der Satire gewidmeten Abschnitten nur eine kurzgefaßte Wiederholung der Gedanken, die Mencke in seiner Schutzschrift vorgetragen hatte. Wiederum wird betont, daß man die Satiren nicht mit den Pasquillen verwechseln dürfe (vgl. 191). Mencke versichert, daß er seit je ein »Ertzfeind von Pasquillen« gewesen sei und rühmt sich, daß er »noch niemals eines gelesen, viel weniger einig Penchant zu dergleichen infamen Scartequen gehabt« habe (191). Eine »recht gute Satyre«, heißt es jetzt, sei »zum wenigsten so gut, als eine recht schlimme Predigt« (191); eine »picquante Satyre« werde vermutlich sogar eine stärkere Wirkung ausüben als »hundert Cebetis Tafeln« (192), weil die verzerrte, grimassenhafte Abbildung der Laster mehr abschrecke als das bloße Verbot. Neu ist der Vorschlag, die Satiren künftig »Sitten-Gedichte« (193) zu nennen. Diese Bezeichnung, erklärt Mencke, sei von der Sache her gerechtfertigt, weil die Satiren »zu Bestrafung der bösen Sitten verfertiget werden« ; außerdem werde damit ein schon von Zesen verworfenes Fremdwort eingedeutscht. Die neue Bezeichnung soll die Satire ganz offensichtlich vor jenen Verdächtigungen bewahren, denen sie als »Strafschrift« bisher ausgesetzt war. Es ist deutlich, daß der Hinweis auf Zesens Empfehlung nur ein Vorwand ist; denn die Satire war als »Schimpft«-, »Straf«- oder »Stachelschrift« längst in der deutschen Sprache eingebürgert 31 . Indessen hat sich, wie wir wissen, Menckes Vorschlag nicht durchgesetzt; es wird später darüber zu sprechen sein, warum eine Zustimmung ausbleiben mußte. Im Anhang zu den »Vermischten Gedichten«, Leipzig *1727, S. 149-321. Bereits Harsdörffer bezeichnet die »Satyra« als »Sdiimpff-, Stachel- oder Straffgedidit« (Poetischer Trichter, 2. Teil, Nürnberg 1648, 12. Stunde, S. 99); auch bei Morhof (a.a.O., S. 677) erscheinen die Satiren als »Sdiimpff- oder Straff-Gedidite«. 30 31

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g) Man wird nicht sagen können, daß Mencke in seiner Verteidigungsschrift eine gute Figur macht. Wie seine Landsleute Geliert und Rabener (größtes Gegenbeispiel: Lessing!) neigt er zu Konzilianz und ängstlidier Rücksichtnahme ; das aber sind Eigenschaften, die niemand schlechter anstehen als dem Satiriker. Die Wahrheit zu sagen, ist freilich zu allen Zeiten ein undankbares und gefährliches Geschäft gewesen. Doch ist der Dichter nicht zum Mut vor Fürstenthronen verpflichtet. Er kann schweigen, wenn ihm das Reden zu gefährlich dünkt. Drastischer formuliert das Christian Wernicke. Nur einfältige Leute, sagt er, halten es für ein Zeichen großer Güte, wenn man ohne Unterschied von allen Menschen wohl spricht. »Kluge Leute aber erkennen daraus eine feige Memme. Denn thut man es der Ruhe halber, was hindert uns das Maul zu halten? Mit Schweigen sündigt hier so leicht niemand nicht, der nicht zu jedermanns Richter eingesetzet ist. Wolt ihr aber sprechen, so zeiget daß ihr Hertz genug habet die Wahrheit zu sprechen. Und nennet eine Katze Katz / Und Rolet einen Lotterbuben.«32 Wernicke verspottet die »Zuckerbeckerey« der schlesischen Poeten, die in ihren Versen nur »leckerhaffte Sachen« feilböten, so als hielten sie »alle ihre Leser vor Kinder« (211). Dergleichen dürfe man in seinen »Überschriften« nicht suchen: »Man muss auf meinem Blatt nach keinem Amber suchen, Und meine Mus' im Zorn bäckt keine Biesemkuchen; Idi folge der Natur, und schreib' auf ihre Weis': Vor Kinder ist die Milch, vor Männer starcke Speis'« (211). Christian Wernicke hat als satirischer Epigrammatiker jene Wahrheitsliebe bewiesen, von der Omeis, Mencke, Gottsched und Rabener nur reden. Er weiß, daß der satirische Unmut nicht durch Vorsichtsmaßregeln gegängelt werden darf und daß man das Laster und die Torheit mit »verblümten Reden« nicht erreichen kann: »Wo du die Ihorheit suchst zu bessern, so sprich Deutsch, Sey herzhafft, nicht beredt und greiffe, nach der Peitsch; Verblümte Reden sind verlohren Bey ungeschliffnen Esels-Ohren: Es ist, wer einen Narrn aus Sdiertz, Herr Hofrath, heißt, Gleich dem, der nach dem Hund' aus Eifer Knochen schmeisst« (302). Die männliche »Hertzhafftigkeit« dieses wahrhaft satirischen Naturells bringt die Frage nach der Vollmacht des Satirikers zum Verstummen. Der Satiriker von Geblüt legitimiert sich allein durch sein 82

Christian Wernickes Epigramme, hg. und eingeleitet von R.Pechel; Palaestra 71, Berlin 1909, S. 385 f. 16

Werk. Daneben wird die theoretische Auseinandersetzung über die Zulässigkeit der von ihm gewählten Schreibart bedeutungslos. h) Takt, Zucht und Sitte bestimmen die Grenzen der satirischen Herzhaftigkeit und bewahren sie vor Ubermut und Willkür. Wo diese Grenzen mißachtet werden, schlägt die satirische Angriffslust in Frivolität um. Das läßt sich gut an Christian Friedrich Hunolds »Satyrischem Roman« 33 zeigen. Auch Hunold-Menantes stellt seinem Roman nach traditioneller Gepflogenheit eine Rechtfertigungsschrift voran. Aber diese Vorrede ist in Wahrheit eine Parodie auf die zeitüblichen Schutzschriften der Satiriker. Hier wird nur dem Scheine nach eine Position verteidigt, die Hunold im Ernst gar nicht einzunehmen gedenkt. Bereitwillig gibt er zu, daß die Verfertigung von Satiren eine »so üble als gefährliche Profession« sei. Es sei wenig rühmlich, Satiren zu schreiben, da sich in Schriften dieser Art außer »Lügen, Verläumdungen und kurtzweiligen Einfällen« in der Regel wenig Gründliches und Verständiges finden lasse. Es sei daher besser, nur Lob-Reden zu verfassen, die »allergrösten und offenbarsten L a s t e r . . . eine kleine Ubereilung zu nennen und sie mit d e r . . . trostreichen Maxime zu entschuldigen: Daß niemand ohne Fehler / und der allervollkommenste ihrer nur wenig habe«. Nach der »aufrichtigen Meynung« des Verfassers sind Satiren nichts anderes als eine »Durchziehung der Laster der Welt, welche man, anstatt einer ernsthafften, mit einer lächerlichen und ungeheuchelten Manier abzuschildern, bemühet ist; und weil in der Liebe die grösten und poßierlichsten Schwachheiten vorgehen, so kan es einem wohl selten an Materie zu Satyrischen Romanen mangeln«. Das ist eine höchst eigenwillige Auslegung des Satire-Begriffs. Man kann Hunold jedoch nicht vorwerfen, daß er sich nicht peinlich genau an diese Bestimmung gehalten hätte. Im Gegenteil: die obszöne Beschreibung der »poßierlichsten« Liebes-Schwachheiten bildet den Mittelpunkt des Buches. Hunold ist dreist genug, in seiner Vorrede zu erklären, daß es »weder boßhafft noch übel Satyrisch« sein könne, wenn er »alle Welt in einer edlen (!) Art zu leben« unterrichten wolle. Lediglich bei der Wahl des Titels hat er sich eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Denn was hier als »satirischer« Roman ausgegeben wird, ist gelinde gesagt eine euphemistische Bezeichnung für ein eindeutig pornographisches Machwerk. 33 Der »Satyrisdie Roman, oder allerhand wahrhaffte, lustige, lächerliche und galante Liebes-Begebenheiten / ausgefertiget von Menantes« erschien in Hamburg 1705. Wir zitieren nach dem Druck Frankfurt und Leipzig 1726. Die Zitate stammen aus der vier Seiten umfassenden, unpaginierten Vorrede.

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Der Pseudo-Satiriker Hunold genießt in der Literaturgeschichte einen zweifelhaften Ruf. Bekannt wurde er vor allem durch seine literarische Fehde mit Chr. Wernicke. Ferner gilt er als Spezialist für galante Gedichte, was ihn jedoch nicht hinderte, sich gelegentlich auch als Mitarbeiter von Johann Sebastian Bach zu betätigen, dem er Texte für Kantaten und Oratorien geschrieben hat 3 4 . i) Die (freilich an ganz anderen Gegenständen erprobte) Vielseitigkeit ist auch ein Hauptcharakteristikum von Johann Christoph Gottscheds literarischer Aktivität. Den Vorwurf der Frivolität haben freilich nicht einmal seine ärgsten Feinde gegen ihn erheben können. Vielleicht ist die zuweilen imperatorisch wirkende Aufführung des Literaturpolitikers Gottsched aus dem Bewußtsein seiner moralischen Integrität zu erklären. Seine Äußerungen über den Satiriker und die Satire legen diese Vermutung nahe. Sie sind alles andere als revolutionär. Was Gottsched aber zu diesem Thema zu sagen hat, wird in einem sehr entschiedenen Ton vorgetragen und hat den Charakter des Endgültigen und Unumstößlichen. Die »tugendhafte Gemüthsart eines Poeten« müsse sich darin zeigen, daß er »weder ein Schmeichler noch ein Lästerer werde« (113), schreibt Gottsched in seiner »Critischen Dichtkunst« 35 . Dem redlichen Bürger obliege es, die »Tugendhaften auf eine vernünftige Art zu loben« und durch die »Beschreibung ihrer ruhmwürdigen Exempel« alle Menschen »zu löblichen Thaten aufzumuntern« (114). Ein »rechtschaffener Dichter« werde sich durch das »äußerliche Ansehen gleißender Laster« nicht blenden lassen; dadurch unterscheide er sich vom Schmeichler, der durch sein »unvernünftiges Lob« (das er entweder aus Unverstand oder aus Bosheit spendet) viel Schaden stifte (114). So verwerflich wie die »Niederträchtigkeit der Schmeichler« sei auch die »Bosheit der Lästerer« (115). Während die Schmeichler das Laster zur Tugend zu verfälschen suchten, sei es die Absicht der Lästerer, die Tugend zum Laster zu erklären. Die »Tagelöhner der Bosheit« und »Feinde der Tugend« folgten dabei nicht der »Billigkeit und Vernunft . . . , sondern ihrem Neide, ihrer Rachgier, oder wohl gar eigennützigen Absichten« (115). 34 Vgl. H . Vogel, Christian Friedrich Hunold (Menantes). Sein Leben und seine Werke. Diss. Leipzig o. J., S. 66. 35 Zitiert wird nach der 3. Auflage, Leipzig 1742. Über »Die vier Auflagen von Gottscheds >Critischer Dichtkunst* « referiert A. Pelz in seiner Breslauer Dissertation 1929.

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Von solchen Machenschaften sei die satirische Poesie grundsätzlich zu unterscheiden: »Diese ist die Frucht einer gründlichen Sittenlehre, und hat ordentlich die Liebe der Tugend zur Mutter, und den Haß der Laster zum Vater. Die wahre Satire greift also nicht unschuldige, sondern schuldige Leute an: ja sie strafet das Böse an sidi, ohne die Personen, die es an sich haben, zu nennen, oder auf eine anzügliche Art zu beschimpfen« (115). Die wahre Satire habe daher auch nichts mit den »gottlosen Pasquillen oder Lästerschriften« (116) gemein. Mit einer Probe aus Rachels Satire über den Dichter (»Wer Laster straft, der hat die Tugend recht gelehrt«) beschließt Gottsched dieses Kapitel, das »Vom Charactere eines Poeten« handelt. Der Vorschlag seines Freundes Mencke, die Satiren als »Sitten-Gedichte« zu bezeichnen, wird von Gottsched ignoriert 36 . Das sechste Kapitel des zweiten Teils der »Critischen Dichtkunst« handelt von »Satiren oder Srra/gedichten« (566 ff.). Es überrascht nicht, daß Gottsched bei der traditionellen Bezeichnung blieb. Er war davon überzeugt, daß der Dichter unter bestimmten Voraussetzungen (von denen oben bereits kurz die Rede war) befugt sei, das satirische »Strafamt« (569) auszuüben. Mit einem kurzen historischen Abriß der Satire, in dem Gottsched mit rühmenden Vergleichen nicht eben geizt wird der Abschnitt von den Strafgedichten eingeleitet. Eine »Beschreibung« der Satire schließt sich an. Gottsched definiert sie als »moralisches Strafgedichte über einreißende Laster, darinn entweder das Lächerliche derselben entdecket, oder das abscheuliche Wesen der Bosheit mit lebhaften Farben abgeschildert wird« (569) 38 . Mit dieser Definition scheint Gottsched noch nicht zufrieden gewesen zu sein. Daher schlägt er noch eine zweite Formulierung vor, die der ersten an Bündigkeit und Prägnanz tatsächlich überlegen ist. Die Satire, heißt es jetzt, sei eine »Abschilderung lasterhafter Handlungen, oder das Gegentheil von den Lobgedichten« (569). Man könne sie auch den Schäfergedichten entgegensetzen, die den »unschuldigen Zustand des güldenen Weltalters abschildern«. Nachdem so dem Drang zur handlichen Formulierung Genüge getan ist, meldet sich der Systematiker Gottsched zu Wort: er teilt die satirische Dichtung in zwei N u r S. 571 spricht Gottsched von »Sittenschriften«. Rachel erhält den Ehrentitel eines deutschen Lucilius, Canitz wird zum deutschen H o r a z erhoben; als »unser Juvenal« erscheint Neukirch, und den freilich nicht namentlich genannten Liscow vergleicht Gottsched mit Persius. 3 8 Dieselbe Formulierung auch in dem von Gottsched herausgegebenen »Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbudi der schönen Wissenschaften und freyen Künste«, Leipzig 1760, Sp. 1442. 36

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Hauptgattungen ein, nämlich in die »lustige oder scherzhafte« und die »ernsthafte oder beißende« Satire (569). Ausführlich setzt sich Gottsched sodann mit der Frage auseinander, ob man »zu Beförderung des Guten und zu Ausrottung des Bösen im gemeinen Wesen einen besondern Beruf haben müsse« (570). Die Häufung von rhetorischen Fragen in den Paragraphen 7 bis 9 zeigt an, daß dieses Problem für ihn nicht nur von akademischem Interesse war. Ist es dem Poeten erlaubt, »die Sittenlehre zu predigen« und »wider die öffentlichen Laster zu eifern?« (570). Mit Nachdruck bekennt sich Gottsched zu der Auffassung, daß jeder rechtschaffene Bürger verpflichtet sei, »für sich selbst, zur Aufnahme und Wohlfahrt der Republik so viel beyzutragen, als er kann«. Dazu bedürfe es nicht einer ausdrücklichen »neuen Bestallung«. »So lange es also recht seyn wird, das Böse zu hassen, so lange werden auch die Satirenschreiber keiner weitern Verteidigung nöthig haben: wenn sie sich nur nicht an unschuldige Leute machen, und die Dinge für Laster ausschreyen, die keine sind. Denn in solchem Falle werden sie Lästerer und Pasquillanten« (570). Es sei auch nicht einzusehen, warum man Vers-Satiren (und nur von diesen ist hier die Rede) verbieten wolle, da noch niemand den Philosophen untersagt habe, die Laster in ungebundener Schreibart zu rügen. Jedermann lobe die Schriften eines Theophrast, des Seneca und anderer Moralisten. Wenn man aber, fragt Gottsched ironisch, die Abscheulichkeit der Laster in Prosa ungestraft tadeln dürfe, warum solle dann dasselbe nicht auch den »poetischen Meistern« freistehen? Das Silbenmaß und die Reime könnten höchstens bewirken, daß die satirischen Strafpredigten lieber gelesen und womöglich gar auswendig gelernt würden. Das aber könne nur dazu beitragen, ihre »Nutzbarkeit« zu vergrößern und ihnen einen Vorzug vor allen anderen »Sittenschriften« zu geben. So temperamentvoll pflegt Gottsched durchaus nicht immer zu argumentieren. Die restlichen Paragraphen des Satire-Kapitels sind allerdings wieder in jener korrekten und unpersönlichen Manier geschrieben, die für ihn charakteristisch ist. Sie bringen keine neuen Gedanken, so daß wir uns hier mit einer summarischen Inhaltswiedergabe begnügen können. Im neunten Paragraphen sind die Themen zusammengestellt, die zu satirischer Behandlung herausfordern: neben dem moralisch Bösen erwähnt Gottsched »alle Ungereimtheiten in den Wissenschaften, freyen Künsten, Schriften, Gewohnheiten und Verrichtungen der Menschen« (571); auszunehmen seien dagegen »unschuldige natürliche 20

Fehler«, also etwa körperliche Gebrechen, Mißbildungen und dergleichen. Der zehnte Paragraph enthält eine Verurteilung des Pasquills. Er variiert jene Überlegungen, die uns aus dem Kapitel, in dem vom Charakter des Poeten die Rede ist, bereits geläufig sind. Wer »bloß aus Neid, Rachgier oder andern Gemütsbewegungen« jemanden in seinen Schriften angreift, verdiene nicht den Namen eines satirischen Poeten. Die Satire verliere ihren Wert, wenn sie nur eine »Vergeltung der ihrem Verfasser widerfahrnen Beleidigungen wäre«. Derjenige sei für einen Pasquillanten zu halten, der »auf seinen Feind ein Spottgedicht schriebe; gesetzt, daß er das größte Recht dazu hätte« (572). Die heikle Frage, ob es erlaubt sei, die angegriffenen Personen mit Namen zu nennen, wird in Paragraph 11 aufgeworfen und ohne Umschweif beantwortet: die Namensnennung verhindere zwar, daß man die Verse des Satirikers auf Unrechte Personen deute; für die Namensnennung spreche auch, daß sie von den Lasterhaften besonders gefürchtet werde; doch müsse der Satiriker bedenken, daß sie für ihn »mehrentheils gar zu gefährlich« sei, »sonderlich, wenn es vornehme Leute sind« (573). Wer sich also nicht den Unwillen der großen Herren zuziehen wolle, tue gut daran, entweder gar keine Satiren auf sie zu verfassen oder er dürfe, wie Gottsched spöttisch bemerkt, »nur solche Laster beschreiben, die kein Mensch begeht«; das aber hieße »eine vergebliche Arbeit thun« (574). Hier wird, wie man sieht, eine deutliche Sprache gesprochen, die sich wohltuend von Menckes opportunistischen Spekulationen abhebt. Die Empfehlung der jambischen, paarweise gereimten Lang-Verse, die sich nach Gottscheds Ansicht am besten für die satirische Schreibart schicken sowie eine Ermahnung des Satirikers zur Bescheidenheit beschließen das Kapitel. 3. Zwischenbilanz An dieser Stelle brechen wir unseren historischen Überblick ab, um eine kurze Zwischenbilanz zu ziehen. Wir haben gesehen: Die Satire war nicht nur den Dichtungstheoretikern, sondern auch den Satirikern selbst verdächtig. D a s Recht zu tadeln und zu strafen, das man den antiken, heidnischen Satirikern ohne Einschränkung zugesteht, hat der christliche Poet gegen triftige Einwände zu verteidigen. Theodor Haeckers Frage, ob man zugleich Christ und Satiriker sein könne 8 9 , steht — wenn auch nicht so zugespitzt formuliert - seit Opitz im Zentrum der Diskussion über die Zulässigkeit der Satire. Uber ein Jahrhun» Vgl. Anm. 11. 21

dert lang hat man sich mit Energie, wenn auch ohne Aufbietung besonderen Scharfsinns mit diesem Problem befaßt. Zwei Grundtendenzen, die nodi in den Schriften von Rabener, Flögel, Sulzer und Eschenburg nachzuweisen sind, bestimmen die Richtung fast aller Lösungsversuche: erstens geht es um eine deutliche Abgrenzung der Satire vom Pasquill; und zweitens um den Nachweis, daß der Satiriker keiner besonderen Ordination bedürfe, um das Strafamt auszuüben; oder, ins Positive gewendet, daß seine moralische Untadeligkeit und seine Tugendliebe ihn ermächtigen, die Laster dem öffentlichen Spott auszuliefern. Wir werden später zu zeigen haben, daß diese Problemstellung bereits im Ansatz verfehlt ist und daß daher die Lösungen nur neue an die Stelle der hergebrachten Vorurteile über die Satire setzen konnten. Sofern die Satire nicht zum Werkzeug der Privatrache wird, sondern sich in den Dienst der Sittenlehre stellt, gilt sie als erlaubt oder zumindest als nicht verwerflich - das ist die allgemeine Auffassung, die sich etwa bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zu behaupten vermag. Zu erwähnen ist noch, daß es nicht gelingt, präzise Kriterien für die Unterscheidung der Personalsatire vom Pasquill zu ermitteln; infolgedessen müssen rein pragmatische Erwägungen (Gefahren der Namensnennung usw.) dazu herhalten, diese Lücke in der Theorie der Satire zu schließen. Eine Zusammenfassung der seit 1724, dem Erscheinungsjahr von Opitz' »Poeterey«, herrschenden Standardmeinungen gibt Gottsched. Deshalb mußte auf die einschlägigen Kapitel seiner »Critischen Dichtkunst« näher eingegangen werden. Daß Gottsched ein erklärter Gegner der barocken Dichtung war, bedarf keiner weitläufigen Darlegung. Immerhin zeigen aber gerade seine Bemerkungen über den Satiriker, über die Satire und das Pasquill wie stark dieser Aufklärer nodi unter dem Einfluß der traditionellen, von den Barockpoetikern nach ausländischen Mustern geprägten Lehrmeinungen stand. (Die Auseinandersetzung mit dem Barock reicht tief bis ins 18. Jahrhundert hinein und wird nicht von Gottsched zum Abschluß gebracht, sondern erst von Hamann, Herder und Lessing endgültig entschieden.) Die SatireKapitel seiner »Dichtkunst« sind weder originell noch zukunftweisend. Den Mangel an Originalität ersetzt Gottsched jedoch durch eine korrekte, sachliche Darstellung, die ihre Impulse vom »gesunden Menschenverstand« empfängt, durch die Fähigkeit zur Systematisierung des Stoffes und durch eine freilich nicht unbedenkliche Formulierungskunst, die Probleme »erledigt«, indem sie sie begrifflich fixiert. Offene Fragen wird man bei Gottsched vergeblich suchen. Daß dieser selbstsichere Reformer mit Antworten und poetischen Rezepten nicht eben 22

sparsam umgegangen ist, kam dem Bedürfnis der in allen Geschmacksfragen unsicheren Zeit entgegen und erklärt den Erfolg seiner Schriften. Andererseits ist das Fehlen jener Spannung, die aus dem Ringen der Ratio mit dem Unerforschlichen resultiert, aber auch für jene stilistische Monotonie haftbar zu machen, die seine Gegner an seinen Sdiriften mit Recht gerügt haben. Muß Gottsched also Originalität und die schöpferische Unruhe des philosophischen Fragens abgesprochen werden, so gewinnt er für uns vor allem deshalb besondere Bedeutung, weil sich in seinem Werk aufklärerische Ansichten besonders deutlich ausprägen. Einige Belege mögen das veranschaulichen: Wir haben gesehen, daß die im 17. Jahrhundert gegen die Satire laut gewordenen Skrupel vorwiegend christlicher Herkunft waren. Dergleichen religiös motivierte Bedenken sind bei Gottsched wenn überhaupt dann nur in säkularisierter Form anzutreffen. Gottsched wendet sich ausdrücklich gegen die von Dacier vertretene Ansicht, daß man den »Grund der Satiren in der christlichen Lehre von der brüderlichen Bestrafung« (570) suchen müsse. Aber auch ästhetische Gesichtspunkte sind in seiner Beurteilung des satirischen Schaffens nur von peripherem Belang. Rachel wird gerühmt, weil er in seinen Vers-Satiren eine »gesunde Vernunft«, eine »gute Moral« und (dies erst an letzter Stelle), einen »ziemlichen Geschmack« (568) gezeigt habe. Der Satirenschreiber, fordert Gottsched, müsse ein »Weltweiser« sein, der die »Lehren der Sitten gründlich eingesehen habe« (571). Als Weltweiser (das ist in der Sprache der Zeit: als Lehrer der »politischen« Klugheit) habe er den gleichen Rang wie der Moralist: beide seien »Liebhaber der Tugend, und Feinde der Bosheit; beydeVertheidiger der Gesetze, und redliche Bürger« (571). Gottsched stellt also den Satiriker unter die Jurisdiktion der »gesunden« Vernunft und der Moral. Die Beobachtung der Vernunftregeln, Tugendliebe und Lasterhaß rechtfertigen die Satire. Mehr braucht es nach seiner Auffassung nicht. Gottsched übersieht jedoch, daß damit über die Satire als literarische Kunstform noch gar nichts gesagt ist. Wie Thomasius oder Mencke beschränkt er sich darauf, beiläufig einige technische Ratschläge zu erteilen. Welche Bedingungen aber erfüllt sein müssen, damit sich die Kunstform »Satire« konstituieren kann, welche strukturbildenden Kräfte bei diesem Vorgang am Werk sind und welche Kriterien geeignet sind, die Satire von den ihr thematisch häufig verwandten Formen der reinen Zweckliteratur zu unterscheiden - das alles erfährt man von Gottsched ebensowenig wie von seinen Vorgängern. Gewiß kann die Satire auch unter moralpädagogischem oder moralkritisdiem 23

Aspekt behandelt werden. Aber dieser Blickwinkel ist zu eng, er umfaßt nicht das ganze Phänomen. Auch eine Predigt kann in scherzhafter Weise die Sünden anprangern und die Torheiten verspotten, was sidk an den Kanzelreden Abrahams a Santa Clara leicht erweisen ließe. Indessen kann keineswegs jede Predigt, die über Torheiten und Laster spottet, als Satire gelten. Die Untersuchung des Inhalts und der Tendenz einer Strafschrift oder Strafrede reicht nicht aus, diese Frage zu entscheiden. Dazu muß eine genaue Analyse der Form und der formprägenden Elemente treten. Auch die ernsthafte oder beißende Vermahnung der Lasterhaften darf nicht ohne weiteres als satirisch bezeichnet werden. Sie kann sich der verschiedensten Darbietungsformen bedienen. Ob aber ein Traktat, eine Epistel, ein Dialog usw. nur einige akzidentelle satirische Züge aufweist oder als gestalthafte Verwirklichung einer wesentlich satirischen Intention gelten darf, darüber vermag wiederum nur eine sorgfältige Detailanalyse Auskunft zu geben. Gottsched denkt zwar nicht daran, die Moralisten Theophrast und Seneca zu Satirikern zu erklären. Umgekehrt hält er es jedoch für erlaubt, eine versifizierte Moralkritik als satirisch zu bezeichnen. Man kann diese Inkonsequenz u. a. mit seiner fehlenden Aufgeschlossenheit für spezifisch ästhetische Probleme erklären. Doch selbst wenn man Gottsched zugute hält, daß die deutsche Ästhetik damals erst in den Anfängen stand 40 , wird man ihm vorwerfen müssen, daß er seine moralistisch orientierte Kritik allzu einseitig gehandhabt hat. Heute kann gesagt werden, daß seine »Critische Dichtkunst« bereits bei ihrem Erscheinen (zumindest aber seit der dritten Auflage von 1742) veraltet war. Jede Poetik - und das gilt vor allem für die barocke und aufklärerische »Anweisungspoetik« (Markwardt) - lebt von den literarischen Mustern, die sie kanonisiert. Sie bleibt so lange in Geltung, wie es die Vertreter eines neuen Stilwillens erlauben. Je undogmatischer sie ist, desto leichter wird es ihr fallen, die neuen Exempel (die gewöhnlich die herkömmlichen außer Kraft zu setzen suchen) anzuerkennen und sich der neuen literarischen Lage zu assimilieren. Gottsched war wie die Fehde mit Lessing und den Schweizern sehr bald zeigen sollte — in dieser Beziehung von äußerster Halsstarrigkeit. Auch in dem SatireKapitel der »Critischen Dichtkunst« hatte er sich einseitig festgelegt. Swift, Pope, Dryden, Liscow werden in der dritten Auflage seiner 40 A. G. Baumgartens »Aesthetica« erschien 1750/58; vgl. A. Nivelle, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin 1960, S. 7 - 3 8 .

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Poetik überhaupt nicht erwähnt 41 . Warum Gottsched seine ursprünglich nur »vor die Deutschen« geschriebene »Dichtkunst« vorwiegend mit Exempeln aus der deutschen Literatur ausgestattet hat, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Es war jedoch töricht, Rabelais, Swift, Pope und andere völlig zu ignorieren und immer wieder nur auf die von den antiken Autoren geprägten Muster hinzuweisen. Audi daß sich Gottsched nur auf die Erörterung von Satiren in gebundener Schreibart beschränkt hat, ist kaum zu rechtfertigen (vgl. 567). Die nach rein äußerlichen Gesichtspunkten vorgenommene Ausgliederung der Prosasatire hat nicht nur zur Folge, daß bedeutende Satiriker (Fischart, Grimmelshausen, Chr. Reuter, Stranitzky, Lindenborn) unberücksichtigt bleiben; es entgeht ihm auf diese Weise auch, daß sich seine Komödien-Definition 42 kaum von seiner Definition der Satire unterscheidet. Schließlich ist audi der Grundsatz, noch lebendeAutoren nicht zubehandeln (vgl. 569), reichlich fragwürdig, da Gottsched sich durch eine objektive Kritik gegen den Vorwurf der Ungerechtigkeit oder Böswilligkeit hätte sichern können. Es würde nicht schwerfallen, Gottsched und seinen Vorgängern vorzurechnen, daß ihre teils von ausländischen Poetikern übernommenen, teils von zweitrangigen literarischen Mustern deduzierten Kategorien und Ansichten für eine sachgemäße Beurteilung der Satire nicht tauglich sind; ja, daß sie einer vorurteilslosen Beschreibung, Deutung und Wertung häufig geradezu im Wege stehen. Wir halten dieses Verfahren jedoch nicht für fruchtbar und wollen stattdessen versuchen, einen eigenen Zugang zur deutschen Satire des 18. Jahrhunderts zu bahnen, wobei die Ansichten der Dichtungstheoretiker und die Selbstaussagen der Satiriker des Barock und der frühen Aufklärung zur Kontrolle unserer Beobachtungen zu Rate gezogen werden sollen. Natürlich werden wir uns dabei der Hilfe jener Autoren versichern, die über Gottscheds Spekulationen weit hinausgekommen sind - doch so, daß man uns nicht den Vorwurf machen kann, auf eine im Sinne der historischen Gerechtigkeit unerlaubte Weise Schiller, F. Schlegel oder Jean Paul gegen Morhof, Mendie oder Gottsched ausgespielt zu haben. 4. Die Aufgabe Georg Philipp Harsdörffer hat in seinem »Poetischen Trichter« 43 die Schimpf-, Stachel- und Strafgedichte, in denen die »Laster auff 41

Die 2. Auflage der »Critischen Dichtkunst« enthält dagegen u. a. auch ein Lobgedicht auf Swift. 42 Crit. Dichtkunst; II, 739 f. 48 Poetischer Trichter. Die Ternsche Dicht- und Reimkunst / ohne Behuf der Lateinischen Sprache / in VI Stunden einzugiessen. 3 Teile, Nürnberg 1648-53.

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sonderliche Arten anzüchig berühret werden«, von der Behandlung ausgeschlossen. Es sei zweifelhaft, erklärt er, ob man die Satiren überhaupt zu den Gedichten zählen dürfe, da »ihr Inhalt nicht erdichtet / sondern in der Wahrheit befindlich ist« (II, 99). Diese Begründung ist charakteristisch für die Dichtungsauffassung der Nürnberger Schule: sie markiert jene Grenze, die nach Ansicht der Pegnitz-Schäfer die künstlichen Gebilde der Phantasie von den »realistischen« Werken einer wirklichkeitsbezogenen Literatur trennt. Zwar hat sich diese Auffassung gegen die rein pragmatisch orientierte Literaturbetrachtung nicht allgemein durchzusetzen vermocht. Erst in der nachgottschedischen Aera ist der Autonomie-Anspruch der Dichtung energisch verfochten worden, mit subtilen Argumenten vor allem von Kant, Schiller und den Romantikern. Indessen hat das von Harsdörffer aufgeworfene Problem auch heute noch nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Gerade bei einer Untersuchung der Satire stellt es sich mit besonderer Dringlichkeit. Zweifellos empfängt die Satire entscheidende Impulse von der Wirklichkeit; und es ist andererseits zumindest wahrscheinlich, daß sie auch auf die Realität einzuwirken sucht. Ob es allerdings die Absicht des Satirikers ist, die Welt zu »bessern« - wie Gottsched und seine Vorgänger meinten - , mag einstweilen dahingestellt bleiben. Zwar hat es zu allen Zeiten Satiren mit ausgesprochen moral- oder sozialkritischer Tendenz gegeben. Allein nicht jede Schrift, die Moralkritik übt (oder sich mit anderen Mitteln nützlich zu machen sucht), ist darum satirisch. Wer die Satire (wie Mencke, Gottsched und Rabener) in die Botmäßigkeit der Moral stellt, wird es nicht allzu schwer haben, ihre Zulässigkeit oder Nützlichkeit zu erweisen; er wird jedoch nicht imstande sein zu erklären, was denn die Satire »eigentlich« sei: ein Werk, das sich gleich der Predigt, dem Moraltraktat oder der politischen Streitschrift vor allem durch außerliterarische Zwecke legitimiert oder aber ein Kunstgebilde eigener Art und eigenen Rechts. Diese Frage kann nur dann zureichend beantwortet werden, wenn geklärt wird, ob es erlaubt sei, die Satire in die Zuständigkeit der Ästhetik zu überführen. Dabei müßte gezeigt werden, ob die Frage nach dem Satirisch-Schönen den Vorrang vor dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit beanspruchen darf. Ferner wäre in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob eine Verbindung des Schönen mit dem »Wahren« (in Harsdörffers Sinn) und mit dem Nützlichen überhaupt möglich ist; oder ob nicht vielmehr der Spielcharakter des Schönen durch die absolute Unabhängigkeit von jeglichen außerliterarischen Tendenzen bedingt ist. 26

In Frage steht also die Existenz der autonomen, zweck-losen Satire. Diese Frage ist keineswegs so »modern«, wie es zunächst den Ansdiein hat. Wir wollen sie nicht rein theoretisch erörtern, sondern untersudien unter diesem Aspekt einen Zyklus von Satiren, den Christian Ludwig Liscow in den Jahren 1732-35 geschrieben hat.

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II. LISCOWS SATIREN GEGEN P H I L I P P I 1 »Es steckt nun aber dodi einmal ein gewisser Genuß in einer gewissen Gemeinheit.« (Büchner, Leonce und Lena) 2

a) Anlaß und Verlauf der

Auseinandersetzung

1732 erschienen in Leipzig »Sechs deutsche Reden über allerhand auserlesene Fälle nach den Regeln einer natürlichen, männlichen und heroischen Beredsamkeit«. Verfasser dieser Sammlung war Johann Ernst Pbilippi3, Professor der Beredsamkeit in Halle, der im selben Jahr auch eine überaus schwülstige Lobrede auf den König von Polen 4 hatte drucken lassen. Diese beiden Schriften nebst ausführlichen Nachrichten über die Person und Umstände ihres Urhebers wurden Liscow in die Hände gespielt 5 . Zweck dieses Manövers war es, Liscows satirisches Talent, das er damals bereits mehrfach unter Beweis gestellt hatte, nun auch gegen Philippi zu mobilisieren. Liscow gab dem Ersuchen seiner Freunde nach 6 und schrieb, ohne sich den »geringsten Scrupel zu machen« (Vorr. 23), eine ironische Lobrede auf den Halleschen Rhetor, die 1732 unter dem Titel »Briontes der Jüngere« 7 erschien. 1 Zitiert wird nach der »Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften« (1. Drude) Frankfurt und Leipzig 1739; vgl. B. Litzmann, Christian Ludwig Liscow in seiner litterarisdien Laufbahn, Hamburg und Leipzig 1883, S. X I I . 2 "Werke und Briefe, ed. F. Bergemann, Wiesbaden 1953, S. 122. 3 Vgl. C. F. Flögel, Geschichte der komischen Litteratur, III. Bd., Liegnitz und Leipzig 1786, S. 484-491; F. W. Ebeling, Geschichte der komischen Literatur in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, I. Bd., Leipzig 1869, S. 45-70; Goedeke, Grundriß 4/1, Dresden s 1916, S. 38. 4 »Der eröffnete Tempel der Ehren und Vorsehung, und die im Pallaste der Glückseeligkeit abgelegte Wünsche vor dem höchst beglückten Antritt des Hohen 63ten Stufen-Jahres Ihro Königl. Maj. in Pohlen und Chur-Fürstl. Durchl. zu Sachsen, Friedrichs Augusti des Grossen«, Halle 1732. 5 Vgl. Vorrede zur »Sammlung«, S. 22 f. β Vorrede, S. 22. 7 »Briontes der jüngere, oder Lobrede, auf den Hochedelgebohrnen und Hodigelahrten Herrn, Herrn D. Johann Ernst Philippi, öffentlichen Professoren der deutschen Beredsamkeit auf der Universität Halle, wie audi Chursächsisdien immatriculirten Advokaten etc. etc. nach den Regeln einer natürlichen, männlichen und heroischen Beredsamkeit, gehalten in der Gesellschaft der kleinen Geister, in Deutschland, von einem unwürdigen Mitgliede dieser zahlreichen Gesellschaft«, o. O. 1732.

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Philippi versuchte zunächst über das Dresdener Oberkonsistorium ein Verbot dieser angeblich mit »entsetzlicher Religions-Spötterey« (Vorr. 24) angefüllten Schrift zu erwirken. Nachdem dieser Versuch mißlungen war, drohte er Gottsched, den er für den Verfasser des »Briontes« hielt, mit der Veröffentlichung einer scharfen Gegenschrift. Gottsched gelang es, sich aus dem Handel herauszuziehen und den Druck dieser Schrift zu verhindern. Der auf das äußerste aufgebrachte Philippi, dessen Geltungsdrang zweifellos in keinem rechten Verhältnis zu seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten stand, verfaßte daraufhin nodi Ende 1732 »Sieben neue Versuche in der deutschen Beredsamkeit« und die Schrift »Gleiche Brüder, gleiche Kappen«, mit denen er sich gegen seinen unbekannten Gegner zur Wehr zu setzen suchte. Es gelang ihm jedoch nicht, einen Verleger für diese Schriften zu finden. Inzwischen bemächtigten sich Liscows Freunde der Manuskripte und verschafften ihm eine Abschrift der »Kappen« und der ersten Rede aus den »Neuen Versuchen«. Damit trat die Fehde in eine neue Phase. Liscow, der inzwischen ganz offensichtlich Gefallen an dieser Auseinandersetzung gefunden hatte, holte zu einem neuen Schlag aus: in der »Unparteiischen Untersuchung« (1733) widerlegt er mit ironischer Akribie den Vorwurf, daß der »Briontes« eine religionsfeindliche, strafbare Schrift sei; im Anhang zu dieser »Untersuchung« druckt er einen Auszug aus den »Kappen« ab und beweist sodann in vierzehn Thesen, daß der berühmte Philippi unmöglich der Verfasser dieses in höchstem Maße albernen Werkes sein könne. Philippi war töricht genug, sich dennoch öffentlich zu seiner Autorschaft zu bekennen; und zwar im Anhang zu dem Buch »Cicero, ein großer Windbeutel, Rabulist, und Charlatan«, das sein wissenschaftliches Ansehen vollends ruinierte. Im selben Jahre wie die »Unparteiische Untersuchung« (1733) veröffentlichte Liscow audi die angeblich von Philippi in der Gesellschaft der kleinen Geister gehaltene »Stand- und Antrittsrede« 8 , die eine Parodie auf den ersten der »Sieben neuen Versuche« darstellt. Noch vor der Standrede hatte Liscow die »Sottises champêtres« herausgegeben: eine plumpe Verhöhnung eines freilich nicht minder plumpen Schäfergedichts, das Philippi zum Verfasser hatte. Wiederum war Liscow das Manuskript, das Philippi bei einer Gottsched nahestehenden Leipziger Dame deponiert 8 »Stand- oder Antritts-Rede, welche der (S. T.) Herr D . Joh. Ernst Philippi, öfentlicher Professor der deutschen Wohlredenheit zu Halle, den 21. December 1732 in der Gesellschaft der kleinen Geister gehalten, sammt der Ihm darauf, im Namen der gantzen löbl. Gesellschaft der kleinen Geister von dem (S. T.) Herrn B. G. R. S. F. M. als Aeltesten der Gesellschaft, gewordenen höflichen Antwort. Auf Befehl und Kosten der Gesellschaft der kleinen Geister zum Druck befördert«, o. 0 . 1 7 3 3 .

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hatte, von Freunden in die Hände gespielt worden 9 . Liscow schrieb eine kurze Vorrede dazu, versah das Ganze mit einem Titel und gab die Sottisen 1733 anonym heraus. Es ist verständlich, daß Philippi über diese mehr als fragwürdigen Machenschaften empört war. Er revanchierte sich mit den »Sottises galantes«, in denen Gottsched, sein vermeintlicher Gegner, auf eine »recht rasende Art« (Vorr. 39) angegriffen wurde 10 . So hart Liscow seinen Kontrahenten auch bedrängt hatte, es war ihm nicht gelungen, Philippi zum Verstummen zu bringen. Der streitbare Professor beantwortete nicht nur die »Stand- und Antrittsrede« mit einer Gegenschrift, er fand daneben audi nodi die Zeit für eigene literarische Arbeiten. 1734 gab er eine Ubersetzung der Maximen der Marquise de Sablé heraus, die er mit 366 »moralischen Bildnissen« erläutert hatte 11 . Dieses Buch wurde im 83. Stüde des »Hamburgischen Correspondenten« sehr abfällig rezensiert, was Philippi zum Anlaß nahm, sich in einem offenen Brief 12 an den Rat der Stadt Hamburg über den Kritiker zu beschweren. Damit erhielt der Streit zwischen Liscow und Philippi neue Nahrung. Liscow wurde durch das Protestschreiben gereizt, seinen Gegner abermals zu demütigen. »Ich wolte ihm demnach den Rest geben« (40), schreibt er in der Vorrede zur Sammlung seiner Schriften. Mit dem »Glaubwürdigen Bericht eines Medici« von 1734 gibt er der Fehde eine überraschende Wendung. In dem »Bericht« wird mitgeteilt, daß Philippi am 21. Juni 1734 gestorben sei, nachdem er zuvor auf dem Totenbett seine Taten bereut und seine Schriften verflucht hätte. Der totgesagte Philippi ließ daraufhin im »Hamburgischen Correspondenten« verkünden, daß er das Opfer eines namenlosen Pasquillanten geworden sei, daß er lebe und sich zur Zeit in Göttingen aufhalte. Außerdem gab er eine eilig verfaßte Schmähschrift heraus (vgl. Vorr. 43), in der er die Unglaubwürdigkeit des »Glaubwürdigen Berichts« zu erweisen suchte; für Liscow ein willkommener Anlaß, zu einem letzten vernichtenden Schlag auszuholen. Mit der »Bescheidenen Beantwortung der Einwürffe, welche einige Freunde des Herrn D. Joh. 8

Vgl. Vorrede zur »Sammlung«, S. 37 f. Dieses grobianische Intermezzo wird hier nur deshalb erwähnt, weil es die Methoden der literarischen Händel des 18. Jahrhunderts besonders kraß veranschaulicht. Der pamphletartige Charakter der »Sottisen« macht ihre ausführliche Behandlung jedodi überflüssig. Näheres bei Litzmann, a.a.O., S. 84 f. und bei K. G. Heibig, Chr. L. Liscow. Ein Beitrag zur Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Dresden und Leipzig 1844, S. 18 f. 11 »Der Marquisin von Sablé Hundert vernünftige Maximen. Mit 366 moralischen Bildnüssen e r l ä u t e r t . . . « , Leipzig 1734. Rezensiert von Joachim Friedrich Liscow im »Hamb. Correspondenten« vom 25. 5.1734, Nr. 83 ( = Nr. 18 der »Sammlung«), 12 Abgedruckt von G. C. F. Lisch, Chr. L. Liscow's Leben, Schwerin 1845, S. 80-83. 10

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Ernst Philippi . . . wieder die Nachricht von dessen Tode gemacht haben« (1735), erreichte der Kampf seinen Höhepunkt und sein Ende. Liscow verbürgt sich darin für die Wahrheit des »Glaubwürdigen Berichts«. Der Brief, den Philippi angeblich noch nach dem 21. Juni geschrieben haben solle, könne die Todesnachricht keineswegs entkräften; denn erstens könne er erdichtet sein und zweitens folge aus der Tatsache, daß ein Mensch einen Brief geschrieben habe, nicht notwendig, daß er noch am Leben sei. »Wir haben gantze Bücher von Briefen der Todten an die Lebendigen« (470 f.), bemerkt Liscow sarkastisch. Es müsse daher vermutet werden, daß die Freunde des »weiland wohlverdienten Professors« (451) einem teuflischen Trug zum Opfer gefallen seien. Er wolle diese Mutmaßung zwar niemand aufdrängen, doch stünde es für ihn außer Zweifel, daß »der Philippi, der ietzo zu Göttingen zu sehen seyn soll, nicht der rechte Philippi, sondern sein Gespenst« sei (472). »Disparoissez donc, je Vous prie, Et que le Ciel par sa bonté Comble de joye & de santé Vôtre défunte Seigneurie.« (472) Mit diesem boshaften Molière-Zitat endet der Streit, der viele Jahrzehnte später auf einer ganz anderen Ebene fortgesetzt werden sollte. Die Fehde Liscow contra Philippi 13 wurde nämlich vor allem im 19. Jahrhundert zum Gegenstand von heftigen literarhistorischen Kontroversen, in denen u. a. die alte Frage nach der Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit der Personal-Satire erneut zur Diskussion gestellt wurde. »Einen witzigem Mann habe ich nie unter einer Nation gefunden, als diesen, den die seinige vergißt«, äußert Johannes von Müller über Liscow in einem Brief an Gleim 14 . Unter den Literarhistorikern des 13 Es ist nodi nachzutragen, daß Philippi auch als Modell für die Figur des »elenden Scribenten« herhalten mußte, dessen Vortrefflichkeit und Notwendigkeit Liscow in seiner ironischen Rettung gründlich zu erweisen suchte. Diese Satire, in der Liscow allgemein gegen die kleinen Geister auf dem Gebiet der Literatur zu Felde zog, erschien 1734 zum ersten Mal; sie hatte, wie ihr Verfasser bemerkt, unter allen seinen Schriften den »besten Abgang« (Vorr. 49), so daß sie 1736 neu aufgelegt werden mußte. Zeitgenössische Satiriker (u. a. Rabener und Riedel) haben sie nachgeahmt; und da sie auch noch nach Liscows Tod mehrfach gedruckt wurde, hat vor allem sie dazu beigetragen, daß der von seinen Zeitgenossen als »deutscher Swift« (vgl. Flögel, a.a.O. III, 475; Litzmann, a.a.O., S. 113) gerühmte Satiriker nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. 14 Briefe zwischen Gleim, Wilhelm Heinse und Johann von Müller. Aus Gleims litterarischem Nachlasse hg. von W. Körte, 2. Bd. Zürich 1806, S. 243; unter dem frischen Eindruck seiner Liscow-Lektüre schreibt J. v. Müller am 27. Mai 1781 an Gleim: »Ich habe Liscov angefangen; kein Deutscher war je launiger, er ist Original.

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19. Jahrhunderts hat sich vor allem Gervinus darum bemüht, den mecklenburgischen Satiriker der Vergessenheit zu entreißen. Wegen seiner »merkwürdigen Schreibart« - die »zwar nach französischer Art korrect, phantasielos, aber eigenthümlich rein und keck ist« - könne man Liscow als einen Vorläufer Lessings bezeichnen; er habe »in prosaischer Rede das erste Licht eines neuen Tages« verkündet und seinen (in einer »glatten Geschäftsprose« schreibenden) Zeitgenossen Rabener an »Männlichkeit, Muth, Gediegenheit, Gesinnung und Schreibart« weit übertroffen 15 . Gegen dieses Urteil hat Hettner energisch protestiert. Es sei Unrecht, »Liscow auf Kosten Rabeners zu hohen Ehren hinaufzuschrauben«; denn Liscow habe nur über »verkommene Lumpe und Schwachköpfe« gespottet, die »schon längst im allgemeinsten Verruf« standen; in seinen Werken fände sich nicht der »leiseste Funke dichterischer Gestaltungskraft«; es seien »langweilige Pasquille«, nichts weiter. Das »Volk als Volk« habe nie etwas von Liscow gewußt, weil Literatursatiren (also dodi nicht Pasquille!) - »zumal rein persönliche« - nie volkstümlich werden könnten 1β . Als »langweilige Pasquille« hatte auch Wackernagel 17 Liscows Satiren ohne nähere Begründung verurteilt. Ebenso hatte auch Danzel 18 aus seiner Abneigung gegen Liscow kein Hehl gemacht. A. F. C. Vilmar dagegen fand, daß Liscows Satiren gerade durch den Umstand, daß in ihnen »bestimmte Personen« angegriffen wurden, eine »Frische und Wahrheit« erhalten hätten, die Rabeners Satiren durchaus fehle 19 . Zu den Literarhistorikern, die (meist unter Berufung auf Gervinus) positiv über Liscow geurteilt haben, gehören u. a. H.Kurz 2 0 , A. Koberstein 21 , W. Scherer22, C. Lemcke23, K. G. Heibig 24 , Man sollte die Namen Sievers, Philippi etc. mit englischen tauschen, und Liscov als aus dem Englischen übersetzt herausgeben; Deutschland würde ihn mit Entzücken lesen. Keiner Nation sollte man öfter zurufen: Quod petis hic est.« (A.a.O., S. 208). 15 G. G. Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung, IV. Bd., Leipzig ε 1873, S. 62, 65 und 97. 16 Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert, hg. von G. Witkowski, Leipzig 1928, II. Abschnitt, S. 237. Auf Hettner beruft sich u. a. audi Paul Richter in seiner ausdrücklich als Rabener-»Rettung« bezeichneten Schrift: Rabener und Liscow. Ein Beitrag zur Litteraturgeschichte, Progr. Dresden 1884, S. III. 17 Deutsches Lesebuch, III. Tl., 2. Bd., Basel 1843, Vorr. S. IX. 18 Gottsched und seine Zeit, Leipzig 1855, S. 232 ff. 19 Geschichte der deutschen National-Literatur, Marburg und Leipzig 22 1 8 8 6, S. 333. 20 Geschichte der deutschen Literatur, II. Bd., Leipzig 2 1857, S. 656 f. 21 Geschichte der deutschen Nationalliteratur, V. Bd., Leipzig 5 1873, S. 535, Anm. 7. 22 Geschichte der deutschen Litteratur, Berlin 9 1902, S. 376. 23 Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit, I. Bd., Leipzig 1871, S. 420-22. 24 A.a.O., S. 75 ff.

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G. C. F. Lisch 25 und Β. Litzmann 26 , der sich, allerdings in manchen Punkten von seinen Vorgängern distanziert. Unbeeindruckt von der stattlichen Zahl namhafter Liscow-Apologeten hat Friedrich W. Ebeling in seiner »Geschichte der komischen Literatur in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts« 27 die Frage nach der Bedeutung des Satirikers von neuem aufgerollt. Am Ende seiner rund 70 Seiten langen, mit groben Invektiven gespickten Polemik gegen Liscow, Gervinus und dessen »Naditreter« kommt er zu dem Ergebnis, daß Liscows Schriften »nach Ursprung, Tendenz und Tragweite vollkommen werthlos« seien28. Der »nationalliterarische Kothurn«, auf den Gervinus diese »im Totaleindruck widerliche Erscheinung«29 hatte heben wollen, breche »morsch zusammen«; Ebeling sieht ihn »in Wahrheit blos auf den Socken eines Pasquillanten hinschleichen« 30 . Liscow sei, resümiert er, ein »unverträglicher, boshafter Narr« gewesen, »eine Art Hipponax, leidend an Gedanken-Hämorrhoiden, die er ebenso zum Behagen Anderer wie zum eigenen Wohlbefinden in Fluß setzen muß. Sein Charakter schwingt sich im besten und seltensten Falle zu einer sittlichen Halbkraft auf, und darum watet er beständig im trüben Gewässer kleinlichster Details und hämischster Personalien. Nicht weil ihm Talent mangele, das wol nie ein Schriftsteller mehr mißbraucht hat als er, sondern ob der moralischen Schlaffheit seines Wesens verhüllt sich der Genius der Zeit vor ihm. Kein Ideal beseelt ihn, keines der höchsten Güter der Menschheit hebt ihn aus dem Staube seines dürren Verstandes empor. Nicht ein einziges Mal ragt er über das Getriebe der Zeit und die gemeine Alltäglichkeit hinaus. Er hat nichts gewollt als seiner frivolen Lust fröhnen . . . Er hat denn in Wahrheit auch Nichts erreicht, als was er verdiente: frühzeitige Vergessenheit. Seine Schriften, von denen die >Vitrea fracta< noch die beste, sind heute trotz aller nationalliterarischen Marktschreierei selbst in schriftstellerischen Kreisen nur wenig gekannt.« 31 2 5 »Liscow gehört ohne Zweifel zu den größern Geistern des deutschen Volkes. Nicht allein daß er unter den Satirikern noch immer in der ersten Reihe steht, der Reichthum seines Geistes, seine Klarheit und Gewandtheit sind so ausgezeichnet, daß er bis auf die neueren Zeiten wohl von niemand übertreffen ist; lebhaft erinnert er in der objectiven Vollendung der Ausdrucksweise an Göthe (!)«; Lisch, a.a.O., S. 1. Nicht weniger enthusiastisch äußert sich Carl Miichler, der Herausgeber von Christian Ludwig Liscows Schriften (3 Tie., Berlin 1806): »Unstreitig gehört Liscov zu den genievollsten Schriftstellern seines Zeitalters... Er verdient mit Recht unter allen deutschen Satyrikern einen vorzüglichen Rang und in der Ironie hat ihn vielleicht noch keiner übertroffen. Er ist der Swift der Deutschen . . . « (Vorwort, S. III). 2« A.a.O., S. VI ff. 27 3 Bde., Leipzig 1869. 2 8 A.a.O. I, S. 86. 2 9 A.a.O. I, S. 29 und 50. 3 0 A.a.O. I, S. 50. 31 A.a.O. I, S. 86 f.

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Nach Auffassung seiner zeitgenössischen Gegner, denen sidi später Hettner, Wackernagel, Danzel und Ebeling anschließen, hat sich Liscow folgender Vergehen schuldig gemacht: 1. Liscow schreibt gegen einen Menschen, den er nicht persönlich kannte und der ihm »niemahlen das geringste zuwieder gethan hatte« (Vorr. 22). 2. Er schreibt nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Betreiben seiner Freunde; d. h. er stellt seine Feder in den Dienst einer Sache, die ihn im Grunde nichts anging und über deren Hintergründe er sich vermutlich gar nicht zuverlässig informieren konnte. 3. Seine Satiren erscheinen ausnahmslos anonym. Dagegen scheut er sich nicht, den Namen seines Gegners zu nennen, Philippi öffentlich zu verhöhnen und ihn dadurch um Ehre und Ansehen zu bringen. 4. Liscow hat kein Bedenken, gegen einen »kleinen Geist« und »elenden Scribenten« zu schreiben; er ist zwar mutig genug, einen ihm nicht ebenbürtigen Gegner zu züchtigen; aber er riskiert nicht, die großen Herren anzugreifen oder an den eigentlichen Zeitmißständen Kritik zu üben 32 . 5. Die unrechtmäßige und taktlose Verwendung von Philippis Manuskripten beweist, daß er in der Wahl der Mittel, die der Bloßstellung und Verhöhnung seines Gegners dienten, völlig skrupellos war. 6. Dem bereits schwer getroffenen Philippi wird kein Pardon gewährt. Liscow ruht erst, nachdem er seinen Gegner völlig vernichtet hat. 7. Liscows Satiren enthalten spöttische Bemerkungen über die Heilige Schrift und die Religion. b) Liscows

Selbstrechtfertigung

Liscow hat es nicht für nötig gehalten, die hier zusammengestellten Anschuldigungen alle mit derselben Gründlichkeit zu widerlegen. Die ersten beiden Vorwürfe nimmt er einfach zur Kenntnis, ohne sich sonderlich um ihre Entkräftung zu bemühen S3 . Auch die anonyme Herausgabe seiner Schriften wird ziemlich lässig verteidigt. Liscow begnügt sich mit dem Hinweis, daß er in dieser Gepflogenheit »viele vortrefliche Männer zu Vorgängern« (111) gehabt habe, daß er seinen Namen nicht 32 So nimmt z. B. Ebeling vor allem an Liscows in der Tat keineswegs eindeutigem Verhalten in seiner Auseinandersetzung mit dem Grafen Brühl Anstoß (a.a.O., S. 23 ff.); die an den sächsischen Minister gerichteten Begnadigungsgesuche des inhaftierten Liscow bezeichnet E. als »hündische Lamentation« (a.a.O., S. 26). 33 Vgl. »Sammlung«, S. 199.

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gern gedruckt sehe und zieht sich schließlich mit der Bemerkung aus der Affäre, daß »kluge Leute« eine Schrift »nach ihrem Inhalt, und nicht nach dem vorgesetzten Nahmen« zu beurteilen pflegten (111). Auch die Manuskript-Intrigen scheinen ihm keine ernstlichen Skrupel bereitet zu haben. Er bedauert zwar, Frau von Ziegler durdi die Veröffentlichung von Philippis Schäfergedicht erzürnt zu haben. Allein seine mit beredten Worten vorgetragene Entschuldigung (vgl. Vorr. 38) wäre glaubwürdiger, wenn er sich dazu bequemt hätte, die 1733 zum ersten Mal erschienenen »Sottisen« von einer Aufnahme in die Sammlung seiner Schriften (1739) auszuschließen84. Schließlich lassen sich auch keine Belege dafür finden, daß Liscow die literarische Hinrichtung Philippis bereut hätte; es sei denn, man deutet die materielle Unterstützung, die er dem in Not geratenen Philippi später zukommen ließ, als einen nachträglichen Akt der Wiedergutmachung. In der Vorrede zur »Sammlung« heißt es jedoch ausdrücklich, daß er nicht bereue, seine Satiren geschrieben zu haben. »Ich liebe sie als meine Kinder, und meine Absicht ist nicht, sie in dieser Vorrede zu verfluchen. Ich ertheile ihnen, da ich sie von neuen in die Welt schicke, meinen väterlichen Seegen« (4). Bemerkenswert ist, wie Liscow sich mit dem Vorwurf auseinandersetzt, nur kleine Geister gedemütigt zu haben. Freimütig bekennt er, daß er die »Blosse gewisser Leute aufgedecket, die so schon offenbar genug war«, um dann fortzufahren: »Das ist keine Heldenthat, und ich gebe es auch nicht davor aus. Ich weiß wohl, daß ich keine Riesen erleget; sondern nur mit Zwergen gekämpfet habe: Und nichts in der Welt ist so geschickt, mich demüthig zu machen, als der Sieg, den ich über dieselbe erhalten habe« (6). Man muß diese Äußerung mit einem Abschnitt aus den kritischen »Anmerkungen« 35 zusammennehmen, um zu ermessen, mit welchem Geschick Liscow seine Sache zu verteidigen wußte, wenn es ihm nötig schien. In der gelehrten Welt, bemerkt er sarkastisch, sei es üblich, sich nur mit solchen Gegnern einzulassen, die so berühmt seien, daß »sie auch andere durch ihren Glantz erleuchten können« (582). Von einem Ruhm, den er seinem Feinde zu danken habe, halte er jedoch nichts: »Ich will lieber andere durch meine Wiederlegung bekannt und berühmt machen, als durch die Wiederlegung größerer Männer berühmt werden. 34

Vgl. Litzmann, a.a.O., S. 85 f. »Anmerckungen in Form eines Briefes über den Abriß eines neuen Redits der Natur, welchen der (S. T.) Hr. Prof. Mantzel zu Rostock in einer kleinen Schrift, die den Titul führet: Primae Lineae Juris Naturae vere talis secundum sanae rationis principia ductae. der Welt mitgetheilet«, Kiel 1735. 35

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Mich deucht, ich habe mehr Ehre davon, daß man meiner dunckeln Gegner unbekannte Schriften um meiner Wiederlegung willen, als daß man meine Wiederlegung um der Schriften willen meiner angesehenen Gegner lieset. In dem ersten Fall erweise ich meinem Nedisten eine Wohlthat, in dem andern empfange ich sie« (582 f.) 3 β .

Hier erscheint, wenn auch zweifellos in ironischer Brechung, das Verhältnis von Anlaß und satirischer Reaktion in einer ganz neuen Beleuchtung. Die Größen- und Bedeutungsrelation scheint sich zu verkehren; offenbar bestimmt nicht der Rang des Objekts den Wert der Satire, sondern der Satiriker vermag selbst den belanglosesten und flüchtigsten Anlässen oder Gegenständen dadurch Bedeutung und Dauer zu verschaffen, daß er sie satirisch objektiviert. Niemand würde heute Philippi, Sievers, Rodigast kennen, wenn sie nicht von Liscow verewigt worden wären. »Bedeutend« sind diese Gestalten nicht um ihrer zweifelhaften wissenschaftlichen Verdienste willen, sondern weil sie in Liscows Satiren zu typischen Repräsentanten der »kleinen Geister« und »elenden Scribenten« wurden. Als literarische Figuren aber haben sie mit ihren historischen Vorbildern im Grunde nicht mehr als den Namen gemein. Damit wird deutlich, daß das Verhältnis der Satire zur empirischen Realität erheblich komplizierter ist, als es nach den Darstellungen der Poetiker des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts scheinen mochte. Aber nicht nur dieser Bezug zeigt sich in einem neuen Licht, auch die immer wieder gegen die Satiriker (speziell gegen Liscow) erhobenen Vorwürfe müssen offenbar neu gesehen und beurteilt werden; zumal der Versuch einer moralischen Rehabilitierung der Satire wird aus dieser Perspektive später noch einmal überprüft werden müssen. Liscow hat das hier angerührte Problem allerdings nicht weiter verfolgt. Ihm kam es vor allem darauf an, die Gegenstandslosigkeit der gefährlichsten Anklagepunkte zu erweisen. Dieser Aufgabe widmete sich der als Pasquillant und Religionsspötter denunzierte Satiriker in der »Unparteiischen Untersuchung« und in der Vorrede zur Sammlung seiner Schriften. Wir behandeln beide Schriften gemeinsam und beschränken uns auf die Wiedergabe der wichtigsten Argumente. »Eine Satyre«, erklärt Liscow, greife »allemahl eine gewisse Art der Thorheit an, und macht dieienigen lächerlich, welche damit behaftet sind« (203). Dies sei die Ursache, weshalb sie einer »weit schärfern Censur unterworfen ist, als irgend eine andere Schrift« (200). Die Leser 36 V g l . K . K r a u s : »Ich mache kleine Leute durch meine Satire so groß, daß sie nachher würdige Objekte für meine Satire sind und mir kein Mensch mehr einen Vorwurf machen kann.« Beim Wort genommen, München 1955, S. 324.

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von Satiren stünden in dem »Wahn«, daß einer, der »sich klug genug düncket andere zu tadeln, eine große Einbildung von sich selbst haben, und sich allein vor weise halten müsse« (201 f.). Die Erfahrung lehre ferner, daß sich alle Toren gegen den Satiriker verbünden, wenn einer der Ihren von einem »auswärtigen Feinde« (205) gemaßregelt wird. Wer »nur einen Phantasten angreift, der hat sogleich die gantze Schaar der Thoren auf dem Halse« (205). Mit solchen Reaktionen müsse der Satirenschreiber sich wohl oder übel abfinden. Es sei »etwas gar natürliches, daß derienige, der in einer Satyre angegriffen wird, einen größern Anhang findet, als derienige, der sie geschrieben hat. Dieser ist ein gemeiner Feind, und iener ein bedrängtes Brüdergen, dessen Nothstand ein ieder zu Hertzen nimmt« (203). Etwas anderes dagegen sei es, wenn der Satiriker der Gottlosigkeit beschuldigt werde. Dies sei zwar unstreitig das »sicherste und kräftigste Mittel seinen Feind zu unterdrücken, und man kömmt weiter damit, als wenn man sich in einen ordentlichen Kampf einlassen wolte« (210). Doch könne der Satiriker einen Vorwurf von solchem Gewicht und solcher Tragweite nicht einfach auf sich beruhen lassen. Bevor Liscow nun im einzelnen auf die angeblich religionsfeindlichen Stellen des »Briontes« eingeht, erläutert er zunächst die in dieser Satire gewählte Haltung. Man spürt deutlich, wie schwer es ihm fällt, seine Satire zu erklären und sie aus der ironischen nachträglich in die eigentliche, unverstellte Redeweise zu übertragen. Der kritische Leser wird gebeten, es Liscow nicht zu verübeln, wenn er Dinge auseinandersetze oder widerlege, die es eigentlich nicht verdienten. »Die Schuld ist nicht meine, sondern derer, die vor gut befunden haben, so schwache Beweißthümer ihrer Beschuldigung vorzubringen« (212). Der »Briontes«, schickt er voraus, sei eine Satire, in der eine »immerwährende Ironie« herrsche (213). Wer nicht imstande sei, den »verborgenen Sinn« einer Ironie zu erkennen oder so »schwermüthig« sei, daß er »allen Schertz vor sündlich hält« und selbst in den »unschuldigsten Schriften, wenn sie nicht nach der Salbung schmecken, nichts als Greuel entdecket« (213), für den sei die Satire nicht geschrieben. »Mit solchen Leuten habe ich nichts zu thun« (213 f.). Dennoch versäumt Liscow nichts, um gerade die einfältigen Leser darüber aufzuklären, wie es sich in Wahrheit mit dem Religionsspott des »Briontes« verhalte. Er zeigt, daß die gerügten Stellen ja nicht die Meinung des Verfassers der Satire wiedergeben, sondern einer indirekten Charakteristik Philippis dienen, dessen exaltierte Redekunst von einem Mitglied der Gesellschaft der kleinen Geister vor dem Forum 37

dieses Ordens in einer ironischen Lobrede überschwenglich gepriesen und damit ad absurdum geführt wird. Dieser Lobredner dürfte nicht geradezu sagen, daß Professor Philippi ein Ignorant und ein törichter Schwärmer sei. Das wäre weder seinem Charakter noch der Erfindung gemäß gewesen. Er war vielmehr verpflichtet, seinen Ordensbruder zu loben. Das geschieht jedoch auf eine so hämische Art, daß sich die Bejahung in eine Verneinung verkehrt. Durch dieses »verstellte Lob« (233) hatte der Verfasser des »Briontes« Philippis Torheit so übertreiben wollen, daß »sie handgreiflich und dem Hn. Philippi selbst scheußlich werden« sollte (233). Dieses ironische Verfahren wird an einigen Exempeln erläutert und der Vorwurf des Religionsspottes damit widerlegt. Sodann untersucht Liscow die Frage, ob er sich durch die öffentliche Verspottung von Philippis Torheit strafbar gemacht habe. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht wiederum die Abgrenzung der Satire vom Pasquill. Strafbar sei es, wenn man seinen Nächsten wider besseres Wissen des Totschlags, Raubes, Ehebruchs oder anderer Verbrechen beschuldige; dagegen sei es erlaubt, ihm solche Fehler vorzuhalten, die nicht unter Strafe stünden und die seinen ehrlichen Namen nicht beschmutzen. An diesen Fehlern und Gebrechen könne vielmehr ein Spötter »seine Kunst beweisen« (250). Nichts anderes aber habe der Verfasser des »Briontes« getan: er habe gezeigt, daß »einer ein unerträglicher Scribent, und doch ein ehrlicher Mann seyn könne« (267). Wer unter »Ehre« freilich jenen Ruhm verstehe, den sich Schriftsteller durch ihre Werke verdienen könnten, dem sei zuzugeben, daß dieser Ruhm durch eine Satire oder eine andere Widerlegung »geschmälert und vernichtet werden könne«. Allein daraus folge nicht, daß eine »solche Satyre, oder eine so starke und nachdrückliche Widerlegung allemal unzulässig sey« (267). »Ein jeder, der schreibt, unterwirft sich durch die Heraus'gebung seiner Schrift dem Eigensinn seiner Leser« (256). Wer ein Buch kauft, kauft zugleich das Recht, darüber zu sagen, was er will (vgl. 257). Die Obrigkeit kann keinen Autor gegen die Urteile seiner Leser schützen. Solange es nur darauf ankommt, »ob eine Lehre wahr oder falsch, ob ein Buch gut, oder schlecht geschrieben sey, sieht sie dem Streit gelassen zu« (258); denn der »Verstand ist keinem Gesetze unterworfen« (259). Ob jemand ein alberner oder ein verständiger Scribent sei, vermag die Obrigkeit nicht auszumachen. Diese Entscheidung überläßt sie dem Urteil der Kenner (vgl. 259). Die »gelehrte Welt«, fährt Liscow die Untersuchung jetzt ins Prinzipielle ausweitend fort, hat »vollkommene Gewalt«, über alle Schrif38

ten zu urteilen und ein »jeder Gelehrter insonderheit ist befugt, sich dieser Gewalt zu bedienen« (259). Diese Befugnis leitet sich aus der besonderen Verfassung der Gelehrten-Republik her. Die Gelehrten haben weder ein sichtbares Oberhaupt noch ein sichtbares Tribunal. Sie erkennen einzig die Vernunft als ihre »Königin« an. Wenn nun ein schlechter Scribent die »Majestät der gesunden Vernunft« (260) beleidigt, kann jeder Gelehrte ihn deshalb bestrafen, ohne daß sich der zur Rechenschaft Gezogene darüber beschweren dürfte, daß ihm Unrecht geschehen sei. Der Stümper ist »vogelfrey«. »Es kan ihn schlagen wer ihn findet« (260). Natürlich müßten die Strafen sich nach der Größe der Vergehen richten. Nicht jeder Fehler oder Irrtum dürfe sogleich mit StaupenSchlägen, der Landesverweisung oder gar mit dem Schwert geahndet werden. Keinen Anspruch auf Nachsicht oder Mitleid habe dagegen ein »verworrener Kopf, der mit dem grossesten Trotz in der gelehrten Welt auftrit, und, mit einer unerträglichen Verwegenheit der gesunden Vernunft, und dem guten Geschmack den Krieg ankündiget« (271). Wer wie Philippi der Welt weiszumachen sucht, daß er »ein grosser Redner und Poete« sei, kann nicht über Unrecht klagen, wenn man »StandRecht über ihn hält, ihn zum Tode verurtheilet, und durch eine scharfe Satyre, andern zum Abscheu, und zu Verhinderung alles Unfugs, den er durch sein böses Exempel anrichten könnte, aus dem Lande der Gelehrten vertilget, und also die beleidigte Vernunft rächet« (271). Der Kunstrichter hat also nach Liscows Ansicht das Recht, über die »elenden Scribenten« selbst das Todesurteil zu verhängen. Diese Auffassung erregte bei den Zeitgenossen beträchtliches Aufsehen. Von Bodmer wurde der »unerschrockene Hr. von Liscow« wenig später als Bundesgenosse im Kampf gegen Gottscheds Regel- und Geschmacksdiktatur und als Wegbereiter der Kritik begrüßt; er habe, sdireibt Bodmer in der Vorrede zu Breitingers »Critischer Dichtkunst«, das »allgemeine Recht der Menschen zu critisieren so vollkommen bewiesen . . . daß die Deutschen ohne Zweifel zu diesem Geschmacke nunmehr genugsam vorbereitet sind« 37. Auf dem allgemeinen Redit auf Kritik gründet nach Liscow auch die Rechtmäßigkeit der Satire. Liscow weist dem Satiriker einen Platz neben dem Gelehrten und dem Kunstrichter zu und bestimmt auch die Gegenstände der satirischen Kritik: Toren und Schwärmer hätten keinen Anspruch auf eine ernsthafte Widerlegung. Man tue daher gut 87

Vorrede zu Breitingers »Critisdier Dichtkunst«, Züridi 1740, nicht paginiert.

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daran, wenn »man ihnen, dem Scheine nach, Recht giebet, sich noch närrischer gebärdet, als sie, und ihre Thorheit so hoch treibet, daß s i e . . . davor erstaunen und, wie ein kollerndes Pferd bey Erblickung eines Abgrundes, stutzen« (278 f.). Mit den »albernen Scribenten«, die den Helicon beunruhigen, dürfe man sich in keinen ernsthaften Kampf einlassen. »Man kan sie spielend vertilgen, und eine eintzige Satyre ist ihnen so tödlich als den Fliegen das Fliegen-Wasser« (281). Diese satirische »deductio ad absurdum« (277), die »den Leuten die Wahrheit mit Lachen, und auf eine verdeckte Art« (282) sagt, ist nach Liscow aber nicht nur juristisch, sondern auch moralisch unangreifbar: wenn die Satiren auch in der Gelehrten-Republik »eine Art der Strafe« und ein »tödliches Gift« sind, »so bleiben sie, dem ungeachtet, doch eine Artzeney« (284). Die moralische Arznei, die man den »bösen Scribenten« in einer Sa-tire gibt, habe zur Folge, daß sie der Torheit absterben. Dieser Tod aber gereiche ihnen zum Leben (283). Die Anspielung auf biblische Formulierungen ähnlicher Art ist unüberhörbar. Liscow, durch die Angriffe seiner Gegner zur Vorsicht gemahnt, beruft sich freilich weder auf Paulus noch auf Petrus, sondern stützt sich auf das Wort des Hl. Augustinus vom »mori vitaliter« (284) 38 . Diesen Trumpf hat er sich bis zuletzt aufgespart. Er beweist, daß die Satire eine »sehr heilsame Artzeney« (284) 39 ist, weil sie nichts als die »Besserung der Thoren« (284) beabsichtigt. Damit zollt er seiner besserungswütigen Zeit den schuldigen Tribut. Freilich nur dem Scheine nach. Denn in Wahrheit teilt er den Besserungs- und Erziehungsoptimismus seiner Zeitgenossen keineswegs. Wenn er nämlich die moralische Integrität des Satirikers mit Belegen aus der christlichen Literatur zu erweisen sucht, so geschieht das nur, um seine Gegner mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Streng genommen ist die »Unparteiische Untersuchung« in dieser Phase weder Untersuchung noch unparteiisch, sondern ein ironisches Spiel mit dem Leser. Es macht ihm wenig aus, daß er sich dabei gelegentlich in Widersprüche verstrickt. Sein Standpunkt ist klar: der elende Scribent, der poetische Stümper, gehört zu jenen Menschen, an denen alle Hoffnung verloren ist. »Er bessert sich nicht... weil er sich einbildet, er sey vollkommen« (271). Deshalb wäre es lächerlich, wenn man ihn »gantz ernsthaft und gravitätisch« widerlegen wollte (279). Eine scharfe Satire ist das einzige Mittel, ihn »zum Stillschweigen zu bringen« (Vorr. 76). 38

Confessiones; Buch VIII, Kap. 8. H . H. Bordierdt weist diesen Topos auch bei Budiner, Tasso, Lucrez und Piaton nach (Augustus Budiner und seine Bedeutung für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts, München 1919, S. 57, Anm. 2). 39

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Von Besserung ist hier nicht die Rede. Das satirische Verdikt soll vielmehr abschreckend wirken und andere vor der Nachahmung der bösen Exempel der kleinen Geister warnen (vgl. Vorr. 76). Indem der Satiriker über das »gelehrte Ungeziefer« (Vorr. 72) und die »elenden Scribenten« das Standrecht verhängt und sie spielend vertilgt, rächt er die beleidigte Vernunft. Allein durch seine Kritikfähigkeit zur Ausübung des Strafamtes legitimiert, schaltet er wie ein »geistlicher König« (Vorr. 70). Der Ignoranz und Arroganz der publikationswütigen und ehrgeizigen Toren hat er die Todfeindschaft angesagt. Er handhabt die Feder wie die Obrigkeit das Schwert. Und mit der tödlichen Waffe seines Spotts verteidigt er die Grenzen der Gelehrtenrepublik (worunter hier das Reich der »gesunden Vernunft« (260) zu verstehen ist) gegen die Zudringlichkeit der Narren, Schwärmer und Scharlatane. Das ist die Position des rationalistischen Theoretikers Liscow. Verglichen mit den Ansichten der Poetiker des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts wirken seine Darlegungen geradezu revolutionär. Eine derartige Machtbefugnis hatte dem Satiriker bislang niemand zugestanden. Niemand hatte bisher die »Nothwendigkeit des Spottens« (Vorr. 77) so energisch verteidigt oder zu behaupten gewagt, daß nicht die Besserung, sondern die Vernichtung der Toren der Endzweck der Satire sei. Mit Liscow beginnt in der Tat eine neue Epoche in der Geschichte der deutschen Satire. Liscow befreit den Satiriker aus der Botmäßigkeit der Moral und erklärt die Vernunft zu seiner Königin. Damit wird die Satire — zumindest theoretisch - zu einem Organ der Kritik. Es bleibt den Geistlichen, den Predigern und den Morallehrern überlassen, das moralisch Gute vom Bösen zu sondern; die Tugendhaften zu ermutigen, zu belehren und zu erbauen und die Lasterhaften zu tadeln, zu bestrafen und zu bessern. Funktion der Satire wird es, das Wahre vom Falschen zu scheiden, die Pseudogelehrsamkeit zu entlarven und alle Vergehen gegen die Regeln der gesunden Vernunft und des guten Geschmacks unnachsichtig zu ahnden. Unter diesem Aspekt hat Liscow seine satirischen Fehden verteidigt. Die Frage ist nun, ob er damit seiner eigenen Leistung wirklich gerecht wird. Es gibt in der Vorrede zur »Sammlung« und in der »Unparteiischen Untersuchung« einige Stellen, die aufhorchen lassen: Da ist einmal die Bemerkung, daß der Satiriker seine Feinde spielend vertilge; und da ist ferner jenes Bekenntnis aus der Vorrede, das besondere Beachtung verdient: Liscow erklärt hier, daß die »Lust, die mit der Zeugung geistlicher Kinder verknüpfet ist«, sein »eintziger Endzweck« gewesen sei (5). Dürfen wir diese Erklärung ernst nehmen? Nach unserer Auffassung 41

ist es nicht erlaubt, sie zu bagatellisieren. Zumal der Kontext verbietet eine derartige Einschätzung der fraglichen Stelle. Liscow zieht in der Vorrede einen Schlußstrich unter die Geschichte seiner literarischen Händel. Ruhm und Unsterblichkeit, lesen wir, habe er mit seiner Satire nicht gesucht und audi nicht verdient. Er wisse, daß er nicht mit Riesen, sondern nur mit Zwergen gekämpft habe und daß sein Sieg kein Anlaß zum Triumph sei (vgl. Vorr. 6). In die Nachbarschaft dieser Äußerungen gehört das oben zitierte Bekenntnis. Seine Glaubwürdigkeit dürfte von hier aus gesehen kaum zu bestreiten sein. Wir nehmen Liscow also beim Wort und unterstellen, daß die Lust, die er bei der Niederschrift seiner Satiren empfunden hatte, sein wahrer und einziger Endzweck gewesen ist. Das aber heißt zunächst, daß seine Satiren frei von außerliterarischen Tendenzen und damit - zumindest nach zeitgenössischer Auffassung - im Grunde zweck-los und unvernünftig waren; und das bedeutet ferner, daß wir die Auskünfte des Theoretikers Liscow nur nach sorgfältiger Prüfung für die Analyse und Wertung seiner satirischen Produktion heranziehen dürfen, im übrigen aber darauf angewiesen sind, die Bemühung um sein Werk ganz unbefangen von vorn zu beginnen. c) Die Satire als ästhetisches Gebilde Medien der satirischen Darstellung: Verkehrung, Verzerrung

Verstellung,

»Uns ward Liscow sehr früh als ein vorzüglicher Satiriker, der sogar den Rang vor dem allgemein beliebten Rabener verlangen könnte, gepriesen und anempfohlen. Hierbei sahen wir uns freilich nicht gefördert; denn wir konnten in seinen Schriften weiter nichts erkennen, als daß er das Alberne albern gefunden habe, welches uns eine ganz natürliche Sache schien«, lesen wir im 7. Buch von »Dichtung und Wahrheit« 40 . Diese Bekundung einer vermutlich gefühlsmäßig bestimmten Abneigung variiert einen immer wieder gegen Liscow erhobenen Vorwurf. Daß auch Goethe ihn aufgreift, zeigt nur, wie langlebig einmal in Umlauf gesetzte Vorurteile sind; als kritischer Einwand ist er indiskutabel. Dichtungsgeschichtlich gesehen knüpft Goethe mit seiner Bemerkung über Liscow an Vorstellungen an, die er selbst längst hinter sich gelassen hatte. Die von den Poetikern des Barock und der Frühaufklärung aufgestellte Rangordnung der literarischen Gegenstände war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts außer Kraft gesetzt worden. 40

42

Goethes Werke (Weimarer Ausgabe) I, 28, S. 74.

Vor allem Schiller hatte in seinen ästhetischen Schriften nachgewiesen, daß künstlerische Qualität nicht von der Wahl bestimmter Figuren, Themen oder Motive abhängig ist 4 1 . Die neue Auffassung über das Verhältnis von Stoff und Form präzisiert ein aus dem Jahre 1796 stammendes Distichon: »Aus der schlechtesten Hand kann Wahrheit mächtig nodi wirken; / Bei dem Schönen allein macht das Gefäß den Gehalt.« 42 Das besagt in unserem Zusammenhang, daß audi das Alberne Gegenstand eines literarischen Kunstwerks sein kann. Der Satiriker, scheint es, ist sogar verpflichtet, das Leichte schwer zu nehmen. Gerade die gelegentlich fast hypochondrische Empfindlichkeit für die Auswüchse der gespreizten Pathetik, des Albernen, Abgeschmackten, Törichten und Banalen gehört offenbar zum »Naturell« des Satirikers von Geblüt. Das wird bei Lichtenberg, Nestroy, Kraus und Haecker besonders augenfällig. Im Hinblick auf diese Autoren scheint sogar die Behauptung erlaubt, daß sich zumal an der wirklichen oder scheinbaren Bagatelle 48 die satirische Laune entzünden und satirische Meisterschaft bewähren kann. Aristophanes, Petronius, Rabelais, Fischart, Swift oder Gogol zeigen, daß dies nicht die Regel ist. Andererseits wird unsere These durch die Exempel dieser Satiriker audi nicht widerlegt. Denn auch Rabelais oder Swift verdanken ihren Ruhm nicht allein dem, was sie gesagt haben, sondern der Weise, wie sie dem Was zur Gestaltung verhalfen. Wir werden daher in unserer Untersuchung von Liscows Satiren contra Philippi auf dieses Wie, die Mittel der Gestaltung, unser Hauptaugenmerk richten. Dabei sollen alle Fragen von vorwiegend stofflichem Interesse (Intention des Autors, persönliche Motive, biographische und zeitgeschichtliche Begleitumstände, tatsächliche oder vermeintliche Wirkung seiner Schriften usw.) versuchsweise ausgeschieden werden; und zwar nicht deshalb, weil wir diese Fragen für belanglos hielten, sondern weil wir erkunden möchten, zu welchen Ergebnissen eine unter ästhetischen Aspekt gestellte Untersuchung der Satiren zu führen vermag. Jemandem wird, wie der Volksmund sagt, der Spiegel vorgehalten, wenn ihm gewisse Fehler oder Unsitten durch eine spöttische, übertreibende Nachahmung deutlich vor Augen gestellt werden. Dieses Verfahren pflegt vor allem da angewandt zu werden, wo die direkte Vgl. Kap. V I I I c dieser Arbeit. Schiller, Sämtliche Werke (Jubiläums-Ausgabe), 1. Bd., S. 264. 4 ' »Vive la bagatelle!« lautete angeblich der Wahlsprudi des späten Swift; vgl. J . Paul, Vorschule der Ästhetik, § 32. 41

42

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Belehrung, ein Appell an die Vernunft, keine Aussicht hat, gehört und befolgt zu werden: also bei Kindern und bei Menschen, deren selbstkritisches Vermögen un- oder unterentwickelt ist. Genau genommen wird bei dieser drastischen Methode freilich nicht ein Spiegel, sondern ein Zerrspiegel benutzt. Denn gerade von der vergröbernden, karikierenden Imitation eines Fehlers versprechen sich die Erzieher eine abschreckende Wirkung und damit indirekt einen moralischen, die Selbsterkenntnis oder das Schamgefühl fördernden Effekt. Im Bereich der Literatur nennt man diesen Akt der karikierenden Imitation Parodie. Die Parodie kann eine moralpädagogische Tendenz haben, jedoch ist ihr dieser Zug nicht wesenseigentümlich. Die »einfache Form« der Parodie ist das Zitat. Das parodistische Zitat unterscheidet sich grundsätzlich von der Zitierweise etwa einer gelehrten Abhandlung oder der Cento-Technik erbaulicher, religiöser oder belehrender Schriften. Es erstrebt nie die objektive, sinngetreue Wiedergabe eines Satzes, einer Wendung oder eines Begriffs; auch dann nicht, wenn es sich um eine wörtliche oder nur geringfügig veränderte Entlehnung handelt. Dasselbe gilt von der parodistischen Nachahmung einer bestimmten Groß-Form, etwa der eines Romans, Dramas usw. Die literarische Parodie ist zwar auf eine Vorlage angewiesen. Die ironische oder persiflierende Kontrafaktur dieser Vorlage ist jedoch einerseits deutlich gegen die Kopie berühmter Exempel abzugrenzen und andererseits nicht zu verwechseln mit der »Mimesis«, der künstlerischen Abbildung oder Nachahmung der Natur, der empirischen Realität. Weil sie ihre Entstehung bereits geformten Vorlagen verdankt, lebt sie gewissermaßen aus zweiter Hand. Die Naivität des ursprünglichen Schaffens scheint hier gebrochen. Die Parodie stellt sich zumeist als das Werk einer vorwiegend reproduktiven Intelligenz dar. Sie bildet eine spezifische Form der Widerlegung oder Vernichtung: indem der Parodist seinen Gegner »zitiert«, ladet er ihn vor das Tribunal der poetischen Justiz 44 . So etwa hat audi Liscow sein satirisches Geschäft verstanden. Wir wissen das bereits aus der »Unparteiischen Untersuchung«. An dem Beispiel des Vaters, der die Unarten seines Kindes auf eine »geschickte« Art nachahmt (um es dadurch zu bessern) erläutert er seinen Standpunkt noch einmal. »Die geschickte Nachahmung«, heißt es in der Vorrede zur »Sammlung«, »durch welche dieser Vater sein Kind bekehret, 44 Musterbeispiele: die Parodien von A. W. Schlegel (»Ehrenpforte und Triumphbogen für den Theaterpräsidenten von Kotzebue«) und Brentano (»Gustav Wasa«) auf Kotzebue.

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ist nichts anders, als eine liebreiche und sanftmiithige Spötterey, wodurch er den Fehler seines Kindes, zu dessen Besten, lächerlich macht«. Und so seien auch seine Satiren gegen Sievers und Philippi nichts anderes als eine Nachahmung dessen, was er an ihren Schriften zu tadeln fand. »Wie konnte ich liebreicher und sanftmüthiger mit ihnen verfahren?« fragt Liscow in Ton und Haltung eines väterlich um die Besserung seiner Kontrahenten bemühten Biedermanns. »Ich frag sie gleichsam: Wie läßt mir das? Und gab ihnen stillschweigend die Lehre: Cavendum est, ne quid in agendo dicendove facias, cujus imitatio rideatur« (Vorr. 79). Wir sehen an dieser Stelle (die für viele andere stehen darf), wie schwer es ist, Liscows Standort genau zu fixieren. Er kostet das Vergnügen, den Leser zu irritieren, gründlich aus und fällt selbst dort, wo man eine unzweideutige Stellungnahme erwartet, in die ironische Redeweise. Niemand wird seine literarischen Hinrichtungen im Ernst als eine »liebreiche und sanftmüthige Spötterey« bezeichnen. Und es steht auch außer Frage, daß Liscow selbst diese Charakterisierung nicht wortwörtlich verstanden wissen wollte. Indessen ist nicht jedermann darin geübt, eine »hochgetriebene Ironie« zu durchschauen, wozu nach Liscows Ansicht eine »gewisse Hurtigkeit und Biegsahmkeit des Verstandes« (Vorr. 61) erforderlich ist. Nicht nur das zeitgenössische Publikum, auch die Forschung hat sich durch die ironischen Maskeraden und durch das kokette understatement gerade bei der eigenen Beurteilung seiner Absichten und Leistungen häufig irreführen lassen. Man hat zwar erkannt, daß die Ironie das wichtigste Instrument seiner satirischen Regie ist, aber man hat bisher nicht gesehen, wie raffiniert Liscow dieses Instrument zu handhaben wußte. Hier ist nodi einiges nachzuholen. Daß Liscow auf Philippis »Sechs deutsche Reden« mit einer Lobrede auf den Halleschen Professor reagierte, wurde bisher stets als etwas durchaus Selbstverständliches registriert; so als hätte der Satiriker gar nicht die Wahl gehabt, sich unter Umständen auch für eine ganz andere Form der Entgegnung zu entscheiden. Dabei ist diese Entscheidung weder selbstverständlich noch belanglos, sondern bereits ein produktiver Akt, der die Anlage und Komposition der Satire auf »Briontes den Jüngeren« 4 5 wesentlich bestimmt. Liscow verwirft (aus Gründen, die wir bereits kennen) eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Philippi. Er hält es für zweckmäßig, seinen Gegner in dessen eigenem Wirkungsbereich zu stellen. Deshalb gibt er dem Redner Philippi reichlich Gelegenheit, seine Künste zu 45

Zum Titel dieser Schrift vgl. Litzmann, a.a.O., S. 58 f. 45

produzieren. Liscow »erläutert« die Zitate aus seinen Reden in ironischen Paraphrasen und Fußnoten und entlarvt durch die parodistische Verfremdung der Vorlage die Kümmerlichkeit seines Opfers. Dieser von Liscow immer wieder angewandte Kunstgriff, die Verneinung in das Gewand einer übertriebenen Bejahung zu kleiden, setzt voraus, daß der Leser imstande ist, die simulatio des Autors zu durchschauen und das eigentlich Gemeinte vom nicht ausdrücklich Gesagten zu unterscheiden. In dieser intellektuellen Anspannung, die ständig aufgefordert ist, das Uneigentliche gewissermaßen verkehrt zu lesen, liegt vermutlich der spezifische Reiz, den die Lektüre satirischer Texte zu bieten vermag; die »Lust« des Satirikers aber dürfte nicht zuletzt in jener spielerischen Verschlüsselung oder Verkehrung des Direkten bestehen, die den Toren ein Ärgernis, für die im Einverständnis mit dem Autor befindlichen Leser jedoch ein Gegenstand des Ergötzens ist. Diese Freude am Spiel mit dem Inkognito kann sich, wie wir noch sehen werden, in den verschiedensten Formen manifestieren. Das gilt übrigens nicht nur für Liscow 4β . Wir wissen, daß Philippi im »Briontes« als das Muster einer »natürlichen, männlichen und heroischen Beredsamkeit« (135) gepriesen wird. Technisch gesehen stellt sich dieser Vorgang dar als eine raffinierte Zitatmontage, wobei die zum überwiegenden Teil wörtlichen Entlehnungen in ihrer neuen Umgebung einen neuen Sinn erhalten. In formaler Hinsicht handelt es sich bei der Lobrede um die parodistische Imitation einer ernstgemeinten Vorlage; gedanklich oder haltungsmäßig: um die ironische Verkehrung des ursprünglich Gemeinten in sein Gegenteil. Die satirische Integration aber basiert auf der dem »Briontes« zugrunde liegenden Erfindung: Die Lobrede wird nämlich vor der »Gesellschaft der kleinen Geister« gehalten; und der Lobredner selbst ist ein Mitglied dieses über die ganze Welt verbreiteten Ordens, den Liscow mit der unsichtbaren Kirche vergleicht 47 . Man hat auch dieser Tatsache bislang zu wenig Beachtung gezollt. Und doch ermöglicht erst diese »Invention« 48 Liscow die zwanglose Durchführung seines Ausfalls. 48 Vgl. Lichtenberg: »In Gesellschaft spielte idi zu Zeiten den Atheisten bloß Exercitii gratia« (Schriften I, 15); s. a. W. B. Ewald, The masks of Swift, 1954. 47 »Die Gesellschaft der kleinen Geister hat einige Ähnlichkeit mit der unsichtbaren Kirche. Sie ist in der gantzen Welt ausgebreitet, und doch kan niemand sagen: siehe hie oder da ist sie« (137). Wegen dieser Stelle wurde Liscow von Philippi des Religionsspottes bezichtigt; vgl. »Sammlung«, S. 213. 48 Die meisten poetischen Hand- und Lehrbücher widmen - nach dem Vorbild der antiken Rhetorik - der inventio eine eingehende Behandlung.

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Der »kleine Geist« rühmt Philippi als einen »Meister in der Beredsamkeit« (154), der »bisher aus sonderbahrer Demuth seine Vortreflichkeit so geschickt zu verbergen gewust, dass man alle Mühe von der Welt hat, sich einen rechten Begrif von selbiger zu machen« (141 f.); er setzt seinen ganzen Ehrgeiz darein, Philippis Sprache und dessen komödiantische Aufführung getreulich nachzuahmen; er verteidigt sein Vorbild gegen die Anwürfe der »Spötter« und ermutigt Philippi, das »Reich der falschen Beredsamkeit« (195) zu zerstören und die Grenzen der Gesellschaft, die ihn als ihren »Aug-Apfel« (195) verehre, zu erweitern. Philippi wird beschworen, sich wider die »böse Rotte der Naseweisen« zur Wehr zu setzen, die ihn durch die »Erhebung der garstigen Hure der Vernunft« (154) zu unterdrücken suchten und die nach dem törichten Beispiel der Griechen und Römer dem Irrglauben huldigen, daß die Redekunst der Vernunftlehre unterworfen sei und sich einbilden, »man müsse erst dendken lernen, ehe man sich zu reden unterstünde« (150). Mit der »Gesellschaft der kleinen Geister« schafft sich Liscow einen ironischen Spielraum, in dem sich eine totale Verkehrung vollzieht, und zwar ohne daß der Autor genötigt wäre, seine Persiflage in jedem Falle mit neuen Scheingründen umständlich zu motivieren. Denn alles was aus der Perspektive des kleinen Geistes als groß und bedeutend erscheint, ist in Wahrheit nichtig, und was der Lobredner als töricht und unvernünftig verwirft, vermag in Wahrheit vor der Vernunft ohne Tadel zu bestehen. Damit wird die Ebene des Ausdrücklichen und Direkten verlassen. Im engsten Zusammenhang mit der durch die inventio bedingten Verkehrung der natürlichen Wertordnung steht die Verstellung des Autors: Liscow tritt nicht unmittelbar in Erscheinung, sondern übernimmt die Rolle eines kleinen Geistes, um Philippi als »vornehmste Stütze« und »eintzigen Trost« (196) der Gesellschaft auf eine der Erfindung gemäße Weise feiern zu können. Eine weitere Distanzierung von der Vorlage erreicht er dadurch, daß der kleine Geist auch als Herausgeber und Kommentator seiner Lobrede zu fungieren hat. In einem Vorbericht macht er den Leser zunächst mit der Existenz, der Eigenart und den Gebräudien seiner Gesellschaft bekannt; die Rede selbst wird als unvollkommene Nachahmung eines im Grunde unerreichbaren Musters bezeichnet (vgl. 142 f.); mit besonderer Sorgfalt schildert der Herausgeber die äußeren Begleitumstände seines oratorischen Auftritts: die mimischen und gestischen Mittel, die er - nach 47

Philippis Vorbild 49 - zur Darstellung von »hertzbrechenden« (152) Affekten angewandt hatte, werden in Fußnoten genau beschrieben. Durch diese Fußnoten erhält die Edition ein höchst gelehrtes Aussehen; es entsteht der Eindruck, als handele es sich hier um die streng objektive Wiedergabe einer ungewöhnlichen Rednerleistung. Ein zusätzlicher Effekt der Rollenteilung (Lobredner-Herausgeber) besteht in dem komischen Kontrast zwischen dem emphatischen Ton, der schwülstigen Metaphorik der Lobrede und dem pseudogelehrten Fußnoten-Arrangement, in dem neben Verweisen auf Philippis Reden Parallelbelege aus Cicero (174 f.), Horaz (188,193) und Longin (181) aufgeführt werden. Im »Briontes« hat Liscow freilich die Möglichkeiten, die sich ihm durch die Einführung der »Gesellschaft der kleinen Geister« eröffneten, noch nicht voll ausgenutzt. Das geschah erst in der »Stand- und Antrittsrede ...« 5 0 , seiner dritten Satire gegen Philippi. In dieser aus zwei Teilen bestehenden Schrift wird Philippi zum ersten Mal direkt eingeführt: und zwar mit der von Liscow aus dem Manuskript veröffentlichten Rede, die er hier als »Stand- und Antrittsrede« 51 vor den kleinen Geistern hält. Auf die in einer grob-ironischen Manier vorgetragene Rede, in der Philippi sich nachdrücklich von den Zudringlichkeiten der kleinen Geister distanziert, folgt die »Höfliche Antwort« des Ältesten der Gesellschaft. Wir können auf diese Antwort, die in dem Druck der »Sammlung« rund 70 Seiten umfaßt, nicht im einzelnen eingehen. Es dürfte aber genügen, wenn wir einige typische Züge ausführlicher erörtern. Liscow bleibt audi dieses Mal wieder im Hinterhalt der Anonymität. Das ist verwerflich, wenn man diese Praxis moralisch wertet. Ästhetisch gesehen ist es jedoch ein hoher, fast ungetrübter Genuß zu verfolgen, wie er in der Rolle des Seniors der Gesellschaft Philippi in der höflichsten Weise davon zu überzeugen sucht, daß er wie niemand sonst geeignet sei, das Oberhaupt der kleinen Geister zu werden: »Du bist unser Bruder, unser Fleisch und Blut, und würdig über uns zu herrschen. Komm demnach, O unendlich kleiner Geist, und nimm den Platz ein, der dir, als unserm Haupte, gebühret. Verschmähe nicht die Ehre, die unsere Gesellschaft durch midi dir antragen lasset. Alle meine Brüder flehen dich darum an. Sei unser König, und errette uns von unsern Feinden. Wir unterwerfen uns dir ohne alle Bedingung, und idi verspreche dir, im Nahmen unserer gantzen Gesellschaft, den genauesten Gehorsam« (412). 49

Philippi hatte in seinen »Sechs deutschen Reden« u. a. die Vortäuschung einer Ohnmacht als besonders eindrucksvolles Mittel empfohlen (vgl. »Sammlung«, S. 152). 50 Vgl. Anm. 8. 51 Dazu Litzmann, a.a.O., S. 63 ff.

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Liscow selbst hat die »Höfliche Antwort« als die »giftigste Schrift« (Vorr. 33) bezeichnet, die er gegen Philippi geschrieben habe. Die grimmigsten Zynismen werden hier im Gewand einer hyperbolischen Devotion vorgetragen. Dergleichen findet sich in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts sonst höchstens bei Lichtenberg. Erstaunlich ist, daß Philippi nicht einmal durch diese Uberdosis satirischen Giftes zum Verstummen zu bringen war. Das spricht zwar für seine enorm robuste Konstitution, zeigt aber auch, daß er selbst nach diesen deutlichen Hinweisen nicht einer realistischen Einschätzung seiner geistigen und literarischen Kräfte fähig war. Für Liscow ist Philippi in dieser Phase der Auseinandersetzung nicht mehr Gegner, sondern nur noch Opfer. Die satirische Provokation des »Briontes« kann, zumindest der Intention nach, noch als Eröffnung eines Kampf-Spiels verstanden werden. Was aber als Kampfspiel begann, wird in der »Höflichen Antwort« zum souverän geführten, grausam-erbarmungslosen Katz- und Maus-Spiel. Bereits im »Briontes« war Philippi so arg zugerichtet worden, daß er als wirklicher Gegner nicht mehr in Betracht kam. Dennoch bleibt er auch später für den Satiriker ein äußerst ergiebiger Gegenstand. Seine törichten Gegenangriffe beflügeln Liscows satirische Laune, was er in der Vorrede der »Sammlung« ausdrücklich und an anderer Stelle indirekt eingesteht 52 ; sie steigern das Raffinement seiner Darstellung und damit auch die Wirkung seiner Angriffe. In der Rolle des Seniors der kleinen Geister zieht Liscow alle Register seiner satirischen Eloquenz. Vielleicht muß man ihm sogar vorwerfen, daß er darin zu weit gegangen sei und daß es besser gewesen wäre, nicht alle Einfälle auszuspielen und seinem Kontrahenten wenigstens den Anschein der Ebenbürtigkeit zu lassen. Philippi wird in der »Höflichen Antwort« zunächst enthusiastisch begrüßt. »Ich will nun gerne sterben, allerliebster Philippi, nachdem ich dein Angesicht gesehen habe« (356). Aufs tiefste bekümmert zeigt sich der Älteste jedoch darüber, daß Philippi die zu seinem Ruhm gehaltene Lobrede so ungnädig aufgenommen habe. Das Auditorium wird ge52

Philippis Feinde, heißt es im zweiten Teil der »Unparteiischen Untersuchung«, seien darüber enttäuscht gewesen, daß der Professor sich als »bußfertiger Sünder« (286) gezeigt habe. Sie wären zunächst der Meinung gewesen, daß Philippi ein Mann sei, »mit dem man seine Lust haben könnte« (288). Weil er aber nach dem »Briontes« verstummt sei, wären seine Gegner auf die »unerhörte Erfindung« verfallen, diesem »gebeugten Manne« eine im höchsten Maße alberne Schrift (gemeint ist das aus dem Manuskript veröffentlichte Pamphlet »Gleiche Brüder - gleiche Kappen«) anzudichten, um ihm auf diese hinterhältige Weise den Garaus zu machen (vgl. 288).

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beten, seine Spöttereien über die Gesellschaft nachsichtig zu beurteilen und im Hinblick auf Philippis außerordentliche Verdienste alles zu übersehen, was in seiner »Stand- und Antrittsrede« anstößig erscheinen könnte. Der Unwille und die Verachtung, die er in seiner Rede gezeigt habe, dürfe niemand bange oder böse machen. Denn, so muß Philippi sich jetzt auf die »höflichste« Weise belehren lassen, »wärest du kein kleiner Geist, so wolte ich sagen, es sey dir, wie böse du auch thust, kein Ernst mit deinem Angrif. Läßt es doch, als woltest du mit uns spielen, weil du nur blind schiessest, und mit einem stumpfen Speer auf uns loßrennest. Allein wir kennen die Natur der kleinen Geister. Alle Glieder unserer Gesellschaft haben unter andern wunderbaren Eigenschaften auch diese an sich, daß sie gerne spotten wollen, aber nicht damit fort kommen können« (362). Sein Spott könne also niemand treffen. Indessen zeigt sich der bis zur Selbstpreisgabe höfliche Älteste dennoch zu einem Entgegenkommen bereit. Da es - was selbst die Feinde der Gesellschaft zugeben - den kleinen Geistern wohl ansteht, ohne Ursache zu lachen, fordert er seine Zuhörer auf, Philippis Anstrengungen mit Lachen zu belohnen: »Lachet demnach, meine Brüder, lachet überlaut, wie es kleinen Geistern zustehet und gebühret, ob ihr gleich nicht wisset warum; damit dem Herrn Prof. Philippi die viele und saure Mühe, welche ihn die artigen Spöttereyen, mit welchen er uns angreifen wollen, gekostet haben, einiger massen belohnet werde. Denn wenn ihr nicht lachen wollet, wer will es dann thun?« (364)

Wenn Philippi auch die ihm angetragene Wahl höhnisch zurückgewiesen habe, wolle die Gesellschaft ihn auch wider seinen Willen als Oberhaupt verehren und ihre eigenen Arbeiten an der »Richtschnur« seiner »herrlichen Schriften« (365) messen. Sodann geht der Älteste im einzelnen auf Philippis Standrede ein, wobei Liscow von dem Mittel parodistischen Zitierens wiederum ausgiebigen - vielleicht einen zu ausgiebigen Gebrauch macht. Das ironische Fazit der parodistischen Persiflage bildet einen der Höhepunkte der »Höflichen Antwort«. Der Sprecher der kleinen Geister stellt sich, als sei ihm Philippis Rede zu hoch. Er habe, bekennt er, seine Worte »nach dem Buchstaben« zu verstehen versucht, doch sei er dabei zu der Uberzeugung gelangt, daß Philippis Sätze unstreitig einen »geheimen Sinn« (375) haben müßten und anders zu verstehen seien, als sie lauteten. Daß Philippi im Ernst geglaubt haben könne, der Verfasser des »Briontes« sei ein Feind der »heroischen Beredsamkeit«, hält er für ausgeschlossen. Denn 50

»ist nicht die Lob-Rede des von Boxhorn 53 eben so wohl nach den Regeln einer heroischen Beredsamkeit verfertiget, als deine sechs deutsche Reden? Wer zweifelt daran, da er es ja selbst, nach deinem Beyspiel, auf dem Titel gar sittsam gesaget hat? Wie kanst du sagen, wir hätten deine sechs deutsche Reden rädern und viertheilen lassen? Wie kanst du den von Box'horn einen Scharf-Richter nennen? Hat dieser ehrliche Mann deine sechs deutsche Reden nicht nach Verdienst gelobet? Ist in seiner gantzen Rede wohl ein Wort zu finden, das dich verdriessen könnte? Ist etwa deine Demuth so übermäßig, daß dich das Lob, welches man dir beyleget, eben so sehr schmertzet, als wenn man dich aufs Rad flöchte?« (374 f.) Philippi wird nochmals ermähnt, nicht länger gegen einen »Unschuldigen« zu wüten, der das »Glück hat, dein Mitbruder, und einer deiner grösten Verehrer zu seyn« (398). Sodann verteidigt der Älteste seinen in »wichtigen Angelegenheiten« entsandten Mitbruder gegen den Vorwurf des Pasquillantentums: »Du bildest dir ein, theurer Philippi, der von Boxhorn habe die strafbare Absicht gehabt, deiner zu spotten, und desfals seinen Nahmen verschwiegen. Aber ist es möglich, daß du dieses im Ernst glaubest? Ich solte es nimmer dencken. Denn bist du wohl jemahlen mehr gelobet worden, als in der Rede, welche der von Boxhorn in unserer Gesellschaft, dir zu Ehren, gehalten? Ich glaube wohl, demüthiger Philippi, daß die Lob-Sprüche, welche er dir bey geleget, deine Bescheidenheit verletzet haben: und es stehet dir wohl an, und macht dich um so viel grösser, daß du dich derselben unwürdig schätzest, und sie von dir ablehnest« (399). Wenn sich an Philippis Verhalten auch unschwer die »Überschwenglichkeit« seiner Demut erkennen lasse, so sei doch zu befürchten, daß die Feinde der Gesellschaft die Art, in der er das ihm beigelegte Lob abgelehnt habe, als »bäurisch« (400) bezeichnen könnten. »Wäre dir dieses eingefallen, so würdest du, wie sauer es deiner Demuth angekommen, grosse Lob-Sprüche ohne Widerrede zu verschlucken, doch gefunden haben, du habest keine Ursache auf denjenigen, der dir dieselbe beygeleget, zu zürnen, und ihm vor seinen guten Willen mit Scheit-Worten zu dancken« (400). Der Herr von Boxhorn habe auch deshalb eine Züchtigung nicht verdient, weil er ja nicht »nach Art der bösen Welt« (400) habe schmeicheln wollen, sondern in aller Aufrichtigkeit zu Werke gegangen sei. »Du weißt ja selber, daß er nidits als die Wahrheit von dir gesagt, und dir kein Lob beygeleget hat, ohne durdi eine oder mehr Stellen deiner sechs deutschen Reden zu erweisen, daß es dir zukomme« (400 f.). Es sei deshalb nicht recht, aus der »Verschweigung seines Nahmens etwas tückisches und böses zu schliessen« (401). Philippi könne vielmehr 53 Unter diesem Namen erscheint der anonyme Autor des »Briontes« in Philippis Gegenschrift.

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versichert sein, daß nur die Demut und Bescheidenheit den Verfasser des »Briontes« bewogen habe, seinen Namen nicht drucken zu lassen; auch habe der Autor befürchtet, daß man ihm unlautere und eigennützige Absichten unterstellen könne, wenn er sich zu erkennen gegeben hätte und es daher auch aus diesem Grunde für besser gehalten, sein Inkognito nicht zu lüften. Wir können auf weitere Proben aus dieser ironischen Apologie verzichten. Was gezeigt werden sollte, ist hinreichend belegt. Zu erwähnen bleibt noch, daß nach der »Fabel« der Satire Philippi nicht zur Übernahme des ihm angetragenen Führeramtes zu bewegen ist. Seine Ablehnung bietet Liscow zum Schluß noch einmal die Möglichkeit, weitere boshafte Einfälle zu placieren. So läßt er z. B., nachdem Philippi den Friedenskuß mit den »zornigsten Geberden« (412) verweigert hat, durch den Senior die Wahlentscheidung der Gesellschaft erneut bekräftigen: »Du solt unser König seyn: Du must unser König seyn, du magst wollen, oder nicht. Glaube nicht, daß die Verachtung, welche du gegen uns bezeigest, uns zum Zorn reitzen, und bewegen werde, unsere Wahl zu widerrufen, und dir die Thüre zu weisen. Wir kennen dich: Wir haben dich zu unserm Ober-Haupt erkohren: Dabey bleibt es. Du magst noch so hart darauf bestehen, daß du kein kleiner Geist seyest; Wir wissen dodi wohl, was wir glauben sollen. Deine Schriften bezeugen das Gegentheil, und eben dieser merckliche Mangel der Selbst-Erkänntniß macht dich in unsern Augen groß und ehrwürdig. Solche Leute suchen wir« (413). d) Spiel mit dem Stoff und den

Figuren

Die »Höfliche Antwort« ist so diabolisch inszeniert, daß es ausnahmsweise einmal erlaubt sein möge, eine Rückübersetzung der komplizierten, mehrfach potenzierten Ironie in die eigentliche, unverstellte Redeweise zu geben. Man vergißt gerade bei der Lektüre dieser Satire nidit selten, daß Liscow auch hier immer nur in eigener Sache spricht. Das ist nicht verwunderlich, denn das Spiel mit dem Inkognito ist hier so weit getrieben, daß der Anlaß zu dieser Maskerade darüber ganz aus dem Blickfeld gerät. Wir erinnern uns: Den äußeren Anstoß für die Fortsetzung der satirischen Händel bildete Philippis Erwiderung auf den »Briontes«; Liscow gab ihr den Titel: »Stand- und Antrittsrede, welche der (S.T.) Herr D. Joh. Ernst Philippi... in der Gesellschaft der kleinen Geister gehalten...« Durch die Veröffentlichung von Philippis Manuskript erreichte Liscow dreierlei: zunächst wurde die Kümmerlichkeit seines Gegners damit gewissermaßen dokumentarisch belegt; ferner wurde vor 52

allem durch die Wahl des Titels nicht nur Philippi selbst getroffen, sondern auch das lächerliche Zeremoniell der zeitgenössischen Rednergesellschaften, in denen sich Ehrgeiz und Eitelkeit in den Formen einer mechanischen, degenerierten Rhetorik zu produzieren pflegten 5 4 ; (der Initiationsritus dieser Gesellschaften sah vor, daß sich neue Mitglieder mit einer Stand- und Antrittsrede vorzustellen hatten); und schließlich bot ihm der Abdruck von Philippis Rede die Möglichkeit, an die im »Briontes« zum erstenmal erprobte (aber noch nicht voll ausgeschöpfte) Fiktion anzuknüpfen. Er antwortet Philippi jetzt im Namen des Ältesten der kleinen Geister und zwar abermals in der Form einer ironischen Laudatio: der als »Ausbund und Muster eines kleinen Geistes« (360) gerühmte Professor wird mit Lobeserhebungen überhäuft 55 , wobei sich die alles in sein Gegenteil verkehrende Kraft der Invention erneut bewährt. Philippis satirische Exekution erfolgt in drei Phasen; zunächst preist der Älteste in seiner »Höflichen Antwort« Philippis rhetorische Meisterschaft und beweist seinen Mitbrüdern an ausgewählten Proben aus der Antrittsrede (die jeweils durch Fettdruck hervorgehoben sind), daß der Professor berechtigten Anspruch darauf habe, als einer der Edelsten der Gesellschaft zu gelten. Diese parodistische deductio ad absurdum wird noch dadurch gesteigert, daß der Älteste - seiner Rolle gemäß sich außerstande erklärt, den »geheimen Sinn« von Philippis Standrede zu entschlüsseln. Er unterlegt den ihm angeblich unverständlichen Spöttereien einen »mystischen« Sinn (vgl. 374 ff. u. 380) und deutet Philippis Spottrede als verstecktes Bekenntnis zur Gesellschaft der kleinen Geister. Dasselbe Manöver wiederholt sich anläßlich der Verteidigung des »Briontes«-Autors. Auch hier wird die Ironie in die zweite Potenz erhoben: die ironische Lobrede wird dem Scheine nach ernst genommen und als angeblich ernsthafte Huldigung ironisch gegen Philippis Protest ausgespielt. Aber auch damit läßt es Liscow noch nicht bewenden. Der beste (d. h. hier: boshafteste) Einfall dieser Satire - Philippi zum König der Gesellschaft auszurufen - wird gegen Ende der »Höflichen Antwort« noch einmal ausgemünzt. 54 Philippi war Sekretär der Merseburger »Patriotischen Assemblée«; vgl. Litzmann, a.a.O., S. 58 f. 5 5 Aus dem langen Katalog preisender Anreden seien einige angeführt: »grosser Mann« (373, 399); »grosser Prophet«, der durch den »heiligen Koller« seiner Beredsamkeit bezeugt, daß er den »Geist der Weissagung« habe (373, 386/87, 393); »Seher« (387); »Mann Gottes« (388); »Wunder-Mann« (396); » H e l d « (396); »tapferer Philippi« (397); »allwissender Philippi« (404); »auserwehlter Philippi« (412); »unendlich kleiner Geist« (412).

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Das läßt sich zunächst ganz harmlos an: Der Älteste erklärt Philippi, daß die kleinen Geister dem Grade nach untereinander ebenso verschieden seien wie die großen. Man könne sie füglich in drei Klassen einteilen. Zur ersten Klasse gehörten diejenigen, die sich für kleine Geister ausgeben und es aber nicht sind. Diese machten der Gesellschaft »eitel Verdruß und Hertzeleid« (413); zur zweiten Klasse gehörten jene, die sich für kleine Geister ausgeben und es auch sind. Bei ihnen handle es sich um »gute ehrliche Leute«, denen es lediglich an der Beständigkeit fehle; »zur Zeit der Anfechtung fallen sie ab« (413). Zur dritten Art endlich gehörten jene, die kleine Geister sind, ohne es zu wissen. Sie bildeten den »Kern« der Gesellschaft, und selbst die Feinde des Ordens müßten bekennen, daß derjenige der »grosseste kleine Geist ist, der es nicht wissen will« (414). Zu dieser Kategorie zähle auch Philippi. Er dürfe sich daher nicht wundern, wenn die Gesellschaft ihr Oberhaupt aus dieser Art erwählt habe und ihn als »Besten unter den Besten« (415) zur Würde eines Königs zu erheben gesonnen sei. »Je mehr du dich weigerst, diese Ehre anzunehmen; je höher du es empfindest, daß wir dich vor einen kleinen Geist ansehen, je mehr bekräftigest du uns in der Meinung, daß wir nicht besser Wehlen können. Besorge nicht, daß die Einbildung, du wärest kein kleiner, sondern ein grosser Geist, unsere Hertzen von dir abwendig machen werde. Wir lassen dir dieselbe um so viel lieber, je größer die Vortheile sind, die uns daher zuwachsen können. Wir sehen es gerne, daß du dich äusserlich, und mit Worten zu unsern Feinden bekennest, wenn deine Schriften uns nur von der unsichtbaren Gemeinschaft, in welcher du mit uns stehest, überzeugen, und η adi dem Geschmack unserer Gesellschaft eingerichtet sind« (415 f.) 6 6 .

Die Ausrufung Philippis zum König der kleinen Geister wird zum Mittel seiner totalen Vernichtung. Dieser Trumpf bildet den absoluten Höhepunkt der »Höflichen Antwort«; vermutlich wären damit auch die satirischen Händel zu Ende gegangen, wenn Philippi geschwiegen hätte. Allein der Glaube an seine literarische Mission war auch jetzt noch nicht erschüttert. Bekanntlich war er töricht genug, sich öffentlich über die im »Hamburgischen Correspondenten« erschienene Rezension seiner Übersetzung der »Maximen« der Marquise de Sablé zu beschweren. Durch dieses Protestschreiben fühlte sich Liscow abermals auf den Plan gerufen. Es ist zu vermuten, daß ihm der Anlaß zur Wiederaufnahme der Fehde nicht unwillkommen war. Liscow hätte die jüngste Manifestation von Philippis anmaßender Torheit zweifellos auch ignorieren können, ohne daß dadurch seinem Ruhm als Satiriker Ab59 In diesem Abschnitt bestätigt sidi Th. Haeckers Feststellung, daß die Satire keine Replik zuläßt (Satire und Polemik, Innsbruck 1922, S. 147 f.).

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brach getan worden wäre. Indessen scheint Liscow im Verlauf der Auseinandersetzung eine gewisse Neigung zu jenem Mann gefaßt zu haben, dessen alberne Aufführung ihm so viel satirische Lust verschafft hatte. Es besteht jedenfalls kein Zweifel, daß er inzwischen an den »wizigen Wollüsten« 5 7 des Satirisierens Gefallen gefunden hatte und daß ihm deshalb der plötzliche Abbruch seiner Beziehungen zu dem satirisch so ergiebigen Philippi schmerzlich gewesen wäre. Offenbar ist die Spottlust ein ebenso elementarer Trieb wie der Drang, sich preisend und rühmend auszusingen. Und es hat den Anschein, als ginge es über die Kraft des mit der Gabe des Spottens, Hohnens und Lästerns ausgezeichneten oder wenn man will: gezeichneten Satirikers, diesen Trieb zu unterdrücken. A. G. Kästner scheint die satirische Askese geradezu f ü r lebensgefährlich gehalten zu haben: •»Zemitz starb vor Keuschheit, (Seltner Tod der Dichter!) Pitschel an der Schwindsucht, Schlegel vom Studiren, Geliert, wird er sterben, Stirbt am Hypochonder; Doch was mich wird tödten, Ist verhaltnes Böse Giftiger Satiren.« 68 Bei Immermann finden wir eine Äußerung, die in unserem Zusammenhang ebenfalls bemerkenswert ist. Von Münchhausen, dem Helden seines gleichnamigen Romans, wird gesagt, daß sein H o h n nicht aus einer »tugendhaft-erzürnten Seele« quoll, sondern aus einem Sinn, dem »eigentlich das Verkehrte lieb, notwendig, Bedürfnis und Stoff des D a seins war« 5β. Sicher ist, daß auch Liscow in den Jahren 1732-1739 eine ausgesprochene Vorliebe f ü r das »Verkehrte« besessen hat. Aber dürfen wir ihn deshalb zur Verwandtschaft des Lügenbarons zählen? Wir sehen: die Frage nach der ethischen Legitimation des Satirikers drängt sich erneut in den Vordergrund. Bei näherer Überlegung zeigt sich jedoch rasch, daß das Verhältnis des Satirikers zum »Verkehrten« derart kompliziert ist, daß es zweckmäßig erscheint, die ausführliche Erörterung dieses Problems noch einmal zurückzustellen. Es wird jedoch nötig sein, auch diesen Aspekt bei der Untersuchung der noch nicht behandelten Satiren contra Philippi nicht außer acht zu lassen. 57 Jean Paul an Pfarrer Vogel; Sämtl. Werke. Hist.-krit. Ausgabe, III. Abt., 1. Bd., S. 115. 58 A. G. Kästner, Gesammelte poetische und prosaische schönwissenschaftliche Werke, Berlin 1841, II. Teil, S. 15. 5B Werke, ed. H . Maync (Bibliograph. Inst.) Leipzig und Wien o. J. I, 204.

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Weder der »Glaubwürdige Bericht eines berühmten Medici« noch die »Bescheidene Beantwortung« der Einwürfe wider die Nachricht von Philippis Tod können als Verlautbarungen einer »tugendhaft-erzürnten Seele« gelten. Liscow hat auch gar nicht versucht, sie dafür auszugeben. In der Vorrede der »Sammlung« bemerkt er vielmehr ausdrücklich, daß er nunmehr entschlossen gewesen sei, Philippi »den Rest« zu geben (40). Freilich war es nicht seine Art, seinem Gegner ohne Umschweife den Garaus zu machen. Dergleichen hätte vor allem seine Lust an der Ausübung des satirischen Scharfrichteramtes erheblich gemindert. Liscow bleibt weiter inkognito und nützt seine Anonymität für die Fortsetzung des Katz-und-Maus-Spiels mit dem bereits zu Boden geworfenen kleinen Geist. Das Opfer wird noch einmal aufgerichtet, um dann den endgültigen Todesstoß zu empfangen. Die kaltblütig-überlegene Inszenierung dieser Exekution hat Liscow bei seinen Kritikern den Ruf eines grausamen Zynikers eingetragen. Die moralische Ächtung dieser Prozedur scheint auf den ersten Blick auch völlig gerechtfertigt. Und doch wird sich zeigen, daß dieses Urteil nicht nur voreilig, sondern dem Gegenstand unangemessen und daher falsch ist. In der richtigen Erkenntnis, daß es unzweckmäßig gewesen wäre, die Fiktion vom Orden der kleinen Geister zu sehr zu strapazieren, entschließt Liscow sich zu einem Schauplatz- und Rollenwechsel. Er präsentiert sich jetzt in einer neuen Doppelrolle: als Arzt und als Herausgeber jenes fingierten ärztlichen Bulletins, das über die letzten Stunden vor Philippis angeblichem Ende Auskunft gibt. Unter der Maske des Medicus verschafft sich Liscow Zugang zu Philippis Sterbezimmer. Hier wird er Zeuge, wie der in einer Schlägerei lebensgefährlich verletzte Professor 60 seine »Schmiersucht« (446) bitterlich beklagt und seine »abgeschmackten Schriften« (447) verflucht. Im Angesicht des nahenden Todes nimmt ihm Philippi das Versprechen ab, der Welt von seiner Bekehrung Zeugnis zu geben und auch denen seinen Dank abzustatten, die ihn wegen seiner Torheit »freundlich bestrafet« (450). Diese »vernünftigen Reden« erscheinen dem Arzt als ein »sehr gefährliches Symptoma« (450). Denn »da es dem Herrn Prof. Philippi bey gesunden Tagen niemahlen begegnet, daß er zehen kluge Worte hinter einander geredet: Da Er sonst immer von allen Sachen gantz anders als kluge Leute zu dencken gewohnt, und daher der einzige gewesen, der, allen vernünftigen Menschen zum Trotz, sich vor einen grossen Mann, und seine Schriften vor unverbesserlich gehalten: So kan idi 60 Liscow hatte erfahren, daß Philippi in Halle in eine Schlägerei mit preußischen Offizieren verwickelt worden war.

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daraus, daß Er gantz vernünftig geredet, und von sich selbst, und seinen Schriften eben so geurtheilet, als bißher die gantze kluge, und vernünftige Welt gethan hat, nichts anders schliessen, als daß durch den Schlag über dem Kopf sein Gehirn gantz umgekehret, und just in die Ordnung gesetzet worden, in welcher es sich bey Leuten von gesundem Verstände befindet« (450). Angesichts einer so »entsetzlichen Verrückung und Erschütterung« (450) seines Gehirns bestand nach Meinung des Arztes keine Hoffnung mehr, daß sein Patient den Schlag würde überleben können. Die Vorrede des »Glaubwürdigen Berichts« bestätigt diese Vermutung. Philippi, so wird dem »geneigten Leser« mitgeteilt, sei am 21. Juni 1734, abends um 6 Uhr 53 Minuten verschieden, nachdem er kurz zuvor noch alle seine ungedruckten Schriften hatte verbrennen lassen (441). Der Herausgeber von Philippis »Schwanen-Gesang« (438) zeigt sich von der Bußfertigkeit dieses Sünders, der zu Lebzeiten der »liebreichen Bemühung seiner Bekehrer« (439) hartnäckig widerstanden hatte, aufs tiefste beeindruckt. Mit gespieltem Bedauern dagegen konstatiert der Herausgeber Liscow die Ohnmacht des Satirikers Liscow, der sich durdi eine merkwürdige Fügung des Himmels davon hätte überzeugen lassen müssen, daß ein »stumpfer Prügel« offensichtlich ein besseres Bekehrungsinstrument sei als »viele spitzige Federn«: ein »eintziger Schlag« habe vermocht, ein Gewissen zu erwecken, dessen »Schlummer auch durch den Donner der schärfsten Satyren« (440) nicht hatte gestört werden können. Jedoch sei der Medicus zu loben, daß er die letzten Worte dieses vom Schicksal so hart gezüchtigten Mannes sorgfältig aufgezeichnet habe. Von der Veröffentlichung seines Berichts verspricht sich der Herausgeber beträchtlichen Nutzen: Den Klugen würde dadurch Gelegenheit gegeben, sich »über die unvermuthete Busse eines Sünders zu freuen, von dem sie geglaubet, daß er schon in dem Stande der Verhärtung stünde« ; und die albernen Schreiber würden genötigt, »in sich zu gehen, und sich an dem Exempel ihres Goliaths zu spiegeln« (438 f.). Das Arrangement des »Glaubwürdigen Berichts« zeigt Liscow auf der Höhe seiner satirischen Meisterschaft. Es ist verständlich, wenn die vom Mitleid für Liscows Opfer erfüllten Kritiker gerade diese Satire scharf verurteilt haben. Diese an sich höchst achtenswerte Gesinnung liefert indessen, das ist noch einmal zu betonen, für die sachgemäße Beurteilung des »Berichts« keinen geeigneten Maßstab. Auch die schärfsten Moralkritiker werden zugeben müssen, daß Philippi hier nur empfing, was seine kümmerlichen Schriften und seine Arroganz verdient 57

hatten β1 . Hätte Liscow seine Quittung in Form grober Invektiven ausgestellt, so wäre die moralische Entrüstung darüber durchaus gerechtfertigt. Allein so liegen die Dinge ja nicht. Es handelt sich hier nicht um die Schmähung und Verunglimpfung eines Gegners aus egoistischen Motiven. Eine wirkliche Rivalität hat zwischen Liscow und Philippi nie bestanden. Zwar hat Liscow, wie wir gesehen haben, einige Energie darauf verwandt, sein Opfer zum Verstummen zu bringen; jedoch nicht, weil er sich persönlich angegriffen, zurückgesetzt oder beleidigt gefühlt hatte, sondern weil er in Philippis Machwerken eine dreiste Herausforderung der Vernunft und des guten Geschmacks zu erkennen glaubte. Und wenn man ihm vorwirft, daß er zu scharf darauf reagiert habe, so wird dieser Mangel an Großmut durch Philippis Halsstarrigkeit und Maßlosigkeit zumindest aufgewogen. Die Frage ist, ob es angebracht gewesen wäre, Philippis hemmungsloser Produktionswut ungehindert freien Lauf zu lassen. Indessen bleibt diese Aufrechnung von Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld nur an der Oberfläche des hier in Frage stehenden Problems. Seinen Kern berühren wir erst dann, wenn wir uns vor Augen halten, daß Liscow an der Ausübung des satirischen Strafamtes gar nicht ernstlich interessiert war. Überlegt man, wieviel Scharfsinn, Erfindungskunst und Verrätselungsgeschick Liscow in seinen Satiren in61

Eine Stilprobe aus den »Sechs deutschen Reden« mag das belegen: »Und wahrlich, da ein jeder treu-gesinnete Sächsische Unterthan sein Hertz gleichsam auf den Weg leget, den Ihro Majestät zu nehmen allerhöchst gesonnen, damit Selbe, als führen sie auf lauter Hertzen ihrer getreuen Unterthanen dahin, und als würden Sie von selbigen unterwegs getragen, in höchsterwünschtem Wohl zurückkehren, und so oft Sie, unter währender Reise, Ruhestatt halten, auf eben solchen getreuen Hertzen ihrer Unterthanen, als einem gar sanften Küssen, Sidi zu lagern, geruhen mögen: So läßt die schnelle Durchfahrth Ihro Majestät in allen unsern Hertzen weit kenntbarlichere Fußstapfen von Ihro allerhöchst gewürdigten Durchreise durch hiesige Lande, als der gröste Steuer-Mann, auf der See zu erhalten, nicht vermag, wenn er gleich, auf Sdiifen vom ersten Rang, die Wasser mit dem Ruder durchschnitten, und einige bald verschwindende Spuhren seiner Durchfarth hinterlassen« (»Sammlung«, S. 183 f.). Von den Künsten des Briefschreibers Philippi vermittelt der folgende Auszug eine deutliche Vorstellung: »Ew. Hoch wohlgeboren Gnaden wird verhoff en tlidi mein vor einigen Tagen mit der Post abgelassenes, welches nicht weiter als Frankfurth habe nach dem hiesigen Post-Reglement franciren können, zu Händen gekommen zu seyn, das Glück erhalten haben. Außerdem aber, daß Zeit und räum damahls nicht gestattete, mich vollkommen zu rechtfertigen; so glaube hienechst, daß es durch ein besonderes Gnaden Geschick der Göttl. Vorsehung geschehen, Dero Theuerste Person mit Nahmen haben kennen zu lernen. Ich bezeige also nochmals, daß ich mir nicht habe in die Gedanken steigen laßen, zu vermuthen, daß von so fernen Orten ein so vornehmer Reichs-Ritter, gegen welchen nodi mit nidits mich biß dato dessen Gnade würdig machen können, mir einen Briefiwechsel antragen würde« (Heibig, a.a.O., S. 22).

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vestiert hat, dann wird deutlich, daß die hier aufgewandten Gestaltungsmittel in keinem rechten Verhältnis zur Bedeutung des »Gegenstandes« stehen. So wählerisch wäre er als Pasquillant gewiß nicht zu Werk gegangen. Der Satiriker hingegen genießt die komplizierte Art der Darbietung, ohne sich darum zu bekümmern, ob sie den moralpädagogischen oder sonstwie gearteten Nutzeffekt seiner Schriften beeinträchtigen könnte. Zwar gefällt er sich bis zuletzt im Habitus eines Rächers der beleidigten Vernunft. Allein diese Haltung ist nur noch Kostüm. Und über der an diese Kostümierung verwandten Sorgfalt werden Anlaß, Stoff und Tendenz seiner Satiren in zunehmendem Maße belanglos. Bereits im zweiten Teil der »Unparteiischen Untersuchung« hatte Liscow in ironischer Form zu verstehen gegeben, daß er Philippi nur ungern verlieren würde 82 . Und in der Tat hat er ja auch erst dann von seinem Opfer gelassen, als er erkennen mußte, daß Philippi als satirische Inspirationsquelle nicht mehr zu gebrauchen war. Aus dem ernsthaften Kampf wurde bald ein mit scheinbarem Ernst geführtes Kampf-Spiel. Und im Dienst dieses Spiels stehen Liscows Sprache, seine Einfalle, die parodistische Zitierkunst, der Aufbau und selbst der Orna tus seiner Satiren; zu den spielerischen Veranstaltungen gehören ferner das barocke Überschriften- und Vorreden-Zeremoniell, die sarkastischen Motti, der gelehrte Fußnoten-Apparat und die zahlreichen ironischen Entlehnungen von klassischen Autoren, die - Philippis Aussprüche und Ansichten scheinbar bestätigend - dazu dienen, die Torheit seiner Aufführung bloßzustellen. Es ginge freilich zu weit, auch seine Entrüstung über Philippis Provokation der gesunden Vernunft und des guten Geschmacks, sein Bekehrer- und Rächerpathos nur als rein komödiantische Veranstaltung des um die Konstruktion eines moralischen Alibis besorgten Satirikers zu deuten. Die Satire braucht den wenigstens fingierten Bezug zur empirischen Realität; das gehört zu den Wesensmerkmalen dieser Gattung. Und der Satiriker Liscow hätte, überspitzt ausgedrückt, Philippi erfinden müssen, wenn es den historischen Philippi nicht gegeben hätte. Doch dürfte inzwischen deutlich geworden sein, daß Liscow selbst Anlaß und Tendenz in sein satirisches Spiel mit einbezieht und daß er dabei — wie wir noch zeigen werden - auch die Selbstpersiflage nicht scheut. Darin vor allem sehen wir den entscheidenden Unterschied, der zwischen seinem Werk und den meisten Satiren des 16. und 17. Jahrhunderts besteht. Der religiöse, moralische oder didaktische Ernst jener Satiren ist eindeutig. Liscow hin-

** Vgl. »Sammlung«, S. 288 u. 462; s. a. Anm. 52.

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gegen fingiert den Ernst und führt genaugenommen ein Spiel auf, das seine eigentlichen Impulse von der Spottlust seines satirischen Naturells empfängt und dessen Endzweck nicht das Obsiegen ist, sondern die Freude an der künstlerischen Selbstinszenierung, deren (freilich ironisch kaschiertes) Ziel die Selbstbestätigung ist. »Ich habe ihn (Philippi) ungern verlohren« (462), lautet einer der wenigen Sätze in Liscows Satiren, der wörtlich zu nehmen ist. Es ist nötig, diese Auffassung an der »Bescheidenen Beantwortung« und dem »Glaubwürdigen Bericht« noch etwas ausführlicher darzulegen. Was von der »Glaubwürdigkeit« dieses Berichts zu halten ist, wissen wir. Sie ist von derselben Art wie die »Höflichkeit«, die der Älteste der Gesellschaft der kleinen Geister in seiner Antwort auf Philippis Stand- und Antrittsrede bezeigt, sie entspricht der »Unparteilichkeit« der »Unparteiischen Untersuchung« und der »Bescheidenheit«, mit der die Einwürfe gegen die Nachricht von Philippis Tod widerlegt werden. Es wäre töricht, die ironische Verwendung dieser Begriffe moralisch zu verdächtigen. Denn daß es sich hier um keine heuchlerische oder verlogene Verstellung63 handelt, ist offenkundig. Nicht von »Verstellung« sollte also die Rede sein, sondern von einer »Verkehrung«. Erst der Aufbau einer »verkehrten Welt« (Gesellschaft der kleinen Geister, Gemeinschaft der elenden Scribenten) ermöglicht Liscow das souveräne Spiel mit dem Stoff, den Figuren und mit der Tendenz seiner Satiren. Diese Verkehrung bewirkt, daß das Große als klein, das Kleine als groß, das Vernünftige als töricht und das Törichte als vernünftig erscheint'4. In scheinbarer Übereinstimmung mit seinem zum Partner, Freund, Bruder usw. erklärten Gegner kann er jetzt sein Opfer väterlich loben oder ermahnen. Er braucht nicht mehr ausdrücklich als Sitten- und Kunstrichter aufzutreten. Alles Direkte und Grobe wird verpönt; die Schmähung, die Scheltrede, die Drohung oder die aufdringliche Belehrung. Damit wird freilich auch die Eindeutigkeit preisgegeben. Liscow hat sie indessen leichten Herzens verabschiedet. Die Freude am Spiel mit dem Inkognito, an dem schillernden, verwirrenden Zauber von Pose, Maske und Kostüm war bei ihm offenbar so elementar, daß er mit einer gewissen Wahllosigkeit jeden Anlaß ausgebeutet hat, der ihm eine wirkungsvolle Rolle zu versprechen schien. Diese Lust an der Verkehrung und an der ironischen Verpuppung manifestiert sich auch in dem »Glaubwürdigen Bericht«. 6 3 Vgl. B. Allemann, Art. Ironie in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, I. Bd., Berlin 2 1958, S. 7 5 6 - 7 6 1 . 64 Vgl. u. a. »Sammlung«, S. 475 f.

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Auch diese Satire erscheint anonym und an einem fingierten Druckort. Auf die Verschleierung seiner Verfasserschaft hat Liscow wiederum besondere Sorgfalt verwendet: so läßt er sich ζ. B. von dem Herausgeber des »Berichts« die Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen um Philippi vor Augen halten. Liscow verspottethier also Liscow. Und der Satiriker Liscow erweckt den Anschein, als habe er resigniert. Er verzichtet dem Schein nach auf eine Fortsetzung der Fehde und wird (in der Rolle des Medicus) zum Chronisten der Ereignisse in Philippis letzten Stunden. An die Stelle der parodistischen Widerlegung von Philippis Machwerken tritt jetzt ein mit dem Anspruch auf unbedingte Glaubwürdigkeit auftretender Bericht; ein Bericht freilich, der mit erfundenen Fakten operiert. In Wahrheit ist die scheinbare Kapitulation also ein klug kalkulierter Schachzug, der es Liscow gestattet, sich in einer neuen Manier zu präsentieren und seine Kräfte an neuen Einfallen zu erproben. Als Medicus konstatiert Liscow, daß Philippi durch einen Schlag auf den Kopf wieder in den Besitz seiner Vernunft gelangt sei. Das sei, wie der Herausgeber sachverständig bemerkt, durchaus kein ungewöhnliches Heilverfahren; es gebe Ärzte, »welche die verdorbene Einbildungs-Kraft der Wahnsinnigen durch nichts als Schläge curiren« (440). Doch habe diese »heilsame Züchtigung« (441) nur eine geistige Wiedergeburt zu bewirken vermocht, der natürliche Philippi (der »alte Mensch« im paulinischen Sinne, auf den der Freigeist Liscow hier anspielt) 65 werde an der durch den Hieb ausgelösten »Verrückung« des Gehirns zugrunde gehen. Mit der Feststellung, daß Philippi nur durch ein Wunder vor dem sicheren Tode bewahrt werden könne, spielt der Medicus Liscow dem Herausgeber Liscow die makabre Pointe dieser Satire zu. Jetzt kann der Satiriker seinen höchsten Trumpf ausspielen. Mit der fingierten Todeserklärung und dem boshaften Nekrolog auf jenen Mann, »der wenige seines gleichen gehabt hat« (438), hätte das Spiel eigentlich sein Ende finden müssen. Indessen wollte Philippi, wie Liscow sarkastisch bemerkt, durchaus nicht tot sein (Vorr. 42). Er veröffentlichte eine neue Gegenschrift66, in welcher der Verfasser des »Glaubwürdigen Berichts« als Pasquillant bezeichnet und der Welt mitgeteilt wird, daß er noch 8 5 S. a. Liscows ironischen Kommentar zum Verbot der von Philippi herausgegebenen Zeitschrift »Der Freydendcer« : »Ich bekenne, die Diät, welche man ihm durch dieses Verbot vorschrieb, war seinem innern Menschen sehr heilsam; aber der äussere muste nothwendig dabey zu kurtz kommen . . . « (Vorrede zur »Sammlung«, S. 47). Vgl. Johannes Müller, Liscow und die Bibel, Königsberg 1896. ββ »Der geheimen patriotischen Assemblée anderweitiges Bedencken an den Herrn Prof. Philippi.«

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lebe. Liscow, durch den »unbedachtsamen Widerspruch« gereizt, beweist daraufhin in der »Bescheidenen Beantwortung der Einwürffe, welche einige Freunde des Herrn D. Joh. Ernst Philippi, weiland wohlverdienten Professors der deutschen Wohlredenheit zu Halle, wieder die Nachricht von dessen Tode gemacht haben« (451), daß der »Hr. Prof. Philippi dennoch gestorben sey« (Vorr. 45). Mit gespielter Entrüstung weist er den Vorwurf des Pasquillantentums zurück. Wenn er fälschlich gemeldet hätte, daß Philippi seinen Vater ermordet und seine Mutter genotzüchtigt habe, würde er die maßlosen Ausfälle seiner Widersacher verstanden haben. Da sein »gantzes Verbrechen« jedoch nur in der Mitteilung bestanden habe, daß Philippi »auf seinem Bette, sanft und selig, mit den erbaulichsten Gedanken eingeschlafen« sei, habe niemand das Recht, ihn einen »infamen Scribenten« und den »Glaubwürdigen Bericht« eine »infame Charteque« (455) zu nennen. »Sterben ist kein Schelmstück, sondern eine der natürlichsten Pflichten eines Menschen« (456). Infolgedessen sei es kein »Zeichen eines feindseligen Gemüths, wenn man von einem Menschen saget, daß er gestorben sey« (460). Die Nachricht von Philippis Tod habe den »guten Leumund« (457) des Professors keineswegs geschmälert. Es sei vielmehr offenkundig, daß Philippis Freunde die Glaubwürdigkeit seines Berichts nicht aus »Liebe zur Wahrheit« (459) angefochten hätten, sondern daß ein »blosser Frevel und die boßhafte Absicht, ihrem Nächsten wehe zu thun, sie angetrieben hat, eine Sache zu bestreiten, von deren Wahrheit sie selbst so gut überführet sind, als jemand in der Welt« (459). Mit dem Pathos eines in seiner Ehre tief verletzten Mannes setzt sich Liscow - wiederum in der Rolle des Herausgebers - sodann mit den »schändlichen Sophistereyen« (458) seiner Widersacher auseinander. Die angeblichen Sophistereien werden durch eine hyperbolische Rabulistik übertrumpft, wobei sich Liscow durch Sprache und Tonfall und die prononcierte »Logik« seiner Argumentation den Anschein gibt, als würde er ernsthaft auf die Proteste Philippis und der »Patriotischen Assemblée« eingehen. Umständlich wird dargelegt, warum der »Glaubwürdige Bericht« nicht »erdichtet« sein kann. Er wisse genau, erklärt Liscow, daß es ihm übel ergangen wäre, wenn er die »Frechheit« (467) gehabt hätte, noch zu Philippis Lebzeiten die Nachricht von dessen Tode zu verbreiten. Zweifellos hätte Philippi diese »falsche Zeitung« sofort nachdrücklich widerlegt. Denn »wer den seel. Mann gekannt hat, der weiß, daß er sehr empfindlich und hitzig war, und von der, mehr als menschlichen, Gedult seiner beyden 62

Brüder, Montmaur und Sievers, nicht das geringste an sich hatte. Er schenckte seinen Feinden nichts, und so bald kam nicht eine Sdirift gegen ihn heraus, so war er mit der Antwort fertig. Ist es also glaublich, daß er, wenn er nodi lebte, meine Nachricht von seinem Tode unbeantwortet gelassen haben würde?« (467) Daß Philippi das nicht getan habe, verbürge die unbedingte Wahrheit des »Berichts«. Damit sei aber auch der angeblich nach Philippis Tod geschriebene und von der »Patriotischen Assemblée« veröffentlichte Brief als plumpe Fälsdiung entlarvt. Philippi sei darin - was billigerweise zu erwarten gewesen wäre - mit keinem Wort auf die Todesnachricht eingegangen, sondern habe von der »Assemblée« lediglich eine Stellungnahme zu dem »Glaubwürdigen Bericht« erbeten, woraus, wie Liscow feststellt, zu ersehen sei, daß der »Herr Prof. Philippi selbst nicht weiß, ob er lebet, oder todt ist« (469). Diese Ungewißheit beweise eindeutig, daß Philippi wirklich gestorben sei. »Denn, wer von sich selbst nichts weiß, und nicht mehr fühlet, daß er lebet, der ist gantz gewiß todt« (469 f.). Bedauerlich sei nur, daß Philippi sich mit seiner Bitte nicht an ihn, den Herausgeber des Berichts, gewandt habe: »Ich hätte ihm aus dem Traum helfen können: Denn idi habe ihn sterben, und seinen erblaßten Cörper in die Gruft sendcen sehen, welches Dinge sind, die er unmöglich wissen kan. Diejenigen hergegen, zu welchen er sich gewendet hat, wissen von nichts, und können auch, natürlicher Weise, von seinem Leben nicht mehr wissen, als er selbst: Und dennoch schämen sich diese Leute nicht zu behaupten, der Herr Prof. Philippi lebe, ob gleich dieser ehrliche Mann aufrichtig bekennet, daß er selbst nidits davon weiß. Ist es nicht eine entsetzliche Frediheit?« (470) Der Leser wird nodi einmal gewarnt, der Nachricht, daß Philippi noch lebe, Glauben zu schenken. Nach der abschließend geäußerten »unvorgreiflidien Meinung« des Herausgebers müsse vermutet werden, daß das unter der Gestalt und dem Namen des Herrn Prof. Philippi angeblich zu Göttingen umgehende »Gespenst« eine Kreatur des Teufels sei, die sicher bald »verschwinden und einen Gestanck hinter sich lassen« werde (472). In der Vorrede zur Sammlung seiner Schriften berichtet Liscow, daß Philippi kurz nach Veröffentlichung der »Bescheidenen Beantwortung« in einen Zustand geraten sei, daß »man seiner, ohne Sünde, ferner nicht spotten konnte« (47). Philippi war in einem Hallenser Wirtshaus mit zwei Offizieren handgemein geworden. Die Merseburgische Regierung hatte ihn daraufhin zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. U m der Inhaftierung zu entgehen, mußte Philippi seine Professur aufgeben und Halle verlassen. Er begab sich nadi Göttingen. Allein, fährt Liscow fort, 63

»ausser, daß die merseburgische Regierung ihn nodi immer verfolgte, und auf seine Auslieferung drang, so wollte es audi sonst daselbst mit ihm nicht fort. Er fieng an zu lesen, und seinen >Freydencker< herauszugeben. Man wollte es aber nicht leiden, und es ward ihm so wohl das lesen, als das Bücher schreiben gäntzlich verboten. Idi bekenne, die Diät, welche man ihm durch, dieses Verbot vorschrieb, war seinem innern Menschen sehr heilsam; aber der äussere muste nothwendig dabey zu kurtz kommen, und das, deucht mich, war zu hart. Allein nicht lange darauf gieng es ihm noch ärger. Er bekam das Consilium abeundi, und ward, wie man mir berichtet hat, bey hellem Tage zum Thor hinaus gebracht. Ob nun gleich dadurch erfüllet ward, was ich von seiner plötzlichen Verschwindung in meiner letzten Schrift geweissaget hatte; so habe ich ihn dennoch von Hertzen bedauret, und hätte lieber ein falscher Prophet seyn, als ihn dergestalt beschimpfet sehen mögen« (Vorr. 47 f.).

Liscow vermutet, daß Philippi sein Unglück vor allem seinem »Freydencker« zu danken hatte. »Denn in dieser elenden Wochen-Schrift soll er keines Menschen verschonet haben« (Vorr. 48). Aus diesen von der Forschung übrigens bestätigten Mitteilungen 87 geht hervor, daß Philippi selbst der Urheber und Beförderer seines Elends war. Was Liscow dazu beitragen konnte, war unerheblich. Die Kümmerlichkeit dieses »Zwerges« war so offenkundig, daß es einer satirischen Hinrichtung gar nicht bedurft hätte (was Liscow übrigens deutlich gesehen hat; vgl. Vorr. 6). Zwar hätte z. B. Philippis geist- und witzloses »Cicero«-Pamphlet selbst die schärfste Zurückweisung verdient. Indessen ließe sich auch mit guten Gründen die Meinung vertreten, daß sich das Schlechte selbst richte und keiner ausdrücklichen Widerlegung bedürftig sei. So gesehen, hat der Satiriker seinen Witz, seinen Scharfsinn und seine Erfindungsgabe an etwas verschwendet, was im Grunde überflüssig war. Das Überflüssige zu tun aber gilt vor dem Urteil der Vernunft als zwecklos und unnütz. Für die Ästhetik dagegen ist es von höchstem Interesse. Denn das Zwecklose ist nicht identisch mit dem Sinnlosen 68 . »Unnütz zu seyn«, sagt Schopenhauer, »gehört zum Charakter der Werke des Genies: es ist ihr Adelsbrief.« 69 Das gilt auch für die Satire. Und deshalb haben wir unsere Aufmerksamkeit auf die Organisation des Überflüssigen konzentriert. Vgl. Litzmann, a.a.O., S. 90 ff. Vgl. R. Guardini, Vom Geist der Liturgie, Herder-Bücherei Bd. 2, Freiburg i. Br. 1957, S. 92. 69 A. Schopenhauer's sämmtlidie Werke, hg. von Julius Frauenstädt, 3. Bd. (Die Welt als Wille und Vorstellung, 2.,Tl.), Leipzig 1919, S. 444; ähnlich Fr. Schlegel: »Der spezifische Charakter der schönen Kunst ist freyes Spiel ohne bestimmten Zweck«, Uber das Studium der griechischen Poesie; in: Prosaische Jugendschriften, ed. J. Minor, Wien 1906, I, S. 103. 48

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e) Die zwecklose

Satire

Das Uberflüssige, so dürfen wir jetzt zusammenfassen, manifestiert sich in spielerischer Weise. Und als Spiel-Werke (die auf eine moralische Rechtfertigung nicht angewiesen sind) müssen Liscows Satiren verstanden werden. Diese Spiel-Werke sind kunstvoll arrangierte Darstellungen eines witzigen Kopfes, in denen sich seine selbstkritisch überwachte Leidenschaft für das ironische Räsonnement, die Scharmützel der Dialektik und für die effektvolle Montage von Pointen und Aperçus entfaltet. Herz, Gefühl, Empfindung, Naivität - das alles darf man bei Liscow nicht suchen. Merkwürdig ist, daß dieser skeptische Geist eine deutliche Neigung zum Komödiantischen zeigt. Wir hatten mehrfach Gelegenheit, auf Liscows Spiel mit dem Inkognito hinzuweisen, in dem sich die Lust an der Maskerade oder Verlarvung, an der »Verstellung« und an der Zweideutigkeit ausprägt. Das alles gemahnt bereits an die Buffonerien der Romantiker, wie sie etwa bei Brentano, F. Schlegel, Tieck und E. T. A. Hoffmann zu beobachten sind. Man hat es Liscow verübelt, daß er seine Anonymität nie preisgegeben hat und ihn deshalb der Feigheit geziehen. Seine Kritiker übersehen jedoch, daß Liscows Verfasserschaft sehr bald offenkundig wurde: bereits seine Satiren gegen Philippi waren eine bestellte Arbeit, die er auf Wunsch von Freunden lieferte, die sein satirisches Talent an den »Vitrea fracta« 7 0 und dem »Sich selbst entdeckenden X Y Z « (1733) schätzen gelernt hatten. Wenige Jahre später war sein Ruhm als Satiriker sogar über die Grenzen Deutschlands gedrungen, sodaß Bodmer ihn 1740 als Verteidiger des allgemeinen Rechts auf Kritik feiern konnte. Was man in Verkennung des historischen Sachverhalts und der satirischen Texte als Feigheit bezeichnen zu können glaubte, stellt sich in Wahrheit dar als Lust an der Mystifikation. Gegenüber den Irrtümern und MißVerständnissen der moralistischen Kritik ist nodi einmal zu betonen, daß es Liscow in erster Linie auf eine möglichst effektvolle Inszenierung seiner Fehden ankam, wobei er sich seinem Publikum (das er bei allem, was er unternahm, nie aus den Augen verlor) in jeweils neuen Rollen vorstellte. 7 0 Diese S a t i r e erschien 1732 und w u r d e bezeichnenderweise als eine Ubersetzung aus dem Englischen ausgegeben. Sie gehört z u L i s c o w s besten Arbeiten und d ü r f t e dem künstlerischen R a n g e nach über der zweifellos überschätzten ironischen Rettung der » E l e n d e n Scribenten« stehen, die durch den allzu breit und sorglos ausgespielten G r u n d e i n f a l l ( » M e i n e Absicht ist, die Ehre der so genannten elenden Scribenten wider ihre Lästerer z u retten, und gründlich zu erweisen, d a ß diese A r t der Schreiber die vortreflichste und unentbehrlich s e y « ; » S a m m l u n g « , S. 474) um ihre Wirkung gebracht wird.

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Die alles verkehrende Kraft der Invention grenzt zunächst den SpielRaum ab. In diesem Raum entfaltet sich der Übermut von Liscows satirischer Laune; und zwar als Spiel mit dem Stoff (der Vorlage) und mit den Figuren seiner Satiren, als Spiel mit dem Leser und schließlich als selbstironisches Spiel mit der eigenen Person. Hier ist noch nachzutragen, daß sich die Selbstironie nicht nur im »Glaubwürdigen Bericht« und der »Bescheidenen Beantwortung« zeigt, sondern sogar in der »Unparteiischen Untersuchung«, in der Liscow scheinbar ganz ernsthaft seine eigene Sache verficht. (Auch hier machen sich Anzeichen jener Selbst-»Annihilation« bemerkbar, wie sie später von den Romantikern gefordert und geübt wurde). Liscow, der in der »Untersuchung« als Verteidiger der Kritik und der Satire auftritt, wählt die Rolle eines unparteiischen Dritten, um sich den Anschein unbestechlicher, vorurteilsloser Objektivität geben zu können. »Ich kenne diesen ungenannten Scribenten (d. i. Liscow als Autor des »Briontes«) so wenig als den Hn. Prof. Philippi« (211), erklärt er. Diese Behauptung ist, moralisch gesehen, eine Lüge; unter ästhetischem Aspekt jedoch eine durchaus zu rechtfertigende Lizenz, die Liscow die rollengemäße Durchführung seiner im Habitus des Gelehrten vorgetragenen »Untersuchung« (die in Wahrheit eine Apologie auf den Autor des »Briontes« darstellt) ermöglicht. Die Nächstenliebe, fährt Liscow fort, habe ihn bewogen, sich für die »Rettung der Unschuld« (212) des »ungenannten Scribenten« einzusetzen. Nachdem er sich dieser Aufgabe entledigt hat, geht er auf die Vorwürfe ein, die nach seiner Ansicht zu Recht gegen den Verfasser des »Briontes« erhoben werden können. »Ich bin unpartheyisch«, heißt es da, »und lasse einem jeden Recht wiederfahren. Ich habe den Verfasser des Briontes vertheidiget, und muß also audi ein Wort vor den Hn. Prof. Philippi reden. Der Herr Verfasser des Briontes wird mir dieses nicht übel nehmen. Da er sich berechtigt hält, andern Leuten ihre Fehler auf die empfindlichste Art zu zeigen, so muß mir dieses in Ansehung seiner auch erlaubt seyn« (237). Indem ein angebliches MißVerständnis des »Briontes«-Autors scheinbar korrigiert wird, treibt der unparteiische »Schiedsrichter« die Ironie dieser Pseudokritik auf die Spitze. Der Passus schließt mit einem »Verweis« für Liscow 71 . »Leute seiner Art solten billig behutsamer seyn, und sich nicht durch eine gar zu grosse Begierde zu spotten verleiten lassen, Dinge vorzubringen, die den Stich nicht halten« (238). Liscow vermag, wie man sieht, audi über sich selbst zu spotten. Freilich wäre es ganz gegen seine Art gewesen, wenn er nicht auch die Selbstironie 71

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Vgl. S. 238: »Der Verfasser des Briontes bekömmt einen Verweiß.«

satirisch ausgemünzt hätte. Und so sei abschließend noch notiert, daß selbst der »Verweis« am Ende gegen Philippi ausgespielt wird; der Verfasser der »Untersuchung« äußert sein Befremden darüber, daß der Verfasser des »Briontes« seinen Spott nicht mehr gezügelt habe. »Ich wolte es ihm nicht verdencken«, schreibt er, »wenn ihn die Noth gezwungen hätte, auf so ungegründete Spöttereyen zu verfallen: Allein so konnte es ihm nimmer an Materie zu spotten gebrechen; weil er es mit einem Manne zu thun hatte, über welchen auch seine ärgsten Feinde nicht klagen können, daß er ihnen nicht genügsame Blosse gebe« (238 f.). Ernst hat Liscow also offenbar nur das Spiel genommen. Aber das heißt nicht, daß er nur um des Spielens willen gespielt hätte. Zum Wesen der Satire gehören Tendenz und Engagement. Es gibt keine Satire ohne eine wenigstens dem Scheine nach verfolgte Tendenz und jeder Satiriker hat zumindest die Fiktion einer Bindung an religiöse, moralische, politische oder ideologische Werte, Normen, Ideen, Interessen aufrechtzuerhalten. Die radikale Preisgabe jeglichen Realitätsbezuges ist in der Satire nicht möglich. Wir werden darauf später nodi zurückkommen. Hier müssen wir es einstweilen mit der Feststellung bewenden lassen, daß es die absolut zweckfreie, die im strengen Sinn autonome Satire nicht gibt. Die Frage, ob Liscow sich darüber klar gewesen ist, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Mit Sicherheit kann aber festgestellt werden, daß er in seinen satirischen Spiel-Werken ausnahmslos wenigstens den Anschein zu erwecken trachtet, als habe er sich ernsthaft mit der Realität eingelassen. Hinter diesem Spiel (mit dem Stoff, dem Zweck, dem Leser und mit der eigenen Person) steckt die vielfach verschlüsselte Absicht (über die sich Liscow eigentlich nur in der Vorrede zur »Sammlung« etwas deutlicher ausgesprochen hat), sich selbst in Szene zu setzen, sich in immer neuen Rollen »aufzuspielen«. Auf den ersten Blick scheint die Vermutung naheliegend, als empfinge diese Selbstinszenierung ihren Impuls von jener »sittlichen Schadenfreude«, die nach der von Th. Lipps vertretenen Auffassung in der satirischen Darstellung die »Freude an der Aufhebung eines auf der eigenen Persönlichkeit liegenden Druckes« erfährt und damit zu einer »Steigerung des sittlichen Selbstbewußtseins« führt 7 2 . Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, daß dieser Erklärungsversuch irreführend ist. Denn abgesehen davon, daß es höchst problematisch ist, die Schadenfreude sittlich akzeptabel zu machen73, gelangt 72

Vgl. Th. Lipps, Komik und Humor, Hamburg und Leipzig 1898, S. 256. Vgl. Goethe, der die Schadenfreude als die »Erb- und Schoossünde aller Adamskinder« bezeichnet (Der Sammler und die Seinigen; WA I, 47, S. 198). 73

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die Moral auf diese Weise durch eine Hintertür wieder in den Zuständigkeitsbereich der Ästhetik, wo ihr eine unzumutbare Entscheidung aufgebürdet wird. Wenn wir Liscows satirische Selbstinszenierung als Selbstbestätigung zu verstehen suchen, so liegt dieser Interpretation jede moralische Wertung fern. Nach unserer Auffassung zeigen die Satiren contra Philippi, Sievers, Rodigast usw., daß es Liscow nicht darauf ankam, sich seiner moralischen Überlegenheit in einem Streit mit offenkundig unebenbürtigen Gegnern, die gar keinen Druck auf ihn ausüben konnten, zu versichern. Dazu hätte es eines solchen Aufwands an subtiler Kunstfertigkeit nicht bedurft. Liscow genügte es vielmehr, seine darstellerischen Kräfte in spielerischer Weise zu erproben. Und wir haben zahlreiche Beweise dafür, daß es ihm keineswegs gelegen kam, wenn der Gegner gleich nach dem ersten Schlag die Waffen streckte74. Seine satirischen Händel sind also nicht als moralische, sondern als künstlerische und geistige Kraftprobe zu verstehen. Die Lust an der Provokation, nicht die Entrüstung über die Dummheit oder die Lasterhaftigkeit beflügeln Liscows satirische Laune. Daß Liscow nie im Ernst daran gedacht hat, die Toren zu belehren oder die Sünder zu bessern, ist gewiß. Ob er wirklich geglaubt hat, mit seinen Satiren eine abschreckende Wirkung erzielen zu können, ist zumindest sehr fraglich75. Im Grunde sind die meisten seiner Werke monologische76 Veranstaltungen eines satirischen Intellekts, dessen »Gegner« in Wahrheit nur Objekt, ja häufig bloßer Vorwand für eine Selbstinszenierung waren, in der Liscow das Vergnügen an der »geistlichen Kiltzelung« (201) des Satirisierens bis zur Neige ausgekostet hat. Diese satirischen Monologe lassen keine Replik zu. Das hat Philippi erfahren müssen. Als Partner erkennt Liscow nur den Leser an, der - sich mit ihm im Einverständnis befindend - seine ironische Zweideutigkeit zu entschlüsseln weiß. Mit diesem Leser verbündet, treibt er seinen Spott mit den Narren, Ignoranten und Pseudogelehrten. Dergleichen ist seit je und nicht nur von Liscows Kritikern als grausam empfunden worden. Dieser Einschätzung gegenüber ist jedoch zu betonen, daß die satirische Immoralität von der Amoralität des Pasquills, der plumpen Invektive, scharf zu unterscheiden ist. Die Grausamkeit des vom Satiriker praktizierten »spielenden Vertilgens« wird ästhetisch entsühnt durch die Weise, wie der Spott, Vgl. »Sammlung«, S. 288 und 462. »An einem solchen Menschen ist alle Hofnung yerlohren. E r bessert sich nicht, wenn man ihm gleich seine Fehler noch so deutlich und glimpflich vorstellen wolte; weil er sich einbildet, er sey vollkommen«; »Sammlung«, S. 271. 7 8 Dazu Th. Haecker, a.a.O., S. 147 f. 74

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der Hohn und selbst die Vernichtung in Szene gesetzt wird. Auch hier wird der Stoff von der Form »vertilgt« O. Maußer hat deshalb mit Recht betont, daß die Satire - zu deren Wesensmerkmalen auch eine »Anmut und Grazie des Spottes« gehört - allein mit ästhetischen Maßstäben angemessen beurteilt werden kann 7 8 . Die bisherige Liscow-Forschung war in erster Linie biographisch orientiert. Einige Beurteiler haben zwar auf die Qualitäten von Liscows Sprache hingewiesen 79 und die Ansicht vertreten, daß Liscow im Hinblick auf seine sprachliche Leistung mit Lessing 80 verglichen werden dürfe. Hier liegt aber zweifellos eine Überschätzung vor, die mit einer Unterschätzung der eigentlichen Verdienste dieses Satirikers verbunden ist. Gewiß: Liscows Sprache ist klar, korrekt, nüchtern und unpathetisch. Und wer - wie die meisten Literarhistoriker des 19. Jahrhunderts 81 - auf den üppigen Bilderreichtum zumal der spätbarocken Dichtung allergisch reagiert, der mag in dieser Klarheit und Korrektheit einen Fortschritt gegenüber dem »Schwulst« der Barockpoeten sehen. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß auch Liscow selbst seine Schreibweise als einen stilistischen Protest gegen den Pomp und das Pathos des Barock verstanden wissen wollte. Eine korrekte, bildarme, vielleicht sogar bildfeindliche, allein vom Begriff lebende Sprache steht jedoch immer in der Gefahr, monoton zu werden. Diese Monotonie hat Liscow nicht immer zu meistern gewußt, am wenigsten in seiner am meisten gerühmten Satire auf die »Vortreflichkeit und Nothwendigkeit der elenden Scribenten«. Die Klarheit seines Stils ist um einen hohen Preis erkauft: durch den Verzicht auf Bildlichkeit und Musikalität, d. h. aber auf wesentlich poetische Qualitäten. Zwar kann auch die Nüchternheit als literarische Tugend gerühmt werden, zumal bei einem Autor, der (wie Liscow) häufig in der Rolle eines Verteidigers der Gelehrten-Republik aufzutreten beliebt. Mit der Farbigkeit und der fechterischen Eleganz von Lessings Prosa vermag Liscows Sprache jedoch nicht zu wettSchiller, Ü b e r die ästhetische Erziehung des Menschen, 22. Brief. I m N a c h w o r t zu der v o n ihm herausgegebenen »Satirischen Bibliothek«, M ü n chen 1913, 1. B d . S. 110. ™ S o g a r F. W. Ebeling (a.a.O. I, S. 89 f.) ist in dieser Hinsicht zu gewissen K o n zessionen bereit. 8 0 In diesem Z u s a m m e n h a n g ist anzumerken, d a ß Lessing sich nie über L i s c o w geäußert hat. Welche G r ü n d e dieses Schweigen gehabt hat, ist schwer zu sagen. D a ß Lessing den Satiriker nicht gekannt haben sollte, ist angesichts seiner immensen Belesenbeit (auch auf dem Gebiet der zeitgenössischen L i t e r a t u r ) k a u m anzunehmen. 8 1 N a c h L i t z m a n n s L i s c o w - M o n o g r a p h i e ist keine selbständige Arbeit v o n Belang mehr über den mecklenburgischen Satiriker erschienen. Eine E r w ä h n u n g verdient F . J . Schneiders abgewogene L i s c o w - C h a r a k t e r i s t i k aus seinem Buch über » J e a n P a u l s J u g e n d und erstes A u f t r e t e n in der L i t e r a t u r « , Berlin 1905, S. 306 ff. 77

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eifern 82 . Völlig inkommensurabel sind Liscows Sprache und die Johann Fischarts, des vielleicht größten Satirikers deutscher Zunge. Indessen kann der Hinweis auf Fischart dazu dienen, die Grenzen von Liscows Sprachbegabung und seiner »Ausdrucks«-Fähigkeit deutlicher zu markieren; denn das, was die Einzigartigkeit des genialen Spradivirtuosen Fischart begründet (die Wortspiele, die Synonymen-Kaskaden, die Neubildungen und die wuchernde Fülle der Kreuzfiguren, Paradoxien und Hyperbeln) - das alles wird man bei Liscow vergebens suchen. Seine Sprache war nicht imstande, mit den bizarren Sprüngen seines Esprit Schritt zu halten. Unstreitig beruht dagegen der komische Effekt seiner Satiren nicht zuletzt auf dem Kontrast zwischen der betont sachlichen, scheinbar um strengste wissenschaftliche Objektivität bemühten Diktion und dem galligen Spott seiner Sarkasmen, die er mit dem Schein-Ernst eines angeblich unparteiischen Gelehrten vorträgt, ohne je eine Miene dabei zu verziehen. L. Wienbarg hat Liscow 1845 als den »größten ironischen Schriftsteller Deutschlands« 83 bezeichnet. Diese Einstufung ist zwar einigermaßen willkürlich, sie unterschätzt auf jeden Fall die Leistung eines Lichtenberg, Jean Paul, F. Schlegel, L. Tieck u. a. Indessen ist zuzugeben, daß Liscow als Ironiker und als Parodist in der deutschen Literatur kaum seinesgleichen hat. Liscow war ganz sicher weder Sprachschöpfer noch Spracherneuerer und erst recht kein Revolutionär von der Art Klopstocks, Herders oder des jungen Goethe. Aber er hat sich innerhalb der seinem Talent gezogenen Grenzen souverän zu bewegen gewußt. Er hat es verstanden, seine trockene Gelehrtendiktion zu einem gefügigen Instrument seiner sophistischen Dialektik und seines rabulistischen Räsonnements auszubilden. Nicht die Phantasie, sondern der Intellekt hat seine Feder geführt und seiner Prosa jene affektfeindliche Note gegeben, die für sie besonders charakteristisch ist. Satirische Phantasie hat Liscow vor allem bei dem Arrangement der »Fabeln«, Situationen usw. und bei der boshaften Kombination scharfsinniger Einfälle bewiesen. Zumal auf diesem Gebiet manifestiert sich seine unersättliche Spottlust, die sich sogar gegen die spröde Umständlichkeit seiner Perioden durchzusetzen vermag. 8 2 Weit eher als der Vergleich mit Lessing scheint sich ein Vergleich mit der P r o s a des vielgeschmähten Gottsched anzubieten. A u d i Gottsched besaß die Fähigkeit, p r ä g n a n t und griffig zu formulieren und den Stoff klug zu disponieren. A b e r audi bei Gottsched geht die P r ä g n a n z , die K o r r e k t h e i t u n d Eindeutigkeit auf K o s t e n der » T i e f e « , der irrationalen S p r a c h q u a l i t ä t ; w a s freilich v o m aufklärerischen S t a n d p u n k t aus k a u m als Verlust gebucht worden sein d ü r f t e . 8 3 I n : H a m b u r g e r literarische und kritische Blätter, N r . 7/13, 1845.

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Die komödiantische Spiellaune dieses satirischen Naturells entfaltet sich also nicht in sprachkünstlerischer Weise, sondern vor allem bei der Organisation einer verkehrten Welt, die den Schauplatz seiner Satiren bildet. An dem Aufbau dieser Welt sind entscheidend beteiligt: die Invention, die Ironie und die Parodie. Die Erfindung schafft die Bühne, auf der Liscow als Regisseur und als Akteur auftritt; sie schreibt die Rollenverteilung vor und sie ermöglicht das zwanglose Arrangement der Einfälle und Pointen. Auf dieser Bühne läßt der Spielmeister seine Figuren agieren. Nicht als gleichberechtigte Partner des maskierten Autors, sondern als marionettenähnliche Demonstrationsobjekte ohne individuelle Ausprägung, an denen die satirische deductio ad absurdum exemplifiziert wird. Liscow läßt sie zwar ausgiebig zu Wort kommen, er applaudiert ihnen auf offener Szene, überhäuft sie mit Lobsprüchen, kopiert ihre Eigenarten, übernimmt ihre törichten Anregungen. In Wahrheit wird die ironische Distanz jedoch nicht einen Augenblick lang preisgegeben. Der Ironiker nützt vielmehr die von der Erfindung angebotenen Spielmöglichkeiten und treibt durch sein »verstelltes Lob«, durch sein vorgetäuschtes Einverständnis mit dem »Gegner« und durch die parodistische Verzerrung der Vorlage sein Opfer vollends in die Enge, wo er ihm kaltblütig den Garaus macht. Verkehrung, Verstellung und Verzerrung stehen im Dienst der satirischen Negation. Diese drei Kräfte wirken strukturbildend und integrationsfördernd, sie begründen die »verkehrte Welt«, in der sidi der Satiriker Liscow heimisch gefühlt hat. Die satirische deductio ad absurdum provoziert auf spielerische Weise die Position. Mit dieser Provokation aber läßt Liscow es bewenden. Er gehört nicht zu den »allzu ernsthaften Rächern der Tugend« 84 . Seine Satiren haben keine moralischen Rezepte, weder Belehrendes nodi Erbauliches anzubieten; wo das gelegentlich geschieht (wie etwa in der »Unparteiischen Untersuchung«), wird der Ernst einer bestimmten Uberzeugung oder Meinung durch die Selbstironie wieder annihiliert. Die Organisation der »verkehrten Welt« ist Liscows eigentliche Leistung. Diese Welt ist kein Abbild der empirischen Realität. Sie ist um wieder auf Harsdörffers Wort zurückzukommen - eine »erdichtete« Welt, die der moralistischen Literaturkritik verschlossen bleibt. Als Spiel-Werke eines scharfsinnigen Intellekts leben Liscows Satiren in der Welt des Scheins, in welcher nicht nur das Lob seinen Ort hat, sondern audi die Empörung, der Zorn, der Tadel und der Spott. 84

Lessings Werke, hg. von J. Petersen und W. v. Olshausen, 9. Tl., S. 168. 71

III. LISCOW U N D RABENER I N MAUVILLONS U N D UNZERS BRIEFWECHSEL ÜBER D E N WERTH E I N I G E R D E U T S C H E N DICHTER« Kritik der moralistischen Literaturbetrachtung

Der Versuch einer ästhetischen Rehabilitierung der Personalsatire, wie er hier vorgelegt wurde, kann nicht als Vorstoß in literaturwissenschaftliches Neuland gelten. Nach den theoretischen und praktischen Vorarbeiten der phänomenologisch fundierten, werk-immanenten Stilkritik (die die Autonomie literarischer Kunstwerke nachdrücklich verfochten hat) 1 konnte er heute ohne sonderliches Risiko und ohne eine weitläufige Rechtfertigung unternommen werden. Zu verteidigen wäre er höchstens gegen den Vorwurf einer allzu bereitwilligen Übernahme von aktuellen, um nicht zu sagen: modischen Forschungstendenzen. Als Jakob Mauvillon (geb. 1743 in Leipzig) und Leopold August Unzer (geb. 1748 in Wernigerode) im Jahre 1771 ihren Briefwechsel »Über den Werth einiger deutschen Dichter...« 2 herausgaben, standen sie in einer ganz anderen Situation: Lessings, Herders und Gerstenbergs literaturpädagogische Bemühungen hatten damals noch kaum Früchte getragen. Der Primat der moralistischen Literaturkritik war keineswegs erschüttert, und der »böse Geschmack« (Vorr. 14) des ungebildeten, »abgeschmackten« Publikums (I, 55) herrschte fast unumschränkt. »An Geliert, die Tugend, und die Religion glauben, ist bey unserm Publiko beynahe Eins«, spottete J. H . Merck in seiner Rezension des Brief1

Vgl. u. a. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Halle 1931; J.Pfeiffer, Das lyrische Gedicht als ästhetisches Gebilde, Diss. Freiburg 1931; E. Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, Zürich 1939; K. May, Ober die gegenwärtige Situation einer deutschen Literaturwissenschaft, Trivium V, 1947; W. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern 1948. Sehr kritische Bemerkungen zur Entwicklung der Interpretations-»Kunst« neuerdings in E. Staigers Nachruf auf E. Beutler (JbdFDH 1962, S. 1 f.). 2 Ober den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. 1. und 2. Stüde, Frankfurt und Leipzig 1771/72. Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

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wechseis 3 . Es war also ein Wagnis und in »Ansehung der allgemeinen Orthodoxie des Geschmacks« 4 geradezu eine Ketzerei, an Geliert, an der »kritischen Despotie« (I, 64 f.) der schöngeistigen Journale und der von dilettantischen Kunstrichtern gegängelten Leserschaft Kritik zu üben und sich öffentlich zu Liscow zu bekennen. Darüber waren sich Mauvillon und Unzer durchaus klar. Die Vorrede des Briefwechsels zeigt, daß sie nicht nur mit sachlich begründetem Widerspruch rechneten, sondern es auch für nötig hielten, sich vorbeugend gegen mögliche moralische Verdächtigungen zu sichern (vgl. Vorr. 12 ff.). Im deutlichen Bewußtsein ihrer Außenseiterstellung 5 haben sie - »gegen alles Schlechte und Mittelmäßige unbarmherzig, aber eben so enthusiastisch für alles Große und Schöne« (II, 76) - den K a m p f gegen die »falschen Urtheile über das Verdienst vieler Männer, die einen Ruf haben« (Vorr. 19) aufgenommen. Mit den Leuten, die die »Dichtkunst als etwas unnützes, als eine brodlose Kunst ansehn« (II, 170), wollten sie nichts zu schaffen haben. Die Veröffentlichung ihres Briefwechsels sollte dem »Mangel an richtigen Begriffen über das dichterische Verdienst und über das wahre Schöne« abhelfen und »richtigere Begriffe und gegründetere Urtheile an die Stelle der gewöhnlichen« setzen (Vorr. 19). Merck hat sich von dem in den Briefen zur Schau gestellten Radikalismus distanziert; ob aus Überzeugung, aus Abneigung gegen die kompromißlose Aggressivität der beiden Ketzer oder aus literaturpädagogischen Erwägungen mag dahingestellt bleiben. D a ß ihn die übermütigen Attacken gegen die »Gellertomanie« (I, 311) ernstlich verstimmt 3 Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, in: DLD 7/8, Heilbronn 1883, S. 98-100. Goethe hatte Mercks Rezension, aus der ihm allenfalls ein Absdinitt gutgeschrieben werden kann, in seine Schriften aufgenommen (Ausg. 1. Hd., Bd. 33, S. 10-13). Uber die Gründe dieser irrtümlichen Aneignung unterrichtet W. Sdierer in der Einleitung zu dem o. a. Neudruck: Goethe hatte Eckermann 1823 mit der Aufgabe betraut, aus den Jahrgängen 1772 und 1773 der »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« seinen Anteil zu ermitteln. Daß Eckermann damit überfordert war, zeigt eine Bemerkung Goethes gegenüber S. Boisserée, dem er unter dem 3. 7 . 1 8 3 0 schreibt, daß er sich selbst in den Rezensionen jener Jahrgänge »oft wunderbar« vorkomme; »ich erinnere mich ja nicht mehr, daß idi diesem oder jenem Werke, dieser oder jener Person zu seiner Zeit eine solche Aufmerksamkeit geschenkt; ich erfahre es nunmehr als eine entschiedene Neuigkeit...« (Einl., S. LXVII). Mercks Verfasserschaft für diese Rezension (in der übrigens nur das 1. Stück des Briefwedasels behandelt wird) ist sidier bezeugt; s. a. Max Morris, Goethes und Herders Anteil an dem Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, Stuttgart und Berlin 3 1915, S. 36, 55, 135, 175; s. a. Der junge Goethe, hg. von M. Morris, 2. Bd., Leipzig 1910, S. 282. 4 DLD 7/8, S. 98. 5 »Zween Leute gegen eine ganze Nation? Das würde nichts beweisen, als daß wir beyde einerley verdorbenen Geschmadc hätten« (I, 42).

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haben könnten, ist sehr unwahrscheinlich. Denn wenn Merck auch Geliert gegen Mauvillon und Unzer in Schutz nehmen zu müssen glaubt, so zeigt doch die kühle Art seiner Verteidigung, daß er die schwärmerische Verehrung dieses »infallibeln Papstes des Parnassus und Stadthalters des Apolls auf Erden« (I, 108) nicht gutheißen konnte und daß er die Verdienste dieses Lieblingsautors der Nation sehr realistisch beurteilt hat. Merkwürdig ist, daß die Literaturgeschichte von dem Briefwechsel kaum Notiz genommen hat e . Diese Korrespondenz besitzt zweifellos nicht nur dokumentarischen Wert. Mauvillon und Unzer können vielmehr als Literaturkritiker und Geschmacksbildner neben Lessing und Gerstenberg durchaus bestehen. Ihre Urteile über Wieland, Geliert, Rabener oder Liscow sind auch heute noch vertretbar; und ihre Bemerkungen über die Lehrdichtung, über die Satire, über die Nachahmungssucht der »Klopstockisirenden Schriftsteller« (I, 57) und die problematischen Praktiken der moralistischen Literaturkritik sind nicht nur erstaunlich modern, sondern bezeugen auch eine gründliche Belesenheit (vor allem auf dem Gebiet der zeitgenössischen Literatur) und ein offensichtlich an Lessing geschultes Argumentationsgeschick; einige Abschnitte des Briefwechsels nehmen bereits zentrale Gedanken aus Schillers Ästhetik vorweg. Das erste Stück der Sammlung enthält eine an Gellerts Werken exemplifizierte Geschmackskritik. Die Verfasser sind der Ansicht, daß Geliert (»dieses von der Nation aufgerichtete goldne Kalb«; I, 79) »durchgehende ein sehr mittelmäßiger Schriftsteller, und ein Dichter ohne einen Funken von Genie« ist (I, 59). Sie verwenden beträchtliche Mühe darauf, an ausgewählten Textproben ihre blasphemische These zu beweisen, daß Geliert auf fast allen Gebieten seiner vielseitigen Produktion überschätzt worden ist. Er habe, so wird behauptet, weder als Romanautor, noch als Fabeldichter, noch als Verfasser von Komödien, Schäferstücken, scherzhaften Erzählungen, Lehrgedichten oder von Briefformularen jenen überschwenglichen Beifall verdient, der ihm von seinen unkritischen Zeitgenossen gespendet worden sei 7 . Einzig β Eine Ausnahme bildet A. Koberstein, der im 4. Band seiner »Geschichte der deutschen Nationalliteratur« (Leipzig 5 1873) einige Abschnitte aus dem »Briefwechsel« mitteilt. 7 Mit den Versen aus »Der unsterblidie Autor« : »Der Mann war blos berühmt gewesen, Weil Stümper ihn gelobt, eh Kenner ihn gelesen« (I, 235) wird Geliert gegen Geliert ausgespielt.

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Gellerts geistliche Lieder erfahren eine wenn audi reservierte Anerkennung 8 . Erwähnung verdient, daß Mauvillon und Unzer nicht durch abstrakte Spekulationen zu überzeugen suchen, sondern daß sie ihre Wertungen mit stilkritischen Mitteln zur Evidenz zu bringen trachten. Dabei spielt der Textvergleich eine entscheidende Rolle. So wird etwa die Leistung des Fabeldichters Geliert in einem Vergleich mit Lafontaine überprüft (1,117 ff.) und die Kümmerlichkeit seiner Schäferpoesie durch die Gegenüberstellung von Proben aus Guarinis »Pastor Fido« demonstriert (I, 111 if.). Wir können auf die Einzelheiten ihrer Interpretationen nicht näher eingehen und müssen uns darauf beschränken, jene Stellen hervorzuheben, die im Rahmen unserer Untersuchung von Interesse sind. Besondere Beachtung verdienen in diesem Zusammenhang einige Bemerkungen der Verfasser über den Lehrdichter und den Moralphilosophen Geliert. Die Materien seiner Lehrgedichte seien »alle aus der Moral geschöpft« (1,195), heißt es im neunten Brief. »Dies ist die gewöhnliche Art der deutschen Dichter, daß sie in moralischen Denksprüchen einherstolziren, welches mich sehr wundert, denn nichts bedarf einer poetischen Einkleidung in höherm Grade, als eben sittliche Materien« (1,195) 9 . Die deutsche Nation, die dafür bekannt ist, daß sie »mehr gründlich als leicht und lebhaft denkt« (1,195), habe einen Überfluß an »dogmatischen Dichtern«, jedoch nur einen Lehrdichter von wirklichem Rang: Wieland (vgl. I, 196). Diesen Ruhm habe Wieland sich nicht mit den nach englischen Mustern verfaß ten eigentlichen Lehrgedichten erworben, sondern mit seiner »Musarion« (1,197). Nach Meinung des Verfassers wäre es unsinnig, Geliert mit Wieland zu vergleichen, da selbst ein Vergleich mit der »gewöhnlichen Gattung von deutschen Lehrdichtern« (I, 200) zu seinen Ungunsten ausfallen müßte. Geliert habe sich die »saure Pflicht« auferlegt, »prosaische Gedanken in Silbenmaaß zu fesseln, und ihnen den Schellenklang des Reims anzuhängen« (1,211); seine »gereimte Prose« (1,210) sei unanschaulich, unbestimmt in der Schilderung, matt im dichterischen Ausdruck, grob in der Charakterzeichnung und langweile durch eine »verdrießliche Ausdehnung der nichtsbedeutendsten Gedanken« (I, 203; vgl. 207 u. 209 f.). 8

Vgl. I, 128; 132 ff.; 241; s. a. Merdcs Rezension, D L D 7/8, S. 99. Vgl. Goethe, Letzte Kunstausstellung: »Das Gemiith hat einen Zug gegen die Religion, ein religiöses Gemüth mit Naturell zur Kunst, sich selbst überlassen, wird nur unvollkommene Werke hervorbringen; ein solcher Künstler verläßt sidi auf das Sittlich-Hohe, welches die Kunstmängel ausgleichen soll.« (WA I, 36, S. 266 f.). 9

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Wir sehen: der Inhalt, die Moral oder der Gesichtspunkt der Nützlichkeit spielen bei der Beurteilung seiner Lehrgedichte überhaupt keine Rolle. Der Kritiker richtet sein Augenmerk vielmehr auf die dichterische Behandlung des Stoffes und prüft, ob dem Autor - mit Goethe zu sprechen - eine Versinnlichung des Sittlichen gelungen ist 10 . Die wiederum an einigen Textproben vorgeführte Uberprüfung der dichterischen Qualität von Gellerts didaktischer Poesie fällt so aus, daß die Verfasser keine Veranlassung haben, ihr Gesamturteil über den Dichter zu revidieren 11 . Um ganz sicher zu gehen, unterziehen sie ihre Wertung in einer Analyse der Prosa des Moral-Schriftstellers Geliert einer weiteren Kontrolle (vgl. I, 239 if.). Sie sind sich freilich bewußt, daß selbst ein positives Ergebnis dieser Untersuchung ihre These, nach der Geliert »ohne alles Genie zur Dichtkunst« (I, 243) sei, nicht umzustoßen vermöchte. Denn wenn er auch ein »guter moralischer Schriftsteller«, ja wenn er selbst der »Beste unter den Moralisten wäre, macht ihn das deswegen zum Dichter?« (1,239/40). Daß indessen auch der Moralist, der eine »Moral fürs Herz« (I, 243) hatte schreiben wollen, den Ansprüchen der beiden Kritiker nicht zu genügen vermag, braucht hier nur festgestellt zu werden. Als Gegenbeispiel wird Rabener genannt. Rabener, heißt es im dreizehnten Brief, sei »einer der nüzlichsten und schönsten moralischen Dichter«, die »Deutschland hervorgebracht, ein Mann, der an Genie und Witz Gelierten weit hinter sich läßt« (I, 295). »Die Satyren dieses Mannes«, fährt der Briefschreiber fort, »hatten einen sehr wesentlichen Einfluß auf Deutschland, und reinigten dasselbe von einer solchen Menge Thorheiten, Vorurtheile und Irrthümer, als Gellerts Schriften nie gethan haben . . . Es ist nie ein Schriftsteller gewesen, der die Denkungsart und Sitten seiner Zeit so gut gekannt hätte, wie Rabener« (I, 296). Das ist eine überraschende Begründung. Der Aspekt der moralischen Nützlichkeit kommt hier plötzlich wieder zu neuen Ehren. Bisher hatten die beiden Autoren versucht, Moral und Literatur radikal zu trennen, den Wert von literarischen Werken allein mit Hilfe eines stilkritischen Instrumentariums zu bestimmen und sich bei der Aufstellung einer neuen Rangordnung der Dichter ausschließlich von ästhetischen 1(>

Vgl. Goethe, Letzte Kunstausstellung: »Eine Ahnung des Sittlich-Höchsten will sich durch Kunst ausdrücken, und man bedenkt nicht, d a ß nur das SinnlichHöchste das Element ist, worin sich jenes verkörpern kann.« (A.a.O., S. 267). 11 Vgl den 12. Brief (I, 238 ff.).

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Gesichtspunkten leiten zu lassen. Bewährt hatten sich diese Prinzipien vor allem bei der Beurteilung von Gellerts Lehrdichtung, die als eine kritische Tat ersten Ranges bezeichnet werden darf. Die Rettung Rabeners macht freilich deutlich, wie schwer es selbst dem Kenner wurde, nicht rückfällig zu werden. Für uns ist diese Inkonsequenz jedoch von beträchtlichem Nutzen, da sich der Briefpartner dadurch veranlaßt fühlte, die Grundsätze der gemeinsamen kritischen Bemühungen noch einmal ausführlich zu erörtern. Gerade die Satiriker, heißt es im fünfzehnten Brief (der zu den wichtigsten der Sammlung gehört), müßten »nach dem Genie, und nicht nach der Wichtigkeit der Materie oder dem Nutzen, den sie schaffen, beurtheilt werden«. Überhaupt sei bei dem »wahren Kenner das Genie das einzige Tarif des Dichters« (II, 16) 12 . Die daran anknüpfenden Ausführungen erscheinen so bedeutsam, daß wir es für dienlich halten, sie ungekürzt wiederzugeben: »Wenn mir jemand viel von dem Süjet, das sich der Dichter gewählt hat, von der sdiönen Moral, die in einem Gedichte herrscht, und dergleichen spricht; so mag ich gleich von seinem Urtheile nichts mehr hören. Daher hab' ich über nichts mehr lachen müssen, als über die Streitigkeiten, die hie und da über die Moralität der Schaubühne und über ihren Einfluß auf die Sitten geführet worden sind. Alles das ist lächerlich. D i e Poeten haben alle keinen unmittelbaren Einfluß auf die Sitten; ein moralischer Sittenspruch, in einem Trauerspiel ins Licht gesetzt, ist nicht wirksamer, als in einer Rede, Fabel oder was man sonst will. Aber die Poeten haben einen andern sehr wichtigen Einfluß von einer ganz verschiedenen Art, und diesen haben sie nach der Güte ihrer Werke, und nach dem Verhältnis der Größe ihres Genies; es sey nun, was sie dichten, eine Musarion - deren Moralität auf 12 Zur Erläuterung dieser Stelle mag ein kurzer Auszug aus dem 19. und dem 26. Brief dienen: »Idi schätze den Dichter bloß nach dem Genie, und das Genie besteht hauptsächlich in der Kraft zu schaffen; hievon heißt er ein Poet. Es versteht sich, daß mir sein sdiöpferischer Geist lauter Dinge vorstellen muß, die midi interessiren. Kan er aus einem dem Scheine nach unbequemen Dinge etwas machen, das mich interessiert; Heil ihm! Ich bewundere ihn um so mehr. Aber auch das ist schon hinreichend, ihn in meinen Augen zum großen Dichter zu machen, wenn er nur weiß, Gegenstände zu wählen, welche wichtig sind, und das Wichtige, das schon darinnen liegt, es bestehe im Großen oder Reizenden, heraus zu holen, um mirs zu zeigen. Dies ist die Haupteigenschaft aller Dichter, und der Maasstab, nach dem idi sie abmesse« (II, 89). Diese Maßstäbe werden im 26. Brief nodi einmal genannt: »Wenn der schöpferische Geist«, heißt es hier, »welcher alle seine Gegenstände durdi Handlung belebt, wenn die Erfindung und vollkommen dichterische Bearbeitung ganzer Plane und einzelner Theile, wenn eine begeisternde Imagination, und daraus fließende lebhafte Schilderung, wenn ein durchgehende poetischer, edler und angemessener Ausdruck den Dichter vom ersten Range, den Dichter ausmachen, welcher das höchste Interesse würkt; so bestimmen entweder alle diese Eigenschaften, oder dodi der gröste Theil derselben in einem etwas gemäßigtem Grade den Dichter vom zweyten Range« (II, 251).

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eine sehr lächerlidie Weise in den göttingischen gelehrten Zeitungen ist erwähnt worden - oder eine Aeneide, wo uns pius Aeneas vorgestellt wird. Dodi wo gerathe ich hin? Idi wollte nur sagen, daß man in dieser Gattung der Satire (gemeint ist die Prosa-Satire), wovon unter uns die Rede ist, die Schriftsteller nach dem Genie, und nicht nach dem moralischen Werthe oder Inhalte ihrer Arbeiten beurtheilen müsse« (II, 16-18).

Rabener sei zwar ein sehr guter Schriftsteller, seine Verdienste um die »Reinigkeit der Sprache« (II, 54) würden ihn stets zu einem »wichtigen Autor« machen, aber mit Swift 13 dürfe er nicht verglichen werden; »dieser Engländer ist gar zu weit über ihn« (II, 18). Die Deutschen hätten jedoch einen Satiriker, den sie in einer »nach dem Genie« (II, 19) gestuften Rangordnung »notwendig über Rabnern« setzen müßten. In diesem Schriftsteller, der ein »ganz unbekanter Mann« (II, 19) sei, herrsche eine »ächte swiftische Ader« (II, 21). »Wie? werden Sie sagen, Liskow, der die Streitigkeiten mit dem Magister Sievers und dem Professor Philippi gehabt hat? Diese seine unbedeutende Schriften, über Süjets, die uns gar nicht interessiren, sollten mit Rabners seinen, welche . . . allgemein interessirende Gegenstände abhandeln, in Vergleich, ja selbst über sie gesetzt werden?« (II, 19) Der Verfasser kennt, wir wir sehen, die gängigen Vorurteile über die beiden Satiriker. Aber er weiß sie zu widerlegen. Noch einmal wird betont, daß hier »blos vom Genie die Rede sey« (II, 20). Und unter diesem Aspekt zeige sich, daß Liscows »Scherze und Einfalle alle drolligt, alle passend sind, und recht aus der Quelle fließen. Nicht das mindeste Gezwungene! Das Lächerliche stellt sich ihm gleich in jeder Sache dar, er scheint es gar nicht zu suchen. Er stelle es unter einer Einkleidung vor, worunter er will; er scheine es nemlich entweder in allem Ernste nachzuahmen, oder er schildre es durch Stellung in ein entgegen gesetztes Licht ironisch; so deucht mir immer diese Einkleidung die natürlichste, und diejenige, unter der es allein die vollkommenste Wirkung thun konnte« (II, 20). Bei Rabener dagegen sei die Einkleidung oft »erschrecklich gezwungen«. »Man sieht unaufhörlich den Menschen, der da lachen oder vielmehr Lachen hervorbringen will« (II, 20). Er veranstalte »bogenlange Präparationen«, um die Sachen von einer lächerlichen Seite vorzustellen. Liscows Vorbereitungen seien »nicht so gesucht«, seine Einfälle »fließen alle aus der Sache selbst« (II, 21). Gewisse Leute tadelten Liscow zwar wegen des »unbedeutenden und uninteressirenden der Gegenstände, die er abhandelt«. Aber das seien »Critiker 18 Rabener war im 13. Brief als »unser Swift« (I, 296) gerühmt worden; eine Ehrung übrigens, die fast allen deutschen Satirikern des 18. Jahrhunderts zuteil wurde.

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nach dem gewöhnlichen Schlage«, die auf diese Weise ihren »Mangel an Einsichten« glaubten verbergen zu können (II, 22). »Das Süjet des >VorspielsWer sind Sie?< - >Das will idi Ihnen sagen, mein Herr! Nächst dem, was Sie auf der Titelseite allem Vermuthen nach werden gesehen haben: >Ein vernünftiger Verehrer der erhabensten Religion Jesu Christi< und also ein Ritterbürtiger, der sich, kraft seines Namens und Standes, beinahe zu gut hält, es mit kleinen, faden Geisterchen aufzunehmen. Aber mit Ihnen, mein Herr! scheint mir doch in etwa der Mühe werth zu seyn. Sie madien's zu bunt! Jetzt ernstlich zur Sache!!!« (629)

Unter ausgiebiger Verwendung von Ausrufzeichen sucht Jung seiner gerechten Empörung über Nicolai Luft zu machen. Er verwechselt ganz offensichtlich Lautstärke mit stilistischer Schärfe. Die naiv-ungeschickte, scheinbar hochmütige Art der Selbsteinführung, die Wortwahl und der zelotische Ton zeigen an, daß hier ein Dilettant am Werk ist, der selbst da, wo er seiner Verachtung für die »kleinen faden Geisterchen« Ausdruck verleiht, eher komisch als verletzend wirkt. Der Ausbruch schließt mit der Ankündigung, daß der Verfasser jetzt »ernstlich« zur Sache gehen wolle. Davon war in der Vorrede — deren überanstrengte, betont forsche Burschikosität die stilistische Unsicherheit des Autors bereits deutlich spüren ließ - freilich nicht die Rede gewesen. Jedoch Jung hatte keine Wahl. Er mußte sich auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Nicolai einlassen, weil sein Naturell ihm nicht erlaubte, in einem »scharfen und hämischen Styl« zu schreiben. Gegen einen derartigen Angriff war der »Sebaldus Nothanker« durch seine »ironischlaunische Schreibart« (627) natürlich gefeit. Jung stand deshalb auf verlorenem Posten, als er daranging, die theologischen Irrtümer des 85

Romans zu berichtigen und die Berechtigung von Nicolais Angriffen gegen die lutherische Geistlichkeit kritisch zu prüfen. Was er im einzelnen zum Problem der Ewigkeit der Höllenstrafen s , zur Erbsünde oder über das Verhältnis der Vernunft zur Offenbarung zu sagen hat, muß hier außer Betracht bleiben. Wichtiger ist für uns Jungs Stellungnahme zu der Frage, ob es erlaubt sei, »in Religionssachen Satire zu braudien« (668). Er bezeichnet dieses Verfahren als »unmenschlich« (668); es sei »teuflisch«, erklärt er an anderer Stelle, das »Heiligthum so vieler Millionen Menschen zu verspotten« (667). Nicolai wird vorgeworfen, daß er sein Buch nur geschrieben habe, um seinen Witz und seine Kunst zu zeigen (vgl. 630) und daß er nach dem herrschenden Zeitgeschmack versucht habe, »vornämlich die Lehrer der protestantischen Kirche lächerlich zu machen« (648). Jung gibt zwar zu, daß sich »von jeher Eigennutz, Eigenliebe und Handwerksneid mit unter die heiligsten Dinge gemischt« (663) haben und daß das Lehramt bei (im pietistischen Sinn) »unbekehrten Geistlichen immer mit Stolz und Dummheit verpaart geht« (679). Doch sei es nicht die Sache eines Religionsspötters, dem »Verderben des Lehrstandes die gehörigen Mittel entgegen zu setzen« (678). Die Frage, ob man »durch Spötteleien die Sache ins Allgemeine bessere oder nicht«, überprüft er an der Frage, ob die »wahre Religion Christi« dadurch befördert wird, »wenn die Geistlichkeit lächerlich und verächtlich gemacht wird« (679). Sie wird schließlich in Form eines Gleichnisses beantwortet (vgl. S. 679684). Wenig überzeugend sind seine ausdrücklich formulierten Antworten: solange es Menschen gibt, erklärt Jung, wird es »Namchristen und wahre Christen, böse und gute Menschen geben« (654); da auch die Prediger Menschen sind, müsse man ihnen »menschliches Recht wiederfahren lassen«; man fordere »unmögliche Dinge, wenn man behauptet, daß das Predigtamt mit lauter frommen Leuten besetzt werden soll« (654). Vielmehr müßten die Menschen und also auch der geistliche Stand danach beurteilt werden, »wie er ist, und nicht, wie er seyn soll« (652). Jeder Christ habe zwar das Redit, an den Mißständen der Kirche und der Geistlichkeit öffentlich Kritik zu üben, doch sei er verpflichtet, zugleich die Mittel anzugeben, »wie man's besser machen könne« (654). »Trotz dem, der die Religion und Kirche tadelt, ohne zugleich bündige und unfehlbare Mittel anzugeben, wodurch ihre Mängel gehoben werden können!« (652) 3 Ober diese Frage zu meditieren, gehört zu den geistlichen »hobbies« des Magisters Sebaldus Nothanker. Die Erwähnung von »Stedkenpferden« ist (nach Sternes Muster) auch bei Nicolai ein bevorzugtes Mittel der Figuren-Charakteristik.

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»Was icii nicht besser machen kann, muß ich auch ungespottet lassen!« (654) 4 lautet das Fazit dieser höchst anfechtbaren Erörterung. Hinter diesen Sätzen steht die Uberzeugung, daß selbst der »allerunwürdigste Prediger« ein »Gesandter Gottes und Christi« sei, der auch dann respektiert werden sollte, »wenn uns seine Person um so viel verächtlicher ist« (631). Von hier aus läßt sich verstehen, warum dem Verfasser der »Schleuder« selbst eine ernsthafte, durch »unfehlbare« Reformvorschläge legitimierte Kritik an der Religion und der Geistlichkeit verdächtig und anmaßend erscheinen mußte. Im Grunde gab es für Jung gegenüber der unwürdigen Aufführung der Geistlichen nur eine wirklich angemessene Verhaltensweise: die Klage. Nicolai wird mehrfach vorgeworfen, daß er Fehler belacht habe, die eigentlich »zu beweinen wären« (668). »Wehe dem«, eifert Jung in seiner »Vertheidigung der Schleuder«, »der sich untersteht, Satiren auf sie (die Geistlichen) zu machen, N . B. ohne dazu das Muster eines Lehrers, wie er wirklich seyn soll, vor Augen zu stellen 5 . Man soll solche Fehler beklagen, und die Menschen, anstatt darüber zu lachen und zu spotten, weinen machen« (829) e . Diese Empfehlungen bezeugen eine tiefe Religiosität und eine noble Gesinnung. Daß sie der Zustimmung von Jungs Glaubensgenossen sicher waren, ist gewiß. Ebenso gewiß ist aber auch, daß diese zweifellos wohlgemeinten Ratschläge die aufgeklärte Kritik (für die sie ja in erster Linie bestimmt waren) nicht zu irritieren oder gar umzustimmen vermochten 7 . Für die Wirkungslosigkeit der »Schleuder« und der sie ergänzenden Schriften 8 gibt es eine Anzahl von Gründen: Jung hatte seine schriftstellerischen Fähigkeiten ganz offensichtlich falsch eingeschätzt; auch die literarische Leistung seines Gegners hat er nicht richtig zu taxieren ge4

Dieselbe Forderung hat man seit je auch an die Kunstrichter gestellt; vgl. dazu Lessings Bemerkungen, die er unter der Überschrift »Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt« zusammengestellt hat; Werke, hg. von Petersen und Olshausen, Tl. X X V , S. 159-161. 5 Vgl. dagegen S. 652, wo Jung geraten hatte, den geistlichen Stand zu beobachten, »wie er ist, und nicht, wie er seyn soll«. β S. a. S. 825. Die Satire, wird hier gesagt, sei nidit das Mittel, »den Lehrstand zu bessern. Niemalen hat die Satire den erwünsditen Effekt, in Religionssachen aber ist sie greulich. Man macht die Fehler der Lehre lächerlich, anstatt daß man darüber weinen sollte«. 7 Vgl. Allgemeine Deutsche Bibliothek, Anhang zum 25./36. Bd., S. 879. 8 »Die Theodicee des Hirtenknaben als Berichtigung und Vertheidigung der Schleuder desselben« (707 ff.) ; »Die große Panacee wider die Krankheit des Religionszweifels« (525 ff.).

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wußt 9 ; ferner hatte Jung die »Schleuder« als eine in einem »scharfen und hämyschen Styl« abgefaßte Schrift angekündigt, in der Nicolai gestriegelt und durchgehechelt werden sollte (vgl. 622). Bereits der Titel des Werkes mußte in dem Leser die Erwartung wecken, daß er es hier mit einer Satire zu tun bekommen werde. Indessen entbehrt die Schrift durchaus des satirischen Salzes; sie hat vielmehr alle Merkmale einer verfehlten Satire, so daß man sie geradezu als Modell eines solchen Mißgebildes bezeichnen kann. Die von M. Sommerfeld vertretene Ansicht, daß Jung mit »ätzender Schärfe« gegen den »Nothanker« polemisiert habe 10 , können wir nicht teilen. Seine »Schleuder« besitzt keine Schwungkraft. Mit seinem biblischen Vorbild teilt Jung zwar den Mut und die knabenhaft weltunerfahrene Naivität; nicht aber die kaltblütige Beherrschung der Situation und den unerbittlichen Vernichtungswillen. Jung schreibt schlechten Gewissens, in beständiger Furcht, sich gegen das christliche Liebesgebot zu versündigen. Das macht seine Waffe stumpf. Zwar läßt er sich gelegentlich zu teilweise recht groben persönlichen Ausfällen gegen Nicolai hinreißen (vgl. 637). Jedoch die umständlichen theologischen Darlegungen, die den Hauptteil der Schrift bilden, werden in eben jenem trockenen, dogmatischen Stil abgehandelt, den der Verfasser zugunsten einer »aufgeweckten Schreibart« zu verabschieden versprochen hatte. Noch abträglicher aber waren Jungs Schrift jene Stellen, in denen er (meist im Anschluß an ein Nothanker-Zitat) die religionsfeindliche, sittenverderbende Wirkung von Nicolais Roman beklagt: » N u n die Folge aus diesem allem, mein H e r r A u t o r ! Sie ist entsetzlich! - Ich möchte sie um alle Welt nicht auf der Seele haben. - Sie dichten der Religionsverfassung der Kirche Jesu Christi Unwahrheiten an, stellen sie zur Schau aus, machen sie lächerlich; leichtsinnige Leser, deren es doch einen erschrecklichen H a u f e n gibt, werden hingerissen, sie entdecken hie und da einen ähnlichen Zug, nehmen das D i n g an, lachen mit, bekommen einen Abscheu vor Kirchen und Lehrern, die ihnen nach Ihrer Schilderung niederträchtig und lächerlich vorkommen, und - doch ich mag nichts weiter sagen, es wird einem ganz weh um's Herz. Sehen Sie noch nicht bald ein, was Sie f ü r eine abscheuliche Rolle auf Gottes Erdboden spielen?« (660) S o v e r s t ä n d l i c h J u n g s E m p ö r u n g ü b e r N i c o l a i s f r i v o l e n S p o t t auch ist - in dieser W e i s e w a r d e r B e r l i n e r » G o l i a t h « nicht z u t r e f f e n u n d 9 D e n in der Vorrede zur »Schleuder« angekündigten Beweis, d a ß N i c o l a i ein » S t ü m p e r v o n Romanenschreiber« (621) sei, ist er dem Leser schuldig geblieben; der » S e b a l d u s N o t h a n k e r « -wird ohne nähere B e g r ü n d u n g als » L e h r j u n g e n a r b e i t « (643) a b g e t a n ; nach J u n g s Ansicht gehört N i c o l a i »unter die schlechtesten und ungereimtesten Dichter unsers J a h r h u n d e r t s « (658). 1 0 M. S o m m e r f e l d , a.a.O., S. 151.

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erst recht nicht zu widerlegen. Die Klage über die Verderbtheit des Gegners ist in einer Streitschrift, vollends aber in einer Satire fehl am Platz. Ungezügelter Eifer, gerechter Zorn und leidenschaftliches Klagen mögen zwar für die Person des Autors Interesse oder auch Sympathie erwecken, seine Sache jedoch wird durch derartige Affektentladungen nicht gefördert. Dieser unkontrollierte Eifer bezeugt sich bei Jung-Stilling stilistisch in einem sprunghaften Wedisel der Schreibart: die in einer lehrhaft erbaulichen Manier geschriebenen theologischen Partien werden immer wieder von grobianischen Ausfällen unterbrochen; nicht minder abrupt erscheinen daneben dann jene (die Hilflosigkeit des Verfassers auf eine rührende Weise offenbarenden) Klagereden, deren lamentabler Ton den beabsichtigten Effekt der »Schleuder« vollends ruiniert und der - zumindest auf seinen Gegner - komisch wirken mußte. Diese offenkundigen darstellerischen Schwächen im Verein mit der keineswegs immer überzeugenden Argumentation haben Jung nicht nur scheinbar ins Unrecht gesetzt, sie haben es Nicolai auch ermöglicht, sich gelassen aus der Affäre zu ziehen. Es ist zu vermuten, daß der leicht reizbare Berliner Literatur- und Geschmacksregent 11 auf die Herausforderung eines ihm literarisch ebenbürtigen Gegners nicht so lakonisch reagiert hätte. Wie die Dinge lagen, konnte er sich freilich mit der in seinem Auftrag veröffentlichten Erklärung begnügen, daß es keinen Sinn habe, mit dem jeder vernünftigen Belehrung unzugänglichen »Schwärmer« Jung zu streiten 12 . In der mit größerer Besonnenheit geschriebenen »Theodicee des Hirtenknaben« und in der »Panacee« sind Jung später einige Abschnitte in der »aufgeweckten Schreibart« geglückt. »Der herrschende Geschmack unserer Zeiten«, spottet er in der »Panacee«, ist: » . . . a n der Religion zu zweifeln, ein G e n i e zu heißen, das Dichtungsverm ö g e n zu kultiviren, schön zu reden und zu schreiben, empfindsam, b e k a n n t mit den alten Dichtern, und selbsten ein P o e t zu seyn. A l l e diese Eigenschaften z u s a m m e n g e n o m m e n , machen den großen M a n n aus, durch dessen Wohnungsort m a n nicht reisen muß, ohne ihn gesehen und ihm seine A u f w a r t u n g gemacht zu h a b e n « (528).

Auch in dieser Schrift hat Jung freilich den sarkastischen Ton nicht durchzuhalten vermocht. Immerhin vermag diese Probe eine Vorstellung davon zu geben, wie sein literarisches Wurfgeschoß hätte beschaffen sein müssen, um zu einer wirksamen Waffe zu werden. 11 Nicolai hat sich, seine Kräfte überschätzend, u. a. mit Kant, Fichte, Goethe, den Romantikern, Sailer und Starck angelegt. 1 2 Vgl. M. Sommerfeld, a.a.O., S. 152.

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Ni)n wäre es jedoch müßig, darüber zu spekulieren, wie Jung seine stilistischen Intentionen hätte verwirklichen sollen. Wir haben uns an die Fakten zu halten. In der vorliegenden Form aber stellt diese Schrift den Prototyp der verfehlten Satire dar, an dem gezeigt werden kann, wodurch sich die »Schleuder« von der eigentlichen Satire unterscheidet. Auch die Bezeichnung »Streitschrift« wird man der »Schleuder« nur mit gewissen Einschränkungen zubilligen können. Jung besaß weder eine spezifische Begabung für die Satire noch für die Polemik. Deshalb wirkten sein Spott und seine Aggressivität fast immer verkrampft. Die eigentliche Domäne dieses im Grunde konzilianten, von einem naiven Erziehungs- und Bekehrungsoptimismus getragenen Mannes 1 3 waren Schriften unterweisenden und erbaulichen Charakters. Darüber war Jung sich vollkommen klar (vgl. 305). Durchaus glaubwürdig ist deshalb auch seine der »Schleuder« vorangestellte Versicherung, daß es seinem Herzen »recht lästig« gewesen sei, »einem Menschen zu Leibe zu gehen«, der ihn »geradezu nicht mehr beleidigt hat, als auch andere Christen« (621). Wir wissen, daß die Empörung über Nicolais Religionsspott und seine Verunglimpfung der lutherischen Geistlichkeit den Anstoß für die Abfassung der »Schleuder« gegeben hatten. Die Berechtigung dieser Reaktion ist hier nicht zu diskutieren. Wohl aber muß geprüft werden, in welcher Weise Jung seiner Empörung Ausdruck verliehen hat. Dabei ist vorweg folgendes zu bedenken: jede emphatische Affektentladung (ob sie sich in Form der Zustimmung oder der Ablehnung äußert) ist ein Akt der Selbstentblößung; sie treibt den, der sich seiner Leidenschaft überläßt, aus der relativen Geborgenheit des Reservierten und Diskreten und macht ihn in besonderem Maße verwundbar. Das gilt zumal für den Dichter und Schriftsteller, der sich leidenschaftlich für oder wider eine Person oder eine Sache ereifert. Gerade die Kundgabe der Empörung, des Abscheus, der Freude oder der Begeisterung scheint die Spottlust besonders zu reizen. Gegen die parodistische Profanierung des Pathetischen gibt es vermutlich keinen zuverlässigen Schutz. Ob nun die Äußerung einer gesteigerten, »anomalen« Reizbarkeit objektiv als indiskret, peinlich oder gar als komisch zu bezeichnen ist oder ob sie den vom Autor erstrebten Effekt erzielt, das ist eine Frage, die jeweils nur am konkreten Fall zu entscheiden ist. Die unverstellte, direkte Verlautbarung der Empörung vermag zwar die Rechtschaffenheit dessen zu bezeugen, der, wie Jung, in dieser Weise 1 3 Vgl. Goethes Urteil über Jung-Stilling in »Dichtung und Wahrheit«, 4. Teil, 16. Buch.

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zu bestimmten Zeiterscheinungen Stellung nimmt; sie hat freilich meist den Charakter einer privaten Mitteilung und ist daher vorwiegend biographisch interessant. Allgemeines Interesse wird ein solcher Ausbruch nur dann beanspruchen dürfen, wenn er formal gebändigt und künstlerisch organisiert ist, wenn er Struktur bildet und Gestalt anzunehmen vermag. Die Empörung, um bei unserem Ausgangsbeispiel zu bleiben, kann sich in vielerlei Gestalt äußern. Die Skala der sich hier anbietenden formalen Möglichkeiten reicht vom Epigramm bis zum D r a m a oder Epos. Alle diese Formen stehen audi dem Satiriker zu Gebote; allerdings mit einer sehr wesentlichen Einschränkung: die satirische Verneinung wird sich nie unmittelbar, nie unverstellt manifestieren dürfen. Haß, Zorn, Verachtung, Entrüstung oder Ekel, kurz: alle Weisen der Ablehnung oder Verneinung werden sich in satirischen Werken vielmehr im Gewand scheinbarer Zustimmung oder Bejahung zeigen müssen. Dieser Satz, scheint es, darf eine axiomatische Gültigkeit beanspruchen. Denn erst die Verstellung (die nicht moralisch zu bewerten ist, sondern als ästhetische Kategorie verstanden sein will) ermöglicht jene den satirischen Texten eigentümliche Distanzhaltung. Das ironische Enkomion 1 4 ist eine der ältesten Formen der indirekten Bloßstellung, Verspottung und Geißelung der Torheiten und Laster. An ihm wird offenkundig, daß die Empörung niemals Gegenstand, sondern immer nur Movens der satirischen Gestaltung ist. Die ironische Distanz ermöglicht es dem Satiriker, mit den Toren töricht und lasterhaft mit den Lasterhaften zu sein und sie erst schafft die Voraussetzung für die Vernichtung des Gegners mit den Mitteln der Parodie, der Travestie, der Übertreibung, Verzerrung oder Verkehrung. Jungs Zelotentum ist nicht durch den Filter der Ironie gegangen. Nicolai wird vielmehr mit »derben Worten« die »klare Wahrheit« gesagt (712). Diese » H ä r t e des Vortrags« (713) (für die sich J u n g übrigens später öffentlich entschuldigt hat; vgl. 713) ist jedoch nur für verhältnismäßig kurze Abschnitte der »Schleuder« charakteristisch. Seine umständliche Auseinandersetzung mit der Neologie und mit dem »feinen Heidenthum« (673) der vernünftigen Moral ist in einem relativ sachlichen Ton gehalten; und die Klagen über die sittenverderbende Wirkung des »Sebaldus Nothanker« tragen indirekt dazu bei, die grobianische Heftigkeit seiner Scheltreden zu mildern. D a ß J u n g nicht die Absicht gehabt hatte, Nicolai zu beleidigen, hätte keiner ausdrücklichen Versicherung bedurft. Die eigentlichen Schwächen der »Schleuder« sind 14 Vgl. A. Hauffen, Zur Litteratur der ironischen Enkomien; in: VJSchr. f. Lit. Gesch. 6/1893, S. 161-185.

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nicht moralischer, sondern ästhetischer Natur. Für diese künstlerische Unzulänglichkeit vermag die unbezweifelbare moralische Integrität des Autors nicht zu entschädigen. Eine Probe mag das noch einmal verdeutlichen. »Ich sehe voraus«, schreibt Jung, » w i e viel Menschen bei dieser rasenden S c e n e 1 5 lachen werden, mit diesem Lachen aber sich einen giftigen Dolch durch die Seele bohren, welche W u n d e schwer heilen w i r d . Wehe dem, durch welchen Aergernisse k o m m e n ! es w ä r e ihm besser, d a ß ein Mühlstein an seinen H a l s gehangen u n d in's Meer g e w o r f e n w ü r d e , d a es a m tiefsten ist. H ö r e ein jeder redlicher, rechtschaffener M a n n zu, und wenn er's hört, so zittre ihm M a r k und Bein. I d i will die g a n z e Stelle hersetzen, u m meine Leser zu überzeugen, mit w e m ich's zu thun h a b e u n d ob ich schuldig sey, fein säuberlich mit dem K n a b e n umzugehen« (646/47)1β.

Hier wird evident, daß der Schriftsteller Jung außerstande war, sich von seinem Gegner zu distanzieren. Er besaß nicht die Kaltblütigkeit des Ironikers, der Ton eines lakonischen Sarkasmus lag ihm nicht; und erst recht war es ihm nicht gegeben, Nicolais Position mit parodistischen Mitteln, in der Form einer scheinbaren, hyperbolisch verzerrten Zustimmung oder mit den Waffen der sophistischen Dialektik ad absurdum zu führen. Stattdessen hat er versucht, Nicolai mit den seinem Naturell zu Gebote.stehenden Mitteln ernsthaft zu widerlegen. Das heißt aber, daß er sich, bildlich gesprochen, mit dem ihm kräftemäßig weit überlegenen Gegner in ein Handgemenge einlassen mußte, über dessen Ausgang von vornherein kein Zweifel bestehen konnte. Mit der Preisgabe der Distanz hat er zugleich die Möglichkeit verschenkt, den »hohnsprechenden Philister« mit den Waffen der Komik zu treffen oder zu vernichten. Weil Jung seine Empörung nicht zu objektivieren vermochte, wirken seine Schelten plump, seine Klagen larmoyant und seine Darlegungen über die fundamentalen Glaubenswahrheiten des Christentums eher peinlich als klärend. Der ungezügelte Vgl. »Verteidigung der Schleuder des Hirtenknaben«, S. 835 f. Die von Jung beanstandete Szene hat folgenden Wortlaut: »Endlich gerieth der Pietist an einen Kerl, der, nach seinem braunen Rock und rund um den Kopf herum abgeschnittenen Haaren, nichts anders, als ein Schlächter oder Gerber seyn konnte. Mein Freund! redete er ihn an, er gehet, um sich die Zeit zu vertreiben: O ! wenn er wüßte, wie wohl dem ist, >Der da seine Stunden In den Wunden Des geschlachten Lamms verbringt.< »Herr! sagte der Kerl mit starren Augen: Was kann mir das helfen! Ich bin vorigen Sonntag im Lamme gewesen, aber das Bier war sauer!« (647); die von Jung ziemlich korrekt zitierte Stelle findet sich im 2. Band von F. Nicolais Roman »Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker«, Berlin und Stettin 1775, S. 28. 15

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Eifer hat den erstrebten Effekt dieser Schrift zunichte gemacht. Das Gutgemeinte bildet keinen hinreichenden Ersatz für den gänzlichen Mangel an sprachlicher, stilistischer und kompositorischer Zucht. Dies ist der eigentliche Grund, warum die »Schleuder« zu einer Art von Bumerang wurde, der Jung dazu zwang, die Tendenzen seiner verfehlten Protestschrift nachträglich zu erläutern und sie gegen MißVerständnisse und Angriffe aller Art zu verteidigen. Wir möchten nicht miß verstanden werden: natürlich wäre es absurd, Jung den Vorwurf zu machen, daß er kein Satiriker gewesen ist. Unsere Demonstration hatte zunächst eine Kontrollfunktion; sie diente der nachträglichen Uberprüfung der in der Untersuchung von Liscows satirischem Zyklus gewonnenen Einsichten; und sie sollte ferner e negatione einen neuen Zugang zum Wesen der Satire und zum Verständnis des satirischen Naturells erschließen. Dabei erwies sich, daß ein moralisch untadeliger Autor noch nicht dadurch zum Satiriker wird, daß er sich zu bestimmten Mißständen negativ äußert. Moralische Integrität allein bietet nodi keine Gewähr dafür, daß sich die Verlautbarung einer (objektiv berechtigten) Empörung über religiöse, moralische, politische oder soziale Zeitübel in satirischer Form niederschlägt. Dazu gehört offenbar eine spezifische Begabung, die Jung ganz sicher nicht besessen hat. Gewiß sollte nicht nur der Satiriker, sondern jeder Autor moralisch glaubwürdig sein. Doch darf der Umstand, daß vor dieser Forderung nicht nur Poeten dritten Ranges versagen, nicht dazu verleiten, den Dichter gegen sein Werk auszuspielen. Die Beziehungen zwischen Kunst und Moral sind komplizierter als der puritanische Rigorismus wahrhaben möchte. So vermag beispielsweise die Verketzerung der satirischen Rücksichtslosigkeit und Aggressivität die künstlerische Qualität der Satire überhaupt nicht in Frage zu stellen; und der von den Moralisten verpönte satirische Zynismus etwa Liscowscher Prägung kann ästhetisch gesehen sogar als Tugend gelten. Man mag einwenden, daß dies eben keine bestürzend neuen Erkenntnisse seien. Wir sind auch weit davon entfernt, sie dafür auszugeben. Indessen ist es manchmal notwendig und nützlich, an vergessene oder übersehene Sachverhalte zu erinnern. Denken wir daran, daß man zum Beispiel Swift, Voltaire 17 oder Liscow immer wieder moralisch denun17

»Voltare kann uns goldne Sittensprüche predigen, Tugend und Menschenliebe in seinen Versen vergöttern, und die Religion in tragischem Pompe aufführen. Er wird gefallen, aber niemals wird der Voltare erbauen, dessen ungöttlicher Leichtsinn, dessen sdimuziger Witz, dessen liebloser Eigennutz uns seine Sittensprüche, seine Reime von Tugend und Menschenliebe, und seine Religion verdächtig machen. Man muß ihn hassen, so bald man liest, wie edel er schreibt, und dennoch weis, wie 93

ziert hat, um sie auch literarisch zu diskreditieren; und daß andererseits die Bekundung einer biederen Gesinnung häufig ausgereicht hat, die pseudosatirischen Gebilde etwa eines G. W. Rabener in eine Reihe mit den Werken Lucians, Swifts oder Molieres zu stellen 18 . Diese Praxis beschränkte sich nicht nur auf das 18. Jahrhundert. Das Verständnis des Satirischen ist auch heute noch von zahlreichen Vorurteilen und sonst als längst überwunden geltenden Irrtümern belastet 19 . Daß die satirische Gestaltung durch religiöse oder moralische Bedenken stark beeinträchtigt werden kann, ist offenkundig. Ein von mannigfachen Gewissensskrupeln belasteter Protest muß zumindest einen Teil seiner provozierenden Wirkung einbüßen. Satirische oder polemische Werke können in dieser Zone einer an sich schätzbaren Gewissenhaftigkeit nidit gedeihen. Völlig unmöglich aber wird die Verwirklichung satirischer Intentionen, wenn sich der Autor durch die Sorge um eine mögliche Schädigung seines moralischen Rufes und seines gesellschaftlichen Ansehens gehemmt fühlt. Dadurch wird sein satirischer Elan paralysiert und seine Bewegungsfreiheit eingeengt. Hemmungen dieser Art sind nicht zu vertuschen. Das Produkt eines von solchen Rücksichten und Vorsichtsmaßnahmen gelähmten satirischen Ausdruckswillens ist die domestizierte Satire, die als sogenannte »allgemeine Satire« gerade in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts besonders häufig anzutreffen ist.

niedrig er denkt« (Rabener an Geliert am 25. 3. 1757; Briefe, hg. von C. F. Weiße, Leipzig 1772, S. 261). 18 Vgl. K. W. Ramler über Rabener: »Dieser Lieblingsschriftsteller der Nation hat in Prose gedichtet, wie Lucian und Swift. Ein lachender satirischer Genius, mehr voll Salz als voll Bitterkeit, männlich schön in seiner Schreibart, gerecht und lehrreich in seinem Tadel, ganz unerschöpflich in seinen Erfindungen. Welche Gallerie von Bildern, welche Verschiedenheit von Charaktern in seinem Swiftischen Testament, in dem Mährchen vom ersten April, im Deutschen Wörterbuch, in der Chronike und Todtenliste, in den Sprüchwörtern des Pansa und besonders in den Briefen, die er Personen von allen Ständen und Charaktern in die Feder legt! Ein Autor, der, wie Molière, mehr als eine Klasse von Zuschauern zu vergnügen, und mehr als eine Art der Thorheit zu bestrafen weiß« (Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux mit Zusätzen vermehret von Karl Wilhelm Ramler, Leipzig 41774, 3. Bd., S. 225). - Im Vorwort zu der von ihm besorgten Ausgabe von Gottlieb Wilhelm Rabener's sämmtlichen Werken (4 Bde., Stuttgart 1839) bezeichnet Ernst Ortlepp Rabener als den »größten deutschen Satiriker« (S. 9); »er reiht sich«, findet Ortlepp, »in die Rangordnung eines Lichtenberg, Jean Paul, Swift, Persius, Juvenal, Horaz, Lucian, Rabelais und der größten Satiriker, die seit 6000 Jahren lebten, ein, gegen die er als Original dasteht, weil keiner von ihnen mit Witz und satirischer Schärfe so edele und harmlose Absichten vereinigte« (S. 7). 19 Vgl. u. a. H . Hennecke, Einer gegen alle. Ein kritischer Versuch über Karl Kraus; in: Neue Deutsche H e f t e 55/1959, S. 974-988; 56/1959, S. 1081-1096.

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y . D I E »GEFALLENDE« SATIRE 1 Über Rabener und die Moralsatire als säkularisierte Predigt „Man soll Witz haben, aber nidit haben wollen, sonst entsteht Witzelei, alexandrinisdier Stil in Wltz

·"

(F. Schlegel, Athen.-Fragment 32)

1755, ein Jahr nach dem Erscheinen seiner »Aesthetik in einer Nuß« 2 , veröffentlichte Christoph Otto Frh. von Schönaich den »Versuch einer gefallenden Satire« 3 , in dem er »etwas zum Lobe der Aesthetiker« mitzuteilen versprach. Er habe, kündigte er an, mit Fleiß eine »gefallende Satire« schreiben wollen, um seinen Verleger »nicht durch eine verletzende in Ungelegenheit zu stürtzen« (7). Mit diesem Versprechen hat es der »neologische Lexicograph« (44) freilich bewenden lassen. Gefälligkeit oder gar Gefallsucht wird man dieser Schrift, in der Schönaich in ziemlich derber Manier mit den Kritikern seines Wörterbuchs abrechnete, nicht nachsagen können. Der Versudi endet zwar mit einer Ehrenerklärung für alle »in der Aesthetik in einer Nuß beleidigt seyn sollenden Personen« (44). Doch indem Schönaich die ironischen Lobpreisungen des Wörterbuchs widerruft, wird die »Ehrenerklärung« in ihr Gegenteil verkehrt und zu einem neuen Angriff auf Haller, Bodmer, Klopstock und Gleim ausgemünzt (vgl. 61-63). Wir können hier auf die Einzelheiten dieser Schrift - in der sich Schönaich übrigens als gelehriger Liscow-Schüler ausweist - nicht näher eingehen. Das wäre nur im Rahmen einer Untersuchung der häufig mit satirisdien Waffen ausgefochtenen literarischen Kontroverse zwischen Leipzig und Zürich möglich und sinnvoll 4 . Der »Versuch« soll vielmehr 1 S. a. Lichtenbergs spöttische Bemerkungen über die »verständige Satyre* (Aphorismen, ed. Leitzmann, D L D 136, E 110). 2 H g . von A. Köster, D L D 7 6 / 8 1 , Berlin 1900. 3 »Versudi einer gefallenden Satire; oder Etwas zum Lobe der Aesthetiker«, o. O. 1755; Inhalt: I. Todtenliste II. Demüthiges Sendschreiben oder niederschlagendes Pülverlein III. Ein Traum IV. Ehrenerklärung. 4 Vgl. die »Sammlung der Zürcherischen Streitschriften zur Verbesserung des deutschen Geschmackes, wider die Gottschedische Schule, von 1741 bis 1744«; neue Ausgabe in 12 Stücken, Zürich 1753.

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als praktischer Beitrag zu der Frage gewertet werden, ob es möglich sei, das satirische Strafamt auszuüben, ohne sich dadurch beim Publikum in Mißkredit zu setzen. Diese Frage wurde in den zeitgenössischen moralischen Wochenschriften lebhaft diskutiert. Herausgeber und Beiträger dieser nach englischem Vorbild geschaffenen Zeitschriften wurden nicht müde zu betonen, daß ihr »vornehmster Zweck« darin bestehe, die Unvernunft und das Laster auszurotten und Verstand und Tugend unter ihren Landsleuten zu befördern; eine »vernünfftige Satyre« trachte danach, die »Laster als auslachenswürdig vorzustellen und die Liebhaber derselben zu Spotte zu machen« ; deshalb sei die satirische Schreibart mit den »Begriffen einer gesunden Morale« durchaus vereinbar 5 . Weil ein »rechtschaffener Satiricus« nicht »seine Mitbürger, sondern die Laster verhaßt zu machen« sucht, verdiene er sogar den Titel eines Menschenfreunds. Die Pflicht eines satirischen Menschenfreunds aber bestehe darin, »die Sittenlehre auszubreiten«. »Eine redite Satire«, heißt es im 26. Stück des »Freymäurers«, »hat die Ausbreitung der Tugend zur Absicht, und greift nichts an, was nicht in die Wohlfahrt einer Republik einen Einfluß hat« 6 . Diese hausbackenen Darlegungen gründen auf der Überzeugung, daß die Satire - als »Schwester« der Moral 7 - ein »nöthiges Stück der Sittenlehre« sei 8 . Bereits 1721 war von Breitinger 9 die Ansicht vertreten worden, daß die »raisonnirende Morale« viel zu schwach sei, »uns von dem Laster abzuschrecken, und zu der Tugend zu determiniren« 10 . Breitinger hatte behauptet, daß es von einem »unendlichen grössern Nachdruck seye, wenn man die Morale durch die Exempel erlernet, als wenn sie in blossen Regeln vorgestellet wird« u . Für eine solche Art der Belehrung schien ihm die »satyrische Schreibens-Art« besonders geeignet: » D e r Mensch siehet seine eigene Flecken und M a a s e n , die ihn so häßlich verstellen, nicht ohne einen Spiegel; E i n e gerechte S a t y r e dienet ihm nun an statt eines Spiegels, wenn er sich darinne beschauet, sie entdecket ihm 5 Die vernünftigen Tadlerinnen (II, 19, S. 148). Zitiert nach W. Härtung, Die deutschen moralischen Wochenschriften als Vorbild G. W. Rabeners, Hermaea I X , Halle 1911, S. 65. 8 W. Härtung, a.a.O., S. 67. 7 Gottlieb Wilhelm Rabeners Sämmtliche Schriften, 6 Tie. (in 3 Bdn.), Leipzig 1777; das Zitat: IV, 10. 9 Rabener, a.a.O., II, 25. 9 In: Die Discourse der Mahlern. 1721-1722, hg. von Th. Vetter, Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz, 2. Serie, 2. Heft, Frauenfeld 1891. 10 Discourse, 101. 11 Discourse, 104.

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die Häßliclikeit seiner Lastern, die ihm seine Selbstliebe verborgen hält, in fremden Exempeln, und erwecket in ihm ein Absdieuen vor denselben.« 12

Nach diesem Prinzip wurden die englischen, schweizerischen und deutschen moralischen Wochenschriften geschrieben und redigiert. Man war sich darüber einig, daß der abstrakte, »dogmatische« Vortrag von Morallehren die Leser nicht mehr zu erreichen vermochte. Es war notwendig geworden, die »Regeln in Exempel zu verstecken, und also der Sittenlehre das liebliche Wesen einer Historie zu ertheilen«; man mußte Fabeln ersinnen, um »die Wahrheit zu versüssen«, wie es in den von Gottsched 1725 begründeten »Vernünftigen Tadlerinnen« heißt 1 3 . Das Publikum scheint diese »aufgeweckte«, im Plauderton vorgetragene Art der Erbauung und Belehrung genossen zu haben. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erschienen allein in Deutschland über 500 moralische Wochenschriften. Die tief eingewurzelten Bedenken gegen die satirische Schreibart waren jedoch in der Praxis viel schwerer zu zerstreuen als in der Theorie. Die staatlichen und kirchlichen Zensurbehörden und weite Teile der Leserschaft waren von der Notwendigkeit und N ü t z lichkeit des Satirisierens nicht zu überzeugen; auch die Moral-Satire blieb suspekt und den Satirikern selbst half es wenig, daß sie bei jeder Gelegenheit ihren Abscheu vor dem Pasquillanten tum bekundeten; sie galten auch weiterhin als die »Erbfeinde der Menschen« 14 . Unter diesen Umständen mußte das Ideal einer »gefallenden Satire« natürlich eine starke Anziehungskraft ausüben; besonders auf jene Autoren, denen an einem regelmäßigen Manuskriptabsatz und an der pünktlichen Honorarzahlung mehr gelegen war als an dem BesserungsefFekt ihrer Schriften. Wer als Moralsatiriker einigermaßen risikolos schreiben wollte, mußte versuchen, diesem Ideal nahe zu kommen. Die meisten satirischen Publikationen des 18. Jahrhunderts (erst seit 1789 bahnt sich hier ein Wandel an) bezeugen in der Tat einen grenzenlosen Respekt vor der Empfindlichkeit des Publikums und vor den unberechenbaren Reaktionen der allmächtigen Zensur. Die Angst vor der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses bestimmte den Charakter dieser Pseudosatiren. Liscow hatte den verkrampften Witz, den gefallsüchtigen Spott und die platten Harmonisierungstendenzen der meist anonym schreibenden »Lustigmacher« und DuodezSwifte bereits 1742 scharf verurteilt 1 5 . Auch Schönaich ist sich fraglos 12

13 Discourse, 105. Zitiert nach W. Härtung, a.a.O., S. 66. Rabener, a.a.O., II, 247. 15 Vgl. seine Vorrede zur 2. Auflage der Longin-Ausgabe von C. H . Heineken, Dresden 1742, bes. S. 31 ff. In dieser Vorrede bezeugt Liscow eine von seinen Zeitgenossen unerreichte Perfektion in der Kunst des »spielenden Vertilgens«; daneben 14

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darüber klar gewesen, daß die »gefallende Satire« einen Widerspruch in sich darstellt. Dagegen scheint Gottlieb Wilhelm Rabener18 ernstlich an die Vereinigung des im Grunde Unvereinbaren geglaubt zu haben. An Geliert schreibt er am 19. Januar 1756, daß er immer den »seltnen Hochmuth« gehabt habe, »zu wünschen, daß meine Satiren das Siegel der Orthodoxie erhalten möchten; und es ist mir immer erfreulich, wenn meine Schriften auch denen gefallen, die den Beruf eben nicht haben, witzig zu seyn« Der Gedanke, daß sein satirisches Wirken durch den Beifall des Publikums kompromittiert werden könnte, hat ihn nie beunruhigt. Wohl aber hat er mit bemerkenswertem Eifer seine Kritiker und Gegner davon zu überzeugen versucht, daß es ein »unschuldiges Vergnügen« (II, 27) sei, »mit lachendem Munde das Thörichte an den Menschen« zu entdecken (II, 248). Geradezu leidenschaftlich hat sich Rabener gegen die Unterstellung gewehrt, daß die Figuren seiner allgemeinen Satire nach lebenden Vorbildern modelliert seien; die nicht ganz unbegreifliche Neigung der Leser, seine als Schlüssel-Satiren verstandenen Schriften zu dechiffrieren, konnte den sonst »friedfertigen Autor« 18 aufs äußerste erbittern. Inhalt und Tendenz von Rabeners zahlreichen Rechtfertigungsschriften 19 sind von der Forschung oft genug behandelt worden. Wir können uns daher auf die Zusammenstellung des Wesentlichen beschränken. Zwei Anliegen sind ihm besonders wichtig: die deutliche Unterscheidung der Satire vom Pasquill und die Verteidigung der allgemeinen gegen die persönliche Satire. Was Rabener dazu zu sagen hat, ist nicht neu. Seine theoretischen Schriften enthalten vielmehr eine unsystematische, im Plauderton vorgetragene Kompilation von durchaus zeittypischen Anschauungen. Die moralischen Wochenschriften waren seine wichtigste Informationsquelle20. Aus der in diesen Journalen über den Nutzen und die Gefahren des Satirisierens geführten Diskussion hat wirkt etwa Pyras polternder »Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe« (Hamburg/Leipzig 1743) ausgesprochen dilettantisch. 16 Teil- und Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Anm. 7 genannte Ausgabe. 17 G. W. Rabeners Briefe, von ihm selbst gesammlet und nach seinem Tode, nebst einer Nachricht von seinem Leben und Schriften hg. von C. F. Weiße, Leipzig 1772, S. 257. 18 Rabener, Briefe, S. 300; vgl. Schriften II, 307; V, 142. 19 Vom Mißbraudie der Satyre (I, 84 ff.); Sendschreiben von der Zuläßigkeit der Satyre (II, 24 ff.); Vorbericht zu den satyrischen Briefen (III, 5 ff.); Vorberidit zum 4. Teil der Satyren (IV, 5 ff.); Abbitte und Ehrenerklärung (V, 150 ff.). Vgl. W. Härtung, a.a.O., S. 154 f.

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er zahlreiche Gedanken und Formulierungen entlehnt 21 . Nicht zu übersehen sind ferner die größtenteils nur geringfügig modifizierten Anleihen aus Gottscheds »Critischer Dichtkunst« und aus Liscows Schriften. Mit großem Nachdruck hat Rabener vor dem Mißbrauch der Satire gewarnt. Die Nützlichkeit oder Notwendigkeit der satirischen Schreibart hat er nie direkt zu erweisen gewagt. Er zog es vor, nur von der »Zulässigkeit« der Satire zu sprechen. Auch darin bekundet sich jene Vorsicht, die für Wesen und Werk dieses Mannes charakteristisch ist. Durchaus nach zeitüblicher Gepflogenheit hat er die Frage nach dem Unterschied zwischen der Satire und dem Pasquill behandelt: sie wird nicht an Texten überprüft, sondern durch eine Konfrontation typischer Vertreter der beiden Schreibarten beantwortet. Der Figur des menschenfreundlichen Satirikers stellt Rabener die des grundbösen, lasterhaften Pasquillanten gegenüber, dessen Bosheit ihm gefährlicher erscheint »als die Tücke des Straßenräubers«. »Er verdient, wie dieser, die Rache der Gesetze, und er ist unwürdig, daß wir weiter seiner gedenken« (I, 94). In umso hellerem Licht läßt Rabener dagegen die Tugenden des »rechtschaffenen« Satirikers erstrahlen: »Das Ehrwürdige der Religion muß seine ganze Seele erfüllen. Nach der Religion muß ihm der Thron der Fürsten, und das Ansehen der Obern das Heiligste seyn. Die Religion und den Fürsten zu beleidigen, ist ihm der schrecklichste Gedanke. Er liebt seinen Mitbürger aufrichtig. Ist dieser lasterhaft, so liebt er den Mitbürger dodi, und verabscheut den Lasterhaften. D i e Laster wird er tadeln, ohne der öffentlichen Beschimpfung die Person desjenigen auszustellen, welcher lasterhaft ist, und noch tugendhaft werden kann. Er muß eine edle Freude empfinden, wenn er sieht, daß sein Spott dem Vaterlande einen guten Bürger erhält, und einen andern zwingt, daß er aufhöre, lächerlich und lasterhaft zu seyn. Er muß die Welt und das ganze Herz der Menschen, aber vor allen Dingen muß er sich selbst kennen. Er muß liebreich seyn, wenn er bitter ist. Er muß mit einer ernsthaften Vorsicht dasjenige wohl überlegen, was er in einen scherzhaften Vortrag einkleiden will. Mit einem Worte, er muß ein rechtschaffner Mann seyn!« (I, 93)

Diesem Tugendkatalog folgt eine lange Verbotsliste. Scharf verurteilt Rabener die verbrecherische Verwegenheit derer, welche die »Aufführung der Obern verhaßt oder lächerlich machen wollen«; solche Spötter hätten nodi nicht gelernt, »gute Unterthanen« zu sein; sie seien daher auch nicht imstande, uns die »Pflichten eines vernünftigen Bürgers« zu lehren. Auch die Fehler der Lehrer dürfe man, wenn überhaupt, nur " Belege bei W. Härtung, a.a.O., S. 61-68.

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»mit vieler Mäßigung« rügen (I, 99 f.). »In der That erschrecke ich allemal, wenn idi sehe, daß ein Schulmann unter die Geißel der Satyre fällt« (I, 101). Die Schüler würden dadurch nur noch mutwilliger und die durch »bittre Satyren« (I, 100) gereizten Lehrer würden nicht aufhören, der Jugend »fürchterliche Begriffe von der Satyre beyzubringen« (1,101). Schließlich fordert Rabener, daß auch die Geistlichen (die in seiner Aufzählung erst nach den Lehrern rangieren) von dem Witz satirischer K ö p f e verschont bleiben sollten. Wer die Fehler dieses Standes zu tadeln sucht, könne »nicht vorsichtig genug dabey verfahren« (I, 101). Der Spott auf die Geistlichkeit setze zumindest in den Augen der unkritischen Leser auch das Ansehen der Religion herab, »welche man dem Volke nicht ehrwürdig genug vorstellen kann« (I, 102) 2 2 . Rabener empfiehlt deshalb, die Bestrafung von wirklich lasterhaften Geistlichen der Obrigkeit zu überlassen; gegenüber verzeihlichen Schwächen rät er zu Nachsicht und Geduld 2 3 . Als besonders abgeschmackt empfindet er die Späße der »bibelfesten Lustigmacher« (I, 105), die, wie er sagt, eine ganze »satyrische Concordanz« in Bereitschaft halten, um »auf Unkosten der Bibel« ihren Witz zu zeigen (I, 104). Das alles sind höchst respektable Forderungen. Es bleibt aber die Frage, ob ein Autor innerhalb der von der Vorsicht und der Rechtschaffenheit gezogenen Grenzen noch genügend kritischen und darstellerischen Spielraum besitzt, um als Satiriker wirken zu können. Audi diese Schwierigkeit glaubt Rabener mit der Aufstellung von weiteren Gebotsund Verbotstafeln beheben zu können: »Die Schreibart«, betont er, »deren man sich bey der Satyre bedienet, will mit einer außerordentlichen Vorsicht gewählt seyn, wenn sie nicht anstößig werden und den Leser wider die Satyre aufbringen soll« (I, 98). Der Vortrag des Satirikers muß »ordentlich« sein, wenn er überzeugen soll; er darf nicht »ausschweifend« sein, seine Überlegung muß mehr Anteil daran haben als seine Einbildungskraft (vgl. II, 32). Audi »dunkel« zu sein, schickt sich für ihn nicht, da er ja den Verstand seiner Leser nicht ermüden, 2 2 J . J . B o d m e r hält dagegen den S p o t t über Geistliche unter gewissen Bedingungen f ü r erlaubt; vgl. die v o n B. herausgegebene Monatsschrift » C r i t o « , B d . I (Zürich 1751), S. 131 ff.; A u s z ü g e bei J . Mühlhaus, G . W. Rabener. Ein Beitrag zur Literatur- und Kulturgeschichte des 18. J a h r h u n d e r t s , Diss. M a r b u r g 1908, S. 49 f. 2 3 Unnachsichtig ist R a b e n e r jedoch gegenüber den aus den Reihen der Geistlichkeit stammenden Feinden der S a t i r e ; Geistliche, die mit » f r e u d i g e r Rache« das Wehe über einen Satiriker rufen, der » n u r aus w a h r e r Hochachtung f ü r die Religion ihren lasterhaften Diener e n t l a r v e n « wollte, solle m a n »ohne B a r m h e r z i g k e i t vertilgen« (I, 8 f.).

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sondern belustigen will; alle niederträchtige und anstößige Schreibart hat er zu vermeiden, denn einem »Sittenlehrer« ist es nicht erlaubt, zu schmähen und zu schimpfen. »Die Erbauung muß allezeit die Hauptabsicht einer Satyre seyn« (II, 27). Der vernünftige Satiriker wird sidi deshalb vor allen persönlichen Angriffen hüten, er wird die Laster tadeln, nicht aber die Personen (vgl. II, 29); mit anderen Worten: er wird der allgemeinen Satire den unbedingten Vorzug vor der persönlichen geben. Dadurch daß er Laster oder Fehler, »welche vielen zugleich gemein sind« (I, 117), zum Gegenstand seiner Satiren wählt, entkräftet er den Vorwurf, aus persönlichem Haß, aus Privatleidenschaft oder Rachbegierde geschrieben zu haben; er wird sich das »Zutrauen der Leser« erwerben und sie davon überzeugen, daß seine Absichten »tugendhaft, billig und uneigennützig« sind (I, 117; vgl. II, 307). »Es kann nicht fehlen«, ruft Rabener aus, »eine allgemeine Satyre muß eine allgemeine Besserung wirken« (I, 117). Auch Rabener schafft sich also, wie die meisten seiner schreibenden Zeitgenossen, ein moralisches Alibi. Er beteuert immer wieder, daß er »nur die Fehler der Menschen verfolgt, die Menschen aber, als ein vernünftiger Mitbürger« geliebt habe (I, 120). Wenn man dem Theoretiker Glauben schenken darf, scheint er sich auch redliche Mühe gegeben zu haben, »keinen zu beleidigen, sondern alle zu bessern« (1,120). Aber diese Vorsätze und Tendenzen teilt er mit den zeitgenössischen Fabeldichtern und Popularphilosophen, sie qualifizieren ihn keineswegs zum Satiriker; dasselbe gilt auch von jenem frohgemuten Optimismus, den er in dem »Glaubensbekenntniß« (III, 12) seiner Satire zur Schau trägt. Dabei hat Rabener sehr wohl gewußt, daß aus der transzendentalen Verwurzelung der Satire Forderungen erwachsen, die weit über das hinausgehen, was etwa einer rein immanenten Moral- oder Gesellschaftskritik aufgegeben sein mag. In dem 1742 zum ersten Mal gedruckten »Sendschreiben von der Zuläßigkeit der Satyre« lesen wir: »Wenn die Satyre die Laster der Menschen straft; so vertritt sie die Stelle der Wahrheit« (II, 30). Hier ist der metaphysisch fundierte Anspruch der Satire genau definiert. Damit wird aber auch deutlich, daß die »gefallende Satire« diesem Anspruch nicht zu genügen vermag; denn die Wahrheit - auch das sieht Rabener - leidet »keine Verstellung, noch einiges Ansehen der Person«, sie duldet weder Kompromisse noch Konzessionen. »Also könnte es auch scheinen«, fährt Rabener fort, daß die »Satyre keines Menschen schonen dürfe«. Viele Leser, besonders die jungen Leute, würden diese Konsequenz sicher gutheißen; er selbst aber sei darüber »ganz andrer Meynung« : 101

»So verhaßt mir die Lüge ist, so unbesonnen scheint es zu seyn, wenn idi allemal die Wahrheit reden wollte. Kann ich durch ein vernünftiges Stillschweigen so wohl meinen Pflichten, als der geselligen Klugheit, Genüge thun, so thue ich am besten, wenn ich schweige... der Schade, welchen wir durch eine unüberlegte Freymüthigkeit uns selbst augenscheinlich zuziehen, ist wichtiger, als der ungewisse Nutzen, den wir durch eine unbedachtsame Satyre zu schaffen suchen« (II, 31). Rabener hat sich, wie man sieht, die Verteidigung seines Standpunktes sehr leicht gemacht: die »Stelle der Wahrheit« vertreten oder »allemal die Wahrheit reden« ist nicht dasselbe. Die »unüberlegte Freymüthigkeit« geschwätziger Nörgler und Besserwisser hat mit der Wahrheitsliebe jener Satiriker, die sich als Repräsentanten des Absoluten fühlen, keinerlei Berührungspunkte. Rabener aber versucht, beide auf die Gebote der »geselligen Klugheit« zu verpflichten. Dadurch wird der Unterschied zwischen der strafenden und der scherzhaft erbaulichen Satire eingeebnet: eine folgenschwere Manipulation, die ihn bereits in dem »Lebenslauf eines Märtyrers der Wahrheit« (1742) in peinliche Widersprüche verstrickt hatte. a) Lebenslauf eines Märtyrers der Wahrheit Diese Satire erschien zwei Monate vor dem Sendschreiben. Sie war angeblich zur »nachdrücklichen Warnung« all derer geschrieben, die sich einbilden, »es sey ein großmüthiger Eifer für die Wahrheit, wenn sie, ohne Ansehen der Person, ohne Freunde und Vorgesetzte zu schonen, dasjenige mit einer unverschämten Stirn andern unter die Augen sagen, was ihnen oftmals Eigenliebe, Hochmuth, Undank und Unvernunft in den Mund legen« (II, 23). Daß es gefährlich ist, allemal die Wahrheit zu sagen, war auch schon zu Rabeners Zeiten eine eher zu sorgfältig beobachtete Binsenweisheit, die im Grunde keiner besonderen Demonstration bedurft hätte. Indessen war es auch gar nicht Rabeners eigentliche Absicht, seine Leser von den Vorteilen des »vernünftigen Stillschweigens« zu überzeugen. Das mit deutlich spürbarer Schadenfreude ausgemalte Exempel vom Leben und Sterben eines sogenannten Märtyrers benutzt er vielmehr als Einkleidung für eine in eigener Sache geschriebene Schutzschrift. Als Versuch einer indirekten Selbstrechtfertigung aber verdient der »Lebenslauf« unser besonderes Interesse; und zwar weniger um des ausdrücklich Mitgeteilten willen, als auf Grund dessen, was Rabener hier verschweigt oder nur andeutet. Geschildert wird die Geschichte eines Mannes, der die bedenkliche Angewohnheit hat, das was er denkt auch offen zu sagen. Diesen Wahrheitseifer bekundet er vornehmlich in solchen Situationen, die durch die 102

Beobachtung der gesellschaftlichen Spielregeln ohne Schwierigkeiten zu meistern gewesen wären. Daß er gelegentlich »nicht allein die Laster, sondern auch die Personen auf eine satyrische Art in Versen« (II, 19) abschildert, ist ein besonderes Charakteristikum seiner Ruchlosigkeit. Natürlich muß er für diesen Leichtsinn teuer bezahlen: er überwirft sich mit seiner Mutter, verfeindet sich mit seinen Lehrern und Mitschülern und später auch mit seinen Amtsvorgesetzten; er wird verfolgt, geächtet und stirbt schließlich in der äußersten Armut. Sein Leichnam, notiert der gewissenhafte Chronist, »ward auf die Anatomie verkauft, um die nöthigsten Schulden zu bezahlen« (1,195). Rabener hat alles darauf angelegt, dem Freimut dieses weltunerfahrenen Pedanten ein möglichst lächerliches Ansehen zu geben. Dieser Eifer, der eine verräterische Aussagekraft besitzt, hat ihn jedoch in die Irre geführt. Was für ein Stoff wurde da vertan! Rabener übersieht, daß sein Held zwar kein Märtyrer ist, wohl aber das Opfer einer total verderbten Welt; er nimmt keinen Anstoß daran, daß die Torheit dieses »Märtyrers« von der Bosheit der ihn umgebenden Welt weit übertroffen wird; auch die Methoden, mit deren Hilfe sich die korrupte Gesellschaft des im Grunde harmlosen Außenseiters entledigt, vermögen seinen satirischen Unwillen nicht zu entzünden; einzig der Verstoß gegen die gesellschaftlichen Konventionen bringt ihn in Harnisch. Damit wendet sich aber das zum Zweck der Abschreckung konstruierte Exempel von den bösen Folgen eines offenbar arglosen Freimuts gegen den Autor selbst: indem Rabener nämlich gegen seinen »Helden« Partei ergreift, wird er zum Bundesgenossen der Heuchelei, der Lüge und der Brutalität. Das heißt aber auch, daß sein ohnehin fragwürdiger Versuch, die eigene satirische Praxis am Beispiel des »Lebenslaufs« zu rechtfertigen, als gescheitert gelten muß. Fatal genug, daß der »Lebenslauf« nicht genau erkennen läßt, ob Rabener überhaupt imstande gewesen ist, den wirklichen Märtyrer von dem Opfer eines einfältigen Wahrheitsdranges zu unterscheiden. Noch schwerer wiegt, daß er zwar den unvernünftigen »Eifer für die Wahrheit« (II, 23) tadelt, nicht aber die Gesellschaft, die diesen Eifer mit rücksichtsloser Härte straft. Sein Abscheu vor der Torheit des »Märtyrers« verleitet ihn sogar, diese Torheit der Gerichtsbarkeit des Lasters auszuliefern, womit erwiesen ist, daß die Proklamation der »geselligen Klugheit« als satirische Tugend zu unmoralischen Konsequenzen führt 2 4 . M Völlig hilflos steht K a r l Kühne diesem Text gegenüber. »Der H a ß der Menschen gegen den Satiriker«, behauptet er, »ist hier der Gegenstand, ein Lebenslauf die Ein-

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Rabener selbst freilich bemerkt gar nicht, wie fragwürdig die Position ist, die er als Verfasser des »Lebenslaufs« bezieht. Die folgenden Sätze zeigen vielmehr unmißverständlich, daß er in der gesellschaftlichen Ächtung des »Märtyrers« eine verdiente Züchtigung gesehen hat. »Die Wahrheit, so edel sie ist«, erklärt er im »Sendschreiben«, »macht dennoch auch Feinde. Es würde unbedachtsam seyn, wenn man bey aller Gelegenheit die Wahrheit sagen wollte, und ich glaube, wer Satyren schreiben will, der muß seine Umstände wissen, und allerdings vorsichtig seyn« (II, 28). Die Wahrheit zu sagen, hält er also nur dann für vernünftig und zweckmäßig, wenn dies ohne Gefährdung der eigenen Person möglich ist; denn: die »Pflichten gegen uns sind stärker, als die Pflichten, welche wir andern schuldig sind« (II, 31). Das sich hier und in zahlreichen gleichlautenden Äußerungen bekundende Sicherheitsbedürfnis wäre zweifellos leicht zu befriedigen gewesen, wenn Rabener sich hätte entschließen können, überhaupt nicht zu schreiben. Zu einer so radikalen literarischen Abstinenz konnte er sich indessen nicht verstehen. Er gibt zwar zu, daß es den »Regeln der Klugheit« eigentlich zuwiderlaufe, der »gefährlichen Arbeit« des Satirisierens nicht zu entsagen. Immerhin hat Rabener aber der Nachwelt vier Bände Satiren hinterlassen. Man wird also annehmen dürfen, daß sein literarischer Ehrgeiz noch stärker war als seine Furcht vor möglicherweise feindseligen Reaktionen der Leserschaft. Freilich: dieser Autor, dem nach seinem eigenen Eingeständnis »nichts lieber, als Ruhe und Frieden« (I, 128) war, hat sich ängstlich davor gehütet, den Unwillen seiner Leser herauszufordern. Dagegen verspricht er, der Satire jenes »ehrwürdige Ansehen« zu erwerben, das ihr »als einer Verehrerinn der Religion, als einer Freundinn der Tugend, als einer unversöhnlichen Feindinn der ungesitteten Thoren gebührt« (IV, 18). Angespornt von der »allgemeinen Menschenliebe« setzt er sich zum Ziel, die »Laster zu schrecken, die lächerlichen Fehler den Menschen verächtlich vorzukleidung des Stückes. D e r A u f s a t z mutet sehr m e r k w ü r d i g an und fällt g a n z aus dem R a h m e n « (Studien über den M o r a l s a t i r i k e r G . W. Rabener, Diss. Berlin 1914, S. 3 6 ) ; aus dem R a h m e n f ä l l t er deshalb, weil es K . nicht gelingt, ein V o r b i l d f ü r diese Satire ausfindig z u machen. Sein modellphilologischer Ehrgeiz hindert ihn an der unbefangenen P r ü f u n g des Textes. Als wenig zuverlässig erweist sich K . auch bei der A u s wertung der U r t e i l e über R a b e n e r . E r kennt z w a r den Briefwechsel » Ü b e r den Werth einiger Deutschen Dichter«; seine Z i t a t e aus dieser K o r r e s p o n d e n z ( V I I I f. und 111) erwecken jedoch den Anschein, als hätten M a u v i l l o n und U n z e r zu den kritiklosen Bewunderern R a b e n e r s gehört; ihre massiven E i n w ä n d e gegen R a b e n e r s » L u s t i g machersstreidie« werden mit keinem Wort erwähnt. D a s Ergebnis seiner Studien f a ß t K . in einem S a t z zusammen, der zu satirischer Glossierung reizt: R a b e n e r w a r , e r f a h ren wir, »kein D e n k e r und auch kein Dichter, er w a r nur ein deutscher A u t o r « (a.a.O., S. 111).

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stellen, vernünftige Bürger zu schaffen, alle Welt mit mir glücklich zu machen« (I, 92). H a t Rabener dieses Programm zu realisieren vermocht? Eine kritische Musterung seines Gesamtwerks ergibt, daß er nicht einmal stark reduzierte Erwartungen zu befriedigen imstande ist. So sind etwa die »Klage wider dieweitläuftige Schreibart«, die »Lobschrift auf Amouretten, ein Schooßhündchen«, die »Trauerrede eines Wittwers auf den Tod seiner Frau, in der Gesellschaft der geplagten Männer gehalten«, die »Abhandlung von Buchdruckerstöcken«, das »Rechtliche I n f o r m a t über die Frage: O b ein Poet, als Poet, zur Kopfsteuer zu ziehen sey?« oder der »Roman von einer Fräulein, die der G r o ß v a t e r und Enkel zugleich liebt« weder belehrend noch erbaulich, ja nicht einmal belustigend. H i e r hat nicht die allgemeine Menschenliebe Rabeners Feder geführt, sondern die Vorsicht und der Wunsch, auf möglichst billige Weise zu dem R u h m eines »witzigen Kopfes« zu gelangen. Es lohnt sich kaum, auf diese »Lustigmachersstreiche« näher einzugehen. Aufschlußreich ist dagegen die Untersuchung jener Stücke, in denen Rabener den »ungesitteten Thoren« zu Leibe rückt. Auch hier geht er, wie zu erwarten, äußerst vorsichtig zu Werke, was zunächst an der »Todtenliste von Nicolaus Klimen« (II, 44 ff.)25 gezeigt werden soll. b) Eine Todtenliste von Nicolaus

Klimen

Die Verschleierung der Autorschaft erfolgt wiederum nach bewährtem Rezept. Rabener operiert mit der Herausgeber-Fiktion: als Verfasser der »Todtenliste« erscheint Nicolaus Klim, Küster an der Kreuzkirche zu Bergen in Norwegen, und als Herausgeber dieser Aufzeichnungen fungiert B. Abelinson, ein Landsmann des Küsters. Das norwegische Kostüm soll Rabener gegen die »lieblose Deutungsbegierde« (V, 142) des »witzigen Pöbels« sichern, der »immer an dem Orte, wo der Verfasser schreibt, die Originale zuerst sucht« (IV, 9) 2 e . Die »Todtenliste« u m f a ß t 23 Nekrologe auf Personen, die während der Amtszeit des Küsters in Bergen gestorben waren. In diesen Nachrufen enthüllt Klim den wahren Charakter seiner abgeschiedenen Mitbürger, die auf den Kanzeln als »Hochedle, Hochgelahrte, Hochweise, Ehrsame und Tugendbelobte« (II, 45) gerühmt worden waren. 25 Erstveröffentlichung 1743 in den »Belustigungen des Verstandes und des Witzes«; zur Quellenfrage vgl. K. Kühne, a.a.O., S. 39-42; W. Härtung, a.a.O., S. 75. 28 Eine »Unbilligkeit«, die Rabener bei seinem »gegenwärtigen Amte doppelt empfindlich« war (IV, 9).

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In Wahrheit jedoch habe keiner von ihnen begründeten Anspruch auf einen dieser Titel gehabt, bemerkt der »Herausgeber«. Er findet es unbillig, daß »wir denjenigen im Grabe loben, welcher sich auf der Welt um einen guten Namen nicht bekümmert hat« und glaubt, durch die Veröffentlichung der Totenliste die »Ehre der Wahrheit« (II, 45) wiederherstellen zu können. Nahezu das gesamte Personal der traditionellen Ständesatire ist in Klims Narrengalerie versammelt: ein Arzt, ein Advokat, ein Poet, ein verbuhltes Frauenzimmer, eine Frömmlerin, ein adliger Nimrod, habgierige Kaufleute, träge Beamte und etliche Vertreter der Gelehrten-Republik; dagegen fehlen die Lehrer und die »Thoren aus den Palästen und Antichambern« 27 . Daß aus dem Lebenslauf eines als hochmütig und geizig bezeichneten Geistlichen nur ein stark verstümmeltes Bruchstück abgedruckt werden konnte, führt der Herausgeber darauf zurück, daß ein großer Teil des Manuskripts durch die Unachtsamkeit der Klinischen Erben verloren gegangen sei. Man sieht: Rabener hat bei der Auswahl der Narren größte Vorsicht walten lassen. Gar nicht ängstlich zeigt er sich dagegen bei der Schilderung der einzelnen Figuren seiner Liste. Um die Diskrepanz zwischen Sein und Schein möglichst deutlich zu machen, wird keiner der Abgeschiedenen geschont. Für jeden Bürger entwirft Rabener einen steckbriefartigen Lebenslauf, in dem die Torheiten und Laster, die Verbrechen und Ausschweifungen der Verblichenen sorgfältig registriert werden. Rabener weiß, was er seinem Publikum schuldig ist. Er spart nicht mit Enthüllungen; seine Spezialität sind diskrete Indiskretionen etwa der folgenden Art: »Ich verschweige es (den Fehltritt) nur aus Hochachtung gegen meine ehem a l i g e Schöne, und k r a f t tragender Amtspflicht, w a s ich in unserm K i r d i e n buche g e f u n d e n habe. D e r hollsteinisdie E d e l m a n n ist noch vielen b e k a n n t ; er hätte freylich sein W o r t halten sollen; doch hat er auch allemal bezahlt, als ein ehrlicher C a v a l i e r . D o d i genug! W ä r e ich nicht K ü s t e r , so d ü r f t e ich mehr reden« ( I I , 5 4 ; s. a. 69).

Besondere Fertigkeit entwickelt er bei der Erfindung und Montage abnormer Eigenschaften, was ein Auszug aus dem Lebenslauf des Kaufmanns Karl Hunding verdeutlichen mag: » S o oft ihm seine F r a u ein K i n d zur Welt brachte, so oft k l a g t e er, d a ß er in seiner N a h r u n g einen empfindlichen S t o ß erlitte; denn K i n d e r wären fressende K a p i t a l i e n . A l s sie z u m f ü n f t e n m a l e in die Wochen k a m , so schien er g a n z u n t r ö s t b a r ; d a er aber g a r hörte, daß es eine Tochter w ä r e , so gerieth er in eine solche V e r z w e i f l u n g , daß er Bonis cediren w o l l t e : weil er 27

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Briefe, S. X L I I I .

glaubte, wer Töchter hätte, und sie nadi der Mode erziehen sollte, der müsse bankerot werden, er sey auch so ehrlich, als er wolle. Starb ihm ein Kind, so war er allemal so vergnügt darüber, als wäre ihm eine ungewisse Schuld eingegangen. Seine Frau gewöhnte er zu allen Arten der Mäßigkeit, und sie würde sich haben sehr elend behelfen müssen, wenn sie nicht schön ausgesehen hätte; auf solche Weise aber fanden sich verschiedne Liebhaber ihrer Waare, und sie verstand ihren Handel vortrefflich. Der Mann wußte dieses; er schien aber nicht eifersüchtig zu seyn; denn er meynte, es müsse jedermann mit seinem Pfunde wuchern, so gut er könne; seine Frau thue nichts umsonst, und was ihm dadurch an der Ehre abgienge, das komme ihm am Gelde wieder zu gute; er gewinne also mehr dabey, als er verliere« (II, 65). Selbst dieses scheinbare Optimum an Geschmacklosigkeit vermag Rabener noch zu überbieten. Der vorletzte Abschnitt der Totenliste hat folgenden Wortlaut: »Friedlev Frohton. Dieses hoffnungsvolle Kind hat sein Leben nicht höher gebradit, als auf ein Jahr und drey Tage. Sein Vater, der Apotheker in Bergen, kann sich über den frühzeitigen Verlust dieses tugendhaften Söhnleins noch itzt nicht trösten. Er fand einen recht männlichen Verstand an demselben, welches ihn vielmals auf die zweifelhaften Gedanken gebracht hat, ob es audi wirklich sein eigner Sohn wäre. Alle Handlungen dieses Kindes verriethen, seiner Meynung nach, eine große Seele. Wenn es auf seinem Stühldien saß, so machte es eine ernsthafte Miene, als ein Arzt, welcher bey dem Krankenbette sitzt, und zweifelhaft ist, ob er den Patienten an Pulvern oder an Tropfen sterben lassen will. Eben diese ernsthafte Miene hielt der aufmerksame Vater für einen untrüglichen Beruf, daß sein Sohn in Doctorem Medicinae promoviren müßte; nur war er noch zweifelhaft, ob es zu Upsal oder zu Kopenhagen geschehen sollte, welche Ungewißheit ihm viel schlaflose Nächte machte. Schon im Geiste stellte er sich vor, wie ansehnlich der junge Herr Doctor Frohton in einer sammtnen Weste einher treten, und den Glanz seines väterlichen Hauses empor bringen würde. Aber auf einmal verschwand diese süße Einbildung durch den Tod des hoffnungsvollen Knabens, und der unglückliche Vater hatte weiter keinen Trost, als diesen, daß er unter seinen Händen starb; denn er war eben im Begriffe, ihm das letzte Klystier zu setzen, als er verschied« (II, 67 f.). Das ist gewiß keine erbauliche Lektüre. Wir mußten hier jedoch ausführlich zitieren, weil nur eine reiche Dokumentation eine zulängliche Vorstellung davon zu vermitteln vermag, welcher Brutalität und Rücksichtslosigkeit dieser angeblich so friedfertige Autor fähig war. Der älteren Rabener-Forsdiung ist das erstaunlicherweise entgangen. Erst neuerdings hat Hansuli Wyder 2 8 auf die Vieldeutigkeit von Rabeners »allgemeiner Menschenliebe« hingewiesen. In dem »grausam-grotesken Spiel«, das der Autor mit seinen Figuren treibt, bekundet sich nach ω

H . Wyder, G. W. Rabener. Poetische Welt und Realität; Diss. Zürich 1953.

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Wyders Ansidit der »Wille zur Vernichtung des Gefährlichen«, der »mit dem Dasein des Satirikers untrennbar verbunden« sei 29 . Wyder hat richtig gesehen, daß Rabener oft von einer bemerkenswerten »Härte und Rücksichtslosigkeit« 30 sein konnte. Aber es ist ihm nicht gelungen, diesen Sachverhalt zu erklären. Rabener hat nämlich keineswegs den Ehrgeiz gehabt, das Gefährliche zu vernichten. »Mit den Kathederthoren und Narren aus den drey Facultäten«, schreibt er an C. F. Weiße, »konnte ich fertig werden . . . aber die Thoren aus den Palästen und den Antichambern sind mir zu gefährlich« 31 . Auch in der »Todtenliste« ist er jedem wirklichen Risiko ängstlich aus dem Wege gegangen. Der Vorrede ist zu entnehmen, daß er in dieser Schrift die Gepflogenheiten der zeitgenössischen Leichenredner verspotten wollte. Bei der Abfassung der Totenliste hat sich Rabener jedoch offensichtlich von einer ganz anderen Absicht leiten lassen. Mit schwelgerischem Behagen breitet er vor seinen Lesern die chronique scandaleuse der Stadt Bergen aus. Die dreiundzwanzig Manifestationen seiner hemmungslosen Klatsch- und Enthüllungssucht verselbständigen sich und lassen die ursprüngliche Intention völlig in Vergessenheit geraten. In der Art eines weltläufigen Causeurs medisiert Rabener über Ehebrecher und Meineidige mit demselben Gleichmut wie über die Marotten eines pedantischen Gelehrten. Er ist gar nicht imstande, das Törichte vom Lasterhaften, das Harmlos-Lächerliche vom Gefährlichen zu unterscheiden. Seine angestrengt witzige Redseligkeit, die selbst in den Schriften von der Art der Preisrede auf das Schoßhündchen Amourette nur schwer erträglich ist, wirkt bei der Darstellung des Lasters ausgesprochen frivol. Hier ist kein satirischer Vernichtungswille am Werk, sondern die geschwätzige Gefallsucht eines Autors, der den Wert seiner Figuren im Grunde nur danach beurteilt, welche Möglichkeiten sie ihm für die Darbietung seiner faden Spaße bieten 32 . Rabener entwirft in der Totenliste zwar das makabre Bild einer völlig korrupten Welt. An keiner Stelle ist jedoch zu spüren, daß er von der Dämonie des Bösen und der 3 0 W y d e r , a.a.O., S. 113. Wyder, a.a.O., S. 113. R a b e n e r an C . F . Weiße; Briefe, S. X L I I I . 3 2 Z u diesem V e r f a h r e n bemerkt Lichtenberg: » E s ist ein Fehler, den der blos witzige Schrifftsteller mit d e m g a n t z schlechten gemein hat, d a ß er gemeiniglich seinen Gegenstand eigentlich nicht erleuchtet, sondern ihn nur d a z u braucht sidi selbst z u zeigen. M a n lernt den Schrifftsteller kennen und sonst nichts. So hart es auch zuweilen widergehen solte eine witzige P e r i o d e wegzulassen, so muß es doch geschehen, wenn sie nicht nothwendig aus der Sache fließt. Diese C r e u t z i g u n g gewöhnt allmählig den Witz an die Zügel die ihm die V e r n u n f f t anlegen muß, wenn sie beyde zusammen mit Ehren auskommen sollen« (Aphorismen, ed. L e i t z m a n n , D L D 123, Β 305). 29

31

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zerstörenden Gewalt des Triebhaften beunruhigt worden wäre. Behaglich witzelnd reiht er Lebenslauf an Lebenslauf, einzig darauf bedacht, die lächerlichen Seiten des Törichten, des Lasterhaften und des Monströsen möglichst effektvoll zur Geltung zu bringen. In dieser Beziehung kennt Rabener keine Hemmungen. Empfindlich, rücksichtsvoll und vorsichtig ist er nur dann, wenn die Sicherheit der eigenen Person auf dem Spiel steht. Seinen Figuren hingegen hat er nie Pardon gegeben. Diese Härte und Rücksichtslosigkeit entspringt jedoch, das ist noch einmal zu betonen, nicht dem gerechten Zorn, der Empörung über die Arroganz der Toren oder über die Bosheit der Lasterhaften. Was sich hier zeigt, ist die Kehrseite seiner Servilität: der Drang, Macht auszuüben und sei es audi nur über die kümmerlichen Ausgeburten seiner eigenen Phantasie. Vor allem an seinen Frauengestalten hat sich der ritterliche Steuersekretär schadlos gehalten. Die Geschichte der Ursel Sigrid (»Todtenliste« II, 52-57) ist ein drastisches Beispiel dafür. Auch hier hat Rabener nichts ausgelassen. Um den Reiz seiner Enthüllungen womöglich noch zu erhöhen, wartet er mit einer besonders pikanten Mitteilung auf: der Leser erfährt nämlich, daß audi Nils Klim in seiner Jugend zu den Verehrern der stadtbekannten Lebedame gehört hatte. Der abgewiesene Verehrer erweist sich als intimer Kenner des Charakters und der amourösen Abenteuer seiner ehemaligen Schönen. Es versteht sich, daß er - um die »Ehre der Wahrheit« zu retten von diesen Kenntnissen ausgiebig Gebrauch macht. Mit sichtlicher Befriedigung verzeichnet er das Ende dieser Tugendverächterin. Als sidi im Alter die Schar ihrer Anbeter verlaufen hatte, sah sie sich, so hören wir, »in ihren Absichten betrogen, und hatte alle fleischliche Hoffnung verloren; deswegen gerieth sie in Verzweiflung, und ward fromm . . . Sie starb endlich alt und lebenssatt, und hinterließ in den Nasen ihrer Mitschwestern einen starken Geruch der Heiligkeit« (II, 56 f.). Daß der vorsichtige Rabener sich nicht scheut, das Ableben dieses Frauenzimmers mit einer aus Luthers Hiob-Ubersetzung entlehnten Wendung 33 zu bewitzeln, sei nur am Rande vermerkt. Zwar kommen Nils Klim schließlich Bedenken - und mit dem Küster wohl auch dem Autor selbst - ob er nicht besser getan hätte, seine Mitteilungslust etwas zu zügeln. Allein diese Skrupel werden geschwind zerstreut. »Thue ich ihr durch diese Erzählungen zu viel«, heißt es am Schluß seiner Offenbarungen, »so bin ich gewissermaßen zu entschuldigen; denn sie hat mir es in meiner Jugend auch sauer gemacht, als ich noch ein verliebter Baccalaureus war« (II, 57). 33

Hiob 42, 17.

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Eine Moral hat diese Geschichte nicht. Die im Grunde völlig überflüssige Erfindung des Liebesverhältnisses zwischen Ursel Sigrid und dem jungen Nils Klim steigert nur noch die Peinlichkeit der Enthüllungen. Der Küster erscheint dadurch jetzt in der Rolle eines verschmähten Liebhabers, der an seiner Schönen späte Rache übt. Rabener ist das zwar nicht entgangen, doch hat ihn diese Einsicht nicht bewogen, seinen Einfall zu opfern. Auch hier kommt es ihm wieder vor allem darauf an, auf Kosten seiner Figuren »Witz« zu zeigen und seine Leser zu amüsieren. Er macht sich gar nicht mehr die Mühe, die moralsatirische Haltung zu posieren. An die Stelle der satirischen Züchtigung des Lasters tritt die einfache Aufzählung von sexuellen Ausschweifungen, wobei Rabener eine fatale Vorliebe für schlüpfrige Details bekundet. Sein Spott über die Fehltritte des liederlichen Frauenzimmers wirkt angelesen - wie immer, wenn er sich über galante Damen, kurpfuschende Ärzte, bestechliche Richter und Advokaten, betrügerische Wucherer, Erbschleicher und Bankrottierer lustig macht. Es ist der lethargische Spott eines routinierten Kolporteurs, für den die Existenz des Lasters nur ein bequemer Vorwand ist, Anstoß zu nehmen. Nur so ist zu erklären, daß Rabener jeweils ganze Scharen von wirklichen und potentiellen Verbrechern in seinen Schriften auftreten läßt 34 . Erwählt er dagegen nur eine Figur zur Zielscheibe seines Spottes, dann sucht er den Leser durch eine Häufung von »witzigen« Einfällen für den Verlust an stofflichen Sensationen zu entschädigen. Der »Roman einer alten Spröden« (III, 160 ff.) dürfte den Höhepunkt einer solchen witzigen Exaltation bilden. c) Roman einer alten Spröden Dem in Briefform abgefaßten Roman liegt folgende Erfindung zugrunde: eine durch eigenes Verschulden in Not geratene Frau bietet Rabener ihre Korrespondenz zur Veröffentlichung an. Der Autor wiederum in der Rolle des Herausgebers - entspricht dieser Bitte. Er publiziert den ihm angeblich anvertrauten Briefwechsel in der erbaulichen Absicht, an der traurigen Geschichte der Mademoiselle F. die schädlichen Folgen der weiblichen Hoffart zu exemplifizieren. Der »Roman« besteht aus zwei Teilen: der erste Teil enthält die Heiratsanträge seriöser Bürger, die abschlägigen Antwortschreiben der 34

U. a. im »Traum von den Beschäftigungen der abgeschiedenen Seelen«, im »Versuch eines deutschen Wörterbuchs«, in »Antons Panßa von Mancha Abhandlung von Sprüchwörtern«, in der »Praktischen Abhandlung von der Kunst zu bestechen, ingleichen sich bestechen zu lassen«. 110

ehrgeizigen Spröden (die nur einen Mann von Adel ehelichen will), sowie eingeschaltete Kommentare, in denen die inzwischen längst von allen Liebhabern im Stich gelassene Frau ihren jugendlichen Hochmut beklagt und verurteilt. Der zweite Teil bringt eine Rollenverkehrung: jetzt versucht die durch zahlreiche Enttäuschungen gedemütigte Jungfer ihre ehemaligen Freier der Reihe nach zur Einlösung ihrer Eheversprechen zu bewegen. Aber weder ihre Selbstanpreisungen nodi ihre erpresserischen Drohungen führen zu dem gewünschten Erfolg. Am Ende bietet sie dem Autor selbst ihre Hand an: »Wissen Sie was, Herr Autor, erbarmen Sie sidi meiner! Nehmen Sie midi zu Ihrer Frau! Sie sind noch unverheurathet; Sie sind fast in meinen Jahren, oder doch nicht viel älter; Sie haben ein Amt, das mich und Sie ernähren kann. Eine alte Jungfer ist ja wohl einen alten Junggesellen werth. Idi dächte, Sie nähmen midi immer. Was meynen Sie? Madien Sie mir den Vorwurf nicht, daß ich in meinen jungen Jahren spröde gewesen bin, daß idi bey zunehmenden Jahren mich allen meinen Bekannten angeboten habe, und daß mich die Verzweiflung zu Mitteln getrieben hat, die eben nicht die gewissenhaftesten zu seyn scheinen. Es wäre unbillig, wenn meine Offenherzigkeit mir bey Ihnen schaden sollte. Sie kennen mich nun von außen und von innen. Wer weiß, ob Sie künftig mit Ihrer Frau nidit nodi mehr betrogen werden, als mit mir?« (III, 223)

Dieser Antrag gibt Rabener nun die Möglichkeit, seinen letzten Trumpf auszuspielen. In seinem Antwortschreiben entwickelt er einen Plan, wie der Mademoiselle F. aus ihrer »Jungfernoth« (III, 228) zu helfen sei: um ihr einen Mann und ein ansehnliches Vermögen zu verschaffen, will er sie unter betrügerischen Bankrotteuren ausspielen. Das bis in alle Einzelheiten ausgearbeitete Projekt der »extra-favorablen Auswürflung einer alten Spröden« (III, 237) macht zwar der rechnerischen Phantasie des Steuerrats alle Ehre. Über die Moralität dieser Veranstaltung zu reden, erübrigt sich freilich; wie es sich auch kaum lohnt, im einzelnen auf die Banalitäten, die sachlichen und psychologischen Widersprüche dieser in höchstem Maße abgeschmackten Korrespondenz einzugehen. Nur dies sei festgehalten: der »Roman einer alten Spröden« bestätigt, was sich in dem »Lebenslauf eines Märtyrers der Wahrheit« und in der Geschichte der Ursel Sigrid bereits gezeigt hatte. Rabener vermag das Leid ebensowenig ernst zu nehmen wie das Laster. Er spielt mit dem Unglück und mit dem Bösen und verstößt damit gegen das Grundgesetz der Kunst, das dem Künstler nur erlaubt, mit der Schönheit zu spielen35. Auch der Satiriker ist diesem Gesetz unterworfen. Er wird unglaub55

Vgl. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief.

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würdig, wenn er das, was eigentlich seinen Protest herausfordern sollte, zum bloßen Medium einer »witzigen« Selbstdarstellung degradiert. Daß Rabener dennoch den Ehrgeiz gehabt hat, von der Orthodoxie als Bundesgenosse anerkannt zu werden, beweist, daß er sich der moralischen Fragwürdigkeit seiner literarischen Produktion überhaupt nicht bewußt gewesen ist. Wir sollten uns deshalb nicht dazu verleiten lassen, auch die Ernsthaftigkeit seiner moralkritischen Intentionen in Frage zu stellen, weil Theorie und Praxis sich bei ihm nicht decken. Rabener war, wie viele seiner schreibenden Zeitgenossen, von der erzieherischen Kraft der Literatur überzeugt. Die Satire erschien ihm als geeignetes Instrument zur Beförderung der Tugend und zur Abschreckung des Lasters. Seine eigenen Versuche in dieser Schreibart zeigen jedoch, daß er auf den Titel eines Moralsatirikers, der ihm von der Literaturgeschichte nur allzu bereitwillig verliehen wurde 3e , keinen Anspruch hat. Man hat Rabener immer wieder vorgeworfen, daß er die Mächtigen in seinen Schriften verschont und sich stattdessen an alten Basen, Pedanten, Dorfjunkern, Gewürzkrämern usw. schadlos gehalten habe 37 . Das ist sicher ein gewichtiger und wohl audi objektiv berechtigter Tadel. Wer jedoch die »geringe Kühnheit seiner Schriften« 38 verurteilt, zeigt damit, daß er an einen Satiriker des 18. Jahrhunderts — den Untertan eines absolutistisch regierten Staates - Forderungen stellt, die dieser nicht erfüllen konnte; es sei denn, er hätte den Mut besessen, zu einem wirklichen Märtyrer der Wahrheit zu werden. Auch Liscow hat sich sorgfältig davor gehütet, an den politischen und sozialen Mißständen seiner Zeit öffentlich Kritik zu üben. Und doch hat sich dieser Autor in seinen Fehden mit den kleinen Geistern als ein Satiriker von Rang erwiesen. 36 Die bisherige Forschung hat ihm diesen Titel merkwürdigerweise nicht streitig gemacht, obgleich Rabener selbst überall dazu herausfordert. Die mir zugänglich gewesenen Arbeiten konzentrieren sich vor allem auf die Untersuchung der Quellenfragen (Härtung, Kühne, Mühlhaus, Ulbrich und neuerdings A. Biergann, G. W. Rabeners Satiren, Diss. Köln 1961); das vorwiegend stofforientierte Interesse der Verfasser äußert sich audi darin, daß immer wieder die Themen und Gegenstände seiner Schriften zusammengestellt und kommentiert werden. Unter diesem Aspekt ist die Frage, ob Rabener als Satiriker zu gelten habe, natürlich nicht zu entscheiden. Audi die teilweise mit großer Leidenschaft geführte Diskussion darüber, ob Rabener der Vorrang vor Liscow gebühre, setzt voraus, was eigentlich erst zu erweisen gewesen wäre. Und selbst H . Wyder hält daran fest, daß Rabener als Satiriker einzustufen sei. 37 So u. a. von F. Chr. Schlosser in seiner »Geschichte des 18. Jahrhunderts«; I. Bd., Heidelberg 3 1843, S. 635 f. 38 Vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 7. Buch (WA I, 27, S. 74). .

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Rabeners Opportunismus bei der Wahl seiner Figuren, Themen und Gegenstände und seine übertriebene Devotion gegenüber der weltlichen und geistlichen Obrigkeit erwecken zwar erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit und Notwendigkeit seiner satirischen Bemühungen. Allein dieser Mangel an Zivilcourage ist noch kein zureichender Grund, ihm die Berechtigung und Fähigkeit zur Verwaltung des satirischen Strafamtes abzusprechen. Entscheidend ist, daß dieses phlegmatische Temperament überhaupt keiner leidenschaftlichen Regung fähig war. In dieser Beziehung kann Rabener geradezu als der Antipode JungStillings gelten. Der Verfasser der »Schleuder« hatte seiner Empörung über Nicolais Religionsspott offen und unmißverständlich Ausdruck verliehen. Seine Ablehnung des »Sebaldus Nothanker« hat zwar, wie wir feststellen konnten, eher elegischen als satirischen Charakter. Aber wenn es ihm auch nicht gegeben war, seine Abrechnung in spezifisch satirischer Form zu objektivieren, so war der Ernst seines Protestes gegen den »hohnsprechenden Philister« unbezweifelbar. Rabener dagegen hat sich nie so exponiert. Er hat immer nur die lächerlichen Züge der Bosheit, des Verbrechens und des Unglücks wahrgenommen und literarisch ausgebeutet. Zu einer realistischen Einschätzung des Gefährlichen war er offenkundig nicht imstande; verborgen geblieben ist ihm aber auch die metaphysische Qualität des Leidens. Rabener hat sich stets mit einer farcenhaften Behandlung des Lasters und des Unglücks begnügt. Satirischer Vernichtungswille ist hier ebensowenig zu spüren wie irgendeine Form der Anteilnahme am Schicksal seiner Figuren. Stattdessen herrscht in den meisten seiner Schriften eine monotone Ironie und eine penetrante, um die Gunst des Publikums buhlende Gefallsucht, die den »Satiriker« Rabener vollends diskreditiert. In der Haltung eines »bloßen Possenreißers« und »kalten Zuschauers« 89 hat er sein frivoles Spiel mit dem Laster und mit dem Leid getrieben. Die Spekulation auf die Anziehungskraft des Skandalösen und Abnormen trug allerdings reiche Früchte: Rabener gehörte zu den populärsten Autoren seiner Zeit 40 ; die »Todtenliste« genoß besondere Berühmtheit; und über die »Satirischen Briefe«, zu denen unter anderem der »Roman einer alten Spröden« gehört 41 , berichtet A. Koberstein, 39

Mauvillon und Unzer, »Über den W e r t h . . . « , II, 36 und 61. Vgl. K. Kühne, a.a.O., S. 41 und S. 109 f.; J. Mühlhaus, a.a.O., S. 140 ff. 41 Nicht minder abgeschmackt ist der »Roman von einer Fräulein, die der Großvater und Enkel zugleich liebt«; III, 238 ff. 40

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daß sie von allen seinen Werken den »meisten Beifall fanden und verdienten« 42 . Allein die »gefallende Satire«, wie Rabener 43 sie pflegte, bedeutet das Ende der Satire überhaupt. Sie ist das Produkt der Devotion, des Phlegmas und der Eitelkeit; sie nivelliert die Unterschiede zwischen der Torheit und der Bosheit; sie scherzt, wo sie eigentlich zürnen, schelten und strafen müßte; und das Unglück liefert sie mitleidlos dem Spott und der Schadenfreude aus. Rabener, so können wir jetzt sagen, betreibt nicht das Geschäft eines Satirikers, sondern das eines wendigen Journalisten. Der Journalist aber - das mag zunächst überraschend klingen - fühlte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts als Nachfolger des Predigers. Es ist aufschlußreich, daß die Aufklärung für die sakrale Würde und den sakramentalen Charakter des Priestertums weithin kein Gespür mehr besaß. Statt vom Priester spricht man, besonders in den protestantischen Ländern, meist nur noch vom Prediger. Audi Rabener macht darin keine Ausnahme. Er sieht nicht, daß die katechetischen und moralpädagogischen Aufgaben nur ein Teilgebiet des priesterlichen Wirkens darstellen und daß die eigentlich seelsorgerische Praxis nicht der Weltverbesserung gilt, sondern der Weltüberwindung. Dieses Mißverständnis nährte die weitverbreitete Überzeugung von der Ebenbürtigkeit des priesterlichen und des profanen pädagogischen Wirkens; es bestärkte den zeitgenössischen Journalismus in dem Glauben, daß die Redaktionsstube - als Ort der Verkündigung einer neuen Diesseitsmoral - die Kanzel ersetzen, wenn nicht gar überflüssig machen könne. Erst von hier aus ist zu verstehen, warum Rabener die Meinung vertreten konnte, daß seine Schriften eigentlich das »Siegel der Orthodoxie« 44 verdient hätten. »Moralische Wochenschriften schreiben heißt (im 18. Jahrhundert) Prediger sein, ohne auf der Kanzel stehen zu wollen« 45 . H. Schöffler, Geschichte der deutschen Nationallitteratur (5. Aufl.), V, 538. Kühne spricht bezeichnenderweise von »unserem liebenswürdigen Satiriker«; a.a.O., S. 100. 4 4 An Geliert am 1 9 . 1 . 1 7 5 6 ; Briefe, S. 257. 4 5 H . Schöffler, Das literarische Zürich 1 7 0 0 - 1 7 5 0 ; in: Die Schweiz im deutschen Geistesleben, hg. von H . Maync, 40. Bänddien, Leipzig 1925, S. 5 6 : »Die moralischen Wochenschriften, ob in London oder Zürich, sind, glaube ich, in ihrem Kerne nicht zu verstehen, wenn man nicht vor sie in der Entwicklungsreihe die altprotestantische Erbauungsliteratur und die Predigtveröffentlichung setzt. Moralische Wochenschriften schreiben heißt Prediger sein, ohne auf der Kanzel stehen zu wollen. Aus diesem Gesichtswinkel heraus gesehen paßt das Züricher Unternehmen (gemeint sind die »Discourse der Mahlern«) aufs beste in den Lebenslauf Bodmers. E r kam wie Addi42

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dem wir diese wichtige Erkenntnis verdanken, war vor allem durch das Studium der schweizerischen und englischen Wochenschriften zu dieser Einsicht gelangt. Die deutschen Wochenschriften bestätigen die Richtigkeit seiner Feststellung. Auch hier sucht der Journalismus das Erbe der Geistlichkeit anzutreten. Die »räsonierende Moral«, das war die allgemeine Uberzeugung der aufgeklärten Intelligenz, hatte abgedankt. Es galt neue Wege der Belehrung, Unterweisung und Erbauung zu finden und zu erproben. Dieser Aufgabe haben sich die meisten Mitarbeiter der deutschen moralischen Wochenschriften gewidmet, freilich ohne sich konfessionell zu engagieren4®. Der journalistische Moralprediger empfing seine Bestallung von der allgemeinen Menschenliebe. Dazu bedurfte es nach seiner Uberzeugung keiner »schriftlichen Vokation« (I, 92). Im Gegensatz zu den geweihten oder ordinierten »Sittenlehrern« war er weder durch Dogmen noch durch Konkordienformeln gebunden, was ihn in den Augen der Zeitgenossen unverdächtig erscheinen ließ. Infolgedessen konnte er seinen Skeptizismus ungehindert entfalten. Als erklärter Gegner der religiösen »Schwärmerei« machte er sich zum Sprachrohr des »gesunden Menschenverstandes« und zum Wortführer eines tugendhaften Epikuräismus. Er »versüßte« die Wahrheit, versteckte sie in handgreiflichen Exempeln und Fabeln und suchte mit den Mitteln einer aufgeweckten Schreibart - das heißt meist in der Haltung eines freigeistigen Spötters seiner rein immanenten Zweckmoral Gehör zu versdiaffen. Die meisten dieser Mittel waren freilich alles andere als neu. Man griff in der Regel auf die Technik der traditionellen Erbauungs- und Predigtliteratur zurück. Das hat auch Rabener getan, der - neben Geliert - als typischer Repräsentant dieses säkularisierten Predigertums gelten kann. Am Anfang seiner Schriften steht fast immer ein allgemeiner Lehrsatz, eine Maxime der Lebens- und Weltweisheit, die sodann in einer Serie von ironischen son aus einer Geistlichenfamilie und war aus Gründen des Dogmas der steilen Treppe zur Kanzel hinauf ausgewidien.« Im Ansdiluß an Ernst Troeltsch und Max Weber hatte Schöffler literatursoziologische Zusammenhänge zum ersten Mal in seinem Buch »Protestantismus und Literatur« (Leipzig 1922) zu erhellen versucht. Die Studie über das literarische Zürich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzt diese Forschungen fort. Dabei gelangt Schöffler zu dem Ergebnis, daß sich auch in der Schweiz - vor allem unter dem Einfluß der »weltlich-seelsorgerlichen Einstellung des Spectators« (S. 131) - eine Wandlung von der geistlichen zur literarischen Seelsorge vollzieht; und zwar in Analogie zur Entwicklung des protestantischen Denkens in der frühen Aufklärung, das, nach Schöffler, »vom christozentrisdien Dogmatisieren ins Moralisieren und dann ins Asthetisieren« führt (vgl. S. 53). 4 « Vgl. W. Härtung, a.a.O., S. 51 ff.

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Exempeln veranschaulicht wird 4 7 . D a s Beispiel tritt an die Stelle der abstrakt-begrifflichen Darlegung und Beweisführung. Diese H ä u f u n g von Exempeln und allegorischen Beispielfiguren, wie wir sie etwa aus der »Todtenliste« kennen, stand natürlich in der Gefahr, monoton zu werden. M a n versteht, daß Rabener deshalb größten Wert auf immer neue Einkleidungen und einen häufigen Schauplatzwechsel gelegt hat 4 8 . Solche Veränderungen waren jedoch rein äußerlicher Natur. D a s K o n struktionsschema blieb immer dasselbe. Die listenartige Anlage seiner größeren Schriften vermochten auch die zahlreichen Einschübe und Abschweifungen 4 9 , in denen sich der Autor beifallheischend in den Vordergrund drängt, nicht zu vertuschen. Gerade hier wird besonders deutlich, daß nicht die satirische Tendenz für die Formlosigkeit von Rabeners Werken verantwortlich ist - wie H . Wyder meint 5 0 - sondern ein uferloser Mitteilungs- und Enthüllungsdrang, der kein Ende finden konnte und der sich immer erst dann erschöpfte, wenn dem Autor der Stoff ausgegangen war. Seine Stoffe, Themen und Figuren schöpft Rabener, im Gegensatz zu den Kanzelrednern, nicht aus der Bibel; auch nicht aus der zeitgenössischen Wirklichkeit. Er übernimmt sie aus dem Repertoire der Stände- und Moralsatire, von der Teufel- und A-la-mode-Literatur, der Rügedichtung und aus den deutschen Ubersetzungen der englischen Wochenschriften. Nach dem Muster seiner Vorgänger kopiert er die satirische Attitüde. D a s Satirisieren wird bei ihm damit zu einer modischen Veranstaltung. Es sind Schemen, » N a r r e n in abstracto«, mit denen er sich umgibt. U n d sein Spott über diese Standard-Typen ist Spott aus zweiter H a n d . Die Kanzelberedsamkeit wird bei Rabener - im Dienst einer fragwürdigen Privatmoral ohne transzendentale Fundierung - zur puren Deklamation. Nach exemplarischen Verkörperungen natürlicher oder übernatürlicher Tugenden sucht man in seinem Werk vergebens. In der 47 Rabener selbst ironisiert dieses Verfahren, wenn er schreibt: »Es ist beynahe keine Handlung und Beschäftigung in der Welt, welche man nicht in gewisse Regeln gebracht, mit Grundsätzen befestiget, und mit Exempeln erläutert hat« (III, 59). 48 Der eigentliche Schauplatz seiner Satiren bleibt freilich immer Sachsen; auch wenn Rabener die Handlung nach Irland (»Geheime Nachricht von D . Jonathan Swifts letztem Willen«), nach J a v a (»Das Mährchen vom ersten Aprile«) oder ins Jenseits (»Ein Traum von den Beschäftigungen der abgeschiedenen Seelen«) verlegt. 49 Diese Digressionen - bei Wieland, Sterne oder Jean Paul Darstellungsmittel eines ironischen oder selbstironischen Ausdruckswillens - sind bei Rabener symptomatisch für seine disziplinlose, unkontrollierte Weitschweifigkeit. 50 A.a.O., S. 79; an anderer Stelle macht Wyder das »Nicht-Ernstnehmen der eigenen Schöpfung« (S. 34) dafür haftbar.

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Darstellung des Positiven zeigt sich Rabener ebenso lethargisch wie bei der Behandlung des Negativen. Die Reihung von Exempeln und exemplarischen Figuren wird von ihm rein mechanisch gehandhabt; die moralische Tendenz erscheint aufgesetzt und unglaubwürdig. Der unverbindliche Lustigmacher, dem es - wie einer seiner Figuren — »niemals an Materie zu reden« (I, 205) gefehlt hat, diskreditiert nicht nur den Satiriker, sondern auch den Moralprediger Rabener. Am Ende seines publizistischen Schaffens steht die Resignation. »Ein Märtyrer der Wahrheit mag idi nicht werden«, schreibt er am 18. November 1753 an Cramer,»...also thue ich wohl am besten, idi gebe der Welt nach«51. Nach dem Erscheinen des vierten Bandes seiner satirischen Schriften (1755) hat Rabener nichts mehr veröffentlicht. Solange er schrieb, war er bemüht, seine ängstliche Vorsicht52 mit dem Anspruch auf Ausübung des satirischen Strafamtes in Einklang zu bringen. Wir haben gesehen, was aus dieser Mesalliance entsprang: nicht Satiren, sondern - mit Lichtenberg zu sprechen - »Beleidigungen des Verstandes und Witzes« 53 .

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52 Briefe, S. 164. Vgl. Rabener an F. v. Hagedorn, Briefe, S. 216. Aphorismen, ed. Leitzmann, DLD 123, Β 222.

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VI. P O L E M I K U N D SATIRE Versuch einer Abgrenzung der polemischen von der satirischen Negation an Lessings Anti-Goeze

Wir haben in den beiden voraufgehenden Kapiteln gezeigt, daß Protestschriften von der Art der »Schleuder eines Hirtenknaben« und die »gefallende Satire« Rabenerscher Prägung nicht als Satiren im eigentlichen Sinne gelten können. Weder Jung-Stillings maß- und formlose Entrüstung oder seine wortreichen Klagen und Ermahnungen noch Rabeners vorsichtig temperierte Indignation, die allenfalls den »Geist einer tugendhaften Verdrießlichkeit« 1 spüren ließ, hatten sich - das war das Ergebnis unserer Untersuchung - in spezifisch satirischer Form zu manifestieren vermocht. Eine rein historische Bestandsaufnahme der deutschen satirischen Literatur des 18. Jahrhunderts wäre freilich verpflichtet, auch den in den Randzonen des »eigentlich« Satirischen massenhaft auftretenden, meist nach Rabeners Vorbild verfertigten »Magazin-Satiren« 2 den gebührenden Raum zuzuweisen. Im Rahmen unserer phänomenologisch orientierten Darstellung aber muß und darf der Teil für das (weithin ja noch nicht einmal bibliographisch erschlossene) Ganze stehen. Dieses selektive Verfahren - darüber sind wir uns klar — ist allerdings ebenso problematisch und riskant wie eine von der Idee der Vollständigkeit 3 getragene, in der Regel nach rein äußerlichen Kriterien gruppierte Stoffsammlung 4 . Es hat jedoch seine Berechtigung, wenn es nicht zur Konstruktion einer Ur- oder idealtypischen Satire mißbraucht wird, die dann nachträglich zur verbindlichen Norm für die Bewertung der historischen Einzelerscheinungen erklärt wird. Von diesem Ehrgeiz wissen wir uns frei. Die Beschäftigung mit Jungs verfehlter Satire und Rabeners Pseudo-Satiren sollte vor allem dazu beiG. W. F. Hegel, Ästhetik, hg. von F. Bassenge, Berlin 1955, S. 493. Der Ausdruck stammt von Lichtenberg (Aphorismen, ed. Leitzmann, D 89). 3 Vgl. R. M. Meyer, »Vollständigkeit«. Eine methodologische Skizze; Euph. 14/1907, S. 1-17. 1 Abschreckendes Exempel: der 3. Band von F. W. Ebelings »Geschichte der komischen Literatur«, der über weite Strecken nicht mehr als ein flüchtig kommentiertes Titelregister darstellt. 1

2

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tragen, den Spielraum der satirischen Gestaltung einzugrenzen. Die Aussonderung von Verfallsformen (Rabener) oder von gescheiterten Versuchen (Jung-Stilling) war freilich nur ein erster Schritt auf diesem Weg. Weitere Auskünfte über die Eigenart der Satire versprechen wir uns von der Klärung der Frage, ob und wodurch sich die Satire von den ihr offenbar in mancherlei Hinsicht verwandten Darbietungsformen der Polemik und der Kritik unterscheidet. Unter diesen Aspekt stellen wir die folgende Analyse von Lessings »Anti-Goeze« 6 . 1. Vorgeschichte und Chronologie »Dinge zu bezweifeln, die gantz ohne weitere Untersuchung jezt geglaubt werden, das ist die Hauptsache überall.« »Die Dogmatik, die fruchtbare und gütige Mutter der Polemick.«

(Lichtenberg)'

Zu Anfang des Jahres 1777 veröffentlichte Lessing im vierten Beitrag »Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel« fünf Fragmente 7 aus der (damals nur in Handschriften kursierenden) »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« des Hamburger Gymnasialprofessors Hermann Samuel Reimarus (1694-1768). Lessing hatte das Manuskript von den Kindern (Elise und Johann Albert Heinrich Reimarus) des Gelehrten erhalten; und zwar unter der Bedingung, daß der Name des Verfassers bei einer eventuellen Veröffentlichung geheimzuhalten sei. Bereits 1774 hatte Lessing - wohl um das Verhalten des Publikums zu 5

Zitiert wird nach Lessings Werken, hg. von J. Petersen und W. v. Olshausen, 25 Tie., Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o. J.; Zitate aus dieser Ausgabe werden jeweils mit Teil- und Seitenangabe nachgewiesen. Die Anti-Goeze: X X I I I , 192 ff.; s. a. Anmerkungen zu X X I I I in Tl. X X V I I I , 880 ff.; die Briefe werden nach der Ausgabe von Lachmann und Mundcer zitiert: Sämtliche Schriften, Bd. 17-21, Leipzig »1904/07 (abgek.: Briefe). • Aphorismen, ed. Leitzmann, D L D 140, J 1231 und J 1200. 7 Unter dem Sammeltitel »Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten (d. i. H . S. Reimarus) die Offenbarung betreffend« (Werke, X X I I , 50 ff.). Die einzelnen Abhandlungen tragen folgende Überschriften: I. Fragment: Von Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln. 2. Fragment: Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten. 3. Fragment: Durchgang der Israeliten durchs Rote Meer. 4. Fragment: D a ß die Bücher Α. T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren. 5. Fragmente Ober die Auferstehungsgeschichte.

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sondieren - einen ersten Auszug aus der »Apologie« herausgegeben 8 . Dieses Fragment war indessen kaum beachtet worden. Auch 1777 glaubte Lessing noch nicht das »Dreisteste und Stärkste« ( X X I I , 50) daraus mitteilen zu dürfen 9 . Die neuerdings veröffentlichten Stücke aus den »Papieren des Ungenannten« enthielten jedoch so radikale Angriffe gegen die positive Religion, daß sich dadurch fast die gesamte lutherische Orthodoxie auf den Plan gerufen fühlte. Im Mittelpunkt der durch diese Publikation ausgelösten theologischen Streitigkeiten 10 stand das fünfte Fragment »Uber die Auferstehungsgeschichte«. Darin hatte der dezidierte Wolffianer Reimarus, der in dem Satz vom Widerspruch das zuverlässigste Instrument für die Wahrheitsfindung sah u , zu demonstrieren versucht, daß die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen hätten. »Es ist schon ein Zeichen, daß eine Lehre oder Geschichte keine innre Glaubwürdigkeit hat, wenn man sich, um deren Wahrheit zu beweisen, auf Wunder berufen muß« ( X X I I , 302), erklärt Reimarus in Paragraph 49 seiner Schrift »Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger«. Wunder seien keine so »gewisse Fakta«, wodurch man die »Wahrheit anderer nicht vor sich glaublicher factorum oder Lehren beweisen und in Gewißheit setzen könne, und daß folglich diejenigen, welche das Christentum auf Wunder bauen wollen, nichts Festes oder Inneres und Wesentliches zum Grunde legen« ( X X I I , 301). Der Rationalist Reimarus unterzieht deshalb die Zeugnisse der Evangelisten über das Wunder der Auferstehung einer strengen kritischen Prüfung 1 2 . Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß sidi die Aussagen der Jünger Jesu »auf vielfältige Art klar und gröblich widersprechen« ( X X I I , 285). In den Paragraphen 22 bis 31 des Auferstehungsfragments hat er zehn dieser »ganz offenbaren Widersprüche« ( X X I I , 169) zusammengestellt, durch Im 3. Band »Zur Geschichte und Litteratur« u. d. T.: Von Duldung der Deisten. • Das geschah erst 1778, auf dem Höhepunkt der Kontroverse mit Goeze, als Lessing das Fragment »Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger« ( X X I I , 207 ff.) erscheinen ließ. Das Auferstehungsfragment ist nur ein kleiner Auszug (Buch II, §§ 10-32) aus dieser Abhandlung. 10 Das von F. Muncker zusammengestellte, keineswegs vollständige Verzeichnis der Streitschriften, Widerlegungen, Satiren usw., die gegen den Wolfenbütteler Ungenannten geschrieben wurden, umfaßt über 100 Nummern; vgl. Goed. IV/1, S. 436-442. 11 Reimarus war zu seinen Lebzeiten zweimal als Apologet der Natur- und Vernunftreligion aufgetreten: 1754 mit dem Werk über »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet«; 1756 in seiner »Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauch der Vernunft in der Erkäntnis der Wahrheit, aus zween ganz natürlichen Regeln, der Einstimmung und des Widerspruchs, hergeleitet« (2. veränd. Aufl. 1758). 12 Nach dem Vorbild der englisdien Deisten Woolston und Annet; vgl. X X I I , 12. 8

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die nach seiner Uberzeugung die Unglaubwürdigkeit der Auferstehungsgeschichte unumstößlich bewiesen wird. Matthäus, der von allen Evangelisten am ausführlichsten über die fraglichen Vorgänge berichtet, habe, schließt Reimarus, diese Geschichte »allein aus seinem Gehirne ersonnen« ( X X I I , 160); es sei ihm jedoch nicht gelungen, damit den von den Juden geäußerten Verdacht zu entkräften, daß die Jünger den Leichnam Jesu bei Nacht fortgeschafft hätten. Uber die Motive dieses Leichenraubs und die betrügerischen Nachrichten der Evangelisten über die angebliche Auferstehung Christi bringt das 5. Fragment nur Andeutungen. Ausführlich äußert sich Reimarus darüber in dem erst 1778 durch Lessing veröffentlichten Kapitel der Apologie »Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger«. Die Apostel, behauptet er hier, hätten bis zum Tode Jesu in ihrem Meister einen »weltlichen Regenten und Erlöser« des israelitischen Volkes gesehen. Erst nach dem Scheitern ihrer politischen Hoffnungen hätten sie das »Systema von einem geistlichen leidenden Erlöser des ganzen menschlichen Geschlechts« konstruiert und damit ihr »voriges Systema von der Absicht der Lehre und Verrichtung Jesu geändert« ( X X I I , 259). Das sei freilich nur durch die Verdrehung und Entstellung der »Facta« (womit Jesu »wirkliche Reden und Verrichtungen« [ X X I I , 263] gemeint sind) möglich gewesen. Um ihre Anhänger nicht zu verlieren, folgert Reimarus weiter, mußten die Apostel jedoch den Juden eine »andere Zukunft Christi aus den Wolken des Himmels versprechen, worin das, was sie jetzt vergeblich gehoffet hatten, erfüllet werden und seine gläubigen Anhänger nach gehaltenem Gerichte das Reich ererben sollten. Wenn die Apostel keine solche herrliche Zukunft Christi verheißen hätten, so würde kein Mensch nach ihrem Messias gefragt oder sich an ihre Predigt gekehret haben; dieses herrliche Reich war der Trost Israels in allen ihren Drangsalen, in dessen gewisser Hoffnung sie alles erduldeten und alles ihr Vermögen willig hergaben, weil sie es hundertfältig wieder empfahen würden« ( X X I I , 287). Dieses neue, aus taktischen Gründen erfundene System: die Lehre der Apostel von der Auferstehung und Wiederkunft Christi und der Errichtung eines übernatürlichen, ewigen Reiches hat nach Reimarus' Meinung mit der Lehre und den Taten des historischen Jesus nichts gemein 18 . Die Absicht der Predigten und Lehren Jesu sei vielmehr »auf ein rechtschaffenes tätiges Wesen, auf eine Änderung des Sinnes, auf ungeheuchelte Liebe Gottes und des Nächsten, auf Demut, Sanftmut, Ver1 3 Ähnlich unterscheidet Lessing später die »Religion Christi« von der »christlichen Religion«; X X I I I , 352 f.

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leugnung sein selbst und Unterdrückung aller bösen Lust geridbtet« ( X X I I , 216) gewesen. Jesus habe keine »hohen Geheimnisse oder Glaubenspunkte« ( X X I I , 216) beweisen oder predigen wollen; es sei audi nidit sein Ziel gewesen, ein »neues Lehrgebäude der Religion« ( X X I I , 217) zu errichten. Er »trieb nichts als lauter sittliche Pflichten, wahre Liebe Gottes und des Nächsten« ( X X I I , 217) und seine Botschaften enthielten »lauter moralische Lehren und Lebenspfliditen, die den Menschen innerlich und von ganzem Herzen bessern sollen« ( X X I I , 216). Neben der im 5. Fragment geübten zersetzenden Kritik an den Berichten über das fundamentale Ereignis des christlichen Heilsgeschehens wirkt das 1. Fragment mit seiner Toleranzforderung für die »vernünftige Religion« ( X X I I , 51) vergleichsweise harmlos. Der im 3. Fragment vorgetragene Versuch einer natürlichen Erklärung des Wunders vom Durchgang der Israeliten durch das Rote Meer gibt dagegen bereits einen Vorgeschmack von Reimarus' radikaler Kritik an den Wunderberichten des Neuen Testaments. Provozierend mußten auch die im 2. und 4. Fragment aufgestellten Thesen wirken: der vierte Aufsatz bestreitet, daß im Alten Testament eine »übernatürliche seligmachende Religion« ( X X I I , 121) gelehrt worden sei, weil sich in diesen Büchern kein Hinweis auf die Unsterblichkeit der Seelen und ihren Zustand nach dem Tode nachweisen lasse; den schärfsten Angriff gegen die positive Religion und Theologie führt Reimarus aber in dem 2. Fragment, das die Offenbarung für schlechthin überflüssig erklärt; sie sei von dem »weisen, gütigen Gott nicht als ein notwendiges Mittel (der Seligkeit) gesetzet, sondern von Menschen ersonnen« ( X X I I , 110). Der einzige Weg, durch den »etwas allgemein werden kann«, sei nicht die Offenbarung, sondern die »Sprache und das Buch der Natur, die Geschöpfe Gottes und die Spuren der göttlichen Vollkommenheiten, welche darin als in einem Spiegel allen Menschen, so gelehrten als ungelehrten, so Barbaren als Griechen, Juden und Christen, aller Orten und zu allen Zeiten, sich deutlich darstellen« ( X X I I , 110). Reimarus' Bibel- und Offenbarungskritik - das hat L. Zscharnack gezeigt 14 - stand unter dem Einfluß des englischen Deismus und der holländischen Religionsphilosophie. Der Hamburger Orientalist hatte u. a. von Toland, Collins, Bolingbroke, Grotius, Clericus, Spinoza (die häufig von ihm zitiert werden) zahlreiche Anregungen empfangen. In thematischer und methodischer Hinsicht berührt sich die »Schutzschrift« mit den gleichgerichteten Untersuchungen der englischen und u

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Einleitung zu Bd. X X I I , S. 9 ff.

holländischen Bibelkritiker und Religionsphilosophen. Aber wenn die Fragestellung, die Tendenz und die Forschungsprinzipien auch nicht original waren - in Deutschland hatte dieses Werk um die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht seinesgleichen: so radikal, so konsequent, allerdings auch: mit einer so fanatischen Pedanterie und Einseitigkeit waren die Grundfesten der auf die Offenbarung verpflichteten christlichen Erlösungsreligion zuvor noch niemals angegriffen worden. Reimarus selbst war sich über die Bedeutung und die Tragweite seiner Kritik durchaus im klaren. Im Vorbericht zur »Apologie« erwähnt er, daß er seine als »nicht katechismusmäßig« (XXIII, 231) bezeichneten Gedanken nur zu seiner eigenen »Gemütsberuhigung« niedergeschrieben habe, um dann fortzufahren: »Ich bin nachher nimmer auf den Vorsatz geraten, die Welt durch meine Einsichten irrezumachen oder zu Unruhen Anlaß zu geben. Die Schrift mag im verborgenen zum Gebrauch verständiger Freunde liegen bleiben; mit meinem Willen soll sie nicht durch den Drude gemein gemacht werden, bevor sich die Zeiten mehr aufklären. Lieber mag der gemeine Haufe nodi eine Weile irren, als daß ich ihn, obwohl ohne meine Schuld, mit Wahrheiten ärgern und in einen wütenden Religionseifer setzen sollte. Lieber mag der Weise sich des Friedens halber unter den herrschenden Meinungen und Gebräuchen schmiegen, dulden und schweigen, als daß er sich und andere durdi gar zu frühzeitige Äußerung unglücklich machen sollte« (XXIII, 230 f.).

Lessing hatte sich also gegen Reimarus' Willen zu dem »Dienste seines Einführers in die Welt« (XXIII, 230) entschlossen. Auch die Warnungen der Freunde Mendelssohn und Nicolai waren nidit imstande, ihn zu einem Verzicht auf die Herausgabe der Fragmente zu bewegen 15 . Lessing hat seinen Entschluß mehrmals begründet. Er habe, schreibt er im 11. Anti-Goeze, den »Ungenannten auch darum in die Welt gestoßen, weil ich mit ihm allein nicht länger unter einem Dadie wohnen wollte. Er lag mir unaufhörlich in den Ohren, und ich bekenne nochmals, daß idi seinen Zuraunungen nicht immer so viel entgegenzusetzen wußte, als ich gewünscht hätte. Uns, dachte ich, muß ein Dritter entweder näher zusammen- oder weiter auseinanderbringen, und dieser Dritte kann niemand sein als das Publikum« (XXIII, 252; vgl. 230). Das höchst eigennützige Verlangen, die Fragmente »sobald als möglich, sie noch zu meinen Lebzeiten widerlegt zu sehen« (XXIII, 229), sei der eigentliche Zweck dieser Veröffentlichung gewesen, heißt es im 7. AntiGoeze. Diese Begründung klingt wenig überzeugend. Es ist kaum anzu15

D a z u F . N i c o l a i in Lessings Werken, X X , 198, Anm. 1.

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nehmen, daß Lessing sich des Beistands der Öffentlichkeit versichern wollte, um einer angeblich durch die Lektüre von Reimarus' Werk ausgelösten akuten Glaubenskrise H e r r zu werden. Auch sonst m u ß die Ernsthaftigkeit dieser Verteidigung aus mancherlei Gründen in Zweifel gezogen werden 1 β . Wir müssen es uns hier allerdings versagen, darauf näher einzugehen. Es w i r d sich aber noch zeigen, wie schwierig es ist, die wahre Meinung gerade des Polemikers Lessing jeweils mit Sicherheit zu ermitteln 1 7 . Genug, d a ß Lessing bereits in den kritischen Zusätzen zu den Fragmenten den Verdacht abzuwehren suchte, d a ß er die A d v o k a t u r des Reimarus übernommen hätte. Allein auch hier ist seine Position nicht eindeutig. Zunächst suchte er den »kleinmütigen Leser« ( X X I I , 188) zu beschwichtigen. Dieser Versuch gibt sich zwar ganz harmlos, enthält aber in Wahrheit versteckte Angriffe gegen die Theologie und den »gemeinen H a u f e n « . Lessing behauptet nämlich, d a ß im G r u n d e nur der gelehrte Theologe, nicht aber der gläubige Christ durch Reimarus in Verlegenheit gesetzt werde. Denn was gehen den Christen »dieses Mannes Hypothesen und Erklärungen und Beweise an? I h m ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlet. - Wenn der Paralytikus die wohltätigen Schläge des elektrischen Funkens erfährt, was kümmert es ihn, ob Nollet oder ob Franklin oder ob keiner von beiden recht hat?« ( X X I I , 186). Der Buchstabe, f ä h r t Lessing fort, sei »nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben und gegen die Bibel nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion. Denn die Bibel enthält offenbar mehr als zur Religion Gehöriges, und es ist bloße Hypothes, daß sie in diesem Mehrern gleich unfehlbar sein müsse. Auch war die Religion, ehe eine Bibel war. Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb, und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zustande kam. Es mag also von diesen Schriften noch soviel abhängen, so kann dodi unmöglich die ganze Wahrheit der Religion auf ihnen beruhen. War ein Zeitraum, in welchem sie bereits so ausgebreitet war, in welchem sie bereits sich so vieler Seelen bemächtiget hatte, und in welchem gleichwohl noch kein Buchstabe aus dem von ihr aufgezeichnet war, was bis auf uns gekommen, so muß es audi möglich sein, daß alles, was Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren gänge 10

Vgl. u. a. Lessings Brief an Eschenburg (vom 1 4 . 1 . 1 7 7 8 ) , an Karl Lessing (vom 2 5 . 2 . 1 7 7 8 und 1 6 . 3 . 1 7 7 8 ) und an Elise Reimarus (vom 9 . 8 . 1 7 7 8 ) . Wir werden auf diese Briefe nodi zurückkommen. S. a. Hans Leisegang, Lessings Weltanschauung, Leipzig 1931, S. 180 ff. 17 Dazu Leisegang, a.a.O., S. 197 f.; s. a. Anm. 151.

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und die von ihnen gelehrte Religion doch bestände. Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten, sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist. Aus ihrer innern Wahrheit müssen die schriftlichen Uberlieferungen erklärt werden, und alle schriftlichen Überlieferungen können ihr· keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat« ( X X I I , 186 f.).

Mit diesen Sätzen, die in den bald darauf anhebenden theologischen Streitigkeiten eine zentrale Stelle einnehmen, suchte Lessing die Einwände des Fragmentisten allgemein zu widerlegen. Auf diese »allgemeine Antwort« ließ er - um dem »ersten panischen Schrecken« (XXII, 188) der Leser zu steuern - eine Anzahl von provisorischen Detailwiderlegungen folgen. Am Ende seiner »Gegensätze« aber steht eine Herausforderung: der Mann, der die »Untrüglichkeit der Evangelisten in jedem Worte behauptet... versuche es nun und beantworte die gerügten zehn Widersprüche unsers Fragments. Aber er beantworte sie alle! Denn diesem und jenen nur etwas Wahrscheinliches entgegensetzen und die übrigen mit triumphierender Verachtung übergehen, heißt, keinen beantworten« (XXII, 206). Es war zu erwarten, daß die konservative Theologie diese Herausforderung nicht unbeantwortet lassen würde. Lessing hatte aber zweifellos nicht damit gerechnet, daß der schärfste Protest gegen die Herausgabe der Fragmente von einem Manne erhoben werden sollte, den er wegen seiner Gelehrsamkeit und seiner außerordentlichen Bücherkenntnis geschätzt hatte und in dessen Haus er - zur Verwunderung seiner Freunde — im Jahre 1769 häufig zu Gast gewesen war 1 8 . Dieser Mann war der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717-86), der streitbare, als theologischer Polemiker sehr produktive Vertreter der lutherischen Orthodoxie, der durch seine Fehden mit Freigeistern wie Alberti, Bahrdt und Basedow weit über die Grenzen der Hansestadt hinaus bekannt geworden war. Goeze war freilich nicht der erste, der den Kampf gegen Reimarus und den Herausgeber der Fragmente aufnahm. Zuvor hatten sich bereits Johann Daniel Schumann (Gymnasialdirektor in Hannover) und der Wolfenbütteler Superintendent Johann Heinrich Reß zu Wort gemeldet, ferner der Hamburger Privatgelehrte Friedrich Wilhelm Mascho (ehemals Rektor der Schule in Ruppin) und der Berliner Pastor George Chr. Silberschlag. Schumanns Untersuchung »Über die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion« (1777), die sich 18 Vgl. Nicolais Bericht über Lessings Bekanntschaft mit Goeze ( X X , 197 ff.); ferner G. R. Röpe, Johann Melchior Goeze. Eine Rettung. Hamburg 1860, S. 138 ff.

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auf eine Widerlegung des Reimarus beschränkt, ohne auf die Zusätze zu den Fragmenten einzugehen, beantwortete Lessing mit der anonym veröffentlichten Schrift »Uber den Beweis des Geistes und der Kraft« (1777). Hier präzisierte er seine Ansicht über die Bedeutung des Historischen in der christlichen Religion: »Zufällige Geschichtswahrheiten heißt es darin, könnten nie der »Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten« (XXIII, 47) werden. Auch das in Gesprächsform abgefaßte »Testament Johannis« (1777) ist eine Frucht der Kontroverse mit Schumann. Hatte Lessing in seiner ersten Schrift gegen Schumann die Wunder als Beweismittel für die Wahrheit der christlichen Religion abgelehnt, so stellt er hier die Behauptung auf, daß es »christliche Liebe« (im Sinne der Predigt des Evangelisten Johannes) audi ohne christliche Glaubenslehren geben könne (vgl. X X I I I , 54). Dieselbe anti-orthodoxe, dogmenfeindliche Gesinnung bezeugte Lessing auch in der gegen Reß geschriebenen »Duplik« (1778), auf die wir später zurückkommen werden. Zu einer Ausarbeitung seiner erst aus dem theologischen Nachlaß mitgeteilten Konzepte über Mascho und Silberschlag ist er nicht mehr gekommen. Inzwischen war Goeze auf den Plan getreten, sodaß Lessing es offenbar für zweckmäßig gehalten hat, seine Kräfte nicht länger in zahlreichen Einzelgefechten zu verzetteln 19 . 19

Zum Folgenden vgl. L. Zscharnack in den Einleitungen zu seiner Ausgabe von Lessings theologischen Schriften (Werke X X - X X I I I , ferner die Anmerkungen in X X V I I I , S. 904 ff., wo auch die theologische Spezialliteratur verzeichnet ist); ders., Lessing und Semler, Gießen 1905 passim und M. Schmidt, Evangelische Kirchengesdiidite Deutschlands von der Reformation bis zur Gegenwart; in: Deutsche Philologie im Aufriß, hg. von W. Stammler, III. Bd., Berlin 2 1962, bes. Sp. 1793 ff. Eine objektive Darstellung und Würdigung der Fehde gab E. Schmidt in seiner Lessing-Biographie, 2. Bd., Berlin 4 1923, S. 236-295. - Gegen G. R. Röpes vom orthodoxen Standpunkt geschriebene Goeze-Rettung (vgl. Anm. 18) wandte sich A. Boden, Lessing und Goeze. Ein Beitrag zur Literatur- und Kirchengeschidite des 18. Jahrhunderts. Zugleich als Widerlegung der Röpeschen Schrift: »Johan Melchior Goeze, eine Rettung«, Leipzig und Heidelberg 1862. - Wichtige Beobachtungen über den Einfluß des Pietismus auf Lessings Religiosität und über die in der Erfahrung des Christen begründete »innere Wahrheit des Christentums« bei W. Dilthey, G. E. Lessing; in: Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen o. J., 12. Aufl., S. 62 ff. In einer fragmentarischen, aber sehr anregenden Studie skizziert W. Nigg das Bild des Ketzers Lessing (Das Buch der Ketzer, Zürich 1949, bes. S. 469 ff.). - Zum Widerspruch herausfordernde Aperçus in Th. Manns LessingRede (Adel des Geistes, Frankfurt 1955, S. 17 ff.); ebenso temperamentvoll und nicht weniger eigenwillig W. Haftmanns Lessing-Rede (G. E. Lessing oder Über den Auftrag des Schriftstellers in kritischen Zeiten, München 1962); in den Freimaurergesprächen glaubt Haftmann die »leuchtende Utopie« einer freien, klassenlosen Gesellschaft zu erkennen (a.a.O., S. 24 ff.); Lessings polemische Aggressivität deutet Haftmann als »eine Methode der Selbstprovokation seines Denkens« (S. 24 f.), womit er der Goeze-Fehde keineswegs gerecht wird. - Auf die sehr subjektive Würdigung des Polemikers Lessing, mit der F. Schlegel zugleich eine indirekte Rechtfer-

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Den ersten Angriff gegen Reimarus und den »Herrn Herausgeber« der Fragmente (Lessing wird hier noch nicht namentlich genannt) führte Goeze Mitte Dezember 1777 im 55./56. Stück der »Freywilligen Beiträge zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit«, dem von den Anti-Orthodoxen als »schwarze Zeitung« bezeichneten Theologenblatt 20 . Dieser in einem relativ milden Ton gehaltenen kritischen Anzeige 21 folgte Ende Januar 1778 (im 61.-63. Stüde der »Frey willigen Beiträge«) eine neue, weitaus schärfere Attacke, in welcher der als »Pflegevater« der von Reimarus »hinterlassenen Mißgeburth« 22 apostrophierte Lessing aufgefordert wird, sich zu Goezes Widerlegung des Fragmentisten zu äußern. Dieser förmlichen Aufforderung hätte es indessen nicht bedurft, denn Lessing war, nachdem ihm die erste Goeze-Rezension bekannt geworden war 2S , sogleidi darangegangen, seine in den »Gegensätzen« skizzierte Position ausführlicher zu erläutern. In den »Axiomata« und in den »friedlichen Blättern« (XXIII, 158) der »Parabel« (beide erschienen im März 1778) antwortet er auf die Einwürfe des Hamburger Pastors. Erst nach der Fertigstellung dieser Arbeiten erhielt er von Goezes zweitem Angriff Kenntnis. Auf diese Herausforderung reagierte er, aufs äußerste empört, mit dem im Anhang zur »Parabel« veröffentlichten »Absagungsschreiben«, das eine schneidend formulierte Kampfansage enthält: »Und sonach meine ritterliche Absage nur kurz. Schreiben Sie, Herr Pastor, und lassen Sie schreiben, soviel das Zeug halten will. Ich schreibe auch. Wenn ich Ihnen in dem geringsten Dinge, was mich oder meinen Ungenannten angeht, recht lasse, wo Sie niât recht haben, dann kann ich die Feder nidot mehr rühren« (XXIII, 161).

Noch mehr scheint Lessing die am 17. März 1778 im 71. Stück der »Freywilligen Beiträge« erschienene anonyme Mascho-Rezension24 aufgebracht zu haben. Darin wurde die Behauptung aufgestellt, daß die Herausgabe der »leidigen Fragmente« eine »Verführung zur Irrelitigung seiner eigenen polemischen und kritischen Tendenzen verband, werden wir später ausführlich eingehen. 80 Vgl. Röpe, a.a.O., S. 11. 21 In: Goezes Streitschriften gegen Lessing, hg. von E. Schmidt, D L D 43/45, Stuttgart 1893, S. 11-23. 22 GS ( = Goezes Streitschriften gegen Lessing), S. 41. 23 Vgl. Brief an Eschenburg vom 7 . 1 . 1 7 7 8 : »Ich danke Ihnen für die Abschrift des Götzischen Aufsatzes. Diese Materien sind itzt wahrlich die einzigen, die mich zerstreuen können« (Briefe 18, S. 261); ähnlich am 14. 1. 1778 an Eschenburg (Briefe 18, S. 263). 24 Sie behandelt die von F. W. Mascho aufgesetzte »Verteidigung der geoffenbarten christlichen Religion wider einige Fragmente aus der Wolfenbüttelischen Bibliothek«, 1. Stück, Hamburg 1778; vgl. GS, 193 und Zsdiarnack X X I I I , 18 f. u. 23.

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giosität« 2 5 darstelle. Lessing hielt fälschlicherweise Goeze für den Verfasser dieser Rezension 26 . Er antwortete darauf mit dem ersten »AntiGoeze«, dem in kurzen Abständen zehn weitere Stücke der »Notgedrungenen Beiträge zu den Freiwilligen Beiträgen des Hrn. Past. Goeze« folgten, bis ihm am 6. Juli 1778 durch einen herzoglichen Erlaß die Fortsetzung untersagt und wenige Tage darauf audi die bis dahin gewährte Zensurfreiheit entzogen wurde 27 . Goeze hatte den Streit durch die Veröffentlichung zahlreicher Flugschriften geschürt 28 . Erst die im Oktober 1778 in Hamburg gedruckte erste Folge der »Nötigen Antwort auf eine sehr unnötige Frage des Herrn Hauptpastor Goeze in Hamburg« ( X X I I I , 278 ff.) wurde von ihm nicht mehr beantwortet. Auch Lessing hat nach dieser Schrift nichts mehr gegen Goeze veröffentlicht, obgleich er noch » M a t e r i e . . . zu Folianten« bereit hatte, wie er am 11. 8 . 1 7 7 8 dem Bruder mitteilt 2 9 . Der zuerst von Karl Gotthelf Lessing edierte theologische Nachlaß 3 0 zeigt, daß das keine Ubertreibung war. Indessen scheint Lessing bereits damals keine Lust mehr zur Fortsetzung der Fehde gehabt zu haben. Im August 1778 erinnert er sich plötzlich seines »Nathan«-Entwurfes; er entdeckt, daß der Inhalt dieses Schauspiels »eine Art von Analogie« 3 1 mit seinen gegenwärtigen Streitigkeiten hat und geht sogleich an die Ausarbeitung des in Vergessenheit geratenen Planes. Mit diesem »dramatischen Absprang« 3 2 will er den Theologen einen »ärgern Possen« spielen als »noch mit zehn Fragmenten« 33 . »Es wird nichts weniger, als ein satirisches Stück, um den Kampfplatz mit Hohngelächter zu verlassen«, versichert er Karl Lessing, »es wird ein so rührendes Stück, als ich nur immer gemacht habe« 3 4 . Er müsse versuchen, ob man ihn auf seiner »alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, nodi ungestört will predigen lassen«, schreibt er am 6. 9. 1778 an Elise Reimarus 3 5 . Mit dem 2 6 Vgl. Zscharnack; X X I I I , 23. Vgl. GS, S. 192 f. Vgl. Briefe 21, S. 213 f. und 223 f. 2 8 Sie erschienen in zwei Sammlungen: 1. »Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofraths Leßings mittelbare und unmittelbare feindselige Angriffe auf unsre allerheiligste Religion, und auf den einigen Lehrgrund derselben, die heilige Schrift«, Hamburg 1778; 2. »Leßings Schwächen«, 3 Stücke, Hamburg 1778. Neudruck in GS. 25

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Briefe 18, S. 285. Karl Gotthelf Lessing, G. E . Lessings Leben, nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse; II. Band, Berlin 1795. 31 Briefe 18, S. 285. 3 2 Briefe 18, S. 290. 3 3 Briefe 18, S. 2 8 6 ; Nathan sei »ein Sohn seines eintretenden Alters, den die Polemik entbinden helffen«, schreibt Lessing am 18. 5. 1779 an F. H . Jacobi (Briefe 18, S. 319). 3 4 Briefe 18, S. 289. 35 Briefe 18, S. 287. 29

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Nathan, dem 12. Anti-Goeze 36 , hat Lessing seinen schärfsten Schlag gegen das orthodoxe Christentum geführt. In diesem Stück erst hat er auf Goezes Frage geantwortet, »was für eine Religion er durch die Christliche Religion verstehe; und was für eine Religion er seihst als die •wahre erkenne und annehme«37. 2. Ein »heiliger Krieg« 38 ? Lessings Polemik, schreibt F. Schlegel 1797, sei »völlig vergessen«; so sehr, daß es » vielleicht für Viele, -welche Verehrer Lessings zu sein glauben, ein Paradoxon sein würde, wenn man behauptete, der Anti-Götze verdiene nicht etwa bloss in Rücksicht auf zermalmende Kraft der Beredsamkeit, überraschende Gewandtheit und glänzenden Ausdruck, sondern an Genialität, Philosophie, selbst an poetischem Geiste und sittlicher Erhabenheit einzelner Stellen, unter allen seinen Schriften den ersten Rang. Denn nie hat er so aus dem tiefsten Selbst geschrieben, als in diesen Explosionen, die ihm die Hitze des Kampfs entriss, und in denen der Adel seines Gemüths im reinsten Glanz so unzweideutig hervorstrahlt.« 3 9

Thomas Mann, zweifellos durch F. Schlegel ermutigt, geht noch einen Schritt weiter. Er bezeichnet die theologische Polemik gegen Goeze als Lessings »schönste Dichtung«, als »Dichtung ganz und gar« 40 . Hier wird mit offenkundiger Freude an der provozierenden Überspitzung ein Standpunkt vertreten (wobei übrigens Th. Mann ebenso wie F. Schlegel pro domo sprechen dürfte), der in krassem Widerspruch zu der üblichen Einschätzung der Polemik zu stehen scheint. Oder dürfen wir Thomas Mann beim Wort nehmen? Ist es erlaubt, die Polemik, wo sie mit Meisterschaft geübt wird, für die Dichtung zu reklamieren? Hat Lessing, müssen wir weiter fragen, mit Goeze nur gespielt? Waren etwa auch die Anti-Goeze nichts weiter als das Produkt jener »verspielten Leidenschaft«, die - nach Mann - das »organische Geheimnis alles Künstlertums« ist? Das sind Fragen, die offenbar nicht nur für eine gerechte Würdigung von Lessings Fehde mit dem Hamburger Haupt3 8 Vgl. F.Schlegel: » N a t h a n . . . ist die Fortsetzung vom Anti-Götze, Numero Zwölf« (Ueber Lessing; in: Prosaische Jugendschriften, hg. von J . M i n o r , 2. Bd., Wien 1906, S. 158; abgek.: L I). 3 7 GS, S. 124. 3 8 Lichtenbergs Briefe, hg. von A. Leitzmann und C . Schiiddekopf, I. Bd., Leipzig 1901, S. 351. 3 9 F. Schlegel, a.a.O., S. 146. 4 0 Rede über Lessing; in: Adel des Geistes, Stockholmer Gesamtausgabe 1955, S. 18; das folgende Zitat: S. 19.

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p a s t o r , s o n d e r n auch g a n z a l l g e m e i n f ü r d i e P r ü f u n g d e r N a c h b a r s c h a f t s v e r h ä l t n i s s e z w i s c h e n P o l e m i k u n d S a t i r e erheblich s i n d . S e h e n w i r a l s o g e n a u e r hin. In der Einleitung zu der v o n ihm besorgten A u s g a b e v o n Lessings theologischen S c h r i f t e n e r k l ä r t G . W i t k o w s k i : » D e r L e s e r b e d a r f k e i n e r A n l e i t u n g , u m d i e unvergleichliche K r a f t , d e n G l a n z der F o r m u n d d i e s i e g h a f t e G e w a l t d e r G e d a n k e n i n L e s s i n g s >ParabelAxiomata A n t i - G o e z e s < z u s c h m e c k e n « . G e w ö h n l i c h p f l e g t e d e r H e r 41

a u s g e b e r u n d K o m m e n t a t o r W i t k o w s k i , dessen editorische A r b e i t a u d i h e u t e noch als m u s t e r g ü l t i g bezeichnet w e r d e n d a r f , d e n G e s c h m a c k , d i e K e n n t n i s s e u n d d i e U r t e i l s f ä h i g k e i t seiner L e s e r nicht s o hoch einz u s c h ä t z e n . A b e r W i t k o w s k i ist nicht d e r e i n z i g e , d e r einer g r ü n d l i c h e n A n a l y s e v o n L e s s i n g s theologischen S t r e i t s c h r i f t e n a u s d e m W e g e gegangen ist42. In: Lessings Werke (Bibliograph. Inst.) Leipzig und Wien o. J . Band VII, S. 15. Eklatantes Beispiel: C. G. W. Schillers »Lessing im Fragmentenstreit, nadi Form und Inhalt seiner Polemik gewürdigt«, Leipzig 1865. Die Form von Lessings Polemik wird in dieser Arbeit überhaupt nicht berücksichtigt. - Allgemein über Lessings Sprache handelt E. Schmidt, Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, 2. Bd., Berlin 4 1923, S. 488-539. - Immer noch nützlich O. Immischs »Beiträge zur Beurteilung der stilistischen Kunst in Lessings Prosa, insonderheit der Streitschriften«; in: Neue Jahrbücher für Philologie und Paedagogik, hg. von A. Fleckeisen und H.Masius, 57. Jg., 136. Bd., Leipzig 1887, S. 331-347 und S. 393-410; H. Hafen hat diese Arbeit in seinen »Studien zur Geschichte der deutschen Prosa im 18. Jahrhundert« (Diss. Zürich 1952, S. 57-70) mit Gewinn benutzt, in der Eile jedoch vergessen, seinem Vorgänger den gebührenden Dank abzustatten. - Unergiebig die flüchtigen Anmerkungen O. Janckes zum 2. Anti-Goeze; in: Kunst und Reichtum deutscher Prosa, München 1954, S. 16-24. - Auch E. Staiger läßt es in seinem Vorlesungs-Kapitel über »Lessings Prosa« (Dichtung und Deutung. Gedächtnisschrift für H. M. Wolff, Bern und München 1961, S. 143-151) mit Andeutungen bewenden. Der Aufsatz von B. Schulz über »Die Sprache als Kampfmittel. Zur Sprachform von Kampfschriften Luthers, Lessings und Nietzsches« (DVS 18/1940, S. 431—466) atmet den »Geist« jener Zeit, in der er entstand. - Eine großangelegte Arbeit »Über den Stil G. E. Lessings im Verhältnis zur Aufklärungsprosa« hat B. Markwardt im Manuskript abgeschlossen. Teile daraus wurden in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Universität Greifswald (Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe) veröffentlicht; die VI. Studie über Lessings »Kampfprosa« in drei Fortsetzungen: Jg. III, 1953/54, Nr. 3/4, S. 151-180; J g . IV, 154/55, Nr. 1/2, S. 1-34 und Jg. IV, Nr. 3, S. 177-207; die VIII. Studie über »Einzelzüge zeitgebundener Sprachgestaltung« in Jg. V, 1955/56, Nr. 4/5, S. 297-338. Markwardt bemüht sich in seiner Arbeit vor allem um eine deutliche Unterscheidung des Personalstils vom Zeitstil. Wie weit ihm die Verwirklichung dieses Vorhabens gelungen ist, wird sich erst beurteilen lassen, wenn die gesamten Studien (Inhaltsübersicht, a.a.O., Jg. III, Nr. 3/4, S. 152-158) im Drude vorliegen. In den bereits veröffentlichten Anti-Goeze-Analysen (die uns hier naturgemäß in erster Linie interessieren) bezeugt Markwardt ein erstaunliches Maß von Indolenz gegenüber der Unsachlithkeit, Ungerechtigkeit und Frivolität von Lessings Polemik. Im weiteren Verlauf unserer Arbeit wird sich zeigen, was von Feststellungen etwa der folgenden Art zu halten ist: Lessing, behauptet Markwardt, 41

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Bereits F . Schlegel h a t t e m i t Bezug auf Lessings Polemik erklärt: »Nichts leidet ungerner einen C o m m e n t a r oder rächt sich so bitter an demselben, als ein P r o d u k t des W i t z e s « 4 3 ; und auch Schlegel h a t t e dem Leser nahegelegt, sich selbständig m i t den »originellen und m e r k w ü r d i gen (Konfigurationen dieses W i t z e s « 4 4 auseinanderzusetzen. D a s ist jedoch m i t beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden. Zweifellos dürfte es einfacher sein, die vielfältigen Reize v o n Lessings polemischen Schriften zu »schmecken«, als darüber Rechenschaft abzulegen, welche stilistischen und kompositorischen Mittel die W i r k u n g v o n Lessings Polemik begründen. Genau das aber haben w i r zunächst z u prüfen, ehe w i r uns a u f die F r a g e nach dem Verhältnis der Polemik zur Satire einlassen können. Lessing h a t t e in seinen »Gegensätzen« zu den F r a g m e n t e n des R e i marus, in der »Duplik« und in den » A x i o m a t a « die These vertreten, daß die christliche Religion sich »weder auf die ganze

Bibel noch a u f

die Bibel einzig und allein gründe«, daß sich das Wesen des Christentums »gar wohl ohne alle Bibel denken lasse«; er h a t t e ferner gegen »bevorzugte die Polemik als Mittel zum Zweck. Und gerade im Fragmentenstreit, der immer wieder in die Kernposition des Kampffeldes gerückt wird, ging es für den Aufklärer und Bahnbrecher der Wahrheit um hohe Zwecke. Ihm ging es nidit zum wenigsten um den Gehalt, um die Sache, die zugleich eine Gesinnung einschloß« (VI. Studie, a.a.O., Jg. IV, 1954/55, S. 31). Vom Gehalt der Anti-Goeze ist bei Markwardt indessen nicht die Rede; und auf Goezes Anti-Lessingiana geht er in seiner Analyse der theologischen Streitschriften überhaupt nicht ein. Offenbar hat es audi Markwardt für entbehrlich gehalten, die in Frage stehende Sache (die zugleich eine Gesinnung einschließt) genau zu prüfen und die Argumente beider Kombattanten gegeneinander abzuwägen. Bereits W. Wackernagel hatte die Ansicht geäußert, daß Lessings Anti-Goeze von einer »so lebendig individuellen Bezüglichkeit« seien, »daß man keine Fragen und Antworten von der anderen Seite her vermißt« (Poetik, Rhetorik und Stilistik, hg. von L. Sieber, Halle 1873, S. 269; vgl. dazu B. Schulz' in Anm. 115 zitierte Stellungnahme). Hier wird die verhängnisvolle Wirkung der »wunderbaren Magie einer ungemeinen Anziehungs- und Uberzeugungskraft«, die, wie Danzel fand, Lessings Schriften innewohnt, besonders augenfällig (G. E. Lessing. Sein Leben und seine Werke, 1. Bd., Berlin 2 1880, S. 35). Einzig Herder (dem wir die im 1. kritischen Wäldchen veröffentlichte, bis heute unübertroffene Charakteristik von Lessings »Schreibart« verdanken) hatte sich durch die stilistische Magie des Polemikers nicht zu vorschnellen Urteilen verleiten lassen. In seinem Lessing-Nekrolog schreibt er: »Uebrigens will ich hier Leßing nur entschuldigen, weil er ein Mensch, wie wir, war; nicht rechtfertigen, noch rühmen; denn ich kenne weder alle die Gegner, noch alle die Umstände, die ihn reizten. Des Mannes (gemeint ist Goeze) Schrift, z. B. gegen den er am heftigsten geschrieben, kenne ich noch bis jetzt nicht, und bin also kein Richter zwischen beiden« (Sämmtl. Werke, hg. von B. Suphan, 15. Bd., S. 509). 4 3 Lessings Geist aus seinen Schriften oder dessen Gedanken und Meinungen zusammengestellt und erläutert von F.Schlegel, 3 Tie., Leipzig 2 1810 (abgek.: L II); das Zitat: L II, 2. Tl., S. 19. " L II, 2. Tl., S. 18. 131

Reimarus behauptet, daß es einem wahren Christen 45 sehr gleichgültig sein könne, »ob sich auf alle Einwürfe gegen die Bibel befriedigend antworten lasse oder nicht; besonders wenn diese Schwierigkeiten nur daraus entstehen, daß so mancherlei Schriften von so verschiedenen Verfassern, aus so verschiedenen Zeiten ein Ganzes ausmachen sollen, in welchen sich nicht der geringste Widerspruch finden müsse, wovon dodi der Beweis in diesen Schriften selbst unmöglich zu finden sein könne« (XXIII, 320). Nach Goezes Ansicht waren diese Gegensätze des Herausgebers eine »Arzeney, welche nodi giftiger war, als das in dem Fragmente befindliche Gift selbst«46. In Lessings Thesen sah er einen verdammungswürdigen Angriff auf die christliche Religion und die Heilige Schrift, denn ihm galt die Bibel als der »einige Lehrgrund der christlichen Religion ... ohne welchen dieselbe nicht erwiesen, nicht fortgepflanzet werden, also nicht bestehen könte«47. Hier bestand ein unüberbrückbarer Gegensatz. An eine Bekehrung seines Gegners konnte nach Lage der Dinge keiner der Kontrahenten ernstlich glauben. Vielleicht hätten Lessing und Goeze, nachdem die beiderseitigen Positionen abgesteckt waren, auf eine Fortsetzung der Streitigkeiten verzichtet. Durch die in den »Freywilligen Beiträgen« veröffentlichte Mascho-Rezension 48 erhielt die Fehde jedoch neue Nahrung. Wir wissen, daß Lessing irrigerweise Goeze für den Verfasser dieser Schrift hielt, in welcher der Herausgeber der Fragmente als Religionsfeind und Verführer angeprangert wurde. Er antwortet bereits zwei Wochen später mit dem ersten Anti-Goeze. Damit tritt die Kontroverse in ein neues Stadium: der »Aufseher von Bücherschätzen« (XXIII, 67) und »Liebhaber der Theologie« (XXIII, 164) rechnet mit dem Theologen ab. Er verteidigt sich nicht, er greift an: »Überschreien können Sie mich alle acht Tage; Sie wissen wo. Überschreiben sollen Sie mich gewiß nicht« (XXIII, 192). Lessing ist entschlossen, das letzte Wort zu behalten. Er will Goeze »Schritt vor Schritt auf den Leib« rücken, er will ihn »umzingeln«, um »ihn endlich in dem Winkel zu haben, wo er mir nicht entwischen kann« (XXIII, 227). Der mit »Lieber Herr Pastor!« Angeredete ist nicht sein Partner, sondern sein Feind. Jetzt kommt es ihm nicht mehr darauf an, Goeze zu widerlegen, was nach dem Motto des 1. Anti-Goeze 49 noch zu erwarten gewesen wäre. Sein Ziel ist es vielmehr, den Pastor zum Verstummen zu bringen, zu 45 Lessing spielt den »wahren«, mehrfach gegen den Theologen aus; 46 47 GS, S. 105. GS, S. 49 »Multa sunt sie digna revinci, 192.

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d. i. »fühlenden« und »einfältigen« Christen vgl. »Axiomata«; X X I I I , 187. 46 170. GS, S. 192 f. ne gravitate adorentur« (Tertullianus); X X I I I ,

vernichten, »capot« zu machen, wie er in einem Brief an den Bruder schreibt 50 . Lessing hat diesen Kampf mit einer ungewöhnlichen Vehemenz geführt. »Ich muß, ich muß entbrennen, - oder meine Gelassenheit selbst, meine Kälte selbst machen mich des Vorwurfs wert« ( X X I I I , 201). Aber der in zahlreichen Fehden erprobte rebellische Außenseiter vermag seine »liebe Iraszibilität« 5 1 zu kontrollieren und erweist sich selbst im Zustand der heftigsten Empörung als überlegener Taktiker. Völlig respektlos und ohne die möglichen Folgen seiner Ausfälle zu bedenken, hat Lessing es von Anfang an darauf angelegt, Goezes »Schwächen« bloßzustellen. Mit beißendem Hohn zerpflückt er wirkliche oder scheinbare Widersprüche, ungeschickte oder ungenaue Formulierungen in Goezes Argumentation, den Gegner dabei durch die planmäßige Systemlosigkeit seiner sogenannten Briefe verwirrend, ja düpierend. Hier ist nicht mehr der unparteiisch wägende »Geist der Prüfung« ( X X I I , 209) am Werk, sondern ein erbarmungsloser Vernichtungswille, dem nicht die Sadie, sondern allein derjenige, der sie vertritt, wichtig ist. Nicht um die Bereinigung von theologischen Divergenzen geht es jetzt, sondern um die Person. »Anti-Goeze« hat Lessing seine »notgedrungenen« Beiträge zu den »freiwilligen« Beiträgen des Hamburger Pastors genannt. Und bereits hier, im Titel 5 2 der Briefserie, beginnt Lessings boshaftes Spiel mit Äquivokationen und Antithesen: die Homonymie von Goeze und Götze wird gegen das lutherische »Päpstchen« ( X X I I I , 194) polemisch ausgemünzt. Mit dem Haupttitel hat er vermutlich eine Assoziation zwischen Anti-Goeze (eigentlich wäre contra Goeze zu erwarten gewesen) und Anti-Christ herzustellen versucht. Der Untertitel ist so gewählt, daß Goeze damit die Verantwortung für die Fortsetzung der Kontroverse zugeschoben wird. Lessing antwortet nur »notgedrungen«; darüber hinaus sucht er mit dem Ausruf, daß der 1. Anti-Goeze zugleich der letzte sein möge, den Anschein zu erwecken, als ob er an einer möglichst raschen Beendigung der Fehde interessiert sei. Mit dem Motto endlich bedeutet er dem Pastor, daß er die Argumente seines Gegners nur wegen ihres scheinbaren Gewichts zu widerlegen gedenke. Höflich gibt sich Lessing nur in der Anrede. Aber er hat den Adressaten keinen Augenblick lang darüber im Zweifel gelassen, daß er sich hier nur den Regeln der ironischen Höflichkeit unterwirft. 5 1 Lessings Werke; X X V , 155. Am 23. 7. 1778; Briefe 18, 277. »Anti-Goeze. D . i. Notgedrungener Beiträge zu den freiwilligen Beiträgen des Hrn. Past. Goeze E R S T E R . (Gott gebe, letzter!).« 50 52

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Auf diese zynische Introduktion folgt eine abermalige Kampfansage. Goeze soll wissen, daß es Lessing mit der am Schluß des »Absagungsschreibens« ausgesprochenen Drohung ernst ist. Die Herausgabe der Fragmente wird nur flüchtig verteidigt. Lessing betont, daß er Reimarus nur deshalb bekannt gemacht habe, damit ihn »recht viele prüfen, recht viele widerlegen könnten« ( X X I I I , 192). Er glaubt der christlichen Religion mit dieser Publikation einen größeren Dienst erwiesen zu haben als Goeze mit allen seinen Postillen und Zeitungen; ja er verspricht sich sogar für seine Tat eine Belohnung vom Reichshofrat, sobald »aufgeklärtere, tugendhaftere Zeiten« ( X X I I I , 193) gekommen sein werden. Nach diesen Plänkeleien setzt er zu seinem ersten Angriff an. Mit Entrüstung protestiert er dagegen, daß Goeze versucht hatte, den Reichshofrat - die höchste Instanz für die Entscheidung von Religionsstreitigkeiten - zum Einschreiten gegen Lessing zu bewegen: zu einem Schritt, der, »vor zweihundertundfunfzig Jahren mit Ernst getan, uns um alle Reformation gebracht hätte!« ( X X I I I , 193) Goeze hatte bei dieser Gelegenheit zwar eingeräumt, daß es »verständigen und gesetzten Männern« vergönnt bleiben müßte, »bescheidne Einwürfe gegen die christliche Religion, und selbst gegen die Bibel, zu machen«; allerdings sollten diese Einwände in lateinischer Sprache erhoben werden, wobei der angreifende Teil nicht die Freiheit haben dürfte, die »heiligen Männer Gottes . . . als Dumköpfe, als Bösewichter, als Leichenräuber. zu lästern« 5 3 . An dieser Stelle setzt Lessing seinen Angriff an, und zwar zunächst nicht als »Retter« des Reimarus, sondern als Apologet von K . F. Bahrdts »Neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen verdeutscht« (Riga 1773), einer abgeschmackten, dünnblütigen, im rationalistischen Geiste verfaßten Paraphrase des Neuen Testaments 54 . Goeze hatte Bahrdts angebliche Ubersetzung scharf verurteilt und sie als eine »vorsätzliche Fälschung und frevelhafte Schändung« des göttlichen Wortes bezeichnet 55 . Lessing nimmt nun Bahrdt gegen Goeze in Schutz, und zwar mit einer sachlich und logisch nicht haltbaren Argumentation, die Goeze leicht ad absurdum zu führen vermochte 56 . Bahrdt, behauptet Lessing, habe nichts anderes getan als das, was vor ihm auch Luther getan habe, der seine Übertragung sogar gegen die von der Kirche vertretene GS, S. 71. Dieses von Goethe in seinem »Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes, verdeutscht durdi Dr. Carl Friedrich Bahrdt« verspottete Machwerk wurde am 2 6 . 2 . 1778 durch ein Reidishofratskonklusum verboten. 5 5 Vgl. Röpe, a.a.O., S. 85 f.; s. a. GS, S. 151 f. 5 6 GS, S. 151 f. 53 54

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Meinung habe verteidigen müssen, »daß es besser sei, wenn die Bibel von dem gemeinen Manne in seiner Sprache nicht gelesen werde« (XXIII, 193). (Gegen diese Behauptung hat Goeze mit Recht Einspruch erhoben 57 .) »Bahrdtens oder eines andern itzt Lebenden Übersetzung verdammen, heißt der Lutherschen Übersetzung den Prozeß machen« (XXIII, 194), folgert Lessing. Und jetzt wird deutlich, daß die Bahrdt-Apologie nur der taktischen Vorbereitung des Hauptschlags dient, der darauf zielt, Luther gegen Goeze auszuspielen. Der »wahre Lutheraner«, fährt Lessing fort, »will nicht bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein« (XXIII, 194) 58 ; jener freiheitliche Geist aber, wie ihn Luther bezeugt habe, erfordere schlechterdings, daß »man keinen Menschen in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen hindern muß. Aber man hindert alle daran, wenn man auch nur einem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntnis andern mitzuteilen. Denn ohne diese Mitteilung im einzeln ist kein Fortgang im ganzen möglich« (XXIII, 194). Ein erregender Vorgang: wie der der Religionsfeindsdiaft bezichtigte Amateurtheologe, jetzt in der Rolle des »wahren Lutheraners«, gegen den Repräsentanten des angeblidi verfälschten, buchstabengläubigen Luthertums Anklage erhebt; wie der für die absolute Erkenntnis- und Mitteilungsfreiheit streitende Protestant gegen das Haupt der reaktionären »geistlichen Tyrannei« (XXIII, 213) seine erste Philippika schleudert: »Herr Pastor, wenn Sie es dahin bringen, daß unsere Luthersdien Pastores unsere Päpste werden, — daß diese uns vorschreiben können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen, - daß diese unserm Forschen, der Mitteilung unsers Erforschten Schranken setzen dürfen, so bin ich der erste, der die Päpstchen wieder mit dem Papste vertauscht. - Hoffentlich werden mehrere so entschlossen denken, wenngleich nicht viele so entschlossen reden dürften. Und nun, Herr Pastor, arbeiten Sie nur darauf los, so viele Protestanten als möglich wieder in den Sdioß der katholischen Kirche zu scheuchen! So ein Luthersdier Eifrer ist den Katholiken schon recht. Sie sind ein Politikus wie ein Theolog« (XXIII, 194).

Kein Zweifel, daß Goeze mit diesem Angriff, der fast den Charakter einer Denunziation hat, Unrecht geschah. Lessing wußte genau, daß der 57

Vgl. GS, S. 147 ff. S. a. Lessings »Absagungsschreiben« an Goeze: »Luther, du! - Großer, verkannter Mann! Und von niemanden mehr verkannt als von den kurzsichtigen Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg schreiend, aber gleichgültig dahersdilendern! - D u hast uns von dem Jodie der Tradition erlöset; wer erlöset uns von dem unerträglichem Jodie des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest, wie es Christus selbst lehren würde! W e r — « ( X X I I I , 160). 58

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Hamburger Pastor weder ein Parteigänger des Katholizismus noch ein erklärter Feind jeder Art von Aufklärung war. Aber der Polemiker wollte nicht wissen, was er als »unparteiischer Untersucher der Wahrheit« (XXIII, 106) gewiß zuzugeben bereit gewesen wäre. Es kam ihm nicht darauf an zu prüfen, ob Goeze nicht das Recht, ja sogar die Pflicht hatte, sich mit allem Nachdruck gegen Reimars provozierende Kritik an der Offenbarung zur Wehr zu setzen. Er hat keine Notiz davon genommen, daß Goeze ja nicht als Privatmann in eigener Sache sprach, sondern als Apologet der Heiligen Schrift und als ordinierter, legitimer Vertreter der Orthodoxie. Er hat Goeze, zumindest indirekt, das Recht auf Kritik und freie Meinungsäußerung - das er für sich selbst leidenschaftlich forderte - verweigert. Lessing betrachtete den Pastor nicht als ebenbürtigen Partner in der durch die Fragmente-Veröffentlichung ausgelösten Diskussion 59 . Er hatte gehofft, durch die Herausgabe der Reimarschen Fragmente mit den führenden Köpfen der aufgeklärten Theologie ins Gespräch zu kommen: mit Semler, Leß oder mit Walch, dem, wie er 1780 schreibt, »selbst zu unterliegen Ehre sein müßte« (XXIII, 321). Goeze dagegen hat er als einen »beschwerlichen Gegner« empfunden, »an dem keine Ehre zu erjagen« war (XXIII, 321). Aus dieser Geringschätzung seines Gegners hat er durchaus kein Hehl gemacht; mehr nodi: er hat offen gezeigt, daß er Goeze verachtete. Und er hat sich von Anfang an darauf konzentriert, den Pastor ins Unrecht zu setzen und ihn kampfunfähig zu machen. Goezes fragwürdiger Appell an die Obrigkeit, den Freigeistern »Zaum und Gebis anzulegen« e0 , bot ihm natürlich eine höchst willkommene Gelegenheit, die Fehde fortan offensiv zu führen. Der Pastor hat für diesen subjektiv zwar verständlichen, objektiv aber kaum zu rechtfertigenden Vorschlag schwer büßen müssen. Wir haben gesehen, mit welchem Geschick Lessing den Fehler seines Gegners polemisch auszubeuten wußte. Ohne auf die immerhin erwähnenswerten Motive seines Appells einzugehen, beschuldigt er Goeze der Intoleranz, der bornierten Wissensfeindschaft und des religiösen Fanatismus β1 . Diese massiven 59

Vgl. Zscharnack in der Einleitung zu Bd. X X I I I , S. 29 f. und 35. GS, S. 71. 61 Als Inquisitor war Goeze bereits 1765 in einem von Th. Abbt anonym veröffentlichten Pamphlet verhöhnt worden (Erfreuliche Nadiridit von einem hoffentlich bald zu errichtenden protestantischen Inquisizionsgericht, und dem inzwischen in Effigie zu haltenden erwünschten evangelisch-lutherischen Auto da Fe; in: Vermischte Werke, 5. Tl., Berlin und Stettin 1780, S. 3 ff.). 66

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Anschuldigungen haben weder der Hauptpastor selbst nodi seine späteren Retter zu entkräften vermocht, so daß Goeze bis heute zu Unrecht als der Repräsentant einer kritikfeindlichen, mit inquisitorischen Kampfmitteln operierenden Theologie gilt. Lessing hat sich in seinem ersten Fehde-Brief nicht damit begnügt, Goeze des Verrats am Geist des Luthertums zu bezichtigen. Er hat dies ist der zweite Ausfall - gegen den Verteidiger der geoffenbarten Wahrheit und des Lehrgehalts der lutherischen Symbole auch den Vorwurf der Heterodoxie erhoben. Es tue ihm leid, bemerkt er mit gespieltem Bedauern, daß er dieses »sonst gute Haus so blamieren« müsse; aber das Publikum könne nicht zeitig genug erfahren, »wie mancherlei Maß und Gewichte Goeze und Kompagnie in Hamburg haben!« (XXIII, 195) Goeze (der hier als vermeintlicher Verfasser der MaschoRezension angesprochen wird) habe Maschos »Verteidigung der geoffenbarten christlichen Religion« nachdrücklich gerühmt, obgleich seine Schrift in drei entscheidenden Punkten mit den von Lessing angeblich nur zur Beruhigung der Anhänger eines »Christentums ohne Theologie« (XXIII, 196) entwickelten Gedanken völlig übereinstimme. Auch Mascho habe nämlich wie Lessing behauptet, daß »die Bibel zwar eine Offenbarung enthält, aber keine ist«; audi er habe den »Buchstaben von dem Geiste der Bibel« unterschieden und gelehrt, daß die »Religion eher gewesen als die Bibel« (XXIII, 196). Damit sei erwiesen, daß der Pastor mit verschiedenen Maßen messe. »Die nämlichen Spezies«, wirft er Goeze vor, »die Sie nach meiner Verschreibung als gefährlich und tödlich nicht administrieren wollen, verkaufen Sie auf sein Rezipe in der nämlichen Quantität oder in einer noch bedenklichem als höchst unschuldig und heilsam« (XXIII, 195 f.). Und nun arrangiert Lessing abermals einen Rollentausch. Er übernimmt den Part eines Verteidigers der Orthodoxie und warnt den angeblich in die Netze der Heterodoxie geratenen Pastor vor Maschos ketzerischen Reformplänen. Für den Schluß des Briefes hat er sich eine besondere Pointe aufgespart: Goeze täte auch deshalb gut daran, Lessing in Ruhe zu lassen und das Bündnis mit Mascho zu lösen, weil es ja sein könnte, »daß ich und Mascho uns verstünden!« (XXIII, 197) Mit dieser spöttischen Warnung vor einer geheimen Konspiration der angeblich nur dem Scheine nach gegeneinander streitenden Parteien endet der 1. Anti-Goeze. Lessings briefliche Äußerungen können zum besseren Verständnis der problematischen Taktik dieses ersten Bogens beitragen. Ende Dezember 1777 hatte Lessing sein Söhnchen verloren, wenige Tage später starb seine Frau. Die erschütternden Briefe an Eschenburg und den 137

Bruder 62 zeigen uns, in welcher Verfassung sich dieser Mann, der es »auch einmal so gut haben (wollte), wie andere Menschen«es, in jenen Tagen befunden hat. Von der Fortsetzung seiner »theologischen Scharmützel« 64 verspricht er sich Ablenkung und Zerstreuung. Als er sich am 7. Januar 1778 bei Eschenburg für die Abschrift eines Goeze-Aufsatzes bedankt, fügt er hinzu: »Diese Materien sind itzt wahrlich die einzigen, die mich zerstreuen können« e5 ; und am 14. Januar, einen Tag nach der Beerdigung seiner Frau, schreibt er: »Ein guter Vorrath vom Laudano litterarischer und theologischer Zerstreuungen, wird mir einen Tag nach dem andern schon ganz leidlich überstehen helffen.« 66 Mit Befriedigung vermerkt er am 25. Februar 1778, daß die »Duplik« den Beifall seines Bruders gefunden habe. »Besonders freue ich midi«, schreibt er an Karl Lessing, »daß Du das haut-comique der Polemik zu goutieren anfängst, welches mir alle anderen theatralischen Arbeiten so schal und wäßrig macht«. »Nächster Tage«, fährt er fort, »sollst Du auch eine Schrift wider Götzen erhalten, gegen den ich mich schlechterdings in die Positur gesetzt habe, daß er mir als einem Unchristen nicht ankommen kann«; das alles seien freilich nur »Scharmützel der leichten Truppen«; doch rücke die »Hauptarmee« langsam vor, »und das erste Treffen ist meine >Neue Hypothese über die Evangelisten, als bloß menschliche Geschichtschreiber betrachtet «67. Die Frage, ob Lessing die Goeze-Fehde überhaupt ernst genommen habe, stellt sich mit wachsender Dringlichkeit. Offenbar hat er die theologischen Händel (die er später auch als »Possen«68 und »Katzbalgerey« 69 bezeichnet) als eine Art Opiat empfunden, das ihm die Verzweiflung über den Verlust seiner Frau und seines Kindes erträglicher machen sollte. »Sie werden es kaum glauben«, teilt er J. A. H . Reimarus, dem Sohn des Fragmentisten, mit, »daß ich die muthwilligsten (!) Stellen in meinen Schnurren oft in sehr trüben Augenblicken geschrieben habe. Jeder zerstreut sich so gut als er kann« 70 . Natürlich macht sich auch in diesen Äußerungen Lessings Neigung zur Verkleinerung der eigenen Leistung und zur Verschleierung seiner Position bemerkbar. Elise Reimarus, die ihren Freund sehr gut kannte, bezeichnet die Paradoxie als seine alte »Schooßsünde«71. Lessing liebte es, nicht nur andern, sondern auch sich selbst zu widersprechen; ob aus Scham vor dem »eindeutigen« Bekenntnis seiner Grundüberzeugungen 82 64 67 70

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Briefe Briefe Briefe Briefe

18, 18, 18, 18,

Nr. 584, 586, 588, 589, 591. 65 S. 260. Briefe 18, S. 261. 68 S. 265. Briefe 18, S. 286. 71 S. 269. Briefe 21, S. 308.

» Briefe 18, S. 259. Briefe 18, S. 263. «» Briefe 18, S. 269.

68

oder aus reiner Lust an der Irritation, mag unentschieden bleiben. Aber selbst wenn man den Begriff »Zerstreuung« nicht in seiner trivialen Bedeutung nimmt, bleibt es auffällig, daß er unumwunden von den »mutwilligen Stellen« seiner »Schnurren« spricht; oder daß er bekennt, sich gegen Goeze in eine »Positur« gesetzt zu haben, die ihn gegen den Vorwurf der Undiristlichkeit schützen werde. Auch wenn man, Lessing gegen Lessing verteidigend, in Betracht zieht, daß dieser Autor imstande war, sogar die Paradoxie zu »affectiren« 72 , wird man den »gymnastischen Ton« ( X X I I I , 311) der Anti-Goeze nicht überhören können. Lessing hat seine »leichten Truppen« offensichtlich nur ein Scheingefecht führen lassen. Das gibt dem Ganzen zwar eine leichte, fast spielerische Note. Doch setzt sich der Autor damit andererseits zumal im Hinblick auf das Gewicht und die Schärfe einiger Anschuldigungen - dem Vorwurf der Frivolität aus. Bemerkenswert ist jedenfalls in diesem Zusammenhang, daß Lessing die Bedeutung der »Neuen Hypothese« - seiner »Hauptarmee« - nirgendwo bagatellisiert, sondern ausdrücklich erklärt hat, in dieser Art noch nie etwas »Gründlicheres« und »Sinnreicheres« 73 geschrieben zu haben. Es ist nicht unsere Absicht, hier eine Goeze-»Rettung« zu schreiben. Das hat E. Schmidt mit seiner Edition von Goezes Anti-Lessingiana bereits besorgt, wodurch jetzt jedermann instandgesetzt ist, die Stichhaltigkeit der gegen Goeze erhobenen Vorwürfe an den sonst nur schwer zugänglichen Texten zu überprüfen. Was wir versuchen wollen, ist: die vor allem durch F. Schlegel in Umlauf gesetzte und in unseren Tagen von Th. Mann zwar modifizierte, im Ganzen aber mit Schlegel übereinstimmende Wertung von Lessings Goeze-Polemik zu korrigieren und daran das Verhältnis der Polemik zur Satire zu überprüfen. Schlegel hatte, wie wir wissen, in seinem ersten Lessing-Essay (1797) die Ansicht vertreten, daß die Anti-Goeze den »ersten Rang« unter allen Schriften Lessings verdienten. In den für den Neudruck des Essays geschriebenen Zusätzen von 1801 ist diese Rangordnung zwar leicht verändert: jetzt stehen »Ernst und Falk« und die »Erziehung des Menschengeschlechts« an der Spitze; die Anti-Goeze, an denen Schlegel nun die »störenden Zusätze eines nichtigen Stoffs« und einer »falschen Tendenz« 7 4 wahrnimmt, ohne freilich an der Größe dieses Werkes zu rütteln, sind auf den dritten Platz gerückt. Die Hochschätzung des Polemikers Lessing aber besteht unverändert weiter; audi noch in der kritisch abgekühlten Lessing-Apologie, die Schlegel 1804 veröffentlichte 75 . 72 74

Briefe 18, S. 360. L I, S. 429.

Briefe 18, S. 265. « S. Anm. 43.

73

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Hier wird eine an Lessings Werken exemplifizierte (wobei die AntiGoeze nicht mehr ausdrücklich genannt werden) geniale Theorie der höheren Kritik und Polemik vorgetragen, die das Ergebnis von langjährigen eigenen Spekulationen über diese Thematik darstellt. Im Grunde entwickelt Schlegel hier - auch davon war bereits die Rede eine von Lessing inspirierte und durch Lessings Namen geschützte Grundlegung seiner eigenen Poetik, in der die Begriffe Kritik und Polemik eine zentrale Stelle innehaben 78 . Der Geist von Lessings Polemik ( = populärer Kritik) äußert sich nach Schlegels Uberzeugung vor allem in der »Verachtung und Wegräumung des Mittelmäßigen oder des Elenden« 7 7 . Alle Polemik ist »eine der Kritik sehr nah verwandte Gattung«. 78 . Während aber die neue, produktive Kritik als »Organon einer noch zu vollendenden . . . Litteratur« die gesamte Literatur »durch Lenkung, Anordnung, Erregung« zu konstituieren und organisieren hätte, fällt der Polemik die Aufgabe zu, dieses Geschäft vorzubereiten, das »Chaos von seynsollender Litteratur« zu vertilgen, um »wenigstens Raum zu schaffen für das bessere« 79 . »Die Kunst aber«, fährt Schlegel fort, »das böse Princip der Gemeinheit und Unwissenheit bis in ihre höchsten Potenzen und bis zu der Höhe zu verfolgen, wo sie die Nachäffung des wahren Wissens und Bildens bis zur höchst möglichen Täuschung getrieben hat, diese Kunst ist die Polemik« 8 0 . Indem also die Polemik das »Unechte« beiseite räumt, schafft sie die Voraussetzung für die kritische Organisation des »Rechten« 81 ; und zwar nicht nur im Bereich von Kunst und Literatur, sondern auch in dem Gebiet der Religion und Moral. In ihr manifestiert sich der von den großen Reformatoren bezeugte »Enthusiasmus für Wahrheit« als »göttlicher Eifer und Zorn gegen den Irrthum, und Knechtschaft des Geistes« 82 . Polemik sei daher »allen Protestanten, oder allen Bekämpfern des Irrthums wesentlich« 83 . In diesem Sinn, behauptet Schlegel - der hier das Wesen der Polemik mit dem Geist des Protestantismus identifiziert - , war Lessings in »tiefer Sehnsucht nach Wahrheit« und »muth-voller Freiheit des Selbstdenkens« 84 wurzelnde 76 Belege für diese Behauptung, die hier nicht im einzelnen begründet werden kann, finden sich in Fülle in den von J . Körner aus dem Nachlaß edierten »Neuen philosophischen Schriften« (Frankfurt 1935) und in den »Literary Notebooks 1797 to 1801« (ed. H . Eichner) London 1957; s. a. K . Briegleb, Ästhetische Sittlichkeit. Versuch über Friedrich Schlegels Systementwurf zur Begründung der Dichtungskritik; in: Hermaea N . F. 12, Tübingen 1962, bes. S.34-42. 77 L II, Tl. I, S. 38 f. 7 8 L II, Tl. I, S. 20. 78 L II, Tl. II, S. 10 f. 8 0 L II, Tl. II, S. 11. 8 1 L II, Tl. II, S. 11 f. 6 2 L II, Tl. III, S. 4. 8 3 L II, Tl. III, S. 4. 8 1 L II, Tl. III, S. 7.

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Tendenz durchaus polemisch-protestantisch. Der »wahre Protestant« wird nach Schlegels Überzeugung auch »gegen den Protestantismus selbst protestiren« 85 ; denn »so lange nur irgend etwas blos Negatives und Endliches vorhanden, so lange noch nicht jede Hülle verklärt und von Geist durchdrungen und das Wort Gottes allgegenwärtig geworden, so lange nur noch die Möglichkeit eines todten und dürren Buchstabens vorhanden ist, so lange existirt auch noch das böse Princip, gegen welches ohne Unterlaß und ohne Schonung zu kämpfen der hohe Beruf der Polemik ist; ist dieses besiegt, dann mag es ihr letztes Geschäft seyn, sich selbst zu vernichten« 8e . »Alle theologischen Schriften, Werke und Bruchstücke, Entwürfe, Einfälle und Streitigkeiten Lessings«, schließt Schlegel, »athmen im Inhalt wie in der Form un verrückt immer diesen einen selben Geist des freien Denkens und der denkenden Freiheit, und das ist es, was ich seinen Protestantismus nenne« 87 . F. Schlegel hat in Lessing die Verkörperung des kritisch-kombinatorischen und des protestantischen Geistes gesehen; er hat in Lessings schonungslosem Kampf gegen das »böse Princip« - gegen das Unechte, Mittelmäßige und Intolerante - die eigentliche Leistung dieses aggressiven Selbstdenkers erblickt; und er hat endlich in seiner Charakteristik von Lessings Polemik nicht nur für seine Zeit revolutionäre Anschauungen über das Wesen der Kritik, der Polemik und in Ansätzen: einer metaphysisch gegründeten Poetik entwickelt. Wir waren hier natürlich vor allem an Schlegels Gedanken über Wesen und Aufgabe der Polemik interessiert. Für sich betrachtet wirken seine Spekulationen über dieses Thema durchaus überzeugend. Ihre Überprüfung an den einschlägigen Lessing-Texten ergibt jedoch, daß Schlegel die Begriffe »Kritik« und »Polemik« in seinen Essays nicht scharf genug voneinander geschieden hat und daß zumal die von ihm so hoch gestellten Anti-Goeze keine Beweiskraft für die Richtigkeit seiner Theorie der Polemik besitzen. Wir gehen noch einen Schritt weiter und behaupten, daß jene Tugenden, die Schlegel dem Polemiker Lessing nachrühmt, gerade in dieser Brieffolge nicht nachzuweisen sind. Die Anti-Goeze bezeugen weder einen »edeln vornehmen Cynismus« noch eine »heilige Liberalität« noch jenen »tugendhaften Haß« 8 8 , von dem Schlegel in seinem ersten Lessing-Aufsatz spricht. Sie sind vielmehr persönlich, unsachlich, einseitig, illiberal und gelegentlich auch ungerecht. 85 87

L II, Tl. III, S. 8. L II, Tl. III, S. 18.

8

« L II, Tl. III, S. 9 f. L I , S . 145.

88

141

Diese Behauptung könnte den Eindruck erwecken, als schlössen wir uns dem Chor jener Stimmen an, der Lessings »böse Polemik« 89 fast einmütig beklagt hat. Davon kann jedoch keine Rede sein. Es kommt uns hier vor allem auf genaue Distinktionen an. Für einen Kritiker wäre der Nachweis der Unsachlichkeit, der Illiberalität, der Gehässigkeit und Ungerechtigkeit ein vernichtendes Verdikt. Nicht so für den Polemiker. Kritik und Polemik erscheinen zwar als einander benachbarte oder nah verwandte Ausdrucks- und Darstellungsweisen; genau besehen haben sie aber nicht nur grundverschiedene Tendenzen, sie sind auch einer je eigenen Gerichtsbarkeit unterworfen, nach deren Gesetzen sie jeweils zu beurteilen sind. Schlegel hat diese Wesensunterschiede offenbar nicht gesehen. Er hat die Tugenden des Kritikers auch dem Polemiker Lessing gutgeschrieben. Die Gründe für diese Übertragung lassen sich ziemlich genau angeben: da ist einmal Schlegels Glaube an die reinigende, klärende Wirkung der Polemik, die, gewissermaßen als Vorhut der Kritik, die Vertilgung des »Bösen« (im moralischen und künstlerischen Sinne) zu leisten hat, damit die Voraussetzungen für die Konstituierung und Organisation des »Neuen« oder »Rechten« schaffend 90 ; da ist ferner die Uberzeugung, daß Kritik und Polemik, wo sie mit höchster Vollkommenheit geübt werden, als Kunstprodukte zu werten seien; wegen ihrer »symbolischen Form« gehörten Lessings Werke in das »Gebiet der höhern Kunst« 91 , behauptet Schlegel; und da Lessing »nur die Skizze eines vortrefflichen Philosophen« geblieben sei, könne bei ihm nicht von dem Stoff und dem System seiner Gedanken die Rede sein - »desto mehr aber von der Form«92. (Wenn Th. Mann die Anti-Goeze für die Dichtung reklamiert, ja sie sogar als Lessings »schönste Dichtung« bezeichnet, so ist das nur eine Konsequenz des von Mann freilich mißverstandenen Schlegelschen Ansatzes.) Den stärksten Einfluß auf Schlegels Urteil aber dürfte jene in der Tat verführerische Gewalt von Lessings »genialischem Stil« 93 ausgeübt haben; sie hat ihn bewogen, die Relevanz des Stofflichen zu ignorieren und Lessings kritische und polemische Leistung vorwiegend unter formalem Aspekt zu werten. Dies ist der entscheidende Irrtum seiner PolemikTheorie. Vgl. L I, S. 146. »Mir aber ist die Polemik noch weit mehr als das, weit mehr als nur ein n o t wendiges Uebel; wenn sie ist, wie sie sein soll, so ist sie mir das Siegel von der lebendigsten Wirksamkeit des Göttlichen im Menschen, der Prüfstein eines reifen Verstandes. Sollte es nicht der Anfang aller Erkenntnis sein, das Gute und das Böse zu unterscheiden?« (L I, S. 425). Μ

90

M

142

L I, S. 426.

92

L I, S. 427.

93

L II, Tl. II, S. 17.

Aber lassen wir jetzt, um konkret zu werden, den Text selbst sprechen. Wir geben zwei kurze Auszüge aus dem 2. Anti-Goeze: »Ich unterstehe midi nicht, zu sagen, was ich nicht erweisen kann; und Sie - Sie tun alle sieben Tage, was Sie nur einen Tag in der Woche tun sollten. Sie sdiwatzen, verleumden und poltern; für Beweis und Eviktion mag die Kanzel sorgen. Und die einen so infamierenden Titel führet, - was enthält diese Goezesche Scharteke? Nichts enthält sie als elende Rezensionen, die in den >Freiwilligen Beiträgen schon stehen oder wert sind, darin zu stehen. Dodi ja, sie enthält auch einen zum dritten Male aufgewärmten Brei, den ich längst der Katze vorgesetzt habe. Und dennoch sollen und müssen sich des Herrn Hauptpastors liebe Kinder in Christo diesen beschnüffelten, beleckten Brei wieder in den Mund schmieren lassen« (XXIII, 201). »Itzt ist mein Bogen voll, und mehr als einen Bogen sollen Sie auf einmal von mir nicht erhalten. Es ist erlaubt, Ihnen den Eimer faulen Wassers, in welchem Sie mich ersäufen wollen, tropfenweise auf den entblößten Scheitel fallen zu lassen« (XXIII, 202) M .

Man braucht nicht lange zu suchen, um in den Anti-Goeze Stellen dieser Art zu finden. Schlegel hat an diesen Invektiven keinen Anstoß genommen. Er ist offenbar mit Lessing der Ansicht gewesen, daß es gegenüber Goeze erlaubt sei, »sich aller Arten von Waffen zu bedienen« (XXIII, 202). Über diese problematische Auffassung soll hier nicht gerechtet werden. Doch stellt sich die Frage, ob angesichts dieser zahlreichen groben persönlichen Ausfälle Schlegels glorifizierende Charakteristik des Polemikers Lessing objektiv vertretbar ist. Die Frage mag beckmesserhaft klingen. Wir übersehen indessen nicht, daß Schlegel in seinen Essays u. a. die Absicht verfolgte, den mißverstandenen Polemiker gegen die Angriffe und Verdächtigungen einer bornierten Kritik zu verteidigen, und daß er deshalb aus taktischen Gründen mit Lessing großzügiger verfuhr, als das von den Texten her vertretbar erscheint. Dadurch wird unsere Frage jedoch nicht gegenstandslos. Ins Grundsätzliche gewendet hätte sie etwa so zu lauten: vermag der, mit Schlegel zu sprechen, »genialische Stil« das moralisch Anfechtbare-in unserem Fall: die persönliche Beleidigung - zu sanktionieren? Nodi schwerer als die beleidigenden Ausfälle dürften die Diffamierungen wiegen. Der Hauptpastor war in den Anti-Goeze als das Haupt der »geistlichen Tyrannei« (XXIII, 213) und als »intoleranter Heuchler« (XXIII, 204) bezeichnet worden. Ganz sicher zu Unrecht 95 . Wird aber das Unrecht zum Recht, wenn es sich in formvollendeter Weise darbietet? Kann durch 91 S. a. Werke X X I I I , 155 (Goeze als »Stallknecht«); X X I I I , 240; X X I I I , 246 (»Goeze und die wenigen seines Gelichters«). • 5 Vgl. Zsdiarnack X X I I I , 22.

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die Manier der Darstellung die Lüge zur Wahrheit, das Unrecht zum Recht werden? Vermag auch hier die Form den Stoff zu »vertilgen«? Oder sollte Lessing recht haben, wenn er erklärt: »Es kömmt wenig darauf an, wie wir schreiben, aber viel, wie wir denken« (XXIII, 199)? Diese Frage ist zu kompliziert, als daß sie hier bereits bündig beantwortet werden könnte. Wer sich mit polemischen oder satirischen Texten einläßt, kann sich ihr jedoch nicht entziehen. Wir werden also versuchen müssen, sie an dem Exempel der Anti-Goeze einer Lösung näherzuführen. 3. Polemische Taktik Lessing hatte Goezes Kritik an dem »unbesonnenen Druck der lästernden Fragmente« 96 als ein »schreckliches Halsgericht« bezeichnet: »Da steht er, mein unbarmherziger Ankläger, und wiehert Blut und Verdammung« (XXIII, 200 f.), schreibt er im 2. Anti-Goeze. Nach dieser und ähnlichen Äußerungen zu urteilen hat es den Anschein, als habe Lessing in Goezes Angriffen eine ernstzunehmende, geradezu lebensgefährliche Bedrohung gesehen. Die Briefe sprechen jedoch eine ganz andere Sprache. Aus ihnen gewinnt man vielmehr den Eindruck, als sei Lessings Verhältnis zu Goeze demjenigen nicht unähnlich gewesen, das zwischen Liscow und Philippi bestanden hatte. Wenn Lessing der Freundin Elise Reimarus mitteilt, daß der Goeze-Streit sein »Stekkenpferd« geworden sei, das »mich nie so herabwerííen kann, daß idi den Hals nothwendig brechen müßte« 97 , wird man eher vermuten dürfen, daß ihm Goeze als Zielscheibe für seine polemischen Paraden im Laufe der Fehde unentbehrlich geworden war. Als schreckliches Halsgericht, das kann mit Sicherheit gesagt werden, hat Lessing die Goeze-Attacken im Ernst nie empfunden. Audi sonst läßt sich zeigen, daß er häufig mit der Waffe der Ubertreibung gestritten hat. Der »unbarmherzige Ankläger« war nämlich keineswegs der blutdürstige Inquisitor, als den ihn Lessing vorzustellen beliebte. Seine streitbaren Auslassungen können zwar gelegentlich mit der grobianischen Derbheit der Pamphletisten des 16. Jahrhunderts wetteifern. Aber Goeze war audi anderer Töne mächtig: »Ich würde vor meiner Todesstunde zittern, wenn idi besorgen müste, daß von der Ausbreitung dieser boshaften, so vielen Selen höchst gefährlichen, und der Ehre unsers großen Erlösers so naditheiligen Aufsätze, die Rechenschaft an jenem T a g von mir würde gefordert werden.« 9 8 98

144

GS, S. 10.

97

Briefe 18, S. 285.

98

GS, S. 23.

Der Pastor hat mehrfach versucht, die Heftigkeit der überhitzten Kontroverse zu dämpfen: »Lieber Herr Hofrath! Erbittern Sie sich nicht, wenn ich bey dieser Gelegenheit ein Wort aus einem ganz andern Tone, als derjenige bisher gewesen ist, den Sie mir abgedrungen haben, mit Ihnen rede. Gott weis, daß idi Sie herzlich liebe. Idi verkenne die sdiönen Talente nicht, die Ihnen die Güte Gottes gesdienket hat, auch nicht die vorzüglichen Einsichten und Kenntnisse, die Sie sich durch rechte Anwendung in manchen Theilen der sogenannten schönen Wissenschaften, erworben haben. Idi vergebe es Ihnen von ganzem Herzen, daß Sie alle Ihre Kräfte anwenden, midi vor den Augen der Kirche, der gelehrten Welt, und meiner Gemeine, zum unwissenden und dummen Laffen zu erniedrigen, und das müste und würde ich seyn, wenn meiner sieben nicht einem Siebentheile von Ihrem Fragmenten Schreiber das Gleichgewichte halten könten (Lessing hatte im 9. Anti-Goeze erklärt: >Gnug, daß 7 mal 7 nur 49 macht, und auch ein Neunundvierzigteildien meines Ungenannten noch aller Hochachtung wert und siebenmal mehr ist, als man an allen Orten und Enden der Christenheit zu einem Pastor oder Hauptpastor erfordert^ X X I I I , 240): aber eben diese Liebe, eben diese Achtung beweget mich, Sie vor dem Angesichte Gottes zu bitten, folgendes in einer stillen Stunde, da Ihre Leidenschaften nicht brausen, in reife Betrachtung zu ziehen. Sie erklären sich, und mein ganzes Herz bebet vor dieser Erklärung - daß Sie um des Druckes der Fragmente willen, und um deswillen, was Sie dabey gethan haben, vor Ihrer Todesstunde nicht zittern würden. Bedenken Sie um Gottes und Ihres ewigen Heils willen, was Sie hier niedergeschrieben haben. Ach! versdiliessen Sie sich den Weg zur Buße nidit selbst auf diese Art, Sie möchten ihn hernach nicht wieder finden können, und audi nie in den Stand kommen, ihn mit Thränen zu suchen. Denken Sie an die Rechenschaft, welche der HErr, dessen Ehre durch die Fragmente so frevelhaft angegriffen und gelästert worden, dessen Wort Sie so tief unter elende menschliche Schriften herunter zu setzen suchen, an jenem Tage, insonderheit von dieser Handlung, von Ihnen fordern wird. Fragen Sie Ihr Gewissen, ob es eine lebendige Ueberzeugung habe, daß die Sdieingründe, welche Sie zur Rechtfertigung desselben itzt vorwenden, und mit welchen Sie die Augen schwacher Christen, nodi leichter aber der Freygeister verblenden können, audi vor dem einen Werth haben werden, dessen Augen heller sind als Feuerflammen?« 99 Gerade dieser pastorale Ton scheint Lessing aber besonders gereizt zu haben. Jedenfalls reagiert er auf Goezes von wirklicher Versöhnungsbereitschaft zeugende Ermahnung mit einer Schärfe, die in keinem Verhältnis zu der unbestreitbaren Zudringlichkeit dieses Gewissensappells steht: »Wie säuberlich, wie sanft, wie einschmeichelnd er (= Goeze) noch mitunter bei diesem kitzligen Geschäfte zu Werke geht! Ganz in dem Tone und in »» GS, S. 98 f.

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der Manier eines gewissen Monsieur Loyal in einer gewissen Komödie, die man vor gewissen Leuten nidit gern n e n n e t . . . Ce Monsieur Loyal porte un air bien déloyal! Doch was tut alles das zur Sache? Laßt uns die Beschuldigungen selbst vornehmen. - Genug, daß mich mein Herz nicht verdammet und ich also mit aller Freudigkeit zu Gott einem jeden intoleranten Heuchler, der mir so kömmt, die Larve vom Gesicht reißen darf - und reißen will, - sollte audi die ganze Haut daran hängenbleiben!« (XXIII, 203 f.)

Es wäre leichtfertig, aus solchen rabiaten Äußerungen generalisierende Schlüsse zu ziehen. So viel kann aber bereits jetzt gesagt werden: daß nämlich auf beiden Seiten persönliche Empfindlichkeiten, Vorurteile, Animositäten und andere Unwägbarkeiten im Spiel waren, die den Gang dieser Auseinandersetzung erheblidi beeinflußt haben. Die Austragung der sachlichen Differenzen beschränkt sich auf wenige Punkte. Lessing hat sie im 8. Anti-Goeze zusammengestellt. Des Hauptpastors »ewige Klage über meine Art zu streiten« nennt er als ersten Streitgegenstand, an zweiter Stelle erwähnt er den Vorwurf, daß er den Ungenannten »mit unverdienten Lobsprüchen an das Licht gezogen« habe; und schließlich notiert er die gewichtigste der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen, die besagt, daß er alle Verteidiger der christlichen Religion, die bisher gegen Reimarus aufgetreten seien, mit dem »bittersten Spotte« abgewiesen habe (vgl. X X I I I , 234). Lessing hat sich vor allem darauf konzentriert, die Grundlosigkeit der zuletzt genannten Anschuldigung zu erweisen. Zunächst aber erschien es ihm dringlich, seine stilistische Eigenart gegen Goezes Angriffe zu verteidigen. Das geschah bereits im 2. Anti-Goeze, auf den wir später ausführlicher eingehen werden. Dieser Brief gehört zu den persönlichsten Dokumenten der ganzen Folge. Lessing protestiert hier leidenschaftlich gegen Goezes Behauptung, daß er, anstatt den »Verstand seiner Leser durch Gründe zu überzeugen«, beständig mit Bildern, Gleichnissen und Antithesen gespielt habe, in der Hoffnung, damit »blöde Augen« am leichtesten blenden zu können 100 . In der Handhabung von »Sophismen, Equivocen, Fallacien« habe sich Lessing zwar als ein Meister der »Theaterlogik« erwiesen; auf dem »theologischen Kampfplatze« aber, wo die Wahrheit der christlichen Religion ausgefochten werde, sei die auf den Beifall der Witzlinge spekulierende Theaterlogik fehl am Platz 101 . Es ist klar, daß Lessing zunächst auf diese Herausforderung antworten mußte, wenn er die Goeze-Fehde weiter offensiv führen wollte. Erst nachdem das geschehen war, konnte er sich mit Goezes übrigen Vorwürfen auseinandersetzen. 100

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GS, S. 5.

»w GS, S. 7.

Auffällig ist, daß in den ersten vier Briefen von Reimarus und den Fragmenten kaum die Rede ist. Vorab geht es um Prinzipielles. Die Frage, ob es zulässig sei, dem Erkenntnisstreben Grenzen zu setzen, steht im Mittelpunkt des 1. Anti-Goeze. Der Pastor, behauptet Lessing, habe sich mit seinem Protest gegen die Veröffentlichung der Fragmente gegen den Geist des Luthertums und des wissenschaftlichen Fortschritts versündigt. Auf die weiteren Einzelheiten dieser raffinierten Eröffnung brauchen wir nicht noch einmal einzugehen. Hervorzuheben wäre lediglich, daß Lessing die Herausgabe der Fragmente hier nur mit einem Satz rechtfertigt. Dieser Streitpunkt rückt erst im 3. Anti-Goeze ins Zentrum der Diskussion. Der Hauptpastor hatte den von Lessing veranstalteten Druck der Fragmente und die angeblich damit von ihm übernommene »Advocatur des Verfassers« 102 als einen »mittelbaren Angriff« auf die Religion und die Heilige Schrift bezeichnet; einen »unmittelbaren Angriff« gegen die Religion schienen ihm die »den Fragmenten entgegengesetzten Scheingründe« zu enthalten, »welche mehr den Zweck haben, dieselbe zu untergraben, zu stürzen, wenigstens sie lächerlich zu machen, als sie zu vertheidigen« 103 . Gegen diese Vorwürfe setzt sich Lessing mit dem Argument zur Wehr, er habe annehmen dürfen, durch seine Einwürfe und Zweifel »neue Erörterungen«, »geschärftere Zweifel« und »geschärftere Auflösungen« (XXIII, 205) veranlassen zu können. Diese Annahme, fährt Lessirig sogleich wieder zum Angriff übergehend fort, hätte auch Goeze billigen können - freilich unter dem Vorbehalt, daß die »objektive« Religion »als Inbegriff der zu unsrer Seligkeit geoffenbarten Wahrheiten« (XXIII, 205) nur gewinnen könne, wenn sie aufrichtig und scharfsinnig bestritten wird; die »subjektive« Religion hingegen würde durch dergleichen Bestreitungen weit mehr verlieren, als jene je zu gewinnen vermöchte (vgl. X X I I I , 205). Lessing spielt hier zwei Begriffe gegen Goeze aus, die der Pastor in seiner Schrift »Etwas Vorläufiges...« gebraucht hatte 104 . Goezes Definition der »subjektil s »« GS, S. 3. » GS, S. 4. 104 »Das Wort, Religion, kan entweder objective, oder subjective genommen werden. Im ersten Verstände bedeutet solches diejenigen Lehrsätze zusammen genommen, welche ein Mensch erkennen und als Wahrheit annehmen muß, der sich gegen Gott gebührend verhalten wil: und in dem zweiten Verstände bedeutet solches die Gemüthsfassung, und das Verhalten eines Mensdien, welche er im Verhältnisse gegen Gott, zu haben, und zu beweisen sdiuldig ist. Natürlicher Weise kan der Herr Herausgeber durch den Buchstaben und durch die Bibel nichts anders verstehen, als was die Gottesgelehrten die innere Form der heil. Schrift nennen, nemlich den Sin und Verstand der, mit Worten ausgedrückten Sätze, und den daraus entspringenden Zusammenhang der Gedanken und Vorstellungen, welche durch die heil. Schrift, ihrem

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ven« Religion erscheint bei Lessing in folgendem Wortlaut: »Die Gemütsverfassung der Menschen in Absicht auf die Religion, ihr Glaube, ihre Beruhigung, ihr Vertrauen auf uns, ihre Lehrer. Die, die periklitieren bei jedem Worte, das in deutscher Sprache gegen unsere allerheiligste Religion geschrieben wird« (XXIII, 205). Diese Stelle wird durch Anführungszeichen zwar als wörtliche Entlehnung gekennzeichnet; in Wahrheit kann sie jedoch höchstens als eine tendenziöse Umschreibung der Goezeschen Begriffsbestimmung gelten 105 . Lessing zitiert hier nicht als Kritiker, sondern als Polemiker. Durch die willkürliche Veränderung der Vorlage schafft er sich die Voraussetzung für einen neuen Angriff, den er mit der Frage einleitet: »Wenn es wahr ist, daß die Religion bei allen und jeden Anfällen, die auf sie geschehen, objektive gewinnt und nur subjektive verliert, wer will behaupten, daß es also nach dem größern Gewinne oder nach dem größern Verluste entschieden werden müsse, ob dergleichen Anfälle überhaupt zu dulden sind oder nicht?« (XXIII, 206) Gewinn und Verlust seien hier nicht rechnerisch auszumachen. Wohl aber ließe sich sagen, daß der Gewinn »wesentlich«, der Verlust dagegen nur »zufällig« sei: »Der Gewinn erstreckt sich auf alle Zeiten; der Verlust schränkt sich nur auf den Augenblick ein, solange die Einwürfe noch unbeantwortet sind. Der Gewinn kömmt allen guten Menschen zustatten, die Erleuchtung und Uberzeugung lieben; der Verlust trifft nur wenige, die weder wegen ihres Verstandes, noch wegen ihrer Sitten in Betracht zu kommen verdienen« (XXIII, 206). Deshalb dürfe man auf die »paleas levis fidei«, die »leichte christliche Spreu, die bei jedem Windstoße der Bezweiflung von den schweren Körnern sich absondert und auffliegt« (XXIII, 206), keine Rücksicht nehmen. Die »heutigen Kirchenlehrer« aber seien im Gegensatz zu den alten Kirchenvätern 106 außerstande, die regenerierende Kraft des Zweifels, der skeptischen Vernunft anzuerkennen. Sie möchten, daß auch von der christlichen Spreu »kein Hülschen« verlorengeht; »lieber wollen sie die Körner selbst nicht lüften und umwerfen lassen« (XXIII, 206). Endzwecke gemäs, bey den Menschen hervorgebracht werden sollen. D a nun diese Sätze der heil. Schrift, und der daraus entspringende Zusammenhang der Gedanken und Vorstellungen von unsern Verhältniße und Verhalten gegen Gott, die Religion, objective genommen, ausmachen; so ist allerdings der Buchstabe der Geist, und die Bibel ist die Religion* (vgl. dagegen Lessing, Werke X X I I , 186 f.). »Ist nun die Erkäntnis, die Gesinnung und Gemüthsfaßung eines Menschen, dem Systeme der Glaubenslehren und Lebenspflichten der heiligen Sdirift gemäs; so kan ich mit Recht sagen: ein solcher Mensch hat die Religion der heil. Schrift« (GS, S. 14 f.). 105 Vgl. Anm. 104. loe Lessing beruft sich hier, wie audi schon im 2. Anti-Goeze, auf Tertullian, der sich bekanntlich später von der Kirche getrennt hatte. 148

Das Motiv dieser Ängstlichkeit glaubt Lessing in der Trägheit, Bequemlichkeit und der panischen Ketzerfurcht der Geistlichen zu erkennen, die er in einer leidenschaftlichen Anklagerede zu beschämen sucht (vgl. X X I I I , 207). Diese Abrechnung ist ein markantes Beispiel für Lessings Haltung gegenüber der Orthodoxie. Wenn überhaupt, dann wird in Ausbrüchen dieser Art etwas von der verzehrenden Glut jenes »tugendhaften Hasses« spürbar, mit dem dieses leidenschaftliche Naturell, dessen Element die Unruhe war 107 , die satte Ruhe der ordinierten Glaubensverwalter aufgestört und verfolgt hat. Fraglich ist jedoch, ob Goeze wirklich den Typus des bornierten, unduldsamen, bequemen und heuchlerischen Orthodoxen verkörpert hat, als der er in Lessings Briefen erscheint. Auch Goeze pflegte, gleich Lessing, ohne Visier zu fechten; sein an kämpferischen Auseinandersetzungen nicht eben armes Werk schützt ihn zumindest gegen den Vorwurf der Bequemlichkeit; und daß er die evangelische Wahrheit gegen Naturalisten und Neologen verteidigt hat, wird man nicht ohne weiteres als Ausdruck des Fanatismus und der Intoleranz bezeichnen dürfen. Fatal ist dagegen sein Vorschlag, Einwürfe gegen die Religion nur in lateinischer Sprache vorzubringen 108 , damit - wie Lessing hinzufügt - »der gemeine Mann nicht geärgert werde« (XXIII, 210). Der Untersuchung dieser Anregung ist der 4. Anti-Goeze gewidmet. Mit genießerischer Ausführlichkeit beschäftigt sich Lessing mit den problematischen Konsequenzen dieses Vorschlags, der nach seiner Ansicht »weder tulich ( = praktikabel) noch billig noch klug, noch christlich ist« (XXIII, 210). Besondere Sorgfalt verwendet er darauf, Goezes Anregung als unchristlich zu erweisen. Unter dem Wort »unchristlich«, schickt Lessing voraus, verstehe er, »was mit dem Geiste des Christentums, mit der letzten Absicht desselben streitet« (XXIII, 212). Die letzte Absicht des Christentums aber sei nicht unsere Seligkeit (»sie mag herkommen, woher sie will«), sondern »unsre Seligkeit vermittelst unsrer Erleuchtung... in welcher am Ende unsre ganze Seligkeit besteht«. Daher sei es dem Geist des Christentums 107 Am 7. 5.1778, auf dem Höhepunkt des Goeze-Streits, sdireibt Κ. A. Sdimid an Lessing: »Nun leben Sie fein vergnügt, das ist, fein unruhig. Denn die Unruhe ist ja wohl Ihr Element« (Briefe 21, S. 203); der ängstliche Johann Α. H . Reimarus, der im Gegensatz zu seiner Schwester keinen wirklichen Kontakt mit Lessing hatte, schließt dagegen einen seiner Briefe an Lessing mit folgender Wendung: »Also leben Sie wohl werthester Freund; bedenken Sie Ihre eigene und Anderer R u h e . . . « (a.a.O., S. 212). 108 Vgl. GS, S. 71.

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zuwider, »lieber zur Erleuchtung so vieler nichts beitragen, als wenige vielleicht ärgern wollen!« Und jetzt bringt Lessing sein und seiner Zeit großes Thema in einer neuen Variation: »Immer müssen diese wenige, die niemals Christen waren, niemals Christen sein werden, die bloß unter dem Namen der Christen ihr undenkendes Leben so hinträumen, immer muß dieser verächtliche Teil der Christen vor das Loch, geschoben werden, durch welches der bessere Teil zu dem Lichte hindurch will« (XXIII, 212). Oder, fragt Lessing ironisch, »ist dieser verächtlichste Teil nicht der wenigste?« Dann aber sei es die Schuld der Prediger, wenn dem »wahren Christentume noch nicht einmal der größere Haufe so anhängt, wie sich's gehöret« (XXIII, 212). Wer gegen die Religion schreiben will, sei nicht gehalten, auf die mögliche Reaktion der »Namenchristen«, der Schwach- und Ungläubigen Rücksicht zu nehmen. Spontan aus der eigentlichen in die uneigentliche Rede übergehend, fährt Lessing fort: »Jede Bewegung im Physischen entwickelt und zerstöret, bringt Leben und Tod, bringt diesem Geschöpfe Tod, indem sie jenem Leben bringt; soll lieber kein Tod sein und keine Bewegung oder lieber Tod und Bewegung?« (XXIII, 212) Alle »Untersuchung der Wahrheit« aber wäre zum Tode verurteilt, wenn es der »geistlichen Tyrannei« gelingen sollte, ihren Wunsch (»daß die Feinde der Religion sich nie einer andern als der lateinischen Sprache bedienen dürften«) zum Gesetz zu erheben (XXIII, 213). Womöglich noch radikaler fertigt Lessing sodann Goezes in der Tat törichten Vorschlag ab, wonach es »verständigen und gesetzten Männern« vergönnt sein sollte, »bescheidne Einwürfe gegen die christliche Religion und selbst gegen die Bibel zu machen«109. Welche Instanz, fragt Lessing mit Recht, soll entscheiden, wer ein gesetzter und verständiger Mann ist? (vgl. X X I I I , 213) Die im 4. Anti-Goeze vorgetragene Kritik an den Vorschlägen des Hauptpastors war vernichtend. Goeze blieb nichts anderes übrig, als die sachlich durchaus gerechtfertigte sarkastische Abfuhr widerspruchslos einzustecken. Es ist zu vermuten, daß der 4. Anti-Goeze zu jenen Briefen gehört, die manche der von Lessings polemischem Elan faszinierten Kommentatoren zu einer allzu einseitigen Beurteilung der Goeze-Fehde verleitet haben. Dem unparteiisch wägenden Leser kann jedoch nicht entgehen, daß die einzelnen Briefe nicht nur im Hinblick auf ihre stilistische und kompositorische Qualität sehr unterschiedlich sind, sondern daß auch die Uberzeugungskraft von Lessings Argumentation streckenweise erlahmt. Das gilt u. a. für den 5. Anti-Goeze, in GS, S. 71.

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dem Lessing zum ersten Mal zu den gegen Reimarus erhobenen Anschuldigungen Stellung nimmt. Es gehört zweifellos zu den Rechten des Polemikers, die eigenen Angriffe auf die unzureichend gesicherten Stellen des Gegners zu konzentrieren. Von diesem Recht hat Lessing ausgiebig Gebrauch gemacht. Auch der 5. Anti-Goeze geht, bereits früher Gesagtes variierend und verschärfend, noch einmal auf die Bedingungen ein, unter denen der Pastor die Veröffentlichung von Einwürfen gegen Religion und Bibel für zulässig erklärt hatte. »Der angreifende Teil«, hatte Goeze gefordert, »müste die Freyheit nicht haben, die heiligen Männer Gottes, von welchen die ganze Christenheit glaubt, daß sie geredet und geschrieben haben, getrieben von dem heiligen Geiste, als Dumköpfe, als Bösewiditer, als Leichenräuber zu lästern« u o . An dieser Stelle, behauptet Lessing, lasse sich »vollends klarmachen«, daß »Herr Goeze schlechterdings nicht gestattet, was er zu gestatten scheinet; und daß ebendas die Klauen sind, die der Tiger nur in das hölzerne Gitter schlagen zu können sidi so ärgert« (XXIII, 215). Im Grunde sei seine nach allen Seiten rabulistisch verklausulierte Erlaubnis nur »Larifari«, daß »man sich, Gebrauch davon zu machen, wohl hüten muß« ( X X I I I , 215); denn wenn Goeze dem angreifenden Teil verwehren wolle, Sdiimpfworte anstatt von Gründen zu gebraudien, so sei seine Forderung zwar »höchst gerecht«, aber sie betreffe eine »Armseligkeit«, über die sich der Christ lieber hinwegsetzt. »Leere Schimpfworte bringen ihn nicht auf . . . ruhige Verachtung ist alles, was er ihnen entgegensetzt« ( X X I I I , 216). Wie aber, wenn der Pastor dem angreifenden Teil mit seiner Forderung auch die Freiheit zu entziehen suchte, »solche Dinge und Tatsachen zu berühren, aus deren Erweisung erst folgen würde, daß den Aposteln jene Benennungen (Dummköpfe, Bösewichter und Leichenräuber) gewissermaßen zukommen?« (XXIII, 216) In diesem Fall ginge er mit »Pfiffen« ( = Tricks) um, deren sich nur eine »theologische Memme« bediene; und jeder, dem die »Wahrheit der christlichen Religion am Herzen liegt« (XXIII, 216), müßte sich ihm widersetzen. Damit wäre nämlich zumindest indirekt zugegeben, daß die diristliche Religion »kranke Stellen« hat, die man weder betasten nodi der Luft aussetzen darf. Hat sie aber keine solchen Stellen: warum sollen dann »ihre Freunde immer und ewig den Vorwurf hören, >daß man nur nicht alles sagen dürfe, was man gegen sie sagen könnte