Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur: Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre [1 ed.] 9783428540327, 9783428140329

Diese »Vorstudien« zu einer universalen Verfassungslehre – nur als Untertitel wird der hohe Anspruch gewagt – gehen im K

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 9783428540327, 9783428140329

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Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre

Von Peter Häberle

Duncker & Humblot · Berlin

PETER HÄBERLE

Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1243

Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre

Von Peter Häberle

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14032-9 (Print) ISBN 978-3-428-54032-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84032-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese – späten – Studien haben ihre eigene kleine (Vor-)Geschichte. Ursprünglich ein Auftragswerk für die berühmte italienische Enzyklopädie Treccani in Rom (2001) und dort später auch als selbstständiges Buch erschienen (2005, mit einem kommentierenden Kolloquiumsband von Seiten mehrerer italienischer Autoren 2007), ist es unter dem Namen „Der Verfassungsstaat“ früh in vielen Sprachen publiziert worden (nicht jedoch in Deutschland): zuerst in Mexiko City in spanischer Sprache (2001), später in Lima (2003) sowie in Buenos Aires (2007). In Lateinamerika sind weitere Ausgaben geplant. In Europa ist das alte Buch schon in Kroatien (Zagreb 2002) erschienen; in Frankreich betreute Frau Professor C. Grewe eine Ausgabe, in der von L. Favoreu gegründeten Reihe („L’Etat Constitutionnel“, Paris 2004). Das seinerzeit eher schmale Buch ist jetzt vom Verf. neu konzipiert worden und, im Umfang mehr als vervierfacht, um den wichtigen Zusatz „– aus Kultur und als Kultur –“ ergänzt. Diese kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende Sicht hat der Verf. Schritt für Schritt seit dem Jahre 2000 weiter erarbeitet. Beispielhaft wurden Verfassungen einzelner Länder wie Italiens, Deutschlands, Portugals, Brasiliens, Georgiens und Argentiniens in diesem Geist behandelt; auch wurde die vom Verf. entworfene „Tetralogie“ spe­ zieller Themen, nämlich der Feiertage (1987, portugiesische Übersetzung 2008), der Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates (2007, spanische Übersetzung 2012), der Nationalflaggen (2008) sowie zuletzt „Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat“ (2011) kulturwissenschaftlich, sozusagen als „besonderer Teil“, erschlossen. Damit ist das 1982 begonnene Projekt „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (2. Aufl. 1998) für den Verf. auf eine Weise abgeschlossen. Die Europäische Verfassungslehre (1. Aufl. 2001 / 2002, 7. Aufl. 2011) bildet das gleichsinnige, auf einen bestimmten Kontinent bezogene „Zwischenwerk“. Die „Exkurse“ des vorliegenden Buches greifen in andere Teile unserer einen Welt aus. Der Sammelband „Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht“ (Späte Schriften 2009) mag als kleiner Werkstattbericht einen Platz haben. Im Ganzen lebt der Band von der Erkenntnis, dass die beste wissenschaftliche Literatur und Judikatur zum weltoffenen Verfassungsstaat in der Aufschlüsselung der verfassungsrechtlichen Textstufen greifbar wird.

6 Vorwort

Der „universalen“ Verfassungslehre könnte es gelingen, aus einem Ensemble von nationalen Teilverfassungen und den Teilverfassungen des Völkerrechts zu entstehen. Alle Teilverfassungen wirken oft in osmotischen Vorgängen zusammen. So strahlt die UNESCO-Konvention über kulturelle Vielfalt (2005) längst auf neue (und alte) nationale Teilverfassungen aus. Es gibt seit langem eine universale Werkstatt in Sachen kooperativer Verfassungsstaat mit Elementen universaler Rechtskultur und solchen von Weltkulturrecht. Der universale Konstitutionalismus manifestiert sich je nach Kontinenten etwa in Gestalt des brasilianischen Konstitutionalismus oder der Europäischen Verfassungslehre. Bei all dem muss indes noch genügend Raum für rechtskulturelle Partikularität bleiben, etwa dank der nationalen Identitätsklauseln. Der Verf. dankt Frau H. Walther sowie Herrn A. Schröder-Quist, Herrn S. Bleydorn und Herrn J. Gröschel (Universität Bayreuth) für große Hilfe bei der Herstellung der Druckvorlagen, dem Verlag Duncker & Humblot (Berlin) für die Aufnahme in das wissenschaftliche Programm. Bayreuth, im Januar 2013

Peter Häberle

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel

Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

17

I. Der Typus des Verfassungsstaates als kulturelle Leistung . . . . . . . . . . . . . 17 II. Der Verfassungsbegriff / Das „Gemischte“ Verfassungsverständnis – eine erste Grundlegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 III. Die Einbeziehung der Kleinstaaten, Reformstaaten und „Entwicklungslän der“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Reformstaaten Osteuropas und auf dem Balkan  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Die „Entwicklungsländer“ im Kraftfeld der Wachstumsprozesse des Ver fassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Inkurs I: Rechtskultur und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 IV. Verfassunglehre als juristische Text- und Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . 37 V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich . . . . . . . . . . . 42 1. Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Das Private, Privatheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Das Öffentliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Das Staatliche im Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5. Eine Revision der „Staatselemente“, Kultur als „4.“ Staatselement, das Beispiel Staatsgebiet und Staatssymbole  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a) Die drei sog. Staatselemente – und das „vierte“: Die Kultur . . . . . 46 b) Das Beispiel „Staatsgebiet“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 aa) Einleitung, Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 bb) Konstitutionalisierung des Staatsgebiets im Verfassungsstaat – der verfassungs-theoretisch-kulturwissenschaftliche Ansatz. . 48 c) Die Verfassung des Pluralismus: Formen einer kulturellen Dif ferenzierung und äußeren Öffnung des Verfassungsstaates . . . . . . . 52 aa) Nation und Verfassungsstaat: Normalisierung, Relativierung, Normativierung – der Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 bb) Föderalismus und (werdender) Regionalismus als inneres Struk turprinzip des Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 cc) Die Öffnung des Verfassungsstaates zur Völkergemeinschaft hin (der „kooperative Verfassungsstaat“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 d) Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat: Freiheit aus Kultur . . . . . 54 e) Insbesondere: Die sog. Staatssymbole im Kontext der neueren Text stufenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

8 Inhaltsverzeichnis aa) Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 bb) Die neuere Textstufenentwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 6. Verfassungsrechtliche Aspekte der kulturellen Identität . . . . . . . . . . . . . 59 7. „Republik“ / „Verfassungsstaatliche Monarchie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 a) Die Wiederbelebung der Republikklausel: Ein Beispiel für verfas sungskulturelle Wachstumsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 b) „Verfassungsstaatliche Monarchie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Kapitel

Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit77

I. Große Daten und große Personen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 II. Klassikertexte im Verfassungsleben – Sieben Ausgangsthesen in kultur wissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 III. Das Möglichkeitsdenken als Teil einer Trias (neben Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1. Einleitung, Problem, Ausgangsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Möglichkeitsdenken (Pluralistisches Alternativendenken) im Einzelnen. 80 a) Erläuterung des Begriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 c) Verfassungstheoretische Anforderungen an das Möglichkeitsdenken – Grenzen des Möglichkeitsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3. Die Integration der Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Vorgang (des Denkens und Handelns) der öffentlichen Verfassungs interpretation und -politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Das Verhältnis der drei Denkrichtungen untereinander (Konkur renz und Kooperation, Konfrontation und Integration). . . . . . . . . . . 86 b) Die Bewertung des Wirklichen, Möglichen und Notwendigen im Horizont des Normativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 IV. Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive – Die zwei Dimensionen der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive: Zeit und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Rechtsvergleichung in der Zeit: Verfassungsgeschichte. . . . . . . . . . . . . 88 2. Rechtsvergleichung im Raum: Zeitgenössische Komparatistik, weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfas sungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 V. Zeit und Verfassungskultur: Instrumente und Verfahren zur Verarbeitung des Zeitfaktors in Gegenwart und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Zukunfts- und Fortschrittsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Verfassungswandel kraft Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3. Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Gesetzgebung(saufträge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Inhaltsverzeichnis9 5. Vorwirkung von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 6. Experimentier- und Erfahrungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 7. Verfassungsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 VI. Die Europäisierung und Internationalisierung – der „kooperative Verfas sungsstaat“ – das Weltbild des Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Die Europäisierung des Verfassungsstaates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Die „Europäisierung“ durch Europarecht im engeren und weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Das „Gemeineuropäische Verfassungsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 c) „Nationales Europaverfassungsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Der kooperative Verfassungsstaat   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Ursachen und Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Grenzen und Gefährdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 c) Koordinations-, Koexistenz- und Kooperationsvölkerrecht: Verfassende Elemente der Völkerrechtsgemeinschaft – universales Mensch heitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 d) Vom souveränen Nationalstaat zum kooperativen Verfassungsstaat  . 103 3. Die – begrenzte – Integrationskraft von Verfassungen . . . . . . . . . . . . . 105 4. Das Weltbild des Verfassungsstaates: „Weltgemeinschaft der Verfas sungsstaaten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3. Kapitel I. II.

Kulturwissenschaftliche Aufbereitung117 Textstufenentwicklung in Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des „gemischten“ Verfassungsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten. . . . . . . . . 120 a) Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b) Bestandsaufnahme in Auswahl, die Beispielsvielfalt . . . . . . . . . . . . 121 aa) Die sprachliche Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Die rechtstechnisch-dogmatische Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 cc) Differenzierungs- und Wandlungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 c) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 aa) Auf der Ebene der Verfassungsinterpretation. . . . . . . . . . . . . . . 147 bb) Auf der Ebene der Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 cc) Auf der Ebene der Verfassungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 d) Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Funktionenvielfalt der Verfassungstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 a) Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Die einzelnen Funktionen der Texte im Rahmen eines anthro pozentrischen Verfassungsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

10 Inhaltsverzeichnis aa) Das anthropozentrische Verfassungsverständnis. . . . . . . . . . . . . 151 bb) Ratio und Emotio  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 cc) Die „Verarbeitung“ der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 dd) Grundkonsens und Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 ee) Die schrankenziehende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 ff) Wirklichkeitsbezug, Wirklichkeitsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 158 III. Die potentielle Relevanz von Verfassungsentwürfen (Leitbild Schweiz) und „semantischen“ Verfassungen (die Beispiele Myanmar und Vene zuela) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 IV. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat: Ein Pluralismus von Ge schriebenem und Ungeschriebenem vieler Räume und Stufen . . . . . . . . . . 163 1. Die Fragwürdigkeit des Sprachbildes „Quelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Offenheit und Pluralität der Rechtsquellen im Verfassungsstaat . . . . . . 164 3. Insbesondere: „neue“ Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4. Wechselseitige Einflüsse statt einseitiger Über- und Unterordnung der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5. Abschied vom nationalstaatlichen Etatismus der Rechtsquellenlehre, die „Europäisierung“ der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Inkurs II: 60 Jahre Grundgesetz als Kultur und aus Kultur illustriert am Vorbild Italiens und am Beispiel Portugals sowie am 60-jährigen deutschen Grundgesetz – eine Projektskizze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Inkurs III: Das GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen . . . . 183 Inkurs IV: Mexiko – Konturen eines Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts – ein jus commune americanum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 4. Kapitel

Verfassunggebung, Verfassungsänderung, Verfassungsinterpretation und Verfassungsgerichtsbarkeit245

I. Verfassunggebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1. Ein Problemkatalog, Fragenkreise und Antworten. . . . . . . . . . . . . . . . . 245 a) Die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 b) Der Problemkatalog: Fünf Fragenkreise als Kontinuum im Wandel der Verfassungstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 c) Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 d) Die zwei Ebenen: Verfassunggebung im Typus Verfassungsstaat – Verfassunggebung eines konkreten Volkes im Kontext seiner kultu rellen Individualität und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 e) Die Normativierung und Konstitutionalisierung der verfassung gebenden Gewalt des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2. Verfassungspolitische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 3. Verfassunggebung als pluralistischer Vorgang, Normierung des „poli tisch Wichtigen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Inhaltsverzeichnis11 II. Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Die Ausgangsfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Ein verfassungspolitischer Problemkatalog in Sachen Verfassungsände rung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3. Die Grenzen der Verfassungsänderung: Ewigkeitsklauseln als verfas sungsstaatliche Identitätsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ – Ein Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen“ Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . 263 1. Erster Teil: Grundthese, Problemstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 a) Die bisherige Fragestellung der Theorie der Verfassungsinterpreta tion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 b) Neue Fragestellung und These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 c) Erläuterung der These, Interpretationsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2. Die an Verfassungsinterpretation Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 a) Methodische Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 b) Systematisches Tableau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 c) Erläuterung des systematischen Tableaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. Bewertung der Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Mögliche Einwände, Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Legitimation aus Gesichtspunkten der Rechts-, Norm- und Inter pretationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Legitimation aus verfassungstheoretischen Überlegungen . . . . . . . . 275 d) Insbesondere: Demokratietheoretische Überlegungen als Legitima tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 4. Konsequenzen für die „juristische“ Verfassungsinterpretation . . . . . . . . 281 a) Relativierung der juristischen Interpretation – neues Verständnis ihrer Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) Insbesondere: Ausmaß und Intensität der richterlichen Kontrolle – Differenzierung im Hinblick auf das Maß an Beteiligung . . . . . . . . 283 c) Konsequenzen für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfas sungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 5. Neue Fragestellungen für die Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 a) Unterschiedliche Ziele und Methoden der Auslegung bei verschie denen Beteiligten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 b) Aufgaben der Verfassungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 6. Nachtrag (1978 / 2012) zu: „Die offene Gesellschaft der Verfassungs interpreten“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 7. Zweiter Teil: Die Übertragung auf Europa – Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Europa (regional-europäisch) . . . . . . . . . 291 a) Die These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 b) Die Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 c) Europäisierung der Rechtsquellen und das Desiderat einer europäi schen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 aa) Die Europäisierung der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 bb) Das Desiderat einer europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . 294

12 Inhaltsverzeichnis 8. Dritter Teil: Wer entwickelt wie das Völkerrecht? – Menschheitsrecht lich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 a) Die Frage nach den Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 b) Die Frage nach der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 c) Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 9. Methoden und Prinzipien der Verfassungsinterpretation – ein Problem katalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 IV. Die Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode und als Kultur vergleichung – eine Reprise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Inkurs V: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungsstaat  . . 321 5. Kapitel Einzelausprägungen333 I.

Die Menschenwürde als „kulturanthropologische Prämisse“ des Verfassungsstaates, die Demokratie als „organisatorische Konsequenz“ . . . . . . . 333 1. Die Menschenwürde als „kulturanthropologische Prämisse“. . . . . . . . . 333 a) Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 b) Einige Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 c) Menschenwürde im Du-Bezug und im Generationenverbund . . . . . 335 d) Menschenwürde im kulturellen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 2. Der Zusammenhang von Menschenwürde und Demokratie  . . . . . . . . . 336 a) Das „klassische“ Trennungsdenken und seine Kritik . . . . . . . . . . . . 336 b) Wandlungen der Verfassungstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 c) Die Einzelausarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 3. Menschenrechte / Grundrechte im Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 a) Verfassungsstaatliche bzw. verfassungstextliche Bezugnahmen auf die Menschenrechte – eine vergleichende Typologie: Die schrittweise „Konstitutionalisierung“ der Menschenrechte als Positivie rung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 b) Die Menschenrechte als Bestandteile allgemeiner Bekenntnisklau seln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 c) Menschenrechte als Erziehungsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 II. „Bilderphilosophische Aspekte“: Menschenbild, Staatsbild, Volksbild, Gottesbild, Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 III. „Kulturelle Freiheit“, Freiheit aus Kultur, Menschenrechte  /  Grundrechte im Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 1. Kulturelle Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 2. Insbesondere: „Grund-Rechte“, die Unterscheidung zwischen „Menschen-“ und „Bürgerrechten“, insbesondere: Der „status mundialis hominis“ . . . 355 IV. Erziehungsziele (Menschenrechte als Erziehungsziele), „Verfassungspäda gogik“ und Orientierungswerte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 1. Erziehungsziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

Inhaltsverzeichnis13 a) Erziehungsziele als konsensbildende Elemente im Verfassungsstaat. 360 b) Erziehungsziele als Basisbedingungen der Verfassung des Pluralis mus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 c) Erziehungsziele als Medien einer „Verfassungspädagogik“ . . . . . . . 362 d) Erziehung der Jugend: Ein Auftrag der „Verfassung als Vertrag“ . . 363 2. Orientierungswerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Inkurs VI: Bürgerschaft durch Bildung als europäische Aufgabe . . . . . . . . . . . . 365 V. Demokratie als organisatorische Konsequenz der Menschenwürde . . . . . . 378 1. Demokratievarianten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 2. Demokratietheoretische Überlegungen als Legitimation . . . . . . . . . . . . 385 VI. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne – Organkonstituierung und Funktionenteilung im Interesse der Aufgabenerfüllung . . . . . . . . . . . . 387 1. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne. . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 2. Organkonstituierung und Funktionenteilung im Interesse staatlicher Auf­ga­ben­erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 a) Das Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 b) Insbesondere: Das Staatsoberhaupt – Staatspräsident bzw. Monarch 399 c) Die Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 d) Die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 e) Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Inkurs VII: Kommunale Selbstverwaltung unter dem Stern des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 VII. Der soziale Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht: Das offene Kulturkonzept  . . . . . 426 1. Sachliche Teilgebiete in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 2. Rechtstechnische Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 a) Rechtstechnische Vielfalt der Kulturverfassungsnormen in den „alten“ Verfassungsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 b) Die „Entwicklungsländer“ auf dem Felde des Kulturverfassungs rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 aa) Kulturelles-Erbe- und Identitätsklauseln allgemeiner und spe zieller Textfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 bb) Sprachen-Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 cc) Erziehungsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 dd) Kulturelle Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 ee) Kulturelle Pluralismus-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 c) Das offene Kulturkonzept als Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 d) Das Verhältnis zur Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . . . . . . 438 e) Insbesondere: Musik und „Recht“ – auf dem Forum der Verfas sungslehre als Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben (der materielle und prozessuale Ansatz). 459 1. „Gemeinwohl“ und seine Teil- und Nachbarbegriffe im kulturellen Ver fassungsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 2. Staatsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

14 Inhaltsverzeichnis X. Arbeit und Eigentum, soziale und ökologische Marktwirtschaft . . . . . . . . . . 494 1. Theorieelemente einer „Verfassungslehre der Arbeit“ . . . . . . . . . . . . . . 494 2. Soziale und ökologische Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Inkurs VIII: Eine Verfassung für künftige Generationen – die „andere“ Form des Gesellschaftsvertrages: Der Generationenvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht – eine Textstufenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 XI. Föderalismus und Regionalismus als territorialer Pluralismus und kulturelle Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 1. Föderalismus: Der „kulturelle Bundesstaat“ – das kulturwissenschaft­ liche Bundesstaatsverständnis – die „gemischte“ Bundesstaatslehre – Grundlegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 2. Insbesondere: Altes und Neues zum Kulturverfassungsrecht im Bun desstaat (1980 / 2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Inkurs X: Textstufen in österreichischen Landesverfassungen – ein Vergleich   . 574 Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“ – ein wissenschaftliches Projekt für den Bundesstaat Brasilien (2008) . . . . . . . . . . . . . 592 3. Regionalismus: Der Regionalismus in kulturwissenschaftlich-rechtsver gleichender Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 a) Der verfassungsstaatliche Begriff „Region“: Ein offenes Ensemble von unterschiedlichen gemischten Größen – textliche Richtgrößen, das Bild der „Skala“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 b) Die sieben Legitimationsgründe von (Föderalismus und) Regiona lismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Inkurs XII: Konstitutionelles Regionalismus-Recht – die neuen Regionalsta tute in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616 XII. Gerechtigkeitsmaximen im Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 1. Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 2. Elemente einer Bestandsaufnahme der Textstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 3. Auswertung, erste verfassungstheoretische Folgerungen . . . . . . . . . . . . 627 XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht sowie Sonn- und Feiertagsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 1. Präambeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 a) Die Präambel als Grundlegung und Bekenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . 629 b) Die Brückenfunktion in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 2. Gottesbezüge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 3. Eine Theorie des Religionsverfassungsrechts von 1976 – nach 35 Jah ren wiedergelesen und im Verfassungsstaat von 2012 fortgeschrieben  . 633 a) Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 b) Die Ausgangsthesen zum Religionsverfassungsrecht (1976) und ihre spätere etappenhafte Fortschreibung (1978 / 85, 1996, 2001 / 02) . . . 634 c) Rezeptionen, Kritik, Wahlverwandtschaften, Anderes? . . . . . . . . . . . 638 d) Neue verfassungsrechtliche Textstufen in Sachen Religionsverfas sungsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639

Inhaltsverzeichnis15 Exkurs: Außereuropäische Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 e) Ein Theorierahmen: Das pluralistische – offene – Religionsverfas sungsrecht, insbesondere das Prinzip der „Religionsfreundlichkeit“ . 673 aa) Das pluralistische – offene – Religionsverfassungsrecht . . . . . . 673 bb) Insbesondere: Das Prinzip der „Religionsfreundlichkeit“ des Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 4. Feiertage / Sonntage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 a) Feiertage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 aa) Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 bb) Feiertagsgarantien als Ausdruck der – geschichtlich geglückten – Integrierung von Bevölkerungsteilen in den Verfassungsstaat . 680 cc) Das Beispiel „Osteuropa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 b) Sonntage und Sonntagskultur im Verfassungsstaat, Sonntagsverhal ten in der Freizeitgesellschaft, Sonntagswirklichkeit . . . . . . . . . . . . 684 XIV. Schutz der Verfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685

6. Kapitel I.

Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe692

Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive – Methoden seiner wissenschaftlichen Erfassung, Kennzeichnung seiner heutigen Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 1. Methoden der wissenschaftlichen Erfassung: Weltweite Produktionsund Rezeptionsprozesse seit Jahrhunderten, kultur- bzw. erfahrungswissenschaftlicher Ansatz, Klassikertexte, das Textstufenparadigma, Rechtsvergleichung in „weltbürgerlicher Absicht“. . . . . . . . . . . . . . . . . 692 2. Kennzeichnung der wesentlichen Inhalte (Prinzipien) des Verfassungs staates – eine Reprise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 II. Verfassungspolitik, Utopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 1. Verfassungspolitik („Möglichkeitsdenken“). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 2. Utopien aus allen Feldern der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 III. Beispielfelder von Verfassungspolitik: Heutige Aufgaben verfassungsstaat licher Reformpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 1. Reformbedürfnisse heute, eine Bestandsaufnahme in Auswahl. . . . . . . 702 a) National-verfassungsstaatsbezogene Reformbedürfnisse . . . . . . . . . . 703 b) Auf die Welt bzw. die Menschheit bezogene Reformbedürfnisse . . 705 2. Ausblick auf den nationalen und universalen Konstitutionalismus . . . . 707 Exkurs I: Aspekte einer kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Verfassungslehre in „weltbürgerlicher“ Absicht – die Mitverantwortung für Ge sellschaften im Übergang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 Exkurs II: Die Chinesische Charta 08 – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738

16 Inhaltsverzeichnis Exkurs III: Der Arabische Frühling (2011 / 12) – in den Horizonten der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 Rechtsquellen (Sammlungen von Verfassungstexten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780 Bibliographie (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788

1. Kapitel

Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode I. Der Typus des Verfassungsstaates als kulturelle Leistung Die vergleichende Verfassungslehre bezieht sich auf den Typus der demokratischen Verfassungen, wie sie sich in der freien, heute nicht nur westlichen Welt durchgesetzt haben, auf ihre wesentlichen Inhalte und Verfahren (in ihren einzelnen Beispielen): in der Tiefe und im Laufe der Geschichte sowie im weltweiten Raum, zumal seit dem „annus mirabilis“ 1989 und der Möglichkeiten dank des Arabischen Frühlings (2011). Dieser Typus setzt sich aus idealen und realen – Staat und Gesellschaft betreffenden – Elementen zusammen, die bei kaum einem einzelnen Verfassungsstaat alle gleichzeitig erreicht sind, die aber einen optimalen Sollzustand und einen möglichen Istzustand in den Blick nehmen: in Richtung einer universalen Verfassungslehre mit Elementen einer völkerrechtsoffenen Weltrechtskultur.  Solche Elemente sind: die Menschenwürde als Prämisse, erfüllt aus der Kultur eines Volkes und universalen Menschheitsrechten, gelebt aus der Individualität dieses Volkes, das seine Identität in geschichtlichen Traditionen und Erfahrungen und seine Hoffnungen in Wünschen und im Gestaltungswillen für die Zukunft findet; das Prinzip der Volkssouveränität, aber nicht verstanden als Kompetenz zur Beliebigkeit und als mystische Größe über den Bürgern, sondern als Formel zur Kennzeichnung des immer neu gewollten und öffentlich verantworteten Zusammenschlusses dieser Bürger („We, the people“); die „Verfassung als Vertrag“, in deren Rahmen Erziehungsziele formuliert und Orientierungswerte möglich und notwendig sind; das Prinzip der Gewaltenteilung im engeren staatlichen und weiteren pluralistischen Sinne; das Rechtsstaats- und Sozialstaats-, aber auch das (offene) Kulturstaatsprinzip (mit unterschiedlich intensiver Religionsfreundlichkeit); Grundrechtsgarantien; die Unabhängigkeit der Rechtsprechung etc. All dies fügt sich zu einer verfassten Bürgerdemokratie mit dem Pluralismus als Prinzip in der Hoffnung auf weltweite Kooperation: zugleich im Dienste der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des Verfassungsstaates i. S. des BVerfG. Diese Skizzierung soll verdeutlichen, dass dieser Typus mit seinen zentralen Elementen selber eine kulturelle Errungenschaft des westlichen abend-

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

ländischen Kulturkreises ist. Er ist Ergebnis und Leistung kultureller Prozesse, wie sie als „kulturelles Erbe“ etwa in Klassikertexten aus vielen Wissenschaften sowie der Kunst tradiert und immer neu angeeignet werden, und erhebt zugleich einen Zukunftsanspruch, das einmal erreichte kulturelle Niveau des kooperativen Verfassungsstaates nicht mehr zu unterschreiten, sondern zu bewahren, allenfalls zu verbessern (soweit „Zwerge“ auf den Schultern der klassischen Riesen besser sehen können)1. Jede weltweit vergleichende Verfassungslehre muss etwas vom „Geist der Verfassungen“ einzufangen suchen – sie hätte sich an Montesquieus’ „Geist der Gesetze“ zu orientieren, wäre dieser Anspruch nicht zu unbescheiden. Etwas vom „Geist der Verfassungen“ wird jedoch in den Verfassungstexten greifbar, vor allem in ihrer kontemporär und geschichtlich begriffenen „Entwicklung“ als Textstufen-Vorgang, um den in diesem Buch immer wieder gerungen wird. Dieser „Geist“ wirkt auch in den kulturwissenschaftlich zu erschließenden kulturellen Kon-Texten. Dabei ist zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden: Es gibt einen allgemeinen, typusorientiert zu erarbeitenden „Geist der Verfassungen“ (des Verfassungsstaates) und es gibt einen sehr individuell geprägten „Geist der einzelnen Völker“, die in, nach und „unter“ Verfassungen leben. Diese beiden Ebenen stehen nicht unverbunden nebeneinander: Es gibt mannigfache Berührungen und Wechselwirkungen zwischen der konkret verfassten Nation und dem allgemeinen Typus „Verfassungsstaat“. Sie lassen sich freilich nur an und in einzelnen Problemkreisen nachweisen, im Ganzen höchst fragmentarisch. So universal der Typus „Verfassungsstaat“ heute weltweit ist (darum diese Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre), so individuell rechtskulturell „besonders“ bleibt seine je nationale Ausformung, die weder ein enzyklopädisches Gelehrtenteam noch ein Welt-Computer gleichzeitig darzustellen vermag.

II. Der Verfassungsbegriff / Das „Gemischte“ Verfassungsverständnis – eine erste Grundlegung 1. Der Verfassungsstaat gemeineuropäisch  /  atlantischer Prägung ist gekennzeichnet durch die Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse, durch Volkssouveränität und Gewaltenteilung, durch Grundrechte und Toleranz, Parteienvielfalt und Unabhängigkeit der Gerichte; er wird aus gutem Grund als pluralistische Demokratie bzw. offene Gesellschaft („Zivilgesellschaft“ mit NGOs, Umweltverbänden und weiteren Zusammenschlüssen bis hin zu einzelnen Bürgern) gerühmt. Seiner Verfassung, verstanden 1  R. K. Merton, Auf den Schultern von Riesen, 1980 (amerik. 1965). Zum Folgenden schon – jetzt überarbeitet – P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 28 ff.; ders., Verfassung als Kultur, JöR 49 (2001), S. 195 ff.



II. Der Verfassungsbegriff / Das „Gemischte“ Verfassungsverständnis19

als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, kommt erhöhte formelle rechtliche Geltungskraft zu. Sie stiftet das Moment der Stabilität und Dauer; eindrucksvolles Beispiel ist die mehr als zweihundertjährige US-Bundesverfassung. Dieser Dauer wegen – das GG wagt für seine Grundprinzipien in Art. 79 Abs. 3 analog einigen anderen, ihm vorangegangenen und später nachfolgenden Verfassungen sogar einen „Ewigkeitsanspruch“! – bedarf es aber auch der Instrumente und Verfahren, dank derer sich die Verfassung als „öffentlicher Prozess“2 an Entwicklungen in der Zeit flexibel anpasst, ohne dass der Sinn der Verfassung Schaden leidet: nämlich sowohl „Anregung und Schranke“ i. S. R. Smends zu sein, als auch „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner) sowie „Beschränkung und Rationalisierung“ staatlicher Macht (H. Ehmke), auch gesellschaftlicher Macht. Gerade die US-Bundesverfassung kennt neben der zahlenmäßig in zweihundert Jahren ungewöhnlich selten in Anspruch genommenen Verfassungsänderung (derzeit erst 27 Amendments) Verfahren des Wandels: vor allem durch Verfassungsrichterspruch; er wird unverzichtbar (z. B. in Ägypten). 2.  Verfassung meint rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, schließt also die – verfasste – Gesellschaft ein, – freilich nicht im Sinne von Identitätsvorstellungen, d. h.: nicht nur der Staat ist verfasst (Verfassung ist nicht nur „Staats-“Verfassung). Dieser weite Verfassungsbegriff umschließt die Grundstrukturen der – pluralen – (Zivil-)Gesellschaft, etwa das Verhältnis von gesellschaftlichen Gruppen untereinander bzw. zum Bürger (Toleranz!). Gewiss sind hier über die mittelbare „Drittwirkung“ der Grundrechte, die Prinzipien der allgemeinen Rechtsordnung oder Institutionen zur Verhinderung von Machtmissbrauch (Wettbewerbs- und Kartellrecht!) verfassende Strukturen erst im Ansatz vorhanden – aber sie sind vorhanden. Das gewaltenteilende Verfassen3 wird eine rechtspolitische Aufgabe. Keineswegs ist nur das „Normengerüst“ gemeint. Einzubeziehen sind politische Kultur4 und Ambiance (D. Schindler), die nicht im engeren Sinne juristischen Anschauungen und Praktiken in der – konstitutionellen – „Gesellschaft“: Man denke an gute oder schlechte Parlamentsbräuche, an Urteilsschelten von Politikern und Journalisten, an Selbstdisziplin der Medien oder an die Richtlinien für 2  Zum Ganzen: P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (3. Aufl. 1998). 3  s. zur „Entdogmatisierung“ der Gewaltenteilungslehre: W. Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, 1961; K. Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995, S.  207 ff. m. w. N.; H. Seiler, Gewaltenteilung, Allgemeine Grund­ lagen und schweizerische Ausgestaltung, 1994. Aus der Lit. zuletzt: C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005; Textbeispiele unten S. 387 ff. 4  „Zu den ‚Natur- und Kulturbedingungen‘ der staatlichen Einheit“ s. H. Heller, Staatslehre, 4. Aufl. 1970, S. 139 ff.; zur „Werkgemeinschaft der Kultur“ im Kontext sachlicher Integration: R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 45.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

multinationale Unternehmen von 1976, an die Ethiken einzelner Berufe. All dies strukturiert die offene Gesellschaft ebenso wie Klassikertexte (etwa Montesquieus), Lebensleistungen (etwa T. Heuss’, V. Havels und N. Mandelas) und Präambeln von Verfassungen und ihre pädagogischen Inhalte. Der Philosophie des „offenen Geistes“ gemäß (Popper) lässt die Verfassung Offenheit nach vorn, in die Zukunft, sie institutionalisiert Erfahrungen (Offenheit nach zurück) und lässt Raum für Entwicklungen des mensch­ lichen Geistes und seiner Geschichte5. Um der Würde der Person willen erzwingt sie ein Höchstmaß an Toleranz – sie erlaubt die Vielfalt der Sinn­ gebung –, freilich mit bestimmten „Toleranzgrenzen“, die um so unverzichtbarer werden, als sich die Toleranz zu einem Bestandteil des verfassungsrechtlichen Grundkonsensus entwickelt, der als solcher (verfassungs-)rechtlich schwer formalisierbar ist6 (vgl. die „Wahlsprüche“ in Afrika). 3. Vor diesem Hintergrund ist die Verfassung als Kulturzustand zu begreifen. Jede verfassungsstaatliche Verfassung lebt letztlich aus der Dimension des Kulturellen. Der Kulturgüterschutz, die speziellen kulturellen Freiheiten, ausdrückliche „kulturelles Erbe-Klauseln“ und allgemeine Kulturstaats-Artikel bilden nur besondere Verdeutlichungen der – allgemeinen – Kulturdimension der Verfassung7. Wenn der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe seinen Kulturgüterschutz besonders effektiviert, verfeinert und weiterentwickelt, so geschieht dies im Dienst seiner kulturellen Identität insgesamt. Zugleich gewinnt das kulturwissenschaftiche Verständnis von Verfassungen im Ganzen an Überzeugungskraft: „Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen.“ Der Verfassungsstaat ist „aus Kultur“ geworden und „als Kultur“ zu verstehen: heute tendenziell universal, mit Bausteinen für eine „Weltrechtskultur“. 5  Zum Anschluss demokratischer Verfassungsrechtswissenschaft an die „allgemeine“ Wissenschaft vom Menschen: P. Häberle, Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 ff. (67 f.). 6  Vgl. dazu: A. Podlech, Wertentscheidungen und Konsens, in: G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 9 ff. (25). – Zu konstitutionellen Toleranzklauseln s. die Nachweise unten S. 157, 360. 7  Ausgearbeitet in P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., 1998; ders., Europäische Rechtskultur, 1994; ders., Altern und Alter des Menschen als Verfassungsproblem, FS Lerche, 1993, S. 189 ff.; ders., Das Staatsgebiet als Problem der Verfassungslehre, FS G. Batliner, 1994, S. 397 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011.



II. Der Verfassungsbegriff / Das „Gemischte“ Verfassungsverständnis21

4.  Die geschriebene Verfassung stellt ein im Laufe der Zeit wandelbares Regelungsoptimum dar. Die verfassungsstaatliche Themenliste ist offen. Gewiss, es gibt ein „verfassungsstaatliches Minimum“ an Verfassungstexten bzw. der in ihnen zu behandelnden Themen einer Zeit (ebenso wie es einen Grundbestand an je notwendigen Staatsaufgaben geben muss). So wie wir im Anschluss an M. Hauriou von einem „bloc des idées incontestables“ sprechen, können wir insofern von einem „bloc des textes incontestables“ ausgehen, zu denen Klassikertexte etwa von Montesquieu zur Gewaltenteilung für jedes Beispiel des „Typus Verfassungsstaat“ gehören, aber auch die Menschenwürde und das Rechtsstaatsprinzip. Das Rechtsstaatsprinzip hat weltweit teils verfassungstextlich, teils der Sache nach Karriere gemacht, auch in den neuen Verfassungen in Osteuropa sowie auf dem Balkan und im südlichen Afrika. Dies geschah auch im Verbund mit oder doch in Entsprechung zu der angloamerikanischen „rule of law“. Jedem Verfassunggeber ist zu raten, nur einige, nicht alle Teilaspekte des Rechtsstaatsprinzips ausdrücklich zu regeln, um künftigen Entwicklungen Raum zu lassen. Das Prinzip als solches gehört jedoch heute zum „bloc des textes incontestables“. Die Einzelausformungen dürfen von Land zu Land variieren8. Eine raumzeitlich angelegte Bestandsaufnahme, aber auch das entwicklungsgeschichtliche Verständnis des Verfassungsstaates als Typus wie als individuelles Beispiel wird jedoch zu der Erkenntnis gelangen, dass im Übrigen die Themenliste offen ist. Immer wieder kommen neue Themen hinzu (auch dank der UNO als „mittelbarem Verfassunggeber“, jüngst in Sachen Kinderrechte, auch des Behindertenschutzes): aus dem staatsorganisatorischen Teil etwa die „konsultative Volksbefragung“ (Schweden, Finnland), die „Öffentlichkeit des Verwaltungshandelns“ (Art. 30 Verf. Guatemala), die „Beziehungen zu verwandten Staaten“ (Art. 151 ebd.), die Agenden eines „Cooperative Government“ (Art. 40 Verf. Südafrika von 1996 / 97). Die Schweiz hat auf Kantonsebene ausgefeilte Maximen für die Verfassunggebung geschaffen9. Im Vordringen sind neuer8  s. auch R. Hofmann / F. Merli / J. Marko u. a. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996. In der Türkei ist dem türkischen Verfassungsgericht eine bemerkenswerte Effektivierung des Rechtsstaatsprinzips in Richtung auf die einstweilige Anordnung geglückt, dazu Z. Gören, Die einstweilige Anordnung in der Rechtsprechung des türkischen Verfassungsgerichts, EuGRZ 1994, S. 597 ff. – s. auch die hohe Rechtsstaatlichkeit in Art. 141 Abs. 3 Verf. Türkei (1982): „Begründungszwang für alle gerichtlichen Entscheidungen“. Art. 32 Verf. Serbien (2006): „Rights to a fair trial“; Art. 15 Verf. Guatemala (1985): „Ausschluss der Rückwirkung der Gesetze“; Art. 30 ebd.: „Jedes Verwaltungshandeln ist öffentlich.“; Art. 18 Verf. Montenegro (1992): „Recht auf rechtlichen Beistand“; Art. 23, 25 Verf. Slowenien (1991): Recht auf Gerichtsschutz bzw. auf Rechtsmittel; Art. 4 Ziff. 7 Verf. Niederösterreich (1979): „Der Zugang der Bürgers zum Recht“. Zu Afrika mit Textbeispielen unten S.  231 ff. 9  Maximen, die in anderen Ländern allenfalls ungeschrieben anerkannt sein mögen. Konstitutionelles Textmaterial unten S. 246 ff.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

dings fast weltweit Pluralismus-Artikel (z. B. Spanien, Afrika, auch einige Reformländer in Osteuropa: Anti-Ideologie-Klauseln z. B. Art. 6 Verf. Russland), während der Generationenschutz eine ähnliche Themenkarriere durchlebt (vgl. früh Art. 11 Verf. Japan von 1946: werden dieser und künftigen Generationen „Grundmenschenrechte“ als „unverletztliche ewige Rechte übertragen“). Wahrheitsklauseln finden sich vor allem dort, wo die vorangegangene Lebensphase von Völkern durch staatlich verkündete Unwahrheiten gekennzeichnet war (so in den neuen deutschen Bundesländern: z. B. Art. 22 Abs. 2 Verf. Thüringen). Im Grundrechtsbereich garantiert Art. 39 Abs. 2 Verf. Aserbaidschan (1995) ein Informationsrecht „sur l’état véritable de l’environnement“. Neue Verfassungen gehen ähnlich vor. Im Ganzen: In einer sich wandelnden Welt ändern sich auch die Verfassungsthemen. Je älter Verfassungen sind, desto mehr ergänzen Wissenschaft und Praxis die geschriebenen Texte um Ungeschriebenes, was dann für andere – ferne oder nahe – Verfassunggeber später Grund sein mag, deren „Quintessenz“ auf neue Texte zu bringen: die vergleichende Verfassungslehre kann diese Prozesse begleiten, die Wirkungszusammenhänge aufdecken, auch (begrenzt) verstärken. So gelesen, ist das Textstufenparadigma weder Über- noch Unterschätzung der Verfassungstexte. Es wirkt als „Kommentar“ zum Verfassungsstaat und inspiriert die Wissenschaft und Iudikatur. 5. Das Thema Verfassungsstaat berührt zugleich ratio und emotio und impliziert das „Prinzip Hoffnung“. Die vergleichende Verfassungslehre bzw. der Typus „Verfassungsstaat“ hat den Menschen Raum für ein „Utopiequantum“ zu geben: dies nicht nur in Gestalt der Ausgrenzung und Förderung kultureller Freiheiten (auch der Religionen!), sondern sogar weit intensiver: indem Verfassungstexte Hoffnungen (z. B. früher auf die Einheit Deutschlands oder – heute – Irlands)10 normieren, die mindestens konkrete „Utopiewünsche“ sind. Das „Prinzip Hoffnung“ (E. Bloch), das „Prinzip Verantwortung“ (H. Jonas), z. B. im Umweltschutz, auch in den Künsten und Reli­ gionen präsent, stimuliert fruchtbare Verfassungsentwicklungen, weil der Mensch Hoffnung wie das Atmen braucht und das Gemeinwesen von verantworteter Freiheit lebt. So weit Verfassungstexte in ihrer juristischen Dimension grundsätzlich von Utopien entfernt sind und ihrer Eigenart entsprechend entfernt bleiben müssen: in Teilbereichen können sie „noch“ Utopie sein11 – auch das Sozialstaatsprinzip war zur Zeit von H. Heller (1930) und 10  Dazu genauer mein Beitrag: Neues Kulturverfassungsrecht in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland, ZSR 105 (1986), S. 195 (227 f.) sowie unten S.  698 ff. 11  s. auch W. Maihofer, Ideologie und Naturrecht, in: ders. (Hrsg.), Ideologie und Recht, 1968, S. 121 (141 f.), dort (S. 135 ff.) auch allg. zum „modernen Naturrecht als Utopie“. Bemerkenswert U. Hommes, Brauchen wir eine Utopie? Plädoyer für

III. Einbeziehung der Kleinstaaten, Reformstaaten und „Entwicklungsländer“  23

dann 1949 unter dem GG zuerst ein Stück Utopie12. Gleiches gilt für die seinerzeitige „Charta 77“ in Prag. Im Völkerrecht bleiben derzeit manche Teilverfassungen zum Umweltschutz und Humanitärem noch Utopie; Gleiches gilt für den großen Entwurf von I. Kant: „Zum ewigen Frieden“ (1795).

III. Die Einbeziehung der Kleinstaaten, Reformstaaten und „Entwicklungsländer“ Der Begriff „Kleinstaat“ ist umstritten. Lapidar heißt es im Brockhaus13: „Kleinstaat, ein polit. Begriff von schwankender Bedeutung, oft angewandt auf jeden Staat, der nicht zu den weltpolit. führenden Mächten zählt, oft aber auch nur auf solche dritten und vierten Ranges.“ Die Wissenschaft verweist auf das Fehlen einer autoritativen Definition14 und hält Maximum bzw. Minimum der Bevölkerungszahl, Größe des Gebiets oder das Maß effektiver Staatsmacht für mehr oder weniger willkürlich. Man sollte zunächst pragmatisch vorgehen, etwa im Sinne von „sehr kleine politische Einheit“ und als „Primärelement“ die Bevölkerungszahl wählen, so wichtig Gebiet bzw. Raum sind bzw. in der späteren verfassungstheoretischen Perspektive werden. Denn angesichts des weltweiten Siegeszugs der Menschen- und Bürgerrechtsidee bzw. des völkerrechtsoffenen Verfassungsstaates liegt es nahe, den Menschen als ideellen Ausgangspunkt von Recht und Staat, Verfassungsrecht und Völkerrecht zu wählen. Die Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse, I. Kants Idee vom Staat als „Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ und einer „allgemein das Recht“ verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft machen zwar schon das Wort vom Volk als „Staatselement“ fragwürdig, auch lässt sich der Mensch gewiss nicht quantifizieren und mathematisch zum „Volk“ addieren. Dennoch ist der „Kleinstaat“ zunächst einmal über die Höchstzahl von Bürgern praktikabel zu machen. Mit Stimmen in der Literatur15 sei im Folgenden die Richtzahl von 500.000 zugrundegelegt.  III. Einbeziehung der Kleinstaaten, Reformstaaten und „Entwicklungsländer“ 

einen in Mißkredit geratenen Begriff, Aus Politik und Zeitgeschichte B 20 / 77 vom 21. Mai 1977. 12  Bahnbrechend für die Verwirklichung: H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, Hamburger Rektoratsrede, 1950. Eine wesentliche Etappe der Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips bildet das Staatsrechtslehrerreferat von O. Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), S. 37 ff. Aus der späteren Lit.: H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, HStR, Bd. I, 1987, § 25 (Neuauflage, Bd. II, 3. Aufl. 2004 § 28). 13  Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl., 1970, Bd. 10, S. 251. 14  So J. Kokott, Micro-States, Encyclopedia of Public International Law Nr. 10, 1987, S.  297 ff. 15  Vgl. H. von Wedel, Der sog. „Mikrostaat“ im internationalen Verkehr, VRÜ 5 (1972), S. 303 (304 f.) m. w. N. – Aktuell: Zypern in der EU.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

Der Begriff „Kleinstaat“ darf nicht auf das Prokrustesbett von fixierten Zahlen und Daten gezwungen werden. Zu denken ist mehr im Sinne einer nach oben und unten („Zwergstaaten“) offenen Skala, im Geiste ganzheit­ licher Überlegungen, die das Materielle in den Vordergrund rücken: an die Stelle des Denkens in dem Schema von Macht und Größe, von fertigen Begriffen, von verräumlicht und quantifiziert fixierten „Elementen“ vorgegebener Staatlichkeit jenseits materieller Kriterien von Verfassung und Recht sowie personaler Subjekte wie Bürger und Mensch. So ist der Kleinstaat nur ein gedachter Punkt, eine Spanne oder Einheit auf einer Skala mit Übergängen zum „kleineren“ Staat usf. Der Begriff relativiert sich. Vor allem wird offenkundig, wie sehr sich Bewertungskriterien im Gang der Regional-, National- und Weltgeschichte wandeln. Auch Kleinstaaten können Beiträge zum universalen Konstitutionalismus liefern (z. B. die Idee, aus anderen Ländern fremde Verfassungsrichter zu berufen, wie in Liechtenstein und Bosnien) oder die zeitlich fixierte Frage nach Verfassungsänderungen (Art. XIV Sect. 1 Verf. Palau (1979)). 1.  Reformstaaten Osteuropas und auf dem Balkan Der Kleinstaat gewinnt derzeit hohe Aktualität; zwar nicht im technischen Sinne, wohl aber in Form kleiner Staaten zeichnet sich seit 1989 im Rahmen der Zerfallserscheinungen des Ostblocks in Osteuropa ein Trend zu dieser Variante des Verfassungsstaates ab. Man denke an die Loslösung der 3 Baltenrepubliken Litauen, Estland, Lettland von der (damals noch) UdSSR16 und an das Ausscheiden von Slowenien, Montenegro und Kroatien sowie Mazedonien aus Jugoslawien (1991), auch von Bosnien-Herzegowina (1996) sowie dem Kosovo aus Serbien (2006). Zu hoffen ist, dass die hier entstehenden kleinen Verfassungsstaaten auf Dauer auf dem Erfahrungsschatz der eigentlichen „Kleinstaaten“ aufbauen werden und dass die Verfassungstheorie des „Kleinstaates“ diese „kleinen Staaten“ einbezieht. Ja, es ist zu fragen, ob sich mittelfristig eine Art Skala abzeichnet; sie siedelt den (ja sich differenzierten) „Kleinstaat“ am unteren Ende an, die „kleinen Staaten“ wie die Schweiz und Luxemburg in der Mitte und die größeren wie die klassischen Nationalstaaten am oberen Ende. Im Übrigen ist auch der kleine Staat ein Teil der „universalen Werkstatt“ des Verfassungsstaates, selbst Palau und Nauru (1968). 16  Estland (45.100 Quadratkilometer) hat 1,6 Millionen Einwohner, Lettland (64.500 Quadratkilometer) hat 2,7 Millionen Einwohner, Litauen (66.000 Quadrat­ kilometer) hat 3,7 Millionen Einwohner, Armenien (30.000 Quadratkilometer) hat 3,3 Millionen Einwohner (Angaben nach FAZ vom 28. August 1991, S. 16). Gagausen in Moldavien will ein eigener Kleinstaat werden (FAZ vom 3. Sept. 1991, S. 2). Zu Nauru: L. Folliet, Nauru, 2011.

III. Einbeziehung der Kleinstaaten, Reformstaaten und „Entwicklungsländer“  25

2.  Die „Entwicklungsländer“ im Kraftfeld der Wachstumsprozesse des Verfassungsstaates Im Folgenden sei ganz allgemein und vertieft die Brücke zu den „Entwicklungsländern“ (besser: „Schwellenländer“) geschlagen. Dürfen sie in die Produktions- und Rezeptionszusammenhänge des Typus „Verfassungsstaat“ einbezogen werden? Und zwar auch als aktiv Gebende, nicht nur als passiv Nehmende? Lässt sich die Dritte Welt schon heute in die „eine Welt“ der „Familie“ der Verfassungsstaaten integrieren – bei allen Eigenheiten ihres besonderen Kulturzustandes und stets vorhandener Ungleichzeitigkeiten – oder „hinkt“ sie einfach den europäisch / nordamerikanischen Verfassungsentwicklungen uneinholbar bzw. „hoffnungslos“ hinterher? Schon die wissenschaftliche Bescheidenheit und der Abschied von einem selbstgefälligen „Eurozentrismus“ mahnen zur Vorsicht, nur an „Einbahnstraßen“ ohne „Gegenverkehr“ zu denken. Besonders von den neuen Verfassungen in Lateinamerika bzw. vom lateinamerikanischen Konstitutionalismus lässt sich viel lernen, auch in Sachen Völkerrechtsoffenheit. a) Beobachten lassen sich wechselseitige Lernvorgänge zwischen „Entwicklungsländern“ bzw. „entwickelten“ Verfassungsstaaten im Spiegel ihrer neueren Verfassungstexte. b)  Die „Entwicklungsländer“ bzw. ihre wissenschaftlich beratenden, vergleichenden Verfassungs(text)geber verarbeiten nicht nur die europäischen Verfassungstexte, sie verdichten darüber hinaus die Verfassungs- und Verwaltungswirklichkeit, auch Gerichtsurteile der „alten“ Beispielsländer zu neuen Textformen und differenzierten Textstufen, was schon an sich eine eigene kodifikatorische Leistung darstellt. Jedenfalls glückt so eine universale Gemeinschaftsleistung in Bezug auf den Typus „Verfassungsstaat“, die umso höher zu veranschlagen ist, weil die Entwicklungsländer oft mehr gegen die „arme“ Wirklichkeit wagen als die alten Länder, die im gesteigerten Wohlstand leben. Die hohen Risiken für jene liegen auf der Hand: Die Verfassungstexte können unglaubwürdig, als bloße Versprechen oder gar Utopien abgetan werden, was der Idee des Verfassungsstaates selbst schadete. Der Verfassungstext wird zum Feigenblatt für eine „schlechte“ Wirklichkeit. Manchem widerfährt dies leider in Lateinamerika. c)  Die – möglichen – Rückwirkungen der in neue Textformen gegossenen Entwicklungsvorgänge und -inhalte des Verfassungsstaates von „Übersee“ auf den europäischen Kontinent und seine Verfassungsstaatsvarianten sind groß und nicht zu unterschätzen. Sie bestehen oft in neuen Themen, etwa bei Menschenwürdeklauseln, kulturelles-Erbe-Klauseln, überhaupt im Kulturverfassungsrecht (z. B. im verstärkten Ringen um kulturelle Identitätsklauseln sowie um differenzierte Formen der Religionsfreundlichkeit im

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

Religionsverfassungsrecht), aber auch bei neuen Grundrechten oder verfeinerten Staatsaufgaben sowie Recht / Technik- und Umweltproblemen oder in Gestalt neuer Textensembles (z. B. in Präambeln). Auf eine Weise sind alle Verfassungsstaaten „Entwicklungsländer“ in einem weiteren Sinne! d) „Entwicklungsland“: Eine vorläufige – kulturwissenschaftliche – Umschreibung des Begriffs „Entwicklungsland“ im vorliegenden Zusammenhang lautet gemäß der Umschreibung der unter Vorsitz des früheren Bundeskanzlers W. Brandt tagenden Nord-Süd-Kommission (1977)17: „Entwicklung ist mehr als der Übergang von Arm zu Reich, von einer traditionellen Agrarwirtschaft zu einer komplexen Stadtgemeinschaft. Sie trägt in sich nicht nur die Idee materiellen Wohlstands, sondern auch die von mehr menschlicher Würde, Sicherheit, Gerechtigkeit und Gleichheit.“

Damit sind die Elemente des Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ von vorneherein in die Horizonte des Begriffs „Entwicklung“ und „Entwicklungsland“ hereingenommen, so wichtig ökonomische Kriterien wie „das reale Volkseinkommen je Kopf der Bevölkerung“ bleiben. Der Begriff „Entwicklungsland“ (im engeren Sinne) sollte nur mit Vorsicht verwendet werden. Besser erscheint der Begriff „Schwellenland“.

Inkurs I: Rechtskultur und Entwicklung Einleitung Das Thema18 wirkt anspruchsvoll. Doch bildet es aus mehreren Gründen eine glückliche Herausforderung: zum einen ist es interdisziplinär konzipiert und „bezieht“ z. B. auch die Ökonomie und Politische Wissenschaft mit ein, heute die Jurisprudenz; zum anderen: sie schlägt Brücken besonders zu den Kontinenten Afrika, Asien und Lateinamerika, doch muss auch Europa zu Wort kommen. Nordamerika bleibt wohl auch deshalb „ausgeklammert“ (?), weil dessen Rechtskultur nicht prima facie entwicklungshaft bzw. -bedürftig ist? Ist dem aber so?, kaum: betrachten wir die Rechtsbildungen des US-Supreme Court und die großen Leistungen seit der Amerikanischen Revolution. Alles interdisziplinäre Arbeiten birgt freilich die Gefahr des Dilettierens, darum wagt sich auch diese Ausarbeitung nur an das dem Juristen Zugängliche, freilich in den Horizonten des seit 1982 unternommenen „kulturwissenschaftlichen Ansatzes“, der jetzt ins Völkerrecht zu übertragen ist. Ein Wort zuvor zur Einordnung und Selbstbescheidung im Kreis der anderen Wissenschaften: Seit Ch. Darwin (1859: „On the Origin of Species …“) beginnt der Gedanke der „Evolution“ wohl alle Wissenschaften zu ergreifen und das moderne Welt17  Zit. nach U. Andersen, Begriff und Situation der Entwicklungsländer, in: Informationen zur politischen Bildung, Entwicklungsländer Nr. 221 (1988), S. 2. 18  Zum Folgenden schon der hier überarbeitete Beitrag in: A. Boeckh u. a. (Hrsg.), Kultur und Entwicklung, 2007, S. 39 ff.



Inkurs I: Rechtskultur und Entwicklung27

bild zu prägen: Natur- und Geisteswissenschaften, Natur- und Kulturwissenschaften, Natur- und Sozialwissenschaften19. Das Evolutionsparadigma dürfte zuvor in Hegels Geschichtsphilosophie (Stichwort: Dialektik bzw. das Leben des einzelnen Menschen und der Gang der Geschichte wird zunehmend von der Vernunft bestimmt) und dann bei K. Marx angelegt sein, der ans Ende der Geschichte einen Idealzustand der Gesellschaft zu setzen wagte. H. Spencers „Evolutionismus“ deutete die Philosophie als die vereinheitlichte wissenschaftlich begründete Erkenntnis höchster Stufe mit universeller Geltung (1876 bis 1906). Heute ringen z. B. Schöpfungstheologie und Evolu­ tionsbiologie um Kompatibilität20 (aus den USA ist der Streit um ihre Rolle in den Lehrplänen bekannt: der Affenprozess in Tennessee, 1925). Sir Popper plädiert für eine „evolutionäre Theorie des Wissens“.21 Vielleicht ist es kein Zufall, dass „Evolu19  In der Periode des „Evolutionismus“ wurde, beeinflusst von Darwin, auch in den Gesellschaftswissenschaften die Suche nach evolutionären Gesetzmäßigkeiten begonnen, nach welchen sich menschliche Gesellschaften und deren Rechtssysteme entwickeln. Stichworte sind die Suche nach „Frühformen“ (Mutterrecht), der Wandel vom „Statusrecht“ zum „Kontraktrecht“ und die Gegenüberstellung von „primitiven“ und „zivilisierten“ Gesellschaften. J. Kohler u. a. entwickelten die „ethnologische Jurisprudenz“ (dazu Art. Rechtsethnologie, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Stand Aug. 95, 3 / 160, S. 2; s. auch R. Schott, Der Entwicklungsgedanke in der modernen Ethnologie, in: Saeculum, Bd. 12 (1961), S. 61 ff., mit Stichworten wie „Gedankenmodelle der Kulturauffassung“, die „Vorgeschichte des modernen ethnologischen Entwicklungsdenkens“ (z. B. die zyklische Theorie über den Ablauf der Verfassungsformen von Polybios). Schott fordert, dass der Entwicklungsgedanke nicht in der ursprünglichen, „primitiven“ Form aufrechtzuerhalten ist, sondern ein Detailstudium von zahlreichen Einzelfragen erheischt. Zuletzt: N. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176 ff.; A. Hollerbach, Globale Perspektiven der Rechts- und Staatsentwicklung, in: Freiburger Universitätsblätter 1991, H. 11, S. 33 ff. 20  Ein Überblick über „Evolution“ in: Staatslexikon, Art. Evolution von R. Löw, W. Bröker, W. L. Bühl, 2. Bd., 7. Aufl. 1986 / 95, Sp. 518 ff.; dort auch zur Entstehung des Evolutionsgedankens im 19. Jahrhundert in der romantischen Naturphilosophie und im Darwinismus; s. auch H. Meier (Hrsg.), Die Herausforderung der Evolu­ tionsbiologie, 3. Aufl. 1992; D. J. Futuyma, Evolutionsbiologie, 1990. Repräsentativ E. Haeckel, Die Welträtsel (1899), 11. Aufl. 1919, mit dem bezeichnenden Abschnitt: „Entwicklungsgeschichte der Welt“ (S. 247 ff.). Zur „evolutionären Perspektive der Medizin“ gleichnamig H. Markl, FAZ vom 3.1.1996, S. N 1. – Auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1959, S. 42, sprach von dem fortschreitenden Sieg der evolutionistischen Denkweise in der gesamten Wissenschaft. In der Staatslehre ist für ihn „Entwicklung nur jene Änderung, die vom Einfachen zum Komplizierten führt“ (ebd., S. 43). Der Entwicklungsgedanke prägte auch die Rechtsphilosophie von H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1993, z. B. S. 137, 296, 300. – „Entwicklungstendenzen des Rechts in der Gegenwartsgesellschaft“ beobachtet mit den Augen der Rechtssoziologie: M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1989, S.  111 ff. 21  R. Popper, Auf dem Weg zu einer evolutionären Theorie des Wissens, in: ders., Eine Welt der Propensitäten, 1995, S. 55 ff.; s. auch G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 3. Aufl. 1983; B. Irrgang, Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie, 1993; s. auch H. Jonas, Evolution und Freiheit, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, 1992, S. 11 ff.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

tion“ die Rechtswissenschaften als „letzte Disziplin“ erfasst hat, weil wir Juristen auf eine Weise „immer zu spät sind“. Dennoch sind sie, wir, heute in Sachen „Entwicklung“ besonders gefordert: „Entwicklung“ verstanden als „Entstehung von Neuem im zeitlichen Verlauf “22, mit Variationen und Selektionen. Im Folgenden seien die einzelnen Elemente des Themas „Rechtskultur und Entwicklung“ aufgeschlüsselt. Rechtskultur in den Bestandteilen „Kultur“ und „Recht“ (Erster Teil), „Entwicklung“, erarbeitet aus dem gemeinen Sprachgebrauch etwa der „Entwicklungspolitik“ und erarbeitet aus dem Recht, z. B. „Entwicklungsvölkerrecht“ sowie den einschlägigen weltweit verstreuten Verfassungstexten (Zweiter Teil). Der Dritte Teil müht sich um einen Theorierahmen für das Ganze von „Rechtskultur und Entwicklung“, das auch das Völkerrecht und seine Teilverfassungen, etwa die UN-Charta und die Menschenrechtspakte, Konventionen einzubeziehen hätte. Erster Teil „Rechtskultur“ I. „Kultur“ Als Bild und Begriff eine Wortschöpfung von Cicero, wobei wir das „colere“: hegen, pflegen, verehren, im Blick behalten müssen, befindet sich die Sache Kultur derzeit im Aufwind, nicht so sehr bei den Politikern und Stadtkämmerern als vielmehr bei den Wissenschaftlern. Von frühen Ansätzen einer Schweizer Expertengruppe in den 70er Jahren behandelt, von juristischen Monographien wie „Kulturpolitik in der Stadt“ (1979), „Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat“ (1980) bis zu „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (1982, 2. Aufl. 1998), hat die Sache Kultur eine bemerkenswerte Wissenschaftskarriere hinter sich, und man darf sich fragen, ob diese heute Gefahr läuft, zum Modethema zu werden. Vorsicht und methodische Disziplin sind darum unerlässlich. So helfen bei uns Juristen geläufig gewordene „Einteilungen“: „Hochkultur“ des Wahren, Guten und Schönen, „Volkskultur“ (nicht nur in der Schweiz), in Lateinamerika Eingeborenenkulturen, die Alternativ- und „Subkultur“, wobei die „Beatles“ zeigen, wie aus „Subkultur“ „Hochkultur“ werden kann (pluralistisches, offenes Kulturkonzept). H. Hoffmanns „Kultur für alle“ (in Frankfurt  /  M. praktiziert), war ebenso eine Bereicherung und ein Stimulans wie J. Beuys’ erweiterter Kunstbegriff: „Jeder Mensch ein Künstler“, hinzugefügt sei: „Nicht jeder Mensch ein Beuys!“ Kultur und Recht gehen in vielen Verfassungstexten allseits erkennbar eine besondere Synthese ein: etwa in ausdrücklichen Kulturstaatsklauseln (z. B. Art. 3 Verf. Bayern), in offenkundigen „kulturellen Grundrechten“ wie Freiheit von Wissenschaft und Kunst sowie in den Erziehungszielen vor allem deutscher Landesverfassungen (z. B. Art. 28 Verf. Brandenburg). Ohne weiteres als „kulturhaltig“ erkennbar sind die Präambeln von Verfassungen, kulturwissenschaftlich Ouvertüren und Prologen vergleichbar, oder auch Gottesbezüge, wie sie die (gescheiterte) EU-Verfassung von 200423 leider nicht gewagt hat, aber in Süd22  Vgl. R. Löw, Art. Evolution, Staatslexikon, 2. Bd., 7. Aufl., 1986 / 95, Sp. 518 (520). 23  Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 660, 664.



Inkurs I: Rechtskultur und Entwicklung29

afrika und manchen Ländern Lateinamerikas ebenso die Verfassung eröffnen wie in den nBV Schweiz (1999) oder zuvor das GG. Sehen wir tiefer, so wird das sog. „Staatskirchenrecht“ in Deutschland, richtiger „Religionsverfassungsrecht“, sogleich als spezielles Kulturverfassungsrecht (auch in der EU) erkennbar, und der in osteuropäischen Reformstaaten ebenso innovativ wie intensiv normierte kulturelle Minderheitenschutz ebenso (etwa in Polen, Albanien, zuletzt in Serbien und im Kosovo). Schon dieser kurze Überblick lässt erkennen, wie naheliegend es ist, Verfassungsrecht (bzw. Recht) und Kultur in engem Zusammenhang zu denken. Der hier vertretene Ansatz wagt es freilich, das Verfassungs- und Völkerrecht aus Kultur und als Kultur zu verstehen, auch das alte, seit langem von Rom her geprägte Privatrecht und das Strafrecht, das zum europäischen Privat- bzw. Strafrecht reifen soll. Man wird sich fragen: Warum heute dieser Aufstieg des Kulturthemas? Vermutlich gibt es folgende Hintergründe: Die fortschreitende Ökonomisierung vieler, ja bald aller Lebensverhältnisse, die rasante „Globalisierung“, die Dominanz des Denkens in „Märkten“ provozieren als Gegenbewegung die Frage nach den kulturellen Wurzeln, auch als Haltgebung für den Menschen, der sonst buchstäblich ins Bodenlose stürzte. Märkte haben nur instrumentale Bedeutung, sie sind nicht das „Maß aller Dinge“. „Zurück zur Kultur“ also im Sinne von A. Gehlen oder: „Voraus zur Kultur“? Jedenfalls in diesem ersten Inkurs. II. „Recht“ Wie könnte es gelingen, auch für den Nichtjuristen verständlich, das Element „Recht“ aufzuschließen? Dazu in wenigen Worten: Wir nähern uns „wissenschaftspädagogisch“ dem Recht am besten von dem Spannungsfeld der vom GG geprägten Formel „Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3) aus, an die alle Staatsgewalt in Sonderheit die Richter gebunden sind. „Gesetz“ meint das geltende, von den zuständigen Instanzen in Kraft gesetzte – positive – Recht, wobei das „Richterrecht“ hinzukommt, auch auf dem europäischen Kontinent, nicht nur in den angelsächsischen Common-Law-Ländern. Die (offene), pluralistische Rechtsquellenlehre, der „Stufenbau der Rechtsordnung“ von der „hohen“ Verfassung bis zu „niederen“ Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften vermitteln eine erste Orientierung – sie hat übrigens in der Theologie und Kirchenrechtswissenschaft Entsprechungen. Der Begriff „Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG verweist auf vorstaatliches Recht, naturrechtliche Prinzipien, von den Vätern und Müttern des GG, damals als Kontrapunkt zum gegen Ge­ rechtigkeitsprinzipien verstoßenden NS-Recht vor 1945 konzipiert (s. auch die Radbruch’sche Formel: vergleiche BVerfGE 95, 96). In demokratischen Verfassungsstaaten wird die Rechtsordnung unter Bezugnahme auf die – freilich, z. B. durch die Menschenrechte, eingebundene – Volkssouveränität entwickelt: in demokratischen Prozessen, aber auch vom Richter, bei uns besonders vom BVerfG und EuGH. Während das Gesetz ohne weiteres „gilt“, ist die Geltung etwaigen Naturrechts, vorstaatlicher Rechtsprinzipien schwieriger zu begründen, auch in Abgrenzung zur Moral. M. E. erwächst das Recht aus der Menschenwürde, der Bürgergemeinschaft, der Kultur (das internationale Recht ebenfalls: Rechtsschutz). Damit sind wir schon beim dritten Schritt „Rechtskultur“.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode III. „Rechtskultur“

Heute ein zunehmend verwendeter Begriff, 1994 im Blick auf die „europäische Rechtskultur“ konkretisiert, ist ein „Synthesebegriff “: ihn zu umschreiben ist nicht leicht. Gegenüber seinen Einzelelementen meint er wohl etwas Neues, Übergreifendes. Er verbindet die umschriebene „Kultur“ mit dem erwähnten „Recht“. Ohne weiteres spürbar ist der immanente Verweis auf etwas Gewachsenes, auch auf tiefere „Geltung“. Grundwerte sind angesprochen, die Nähe zur „Gerechtigkeit“ liegt auf der Hand. Ehe wir um eine Theorie der Rechtskultur ringen, vielleicht einige konkrete Beispiele: Im Blick auf die europäische Rechtskultur lassen sich mindestens 6 Elemente ausmachen: weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des unterschiedlich religionsfreundlichen Staates, Wissenschaftlichkeit des Rechtes, neben dem Partikularen auch Horinzonte des Universalen (Menschenwürde und Menschenrechte), Rechtsstaatlichkeit (vor allem Unabhängigkeit der Rechtssprechung) und pluralistische Demokratie24, Vielfalt und Einheit. Ein Brückenschlag, etwa zu ganz Asien, ganz Afrika oder ganz Lateinamerika ist hier nicht möglich. Ich greife nur die Theorie des „Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts“ (2001) heraus, parallel zum Gemeineuropäischen Verfassungsrecht von 1991 entwickelt (darauf später Bezug nehmend der Terminus „Gemeinislamisches Verfassungsrecht“ (E. Mikunda25). In Afrika deutet die vorbildliche Verfassung Südafrikas von 1996, auch Kenias von 2010 auf eine werdende Rechtskultur moderner Verfassungsstaatlichkeit, und aus Lateinamerika seien Stichworte für Peru und Mexiko, Bolivien und Ecuador genannt. Beispiele sind: Ombudsmann, Schutz der Eingeborenenkulturen, Kampf gegen Analphabetismus. Der Arabische Frühling (2011) fordert Neues, vor allem eine völkerrechtsoffene Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Völkerrecht lebt in seinen Teilverfassungen ebenfalls aus „Rechtskultur“: Man denke an seine „allgemeinen Rechtsgrundsätze“, auch die beiden Wiener Konventionen, das See- und Weltraumrecht, das Internationale Privatrecht, das Kriegsvölkerrecht. Freilich sind hier die Gefährdungen und Defizite besonders groß, weil das Machtmoment einzigartig hinzu kommt. Ein Staat kann das feine, auch von der UN geknüpfte Netz der Rechtskultur des allgemeinen Völkerrechts mit Gewalt jäh zerreißen: trotz aller schon bestehender Mosaiksteine einer „Weltrechtskultur“. Überdies ist die Staatenwelt so vielfältig, dass rechtskulturelle Bindeglieder noch schwieriger zu „entwickeln“ sind. Abgesehen davon gibt es das sog. „Entwicklungsvölkerrecht“. Damit sind wir erneut auf Wort und Sache „Entwicklung“ verwiesen. Ihr gilt der folgende Zweite Teil.

24  P.

Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994. Verfassungsrecht, JöR 51 (2003), S. 21 ff.; s. auch ders., Das Menschenrechtsverständnis in islamischen Staaten, JöR 44 (1996), S. 205 ff. 25  Gemeinislamisches



Inkurs I: Rechtskultur und Entwicklung31 Zweiter Teil „Entwicklung“ I. Eingangsbemerkungen

Manche Aspekte des Begriffs „Entwicklung“ sind schon angeklungen. „Entwicklung“ ist vor allem in der Tagespolitik geläufig. „Entwicklungshilfe“, „Entwicklungspolitik“, in der Wissenschaft hat sich das Wort „Entwicklungsvölkerrecht“ etabliert. Die sog. Brandt-Kommission26 hat um den Begriff „Entwicklungsdekade“ gerungen. Im Dezember 2005 hat sich die WTO in Hongkong mancher Entwicklungsprobleme angenommen. Nach Zeitungsmeldungen gaben zum ersten Mal die Entwicklungs- und Schwellenländer die Richtung vor. Es bleibt offen, wie lange die in Hongkong geknüpfte Allianz der „Entwicklungsländer“ hält. Erforderlich ist indes eine Erschließung des möglichen Inhalts (auch der Grenzen) der „Entwicklung“ von der juristischen Seite her. Dabei kann es helfen, den Wortschatz der Verfassungstexte zu vergleichen: im Sinne des Textstufenparadigmas. II. „Entwicklung“, im Lichte eines weltweiten Textstufenvergleichs Alte und neue Texte seien im Folgenden auf ihre Verwendung des Begriffs „Entwicklung“ oder etwaiger Nachbar- und Korrelatbegriffe untersucht. Auch das Völkerrecht und das – besonders ergiebige – Europäisches Verfassungsrecht seien einbezogen. Während die älteren Verfassungen nicht ergiebig sind, finden sich in neueren Texte vielfältige Beispiele bzw. Spurenelemente der Entwicklungsthematik. Im Einzelnen wird man in folgenden Kontexten fündig: Art. 59 Abs. 2 lit. a Verf. Portugal (1976) im Kontext der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten, Art. 66 Abs. 2 ebd. im Kontext des Umweltverfassungsrechts („sozio-ökonomische Entwicklung“); Art. 81 lit. m spricht von „Forschungs- und Technologiepolitik, die die Entwicklung des Landes begünstigt“. Die Verf. Guatemalas von 1985 thematisiert die Entwicklung besonders häufig: Art. 63 spricht von wissenschaftlicher, intellektueller sowie künstlerischer Entwicklung (in Bezug auf den Einzelnen), Art. 68 verpflichtet den Staat Land zur Verfügung zu stellen, das die „Eingeborenengemeinschaften für ihre bessere Entwicklung benötigen“, Art. 80 qualifiziert Wissenschaft und Technik als „grundlegende Notwendigkeiten der nationalen Entwicklung“, auch Art. 85 Abs. 1 sorgt sich um die wissenschaftliche Entwicklung. Weitere Dimensionen des Ent26  Einen Ausschnitt beleuchtet die von den UN seit 1961 jeweils für das folgende Jahrzehnt proklamierte 10-Jahres-Periode der internationalen Entwicklung (z. B. „Brandt-Bericht“). Die erste „Entwicklungsdekade“ sah vor allem eine Steigerung der Finanzhilfe für die Entwicklungshilfe vor, die 1970 ausgerufene zweite ein bestimmtes globales Wachstum für das Bruttosozialprodukt der Entwicklungsländer; die dritte, 1980 begonnene, verfolgt das Ziel der schnelleren Entwicklung der Entwicklungsländer unter dem Globalziel der Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen mit der Strategie einer neuen, auf Recht und Billigkeit gegründeten internationalen Ordnung (Art. Entwicklungsdekade, in: Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl. 1988, Bd. 6, S. 437).

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

wicklungsgedankes findet sich in Art. 119 lit. j und l (in Bezug auf den nationalen und internationalen Handel). Auffällig ist schließlich die Pflicht aller Guatemalteken „für die Entwicklung des Volkes zu arbeiten“ (Art. 135 lit c). Auch die (alte) Verfassung von Peru von 1979 kennt den Entwicklungsgedanken in mehreren Artikeln (z. B. 110 Abs. 2, 116 Abs. 1, 120 Abs. 1, 123 Abs. 1). In osteuropäischen Reformverfassungen sowie auf dem Balkan schließlich findet sich der Entwicklungsgedanke ebenfalls (z. B. Art. 8 Abs. 3 Verf. Albanien von 1997 (in Sachen Kulturerbe), Art. 59 Abs. 1 lit. f, ebd.: „nachhaltige Entwicklung“; Art. 31 Verf. Georgien von 1995 verlangt die Sorge des Staates „für die gleichmäßige sozialökonomische Entwicklung des ganzen Landes“). Art. 94 Verf. Serbien (2006) fordert: „balancing development“; Art. 119 Zif. 4 Verf. Kosovo (2008) spricht von: „fostering sustainable economic development“ (ähnlich Art. 3 Ziff. 5 Verf. Ecuador von 2008; diese Verfassung etabliert sogar ein ganzes „Regime der Entwicklung“, Tit. VI). Im Ganzen ist der sprachliche Unterschied zu beachten zwischen sich entwickeln (reflexiv) und entwickelt werden (passiv). Das Europäische Gemeinschaftsrecht ist besonders vom Entwicklungsgedanken beherrscht. Es ist fast ein „Entwicklungsverfassungsrecht“, ähnlich den „Entwicklungsländern!“27, bei allen Krisen. Fündig wird man überdies in Internationalen Rechtsdokumenten. So postuliert die Satzung des Europarates (1949) „Schutz und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (Art. 1 lit. b), das Europäische Kulturabkommen (1954) setzt in der Präambel das Ziel „europäische Kultur zu wahren und ihre Entwicklung zu fördern“. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN (1948) verlangt unter dem Stichwort der „sozialen Sicherheit“ die Garantie der für die „Würde und die freie Entwicklung seiner (sc. des Menschen) Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte“ – ein Menschenbild28, das durchaus idealistisch von der Idee der Entwicklung der Persönlichkeit inspiriert ist. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) überträgt diesen Gedanken auf die Völker (Art. 1 Abs. 1): „Alle Völker gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“.29 Hier wird ein Baustein des universalen Konstitutionalismus sichtbar, vom Völkerrecht als Kultur her. Freilich muss sich ein solches Entwicklungs(Verfassungs)Recht die Frage stellen: „Entwicklung wohin?“. Welches sind die materiellen Konturen („Ideale“) der Entwicklungsziele30? 27  Vgl. z.  B. Art. 3 Abs. 2 EUV: „nachhaltige Entwicklung Europas“; Art. 51 Abs. 1 AEUV: „entwickelt eine justizielle Zusammenarbeit“. Ähnliche Entwicklungsartikel: Art. 87 Abs. 1, Art. 165 Abs. 1, Art. 174 Abs. 1 ebd.; Art. 208 AEUV: „Entwicklungszusammenarbeit“. 28  Dazu P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat (1988), 4. Aufl. 2008. 29  Ähnlich völkerbezogene Entwicklungs-Artikel finden sich in Art. 31 Satzung der OAS von 1967; s. ebd., auch Art. 43 lit. g: „Entwicklungsprozess“. Die Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (1982) postuliert das Recht der Völker auf „eigene wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“ (Art. 23). 30  Vgl. prägnant: Art.  Entwicklung, Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl. 1988, Bd. 6, S. 435 (437): „Im engen volkswirtschaftlichen Sinn wird E. als Synonym für wirtschaftliches Wachstum angesehen … In einem zweiten Schritt wird E. als Verbesserung der objektiv feststellbaren Lebensbedingungen verstanden,



Inkurs I: Rechtskultur und Entwicklung33 Dritter Teil Rechtskulturen und Entwicklung: Entwurf eines Theorierahmens

Bauen wir auf den Materialien des bisherigen Fragmentes einer Bestandsaufnahme auf, so lassen sich erste Aspekte eines Theorierahmens skizzieren. I. Theoretische Elemente Rechtskultur ist selbst Ergebnis meist langer Entwicklungen (Zeitfaktor) und auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates gehört es zu ihr, dass sie sich ihrerseits in bestimmten Verfahren von bestimmten Teilnehmern („Akteuren“) entwickelt. Das Wort von den „Wachstumprozessen“ ist hilfreich, weil auf beides, das lange Wachsen in der Natur, fast wie bei Bäumen, und das Prozesshafte verwiesen ist. Damit kommen wir fast zu Cicero zurück, der ja der große Jurist Roms war. „Rechtskultur“ lässt sich nicht „befehlen“, einfach implementieren, so intensiv und expansiv die Rezeptionsprozesse unter den Verfassungsstaaten heute weltweit sind: in den Formen der schöpferischen Rezeption der Trias von Texten, Judikaten (als Teil der Praxis) und der wissenschaftlichen Theorien. So hat der italienische Regionalismus (1947) Spaniens System der „Autonomien“ (1978) befruchtet; so wanderten Elemente des deutschen Föderalismus (1949) nach Südafrika (1997); so befruchtete das deutsche Grundrechtsdenken Osteuropa, und so strahlt das BVerfG weit über Europa hinaus. Wissenschaftliche Rezeptionsvorgänge auf beiden Seiten gibt es zwischen Deutschland einerseits, Japan und (Süd-)Korea andererseits. Klassiker wie die „Weimarer Riesen“ sind auch in Asien große Texte, ein H. Kelsen und ein H. Heller ist ein „Riese“ in Lateinamerika, und selbst heute könnte man einige Staatsrechtslehrer benennen, die aus- bzw. anderwärts übersetzt und gelesen werden. Der Wissenschaft kommt heute eine große Bedeutung in Sachen Rechtskultur zu, und speziell der Begriff „Verfassungskultur“ (1982) hilft, diese Vorgänge zu verstehen31. „Verfassungskultur“ ist ein spezifisch entwicklungsoffener und entwicklungsbedingter, also lebendiger Begriff. Wir Juristen dürfen das bewusst steuernde Element beim Werden von Rechtskulturen wohl nicht überschätzen, und nur ein Hegel könnte fragen, wer oder was letztlich die Rechtskulturen bzw. die Rechtskultur (auch des Völkerrechts) steuert? Der „Weltgeist“? Vermutlich müssen wir unterscheiden: Die primär bewusst unternommene Entwicklung, die „etabilierte“ Verfassungsstaaten (und die EU) im Blick auf sog. Entwicklungsländer unternehmen (Entwicklungshilfe und -politik) und die Entwicklungen, die sie selbst gestalten, denen sie ihrerseits ausgesetzt sind, die sie aber auch verfehlen können. M. a. W.: Auch die rechtskulturell „alten“ Verfassungsstaaten wie Frankreich oder Großbritannien sind als Anschauungsobjekte für das Thema „Rechtskultur und Entwicklung“ ergiebig, nicht nur dort, wo Entwicklungen „gelungen“ sind: wozu neben dem materiellen Lebensstandard (z. B. Befriedigung der Grundbedürfnisse …) auch soziale Indikatoren zählen (z. B. Arbeitsbedingungen in individueller Freiheit …) und Verteilungsaspekte (z. B. Einkommensverteilung …).“ 31  Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, S. 20 ff. (2. Aufl. 1998, S. 90 ff.); s. auch meine Beiträge in: Verfasssungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009.

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in Deutschland etwa vorbildlich im Bereich von Föderalismus (trotz der Bundesstaatsreform 2006 / 08) und Grundrechten, im Privatrecht im fortgeschriebenen BGB (wohl nicht im überzogenen Antidiskriminierungswahn), im Strafrecht in den großen Prinzipien „nulla poena sine lege“, „ne bis in idem“, „due process“. Es ist indes auch die Gegenrechnung aufzumachen: Wo gibt es in den klassischen Demokratien rechtskulturelle Entwicklungsdefizite oder Fehlentwicklungen, von welchem Forum aus können wir sie beobachten?: vom Typus Verfassungsstaat her, der eine kulturelle Errungenschaft par excellence ist! So mag man an die Defizite der „Dezentralisierung“ in Frankreich erinnern, in Italien an die kaum hinnehmbare Verflechtung von politischer, wirtschaftlicher und medialer Macht in der seinerzeitigen Person von S. Berlusconi bis 2011 (ein Verstoß gegen das Pluralismus-Prinzip). Generell wird man sagen dürfen: Rechtstexte sind nur der Anfang des Werdens von Rechtskultur: Die schönsten Verfassungstexte etwa in Russland verhindern offenbar nicht das langsame Hinübergleiten dieses Landes in das autoritäre System des (Alt)Kanzlerfreundes W. Putin (besonders seit 2012). M. a. W.: Defizite, Fehlentwicklungen, Mängel an wahrhaft rechtskultureller Verfassungswirklichkeit sind als solche zu benennen (Stichwort: Wirklichkeitsbezug). Nach ihrer Abhilfe ist zu sinnen. „Rechtskultur“ entpuppt sich als werthaltiger, gerechtigkeits- und gemeinwohlorientierter, wirklichkeitsbezogener Begriff. Die „Entwicklung“ ist dabei ein Hinweis auf den Zeitfaktor und das Prozesshafte. Die „Entwicklungsländer“ und Reformstaaten in Osteuropa und auf dem Balkan sollen heute offenbar in kürzeren Zeiteinheiten und rascher nachholen, was sich im alten Europa in langen Zeiträumen mit vielen Rückschlägen und Verfehlungen nach und nach doch entwickelt hat. Das Wort „Rechtskultur“ verlangt offenbar ein qualitatives Niveau, es darf jedoch nicht zu Maßlosigkeit, Arroganz und (eurozentrische) Selbstüberschätzung verführen. Auch sog. „Ent­wicklungsländer“ haben eine (oft von Europa und Nordamerika verschiedene, aber doch achtbare) vielfältige Rechtskultur. Stichwort: Indios in Lateinamerika, die sich in eigenen Bundesländern bzw. Regionen organisieren und heute selbstbewusster werden (so in Peru und Mexiko, jetzt in Bolivien und Ecuador). „Rechtskultur“ ist kein monopolistischer Begriff, sie ist plural strukturiert: in Bundesstaaten und Re­gionalstaaten, aber besonders im völkerrechtlichen weltweiten Rahmen. Solange wir keine „neue Schule von Salamanca“ haben, sei dies hier nur angedeutet. Die NGO’s tun oft ein gutes Werk in Sachen Fortentwicklung des Völkerrechts: als universalen Menschheitsrechts. Es gibt schon eine Weltrechtskultur, bei aller rechtskulturellen Partikularität. II. Beispiele Blieb das Vorstehende oft relativ abstrakt, so sei jetzt nach Beispielen gesucht, die das Gesagte veranschaulichen können. Vorläufig, aber auch nur vorläufig, mag man unterscheiden zwischen den „entwickelten“ Verfassungsstaaten und den sog. „Entwicklungsländern“, neuerdings „Schwellenländern“. Ich sage „vorläufig“, weil es auch zu umgekehrten Rezeptionen kommen kann und muss: die Entwicklungsländer bzw. Reformstaaten bereichern die älteren Demokratien. Ein Beispiel neben dem Recht auf kulturelle Identität (Art. 58 Verf. Guatemala von 1985 und Art. 21 Verf. Ecuador von 2008) ist das seinerzeit neue ungarische Wort (1990) von den Minderheiten als „staatsbildenden Faktoren“ (auch in Art. XXVII Abs. 1 S. 1 Verf. Ungarn von 2012 verwendet!), das man auf dem ganzen Balkan, ja in der ganzen Welt kennen und befolgen sollte. Erwähnt sei auch der vorbildliche „Ombudsmann für



Inkurs I: Rechtskultur und Entwicklung35

das Rechtswesen“ (Art. 142 bis 144 Verf. Angola von 1992) sowie die „Nationale Menschenrechtskommission“ (Art. 156 bis 158 Verf. Togo von 1992). Durchaus dialektisch (also doch Hegel?) sei von den Grenzen her gedacht. Gibt es rechtskulturelle Grenzen der Weiterentwicklung von Rechtskultur? Das ist kein schönes Spiel mit Worten, sondern bezeichnet eine Sache: Viele Verfassungen, etwa das GG in Art. 79 Abs. 3 GG, Portugal in Art. 288 und manche Länder in Afrika (Art. 159 Verf. Angola, Art. 255 Verf. Tschad von 1996, Art. 124 Verf. Niger von 1992) sowie in Lateinamerika (zuletzt Art. 441 bis 442 Verf. Ecuador von 2008) kennen sog. „Ewigkeitsklauseln“: Bestimmte Inhalte der Verfassungen, Menschenrechte, Demokratie, Gewaltenteilung können nicht geändert werden, sie sind „unabänderlich“ festgeschrieben. Doch man täusche sich nicht. Einerseits sind solche Artikel eine rechtskulturelle Errungenschaft des Verfassungsstaates (seit 1814 in Norwegen): heute gerichtet gegen totalitäre Systeme von rechts oder links, in Deutschland notwendig geworden, in der Schweiz unbekannt, weil sich die seit 1291 gewordene dortige Rechtskultur immanent selbst schützt. Auf die Länge der Zeit betrachtet, mag man aber zweifeln, ob solche Garantien im „Ernstfall“ wirklich „halten“. Sie sind ihrerseits interpretationsfähig, in Inhalt und Reichweite, und: kein Verfassunggeber kann sich „verweigern“. Auch er ist dem „Lauf der Zeit“ unterworfen. (Das Problem mehrsprachiger Rechtskultur im selben Land vorbildlich in der Schweiz, aber nicht gelöst in Europa, etwa auf dem Balkan, bleibe ein Merkposten.) Ein besonderes Wort zu den Gesellschaften im Übergang: „Gesellschaften im Übergang“ ist der Oberbegriff sowohl für die herkömmlich sogenannten „Entwicklungsländer“ als auch für jene Länder, die um Transformation von totalitären oder autoritären Strukturen zu verfassungsstaatlichen ringen, oft als „Schwellenländer“. So haben die USA z. B. im August 1995 für Kambodscha wieder gezielt Millionen Dollar um des Aufbaus der Demokratie willen gezahlt32. Gedacht ist an die Nachfolgestaaten der UdSSR, in Asien z. B. auch an Vietnam. Der Begriff „Gesellschaften im Übergang“ (z. B. seit 2011 in Arabien) verweist implizit auf die Zeitachse: Gemeint ist die besonders sensible, oft langwierige Phase des Umbaus von Staat und Gesellschaft, auf dem, wie sich mehr und mehr gezeigt hat, sehr steinigen Weg zum Verfassungsstaat. Vorgänge, Instrumente, Verfahren und zeitlich gestaffelte Ziele dieses Transformationsprozesses wären eigens zu behandeln. Das bedeutet nicht etwa, dass der Typus Verfassungsstaat nicht selbst ebenfalls auf der Zeitschiene sich entfaltete. Das Gegenteil ist der Fall. Der Verfassungsstaat ist zu einem solchen gerade durch intensive und extensive Wachstumsprozesse geworden, man denke neben der Ausdifferenzierung der Staatsaufgaben, an die schrittweise Entwicklung der Grundrechte, etwa jüngst an die Entdeckung ihrer prozessualen und oft schon textlich vorgezeichneten Schutzpflichtendimension (vgl. Art. 53 Abs. 3 Verf. Spanien, 1978) sowie an die neuen auf die Menschenrechte bezogenen weltoffenen Interpretationsregeln in Afrika. Art. 151 Guatemala (1985) ist die textliche Verkörperung einer Idee geglückt, die den Kooperationsgedanken33 inhaltlich fortschreibt und unmittelbar auch für Südostasien oder Afrika heute geschrieben sein könnte: 32  FAZ

vom 5. August 1995. „kooperativen Verfassungsstaat“ mein gleichnamiger Beitrag in FS Schelsky, 1978, S. 141 ff., aktiv rezipiert vom Supreme Court in Brasilia, dazu M. A. Maliska, VRÜ 44 (2011), S. 316 (323 ff.). 33  Zum

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

„Der Staat Guatemala unterhält Beziehungen der Freundschaft, Solidarität und Zusammenarbeit mit allen Staaten, deren ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung ähnlich ist wie die von Guatemala, mit dem Ziel, Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden und gemeinsam für eine Politik zum Wohl der genannten Staaten zu entwickeln.“ Diese Klausel kann m. E. gar nicht überschätzt werden. Sie verdient den Namen „Wahlverwandtschafts-Klausel“ und „Kooperationsverfassungsrecht“. Zwischen „ähnlichen“ Verfassungsstaaten wird eine spezifische Verantwortungsgemeinschaft hergestellt: nicht im Sinne zunächst einseitiger „Entwicklungshilfe“ vom entwickelten Nehmerstaat zum sich erst noch entwickelnden Geberstaat: vielmehr unter Gleichen oder doch Ähnlichen. Damit gewinnt unser Problem ein doppeltes Gesicht: Zu bedenken ist die Verantwortung der „älteren“ Verfassungsstaaten für „Gesellschaften im Übergang“ einerseits, aber auch die Verantwortung dieser „Gesellschaften im Übergang“ untereinander; beides im völkerverbindenden, nicht im ausgrenzenden Sinne („Entwicklungszusammenarbeit“). Hier entsteht ein Stück des universalen Konstitutionalismus (von Lateinamerika aus!), mit völkerrechtlicher Auswirkung. III. Im Ganzen Das Thema „Rechtskultur“ und „Entwicklung“ ist bescheiden, aber entschlossen anzugehen. Es lässt sich ohne den kulturwissenschaftlichen Ansatz weder formulieren, noch behandeln. Offene Gesellschaften bedürfen der Grundierung durch die Kultur. Sie sind – als spezifisch reformfähige Größen – aber auch stets in der Weiterentwicklung begriffen, wobei Zeiten des „Reformstaus“ (wie bei uns in Deutschland und Europa heute) bekannt sind (Schuldenbremsen). „Rechtskultur“ hat in ihrem besonderen Wirklichkeitsbezug etwas Statisches, es gleicht etwa in Europa fast einem „Schatzhaus“, dessen Fundament die großen Juristen Roms gelegt haben. Es ist spezifisch geschichtlich „geronnene“ Rechtsgeschichte. Es verweist per se, erst recht aber im Element der Entwicklung auf Prozesse „im Laufe der Zeit“. Statik und Dynamik müssen ausbalanciert sein, oft misslingt dies. Dennoch dürfen wir werthaft von „Rechtskultur“ sprechen. Es ist als positiver Begriff zu „besetzen“: weltweit (z. B. auch im Blick auf die angelsächsische „rule of law“, z. B. Präambel Verf. Bangladesh (1973/2004)) und als Idee von Weltrechtskultur. Ein Blick zurück und ein Blick voraus. Die juristisch-rechtsphilosophische Disziplin „Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht“ hat mindestens andeutungsweise erkennen lassen, wie sehr sie aus und in der entwicklungsgeschichtlichen Dimension lebt. Der Verfassungsstaat bildet als „Zwischensumme“ ein unabgeschlossen offenes „Projekt“, das stets unterwegs bleibt, so wie der Weg zur Gerechtigkeit immer nur „vorläufiger“ Natur ist. Der Verfassungsstaat und die ihn erforschende, aber auch „befördernde“ weltoffene Wissenschaft der vergleichenden Verfassungslehre34 hat mit den anderen Kulturwissenschaften die entwicklungsgeschichtliche Dimension gemeinsam. Ob und inwieweit es Parallelen zum Begriff der „Evolution“ in den Naturwissenschaften bzw. zur Entstehung der Tiere und der evolutionären Menschwerdung gibt, wage ich nicht zu beurteilen: zu kurz ist der uns bekannte Weg des 34  Dazu P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992.



IV. Verfassunglehre als juristische Text- und Kulturwissenschaft37

Menschen als „zoon politicon“ bzw. Kulturwesen, die Herausbildung von Regeln des menschlichen Zusammenlebens im Vergleich mit der Jahrmillionen betreffenden Abstammungslehre35. Im uns überschaubaren Zeitraum, mit dem die Rechtswissenschaft arbeitet, scheint der Mensch (i. S. Kants aus „krummem Holz geschnitzt“) „derselbe“ geblieben zu sein: in seiner prekären Mischung von Gut und Böse, in dem ihm durch Kultur vermittelten „aufrechten“ Gang seiner Natur, in den Phasen der individuellen Entwicklung vom Kind bis zum Erwachsenen und Alten i. S. der Lehren von L. Kohlberg. A. Gehlens „Urmensch und Spätkultur“ (1956) dürfte Stichworte liefern. Sie sollten zu der Frage führen, ob nicht letztlich ein kulturwissenschaftliches Verständnis der Naturwissenschaften erforderlich wird, zumal diese ja „historische Wissenschaften“ sind. Vergegenwärtigen wir uns auch das viele Wissenschaften heute prägende Denken im Rahmen von Prozessen – auch im Konzept des Marktes als „Entdeckungsverfahren“ (F. A. von Hayek)36, m. E. besser „Entwicklungsverfahren“ greifbar – und das Wissenschaftsbild eines W. von Humboldt: Bemühen um Wahrheit als „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“ (vgl. BVerfGE 35, 79 (113)) bzw. Poppers „Vorläufigkeit aller wissenschaftlichen Erkenntnisse“ bzw. „Vermutungswissen“.  IV. Verfassunglehre als juristische Text- und Kulturwissenschaft

IV. Verfassunglehre als juristische Textund Kulturwissenschaft 1. In der Geschichtswissenschaft gibt es ein Bemühen, zu einem „europäischen Geschichtsbuch“ zu kommen; Schulbuchkonferenzen, etwa zwischen Deutschland und Polen (2012), Tschechien bzw. Frankreich liefern Vorarbeiten dazu. Die Literatur zu den einzelnen Künsten hat längst ihre europäischen Ausgaben: die europäische Literatur- oder Musikgeschichte ist bereits geschrieben, die europäische Malerei- und Architekturgeschichte kennt große Autoren. Wäre es nicht an der Zeit, bewusst an einem „gemein­ 35  Treffend W. L. Bühl, Art. Evolution, Staatslexikon, 2. Bd., 7. Aufl. 1986 / 1995, Sp. 523 (524): „Von sozialer Evolution lässt sich nur in Jahrzehnttausenden sprechen.“ Zur Frage, ob die Gerechtigkeitsgrundsätze „der Richtung der Entwicklungsgeschichte besser entsprechen als das Nutzenprinzip“: J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 546 f. – Trotz oder gerade wegen seines beispiellosen „Erfolges“ auf Erden (1830: 1,6 Mrd.; 1995: 6,5 Mrd. Menschen; 2011 / 12: 7 Mrd. Menschen) wird wohl auch biologisch kein „neuer Mensch“ entstehen. 36  Ein Klassikertext des Entwicklungsgedankens in der Nationalökonomie ist A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776, hier zit. nach der Ausgabe von H. C. Recktenwald, 1974, z. B. S. 55 („Entwicklungsphasen eines Landes“), S. 62, 781 („Stufe der Entwicklung“). Die „evolutorische Ökonomik“ ist mittlerweile ein eigenes Forschungsfeld geworden: J. A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 5. Aufl. 1952; V. Vanberg, Evolution und spontane Ordnung, Anmerkungen zu F. A. von Hayeks Theorie der kulturellen Evolution, in: H. Albert. u. a. (Hrsg.), Festschrift f. E. Boettcher, 1994, S. 83 ff.; W. Kerber, Evolutionäre Marktprozesse und Nachfragemacht, 1989; A. Wagner / H.-W. Lorenz (Hrsg.), Studien zur Evolutorischen Ökonomik III, 1995.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

europäischen Verfassungsbuch“ zu arbeiten? In ihm sollte Platz sein sowohl für den „gemeineuropäischen Besitz“ in Sachen weltoffener Verfassungsstaat als auch für die Prozesse des Gebens und Nehmens der beteiligten Nationen, überdies für die Varianten und Abweichungen vom gemeinsamen Typus Verfassungsstaat, die den nationalen Rechtskulturen nach wie vor eigen sind und die sie auch brauchen. Begonnen werden müsste damit, dass jedes Land der Frage nachgeht, in welchen Wirkungs­zusammenhängen je seine eigene Verfassung mit den anderen entstanden ist, steht und sich weiter entwickelt – die deutschen Bände zum Thema „40 Jahre GG“ (1989) – „60 Jahre GG“ (2009) können Vorbild sein37. Sie seien um „Parallelliteratur“ wie „30 Jahre Spanische Verfassung“ (2008) oder „60 Jahre Verfassung Italien“ (2007) u. ä. ergänzt. Erst dann wird der Blick frei für das ganze reiche Geschehen in Sachen „europäischer Verfassungsstaat“, wobei auch die einzelnen Rezeptionswellen, die Vorgänge mittelbarer Rezeption bzw. Reproduktion sichtbar werden müssten – bis hin zu den schwer greifbaren informellen Rezeptionsvorgängen. Erst dann wäre zu beobachten, wie sich ein, etwa aus Italien aktiv rezipierter, Text im Kraftfeld der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten z. B. Spaniens allmählich wandelt und wie produktiv die scheinbar bloß passive Übernahme ist. Auch könnte klarer werden, welche konkreten Konsequenzen sich aus den einzelnen Rezep­ tionsweisen ergeben. Darf z. B. mit der Übernahme eines Stückes des deutschen GG-Textes auch die spätere Judikatur des BVerfG und die vorausgehende Lehre (z. B. aus der Weimarer Zeit) übernommen werden? Oder soll der fremde Verfassungsstaat sich besser eher zurückhalten und auf der Ebene der Interpretation nicht so sehr „wiederholend“ als vielmehr schöpferisch tätig werden, um so das Fremde als Eigenes einzuschmelzen? Dabei sollen spezielle Produktions- und Rezeptionszusammenhänge keineswegs egalisiert und eingeebnet werden: die „besonderen Verbindungen“ etwa zwischen Italien einerseits, Portugal und Spanien als romanischen Ländern andererseits sollen bleiben – künftig vielleicht um Bulgarien, Rumänien und Albanien sowie dem Kosovo erweitert. Die drei deutschsprachigen Länder Österreich, Schweiz und Bundesrepublik sollten auf dem Gebiet der Grundrechte, des Föderalismus und der Verfassungsgerichtsbarkeit die in manchem gemeinsame „Werkstatt“ pflegen wie bisher. Wettbewerb ist erwünscht, bekannt ist etwa das Ringen des deutschen Einflusses mit der französischen Konkurrenz in Griechenlands Staatsrechtslehre und Rechtsprechung. Das gemeinsame „europäische Verfassungshaus“ darf viele Zimmer haben; entscheidend ist, dass es innen wie außen offen bleibt und um 37  Vgl. die Sammelbände: K. Stern (Hrsg.), 60 Jahre GG, 2010; C. Hillgruber /  C. Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010; P. Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz im JöR, 2011. Weitere Literatur unten S. 183 ff.



IV. Verfassunglehre als juristische Text- und Kulturwissenschaft39

sein gemeinsames Fundament weiß: auch als konstitutioneller Vorratsraum für Arabien (seit 2011) – als „mare nostrum constitutionale“. „Verfassungsrechtslehre als Literatur“ hat bei all dem eine integrierende Zuträgerfunktion und zwar in allen Literaturgattungen38 – sofern sie nur europäisch arbeitet. Rechtsvergleichend vorgehende Monographien, Kommentare, Handbücher, Tagungsbände zwischen einzelnen Nationen oder mehreren von ihnen können Vorarbeit leisten39. Sie bilden Etappen auf dem Weg zu einem „Gemeineuropäischen Verfassungsbuch“, an dem viele Generationen europäischer Juristen zu arbeiten hätten: im Horizont eines Jus Publicum Europaeum40. Spanien hat seit 1978 beispielhaft und für uns alle vorbildlich gearbeitet – nicht nur im friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie, sondern auch in der Art und Weise, wie es schöpferisch das jeweils Beste aus z. B. Italiens und Deutschlands Verfassungsentwicklung textlich, judikativ und wissenschaftlich einschmilzt, ständig Brücken baut: in Namen wie P. Cruz Villalón, R. Llorente, A. López Pina, F. Balaguer und anderen. Spanien ist so unversehens in machem zur Vorhut geworden. Die befürchtete „Germanisierung“ der spanischen Staatsrechtslehre mündet in eine Europäisierung41, wie sie allen nationalen Staatsrechtslehren auf unserem Kontinent aufgegeben ist, wollen sie sich im europäischen Konzert behaupten. Spanien ist heute ein „europäisches Spanien“ (M. Azpitarte). 2.  Das Verhältnis Natur und Kultur / Allgemeine Staatslehre und vergleichende Verfassungslehre bedarf besonderer Untersuchung. Das Verhältnis von Staat und Verfassung ist neu zu konzipieren. Der Begriff „Verfassungsstaatlichkeit“ verbindet Staat und Verfassung, ohne dass ihr Verhältnis untereinander bestimmt wird. M. E. gibt es in der Tradition von Klassikern wie R. Smend und A. Arndt – und wir alle stehen auf den „Schultern“ solcher „Riesen“, bleiben „Zwerge“ und sehen gelegentlich doch etwas weiter als jene – nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert. Der Staat ist nicht – wie das eine monarchisch-konservative Tradition gerne postuliert – das Primäre (naturhaft) Vorgegebene, auf das sich die Verfassung (mehr oder weniger gestaltend) bezieht. Im demokratischen Verfassungsstaat sind die Bürger und Menschen, ihre Menschenwürde die „kulturanthropologische 38  Aufschlüsselungen in meinem Beitrag: Verfassungslehre im Kraftfeld rechtswissenschaftlicher Literaturgattungen, FS O. K. Kaufmann, 1989, S. 15 ff. 39  Beispiele nachgewiesen in P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 (272 f.). 40  Diesen Begriff gebrauchte der Verf. in seinen im Ausland Ende der 90er Jahre erschienen Vorauflagen dieses Buches (vgl. Vorwort); er findet sich schon in JöR 3 (1954), S.  1 ff.: P.Guggenheim, Ius publicum europaeum. Jetzt schmückt er den Titel eines ganzen dankenswerten Handbuchs: Ius Publicum Europaeum, hrsg. von A. von Bogdandy / P. M. Huber / P. Cruz Villalón, Bd. I, 2007. 41  Aus der Lit.: M. Azpitarte, Das europäische Spanien, JöR 56 (2008), S. 479 ff.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

Prämisse“; sie „geben“ die Verfassung sich selbst, wie manche neuere ostdeutsche Verfassungstexte trefflich andeuten (z. B. Präambel Verf. Brandenburg von 1992), klassisch „We, the people“ (z. B. Verf. Liberia von 1983). 3. Verfassung ist als Kultur bald aktuell, bald fiktiv als Vertrag zu denken. Was heißt das? Die Lehren des Gesellschaftsvertrages vor allem in I. Kants Variante als „Probierstein der Vernunft“ jenseits von realen Vorgängen, aber auch die Version von J. Rawls (Stichwort: „Schleier des Nichtwissens“) bleiben gerade im Verfassungsstaat hilfreich. Wir müssen die Verfassung und als Teilaspekt von ihr Recht und Staat so konstruieren, „als ob“ sie auf einem Vertragsabschluss aller mit allen (i. S. von J. Locke) beruhten. Der Verfassungspakt auf der „Mayflower“ der englischen Pilgerväter (1620), der Rütlischwur in der Schweiz (1291) und die späteren vertragsartigen Fortschreibungen ebendort (etwa das „Stanzer Verkommnis“) sind glückliche reale Vorgänge, die wir im Konzept der Verfassung als „immer neues Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller“ fortschreiben bzw. (wieder) denken (ggf. fingieren) müssen. Die Schweizer Konkordanzdemokratie oder der Föderalismus machen den Rückgriff auf das Vertragsmodell zugegebenermaßen leichter als zentralisierte Nationalstaaten. Und doch hat eine Idee wie ein Funke das „annus mirabilis“ von 1989 mitgeprägt: das Paradigma des „Runden Tisches“. Von L. Walesas „Solidarnosc“ „erfunden“ (oder soll man sagen: „entdeckt“?), hat es Weltgeschichte geschrieben und Verfassungsgeschichte „gemacht“: im Übergang von totalitären Systemen zur offenen Gesellschaft des Verfassungsstaates. Überall kam es zu runden Tischen, berühmt etwa in Gestalt der „Codesa“ in Südafrika. „Runde Tische“ lassen sich verfassungstheoretisch begründen, kulturwissenschaftlich einordnen und konsens- bzw diskurstheoretisch legitimieren. Der „runde Tisch“ symbolisiert ein gleichberechtigtes Neben- und Miteinander vieler in einem politischen Gemeinwesen. Die gleiche Distanz und Nähe zu allen anderen Teilnehmern, die Rekonstruktion des Dialogs und Miteinanders bricht mit totalitären Herrschaftsstrukturen. Es ist die beste optisch-bildliche Umsetzung des gleichberechtigten „Sich-Vertragens und Sich-Ertragens“, das das Aushandeln von pluralistischen Verfassungen kennzeichnet. Der Kreis (König Arturs’ Tafelrunde) und der (runde) Tisch – diese Methapher könnte so etwas wie ein „kulturelles Gen“ der Menschheit sein bzw. werden: auch im Völkerrecht als Ensemble von Teilverfassungen, etwa in Sachen Kultur. 4. Schließlich ist die Verfassung „Generationenvertrag“: Durch ihn erfolgt die – kulturwissenschaftlich greifbare – Konstituierung des Volkes. Was die Staatslehre klassisch und die politische Praxis 1989 aktuell in der Gestalt des „Runden Tisches“ in L. Walesas Polen bzw. in der Argumentationsfigur des „Grundkonsenses“ in den 70er Jahren in Deutschland behandelt hat und auch in der heutigen Tagespolitik in wechselnden Namen immer wiederkehrt („Solidarpakt“, „Bündnis für Arbeit“, „Pakt mit Amerika“ u. ä.)



IV. Verfassunglehre als juristische Text- und Kulturwissenschaft41

– nämlich der „Gesellschaftsvertrag“ –, stellt sich in der Zeitdimension als „Generationenvertrag“ dar. Gewiss, die Idee des Generationenvertrags ist bislang im Begründungsaufwand mit „Thema und Variationen“ in Sachen Gesellschaftsvertrag noch nicht entfernt vergleichbar, man denke nur an J. Rawls42. Indes können einige Stichworte dieser Diskussion auch für den Generationenvertrag verwendet werden. Er ist i. S. von I. Kants Vertragsphilosophie teils fiktiv zu denken („Probierstein der Vernunft“), teils liegen ihm durchaus reale Vorgänge (nicht nur in der Schweizer „Eidgenossenschaft“ seit 1291) zugrunde („Grundkonsens“, „bargaining“, „Renten-Konsens“). Viele neue Verfassungen denken ausdrücklich an die „künftigen Generationen“, vor allem in Präambeln oder  /  und beim Umweltschutz. Stichwort hier ist die Generationengerechtigkeit, auch im Internationalen Recht: „Menschheit“. Das Volk, das als in der Zeit den Generationenvertrag „fortschreibende“ und lebende Größe gedacht wird, ist seinerseits von vornherein weniger eine biologische, denn eine kulturelle Größe. Vor allem ist es nicht einfach „Staatselement“ i. S. des Verständnisses eines G. Jellinek43 oder biologische Summe von „Staatsangehörigen“. Es wird in Identität und Vielfalt durch kulturelle Bezüge zusammengehalten und aufgegliedert, es ist das Ergebnis von Prozessen kultureller Sozialisation oft über Generationen hin. Wenn die Kultur (mit G. Dürig) als „viertes“ Staatselement, wenn nicht sogar als „erstes“ gedeutet wird, so ist dieses kulturwissenschaftliche Verständnis auch und intensiv auf das Volk zu beziehen – so wie sich die Freiheit des Einzelnen nicht als „natürliche“, sondern erst als kulturelle erfüllt, nachdem die Genforschung zeigt, dass wir keineswegs „Sklave der Gene“ sind (Freiheit aus Kultur, insbesondere Bildung, Stichwort: „Bürgerschaft durch Bildung“, auch „Bildung durch Wissenschaft“!). Gewiss, die Tendenzen zur „multikulturellen Gesellschaft“, die Zulassung doppelter Staatsangehörigkeit in mehreren Ländern Europas, die Verstärkung der (kollektiven) Minderheitenschutzrechte und das Plädoyer für einen „offenen“ Kulturbegriff sowie „Religionsfreundlichkeit“ des Staates werfen Grundsatzprobleme auf, die sich hier nicht behandeln lassen. Doch gilt allgemein: vita brevis = cultura longa.

42  J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975. Aus der Staatsrechtslehre fast gleichzeitig danach P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 (372 ff.); P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff.; später W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994. Zu konstitutionellem Textmaterial unten S. 252 ff., 501 ff. 43  G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, a. a. O., S. 183, 406 ff. Demgegenüber treffend: H. Heller, a. a. O., S. 158 ff.: „Das Volk als Kulturbildung“.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich 1. Problem Der Begriff „republikanische Bereichstrias“ versucht die drei Bereiche privat, öffentlich und staatlich auf dem Forum der vergleichenden weltoffenen Verfassungslehre an die „Republik“44 zurückzubinden und diese drei Bereiche gleichwohl in ihrem Proprium und ihrer kulturellen Differenziertheit wirken zu lassen. Die res publica als Rahmen: Das meint auch eine Bezugnahme auf andere „republikanische“ Begriffe wie „öffentliche Freiheit“, „öffent­ liches Wohl“, „öffentliches Recht“ in einem tieferen, nicht-technischen Sinne. Das politische Gemeinwesen des Verfassungsstaates besteht aus und lebt in einer Vielzahl unterscheidbarer Bereiche, die alle ihr Proprium haben und ­ohne die es keinen „Pluralismus“ geben kann. J. Habermas’ Wort vom „republikanischen Kantianismus“, der das staatsbürgerliche Engagement, die kollektive Konstitution autonomer Öffentlichkeit der privaten Freiheit gleichberechtigt zur Seite stellt, ist eine „Parallelaktion“ der politischen Philosophie. Dabei mag auch ein Verweis auf die heute entstehende Internet- und „Welt­ öffentlichkeit“ mitgedacht sein, in die Themen wie „Weltbild des Verfassungsstaates“, „status mundialis hominis“, universaler Konstitu­ tionalismus gehören, und in Europa stellt sich die Frage, inwieweit es schon eine „europäische“ Öffentlichkeit gibt45, die sich z. B. aus den Wissenschaften und Küns­ ten speist und im Gemeineuropäischen Verfassungsrecht und bei den europäi­ schen Verfassungsgerichten durchaus schon konkrete Erscheinungsformen besitzt. Indes sei im Folgenden das Private und Öffent­liche nur im Maßstab des einzelnen Verfassungsstaates behandelt, so vielfältig die Wechselwirkungen zwischen „innerverfassungsstaatlicher“ Öffentlichkeit und regionaler bzw. Weltöffentlichkeit heute sind. Im Übrigen sollte der Bereichstrias die Aufgabenlehre im offenen Verfassungsstaat entsprechen, indem zwischen privaten, öffentlichen und staatlichen Aufgaben präzise unterschieden wird. 2. Das Private, Privatheitsschutz Das Private ist nicht primär als ausgegrenzter Bereich zu denken, der den Kommunikationszusammenhängen der Menschen in einem politischen Gemeinwesen fern steht. Doch sollte man auch diese Möglichkeit des „ohne 44  Aus der Lit.: R. Gröschner (Hrsg.), Die Republik, HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, S. 369 ff. – Zum Folgenden schon, jetzt überarbeitet: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, a. a. O., S.  656 ff. 45  Dazu mein Beitrag: „Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?“, FS Hangartner, 1998, S. 1007 ff.; später C. Franzius / U. K. Preuß (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit, 2004.



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich43

mich“ anerkennen, in dem Bewusstsein freilich, dass auch der Privatbereich ein Stück „kultureller Freiheit“ ist und „im“ Gemeinwesen konstituiert wird, nicht etwa außerhalb von ihm in einer Sphäre vermeintlich „natürlicher“ Freiheit. Unter diesem Vorbehalt sind die Verfassungstextaussagen zum Privatbereich als Schutzzonen individueller Identität und Freiheit denkbar ernst zu nehmen – gerade auch auf dem Hintergrund der 1989 gestürzten totalitären Regime, die alles potentiell ver-öffentlicht und „gesellschaftlich“ okkupiert haben. Wie es sich mit all dem im Arabischen Frühling (seit 2011) verhält, ist noch nicht abzusehen. Ein Blick in die Textstufenentwicklung ist aufschlussreich: Während das deutsche GG von 1949 dem Wort nach keinen eigenen grundrechtlichen Privatheitsschutz kennt und dieser erst durch Wissenschaft und Rechtsprechung entwickelt werden musste46, erweisen sich andere Verfassungen und Menschenrechtstexte schon prima facie als ergiebiger. Bereits Art. 8 EMRK von 1950 formuliert den „Anspruch auf Achtung seines Privat- und Fami­ lienlebens“ von Jedermann. Art. 26 Verf. Portugal (1976 / 1992) schützt das „Recht eines jeden auf die Identität der Person … und auf die Achtung des privaten und familiären Lebensbereiches“; Art. 18 Abs. 1 Verf. Spanien (1978 / 92) spricht ähnlich vom Recht „auf die persönliche und familiäre Intimsphäre und das Recht auf das eigene Bild“. Eine neue Textstufe spiegelt sich aber schon in Art. 10 Abs. 2 Verf. Niederlande (1983 / 1995), insofern es dort heißt: „Der Schutz der Privatsphäre wird im Zusammenhang mit der Speicherung und Weitergabe persönlicher Daten durch Gesetz geregelt“. Dieser Ausgestaltungsvorbehalt verarbeitet die Probleme, die in Deutschland etwa durch das von BVerfG prätorisch entfaltete Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ (BVerfGE 65, 1) behandelt und in den Landesverfassungen nach und nach durch spezielle Verfassungsänderungen zum Datenschutz „getextet“ wurden (z. B. Art. 21 b Verf. Berlin 1950 / 94, Art. 11 Verf. Brandenburg 1992, Art. 6 Verf. Mecklenburg-Vorpommern 1993, Art. 4, 77 a Verf. Nordrhein-Westfalen 1950 / 1992). Erneut bestätigt sich das Textstufen-Paradigma, insofern z. B. die Verfassungsjudikatur nicht selten später hier und dort zu formellen Verfassungsänderungen führt. Der Schutz der „privacy“ wird immer mehr in verfassungsstaatlichen Textstufen greifbar (z. B. Art. 31 Verf. Kenia von 2011, Art. 51 Verf. Ecuador von 2008). Freilich bedroht die neue Internetöffentlichkeit den herkömmlichen Privatheitsschutz. Sichtbar wird ein vorerst rechtsfreier Naturzustand, zum Teil im Sinne von T. Hobbes. Der Öffentlichkeitsbegriff verschwimmt. Die Informationsfreiheit ist aber nicht das einzige Prinzip. 46  Aus der Judikatur des BVerfG: E 65, 1. Zuletzt BVerfGE 89, 214; 90, 255; 109, 279 (313 ff.); 120, 274 (335 ff.); 129, 208 (245 ff.). Aus der Lit.: S. Schiedermair, Der Schutz des Privaten als internationales Grundrecht, 2012.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

3. Das Öffentliche Von R. Smend wiederentdeckt47, von K. Hesse früh in die Dogmatik des Art. 21 GG eingearbeitet48, wurde es später durch J. Habermas in der ganzen Fülle seiner Sozialphilosophie behandelt49. Mittlerweile hat „Öffentlichkeit“, so schwierig sie nach wie vor zu fassen ist, ihren festen Platz im Rahmen der Grundrechts-, Demokratie- und Oppositionsfragen. Die Internet­öffentlichkeit wirft neue Grundsatzfragen auf (Schutz des geistigen Eigentums!). Das Öffentliche und die Öffentlichkeit meint im hier gebrauchten Sinne ein Doppeltes: Im Rahmen der republikanischen Bereichstrias deutet es – räumlich – auf ein bestimmtes Feld der Res publica: den Zwischenbereich zwischen staatlich und privat, vielfach auch als „Gesellschaft“ (Zivilgesellschaft) charakterisiert. In ihm wirken unterschiedliche Kräfte wie die politischen Parteien mit ihrem eigenen öffentlichen Status (vgl. Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG), die staatsferneren Kirchen als „öffentliche Potenzen“ (A. Hollerbach), aber auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen und an der Spitze der öffent­ lichen Medien das private Fernsehen sowie die NGOs. Der Presse wurde in Deutschland ebenso früh wie häufig eine öffentliche Aufgabe zugeschrieben, jedenfalls beeinflusst sie die „öffentliche Meinung“. Auch die Gewerkschaften und Arbeitgeber als mächtige, immer neu auszutarierende Pluralgruppen siedeln sich im gesellschaftlich-öffentlichen Bereich an. Öffentlich meint aber auch eine inhaltlich wertbezogene Dimension: Es geht um die „salus publica“, um das „Kräfteparallelogramm“ eines politischen Gemeinwesens, aus dem sich pluralistisch Kräfte bündeln, miteinander in Dissens und Konsens ringen, um schließlich z. B. in der Öffentlichkeit des Parlaments in einem Gesetzesbeschluss Gestalt anzunehmen. Auch der Bürger, der die öffentliche Seite seiner Grundrechte in Anspruch nimmt, etwa in Form der Demonstrationsfreiheit als „Pressefreiheit des kleinen Mannes“ oder in Gestalt der Praktizierung seiner Religionsfreiheit im Wege der Teilnahme an einer kirchlichen Prozession, hat Teil am Öffentlichen – räumlich wie wertbezogen. Darum ist es nur konsequent, dass viele Grundrechtsgarantien der Religionsfreiheit auch die öffentliche Ausübung ausdrücklich schützen (z. B. Art. 9 Abs. 1 EMRK). Mit Grund kann von „öffentlichen Freiheiten“ gesprochen werden – im republikanischen Frankreich ist das Wort „libertés publiques“ geläufig (vgl. auch Titel I Kap. 2 Abschnitt 1 Verf. Spanien, Teil II Verf. Senegal von 1992, Teil II Verf. Ruanda von 1996). Neuere Verfassungen sprechen leider statt von „Öffentlichkeit“ von „Transparenz“, wobei der 47  Vgl. R. Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit, Ged. Schrift für W. Jellinek, 1955, S. 13 ff. 48  K. Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, VVDStRL 17 (1959), S. 11 (41 ff.). 49  J. Habermas, Stukturwandel der Öffentlichkeit, 8. Aufl., 1976, 12. Aufl., 1980.



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich45

Bezug zur „res publica“ verloren geht (z. B. Art. 12 Abs. 1 Verf. Äthiopien von 1994, Präambel Verf. Madagaskar von 1995). Der immer erfolgreicher werdende Begriff „Zivilgesellschaft“ ist hingegen zu begrüßen und in die vergleichende Verfassungslehre (auch international) entschlossen einzubauen. 4. Das Staatliche im Verfassungsstaat Nach einer schon klassischen Lehre von R. Smend und A. Arndt gibt es im Verfassungstaat nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert. Jedenfalls gilt dies im Rahmen einer demokratischen Verfassungslehre, die den präkonstitutionellen Staatsbegriff ablehnt. Das meint keine Wendung gegen verfasste Staatlichkeit, die ja gerade beim Grundrechtsschutz, auch dem privaten, unverzichtbar ist. Es bedeutet nur, dass man mit „Verfassung“ Ernst macht und keine feudalen oder monarchistischen Restbestände anerkennt, sei es in der Dogmatik, sei es in der Realität. Wenn alle Staatsgewalt von den sich in der Bürgergemeinschaft „findenden“ Bürgern ausgeht („We, the people“), so bleibt kein Raum für extra- oder vorkonstitutionelle Staatsgewalt. Verfassung ist „vor“ dem Staat zu denken, so wichtig dieser ist und bleibt (auch im vereinten Europa von heute, mit seinen Teilverfassungen). Das politische Gemeinwesen (einer Republik wie verfassungsstaatlichen Monarchie), als übergreifender Rahmen verstanden und durch die konkrete Verfassung konstituiert, kennt neben dem beschriebenen Privatbereich sowie neben dem Feld und den Funktionen des Öffentlichen den des „verfasst Staatlichen“. Gemeint sind die Staatsorgane, die staatlichen Kompetenzen und Funktionen (z. B. die Parlaments-, Regierungs-, Verwaltungs- und Gerichtsöffentlichkeit). Sie sind zwar mit dem „gesellschaftlich“ Öffentlichen, der Zivilgesellschaft vielfältig verschränkt, wie etwa in Fragen der Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente und der Regierungen, selbst des BVerfG, erkennbar wird, aber sie sind doch „für sich“ eingerichtet und unverzichtbar. Die Staatsorgane sind nicht „virtuell“ oder real i. S. einer „General- und Blankovollmacht“ allzuständig50, ihre Aufgaben sind von vornherein rechtlich umgrenzt und funktionellrechtlich eingebunden. Die verfassungsstaat­ liche Staatsaufgabenlehre muss auch hier beim Verständnis der Staatsorgane „durchschlagen“. Auch der alte Begriff der „Staatssouveränität“ ist zu verabschieden: außerstaatlich durch die Einsicht in die „überstaatliche Bedingtheit des Staates“ (W. v. Simson), wobei es freilich auch eine staatliche Bedingtheit des Überstaatlichen gibt: nur die Verfassungsstaaten „halten“ die Völkergemeinschaft; innerstaatlich durch die Erkenntnis, dass Freiheitsschutz-, Kompetenz- und Aufgabenordnung einer verfassungsstaatlichen 50  s. aber den Ansatz von Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1. Aufl., 1964, S.  196, 940 ff.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

Verfassung keinen Raum für Souveränität von irgendjemand kennen. Das Wort von der „republikanischen Bereichstrias“ will die drei „Seiten“ privat, öffentlich und staatlich zusammensehen, so viele Konflikte und Reibungen es auch immer wieder geben mag (z. B. arbeiten viele, aber nicht alle staatlichen Organe öffentlich). Jede Generation muss sie neu durchleben und gestalten, z. B. in Sachen Datenschutz, Umweltschutz, Infrastruktur, gouvernementale Arkanbereiche, Wirtschaftsfreiheit, Privatisierung, Internet, ja sogar in Sachen „Generationenschutz“ (auch weltweit). 5. Eine Revision der „Staatselemente“, Kultur als „4.“ Staatselement, das Beispiel Staatsgebiet und Staatssymbole a) Die drei sog. Staatselemente – und das „vierte“: Die Kultur Zu den traditionellen Kapiteln der allgemeinen Staatslehre51 gehören die drei „Staatselemente“ Staatsvolk, Staatsgewalt, Staatsgebiet. Typischerweise hat die „Verfassung“ in dieser Trias (noch) keinen Platz – das kennzeichnet gerade „allgemeine Staatslehren“, macht sie aber auch fragwürdig. Eine vergleichende weltoffene „Verfassungslehre“, die ihren Namen verdient, muss die Einordnung suchen: Verfassung ist, wenn nicht bereits das „erste“ Staatselement, so jedenfalls ein wesentliches. Konkret: Die Staatselementenlehre muss vom erwähnten Begriff der Kultur aus durchdekliniert (konjugiert) werden. Verfassung ist ein Teil der Kultur, sie bildet, wenn man will (richtiger: muss) mindestens ein „viertes“ Element. G. Dürig hat dies früh (1954) tendenziell gewagt, aber nicht weiter ausformuliert52. Spätestens heute ist dieser Schritt in einer vergleichend kulturwissenschaftlich konzipierten Verfassungslehre zu wagen. Dies bedeutet, dass auch die übrigen Staatselemente kulturwissenschaftlich zu „erfüllen“ sind. Beginnend mit dem Volk als „Menge Menschen unter Rechtsgesetzen“ (I. Kant), aber eben dadurch im „status culturalis“. Die – unterschiedliche – Identität der Völker Europas ist eine solche kultureller Art, und das macht die Vielfalt dieses Europas aus; Gleiches gilt für Lateinamerika, Afrika und Asien, Kanada und die USA. Das Staatsgebiet ist kulturell geprägtes Land, ein „Kultur-Raum“, kein factum brutum53. J. G. Herders Verständnis von Geschichte als „in Bewe51  Zum Teil kritisch P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 82, 35 ff., 111 ff.; s. jetzt auch die Kritik bei P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 16 ff. – Zum Folgenden schon, jetzt überarbeitet: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 631 ff. 52  Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 13 (1955), S. 27 (37 ff.). 53  Dazu mein Beitrag: Das Staatsgebiet als Problem der Verfassungslehre, FS Batliner, 1993, S. 397 ff.; aus der weiteren Lit.: D.-E. Khan, Die deutschen Staatsgrenzen, 2004; W. Graf Vitzthum, Staatsgebiet, HStR, 3. Aufl., Bd. III, 2004, § 18.



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich47

gung gesetzte Geographie“ mag hilfreich sein. Die Staatsgewalt ist ihrerseits als kulturell bestimmte, nicht naturhaft wirkende vorzustellen: sie ist im Verfassungsstaat normativ begründet und begrenzt, und sie steht im Dienste kultureller Freiheit. Wie notwendig sie ist, zeigten die Bürgerkriegswirren in Ex-Jugoslawien nur zu dramatisch und zeigen die „failed States“ z. B. in Afrika (etwa Somalia). Völkerrecht „als Kultur“ ist gefordert. b) Das Beispiel „Staatsgebiet“ aa) Einleitung, Problem Nicht nur in Kleinstaaten treten heute die überregionalen, ja globalen Aspekte immer klarer hervor, nicht nur in Europa entstehen seit den 90er Jahren bzw. im neuen Jahrtausend große Märkte: weltweit bildet sich dank der multimedialen Mobilität eine dynamische, global ausgreifende Kommunikationsgemeinschaft, so dass die Frage nach dem „Staatsgebiet“ altmodisch und überholt erscheinen könnte. Ist das „Staatsgebiet“ (und die in ihm anklingende „Statik“) nicht längst verflüchtigt, ja aufgelöst in den dynamischen Prozessen einer offenen multinationalen Weltmediengesellschaft, in der sich alles zu bewegen, ins Weite auszugreifen scheint und weniges mehr dauerhaft „fixiert“ ist? Angesichts der übernationalen Verflochtenheit des heutigen weltoffenen Verfassungsstaates kann das sog. Staatselement „Staatsgebiet“ von diesen Prozessen nicht unberührt bleiben. Doch bildet dies nur die eine Seite von sich offenbar beschleunigenden Entwicklungen. Gegenläufig setzt eine Wiederbesinnung auf das „Kleine“ vor Ort ein, ein Rückzug auf den überschaubaren Raum, auf „Region“ und „Heimat“: Wirkliche oder vermeintliche Nationalstaaten zerfallen in „Kleinstaaten“, Volksgruppen fordern Minderheitenrechte, der Regionalismus reift schrittweise zum Strukturprinzip vieler bisher zentralisierter Verfassungsstaaten (von Frankreich bis Großbritannien: Schottland? – im Jahre 2012), der Föderalismus setzt weltweit seinen Siegeszug fort. All dies verweist spezifisch auf das Territoriale. Zugleich wird man sich der Ambivalenz des Wortes „Grenze“ bewusst: Sie deutet einerseits auf Beschränkung, auf die eigene Identität, andererseits ist vom umgrenzten Raum aus ein Ausgreifen auf Fremdes, Neues, Fernes möglich. Gerade Kleinstaaten (wie Liechtenstein und Luxemburg) ist diese Dialektik nur zu bewusst. Sie rezipieren und integrieren vieles von „außerhalb“, um sich desto besser zu behaupten (z. B. in Gestalt ausländischer Richter am Staatsgerichtshof dort). Vielleicht darf man das Dichterwort J. W. von Goethes „Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“, gebietsund raumbezogen variieren: Der Mensch stürzte in seiner grundrechtlichen Freiheit buchstäblich ins Bodenlose, gäbe es nicht einen kulturell gestalteten „gesicherten“ Grund, von dem aus er in die Umwelt ausschreiten könnte. Der

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

Verfassungsstaat schafft gerade heute den optimalen Rahmen für solchermaßen auf Grund und Gründe bezogene kulturelle Freiheit, und sein Gebiet bildet ein spezifisches „Kulturelement“ im Ensemble seiner Grundwerte. bb) Konstitutionalisierung des Staatsgebiets im Verfassungsstaat – der verfassungs-theoretisch-kulturwissenschaftliche Ansatz (1) Ausgangspunkt ist ein verändertes „Grundlagen-Verständnis“ des Staatsgebiets. Ob es allgemein und (noch formal) im Kontext traditioneller Staatlichkeits-Artikel platziert ist oder (modern) im Kontext von materialen Grundwerte-Klauseln wie Freiheit und Demokratie, ob es nur sporadisch behandelt wird oder unter Parlamentsvorbehalt steht: Im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe bildet das Staatsgebiet eine Grundlage seiner kulturellen Identität und geschichtlichen Individualität. Die ganze Verfassung ist sein „Kontext“. All dies manifestiert sich in manchen Texten erklärter historischer Zu- und Umschreibung seiner Grenzen, es tritt aber auch in anderen Formen zutage: etwa in den Verfassungen, die es für unveräußerlich und unteilbar erklären oder es zu absoluten Grenzen jeder Verfassungsrevision machen, sowie in den Fällen, wo die formale Verfassungsänderung für die Grenzänderung verlangt wird. Konnte J. G. Herder die Geschichte als „in Bewegung gesetzte Geographie“ ansehen54, das Staatsgebiet ist in all diesen Fällen im Horizont der Zeit ins Blickfeld getreten55. Jeder Verfassungsstaat eignet sich sein Staatsgebiet immer neu innerlich an: Es wird zur Kultur. Das Staatsgebiet ist also nur sekundär „Grundlage des Staates“, es ist Grundlage der Verfassung, nicht „Staatselement“, sondern Verfassungswert. Grundrechtsbezüge lassen sich dort freilegen, wo das Staatsgebiet im Tatbestand eines (oder mehrerer) Grundrechte mitgedacht wird. Wenn eine Asylrechtsgarantie den „Bewerber“ dann aufnehmen will, wenn er für „Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Völkerfrieden“ eingetreten ist, so zeigt sich darin, dass der Verfassungsstaat um dieser allgemeinen Grundwerte willen sein Gebiet öffnet. Viele, vor allem deutsche Verfassungsstaaten, normieren z. B. den Völkerfrieden als Erziehungsziel (von Art. 148 Abs. 1 WRV von 1919 über Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen von 1947 bis zu Art. 28 Verf. Brandenburg von 1992). Wenn er den Grundrechtsschutz für Ausländer im Inland ausbaut, auch ein Asylrecht schafft, so stellt er auch hier sein „Gebiet“ positiv in den Dienst seiner sonst geschützten Grundwerte. Sogar dort, wo der 54  Dazu allgemeiner: P. Häberle, Der Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates, in: A. Waschkuhn (Hrsg.), a. a. O., 1993, S. 121 (170 ff.). 55  Mochte R. Wagner im „Parsifal“ philosophieren lassen: „Zum Raum wird hier die Zeit“: verfassungstheoretisch wird und bewährt sich das je besondere Staatsgebiet zu einem bzw. als Verfassungswert „im Laufe der Zeit“.



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich49

weltoffene Verfassungsstaat seinen Bürgern das Staatsgebiet zur Disposition stellt und prima facie ein nur „negativer“ Zusammenhang Grundrechte und Staatsgebiet besteht – in der Auswanderungsfreiheit (vgl. Art. 25 Abs. 1 und 2 Verf. Rumänien von 1991) –, ist ein positiver freizulegen: Nur der freie bzw. freizügige Bürger vermag sich mit seinem Land, wenn und weil er bleiben will und kann, zu identifizieren. Im Übrigen bringen all die jüngeren Verfassungstexte die Instrumentalisierung des Staatsgebietes im Dienste der Grundrechte als verfassungsstaatliche Grundwerte zum Ausdruck, die diese den Territo­rial-Artikeln systematisch vorordnen. Das Staatsgebiet lässt sich als plurale Staatsaufgabe verstehen. Das kann positivrechtlich aus nicht wenigen Verfassungstexten begründet werden: zunächst eher äußerlich dort, wo die Integrität des Hoheitsgebietes den Staatsorganen anvertraut ist, etwa im Notstands- bzw. Kriegsfall – völkerrechtliche Schutz-Artikel (z. B. Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) können mit herangezogen werden (auch wenn das Souveränitätsdenken die hier freigelegten Zusammenhänge sonst eher objekthaft verstellt). Es sind in materieller Sicht vor allem die neuen Artikel zum Schutz von Natur, Umwelt und Kultur, zur Raumordnung, die zeigen, wie der Verfassungsstaat in und mit seinem Gebiet „arbeitet“, für seine Erhaltung als „Lebensgrundlage“ (auch für künftige Generationen) verantwortlich ist. Dieses Verfassen des Staatsgebietes ist ebenfalls ein Stück gelebter Verfassung. Darum das Wort von dem „konstitutionellen“ Verständnis des Staatsgebietes. Schubkraft gewinnt dieses Denken dank zweier weiterer Aspekte: Der Schutz von Natur, Umwelt und Kultur steht letztlich seinerseits in Grundrechtsbezügen (als „GrundrechtsAufgabe“ des Staates), er ist dem Verfassungsstaat um des Menschen willen überantwortet. Zum anderen ist an die (bundesstaatlichen) Neugliederungsund die (einheitsstaatlich) auf Regionen und sonstige Dezentralisationsformen bezogenen verfassungsstaatlichen Gliederungs-Artikel zu erinnern. In ihren substantiellen „Richtbegriffen“ kommen Verfassungswerte zum Ausdruck (etwa historisch-landsmannschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche Gemeinsamkeiten), die ihrerseits eine Brücke schlagen zu andernorts in der Verfassungsurkunde postulierten Grundwerten. Im Übrigen ist an die in Art. 1 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (1953) normierte klassische Aufgabe des Staates zu erinnern, „die in seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen“ zu fassen, ihnen „Schutz und Förderung“ zu gewähren (i. S. der Schutzpflichtenlehre des BVerfG!). Kurz: Die Staatsaufgabenlehre ist im angedeuteten Sinne auf das Staatsgebiet in der Zeit, in Natur und Raum und als Kultur „fortzuschreiben“: Die präzise Auflistung der schon vorhandenen, zwar in einer konkreten Verfassung nie gleichzeitig normierten, aber aus vielen Verfassungen gesamtheitlich herstellbaren Bezüge zu den Grundwerten des Verfassungsstaates als Typus kann dieser Verfassungstheorie des Staatsgebietes eine Schubkraft vermitteln,

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

die sich später da und dort verfassungspolitisch in neue Texte umsetzt. Zum „Raum wird das Gebiet“, zur „Kultur werden Umwelt und Natur“. Das „Staatsgebiet“ steigert hier seine erstliche und letztliche Bedeutung im Verfassungsstaat. All dies dank einer textlich unterfütterten, kulturwissenschaft­ lichen Verfassungstheorie. Anders gesagt: Durch die Projizierung der verfassungsrechtlichen Grundwerte auf das Staatsgebiet wird dieses auf eine Weise selbst zum verfassungsstaatlichen „Grundwert“. Das Staatsgebiet erweist sich als räumliche „Basis“ für die Verwirklichung verfassungsstaatlicher Grundwerte. Die Analyse der Staatsgebiets-Artikel von Kleinstaaten erweist sich als besonders aufschlussreich. Alle verfassungsstaatlichen Aussagen, in denen das Staatsgebiet allgemein oder speziell, und sei es noch so punktuell, vorkommt, bilden einen Mosaikstein im Gesamtbild dieser „Grundlage für Leben im Verfassungsstaat“, auch für die künftigen Generationen. (2)  Es besteht eine Dialektik zwischen der Europäisierung / Globalisierung der Staatsgebiete einerseits und der Verknappung und daher Intensivierung der Gestaltung durch den Verfassungsstaat andererseits. Dieser Theorie­ aspekt kann sich kurz fassen. Wir beobachten zwei scheinbar gegenläufige Entwicklungslinien: Einerseits relativiert sich das Staatsgebiet durch das Ausgreifen in weiträumige Regionen, ja ins Globale – mit Verantwortungszusammenhängen, die das herkömmliche „Staatsgebiet“ des einzelnen Landes arg schrumpfen, fast klein aussehen und sogar materiell als „Kleinstaat“ erscheinen lassen. Die „überstaatliche Bedingtheit des modernen Staates“ (W. von Simson) könnte sogar die Frage provozieren, ob der Aufwand einer Verfassungstheorie des Staatsgebiets 2012 noch lohnend ist. Indes: Es gibt auch eine „staatliche Bedingtheit des Überstaatlichen“, der Welt. Gerade von ihrem noch so kleinen Gebiet aus müssen alle einzelnen Verfassungsstaaten ihre Verantwortung für die Menschenrechte und die in ihnen verknüpften Grundwerte wahrnehmen und am universalem Konstitutionalismus arbeiten. Da die eine immer stärker zusammenwachsende Welt die bewohnbaren Gebiete verknappt, müssen die Verfassungsstaaten das ihnen zugeschriebene Gebiet umso intensiver gestalten. Das eine bedingt das andere. Die heute spürbare Hinwendung zum „Kleinen“, zur „Heimat“, das Entstehen neuer Kleinstaaten kann auf die „Kultivierung“ von Gebieten nicht verzichten, ja sie sucht sie umso intensiver zu „verinnerlichen“. Die „Umwelt“ einzelner Verfassungstexte ist ein Stück der eins gewordenen Welt, aber diese Welt kann nur überleben, wenn alle Verfassungsstaaten kooperativ in der einen universalen „Weltgemeinschaft“ i. S. eines Weltgesellschaftsvertrags treuhänderisch ihre („kleine“) Welt pflegen: in Gestalt der Optimierung ihrer verfassungsrechtlichen Grundwerte gerade auf ihrem „Gebiet“. (3) Jeder verfassungsstaatliche Verfassunggeber der heutigen Entwicklungsstufe sollte bestrebt sein, das Staatsgebiet textlich im „richtigen“ Kontext zu behandeln. Empfohlen sei die Platzierung in den Grundlagen-



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich51

Artikeln eingangs einer Verfassung, in der neben Freiheit, Gleichheit, Rechtstaaatlichkeit und Demokratie zugleich das Staatsziel „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Kultur“ zur Sprache kommt (vorbildlich Art. 5 Verf. Portugal, § 3 Verf. Finnland). Die ältere Textstufe, d. h. das Staatsziel im Kontext allein der herkömmlichen Staatlichkeitselemente wie „Staatsvolk“, „Staatsgewalt“ ohne normative Zusätze (z. B. Art. 3 Verf. Lettland von 1922, Art. 2 Verf. Irland von 1937) ist überholt. Auf keinen Fall sollte das Staatsgebiet isoliert bei den anderen „Staatselementen“ bzw. sog. „Staatssymbolen“ „stehen“. M. a. W.: Die Theorie von der Konstitutionalisierung des Staatsgebiets muss sich textlich insofern niederschlagen, als das Staatsgebiet sichtbar in den Kontext der Grundwerte des Verfassungsstaates eingerückt wird. Das Staatsgebiet ist eine werterfüllte Basis des Verfassungsstaates, nicht nur des Staates, es ist ein Stück Verfassung als Kultur. Am besten wäre es, das Staatsgebiet würde in den werthaltigen Grundlagenteil der Verfassung vorgezogen (z. B. Art. 8 Verf. Serbien von 2006), in dem oder nach dem schon die wichtigsten Grundrechte zur Sprache kommen. Eine Variante bildet die Möglichkeit, die Grundrechte in den ersten Abschnitt vorzuziehen und den organisatorischen Teil mit Aussagen zum normativen, inhaltlich strukturierten Staatsgebiet zu eröffnen. Zu denken ist auch an Artikel, die den Raum durch Ziele und Prinzipien strukturieren bzw. in Dienst nehmen. Eine freilich nur dem Föderalismus und dem Regionalismus eigene besondere Möglichkeit eröffnen gebiets- bzw. raumorientierte Gliederungs- bzw. Neugliederungs-Artikel nach dem Vorbild von Art. 29 GG oder Art. 227 Verf. Portugal, auch Art. 143 Abs. 1 Verf. Spanien. Der hier gewählte spezifisch verfassungsrechtliche Ansatz hat Konsequenzen bei der Ausgestaltung der Voraussetzungen für Gebietsänderungen: Mindesterfordernis ist ein Parlamentsgesetz, Optimum ein verfassungsänderndes Gesetz (so Art. 8 Verf. Serbien von 2006): denn Gebietsänderung bedeutet inhaltlich Verfassungsänderung – Konsequenz des hier vertretenen verfassungstheoretisch-kulturwissenschaftlichen Ansatzes. Von den allgemeinen Staatsgebiets-Klauseln (z. B. Art. 3 Verf. Mazedonien von 1991) sind die speziellen zu unterscheiden. Gemeint sind die besonderen Kontexte, in denen das Staatsgebiet ein tatbestandliches Teilelement eines verfassungsrechtlichen Grundwertes wie des Asylrechts, der Auswanderungsfreiheit, des menschenrechtlich fundierten Status der Ausländer im Inland bildet (z. B. Art. 5 Abs. 2 Verf. Griechenland, Art. 33 Abs. 6 Verf. Portugal, Art. 13 Verf. Spanien). Hier ist das Völkerrecht gefordert. Solche Maximen wollen verdeutlichen, dass die hier beobachtete und favorisierte „Konstitutionalisierung“ des Staatsgebiets kein bloßes Wort ist, sondern eine nachweisbare Tendenz und innere Konsequenz des Typus Verfassungsstaat in seiner heutigen Entwicklungsstufe. Kleinstaaten wie Liech-

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

tenstein und Zypern ist dies in der Verfassungswirklichkeit wohl eher bewusst als großen Flächenstaaten, in denen Wüsten und Salzseen ebenso zu finden sind wie „Kulturlandschaften“. Näher betrachtet, konstituieren diese wie jene die Identität eines politischen Gemeinwesens mit: historisch, natürlich, ökonomisch und kulturell. Sie bilden ein Stück der „inneren Landschaft“ jeden Verfassungsstaates, seiner Umwelt, seiner vom Menschen gestalteten Kultur. In dieser Sicht gewinnt das Staatsgebiet viele Dimensionen, denen der konkrete Verfassunggeber möglichst gerecht werden sollte. Der Verfassungswert des Staatsgebietes ist denkbar facettenreich – wie die Verfassung selbst, in deren Prinzipien und Grundwerten er immer neu ganzheitlich integriert ist. Man denke an die „Erinnerungsorte“ eines Volkes. c) Die Verfassung des Pluralismus: Formen einer kulturellen ­Differenzierung und äußeren Öffnung des Verfassungsstaates Die „Verfassung des Pluralismus“ (1980) ist heute besonders auf drei Feldern gefordert: im Bereich des Nationalen, in der Forderung nach Föderalisierung oder doch Regionalisierung und in der Öffnung aller Verfassungsstaaten zur Völkergemeinschaft hin (Stichwort: „kooperativer Verfassungsstaat“, Weltgemeinschaft, Verantwortung für universale Werte). aa) Nation und Verfassungsstaat: Normalisierung, Relativierung, ­Normativierung – der Minderheitenschutz Die – europäische – Verfassungsstaatlichkeit hat sich heute wie selten zuvor des Stellenwertes des Nationalen zu vergewissern. Wo steht die ­Nation im „Europa der Bürger“, der „Regionen“, der „Vaterländer“? Sind Nation und Verfassungsstaat ganz oder teilidentisch? Kann man sich mit Sarah Kirsch behelfen, die es „immer mehr mit der Muttersprache als mit den Vaterländern“ gehalten hat. Die derzeitige Debatte über „nationale Identität“56 kann hier nicht im Ganzen aufgerollt werden, doch seien einige Stichworte genannt. Der klassische Nationalstaat darf für den Verfassungsstaat nicht mehr das verbindliche Leitbild sein. Auf der heutigen Entwicklungsstufe ist für alle Verfassungsstaaten, wie mono- oder multikulturell, multiethnisch sie realiter sein mögen (z. B. auf dem Balkan), angesagt, dass sie sich in jeder Hinsicht pluralistisch verstehen müssen: Selbst Frankreich, das seine kulturelle und politische Identität in der „Republik“ findet, muss ein tolerantes, religionsfreundliches Gehäuse für den Islam als bereits zweitstärkste Religion im Lande finden. Die Schweiz hat seit langem, auch dank 56  Dazu

noch unten S. 59 ff.



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich53

ihrer vorbildlichen Sprachenfreiheit, als „Willensnation“ Wege zum inneren Pluralismus gebahnt (das neue Minarettverbot ist freilich ein bedauerlicher Vorgang). Deutschland ringt schmerzlich lange um den ausdrücklichen Schutz kultureller Minderheiten; die weitgehend glücklose „Gemeinsame Verfassungskommission“ hat an einem Minderheitenschutz gearbeitet (1993), die punktuellen Verfassungsänderungen im Herbst 1994 haben ihn aber nicht zustande gebracht57. Das befremdet umso mehr, als einzelne neue west- und ostdeutsche Länderverfassungen vorbildliche MinderheitenschutzKlauseln gewagt haben, so Art. 5 Verf. Schleswig-Holstein (1990) und Art. 25 Verf. Brandenburg (1992) sowie Art. 5 Verf. Sachsen (1992)58, jüngst für Sinti und Roma im Gespräch. Hier und jetzt sei die Aussage gewagt, dass der weitgehende Schutz ethnischer, kultureller, religiöser Minderheiten m. E. zur heutigen „Wachstumsstufe“ des Typus Verfassungsstaat und „seines“ Völkerrechts gehört und sich auch in gereifter Textstufenentwicklung niederschlagen müsste. Der Europarat wacht für die osteuropäischen Reformländer zu Recht darüber, wie intensiv ihr Minderheitenschutz ist, aktuell etwa in Lettland (im Verhältnis zu den Russen). Das Völkerrecht als Kultur bleibt gefordert. bb) Föderalismus und (werdender) Regionalismus als inneres Strukturprinzip des Verfassungsstaates Hier nur die These: Der Verfassungsstaat als Typus muss heute föderalistisch oder regionalistisch strukturiert sein. Selbst klassische Einheitsstaaten wie Frankreich oder Italien sind auf dem Weg der Regionalisierung. Von Europa her gewinnt diese Entwicklung an Schubkraft (nicht zuletzt von „Maastricht“ aus: beratender Ausschuss der Regionen: Art. 198 a bis c, im Vertrag von Amsterdam 1997, jetzt Art. 305 bis 307 AEUV, verstärkt). Die Zeit des zentralen Einheitsstaates ist für den Verfassungsstaat als Typus wohl vorbei. In dem Maße, wie er sich auf Menschen- und Bürgerrechte gegründet sieht, die eigene innere kulturelle Vielfalt entdeckt, mit der Demokratie im kleinen, „vor Ort“ Ernst macht und den Wert aller Arten von Gewaltenteilung erkennt, in dem Maße lockert er sich föderalistisch oder regionalistisch auf (dazu noch unten S. 387 ff.). Es kommt zu rechtskulturell partikularen Strukturen (Partikularität und Universalität).

57  Der vorgeschlagene Artikel 20 b sollte lauten: „Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten“ (zit. nach Bericht der GVK, Zur Sache 5 / 93, 1993, S. 31); zuvor mein Textvorschlag, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (206 f.). 58  Vgl. Texte und Kommentar in JöR 42 (1994), S. 149 ff.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

cc) Die Öffnung des Verfassungsstaates zur Völkergemeinschaft hin (der „kooperative Verfassungsstaat“) Die offene Staatlichkeit (K. Vogel), der „kooperative Verfassungsstaat“ (1978) markieren weitere Stichworte für die heutige Entwicklungsstufe unseres Gegenstandes (hierzu unten S. 98 ff.). Die internationalen Menschenrechtspakte, aber auch die regionalen Entsprechungen wie die EMRK und die AMRK bilden ein Element dieser Offenheit des Verfassungsstaates nach außen. Heute deutet sich eine „Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten“ an; wir denken in „weltbürgerlicher Absicht“ i. S. I. Kants bei allen Rückschritten und Rückfällen ins nationale Zeitalter. Die überstaatliche „Bedingtheit des Staates“ (W. von Simson), freilich auch die staatliche Bedingtheit des Überstaatlichen, wird greifbar: im Nahen wie im Fernen. Es entstehen Mosaiksteine einer universalen Rechtskultur, auch von den UN her. d) Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat: Freiheit aus Kultur Der europäische Verfassungsstaat bildet ein einzigartiges Forum für Wahrheitsprobleme59: nicht etwa, weil er „fertige, absolute Wahrheiten“ kennt und durch Juristen verkünden und durchsetzen lässt, sondern weil er dank der Grundrechte als kulturellen Freiheiten und dank der Demokratie als „Herrschaft“ auf Zeit i. S. Poppers erlaubt, die Regierenden ohne Blutvergießen abzusetzen und „Theorien an Stelle von Menschen sterben“ zu lassen. Poppers „Kritischer Rationalismus“, unterfangen freilich vom kulturellen Grundkonsens, der in der Zeitachse sich als „kultureller Generationenvertrag“ darstellt, ist m. E. die überzeugende Philosophie des europäischen Verfassungsstaates. D. h. es gibt wohl Wahrheit, aber wir können nicht wissen, ob wir die Wahrheit erkannt haben. Alles, was wir tun können, ist „Entwurf und Vermutung“. Die Verfahren von Versuch und Irrtum, die Bildung von falsifizierbaren Hypothesen und das Verbot der Lüge (I. Kant) helfen uns „bis auf weiteres“ bei der Annäherung an die Wahrheit im wissenschaftlichen wie politischen Bereich. Wir denken an Lessings einschlägige Texte und an W. von Humboldts Wissenschaftsverständnis. Die „Verfassung der Freiheit“ trifft sich hier mit der offenen Gesellschaft bis hin zu praktischen Umsetzungen im Europa von heute; etwa dem „Open Society Fund“ für Osteuropa eines G. Soros. Gewiss sollte man sich hüten, eine „Hausphilosophie“ zu haben; doch scheint mir für das – offene – „europäi­ sche Haus“ bzw. seine Verfassungsgemeinschaft derzeit Poppers Denken 59  Einzelheiten zum Vorstehenden in meiner Studie: Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995; fortgeschrieben in meinem Beitrag in FS Hollerbach, 2001, S.  15 ff.



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich55

besonders geeignet zu sein. Das gilt auch für andere Kontinente und das zwischen ihnen vermittelnde Völkerrecht, das immer mehr Bausteine an die nationalen Verfassungsstaaten liefert und vice versa. Die neuen Wahrheitskommissionen von Afrika (Elfenbeinküste) bis Lateinamerika (zuletzt in Brasilien 2011) seien hier ein Merkposten. Sie können zu Mosaiksteinen einer universalen Verfassungslehre und Rechtskultur werden (wie Menschenrechte, Rechtsschutz, Rechtsgrundsätze). e) Insbesondere: Die sog. Staatssymbole im Kontext der neueren Textstufenentwicklung aa) Problem Die sog. „Staatssymbole“60 sind in herkömmlicher Sicht Ausdruck der „Staatlichkeit“, die oft „vor“ der Verfassung gedacht wird. Meist im Kontext der Staatssprache, des Staatsgebietes, auch der Staatsangehörigkeit gedacht bzw. in den älteren Verfassungsurkunden hier normiert, finden sie sich in Gestalt der Staatsflagge, der Staatshymnen, des Staatswappens, auch der Hauptstadt als „Attribute“, mehr noch: als „Elemente“ der Staatlichkeit (z. B. Art. 5 Verf. Liechtenstein von 1921, Art. 3 Verf. Türkei von 1982). Sie sind feste Bestandteile meist der Grundlagen- oder Anfangs-Artikel der verfassungsstaatlichen Verfassungen älteren Stils und sollen nach einer traditionsreichen Sicht den Staat als solchen „symbolisieren“. Auf dem Hintergrund des hier gewählten kulturwissenschaftlichen Ansatzes müssen sie sich jedoch eine andere Deutung gefallen lassen. So wie die „Staatselemente“ umgedacht werden, so wie ausweislich der jüngeren Textstufenentwicklung auch das Problem der Sprache im Blick auf sprachliche Minderheiten und kulturelle Pluralität neu gesehen wird, so ist neu zu fragen, welchen gedanklichen Ort und entsprechend veränderten systematischen Platz die „Staatssymbole“ im Verfassungsstaat einnehmen. Denn Flaggen, Hymnen, Wappen, Feiertage und auch Hauptstädte „symbolisieren“61 nicht primär den Staat, sondern sie deuten auf kulturelle Dimensionen des politischen Gemeinwesens und seiner Bürger. In der offenen Gesellschaft des Verfassungsstaates sind sie grundierende Inhalte, „tragen“ sie Funktionen, die die Bür60  Aus der Lit.: E. Klein, Staatssymbole, HStR, Bd. I (1987), S. 733 ff. (3. Aufl., Bd. II, 2004, § 19); P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 393 ff. 61  Dazu mein Beitrag: Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S. 989 ff. Zuletzt etwa Art. 3 Abs. 3 Verf. Türkei (1982), Art. 1 Verf. Haiti (1987), Art. 3 Verf. Zaire (1983 / 89), Art. 10 Verf. Georgien (1995), Art. 5 Verf. Madagaskar (1995), Art. 1 Verf. Niger (1996), Art. 8 Verf. Tschad (1996), Art. 29 Verf. Polen (1997). Weitere Beispiele: Art. 9 Verf. Serbien (2008), Art. 4 Abs. 3 Verf. Ecuador (2008), Art. 13 Verf. Kosovo (2008), Art. 4 Abs. 3 Verf. Kenia (2010), Art. XIII Sect. 11 Verf. Palau (1979).

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

gergesellschaft (Zivilgesellschaft) betreffen – ähnlich den Erscheinungsformen der „Erinnerungskultur“. bb) Die neuere Textstufenentwicklung Die Staatssymbol-Artikel lassen sich auf der heutigen Textstufe des weltoffenen Typus Verfassungsstaat mit Hilfe von zwei Fragen aufschlüsseln: Erstens: Wo sind die Staatssymbole systematisch platziert: etwa „schon“ im Grundlagen-Teil? Zweitens: Im Kontext welcher anderer verfassungsstaat­ licher Themen (neuerdings etwa auch im Zusammenhang mit Rechtsstaatsklauseln, Grundrechtsgarantien oder sonstigen Grundwerten (Stichwort: normative Anreicherung)) finden sie sich? Im Einzelnen: Die Verf. Frankreich (1958 / 2008) platziert Sprache, Flagge, Hymne und den „Wahlspruch“ im Titel „Die Souveränität“ (Art. 2)62. Damit ist mit dem klassischen Staats-Verständnis der Symbole textlichsystematisch ernst gemacht. Auch die Verf. Irland (1937 / 92) rückt Staatsflagge und Nationalsprache in den Abschnitt „Der Staat“ ein (Art. 7 und 8). Anders geht die Verf. Italien (1947 / 93) vor. Im Abschnitt „Grundprinzipien“ findet sich auch der Flaggen-Artikel (Art. 12) am Schluss, nachdem zuvor u. a. so wichtige Themen wie Minderheitenschutz (Art. 6), das Staat-KircheVerhältnis (Art. 7) und eine Kulturstaats-Klausel (Art. 9) behandelt sind. Etwas vom „Geist“ des BV-G Österreich (1920 / 1994) spiegelt sich in der Art und Weise, wie im „Ersten Hauptstück“ Staatsgebiet, Bundeshauptstadt, Sprache, Flagge und Wappen festgelegt werden (Art. 3, 5, 8 und 8 a). Deutlich anders gedacht bzw. „geschneidert“ sind die Verfassungen Portugals (1976 / 92) und Spaniens (1978 / 92). Portugal lädt die „Grundsätzlichen Bestimmungen“ mit der Staatsstrukturnorm und Staatszielen des Art. 2 auf, später folgt ein konzentrierter Staatsaufgaben-Artikel 9 und erst am Schluss wird die Flagge des Landes als „Symbol der Republik, der Unabhängigkeit, Einheit und Integrität Portugals definiert“ (Art. 11) und die Nationalhymne festgelegt. Damit ist der Grundwerte-Zusammenhang evident. Spanien bettet in seinem „Vortitel“ Sprache, Flagge und Hauptstadt (Art. 3 bis 5) ein in den Kontext seiner Grundwerte (z. B. Freiheit, Gleichheit und politischer Pluralismus (Art. 1 Abs. 1)) bzw. seines Rechtsstaatskonzepts (z. B. Art. 9: Vorrang der Verfassung, Publizität der Normen etc.). Damit sind die beiden typischen Text-Versionen vorgestellt: betont von der Staatlichkeit her gedachte Themen von symbolischem Rang einerseits, 62  Ähnlich jetzt wieder Art. 1 Verf. Benin (1990), Art. 1 Verf. Guinea (1991), Art. 1 Verf. Niger (1992). – Auch das Autonomie-Statut von Kantabrien (zit. nach A. Bar Cendon et al., Codigo Legislativo de Cantabria, 1994, S. 17 ff.) befasst sich schon in den Eingangs-Artikeln mit Staatssymbolen, Flaggen und Hymnen (Art. 2 und 3).



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im Kontext (anderer) Grundwerte platzierte, insofern normativ gedachte Symbol-Artikel andererseits. Zwischen beiden Regelungs-Typen variieren auch die neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen. Das sei an weiteren Beispielen belegt: Die Verf. Guatemala (1985) platziert den Staatssymbol-Artikel erst im Titel III „Der Staat“. Hier finden sich Festlegungen zum Staatsgebiet, zur Landessprache und zur Staatsbürgerschaft (Art. 142, 147). In den vorangehenden Artikeln wurden die Herrschaft des Rechts, die Verpflichtung des Staates auf das Gemeinwohl, die Pflichten des Staates (Präambel, Art. 1, 2) und die Menschenrechte sowie die sozialen Grundrechte mit (gelegentlich zu vielen) Staatsaufgaben behandelt (z. B. Art. 102 und 11963). Die Verfassung Namibias (1990) platziert die „Nationalen Symbole“ schon in Art. 2, im Kontext der inhaltlichen Anreicherung des Begriffs „Republik“ (Art. 1: „principles of democracy, the rule of law and justice for all“). Das dürfte für die innere und äußere Selbstbehauptung erforderlich sein. Länder, die sich in ihrer Identität erst noch finden müssen, indem sie sich etwa von ihrer Kolonialzeit verabschieden bzw. wie in Osteuropa und auf dem Balkan den Abschied vom Marxismus / Leninismus vollziehen, mögen gezielt auf das Sinnpotential nach vorn gerückter Staatssymbol-Artikel zurückgreifen. (Auf die neuen Verfassungen der Länder des „Arabischen Frühlings“ (seit 2011) darf man gespannt sein.) So nimmt sich Verf. Slowenien (1991) des Themas Wappen, Flagge, Hymne, auch Hauptstadt und Sprache in den „Allgemeinen Bestimmungen“ an (Art. 6, 10 und 11), nicht ohne vorweg verfassungsstaatliche Elemente wie Rechts- und Sozialstaat, auch Demokratie und Gewaltenteilung postuliert zu haben (Art. 1 bis 3). Die Verf. Turkmenistan (1992)64 – um gemäß der These vom großen Produktions- und Rezeptionszusammenhang der heutigen Verfassunggeber im Folgenden chronologisch vorzugehen – behandelt Staatsflagge, Staatssymbole und Hauptstadt im Abschnitt „Grundlagen der Verfassung“ am Schluss (Art. 14 und 15), nachdem zuvor diese Verfassung in ihren wesentlichen Elementen wie Rechtsstaat (Präambel), Vorrang 63  Die alte Verf. Peru (1979) relativiert das Staats-Kapitel, behandelt in ihm aber die Themen Amtssprache, Flagge (Art. 83 bis 85), Wappen und Nationalhymne als „Symbole des Vaterlandes“. – Ein reicher Katalog von nationalen Feiertagen findet sich in Art. 275 der Verf. von Haiti (1987), zit. nach JöR 42 (1994), S. 638 ff. 64  Die Verf. Russland (1993) behandelt die hier diskutierten Themen erst im Kapitel der „föderative Aufbau“. Territorium, Staatssprache, Flagge und Hymne sowie Hauptstadt sind hier in einem Zug und gleichen Kontext erörtert (Art. 67 bis 70). Die Verf. von Taiwan (1991) behandelt die „Nationalsymbole“ wie die Hymne in Art. 5 (im Kapitel zur Souveränität, Staatsbürgerschaft etc.), zit. nach JöR 41 (1993), S. 672. Das Grundgesetz von Hongkong (1990), zit. nach JöR 39 (1990), S. 620 ff. behandelt die spezielle Verwaltungsflagge in Art. 9. – Allgemein: O. Luchterhandt (Hrsg.), Rechtskultur in Russland: Tradition und Wandel, 2011.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

der Verfassung (Art. 5 Abs. 2), Schutz von Kultur und Natur (Art. 10) hinreichend charakterisiert worden ist. Die Verf. Estland (1992) rückt Staatssprache und Flagge an den Schluss der allgemeinen Bestimmungen (Art. 7), nachdem Präambel und Art. 1, auch Art. 5 die Grundwerte festgelegt haben. Die Verf. Litauen (1992) legt die entsprechenden Themen ähnlich am Schluss des Eingangs-Kapitels fest (Art. 14: Sprache, Art. 15: Flagge, Art. 16: Na­ tionalhymne, Art. 17: Hauptstadt). Damit ist eine „Quadriga“ an Staatssymbolen zum Text gemacht, wie dies eine weltweit vergleichende Verfassungslehre nicht besser leisten kann65 (s. auch Art. 4 Verf. Bangladesh, 1973). Die Verf. Ukraine (1996) nimmt sich des Themas „state symbols“ in Art. 20 an, der die „allgemeinen Grundsätze“ des ersten Kapitels abschließt. In diesem finden sich höchst konzentriert die neuen Grundwerte wie Art. 3 Abs. 2 („Individual rights and freedoms and the guarantee thereof determine the essence and aims of the activity of state“). Im südlichen Afrika findet die innovationsreiche Verfassung der Provinz KwaZulu Natal (1996) nach einer inhaltsreichen Präambel (z. B. „prosperous society for the present generation and posterity“) und einem bewährten Grundwerte-Artikel zu dem Kapitel „Features of the Province“. Hier werden „symbols“, „territory“, „language“ abgehandelt (Ziff. 1 bis 4)66. Art. 2 Verf. Namibia (1990) fixiert die „nationalen Symbole“ (wie Flagge, Hymne, Siegel und Motto), s. auch Art. 3 Verf. Sierra Leone (1991) und Art. 3 Verf. Gambia (1973). In Lateinamerika schreibt Art. 2 Verf. Ecuador von 2008 die Symbole des Vaterlandes fest. Gleiches leistet Art. 13 Verf. Nicaragua von 1986. Im Ganzen: Die Themen, die die herkömmliche Lehre unter dem Stichwort „Staatssymbole“67 behandelt, bleiben ein wichtiges Anliegen des welt65  Ähnlich Art. 8 bis 10 Verf. Slowakische Republik (1992) sowie Art. 12 bis 14 Verf. Rumänien (1991), die den Staat zuvor ebenfalls durch die Grundwerte wie Gerechtigkeit, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit definiert hat (Art. 1). Schon Verf. Kroatien (1991) in Art. 11 bis 13 und die Verf. Mazedonien (1991) behandelt die Staatssymbole (Art. 5) inmitten der übrigen verfassungsstaatlichen Themen wie Demokratie und Sozialstaat (Art. 1) und Grundwerte (vgl. die Liste in Art. 8 (u. a. Grundrechte, rule of law, Gewaltenteilung, freie Marktwirtschaft, Humanismus, Umweltschutz)). Dieser Art. 8 liest sich fast wie ein Lehrbuch zu den Grundwerten des Verfassungsstaates von heute („fundamental values of the constitutional order“). – Staatssprache, Hauptstadt und Staatssymbole sind auch in Verf. Aserbaidschan (1995) in ähnlichem Text und Kontext geregelt (Art. 21 bis 23). 66  Die Verf. Uganda (1995) nimmt sich in Kap. zwei „Die Republik“ der Staatssymbole, der Hauptstadt und der Flagge an (Art. 5, 6 und 8). – Vorbildlich geht Art. 2 Abs. 4 Verf. Sachsen (1992) vor („Hauptstadt, Landesfarben, Landeswappen“), insofern er im Grundlagenteil den Sorben in ihrem Siedlungsgebiet die gleichberechtigte Führung ihrer „Farben und Wappen“ eröffnet. 67  Vgl. die Einzelstudien des Verf.: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987 (portugiesische Übersetzung, Porto Alegre 2008);



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich59

offenen Verfassungsstaates angesichts des Istbestandes wie auch verfassungstheoretisch (Sollbestand). Auf der heutigen Entwicklungsstufe lassen sich freilich aussagekräftige Veränderungen der Kontexte beobachten. Einen paukenschlagartigen Beginn mit den „Staatssymbolen“ leisten sich nur noch wenige Länder. Sprache, Staatsgebiet, Flagge und Hymne, auch Hauptstadt rücken in differenzierte Zusammenhänge, die sie mit den verfassungsstaatlichen Grundwerten verbinden. Hier haben sie ihren Platz, da auch und gerade die Verfassung des Pluralismus grundierender Inhalte bedarf: aber eben in einem Gemeinwesen, in dem der Staat „um des Menschen willen da ist“ (Verfassungsentwurf Herrenchiemsee von 1948) und das die einenden Symbole des Ganzen der offenen Gesellschaft nicht „an und für sich“ als Stück Staat versteht, sondern als ein Stück inhaltlicher Öffentlichkeit: für alle Büger und Gruppen der pluralen Zivilgesellschaft. 6. Verfassungsrechtliche Aspekte der kulturellen Identität Einleitung, Problem Die Aktualität dieser Fragestellung68 ist denkbar groß: auf nationaler und auf europäischer Ebene, ja auf Weltebene. Angesichts der rasanten „Globalisierung“ einerseits, der in vielen Verfassungsstaaten sich entwickelnden „Föderalisierung“ und „Regionalisierung“ andererseits, angesichts der Zweifel am ufer- und schrankenlosen (Welt-)Markt beobachten wir weltweit eine Wiederbesinnung auf Kultur als identitätsstiftende Kraft, auf kulturelle Freiheit als direkt menschenwürdebezogene Freiheit (im Unterschied zur wirtschaftlichen Freiheit mit ihrer nur instrumentalen Bedeutung), auf kulturelle Differenz (Vielfalt bis hin zum Minderheitenschutz). „Kultur“, eine Schöpfung Ciceros, erlebt derzeit auf vielen Feldern eine eindrucksvolle Themenkarriere: man denke an das Ringen um den Schutz der kulturellen Identität des Menschen (auch im Datenschutz greifbar), den Schutz der vielgestaltigen Minderheiten ganzer Völker oder Regionen wie Europas oder Lateinamerikas oder an das UNESCO-Übereinkommen zur „kulturellen Vielfalt“ (2005). Stichworte sind darüber hinaus: „Weltbürgertum aus Kunst und Kultur“, „Kultur der Freiheit“69, Religion, Kunst und Wissenschaft als Trias der den Menschen auszeichnenden Grundfreiheiten, Kultur aber auch als Gegensatz zur Natur als das nicht vom MenNationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007 (spanische Übersetzung 2012); Nationalflaggen, bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 68  Zum Folgenden – jetzt überarbeitet – der für Italien verfasste Beitrag in: JöR 55 (2007), S. 317 ff. – Der Verf. hat als Herausgeber des JöR viele Autoren und Aufsätze zu Berichten über die Beiträge ihrer Länder zur Europäischen Rechtskultur angeregt; vgl. etwa JöR 52 (2004), S. 1 ff.: P. Ridola für Italien, F. Balaguer für Spanien, C. Grewe für Frankreich. 69  Dazu mein Beitrag: Aktuelle Probleme des Föderalismus in: Die Verwaltung 1991, S. 169 (184).

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

schen Geschaffene, ihm aber ebenfalls Unentbehrliche. Auch eigene Begriffe von „Grundrechtskultur“ bzw. „Verfassungskultur“ seien erwähnt. Zuletzt hat sich der Begriff „Erinnerungskultur“ eingebürgert. Für Deutschland dürfte D. Sternberger „Verfassungspatriotismus“ aussagekräftig bleiben, allgemein der Begriff „Rechtskultur“. Nach Bundespräsident H. Köhler ist die Verantwortung für die Shoa ein „Teil der deutschen Identität“ (FAZ vom 3. Februar 2005, S. 1, jüngst (Frühjahr 2012) von Bundespräsident J. Gauck relativiert). Es ist wohl kein Zufall, dass das Projekt der italienischen CNR unter der Leitung von A. D’Atena mit dem Namen „Kulturelle Identität“ gerade in Italien vorangetrieben wird: Denn kaum ein Land der Erde kann so wie Italien seine kulturelle Identität als reiches Erbe leben, keines leistet personell und finanziell so viel für den Schutz der Kulturgüter, hat so viele Kulturlandschaften und Städtebilder hervorgebracht und hat so viele Kunstepochen geschaffen (man denke nur an die Renaissance und den Humanismus (Florenz), auch den Barock (Rom)), und wohl nur Italien hat so viele Beiträge zum UNESCO-Weltkulturerbe geleistet. Freilich: „Quer“ dazu standen manche Initiativen der seinerzeitigen Regierung Berlusconi in Rom, die mit ihrer „Vergottung“ von Markt und Wettbewerb, ihrer monopolistischen, nicht pluralistischen Me­ dienpolitik und ihrer primären Orientierung an der wirtschaftlichen Macht und der „Effizienz“ manchen Italienliebhaber wie den Verfasser irritieren oder gar auf die „Probe“ stellen (bis 2011). Sogar die Wissenschaft, die Universitäten sollen ökonomisch und effizient arbeiten, wie ein Unternehmer, welch eine Verkennung ihres Auftrags! (in Sonderheit der Grundlagenforschung.) Die Staatsgewalt geht kulturell vom Volk (von den Bürgern) aus, nicht von den Märkten! Das politische Gemeinwesen beruht auf der Würde und Arbeit seiner Bürger und nicht auf der Wirtschaft.Viele Kulturelles-Erbe-Klauseln erinnern daran, auch im Völkerrecht. Dass das Thema „Kulturelle Identität“ nur im interdisziplinären Gespräch gelingen kann, liegt auf der Hand. Indes überschreitet diese Forderung die begrenzten Möglichkeiten des Autors. Er vermag nur von seinem kulturwissenschaftlichen Ansatz her70, z. T. in den Spuren einer deutschen Tradition, einige verfassungsrechtliche Fragen aufzuwerfen und Tore zu öffnen, nicht selbst hindurch zu gehen: Europa als „Mutterland“ mit den Nationen als „Vaterländern“. Im Jahre 2003 fragten J. Derrida und J. Habermas gezielt nach der „europäischen Identität“ (Stichworte sind das „Kerneuropa“, das sogenannte „alte Europa“). 1973 war es zu einer Erklärung der Staats- und Regierungsschefs der EWG über die europäische Identität gekommen. Europa als „Wertegemeinschaft“ ist bis heute ein wichtiges Schlagwort, gerade auch in der Schuldenkrise von 2011 / 12, die Solidarität fordert. I. Bestandsaufnahme verfassungsrechtlicher, europarechtlicher und völkerrechtlicher Texte Beginnen wir – dem Programm einer nationalen und europäischen sowie ins Universale ausgreifenden Verfassungslehre und ihrem Konzept als „juristischer Textund Kulturwissenschaft“ gemäß – mit einer Bestandsaufnahme von Rechtstexten. An ihnen mag sich dann die Theorie „inspirieren“, wenn man will „entzünden“, und 70  Begründet in dem Buch: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982) sowie Kulturpolitik in der Stadt (1979).



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich61

eben diese Basis der geschriebenen Texte samt ihren „Textstufen“ ist es auch, die den etwaigen (spekulativen) Höhenflug der Theorie zu kontrollieren vermag. In drei Arbeitsfeldern finden sich Beispiele für Normenensembles und Textgruppen, die Ausdruck kultureller Identitätsvorstellungen sind: im nationalen Verfassungsrecht, im Europäischen Verfassungsrecht und im Völkerrecht, das in Teilgebieten auf dem Weg zu einer „Konstitutionalisierung“ ist. Im Einzelnen geht es um: –– Europäische Kulturelles-Erbe-Klauseln, früh das Europäische Kulturabkommen von 1954: Art. 1, 5 (sie wurden schon vor 20 Jahren systematisiert)71, zuletzt Art. 128 Abs. 1 und 2 EGV von 1992; Art. I Art. 3 Abs. 3 VE von 2004; Art. III 181 lit. b Abs. 3 ebd. bzw. Art. 167 Abs. 1 AEUV; –– Kulturelles-Erbe-Klauseln: Art. 8 Abs. 3 Verf. Albanien; Art. 23 Verf. Bulgarien; Art. 44 Abs. 2 Verf. Slowakei (1992); Art. 73 Verf. Slowenien (1991); Präambel und Art. 143 Satz 2 Verf. Guatemala (1985); weitere Beispiele: Art. 41 Abs. 9 Verf. Äthiopien (1994), Art. 9 Verf. Kosovo (2008), Art. 11 Verf. Kenia (2010); –– Nationale Kulturelles-Erbe-Klauseln: Art. 6 Abs. 1 Verf. Polen (1997): „Güter der Kultur, welche die Quelle der Identität des polnischen Volkes ist“; s. auch Präambel Verf. Niger (1990): Sorge für die „kulturelle und geistige Identität“; Schutz des „patrimonio cultural“ (Art. 377 bis 379 Verf. Ecuador (2008)); –– Nationale Identitätsklauseln: Art. 46 Verf. Spanien, Art. 34 Abs. 2 Verf. Brandenburg, vor allem im und vom Europäischen Verfassungsrecht her, z. B. Art. F Abs. 1 EUV72, jetzt Art. 4 Abs. 1 EUV bzw. AEUV, Art. 6 Abs. 3 EUV, Europäischer Verfassungsvertrag von 2004 (Präambel) sowie Grundrechtecharta von 2000 (Präambel); Präambel und Art. 3 Verf. Albanien; Art. 2 Verf. Sáo Tomé und Princípe (1990); sie alle sichern rechtskulturelle Partikularität; –– Europäische Identitätsklauseln: Präambel und Art. 2 EUV (alt) bzw. Präambel AEUV (2007) und Art. 3 Abs. 3 AEUV; –– Nationaler Kulturgüterschutz: Art. 78 Abs. 2 lit. c Verf. Portugal („gemeinschaftliche kulturelle Identität“); er sichert nationale Partikularität; –– das Recht des Einzelnen auf eine „Kultur des Friedens“ (Art. 3 Ziff. 8 Verf. Ecuador (2008)); ins Völkerrecht weiter zu denken; –– auf Minderheitenschutz bezogene Identitätsklauseln: z. B. Art. 25 Abs. 1 Verf. Brandenburg; Art. 5 Abs. 2, Art. 6 Verf. Sachsen; Art. 48 Abs. 2 Verf. Mazedonien (1991); Art. 76 Abs. 1 Montenegro (1992); Art. 35 Abs. 2 Verf. Polen; Art. 16 Verf. Rumänien (1991); Art. 64 Abs. 1 Verf. Slowenien (1991); s. auch Art. 114 Verf. Lettland von 1922 / 94: „kulturelle Eigenheiten“; –– plurikulturelle und multiethnische Identitätsklauseln (Art. 380 Ziff. 1 Verf. Ecuador (2008)); sie sind ins Völkerrecht zu „verlängern“; –– auf Kirchen und Religionsgesellschaften bezogene Identitätsklauseln: z. B. I Art. 51 Abs. 3 EUV-Entwurf von 2004 bzw. Art. 17 Abs. 3 AEUV (2007); 71  Vgl. P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 267, 284, 326, 330, 646 ff. u. ö. Allgemein ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 54 ff., 489. 72  Dazu BVerfGE 89, 155 (189).

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

–– auf Autonomiestatute zielende: Art. 147 Abs. 2 lit. a Verf. Spanien: („historische Identität“); s. auch Art. 1 Abs. 1 des Regionalstatuts von Valencia (1982 / 2006), Präambel Regionalstatut der Balearen (1983 / 2004), ein Stück Partikularität; –– auf einzelne Weltregionen zielende Gemeinschafts- bzw. Identitätsklauseln, etwa in Bezug auf Lateinamerika: z. B. Präambel Verf. von Kolumbien von 1991; Art. 6 Abs. 2 Verf. Uruguay von 1992, oder in Gestalt von Bekenntnissen zu Afrika und seiner „Einheit“: vgl. Präambel Verf. Liberia von 1983; Präambel Verf. Burundi von 1992; Präambel Verf. Mali von 1992; Präambel Verf. Senegal von 1992; –– auf den Einzelmenschen (die Person, das „Subjekt“) verweisende Schutz- bzw. Identitätsklauseln: Art. 26 Abs. 1 Verf. Portugal, Art. 58 Verf. Guatemala, Art. 21 Abs. 1 Verf. Ecuador von 2008; Art. 10 Verf. Moldau von 1994 (Recht auf „ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität“). Schon diese, bisher wohl noch nicht erarbeitete weltweite Bestandsaufnahme ist mehr als ein bloßer „Steinbruch“ für die universale Verfassungslehre. Von diesen „offenen“ (erklärten) „Identitätklauseln“ zu unterscheiden sind die „verdeckten“, d. h. nicht wörtlich mit dem Begriff „Identität“ arbeitenden, von ihm aber geprägten, durch Interpretation erschlossenen Textensembles. Hierzu gehören neben Sprachen-Artikeln und Erziehungszielen73 Feiertagsgarantien, nationale wie der 4. bzw. 14. Juli, oder neu der 3. Oktober als „Tag der deutschen Einheit“ (kurzfristig Ende 2004 typischerweise vom deutschen Finanzminister und damaligen Bundeskanzler als Handelsware in Frage bzw. zur Disposition gestellt) und weltweite Feiertage wie der 1. Mai, sodann Nationalhymnen, europaweit praktisch jetzt gelebt, Beethovens „Neunte“, Flaggen74, Wappen und Währungen, in manchen Ländern auch „Hauptstädte“75 (z. B. Art. 1 Abs. 3 Verf. Sachsen-Anhalt; Art. 11 Verf. Portugal: „Symbol der Einheit und Integrität“; s. auch Art. 169 Verf. Bulgarien (1991); Art. 17 Verf. Litauen (1999): „uralte historische Hauptstadt Litauens“; § 74 Verf. Ungarn (1949  /  90), jetzt Art. F neue Verf. Ungarn von 2012, zuvor Art. 4 Abs. 3 Verf. Ecuador von 2008). Nur in einem tieferen – kulturwissenschaftlichen – Ansatz kann erkannt werden, dass und wie diese Normen oder Institutionen tiefgründig die Identität eines Volkes bzw. nationalen Verfassungsstaates begründen und prägen. Z. B. ist die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG eine verfassungsstaatliche Identitätsgarantie76 (s. auch Art. 288 Verf. Portugal von 1976; Art. 148 Verf. 73  Dazu mein Beitrag FS Pedrazzini: Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten, 1990, S. 105 ff.; P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. Dazu noch unten S. 360 ff. 74  Vgl. BVerfGE 81, 278 (297). 75  Vgl. P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S.  989 ff.; C. Seiferth Die Rechtsstellung der Bundeshauptstadt Berlin, 2008; M. Haedrich, Der Rechtsstatus von Jerusalem und die Hauptstadtfrage, JöR 55 (2007), S. 403 ff. Neue konstitutionelle Texte z. B. Art. 18 Verf. Venezuela (1999), Art. 50 (a) Verf. Myanmar (2008). 76  Dazu P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, FS Haug, 1986, S. 81 ff.; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR, Bd. I, 1987, S. 775 ff. (3. Aufl., Bd. II, 2004, § 21).



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Rumänien von 1991; Art. 130 Verf. Guinea-Bissau von 1993; Art. 225 Verf. Tschad von 1996). Sie umschreibt den nationalen Grundkonsens. Die Nationalsprache im Singular oder (wie in der Schweiz) im Plural, in Sprachen-Artikeln vielgestaltig geschützt (z. B. Art. 74 Abs. 2 lit. h Verf. Portugal, Art. 3 Verf. Spanien, Art. 5 Verf. Äthiopien von 1994, § 17 GG Finnland von 2000, Art. 2 Abs. 2 Verf. Ecuador von 2008), gehören ebenso hierher wie der Verweis auf die Verfassungsgeschichte, besondere Ereignisse wie Revolutionen oder die nationale Einheitsbildung sowie große (ggf. utopische) Zukunftshoffnungen wie einst von 1949 bis 1989 in Deutschland die deutsche Wiedervereinigung, in Irland die irische (Art. 3 Verf. Irland von 1937 / 92). Solche Grundwerte sind oft in Präambeln77 fixiert, welche Sprachform und verfassungsrechtliche „Kunstgattung“ sich überhaupt meist besonders reichhaltig mit Elementen kultureller Identität befasst und so das politische Gemeinwesen verfasst. Nahe liegt die These: Es gibt kulturelle Identität aus der – interpretierten – Verfassung bzw. ihren Teilen. Besonders ergiebig sind „Geist“-Klauseln (z. B. Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 30 Abs. 1 Verf. Berlin, Art. 131 Abs. 3 Verf. Bayern, Präambel Verf. Hamburg, Art. 222 Abs. 1 AEUV: „Geist der Solidarität“, Art. 20 Abs. 4 (b) Verf. Kenia von 2010) – ein Stück Montesquieu in Verfassungstexten. Schließlich „versteckt“ sich in Art. 35 Abs. 1 Deutscher Einigungsvertrag von 1990 ein Stück Identität Deutschlands („In den Jahren der deutschen Teilung waren Kunst und Kultur … eine Grundlage der fortbestehenden Einheit des deutschen Volkes“: Kultur als Kontinuitätselement). II. Ein Theorierahmen 1.  Der kulturwissenschaftliche Ansatz (eine erneuerte Annäherung) Der Theorierahmen kann hier nur skizziert werden. Er findet sich in dem seit 1979 / 82 vom Verf. versuchten „kulturwissenschaftlichen Ansatz“, der hier in Stichworten wiederholt sei: Ausgangspunkt ist ein offenes, pluralistisches Kulturkonzept mit den im Verhältnis zueinander durchlässigen Kategorien der „Hochkultur“ (des Wahren, Guten und Schönen), der „Volkskultur“, besonders lebendig in Lateinamerika (Indios und andere Eingeborenenkulturen) sowie in der Schweiz (z. B. als Folklore) und den Alternativ- bzw. Subkulturen (vom Fussball bis zu den Beatles oder besser umgekehrt). Mischungen finden sich in Begriffen wie höfische und bürgerliche Kultur oder Arbeiterkultur. Anliegen des kulturwissenschaftlichen Konzepts ist es, das Tiefgründige „hinter“ den Normtexten Stehende zu erfassen; das juristische Regelwerk ist nur eine Dimension. Vergegenwärtigt werden kann so die geschichtliche Dimension, z. B. das kollektive, kulturelle Gedächtnis eines Volkes, auch seine „Errungenschaften“ oder Traumata und Wunden („Schicksal“) – wie in der Ukraine „Tschernobyl“ (Stichwort: „Erfahrungswissenschaft“). Aus „Verfassungsgeschichte kommt („gerinnt“) ein Stück Identität („Verfassungspatriotismus“, 77  Dazu P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broer­ mann, 1982, S. 211 ff.; fortgeschrieben in: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 920 ff. Ein jetzt wohl durch die Wirklichkeit „überholtes“ Textbeispiel: Prämbel Verf. Serbien von 2006 in Bezug auf den Kosovo als „integralen Teil“ Serbiens.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

D. Sternberger). Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es also nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Damit werden klassische Verfassungskonzepte nicht hinfällig: etwa Verfassung als „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner), als „Anregung und Schranke“ (R. Smend), als Beschränkung von Macht und Gewährleistung eines freiheitlichen Lebensprozesses (H. Ehmke) bis hin zum neuen Konzept von der „Verfassung als öffentlicher Prozess“ (1969), aber sie behalten nur eine – freilich unverzichtbare – relative Aussagekraft (das „gemischte Verfassungsverständnis“). In Europa ist wichtig, dass der schrittweise seit 1957 legitimierte Einigungsprozess („Rom“, zuletzt „Nizza“, „Brüssel“ und „Lissabon“) als kultureller Vorgang begriffen wird, nicht primär als ökonomischer. Testfälle sind der seinerzeitige Streit um den Gottesbezug in einer europäischen Verfassung und bis heute die Kontro­verse um die Aufnahme der Türkei und Serbiens, eines Tages vielleicht auch der Ukraine. Methodisch macht dieser Ansatz den Weg frei für „kulturelle Verfassungsver­ gleichung“ (1982) als Erarbeitung des Gleichen und Ungleichen, für die Idee der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode (1989), jetzt vom Verfassungsgericht Liechtenstein rezipiert und praktiziert (2003). Inhaltlich wird es möglich, das Werden einer europäischen Öffentlichkeit (zum Beispiel präsent beim Auftritt des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, 2012) dank Politik und Verfassung aus schon vorhandener kultureller Öffentlichkeit zu begreifen und dem Kulturverfassungsrecht in den nationalen Verfassungen wie in der europäischen einen besonders hohen Stellenwert einzuräumen, im Kontext der Grundwerte-Artikel und auf der Basis der kulturellen Freiheiten des Bürgers bzw. der Kulturkompetenzen der Res publica. Begriffe wie „Verfassungskultur“ und „Grundrechtskultur“ (1979 / 82) lassen sich erst in diesem Theorierahmen entwerfen und gebrauchen. Der Begriff „Rechtskultur“, auch auf das Zivilrecht und Strafrecht78 bezogen, liegt nahe. Die europäische Rechtskultur konstituiert sich aus den sechs Elementen: Geschichtlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit der Rechtsprechung, konfessionelle (unterschiedlich religionsfreundliche) Neutralität des Staates, Vielfalt und Einheit, Partikularität und Universalität. Darüber hinaus wird die Idee einer Weltrechtskultur möglich, auch vom universalen Völkerrecht her.

78  Aus der Lit.: U. Sieber (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2010; Strafrechtsvergleichung als Kulturvergleich, 2012 (hrsg. von F. Streng u. a.).



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich65 2. Die Frage nach der „Identität“ (philosophisch)

Die Frage nach der Identität (vielleicht übersetzbar mit „Eigenständigkeit“, „Eigentümlichkeit“, „Wesen“ oder auch „Integrität“) ist in diesen Kontext einzubetten. Philosophische Identitätstheorien von Platon bis Hegel sind abzulehnen, weil sie einem ganzheitlichen Ansatz verpflichtet sind und leicht in totalitäre Ideologien münden. Klassikertext ist m. E. der Kritische Rationalismus eines Sir Popper. Er gibt auch philosophisch den Weg frei für alle Arten von Pluralismus: von der „Verfassung des Pluralismus“ (1980) bis zum kulturellen Trägerpluralismus (1979), etwa in Bezug auf Medien, Gruppen, Kirchen, Verbände. M. a. W.: Im weltoffenen Verfassungsstaat als Typus gibt es ebenso wie im sich verfassenden Europa eine Vielfalt von Identitäten auf allen Ebenen, in vielen Feldern. Es gibt aber nichts Übergreifendes, das „identitätsphilosophisch“ zu umschreiben wäre. Alle Fragen nach der Identität dürfen sich nicht in die Totalitäts-Falle verführen lassen. Die punktuelle, auf ein Einzelproblem bezogene Frage nach dem „Wesen“ bleibt möglich, ist mitunter sogar geboten (etwa bei den grundrechtlichen Wesensgehaltgarantien seit Art. 19 Abs. 2 GG, auch in Osteuropa und auf dem Balkan vielfältig normiert und sogar in Afrika bekannt79), doch geht es nicht um eine phänomenologische „Wesensschau“, sondern um konkrete juristische Arbeit an Prinzipien und Regeln, Fallpraxis und Präjudizien. Gleiches gilt auch für Art. 19 Abs. 3 GG („Wesen“) und seine Nachfolgenormen (Art. 5 Abs. 3 Verf. Brandenburg, Art. 37 Abs. 2 Verf. Sachsen, Art. 3 Verf. Peru von 1979, Stichwort: Geltung der Grundrechte für juristische Personen). Für „GeistKlauseln“, im Grunde „Montesquieu“, gilt nichts anderes. Ein Buch vom „Geist der Verfassungen“ wurde leider noch nicht geschrieben. Es wäre die Krönung aller wissenschaftlichen Arbeit am völkerrechtsoffenen Verfassungsstaat der universalen Gelehrtenrepublik: die universale Verfassungslehre! 3. Die Frage nach der kulturellen Identität als Bezugsfrage Die hier gestellte Frage nach der kulturellen Identität ist also bescheiden anzugehen, prinzipiell konkret, nicht „hoch philosophisch“. Stets sollte der Bezug auf Konkretes hergestellt werden: auf Menschen bzw. Bürger, auch Minderheiten und Gruppen (ihre Identität), auf Verfassungsstaaten und ihre inneren Strukturierungsformen (wie Regionen und Länder, auch Kommunen), auf großräumige Regionen wie „Lateinamerika“ oder Europa, in Teilen des Völkerrechts sogar auf die „Welt“, Stichwort: Kulturgüter der Menschheit80, universale Menschenrechte, aber auch auf den Einzelnen (seine Identität, nicht zuletzt als Staatsbürger). Von den erwähnten Texten und ihren Kontexten kann man „lernen“. So, wenn es in § 50 Verf. Estland heißt: „Minderheiten haben das Recht, im Interesse ihrer Volkskultur … Selbstverwaltungseinrichtungen zu 79  Dazu der Nachweis in: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7.  Aufl. 2011, S. 341 ff. u. ö., z. B.: Art. 17 Abs. 2 Verf. Albanien (1998); § 11 Verf. Estland. Auch neue Verfassungen in Afrika verweisen auf das „Wesen“ von Menschenrechten, z. B. Art. 24 (2)(c) Verf. Kenia von 2010. – Eine Identitätsklausel ist der Sache nach auch Art. 3 Verf. Afghanistan: „Kein Gesetz kann erlassen werden, wenn es sich gegen den islamischen Glauben und die islamischen Grundwerte richtet.“ 80  Zum Weltkulturerbe: P. Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011, S.  123 ff.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

gründen“; wenn sich Präambel Verf. Georgien auf die „jahrhundertealte Tradition der Staatlichkeit des georgischen Volkes und die (!) georgische Verfassung von 1921“ beruft; so wenn die Präambel Verfassung Kroatien von 1990 auf die „staatsbildende Idee des historischen Rechts des kroatischen Volkes“ Bezug nimmt; so wenn die Präambel Verfassung Litauen von 1992 auf den „Geist (sc. des Volkes), seine angestammte Sprache, seine Schrift und sein Bräuche“ verweist und Art. 25 Abs. 1 Charta Tschechien von 1992 den Minderheiten ihre „Muttersprache“ garantiert. Auffallend bleibt, dass vor allem in Osteuropa und in den „Entwicklungsländern“ neue Identitätsklauseln normiert werden. Ungarn hat die reifste identitätsphilosophische Textstufe in seiner (alten) Verfassung von 1949 / 1990 gefunden, insofern § 68 Abs. 2 Elemente des Minderheitenschutzes nennt: „kollektive“ Teilnahme am öffentlichen Leben, die Pflege ihrer eigenen Kultur, den Gebrauch ihrer Muttersprache, Unterricht in ihrer Muttersprache und das Recht auf Gebrauch des Namens in der eigenen Sprache“. Art. 11 Verf. Ukraine (1996) spricht von „Wesenszüge(n) aller alteingesessenen Völker und nationalen Minderheiten der Ukraine“. Auch das klassische „Wir“ – the people (zuletzt Verfassung Albanien von 1998, Präambel) gehört hierher. Insgesamt ergibt sich also kein identitätsphilosophisches Bild im „Großen und Ganzen“, sondern eine Pluralität von Teilen, die kulturell grundiert ist und punktuell bleibt. Man darf von „Mosaik“ sprechen, das freilich keinen zwingenden Rahmen hat, allerdings durch die Verfassung des Pluralismus konstituiert ist. „Identität“ ist nur durch Kultur möglich, nicht durch Wirtschaft. Der Begriff ist vielleicht „ideologiegefährdet“, doch lässt er sich je nach Kontext oft durchaus juristisch handhaben, nicht nur dort, wo er als geschriebener Text auszulegen ist, weil er verbindlich ist. III. Konkrete Beispielfelder Konkrete Beispielfelder geben dem hier gewählten Ansatz Gestalt und Farbe. Viele wurden schon genannt. Betont sei eigens die Identität, die aus Kommunen erwachsen kann, greifbar zumal in „europäischen Städten“81, die „Kulturhauptstädte“ wurden (etwa Athen, Lille, Thessaloniki, jüngst Cork, 2011 das Ruhrgebiet, 2012 Maribor und Guimaraes), die „Städtebilder“ sind (wie in großer Vielzahl die Kommunen in Italien). Erwähnt sei die offene sog. kulturelle Bundesstaatstheorie, die für die Regionen Spaniens und Italiens, auch wachsend Großbritannien, fortzuschreiben wäre i. S. von „Regionalistic Papers“. Vor allem in Süddeutschland, seit der Wende 1989 in Ostdeutschland, erkennen wir die Ergiebigkeit eines Verständnisses des Föderalismus aus der Vielfalt der Kultur (Thüringen mit Goethe / Schiller, Sachsen mit J.  S. Bach in Leipzig). Die Einzelelemente der „Stiftung“ kultureller Identität, ihrer „Prägung“ sind wohl offen, prozesshaft, vom geschichtlichen Wandel abhängig. Vielleicht gibt es das Paradox, dass sich auch die „Identität“ wandelt. Offen sind auch der Kreis der Beteiligten und die informellen sowie formelle Verfahren. So können Lebenswerke großer Persönlichkeiten etwa N. Mandelas in Südafrikas „Nation building und Constitution making“ nationale Identität stiften bzw. ein „Wir-Gefühl“ hervorrufen: in 81  P. Häberle, Die europäische Stadt – das Beispiel Bayreuth, BayVBl. 2005, S.  161 ff.



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den USA ein G. Washington, in Italien ein G. Verdi mit Nabucco als „geheimer Nationalhymne“, in Tschechien V. Havel. Für Frankreich wäre der Mythos „Jeanne d’Arc“ zu nennen (2012 ist sie besonders präsent). Verfassunggebung und Verfassungsänderung sind formalisierte Verfahren möglichen Identitätswandels. Das „kulturelle Gedächtnis“ eines Volkes muss reich sein, um es im Gang der Geschichte „im Innersten zusammenzuhalten“ (es wird oft in Präambeln beschworen). Seine Zukunftshoffnungen (in der Ukraine vielleicht die seit 2011 stockende Wendung nach Europa dank der Revolution in „Orange“, in der sich das Volk Ende 2004 (wie die Libyer 2012) sein Wahlrecht erkämpft hatte und der „Runde Tisch“ als kulturelles Gen der „Menschheit“ wie zuvor in Polen in den 80er Jahren wiederkehrte), müssen glaubhaft sein, auch wenn es immer ein „Utopiequantum“ geben mag. In Deutschland ist das Wort von T. Mann vom „europäischen Deutschland“ ein solcher identitätsstiftender Klassikertext82 geworden. Hingegen wurde J. Habermas’ Wort vom „DM-Nationalismus“ plötzlich (zugunsten des einheitsstiftenden, 2012 gefährdeten Euro) hinfällig. Überhaupt sind Klassikertexte ein Reservoir für kulturelle Identitätsbildung: in Frankreich die Menschenrechte von 1789, in Israel die Unabhängigkeitserklärung von 1948, so oft sie in der Vergangenheit und heute verletzt wird, in der Schweiz F. Schillers „Wilhelm Tell“ und der gewachsene Föderalismus. Die viel zu wenig bekannte israelische Unabhängigkeitserklärung von 194883 lautet: „Der Staat Israel wird sich für die Entwicklung dieses Landes zum Wohl all seiner Bewohner einsetzen. Er wird auf den Prinzipien von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden aufgebaut, und die Visionen der Propheten Israels werden ihm den Weg weisen; dieser Staat räumt allen seinen Bürgern die gleichen sozialen und politischen Rechte ein, unabhängig von Unterschieden ihres Glaubens, ihrer Rasse und ihres Geschlechts; er wird Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, freie Rede, freie Erziehung und Kulturfreiheit gewährleisten.“ Die Realpolitik Israels und der langjährige Kampf um ein eigenes Palästina für die Palästinenser stehen freilich gegen diesen Text. Das Völkerrecht versagt. Im sich vereinenden Europa dürfte eine behutsame „Identitätpolitik“ geboten sein: ohne Eurozentrismus und Ausgrenzung (etwa zu den USA hin). Die „Unionsbürgerschaft“ ist ein Element der „europäischen Identität“, vor allem das Wahlrecht. Die Präambel des EU-Verfassungsentwurfs von 2004 (und seine Nachfolgetexte im Vertrag von Lissabon, 2007) ist ein Stück „Identitätspolitik“. Doch gilt auch hier das Wort von Claudio Magris (Die Welt vom 26. März 2004, S. 6): „Europa ist die Würde des Einzelnen gegen alles Totalitäre“. Der klassische, unverlierbare Beitrag Griechenlands in Philosophie, Dichtung, bildender Kunst und Sprache sei im Europa von 2012 in Erinnerung gerufen („Griechenlandhilfe“ aus Solidarität). Ausblick In diesen Beispielen zeigt sich auch, wie der kulturwissenschaftliche Ansatz auf die Zuarbeit anderer Disziplinen, etwa der Geschichtswissenschaft und der Soziolo82  Klassikertexte

im Verfassungsleben, 1981. nach D. Barenboim, Das Versprechen der Väter, Süddeutsche Zeitung vom 14. Mai 2004, Nr. 111. Er ist ein Weltbürger der Musik. 83  Zit.

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gie, angewiesen ist. Bei Rom hat Ende der 90er Jahre in der Villa Mondragone ein ergiebiges Diskussionsforum stattgefunden (auch hier war führend A. D’Atena beteiligt84). Der Verfassungsstaat „aus Kultur“ und „als Kultur“ gewinnt aus all dem sein Gesicht, der völkerrechtsoffene universale Konstitutionalismus wird möglich.

7. „Republik“ / „Verfassungsstaatliche Monarchie“ a) Die Wiederbelebung der Republikklausel: Ein Beispiel für verfassungskulturelle Wachstumsprozesse Am Beispiel des Verfassungsprinzips „Republik“ (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 2 GG) zeigt sich, wie stark das Verfassungsrecht in „kulturelle Wachstumsprozesse“ eingebettet ist, wie sehr juristische Interpretationsvorgänge vom Kulturellen, nicht primär Juristischen abhängig sind: sachlich und personal, und wie eine wenig beachtete „formaljuristische“ Bestimmung „im Laufe der Zeit“ Leben (wieder)gewinnt bzw. aus der kulturellen Am­ biance aktualisiert wird, sich aber auch wandelt: als Teil kultureller (Re-) Produktion und aktiver Rezeption („constitutio crescit“). Die Republikklausel war seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland wissenschaftlich zunächst vernachlässigt worden. Ungeachtet verschiedener Wiederbelebungsversuche durch Hinweis auf den Bezug zur „res publica“ und „salus publica“85 ist die der Allgemeinen Staatslehre entlehnte bloß negative Definition vorherrschend: Republik als „Nichtmonarchie“86. In den 70er Jahren kamen Anstöße aus dem kulturell-politisch-literarischen Raum, die sich um neue bzw. positive Sinngebung bemühen und den Begriff zu „besetzen“ trachten: Denkern und Dichtern gelangen kulturelle Vorleistungen. Erinnert sei an die „Briefe zur Verteidigung der Republik“, die weniger Juristen denn Literaten (namentlich z. B. H. Böll, N. Born, D. Kühn, H.-E. Nossack oder M. Walser) schrieben, oder an W. Jens’ „Republikanische Reden“ (1979). Erst danach haben sich Juristen wieder der Sinnfülle des Republik-Begriffs erinnert87. Sie arbeiten ex post: bewusst oder unbewusst 84  Vgl. die Bände von A. D’Atena, L’Italia verso il „federalismo“, 2001; ders. (Hrsg.), Le regioni e l’unione europeo, 2002; ders. (Hrsg.), Federalismo e regionalismo in Europa, 1994. 85  K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 56 f.; 1. Aufl. 1967, S. 50 f., 103; P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 708, 728 (2. Aufl. 2006). Zum Folgenden schon – jetzt überarbeitet – ders., Verfassungslehre, a. a. O., S.  999 ff. 86  Vgl. z. B. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 5. Neudruck der 3. Aufl. 1928, 1959, S. 711. – Das 74spaltige Sachregister von: Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966 (1028 S.) kennt das Stichwort „Republik“ gar nicht. 87  Vgl. etwa K. Löw, Was bedeutet „Republik“ in der Bezeichnung „Bundesrepublik Deutschland“?, in: DÖV 1979, S. 819 ff.; J. Isensee, Republik – Sinnpotential



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beflügelt durch kulturelle Reproduktion. Darum ist auch das Kulturverfassungsrecht als Umhegung des Schöpferischen so wichtig. Die „Republik“ wird jetzt i. S. von „freiheitlich“, „demokratisch“ und „verantwortlich“ verstanden. Einmal so (re)aktiviert, kann die „Republik“ von allen Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft gelebt und in allen Formen – als Rechtssatz und als Erziehungsziel – juristisch und pädagogisch verwirklicht werden. Dieses materiale Republikverständnis hat in Europa eine Bewährungsprobe schon bestanden: P. Picasso hatte testamentarisch verfügt, das Bild „Guernica“ dürfe erst dann nach Spanien gebracht werden, wenn dort die „Republik“ wieder eingeführt sei. Diese Bedingung war von den Nachlassverwaltern und Erben Picassos zu Recht als Formel „wenn wieder demokratische, freie Verhältnisse herrschen“ interpretiert worden, das könne auch in einer parlamentarischen Monarchie – wie dem heutigen Spanien, einer „republikanischen Monarchie“ – sein. – Jetzt zum klassischen „Gegenstück“, zur Monarchie. b) „Verfassungsstaatliche Monarchie“ Die folgenden Zeilen wenden sich einem Gegenstand zu, der bislang vernachlässigt wurde88: den „Restbeständen“ an Monarchie, die sich dem Wort und der Sache nach in gar nicht so wenigen europäischen Verfassungsstaaten finden: nämlich dank der Verfassungen (ungeschrieben) in Großbritannien, (geschrieben) in Norwegen (1814), Belgien (1831 / 1994), Luxemburg (1868 / 2008), Liechtenstein (1921), Dänemark (1953), Monaco (1962), Schweden (1975), Spanien (1978) und den Niederlanden (1983). Republik wird in der klassischen Staatslehre ebenso formal wie kurzschlüssig als „Nicht-Monarchie“ (G. Jellinek) definiert, und eine Vielzahl von Verfassungsstaaten in Europa sind in der Tat „Republiken“. Wie fügen sich aber die nicht wenigen „verbleibenden“ Monarchien in das Gesamtbild des europäischen Verfassungsstaates als Typus ein? Welchen spezifischen Beitrag leisten sie im Prozess der Einigung Europas? Sind sie ein lebendiges Eleeines Begriffs, JZ 1981, S. 1 ff.; P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: A. Peisl u. a. (Hrsg.), Die Zeit, 1983, S. 289 ff.; zuletzt R. Gröschner, Die Republik, HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 23. 88  Aus der Lit.: U. Scheuner, Das Amt des Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung, 1966; W. Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhaupts in der parlamentarischen Demokratie, 1979; K. Schlaich, Der Status des Bundespräsidenten, HStR, Bd. II, 1987, S. 529 ff. (2. Aufl. 1996); M. A. Wiegand, Zum Begriff des Staatsoberhaupts, AöR 133 (2008), S. 475 ff. – Zum italienischen Staatspräsidenten: M. Luciani / M. Volpi (a cura di), Il Presidente della Repubblica, 1997.

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ment der „europäischen Rechtskultur“ oder bloß formeller historischer „Zierrat“? Bilden sie nur eine „überständige“, „überholte“ Variante des Typus Verfassungsstaat oder leisten sie einen authentischen Beitrag zu dessen Textstufenentwicklung bis heute? Anders gefragt: Sind Monarchien nur „schlechtere“ Republiken? Oder bedeuten sie mehr als eine „Erinnerung“ an die Lehre von der gemischten Staatsform?89 Unverzichtbar ist es, im Konzert der immer näher zusammenrückenden europäischen Verfassungsstaaten zu fragen, was das rund eine Drittel ihrer Monarchien miteinander verbindet oder voneinander trennt und wie eine europäisch gearbeitete Verfassungslehre vergleichend mit ihnen umzugehen hat. (Holland feiert den „Königinnentag“ jeden 30. April als Volksfest.) Bereits ein erster Blick auf die sehr alten Textstufen verpflichtete Verfassung des Fürstentums Liechtenstein90 einerseits und auf die sehr moderne Verfassung der Niederlande (1983) andererseits zeigt eine große Bandbreite der Verfassungsstaaten mit monarchischen Elementen im Europa von heute. aa) Aus dem andernorts91 systematisch aufbereiteten Textmaterial lassen sich einige theoretische Einsichten gewinnen, mindestens aber Grundsatzfragen aufwerfen: Ist die „parlamentarische Monarchie“ nur eine historische Spielerei, ein jeweils recht zufälliges Überbleibsel älterer Perioden der Entwicklung des Verfassungsstaates als Typus? Bildet die „Republik“ die „höhere“ Entwicklungsstufe oder nur eine „schlechtere“ Abart? Ist sie die notwendige Konsequenz der Demokratie als „Herrschaft auf Zeit“ oder vermittelt sie dem Verfassungsstaat Elemente einer „gemischten“ Staatsform, wie sie z. B. in Verfassungsstaaten mit starker Verfassungsgerichtsbarkeit eine moderne Entsprechung haben (man denke an das deutsche BVerfG)? Ist die Republik nur „Surrogat“ oder „Erbe“ der Monarchie, wie man dies vom Weimarer Reichspräsidenten als „Ersatzkaiser“ im Blick auf P. von Hindenburg gesagt hat? Vermittelt die Monarchie vielleicht doch Symbolwerte, wie sie ein nur höchstens einmal wiedergewählter Präsident weder erfüllen kann noch erbringen darf: die persönliche Integrationsleistung des (seinerzeitigen) Königs von Belgien Baudouin I. (nicht erst bei seinem frühen Tod 1993 bekannt), jüngst seines Nachfolgers Albert bei der so lange verzögerten Regierungsbildung (2010 / 11) oder des Königs von Spanien Juan Carlos I. – dieser hat seine Legitimationsreserve sehr erfolgreich sogar gegen den Putschversuch im Jahre 1981 einsetzen können und damals die Demokratie gerettet (seine Elefantenjagd in Botswana, 2011, A. Riklin, Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, 2006. der Lit. zu Liechtenstein: J. Kühne, Zur Struktur des Liechtensteinischen Rechts, JöR 38 (1989), S. 379 ff. 91  Vgl. hierzu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S.  1004 ff. 89  Dazu 90  Aus



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hat die Monarchie wohl nicht auf Dauer beschädigt). Bleibt die „res publica“ eine solche nicht auch in der parlamentarischen Monarchie, weil diese dem Gemeinwesen weder die öffentliche Freiheit noch die salus publica nimmt? (England ist ein positiver Sonderfall.) bb) Angesichts der Tatsache, dass es in Europa 10 Verfassungsstaaten gibt, die an ihrer „Spitze“ einen Monarchen haben bzw. eine dynastisch geregelte Thronfolge vorsehen, muss sich eine rechtsvergleichend arbeitende Verfassungslehre dieser monarchischen Strukturen annehmen. Ist die Erbmonarchie nur eine „andere Form“ des republikanischen Staatspräsidenten, der auf begrenzte Zeit (wieder-)gewählt wird? Denkt man allein von den verfassungsrechtlich festgelegten Kompetenzen her, so deutet viel darauf hin, dass ein Präsident ohne weiteres an die Stelle des Monarchen, Fürsten oder Großherzogs treten könnte – nur für Großbritannien dürfte angesichts der „königlichen Privilegien“ Besonderes gelten. Man kann es auch anders wenden: Der republikanische Präsident ist im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates weitgehend in die tendenziell sich immer stärker abschwächenden Kompetenzen des Monarchen eingerückt. Von der Gewaltenteilung her gedacht, stellt sich die Institution des Monarchen bzw. seiner analogen Erscheinungsformen wie des „Fürsten“ (übermächtig in Liechtenstein) als eine unter mehrere „Gewalten“ dar, die in das subtile Funktionsgefüge des Verfassungsstaates integriert ist. Bei dieser eher formalen Betrachtungsweise kann es jedoch nicht bleiben: Es sind ganz spezifische Repräsentations- und Integrationsfunktionen, die die Erbmonarchie erfüllt. Nachdem fast alle europäischen Verfassungsstaaten mit Ausnahme Liechtensteins vom „monarchischen Prinzip“ abgerückt sind und schon textlich mehr oder weniger eindeutig sich dessen Gegenstück, der Volkssouveränität, verschrieben haben, kommt es zur Frage, wie sich das Volk repräsentiert – und integriert. Hier kann der Monarch viel leisten. Gewiss, auch der – wechselnde – Präsident vermag dem Integrations- und Repräsentationsbedürfnis zu entsprechen – man denke nur an den Präsidenten der USA oder Frankreichs, auch Österreichs. Doch deutet vieles darauf hin, dass sich der Symbolwert eines Königshauses oder einer Großherzogsfamilie schon der Dauerhaftigkeit wegen höher veranschlagen lässt. cc) Aus den Verfassungstexten wird deutlich, wie sehr sich die Verfassunggeber des Repräsentations- und Integrationswertes bzw. der Symbolkraft des monarchischen Elements im betreffenden Verfassungsstaat bewusst sind92. Und die Monarchie-Texte der geschriebenen Verfassungen dürfen ohne weiteres jener Artikel-Gruppe zugerechnet werden, die in die irrationalen Tiefenschichten eines Volkes reichen: analog der Verfassungsnormen 92  Vgl. Art. 56 Abs. 1 S. 1 Verf. Spanien: Der König „als Symbol seiner Einheit und Dauer“ (sc. des Staates).

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

zu Feiertagen, zur Hauptstadt, zur Sprache, auch zu Eidesklauseln93. Ja die „einrahmenden“ und auf spezifische Weise grundlegenden Präambeln94 gehören ebenfalls hierher. Kurz: Monarchien reichen gerade auch in Verfassungsstaaten in die Tiefenschicht der „irrationalen Konsensquellen“ (K. Eichenberger) des Staates. Der weltoffene Verfassungsstaat ist auf sie besonders angewiesen, muss in ihnen buchstäblich „wurzeln“, da er sonst so sehr und mit Recht auf Rationalität setzt. Der Mensch hat auch als Bürger ra­ tionale und emotionale Seiten. Das „liturgische“, um nicht zu sagen „rituelle“ Moment kann in einer monarchischen res publica in spezifischer Weise befriedigt werden. Gewiss, auch die modernen (parlamentarischen) Monarchien wachsen in die Funktion des „Dienstleistungsbetriebes“ hinein, wie man etwa von Bekenntnissen aus dem spanischen Königshaus weiß. Doch zeigt die moderne Monarchie Spaniens, wie gekonnt und wirksam eine Gestalt (hier König Juan Carlos I.) die Nation auf Kulturveranstaltungen, Olympiaden, Weltausstellungen (wie 1992), aber auch im Kleinen in den Autonomien und Städten „darzustellen“ weiß und buchstäblich „verkörpert“. Sicherlich, an die „Kosten“ monarchischer Strukturen im Verfassungsstaat ist ebenfalls zu erinnern: Gemeint sind nicht die finanziellen Kosten95, sondern anderes: etwa das Entstehen privilegierter Eliten ohne Leistungen, nicht öffentlich verantworteter Beziehungs- und Einflussgeflechte (Stichwort: „Hofschranzen“). Obwohl es solche auch an Präsidentensitzen gibt: die zeitliche Unbegrenztheit derartiger „Substrukturen“ schafft in „NichtRepubliken“ Gefahren eigener Art. „Herrschaft auf Zeit“ bleibt ein unverzichtbarer Aspekt des entwicklungsoffenen demokratischen Verfassungsstaates. Und ein Stück „Herrschaft“ wird eben auch durch noch so „bloß repräsentativ“ ausgestaltete parlamentarische Monarchien ausgeübt. Insofern bleibt ein unauflösbares Restproblem in all den europäischen Verfassungsstaaten, die an monarchischen Elementen festhalten. Man mag mit D. Sternberger daran erinnern, dass „nicht alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht“, man mag sich gewisse aristokratische Elemente vergegenwärtigen, wie sie sich in Ländern mit starker Verfassungsgerichtsbarkeit oder mit 93  Dazu P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 199 ff., 297 ff.; Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. – Vorbildlich Art. 4 und 5 Verf. Bangladesh (1973/2004). 94  Dazu meine Bayreuther Antrittsvorlesung: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen (1982), in: Rechtsvergleichung, a. a. O., S. 176 ff. 95  Sie sind in Gestalt der „Zivilliste“ berücksichtigt (vgl. Art. 77 (alte) Verf. Belgien, Art. 43 Verf. Luxemburg, § 10 Verf. Dänemark, Art. 40 Verf. Niederlande, Art. 40 Verf. Monaco). In der Verf. Liechtensteins findet sich keine entsprechende Regelung. Der Fürst bestreitet die „ihm aus seiner Aufgabe zufallenden Kosten aus dem Privatvermögen“, worauf Fürst Hans Adam II. in seiner Thronrede vom Herbst 1992 ausdrücklich hinwies.



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich73

„Senaten“ finden, um die monarchischen Strukturen und Funktionen von heute in das Ganze des Typus „Verfassungsstaat“ einzuordnen96; dennoch bleiben Spannungen und Widersprüche. So verstehen sich diese Überlegungen auch nicht als Beitrag zu einer eigenen „Verfassungstheorie der Monarchie“, sondern als Versuch, die vorhandenen monarchischen Strukturen in einzelnen Verfassungsstaaten Europas zu erklären, in das theoretische Koordinatensystem des Typus kooperativer Verfassungsstaat einzuordnen und als eine denk­ bare Variante auszuweisen, die sich „sehen“ lassen kann und keine bloße „Abart“ oder gar anachronistisch ist oder ein zu belächelndes Überbleibsel einer vergangenen Epoche darstellt. Je nach Geschichte, Selbstverständnis und Kultur eines Landes stellen sich (parlamentarische) Monarchien als legitime Variante zur Alternative „Republik“ dar97. Sie sind keine Gegenveranstaltung zum Typus Verfassungsstaat, so sehr Monarchien dies geschichtlich oft waren und so intensiv sie sich im Laufe der Zeit „konstitutionalisieren“ lassen mussten („konstitutionelle Monarchie“)98. dd) Im Ganzen ist es Zeit, vom Begriff der „konstitutionellen Monarchie“ Abschied zu nehmen. Er ist geschichtlich belastet und heute überholt, da er an die nachträgliche verfassungsrechtliche Beschränkung „ursprünglich“ vorgefundener monarchischer Staatlichkeit erinnert. Heute gibt es aber nur konstituierte Staatlichkeit. An die Stelle der „konstitutionellen Monarchie“ ist in der historischen Entwicklung in Europa die verfassungsstaatliche Monarchie – als eine Möglichkeit des Typus Verfassungsstaat – getreten. Im Verfassungsstaat ist eine etwaige verfassungsrechtlich vorgesehene Monarchie ein „Verfassungsorgan“ jenseits eigener irgendwie gearteter „Sou­ veränität“99. Liechtenstein bildet (noch) die atypische Ausnahme. Eine 96  Zur „Stellung des Monarchen in der modernen Verfassung“: C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 288 ff., der in vergleichender Staats- und Verfassungsgeschichte Stichworte findet wie „Monarch als Repräsentant“ (S. 205, 211), als „Gott“ (S. 282), als „Vater“ (S. 283), als „Chef der Exekutive“ (S. 286), als „pouvoir ­neutre“ (S. 287), als „Subjekt der verfassunggebenden Gewalt“ (S. 80 f.). K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 58 Anm. 9, schreibt der Monarchie „auch heute noch erhebliche Bedeutung“ zu. 97  Bemerkenswert K. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. I, 1967, S. 530, für den die Monarchie als Staatseinrichtung auch in den anderen Ländern Westeuropas, in denen sie „den stürmischen Drang zur Republikanisierung hat überstehen können“, gefestigter erscheint als seit langer Zeit (Ausnahme: Griechenland). 98  Zum Konstitutionalismus in Deutschland: E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl. 1967, S. 652 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Bd., 1992, S. 103 ff. 99  Eher retrospektiv ist das Wort des Vorsitzenden der belgischen Abgeordnetenkammer C.-F. Nothomb nach der Vereidigung des neuen Königs Albert II. (1993): „Majestät, … auf diese Weise ist die Union zwischen dem König und der Nation besiegelt, der konstitutionelle Pakt zwischen Land und Dynastie bestätigt“ (zit. nach

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

„nachholende Revolution“ (besser: Entwicklung) steht diesem Land noch bevor, sofern sie nicht schon dank seiner Eingliederung in EMRK und KSZE (jetzt OSZE) begonnen hat. Begriff und Sache „Fürstensouveränität“ sind auch in verfassungsstaatlichen Monarchien dem Text oder dem Inhalt nach von der Volkssouveränität abgelöst worden (so ausdrücklich in Spanien). Heute ist sogar zu fragen, ob nicht auch die „Volkssouveränität“ innerstaatlich überholt ist: weil die Menschenwürde der Bürger kulturanthro­ pologische Prämisse auch der Demokratie ist100 und sich die Bürger selbst „ihre Verfassung geben“ („We, the people“; z. B. Verf. Nauru von 1968). Der Begriff „verfassungsstaatliche Monarchie“ umschreibt nur das Grundmuster. Wie die Textanalyse zeigt, gibt es indes viele Varianten zu Stellung, Kompetenzen und Funktionen des Monarchen: man vergegenwärtige sich die Bandbreite von Belgien und Spanien bis Dänemark und Schweden. Jedes Land kann in Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit „seine“ Monarchie in eigenen Formen und Farben ausgestalten. So ist im Blick auf Belgien das glückliche Bild der „föderativen Monarchie“ (R. Senelle)101 geprägt worden: es deutet die spezifische Aufgabe und Leistung des seinerzeitigen belgischen Königs (Baudouins I.) bei der Herausbildung und Bestandssicherung des heute gefährdeten Bundesstaates Belgien (Klammerfunktion im Blick auf Flamen und Wallonen) an – das bekannte Wort vom Monarchen als „pouvoir neutre“102 wäre hier zu wenig. Andere verfassungsstaatliche Monarchien wie die schwedische, lassen sich „nur repräsentativ“ kennzeichnen, da keine aktive Teilhabe an der „obersten Staatsleitung“ möglich ist. Wie beim Staatspräsidenten103 hängt bei der Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Funktionen freilich viel von der jeweiligen Person des Monarchen bzw. seiner Autorität ab. ee)  Monarchien wurzeln wie wenig anderes (z. B. Hymnen und Flaggen sowie Erinnerungsorte) in der Geschichte eines Landes. Sie lassen sich kaum je neu begründen, jedenfalls nicht auf dem Forum eines von einem konkreten Verfassunggeber geschaffenen Verfassungswerkes und schon gar nicht in unseren Tagen. Spanien bildet eine Ausnahme, weil hier die MonNordbayerischer Kurier vom 10. August 1993, S. 3). Eine „Krönung“ wurde von einem Sprecher des Palastes abgelehnt mit den Worten: „Eine Krone ist ein Symbol aus alten Zeiten und paßt nicht zu einer relativ jungen Monarchie“ (ebd.). 100  Dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, 1987, S. 815 (846 ff.) – 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 22 Rd.-Nr. 67 bis 69. 101  Vgl. JöR 36 (1987), S. 121 (133 f.). 102  Dazu O. Kimminich, a. a. O., VVDStRL 25 (1967), S. 2 (38 ff.), sowie P. Pern­ thaler, ebd., S. 95 (146 ff.). 103  Vgl. dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 275 (Neudruck 1999).



V. Die republikanische Bereichstrias: privat / öffentlich / staatlich75

archie 1975 glückhaft der Übergangspfeiler von einem autokratischen System (F. Francos) in einen Verfassungsstaat war und blieb und an die Thronansprüche einer Dynastie angeknüpft werden konnte. Erinnert sei aber auch daran, dass das italienische Königshaus nach dem 2. Weltkrieg (1946) abgeschafft wurde und sich Griechenland (1974) in einer Volksabstimmung für die Republik entschied. In Liechtenstein schwelte im Herbst 1992 eine Verfassungskrise, die auch das Fürstenhaus hätte in Frage stellen können; jedenfalls ist kaum anzunehmen, dass Liechtenstein auf unbegrenzte Zeit mit „zwei Souveränen“ (Fürst und durch den Landtag repräsentiertes Volk) leben will und kann. Im Ganzen ist schwerlich zu erwarten, dass ein Verfassungsstaat in Europa neu auf die „Staatsform“ der (parlamentarischen) Monarchie zurückgreifen will. (Das gilt wohl auch für Griechenland, Rumänien, Albanien, Serbien und Bulgarien.104) Indes könnten sich Zukunftschancen der Monarchie im Blick auf das sich einigende Europa ergeben. Bedarf die Europäische Union einer monarchischen Spitze? Könnte die Monarchie ein Thema der werdenden „Verfassung Europas“ bilden? Meines Erachtens kann die Antwort nur lauten: Nein! Die vergleichende Verfassungslehre hat zwar immer auch in der Dimension „wissenschaftlicher Vorratspolitik“ zu denken; darum erscheint die hier gewagte Frage legitim. Bei näherer Betrachtung spricht aber alles gegen den in manchen Medien gern erörterten „sensationellen“ Gedanken einer „europäischen Monarchie“. Monarchien können nur aus der Tiefe der Geschichte einzelner Völker wachsen. Sie lassen sich nicht von heute auf morgen schaffen. So beliebt die einzelnen Königshäuser in den erwähnten europäischen Verfassungsstaaten sein mögen (auch jenseits der „Regenbogenpresse“ Großbritanniens und Schwedens): keines könnte wohl die Repäsentationsund Integrationsfunktionen in Bezug auf „ganz Europa“ erfüllen. Auch keine europäische verfassunggebende Versammlung vermöchte die Kraft aufbringen, eines der bestehenden Häuser zum „europäischen Fürstenhaus“ zu machen. Das „europäische Haus“ ist im tiefen Sinne republikanisch zu verfassen. Im „europäischen Konzert“ nehmen sich die einzelnen Monar­ chien einzelner Häuser bzw. Länder als willkommene Farbtupfer und Bele104  Das vorbildliche Wirken des „guten Königs“ und „guten Menschen“ Baudouin I. hatte schon kurz nach seinem Tode politische Auswirkungen: Der griechische Exkönig Konstantin sagte (zit. nach Nordbayerischer Kurier vom 10. August 1993, S. 3): „Wenn das griechische Volk eine konstitutionelle Monarchie haben will und mich dafür wünscht, stehe ich zur Verfügung.“ Baudouins einheitsstiftende Kraft könnte aber auch ein Lehrstück für so manche auseinanderstrebende Nationalismen in Europa sein. Der neue belgische König Albert II. sprach nach seiner Vereidigung anknüpfend an die letzte Rede Baudouins von der Toleranz und dem Bürgergeist, mit denen Flamen und Wallonen aufeinander zugehen sollten (FAZ vom 10. August 1993, S. 5). Er praktiziert seinen Integrationsauftrag besonders in der Regierungskrise 2011 / 12.

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1. Kap.: Begriff, Grundlegung von Gegenstand und Arbeitsmethode

ge für die Vielfalt der nationalen Verfassungskulturen aus, aber auf der Ebene Europas sollte eine republikanische Repräsentanz geschaffen werden – sofern sie sich als nötig erweist (etwa ein zu wählender EU-Kommissionspräsident). Vordringlich bleibt die Beseitigung des viel beklagten Demokratiedefizits und dieses ist auf dem Forum des Europäischen Parlaments und durch „europäische Öffentlichkeit“ aus Verfahren unmittelbarer Demokratie zu beheben. Dem Europäischen Parlamentspräsidenten sollten also für die „Union“ jene Integrations- und Repräsentationsfunktionen zuwachsen, derer sie heute bedarf (der neue Ständige Ratspräsident kann diese Aufgabe offensichtlich nicht erfüllen, auch nicht der Kommissionspräsident, vielleicht der neue EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, wie sich in der Griechenlandkrise Februar 2012 zeigt). Die „Verfassung Europas“ sollte republikanisch sein: formell wie materiell. Die Monarchien in Asien (z. B. Japan, Thailand, Kambodscha) und die arabischen Länder (z. B. Marokko, Saudi-Arabien) bleiben hier nur ein Merkposten.

2. Kapitel

Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit I. Große Daten und große Personen Der völkerrechtsgebundene Verfassungsstaat, begriffen auf der mittleren Abstraktionshöhe als Typus und konkret greifbar in den nationalen Beispielsvarianten unter Einschluss der „Entwicklungsländer“ und Kleinstaaten, ist jeweils eine Zwischensumme aus politischer Philosophie1, Klassikertexten, Parteiprogrammen, Erfahrungswissen, auch „Wunden“, vieler Genera­ tionen sowie konkreter Utopien, eine Zwischensumme auch aus revolutionären und evolutionären Prozessen sowie aus Verfassungstextvergleichen. Greifbar wird dies in großen Daten, etwa der Jahre 1776 (Virginia bill of rights), 1787 („Federalist Papers“), 1789 (Französische Menschenrechtserklärung), 1848 (Schweizer Bundesverfassung), 1849 (Deutsche Paulskirche), 1947 (Verf. Italien), 1948 (Universale Menschenrechtserklärung der UN), 1968  ff. (Schweizer Kantonsverfassungen), 1976 (Verf. Portugal), dann „1989“, 2011 im „Arabischen Frühling“. Sichtbar wird dies in Klassikertexten, etwa von Aristoteles zum Zusammenhang von Gleichheit und Gerechtigkeit, von Montesquieu zur Gewaltenteilung (1748), von J.-J. Rousseau zum Gesellschaftsvertrag (1762), von I. Kant zur Menschenwürde, von J. Rawls zur Gerechtigkeit (1975), von H. Jonas zum „Prinzip Verantwortung“ (1964). Solche Texte von Klassikern, diese verstanden als Wert- und Erfolgsbegriff2, transportieren die Entwicklung des Verfassungsstaates, weltweit. So offen dessen Zukunft ist: im Rückblick darf wohl das allgemeine Evolutionsmodell auf ihn angewandt werden – bei allen bekannten Defiziten, stets neuen Gefährdungen, auch schmerzhaften Rückschritten und Anfälligkeiten3; man denke 2012 an die Krisen in Spanien und Rumänien, auch an Defizite des Völkerrechts (trotz H. Grotius).  1  Einigen Aspekten geht für das deutsche GG der von W. Brugger hrsg. Band nach: Legitimation des GG aus der Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996 (dazu meine Rezensionsabhandlung in AöR 123 (1998), S. 476 ff.). 2  Dazu meine Schrift: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. Ebd., jetzt überarbeitet, auch zum Folgenden. 3  Zum „Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Sicht“ mein gleichnamiger Beitrag in FS K. Stern, 1996, S. 143 ff. – Ein Klassikertext dieser Sicht: H.  S. Maine, Ancient Law, 1861 (neu übersetzt: 1997).

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

II. Klassikertexte im Verfassungsleben – Sieben Ausgangsthesen in kulturwissenschaftlicher Sicht Schon mehrfach wurde bisher auf „Klassikertexte“ punktuell Bezug genommen, wurden einzelne Klassiker als solche zitiert. An dieser Stelle seien sieben Ausgangsthesen formuliert: (1) Klassikertexte, wie die Schriften von J. Locke und Montesquieu, Sieyès und I. Kant, aber auch „Gegen“-Klassiker wie T. Hobbes und J.-J. Rousseau oder K. Marx werden nicht zufällig „faktisch“ im Entstehungs- und späteren Interpretationsprozess verfassungsstaatlicher Verfassungen einflussreich, sie haben eine legitime – begrenzte – Geltungsweise normativer Art. Sie gelten im Kontext von Verfassungen kulturspezifisch und sind mit Hilfe kulturwissenschaftlicher Arbeitsmethoden zu erschließen. Sie sind eine „Quelle“ für die textliche Neugestaltung von Verfassungen durch die Verfassunggeber, weltweit. (2) Während die großen Namen und Texte allzu selbstverständlich, ja „­ naiv“ immer wieder zitiert werden, wurde bislang, soweit ersichtlich, nicht die Frage gestellt, was eigentlich dazu legitimiert, sie im Verfassungsleben zu verwenden: vom politischen Prozess, z. B. einer Bundestagsdebatte über das „richtige“ Verfassungs- oder Demokratieverständnis bis zum Richterspruch des BVerfG, von der Festrede des Bundespräsidenten bis zum Parteitagsbeschluss. Nur wenn man sich die Breite und Tiefe von Sache und Prozess „Verfassungsleben“ i. S. der Breite des Pluralismus der Verfassungsinterpreten und der Tiefe einer Kultur vor Augen hält, wird man die Vielfalt der Erscheinungsformen juristischer Klassiker(texte) unterscheiden können. Zum Verfassungsleben gehören Personen und Institutionen – hinter denen natürlich immer Personen stehen (dies gilt auch für die Teilverfassungen des Völkerrechts, etwa zur Kultur). (3) Klassikertexte sind „Verfassungstexte“ im weiteren Sinne, d. h.: im Zusammenhang mit dem – interpretationsbedürftigen – Verfassungstext wirken sie als „geschriebener Kontext“, so wie es weiterer Hilfsmittel, etwa Interpretationsmethoden, Vorverständnisse, Zusatztheorien, anderer Kontexte bedarf. Klassikertexte sind insbesondere Stifter von Paradigmen i. S.  T.  S. Kuhns4. Sie benennen Probleme, liefern Teilaspekte für Problemlösungen5. Eine inhaltliche Leitidee wie die Gewaltenteilung Montesquieus wirkt durch ihre Erweiterung und Erneuerung (z. B. durch 4  T.  S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 3., mit der 2., rev. Aufl., identische Aufl., 1978. 5  Das Bild vom „Runden Tisch“ geht wohl auf die Pastoralinstruktion „Communio et Progressio“ Papst Pauls VI. von 1971 zurück, die „Magna Charta“ der kirchlichen Medienethik, Medienerziehung und Medienpolitik. In Polen hat es 1989



II. Klassikertexte im Verfassungsleben79

W. Kägi6). Klassiker helfen den „Verfassungsinterpreten im weiteren Sinn“, d. h. dem Bürger im Umgang mit der Verfassung. Jede verfassungsstaatliche Verfassung hat ihre unverzichtbaren Klassikertexte. Das Bild des Gesellschaftsvertrags bzw. „Runden Tisches“ gehört dazu. Solche Metaphern können überhaupt manches Verfassungsrecht prägen. (4) Angesichts der nicht seltenen Verabsolutierung von Teilwahrheiten in Klassikertexten und des Kompromisscharakters der verfassungsstaat­ lichen Verfassungen und angesichts ihres Wandels ist je neu nach „alternativen“ Klassikerpositionen bzw. ihrer Neu-Interpretation zu fragen, ehe eine konkrete Problemlösung versucht wird; Klassiker haben ihre Gegenklassiker! (Montesquieu gegen Rousseau, Locke gegen Hobbes, die Freiburger Schule der sozialen Marktwirtschaft gegen Marx.) (5) Mit dieser Maßgabe sind Klassikertexte – als Erfolgs- und Wertbegriffe – eine Bereicherung des Verfassungslebens und ein „Wachstumsbegriff “ (H. Kuhn7); sie tragen und modifizieren einzelne positivrecht­ liche Institute und ihre höchst zeitgebundenen Dogmatiken. Klassikertexte im Verfassungsleben ermöglichen eine Rationalisierung des Verfassungslebens, sofern etwaige Gefahren benannt werden. Schon die Verfassunggeber können mit ihnen arbeiten, wie die Entstehungsgeschichte des deutschen Grundgesetzes zeigt. (6) Klassikertexte sind eine besonders bürgernahe Weise und Gestalt, in welcher der Bürger „seine“ Verfassung kennenlernen kann. Ein Satz von Montesquieu oder J. Locke, aber auch von Friedrich Schiller zur Gewaltenteilung bzw. Freiheit oder von G. E. Lessing zur Toleranz, vermittelt dem Bürger seine Verfassung besser und gründet sie tiefer als jedes noch so bedeutende Fachlehrbuch. Klassikertexte machen Verfassungen zum kulturellen Erbe und Auftrag für uns alle, zum „lebendigen Besitz“. Sie sind Teil unseres Kulturbildes und gespeichert im „kollektiven Gedächtnis“ unseres Volkes. In der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten bestimmen wir letztlich alle – auch in der Generationenfolge –, wer Klassiker ist und wird. Das Bezugssubjekt des Klassischen sind wir. (7) Klassikertexte, d. h. staats- und rechtspolitische sowie verfassungstheoretische Werke großer Dichter sowie Musiker wie L. von Beethoven (3. und 9. Symphonie) und G. Verdi (Nabucco), sind eine Form der Vermittlung von Erfahrung und anthropologisch begründet, sie sind aber auch in der Zeitdimension offen. Die Klassikerqualität ist nicht Weltgeschichte des Verfassungsstaates gemacht. Seitdem gab es immer wieder „Runde Tische“, etwa in Albanien in den 90er Jahren, heute bei uns (Kinderschutz). 6  W. Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur heutigen Gewaltenteilung (1961). 7  Klassisch als historischer Begriff, in: W. Jaeger (Hrsg.), Das Problem des Klassischen und die Antike, 1931, S. 112.

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

exklusiv-retrospektiv, sie hat auch Zukunft. Es gibt keine geschlossene Gesellschaft der Klassiker im Verfassungsstaat, zumal in dessen „weiter Welt“ (auch das Völkerrecht hat seine „Klassikertexte“: M. Kotzur).

III. Das Möglichkeitsdenken als Teil einer Trias (neben Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken) 1. Einleitung, Problem, Ausgangsthese Verfassungsrechtliches Denken und Handeln muss sich immer wieder selbst analysieren, um seine Möglichkeiten und Grenzen, um Chancen und Gefahren für seine „Sache“, die für alle menschenwürdige freiheitlich-demokratische Grundordnung, zu erkunden. Dem dienen die folgenden Überlegungen. Das Möglichkeitsdenken soll – in den Rahmen von Wirklichkeit und Notwendigkeiten gestellt – für die Verfassungstheorie und -praxis zentraler als bisher untersucht werden, und zwar auf der Folie von Beispielen aus Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und Politik sowie mit Belegen aus der Dogmatik und Publizistik, also an Beispielen aus der Öffentlichkeit und Wirklichkeit einer lebenden bzw. gelebten Verfassung. Das Möglichkeitsdenken dürfte als Problem der Verfassungstheorie relativ unbekannt sein. Demgegenüber ist das Wirklichkeitsdenken fast populär (z. B. in Gestalt des Verweises auf „Sachzwänge“ oder „Alternativenlosigkeit“), dem Dichter H. Lenz verdanken wir den Begriff des „Wirklichkeitsmenschen“. Eine mittlere Position nimmt das Notwendigkeitsdenken ein (das etwa im Übermaßverbot präsent ist und heute besonders bei der Frage gefordert ist, welche staatlichen Aufgaben „notwendig“ sind (unter dem „Vorbehalt des Möglichen“ freilich)). Alle drei Denkarten sind im völkerrechtsverbundenen Verfassungsstaat unentbehrlich, erst recht in einer universalen Verfassungslehre und Rechtskultur. 2. Möglichkeitsdenken (Pluralistisches Alternativendenken) im Einzelnen a) Erläuterung des Begriffs Möglichkeitsdenken ist das Denken der und in Alternativen. „Alternativendenken“ soll es aber deshalb nicht genannt werden, weil mit diesem Begriff häufig die Denkform des „Entweder-Oder“ assoziiert wird8, die auf sich ausschließenden Gegensätzlichkeiten beruht. Möglichkeitsdenken 8  Zu verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Alternative vgl. J. Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 9 ff. – Zum Folgenden, jetzt aktualisiert, schon P. Häberle, Verfassungslehre, a. a. O., S.  558 ff.



III. Das Möglichkeitsdenken als Teil einer Trias 81

dagegen soll ebenso offen für dritte und vierte Möglichkeiten wie für Kompromisse sein. Es darf rhetorisch auf ein „Entweder-Oder“ zugespitzt sein, dieses aber nicht dadurch verabsolutieren, dass es sonst keine Alternativen zulässt. Denn: Möglichkeitsdenken ist fragendes Denken. Es ist die Suche nach dem auch Möglichen, die Frage: „Was könnte an Stelle dessen sein, das ist?“ In der res publica des Verfassungsstaates gibt es ein spezifisch juristisches Ethos des Denkens in Alternativen, des Fragens nach Möglichkeiten, das den Blick für die Wirklichkeit und Notwendigkeiten einschließt, ohne sich von ihnen suggerieren zu lassen. Möglichkeitsdenken drängt sich um so mehr auf, als die Verfassungsrechtswissenschaft Grundbegriffe wie Öffentlichkeit, Toleranz, Religionsfreundlichkeit, Pluralismus, Minderheitenrechte, „Repräsentation nicht organisierter Interessen“, soziale und kulturelle Grundrechte, Generationenschutz aufarbeitet und diese Themen in neuen Verfassungen und international textlich behandelt sind. Vom Kritischen Rationalismus her liegt Möglichkeitsdenken als Alternativendenken besonders nahe9. Elemente klassischen neueren Möglichkeitsdenkens finden sich bei R. Musil10 und E. Bloch. Das zeigt nicht nur Blochs frühes sog. „fabelndes Denken“ (1930), sondern vor allem auch sein „Prinzip Hoffnung“ unter dem Abschnitt „Möglichkeit verwirklichen“11. In der Systemtheorie wird i. S. der modaltheoretischen Tradition Kontingenz als „nichtnotwendige Möglichkeit“12 definiert. N. Luhmanns Begriff der Kontingenz ist eine klare Bezugnahme auf Möglichkeitsdenken. Die Relevanz von Möglichkeitsdenken hat O. von Bismarck in seinem Wort von der Politik als „Kunst des Möglichen“ zur Sprache gebracht (es geht aber auch um das Notwendige!). Das im Deutschland von 2012 grassierende Wort von der „Alternativenlosigkeit“ einer Politik muss sich kritisch hinterfragen lassen. 9  Er betont, dass es sich stets lohnt, „nach Alternativen zu suchen, nach anderen Theorien, die möglicherweise besser sind …“ (Hervorhebungen im Original): H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1968, S. 49. „Dogmatisierung“ entlarvt ihre „Abschirmungsfunktion“ durch die „Diffamierung von Alternativen“, ebd., S. 97. 10  R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1970  / 72, S. 16: „… Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann … So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Zur Geschichte des Möglichkeitsbegriffs: N. Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1. Aufl. 1937, 2. Aufl. 1949. 11  Das Prinzip Hoffnung, 1. Bd., Suhrkamp Taschenbuch, 1974, S. 284 ff. 12  N. Luhmann, in: J. Habermas  /  N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971, S. 310. Kontingenz wird definiert als eine „heuristische, strategische, vergleichende Kategorie“, die den Zugang zu anderen Möglichkeiten offen hält, vgl. N. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 19 (1967), S. 615 (637).

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

b) Bestandsaufnahme In einer offenen, pluralistischen Rechtsordnung der Freiheit ist ein breites Spektrum von verschiedenen Formen zu Alternativen rechtlich institutionalisiert. Sie geben Raum für Entscheidungen, Raum für individuelle Freiheit und allgemeine Vernunft. Sie setzen möglichst gewaltfreie Kommunikation i. S.  von J. Habermas voraus (sie bleibt freilich zum Teil Utopie). aa) Möglichkeitsdenken wird nicht von außen oder oben an die Ver­ fassung herangetragen. U. Scheuners Verständnis der Verfassung als „Entwurf“13 deutet auf Möglichkeitsdenken hin. Die Vielfalt der verschiedenen möglichen Verfassungen ist es, die Disziplinen wie Verfassungsvergleichung und Verfassungsgeschichte für die Verfassungstheorie bedeutsam macht. Daran zeigt sich: Das hier geforderte Alternativendenken ist keineswegs nur zukunftsorientiert. Das wäre eine Verengung der Blickrichtung, welche die Möglichkeiten und Erfahrungen der Verfassungsgeschichte außer acht ließe. Gerade im „Schatzhaus der Geschichte“ liegt Problemlösungs­ material, oft vergessen, von der Wirklichkeit gewordenen Möglichkeit verdrängt. Es gibt auch Renaissance und Regeneration von Verfassungsrechtssätzen. Ein Beispiel sind die sozialen Grundrechte in den Länderverfassungen nach 194514, allgemein deren Kulturverfassungsrecht sowie die Grundpflichten. Die Idee der Ermöglichung von Alternativen steht auch hinter dem Verfahren der Verfassungsänderung: Art. 79 Abs. 1 und 2 GG und analoge Normen in anderen Ländern sind die kühnste Institutionalisierung von Alternativen im politischen Gemeinwesen! In der Grundrechtsdogmatik ist der „Vorbehalt des Möglichen“ bei der Teilhabedimen­sion erforderlich geworden15 (Auch das Völkerrecht braucht Möglichkeitsdenken). bb) Das Offenhalten von Möglichkeiten innerhalb der geltenden Verfassungsordnung ist zentraler Inhalt wichtiger verfassungsrechtlicher Prinzi­ pien. Demokratie, die sich nicht auf der Vorstellung eines einheitlichen, „richtigen“ Volkswillens i. S. J.-J. Rousseaus gründet, soll der Minderheit, der Alternative zur Mehrheit, die Chance eröffnen, selbst zur Mehrheit zu werden. Nach K. Hesse geht es der Demokratie um pluralistische Initiativen 13  U.

Scheuner, Art. Verfassung, in: Staatslexikon, Bd. 8 (1963), Sp. 117 (118). B. Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, 1973, und meine Besprechung in: AöR 100 (1975), S. 520 f. – H. v. Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, 2. Aufl. 1997; Ch. Starck, Die Verfassungen der neuen Länder, in: HStR Bd. IX (1997), S. 353 ff.; P. Häberle, JöR 41 (1993), S. 69 ff.; 43 (1995), S. 355 ff. 15  Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (107, 139 LS 40); BVerfGE 33, 303 (333); L. Michael / M. Morlok, Grundrechte, 3. Aufl. 2012, S. 255 f. 14  Dazu



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und Alternativen16. In amerikanischen Theorien wird Demokratie fast ganz mit Pluralismus und Konkurrenz gleichgesetzt17. Die Offenheit für Alternativen muss wirklich bestehen: in diesem Punkt haben demokratische Ordnungen sich immer wieder der Kritik zu stellen. Alternativenoffenheit kann gefährdet sein durch 5 %-Klauseln18 (oder mehr) oder einen bestimmten Modus der Parteifinanzierung19, durch die „Technostruktur“ (M. Duverger)20, durch ökonomische Chancenungleichheit und Verfestigung von Elitenposi­ tionen; es muss sogar gefragt werden, ob nicht durch ein experimentelles Demokratieverständnis, das die Revidierbarkeit kleiner Schritte zum Prinzip erhebt, grundsätzlichere Alternativen ausgeschlossen werden. Vehikel und Reservoir für Alternativen und Innovationen sind auch die Grundrechte, vor allem dort, wo sie „pluralistische Demokratie“ (vgl. Präambel Verf. Gabun von 1994; s. auch Art. 1 Verf. Bolivien: „pluralismo politico“) ermöglichen: Art. 4, Art. 5 Abs. 1 und 3, Art. 7 Abs. 4, Art. 9 Abs. 1 und 3 GG. Typische Grundrechte „auf “ Alternativen sind solche, die eine Wahlmöglichkeit garantieren: die Freiheit der demokratischen Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG), die Freiheit der Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes, der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG), allgemein die Chancengleichheit im Bildungswesen (z. B. Art. 8 Verf. Mecklenburg-Vorpommern); ebenso könnte man auch Art. 11 Abs. 1 GG als Grundrecht auf freie Wahl des Aufenthaltsorts bezeichnen. Freiheit ist nur ein anderes Wort für Alternativen: wo immer sie verfassungsrechtlich vorkommt; in der grundrechtlichen Freiheit (auch der wirtschaftlichen Freiheit), der Gestaltungsfreiheit von Gesetzgebung und Verwaltung, aber auch des Richters, in der Parteigründungsfreiheit. Freiheit bedeutet wesentlich Möglichkeiten. cc) Zunächst banal erscheint die Feststellung, dass auf der Ebene der Gesetzgebung die Möglichkeit zu verschiedenen Alternativen besteht. Die „richtigen“ Gesetze lassen sich nur zum Teil aus der Verfassung und aus der 16  K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 62 (Neudruck 1999). 17  Dazu W.-D. Narr / F. Naschold, Theorie der Demokratie, 1971, S. 137 ff., 205 ff. und F. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970, S. 29 ff. 18  E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S.  87; dazu auch P. Häberle, Retrospektive Staats(rechts)lehre oder realistische „Gesellschaftslehre“?, in: ZHR 136 (1972), S. 425 (431 f.); D. Grimm, Politische Parteien, HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 599 (627 f.). – Jetzt in Bezug auf die deutschen Wahlen zum Europäischen Parlament aber BVerfGE 129, 300. 19  Vgl. K. Hesse, Die verfassungsstaatliche Stellung der politischen Parteien, VVDStRL 17 (1959), S. 11 (37 Fn. 69): „Prämie auf den Besitz der politischen Macht“; s. später BVerfGE 41, 399 (411 ff., Daniels-Entsch.); E 85, 264. 20  M. Duverger, Demokratie im technischen Zeitalter, 1973, S. 149 ff.

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

„Wirklichkeit“ deduzieren, sie sind auch nicht immer Ausdruck von „Notwendigkeiten“: Der Gesetzgeber hat Gestaltungsfreiheit. Alternativen sind aber nicht schon per se vorhanden; Gesetzgebung ist nicht nur ein Akt der Auswahl. Vielmehr müssen Verfahren organisiert werden, die der Aufstellung von Alternativen dienen, die den Spielraum an Möglichkeiten vergrößern. Die parlamentarische Beratung von Gesetzen muss diese Funktion haben; wichtig sind hier die Öffentlichkeitsgarantien21. „Methoden der Invention“, die die „Gewinnung von Einfällen für neuartige Problemlösungen“ ermöglichen22, müssen für das Gesetzgebungsverfahren noch weiter entwickelt werden. Der Gesetzgeber sollte mit Alternativen gleichsam experimentieren können. Soweit er nicht das Gesetz selbst als Experiment anlegt oder Experimentierklauseln einbaut, kann er die Rechtsvergleichung als Erprobung verschiedener Möglichkeiten betrachten. Das gesetzgeberische „Hearing“, eine Form der Pluralisierung des Rechts23, bezweckt nicht nur die Gewinnung von Tatsachenmaterial, es ist auch ein „Test“ der Reaktionen betroffener Kreise auf verschiedene Regelungsalternativen24. dd) Alternativen als Denkmöglichkeiten im juristischen Prozess werden vor allem im Interpretationsvorgang relevant: bei der Methodenwahl. Dies wurde im Streit um das topische Denken als „produktive Kraft der Interpretation“ vielfältig erprobt. Topik sucht nach möglichen Interpretationsgesichtspunkten. Das verfassungsrichterliche Sondervotum (z. B. Art. 164 Verf. Spanien von 1978, Art. 132 Abs. 2 S. 3 Verf. Albanien von 1998) ist ein prozessual institutionalisierter Ausdruck der Erkenntnis, dass Rechtsnormen verschiedene Interpretationsmöglichkeiten und -alternativen offenlassen und dass die Alternative, für die man sich heute entscheidet, andere Alternativen für die Zukunft nicht ausschließen darf, auch nicht im Völkerrecht. c) Verfassungstheoretische Anforderungen an das Möglichkeitsdenken – Grenzen des Möglichkeitsdenkens Das juristische Möglichkeits- und (pluralistische) Alternativendenken ist kein Selbstzweck. Es ist ein Mittel zur Bewährung und immer neuen Schaffung von Freiheitlichkeit des Gemeinwesens, für gerechten, vernünftigen 21  Zu ihnen P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 103 f. u. ö. (2. Aufl. 2006). 22  P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 113. Vgl. auch den Hinweis auf S. 114: Leibniz’ „ars combinatoria“ als „ars inveniendi“. 23  Zu Pluralismusgesetzen mein Beitrag: Leistungsrecht im sozialen Rechtsstaat, in: FS für Küchenhoff, 1972, S. 453 (465, 472 f.). 24  K. Hopt, Finale Regelungen, Experiment und Datenverarbeitung in Recht und Gesetzgebung, JZ 1972, 65 (69).



III. Das Möglichkeitsdenken als Teil einer Trias 85

Interessenausgleich, Bewährung der Verfassung in der Zeit, Entwicklung der res publica des Menschen und für den Menschen. Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken bewahren das Möglichkeitsdenken vor Utopien, die das Heil in der Zukunft suchen und die Gegenwart vernachlässigen. Möglichkeitsdenken ist ein Mittel, das Innovationspotential von Rechtsnormen zu erschließen (oder neue zu entwerfen). Die Rechtsnormen setzen dem Möglichkeitsdenken freilich auch Grenzen, die später zu erörtern sind. Gerade in der demokratischen res publica wird Alternativendenken realistisch bleiben und wegen des Minderheitenschutzes zu Kompromissen bereit sein. Möglichkeitsdenken kann durchaus im Ergebnis wieder zu einer Bestätigung des Bewährten führen, etwa um die Unhaltbarkeit, die zu hohen Kostenfolgen einer abweichenden Auslegung zu begründen. Es ist im hier verstandenen Sinne nicht revolutionär, sondern evolutionär. Die demokratische Tugend des Sowohl-als-auch, Ausdruck der Toleranz und des Pluralismus, hat Direktive für Alternativendenken zu bleiben. Entweder-Oder-Denken kann eine Form intellektueller Intoleranz sein. Es droht, den Weg zum Ausgleich des „Sowohl-als-auch“ und damit zum demokratischen Kompromiss zu versperren, dessen Vorstufe es sein sollte. Insofern ist das Möglichkeits- und Alternativendenken spezifische Ausprägung des Kritischen Rationalismus mit seinem Postulat der Falsifizierbarkeit, der „conjectures and refutations“. Möglichkeitsdenken setzt Offenheit der Verfassung, des Staates, der Gesellschaft, des Denkens voraus und es schafft zugleich solche Offenheit. Der Kritische Rationalismus, das ihm verpflichtete (transformierte) liberale Denken in Alternativen steht hier Pate. „Heilige Allianzen“ des Bestehenden und über das Bestehende sind schrittweise, wo nötig, in Frage zu stellen. Eine Verfassungstheorie der „offenen Gesellschaft“ lebt von solchem – realistischem – Möglichkeitsdenken. Z. B. sind durch Grundrechtsgarantien, insbesondere im Wissenschafts- und Kunstbereich, viele Möglichkeiten institutionalisiert (auch konkrete Utopien!). Die Erfindung immer neuer Grundrechte in neuen Verfassungen in Europa, Afrika und Lateinamerika, z. T. durch die Wissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit angeleitet, ist positiv zu sehen (Analoges gilt im Völkerrecht für Menschenrechte, Rechtsschutz, Allgemeine Rechtsgrundsätze, ius cogens und kooperative Strukturen). So kann von einer die Rechtsnormen „aufschließenden Kraft“ des Möglichkeits-(Wirklichkeits- und Notwendigkeits-)Denkens gesprochen werden. Juristisches Möglichkeitsdenken ist Ausdruck und Folge, Voraussetzung und Grenze für „offene Verfassungsinterpretation“ (1971).

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

3. Die Integration der Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Vorgang (des Denkens und Handelns) der öffentlichen Verfassungsinterpretation und -politik a) Das Verhältnis der drei Denkrichtungen untereinander (Konkurrenz und Kooperation, Konfrontation und Integration) Die These ist: Inhalt, Geltungskraft und Wandel von Rechtsnormen, aber auch ihre Grenzen lassen sich erst über die offene Trias des Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenkens voll erschließen. Und auch bei der Normsetzung wirken diese drei Denkrichtungen zusammen. Es bestehen Verhältnisse der Konkurrenz, aber auch und vor allem der Kooperation. Die „richtige“ Dosierung der Denkstile wird zu dem Problem juristischen Denkens. Für eine analytische Vorgehensweise müsste die Kooperation von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken ein „Nacheinander“ sein. Zunächst muss die Wirklichkeit erforscht werden, dann muss nach alternativen Möglichkeiten gefragt werden; diese müssen bewertet werden, damit dann Notwendigkeiten festgestellt werden können. Bei dieser Betrachtungsweise handelt es sich nicht um Denkstile, sondern um Denkschritte, die aufeinander folgen. Sie setzt eine scharfe Trennung der auf den einzelnen Stufen zu leistenden Denkweise voraus, die in der Praxis kaum durchgehalten werden kann. Wählt man dagegen einen Ansatz, der auf den neueren Überlegungen zur Topik aufbaut, dann sieht man keine lineare Abfolge von Schritten mehr, sondern ein vieldimensionales und höchst kompliziertes In-, Mit- und Gegeneinander. Das „Mischungsverhältnis“ der Denkstile wird unterschiedlich sein, je nachdem welche Funktion in Frage steht: „Politik“, Rechtsetzung, Rechtsprechung, Verwaltung, und die unterschiedliche Akzentuierung ist ein Merkmal für die Unterscheidung (nicht Trennung!) der einzelnen Staatsfunktionen. Für eine weltoffene Verfassungstheorie der Praxis wird das funktionell-rechtliche Zusammenspiel verschiedener Denkweisen und seine Organisation zum zentralen Problem. Die drei Denkrichtungen begrenzen sich gegenseitig, z. B. bewahrt das Wirklichkeitsdenken die juristische Dogmatik vor einer Vorherrschaft des Status-quo-Denkens, aber auch vor dessen gegenteiligem Extrem: den Veränderungsideologien25. Das Verfassungsverständnis, etwa eine betont praxisbezogene Verfassungstheorie und Leitidee von „guter“, insbesondere kompromissbereiter Verfassungsinterpretation und -politik, entfaltet steuern25  Kritisch P. Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: FS für Maunz, 1971, S. 285 (289 ff.). Zum „Verfassungswandel“: B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982; R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, 2008. – Zur Änderung: Art. XV Verf. Palau (1979).



III. Das Möglichkeitsdenken als Teil einer Trias 87

de Kraft in Bezug auf den Vorgang der Konfrontation und Integration der Ergebnisse, besser: der vorläufigen Ergebnisse der drei Denkschritte. Sie leisten Selektion durch Zielprojektion, „sammeln“ das Material der drei Denkschritte, nehmen Akzentuierungen zwischen ihnen vor – das können sie, weil die Trias offengehalten ist, „locker“ gefügt bleibt und das „Kräfteparallelogramm“ aus – schon oft in sich antagonistischen – Möglichkeiten und Notwendigkeiten unter der Einwirkung normativer Ziele flexibel ist. Aus dem „Ensemble von Möglichkeiten“ sind solche auszuwählen, die die „vorhandene“ Wirklichkeit zu einer besseren fortentwickeln und Gefahren des Umschlagens in eine schlechtere Wirklichkeit abwenden. Das Zusammenwirken der drei Denkschritte setzt also normative „Ein- und Vorgaben“ (den „normativen Input“) voraus (auch in der Völkerrechtspolitik). b) Die Bewertung des Wirklichen, Möglichen und Notwendigen im Horizont des Normativen Hier stellt sich die Gretchenfrage: Wo bleibt angesichts des – juristischen – Wirklichkeits-, Möglichkeits- und Notwendigkeitsdenkens das sog. eigentliche Normative? Löst es sich auf oder ist es nicht vielmehr bislang dadurch verkürzt und verarmt geblieben, dass es nicht konsequent und grundsätzlich ab initio in die Horizonte des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen gestellt wurde? Die Antwort lautet: Das Normative, das Gesollte wird nicht etwa in der Trias der Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Wirklichkeit „verloren“. Von vornherein dürfen Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken nicht „unabhängig“ von der Rechtsnorm praktiziert werden. Es geht um die „Bewertung“ des Wirklichen, der Möglichkeiten und die Einbeziehung des Notwendigen, es geht um die Eingrenzungsaufgabe vom Normativen her. Nicht als ob es unbewertete, voraussetzungslose Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten gäbe! Es wäre eine Illusion, anzunehmen, „gute“ Verfassungspolitik könnte eine Resultante von Faktoren sein, die nicht schon den – das „gute“ Ergebnis determinierenden – normativen „input“ enthielten. Wertungen sind je immer schon im Spiel, selbst bei der noch so empirischen Befundnahme von der Wirklichkeit, bei den noch so sehr von allen Normen freigesetzten („entfesselten“) Möglichkeiten – und der möglichst weitgehende Verzicht auf vorschnelle normative Einbindungen der Möglichkeiten bis hin zum „Abwegigen“ soll die produktive, innovatorische Kraft des Möglichkeitsdenkens freisetzen (Beispiele sind die Sondervoten von Verfassungsgerichten). Schließlich liegen dem „realistisch“ konzipierten Notwendigkeitsdenken normative Zielsetzungen, „Vorgaben“ immer zugrunde; nur müssen sie tunlichst offengelegt werden: für Urteile durch rationale, öffentliche Begründung (vgl. Art. 120 Abs. 3 Verf. Spanien von 1978), dies auch in Internationalen Gerichten.

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

c) Grenzen Im Zusammenhang mit dem Problem der Normativierung sind auch die Grenzen zu sehen, die den drei Denkstilen von der Rechtsnorm gesetzt werden: Die Selektionsleistung der Rechtsnorm liegt darin, dass sie bestimmte – „schlechte“ – Möglichkeiten gerade ausschließen will, dass sie sich auch gegen angeblich noch so dringende „Notwendigkeiten des Gemeinwohls“, die „Staatsräson“ und Ähnliches zu behaupten weiß, dass sie einer bestimmten „schlechten“ – öffentlichen – Wirklichkeit trotzt. So sehr also die erwähnte Trias die Rechtsnormen „aufschließt“, so sehr sind die Grenzen des Vorgangs ins Auge zu fassen. Rechtsnormen haben sich auch gegen bestimmte Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu stellen und zu behaupten. Das Verhältnis ist ambivalent, aber es ist fruchtbar. Ohne Wirklichkeits-, Möglichkeits- und Notwendigkeitsdenken, ohne ihre Konfrontation und Integration gibt es keine sachgerechte Auslegung und Fortentwicklung von freiheitlichen Rechtsnormen, aber auch keine Setzung von Rechtsnormen in freiheitlichen Verfahren. Ohne Rechtsnormen gibt es aber auch kein juristisches Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken! Sie sind Vehikel dieses dreidimensionalen Denkens und als solche unentbehrlich: für alle, die am Typus Verfassungsstaat arbeiten und seine völkerrechtsoffenen universalen Möglichkeiten stärken wollen.

IV. Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive – Die zwei Dimensionen der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive: Zeit und Raum 1. Rechtsvergleichung in der Zeit: Verfassungsgeschichte „Entwicklung“ verläuft zum einen auf der „Zeitschiene“ oder „Zeitskala“. Für den Verfassungsstaat hat sich dazu die eigene Wissenschaftsdisziplin der „Verfassungsgeschichte“ herausgebildet, die heute in den großen Werken von E. R. Huber (Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, 1957, 2. Aufl., 1967, bis Bd. 7, 1984), O. Kimminich (Deutsche Verfassungsgeschichte, 1970), D. Willoweit (Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2009) und M. Stolleis (Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (Bd. I, 1988, Bd. II, 1992, Bd. IV, 2012) präsent ist. Freilich hat sie ihren Gegenstand und ihre Methoden noch nicht so „klassisch“ fixieren können, wie dies der „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ eines F. Wieacker (1952, 2. Aufl. 1967) gelang, die ja Elemente der Verfassung der Freiheit umschließt (vgl. S. 621 ff.). Das ist vielleicht auch gar nicht möglich. E. R. Huber hofft (Vorwort, I. Bd. S. VII), „wenigstens im Abglanz



IV. Der Verfassungsstaat 89

hervortreten zu lassen, wie das noch ungestaltete reale Sein und das Ordnungsgefüge der staatsrechtlichen Institutionen und der Normen, wie die großen Ströme der Ideen und die bewegte Flut der Interessen, wie die Subjektivität der handelnden Kräfte und die Objektivität des sich selbst verwirklichenden Geistes einer Epoche im krisenreichen Ringen um Verfassung untrennbar, doch nicht unterscheidbar ineinander gebunden sind“. Er bekennt sich zu einem „substantiellen Verfassungsbegriff “ (Bd. II, Vorwort S. VII) und fasst bereits eine „gesamteuropäische Verfassungsgeschichte“ ins Auge (teilweise eingelöst jetzt von H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004). M. Stolleis (Bd. I S. 43) spricht von der „evolutionären und gelegentlich revolutionären Veränderung“ der Rechtsregeln, die „das Gemeinwesen konstituieren und das Binnenverhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten sowie die Außenverhältnisse zu anderen Gemeinwesen ordnen“, und er verlangt nach einer „Analogisierung“, d. h. einer Feststellung von Ähnlichkeiten zwischen heute und damals (a. a. O., S. 54). Es geht also um ein Vergleichen in der Zeit. Dadurch können wir „Entwicklungen“ nachzeichnen, das Neue und Andere als Ungleiches zur Sprache bringen. Alles Ringen um Verfassungsgeschichte erweist sich als Vergleichen in der Zeit, ein Ausgreifen vom Näheren zum Ferneren: vom nationalen Verfassungsstaat zum regionalen (heute) europäischen Verfassungsstaat und von da zu universalen Entwicklungen je nach Epoche. Im Einzelnen ist freilich die Rekonstruktion der (verfassungs)geschichtlichen Entwicklung denkbar schwierig, zumal „Vorverständnis und Methodenwahl“ (J. Esser) ihrerseits historisch bedingt sind. Große „Dokumente“ können auch die Zukunft des Verfassungsstaates prägen, auch die des Völkerrechts. 2. Rechtsvergleichung im Raum: Zeitgenössische Komparatistik, weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat Rechtsvergleichung im Raum ist die der Rechtsvergleichung in der Zeit, d. h. der Geschichte zugehörige „andere“ Dimension, die es uns erlaubt, Entwicklungen „nachzugehen“. Zeit und Raum sind zwei jedenfalls für das entwicklungsgeschichtliche Verständnis des Verfassungsstaates zusammengehörende, „geschwisterliche“ Dimensionen. Man mag sich auf Richard Wagners „Parsifal“ („Zum Raum wird hier die Zeit“) berufen oder nicht: fällig wird eine Verfassungstheorie des Raumes26. Damit ist kein Rückgriff 26  Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979, S.  38 ff.; ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S.  778 ff.; ders. auch zum Folgenden, jetzt überarbeitet, Verfassungslehre, a. a. O., S.  74 ff.; zuletzt H. Dreier (Hrsg.), Würzburger Festschrift, Raum und Recht, 2002.

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

auf unselige Raumideologien der NS-Zeit gemeint, zum Glück hat M. Heidegger nach 1933 ja kein Buch „Sein und Raum“, sondern zuvor das Buch „Sein und Zeit“ (1927) geschrieben. Vielmehr geht es um die Einsicht, dass sich Entwicklungen des Verfassungsstaates letztlich nur nachvollziehen lassen, wenn der Raum, heute Europa, ja die Welt in den Blick genommen wird. Nicht erst seit 1989 können wir viele Räume bzw. Kontinente überschreitende Produktions- und Rezeptionsvorgänge in Sachen Verfassungsstaat beobachten. Das sahen wir schon für die heute klassischen Elemente, wie die Gewaltenteilung Montesquieus und ihre „Zündung“ in den jungen USA; eine umgekehrte Rezeption offenbart sich im „Sprung“ des Föderalismus von dort nach Europa (zunächst in die Schweiz). Vor allem aber seit 1989 ist eine weltweite, Osteuropa, Amerika und Teile Asiens einschließende Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft greifbar: Verfassungstexte, wissenschaftliche Paradigmen, richterliche Entscheidungen werden Gegenstand der „Globalisierungsvorgänge“, d. h. ausgetauscht, auch „verwandelt“. Dabei wird auch „Verfassungswirklichkeit“ rezipiert: in der Weise, dass jüngere Verfassungsstaaten das auf Begriffe und Texte bringen, was sich in älteren Ländern nach und nach entwickelt hat (das Textstufenparadigma). So diskutiert Italien heute Elemente des „kooperativen Föderalismus“ in seinem Koordinatensystem als „kooperativen Regionalismus“; so übernahm Spanien seit 1978 vieles, was in Deutschlands Föderalismus gewachsen ist („Bundestreue“). Das spektakulärste Beispiel eines raumübergreifenden Erfahrungsaustausches in Sachen Verfassungsstaat (vor allem Föderalismus und Verfassungsgerichtsbarkeit) aber liefert heute Südafrika27. Aus dieser Befundnahme ergeben sich Folgerungen: die Inthronisierung der Rechtsvergleichung als „fünfter Auslegungsmethode“28 (schon K. Zweigert wagte das Wort von der „universalen“ Auslegungsmethode) – sie tritt der „historischen“ zur Seite; im Bereich der Grundrechte erfolgt deren Integrierung in den Typus Verfassungsstaat z. B. über das Postulat der „menschenrechtskonformen Auslegung“ bzw. deren Verdichtung zu „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“, wie dies der EuGH vorgelebt hat (vgl. jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV), und auf der Ebene von Europa reift die Idee des „Gemeineuropäischen Verfassungsrechts“. Da die „Werkstatt“ in Sachen Verfassungsstaat im Raum immer globaler wird (z. T. kompensiert durch neue Fragmentierungen), sind 27  Aus der Lit.: U. Karpen, Südafrika auf dem Weg zu einer demokratischrechtsstaatlichen Verfassung, JöR 44 (1996), S. 609 ff. Das führende Lehrbuch ist: I.  Rautenbach / E. Malherbe, Constitutional Law, 2. Aufl. 1996; s. auch: The constitutional law casebook, hrsg. von T. Ngcukaitobi u. a., 2012. 28  Erstmals vom Verf. vorgeschlagen in dem Beitrag: Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff. Aus der weiteren Diskussion: A. E. Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 229; A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 7 f., 10 f.



V. Zeit und Verfassungskultur91

die „Werkstücke“ entsprechend weitgreifend in den Blick „zu nehmen“: Pendant zur Weite und Tiefe der verfassungsgeschichtlichen Forschung. Zeit und Raum arbeiten am Typus „Verfassungsstaat“ als „Entwicklungsprojekt“. Die verfassungsstaatliche Methodenlehre wird entsprechend weitgreifend: nicht zuletzt im Dienste einer völkerrechtsoffenen universalen Verfassungslehre. Im Ganzen: Der Verfassungsstaat sichert sein Weiter- und Überleben im Laufe der Zeit durch „große“ (grobmaschige) und „feine“ Instrumente und Verfahren, in einer Balance von Wandel und Konstanz. Zeit und Verfassungskultur29 bildet eine Daseinsweise dieses Typus. Er ist gegen Irrtümer und Umwege auch durch die dargestellte Verfahrensskala nicht gefeit, genauso wenig wie alles andere Menschenwerk. Im Rahmen einer weltweit vergleichenden „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ gewinnt der Verfassungsstaat indes differenziert „Anschluss“ an das heute wohl alle Naturund Kulturwissenschaften prägende Paradigma der „Evolution“. (Jüngstes Stichwort ist: „der Computer als ‚Evolutionsmaschine‘ “.) In einem tieferen Sinne sind alle Verfassungsstaaten „Entwicklungsländer“! – „aus Kultur“ und „als Kultur“. Auch die Teilverfassungen des Völkerrechts leben in der Entwicklung dank vieler „Akteure“: Völkerrechtspolitik.

V. Zeit und Verfassungskultur: Instrumente und Verfahren zur Verarbeitung des Zeitfaktors in Gegenwart und Zukunft Die Verfahren und Instrumente zur verfassungsrechtlichen Verarbeitung des Zeitfaktors im Blick auf Gegenwart und Zukunft sind vielgestaltig; ein stärker „dynamisches“ Verfassungsverständnis wendet sich ihnen primär zu. Gestuft nach dem Grad der Formalisierung ergibt sich folgendes Bild: 1. Zukunfts- und Fortschrittsklauseln Eine besondere Form verfassungstextlicher Beanspruchung der Zukunft findet sich in mehreren Varianten: in der absoluten, „ewigen“ Festlegung auf bestimmte Prinzipien – ähnlich Art. 79 Abs. 3 GG30 –, in der Formulierung eines „immerwährenden Geltungsanspruchs“31 oder in der dauernden 29  Dazu gleichnamig mein Beitrag Zeit und Verfassungskultur, in: A. Peisl  /  A. Mohler (Hrsg.), Die Zeit, 3. Aufl. 1991, S. 289 ff. – Zum Folgenden, jetzt überarbeitet: P. Häberle, Verfassungslehre, a. a. O., S.  95 ff. 30  Vgl. Art. 16 Erkl. 1789; Art. 110 Abs. 1 Verf. Griechenland (1975); Art. 130 Verf. Belgien; Art. 9 Verf. Türkei (1961); Art. 89 Abs. 5 Verf. Frankreich (1958); Art. 75 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern (1946); Art. 288 Verf. Portugal (1976). 31  So Art. 25 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975): „immerwährende Menschen­ rechte“.

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

Negierung besonders verwerflicher früherer Rechtszustände wie der Leibeigenschaft, der Todesstrafe (bis heute nicht universal) oder der Titel. Hier schlägt die scharfe Vergangenheitsbewältigung in einen hohen Zukunftsanspruch um. Eine weitere Thematisierung der Zukunft findet sich in Verfassungen, die ausdrücklich von „segensreicher Zukunft“ sprechen32, die kommenden deutschen Geschlechter bzw. zukünftigen Generationen ansprechen33, von der Republik die Förderung der kulturellen Entwicklung verlangen34 oder den „Fortschritt“ beschwören: in Klauseln, die sich zur Feiertagsgarantie des 1. Mai als Bekenntnis zum Fortschritt äußern (Art. 32 Verf. Hessen 1946) oder weit allgemeiner35. Die zwei Seiten einer Kultur, ihre traditionale wie ihre prospektive, kommen hier deutlich zum Ausdruck36. 2. Verfassungswandel kraft Verfassungsinterpretation Relativ unauffällig und ohne Formalisierung vollzieht sich der Verfassungswandel37 kraft Interpretation, d. h. ohne ausdrückliche Textänderung. Allein im Wege der Interpretation, sei es durch die Gerichte, sei es durch die Staatspraxis, öffentliche Meinung und die Wissenschaft bzw. in ihrem Verbund, wird hier eine Verfassungsnorm neu bzw. anders verstanden. Das Eigentum, z. B. auch das des BGB von 1900, ist so einem tiefgreifenden Wandel unterlegen. Hierher gehören Wachstumsprozesse, die einzelne Ver32  Präambel Hessische Verfassungsurkunde (1831); s. auch die „Zukunft“ in Präambel Verf. Hessen (1946). 33  So die generationenorientierte Präambel der Verf. Bayern (1946); jetzt Präambel Verf. Ukraine (1996): „past, present and future generations“; s. auch Präambel Verf. KwaZulu Natal (1996): „present generation and posterity“. Ähnlich: Präambeln Verf. Kasachstan (1995), Verf. Armenien (1995) und Verf. Aserbaidschan (1996); Präambel nBV Schweiz (1999); s. noch unten mit weiteren Textbeispielen S. 501 ff. 34  Art. 9 Abs. 1 Verf. Italien (1947). 35  Präambel Verf. Spanien (1978): „Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern“. s. auch Art. 41 Abs. 2 Verf. Türkei; s. noch Präambel Verf. Äthiopien: „advancing our economic and social development“. 36  Prägnant Art. 9 Verf. Italien: Die Republik fördert die kulturelle Entwicklung (Abs. 1), sie schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation (Abs. 2). 37  Verf. benutzt hier mit der h. M. (G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, 1906, Nachdruck 1996) den Begriff „Verfassungswandel“, obwohl dieser nach seiner Ansicht eigentlich „verabschiedet“ werden müsste: vgl. P. Häberle, Zeit und Verfassung (1974), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (3. Aufl. 1998), S. 59 (82  f.). Aus der späteren Lit. zum „Verfassungswandel“: A. Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, Der Staat 43 (2004), S. 451 ff.; M. Jestaedt, Herr und Hüter der Verfassung als Akteure des Verfassungswandels, in: H. Neuhaus (Hrsg.), 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 2010, S. 35 (39 ff.).



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fassungsprinzipien mit enormen Resultaten ergriffen haben. So hat das Verständnis des „sozialen Rechtsstaats“ von 2012 z. B. mit der Auslegung des GG von 1949 zum Glück nur noch wenig gemeinsam. Verfassungsinterpretation ist je nach Methode in sich teils retrospektiv, teils prospektiv. Die einzelnen Auslegungsmethoden „organisieren“ nichts anderes als die Zeit! Die historische Auslegung bringt die Entstehungszeit ein, die objektive die Gegenwart und die folgenorientierte, prognostische die Zukunft, die vergleichende ist multifunktional. Vielleicht ist die generelle „Unberechenbarkeit“ der Zeitläufte der Grund, weshalb bislang keine Methodenlehre die einzelnen Auslegungsmethoden gewichten konnte. Vermutlich ist ihr Verhältnis zueinander eine Funktion der Zeit, also flexibel. 3. Sondervoten Das Sondervotum durch alternativ interpretierende Verfassungsrichter kann zu einer speziellen Form der Ankündigung und Beförderung, ja Beschleunigung von „Verfassungswandel“ werden (neben obiter dicta). Vor allem die Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA liefert hierfür erstaunliche Beispiele38, etwa im Zusammenhang mit der Respektierung der New-Deal-Gesetzgebung Roosevelts. Auch bei uns sind schon Anzeichen solcher Wirkungen der „Alternativjudikatur“ von Sondervoten auf die Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG insgesamt nachweisbar39. Spanien ermöglicht Sondervoten schon auf Verfassungsstufe (Art. 164), auch Thailand, andere Länder kennen sie in der Praxis (Lettland, Brasilien und Südafrika). In Europa gibt es Abweichende Meinungen z. B. am EGMR in Straßburg, nicht aber am EuGH in Luxemburg, nicht in Italien. 4. Gesetzgebung(saufträge) Die Tätigkeit des Gesetzgebers lässt sich als ständige Verarbeitung des sozialen Wandels in der Zeit begreifen und offenbart eine Fülle von einschlägigen Verfahren und Techniken. In der Frühzeit des GG galt es, die offenen (oder versteckten) Verfassungsaufträge, etwa zur Gleichberechtigung W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972. bei P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S.  24 ff. Zuletzt K. Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl. 1997, S. 38 ff. Aus der Praxis: W. Rupp- v. Brünneck, Sondervotum BVerfGE 32, 129. Große Sondervoten etwa: D. Grimm: Reiten im Walde, E 80, 164. Weitere große Sondervoten stammen vor allem aus der Feder von H. Simon / W. Rupp-v. Brünneck; s. auch die schon klassischen Sondervoten von H. Simon (Mülheim-Kärlich) und von G. LübbeWolff (z. B. BVerfGE 114, 182 ff.). 38  Dazu

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

der Geschlechter (Art. 3 Abs. 2 GG), der unehelichen Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG) oder auch zur innerparteilichen Demokratie (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) zu „erfüllen“ (vgl. auch Art. 95 Abs. 3, 117 Abs. 2 GG). Aus Osteuropa sei Verf. Albanien zitiert (Art. 59 Abs. 1: „Soziale Ziele“, freilich vor Gericht „nicht unmittelbar einklagbar“, Abs. 2 ebd.). Die Kantonsverfassungen der Schweiz arbeiten besonders gern mit dieser Figur (z. B. Art. 19 Abs. 4 KV Zürich von 2004). In den UN dürfte es viel Analoges geben. 5. Vorwirkung von Gesetzen Nur noch kurz seien zwei erst jüngst stärker bewusste Formen der Hereinnahme der Zeit in die Verfassungsentwicklung erwähnt: zunächst die Vorwirkung von Gesetzen und Verträgen40. Die Vorwirkung formell noch nicht wirksamen Rechts ist ebenso nachweisbar wie – differenziert – zulässig. Im internationalen Bereich fällt die Vorwirkung des Salt-II-Vertrages auf: die USA und die damalige UdSSR hielten sich lange noch stillschweigend an den Vertragsentwurf. Vorwirkungen41 sind aber nichts anderes als eine Beschleunigung des Zeitfaktors (das „Veloziferische“). 6. Experimentier- und Erfahrungsklauseln Schließlich sei ein Blick auf gesetzliche Experimentier- und Erfahrungsklauseln geworfen42. Sie treten besonders in reformfreudigen Zeiten auf und erweisen sich als Versuch einer zeitlich befristeten begrenzten Vorwegnahme des Zukünftigen. In den 70er Jahren wurden sie in Deutschland zum Thema. Bekanntes Beispiel war § 5 b DRiG – die einstufige Juristenausbildung. Hier können diese schon von Montesquieu gesehenen43 Klauseln nicht im Einzelnen diskutiert werden44, sie sind aber als eine Form der „probeweisen“ Vorwegnahme der Zukunft zu registrieren. Heute wendet sich das Interesse der Evaluation von Gesetzen zu: Die Implementationsforschung z. B. behan40  Zur Vorwirkung von Gesetzen: P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 396, Anm. 148, S. 486 ff. (2. Aufl. 2006); ders., Zeit und Verfassung (1974), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (3. Aufl. 1998), S. 59 (83 ff.). 41  Aus der Lit.: M. Kloepfer, Vorwirkungen von Gesetzen, 1974; P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 1974, S. 111 ff. 42  Dazu H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989. 43  Vgl. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, II. Buch, 2. Kap.  a. E. (Reclam 1976, S. 109). 44  Näheres bei P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (3. Aufl. 1998), S.  85 ff.



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delt ganze Gesetze, als ob sie ein Experiment wären, um möglicherweise verbessernde Gesetzesnovellen vorbereiten zu können (besonders im Umweltschutz- und im Planungsrecht); „Gesetzgebung auf Zeit“, z. B. im deutschen Hochschul- und Kommunalrecht, wird zum Thema (zuletzt ihr „Verfalldatum“). 7. Verfassungsänderungen Das klassische Institut, um Neuem formalisiert und unmittelbar Eingang in die Verfassung zu eröffnen, ist die Verfassungsänderung45, also die Änderung des Verfassungstextes in bestimmten Verfahren mit meist qualifizierter Mehrheit als vergrößerter Konsensbasis (vgl. Art. 79 Abs. 2 GG). Alle Verfassungsstaaten mit Verfassungsurkunde kennen diese Möglichkeit, dem Wandel der Zeit auch textlich Rechnung zu tragen, mögen sich die Voraussetzungen im Einzelnen (etwa die Größe der Mehrheit) unterscheiden (dazu z. B. Kap. VII Verf. Gambia, 1997). Verfassungsänderungen können der Anpassung an Entwicklungen dienen, die faktisch schon gelaufen sind; sie können solche aber auch erst herbeiführen (wollen). „Anpassungs-“ und „Gestaltungsänderung“ sind also zu unterscheiden. Dauer und Stabilität einer Verfassung scheinen zunächst gegen Verfassungsänderungen zu sprechen, doch können diese der Dauer und Stabilität eines Gemeinwesens gerade auch dienen, wenn sie „zeitgerecht“ sind. Ob das so ist, lässt sich nur im Einzelfall und bereichsspezifisch sagen. Das gilt erst recht für jene Bündelung von Verfassungsänderungen, die zur „Totalrevision“ einer Verfassung führen sollen. Die deutsche Diskussion in und um die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages in den 70er Jahren hat sich seinerzeit als offenbar unzeitgemäß erwiesen46: Sie ist verfassungspolitisch und wissenschaftlich weitgehend im Sande verlaufen. Die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission (1993) war nur wenig erfolgreich. 2012 beginnt eine Diskussion über GG-Änderungen in Sachen Europa. Die Schweizer Diskussion47 konnte sich demgegenüber mittel- und 45  Aus der Lit.: C. Bushart, Verfassungsänderung in Bund und Ländern, 1989; J. Masing, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Die Verfassungsänderung, in: Der Staat 44 (2005), S. 1 ff. 46  Zu ihr: Enquête-Kommission Verfassungsreform, Schlußbericht 1976 (BT-Drs. 7 / 5924). Zur Gemeinsamen Verfassungskommission: U. Berlit, Die Reform des Grundgesetzes nach der staatlichen Einigung Deutschlands, JöR 44 (1996), S. 17 (27 ff.). 47  Vgl. den Entwurf einer Schweizer Bundesverfassung (1977), abgedruckt in: AöR 104 (1979), S. 475 ff. Zur nBV Schweiz: R.Rhinow / M.Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009. Zum „Kantonalen Staatsrecht“ gleichnamig D. Buser, 2004.

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

langfristig als wirksamer erweisen: dies zeigt die erfolgreiche Diskussion um eine „nachzuführende“ Bundesverfassung (1995 / 99). Besonders fruchtbar aber waren und sind die Totalrevisionen der Schweizer Kantonsverfassungen, etwa Appenzell A.Rh. (1995), Schaffhausen (2002), Graubünden (2003), Basel-Stadt (2005). In Österreich ist der „Verfassungskonvent“ 2004 / 05 gescheitert.

VI. Die Europäisierung und Internationalisierung – der „kooperative Verfassungsstaat“ – das Weltbild des Verfassungsstaates 1. Die Europäisierung des Verfassungsstaates Die Europäisierung des Rechts im Ganzen, aber auch seiner Teildisziplinen ist heute zum geflügelten Wort gediehen. Das „gemeineuropäische Zivilrecht“, wohl erstmals von H. Kötz konzipiert48, findet seine Entsprechungen im „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“49. Weitere Stichworte liefern H. Coings von „Bologna bis Brüssel“ sowie dessen Forschungen zur Europäischen Rechtsgeschichte, aber auch alle Bemühungen um europäisches Arbeits- oder Sozial-, auch Strafrecht. Für die vergleichende Verfassungslehre werden diese allgemeinen Entwicklungen, die sich nicht ins Unbestimmte verlieren sollten, auf drei – in kulturelle Tiefendimensionen reichenden – Teilfeldern greifbar, für die übergreifend der Satz gilt: Kultur und Recht „machen“ Europa-Rechts-Kultur, auch Völker-Rechts-Kultur. a) Die „Europäisierung“ durch Europarecht im engeren und weiteren Sinne Europarecht im „engeren Sinne“ ist das Europarecht der EU bzw. früher der EG. In der Wissenschaft hat es zu Glanzleistungen wie dem „Europäischen Verwaltungsrecht“ (J. Schwarze, 1988, 2. Aufl. 2005), durch die Entdeckung des europäischen Privatrechts in der EG (P.-C. Müller-Graff, 1989) und Pioniertaten wie H. P. Ipsens Europäisches Gemeinschaftsrecht (1970) geführt. Die Rechtsprechung des EuGH hat etwa in Gestalt der Grundrechte als „allgemeine Rechtsgrundsätze“ entsprechende Leistungen vollbracht, die das Europarecht fast als prätorisches Recht analog dem Ju48  H.

Kötz, Gemeineuropäisches Zivilrecht, FS K. Zweigert, 1981, S. 481 ff. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht (1991), in: ders., Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33  ff.; ders., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, 1997. 49  P.



VI. Die Europäisierung und Internationalisierung97

ristenrecht Roms erscheinen lassen. Das Europarecht im weiteren Sinne ist das Recht des Europarates mit seinen Höhepunkten in einzelnen Judikaten des EGMR. Österreich und die Schweiz gehen anderen Europaratsmitgliedern pionierhaft voraus, indem sie der EMRK Verfassungsrang beilegen50. Diesem Europarecht im weiteren Sinne sollte seitens der europäischen Verfassungslehre viel Aufmerksamkeit gelten. Denn es bildet eine Wachstumsstufe des europäischen („europäisierten“) Verfassungsstaates selbst. b) Das „Gemeineuropäische Verfassungsrecht“ Das „Gemeineuropäische Verfassungsrecht“, 1991 in die Diskussion eingebracht51, umschreibt einen Teilaspekt der europäischen Verfassungsgemeinschaft. Es speist sich aus Gemeinrechtsdenken und Prinzipiendenken (i. S. J. Essers), ohne die Vielfalt der nationalen Rechtskulturen, ihre Partikularität, einebnen zu wollen. c) „Nationales Europaverfassungsrecht“ Eine wissenschaftlich lange wenig erforschte Dimension der Europäisierung sei hier als nationales „Europaverfassungsrecht“ benannt52. Gemeint sind die quantitativ und qualitativ zunehmenden Europa-Artikel, die sich in einzelnen Verfassungsstaaten finden. Dem GG wurden jüngst besonders viele „Europaartikel“ hinzugefügt (Art. 23, 24 a Abs. 1 a, 28 Abs. 1 S. 3, 45, 50, 88 S. 2; auf Länderebene z. B. Art. 3 a Verf. Bayern von 1998, Art. 74 a Verf. Rheinland-Pfalz von 2000). In den österreichischen Landesverfassungen finden sich ebenso viele Europaartikel wie in den neuen Regionalstatuten Italiens (dazu S. 574 ff., 616 ff.) und in manchen Spaniens. Auch Art. E Abs. 1 Verf. Ungarn (2012) normiert die Mitwirkung bei der Schaffung der „europäischen Einheit“. Aus Werden und Entwicklung des „nationalen Europaverfassungsrechts“ in seinen vielerlei Erscheinungsformen ergeben sich aber auch Konsequenzen für konkrete Verfassungsprobleme, z. B. für Einzelfragen des Art. 32 50  A. Bleckmann, Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonven­tion?, EuGRZ 1994, S. 149 ff. Aus der Lit.: M. Ruffert, Die EMRK und innerstaatliches Recht, EuGRZ 2007, S. 245 ff.; aus der Judikatur: BVerfGE 128, 326 (369 ff.). 51  s. meinen gleichnamigen Beitrag in EuGRZ 1991, S. 261 ff.; auch in: ders., Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33 ff. 52  Dazu mein Beitrag: Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe für den Ausbau von nationalem „Europaverfassungsrecht“, FS Everling, Bd. I, 1995, S. 355 ff., sowie: Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 52 f., 118, 150.

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GG. Insbesondere muss dessen Abs. 1 wohl neu – d. h. „europäisiert“ – gelesen werden. Wenn hier seit 1949 gesagt wird, „die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten ist Sache des Bundes“, so ist seit dem neuen Europa-Artikel 23 GG von 1992 zu fragen, ob die im Kontext Europas wirkenden Verfassungsstaaten wirklich noch „auswärtige Staaten“ sind; m. a. W.: Das Außen / Innen-Schema ist gerade in Europa grundsätzlich in Frage gestellt. Die EU-Staaten sind einander nicht mehr „Ausland“, es gibt vor allem das „Euroland“ mit derzeit 17 Staaten, wobei sich freilich im Blick auf den (völkerrechtlichen) Fiskalpakt von 2012 und dem Fernbleiben von Tschechien und Großbritannien immer deutlicher ein Kerneuropa zeigt bzw. ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten (ebenso wie schon beim Abkommen von Schengen, das seit 2012 mehr Ausnahmen zulässt). Das BVerfG hat kürzlich Art. 19 Abs. 3 GG „europäisiert“ gelesen (E 129, 78)53. 2. Der kooperative Verfassungsstaat a) Ursachen und Hintergründe Die Ursachen und Hintergründe der Entwicklung zum kooperativen Verfassungsstaat sind komplex. Vornehmlich zwei Faktoren stehen im Vordergrund: die soziologisch-wirtschaftliche Seite und die ideell-moralische Seite. Herausragender Faktor und Motor der Tendenz zur Kooperation ist die wirtschaftliche Verflechtung der (Verfassungs-)Staaten. Lässt sich vom „europäischen Staat“ (besser: „Verfassungsverbund“, I. Pernice, oder „Verfassungsgemeinschaft“) sagen, er komme zunächst von der Wirtschaft her, so gilt dies erst recht für den kooperativen Verfassungsstaat. Er wird bewirkt durch die wirtschaftlichen Verflechtungen und er bewirkt diese mit. Die heutige „Globalisierung“ intensiviert diese Entwicklungen. Doch geht es letztlich um kulturelle Prozesse: in der „einen Welt“, mit dem Völkerrecht und seinen Teilverfassungen, z. B. den universalen Menschenrechtspakten. Die Erkenntnis der wirtschaftlichen Kooperationsformen und ihre „Umsetzung“ in adäquate juristische Begriffe, Verfahren und Kompetenzen verlangt eine Anknüpfung an Methoden und Gegenstand der „Staatswissen­ schaf­ten“54, jetzt ins Universale erweitert, z. B. in Sachen Rechtsschutz. Die ideell-moralischen Hintergründe der Entwicklung zum kooperativen Verfassungsstaat (mit seiner Völkerrechtsfreundlichkeit i.  S. des BVerfG) lassen sich nur andeuten: Sie sind zum einen Ergebnis seiner Konstituierung 53  Dazu schon M. Kotzur, Der Begriff der inländischen juristischen Person nach Art. 19 Abs. 3 GG im Kontext der EU, DÖV 2001, S. 192 ff. 54  Dazu T. Oppermann, JZ 1967, S. 725 ff.



VI. Die Europäisierung und Internationalisierung99

durch Grund- und Menschenrechte. Die „offene Gesellschaft“ (auch in neuen Verfassungen textlich bezeugt) verdient dieses Prädikat nur dann, wenn sie auch die international offene Gesellschaft ist. Grund- und Menschenrechte verweisen den Staat und „seine“ Bürger auch auf das „Andere“, sog. „Fremde“, d. h. andere Staaten mit ihren Gesellschaften bzw. die „fremden“ Bürger. Der kooperative „völkerrechtsfreundliche“ Verfassungsstaat lebt von wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Kooperationsbedürfnissen sowie – anthropologisch – vom Kooperationsbewusstsein (Internationalisierung der Gesellschaft, des Datennetzes, Internet- und Weltöffentlichkeit, Demonstrationen mit außenpolitischen Themen, Legitimation von außen, re­ gional: europäische, lateinamerikanische, afrikanische und – seit 2012 verstärkt – arabische Öffentlichkeit). Die Umrisse des universalen Konstitutionalismus werden sichtbar, im Kontext des zugehörigen Völkerrechts. b) Grenzen und Gefährdungen Der westliche Verfassungsstaat war bis 1989 zahlenmäßig ein relativ seltener Staatstypus. Er konkurrierte mit den sog. „sozialistischen“ Staaten einerseits, autoritären bzw. totalitären Staaten in Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien andererseits. Es wäre kurzsichtig, ja gefährlich, wenn sich die vergleichende Verfassungslehre dieses Tatbestands heute nicht erinnerte, wenn sie – begeistert vom eigenen „Modell“ – europäische Kooperationsformen konstruierte, die die eigenen Staaten so öffnen, dass sie Gefahren durch die „wilden“ Staaten (die ja ihrerseits Subjekte des Völkerrechts sind) ausgesetzt werden (Beispiele finden sich noch in Afrika und Asien: Nordkorea!). Gewiss, die „werbende Kraft“ (und der Erfahrungsschatz) des (westlichen) Verfassungsstaates ist groß, und sie dürfte sich in der Welt­ öffentlichkeit in dem Maße steigern, wie mit der Kooperation noch ernster gemacht wird. Doch ist nicht zu übersehen, dass verfassungsstaatliche Errungenschaften wie rechtsstaatliche Formelemente, demokratische Strukturprinzipien, die Menschenrechte oder der Rechtsbegriff immer wieder bedroht sind und die teilweise sehr andere Wertstruktur (und Identität) dritter (z. T. der islamischen) Staaten sich dem verfassungsstaatlichen Modell weder anpassen kann noch will. Auch mit ihnen muss aber (begrenzte) Koopera­ tion möglich sein. Das verlangt schon das universale Völkerrecht. Es liegt also eine Ambivalenz im Thema „Verfassungsstaat und interna­ tionale Verflechtungen“. Einerseits birgt die Möglichkeit der Kooperation große Chancen und Herausforderungen: die konstituierenden Elemente des Verfassungsstaates (wie rechtsstaatlich-demokratische Verfahren, unabhängige Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, Gewaltenteilung) können „exportiert“ werden, um die Staatengemeinschaft zu verfassen (so nach 1989 in Richtung Osteuropa oder Südostasien, seit 2011 in Arabien). Andererseits sind

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die Gefahren aus dem „Import“ offenkundig55. Es kommt zu Rückwirkungen und Sachzwängen: der kooperative Verfassungsstaat als Typus droht in seinen dogmatisch-rechtsstaatlichen Elementen, etwa in Währungsfragen, in eine Gefahrenzone für seine – freilich wandlungsoffene – Identität zu geraten: die Verflechtung mit (Noch)Nicht-Verfassungsstaaten wie einigen Entwicklungsländern, wohl auch mit multinationalen und privaten, nichtstaatlichen Organisationen kann zu einer negativen Sogwirkung führen. Es kommt zu Reibungen zwischen dem Verfassungsstaat und dem völkerrechtlichen Staatsbegriff56, zwischen verschiedenen Wirtschaftsverfassungsmodellen (z. B. in „Entwicklungsländern“ oder in Nordkorea und Kuba), zu Rückwirkungen auf die nationalen Wirtschaftsverfassungen. Es kann zu Erosionen des Verfassungsstaates kommen, zu deren Verhinderung sich die Dogmatik und Politik des Verfassungsstaates einiges einfallen lassen muss. Doch ist auch eine „Aktivbilanz“ denkbar: i.  S. eines Wettbewerbs zwischen den Staaten in Bezug auf die bedingt auswechselbaren und übertragbaren Elemente ihrer Verfassungsstaatlichkeit auf dem Weg zu einem optimalen „Modell“ von kooperativer Verfassungsstaatlichkeit, die ein Mosaikstein des universalen Konstitutionalismus werden sollte (die Präambel EUV von 2007 spricht von „Menschenrechten, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtstaatlichkeit als universellen Werten“; dazu gehört der Rechtsschutz). c) Koordinations-, Koexistenz- und Kooperationsvölkerrecht:Verfassende Elemente der Völkerrechtsgemeinschaft – universales Menschheitsrecht aa)  Die Organisation der Staatengemeinschaft lässt sich am ehesten historisch erschließen. Schon in der Völkerbundsatzung (1919), der „Verfassung“ der ersten umfassenden politischen Organisation der Staatengemeinschaft, wird von der „Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen“ gesprochen. Sie gilt neben der „Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit“ als Ziel des Völkerbundes. Die in der Präambel dieser Satzung wie auch in den 26 Artikeln angegebenen Mittel zur Verwirklichung dieses Friedenszieles aber sind die typischen Verpflichtungen einer als Koordinationsrecht verstandenen Völkerrechtsordnung (Abrüstung, Besitzschutz, Kriegsverbot und friedliche Streiterledigung). Wie die Gründung des Völkerbundes war auch die der Vereinten Nationen (1945) eine Reaktion auf die Erschütterungen und Leiden des vergangenen Krieges. Anders als in der Satzung des Völkerbundes wird jedoch in der Charta der 55  Zum GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen, gleichnamig mein Bonner Vortrag, in: C. Hillgruber  /  C. Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 173 ff. Dazu unten S. 183 ff. 56  Zu ihm: M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 81 ff.



VI. Die Europäisierung und Internationalisierung101

Vereinten Nationen die Zusammenarbeit zwischen den Völkern nicht als Ziel sondern als Mittel angegeben, „um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“ (Art. 1 Abs. 3 Charta der VN). So bekräftigt auch die Präambel der Charta die Entschlossenheit der Gründerstaaten der Vereinten Nationen, „internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaft­ lichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern“. Dies ist ein Stück „Weltrechtskultur“ und wird Grundwert des Verfassungsstaates selbst. bb) Es lassen sich verschiedene regionale Formen intensivierter Kooperation beobachten. Weiter als auf universeller Völkerrechtsebene ist die Konstitutionalisierung der Völkerrechtsgemeinschaft (via Teilverfassungen) auf regionaler Ebene fortgeschritten. Abgesehen von den Regionalen Organisationen und Systemen kollektiver Sicherheit nach Kap. VIII der Charta der Vereinten Nationen, etwa der OAS, der WEU, der NATO, gilt dies besonders für die Europäische Gemeinschaft, deren „Verfassung“57 die Verträge von Paris und Rom, zuletzt Lissabon sind. Ein partieller Souveränitätsverzicht zugunsten der „Gemeinschaftsgewalt“ der EG in Verbindung mit der in Art. 5 EGV bzw. jetzt Art. 222 AEUV verankerten grundlegenden Solidaritätspflicht der Mitgliedstaaten war und ist Voraussetzung für die Verwirklichung der Vertragsziele, insbesondere der Wirtschaftsintegration, der Regional- und der Sozialpolitik durch unabhängige rechtsetzende und rechtsprechende Organe. Die Herstellung unmittelbarer Legitimation der Gemeinschaftsorgane durch ein direkt gewähltes Europäisches Parlament dürfte das Dogma der nationalen Souveränität Schritt für Schritt zugunsten einer sachlich begründbaren Aufgabenverteilung zwischen Staat und „übernationaler Organisation“ zurücktreten lassen. Die Annahme einer neuen „europäischen“ Identität58 bahnt der Ausübung „sozialer Verantwortung“ reicher Regionen gegenüber ärmeren und der allgemeinen Hebung des Lebensstandards59 den Weg. Integration als Steigerungsform der Kooperation 57  H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 64 ff.; vgl. BVerfGE 22, 296: „Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar.“ Zur Diskussion heute vgl. S. Oeter, Souveränität und Demokratie als Problem in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), S.  659 ff.; G. C. Rodriguez Iglesias, Zur „Verfassung“ der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1996, S. 125 ff.; allgemein: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011. 58  Vgl. Art. 128 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 167 AEUV): „Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung“. Art.  7 Abs.  5 Verf. Portugal (1976 / 92): „europäische Identität“. 59  Vgl. Art. 2 EGV sowie Abs. 5 der Präambel: „In dem Bestreben, ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie

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kann damit als Perspektive auch internationaler Kooperationsbestrebungen angesehen werden. Der „Staatenverbund“ der EU (BVerfG), besser: der „Verfassungsverbund“ der EU (I. Pernice) bzw. die „Verfassungsgemeinschaft“ hat heute die Kooperation zur immer dichteren Integration geführt. Dies könnte ein Modell für Zusammenschlüsse in Afrika, Lateinamerika und Asien sein („Asean“). Sie bereichern den Konstitutionalismus. Die europäische Integration nahm ihren Anfang bereits mit der Gründung des Europarats (1949). Seine Satzung wurde in der Überzeugung angenommen, „dass die Festigung des Friedens auf den Grundlagen der Gerechtigkeit und internationalen Zusammenarbeit für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft und der Zivilisation von lebenswichtigem Interesse ist“. Speziell der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Staaten unter Einbeziehung auch einiger außereuropäischer Staaten wie der USA und Japans gewidmet ist das Übereinkommen über die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 1960. Diese Organisation wurde nach der Präambel unter anderem „in der Überzeugung (sc.: gegründet), dass eine umfassendere Zusammenarbeit entscheidend zur Förderung friedlicher und harmonischer Beziehungen zwischen den Völkern der Welt beitragen wird“ und „dass die wirtschaftlich weiter fortgeschrittenen Nationen zusammenarbeiten müssen, um die Entwicklungsländer nach besten Kräften zu unterstützen“ („Kooperationsverfassungsrecht“, Beispiele in Art. 87 und Tit. XIV Verf. Frankreich, 1958/2008). Eine Sonderstellung unter den Formen verstärkter, jedoch regional begrenzter Kooperation nimmt die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 (KSZE, heute OSZE) ein. Entscheidend ist hier nicht so sehr die Rechtsform und mögliche völkerrecht­ liche Verbindlichkeit der Erklärungen, sondern die durch diese Akte ver­ anschaulichte innere Beziehung zwischen militärischer und allgemeiner Sicherheit und verstärkter Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, sozia­ lem, wissenschaftlichem, technischem, kulturellem Gebiet. Die Schlussakte („Helsinki“), an der auch die osteuropäischen Staaten beteiligt waren, dokumentiert mit ihren Grundsatz- und Absichtserklärungen ein für die Weiterentwicklung des Völkerrechts und des internationalen Menschenrechtsschutzes wesentliches Kooperationsbewusstsein der Staaten. Seit „1989“ hat es sich vertieft. In Lateinamerika sind der Mercosul und der Andenpakt zu nennen, in Afrika die „Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft“. cc) Daraus ergeben sich Ansatzpunkte eines „humanitären“ und „sozialen“ Völkerrechts und weltweit für das seit 1994 in der WTO institutionaden Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern …“ (jetzt Präambel Abs. 5 AEUV).



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lisierte Welthandelssystem als Teilverfassung. Die Verlagerung des Schwerpunkts der Arbeit der UNO von der Aufrechterhaltung eines bloßen ne­ gativen Friedens (i. S. der Abwesenheit von militärischer Gewalt) auf die Schaffung einer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Infrastruktur für einen „positiven Frieden“ durch größere soziale Gerechtigkeit führt die völkerrechtliche Entwicklung hin zu einem Kooperationsrecht im materiellen Sinne. So heißt es in der am 24. Oktober 1970 von der Generalversammlung verabschiedeten Erklärung zu den Grundprinzipien des Völkerrechts über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, dass Staaten ungeachtet ihrer Unterschiede im politischen, wirtschaftlichen und sozialen System zur Zusammenarbeit auf den verschiedenen Ebenen der internationalen Beziehungen verpflichtet sind, um den internationalen Frieden und die Sicherheit zu erhalten, wirtschaft­ liche Stabilität und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben, ebenso wie die allgemeine Wohlfahrt der Staaten und die internationale Zusammenarbeit, frei von jeder Diskriminierung, die auf solchen Unterschieden beruht. In Sachen Umweltschutz wären die beiden Gipfeltreffen in Rio (1992 / 2012) zu nennen. Auch hier könnte das (teil-)konstitutionalisierte Völkerrecht dem universalen Konstitutionalismus dienlich sein. d) Vom souveränen Nationalstaat zum kooperativen Verfassungsstaat In dem Maße, wie aus der völkerrechtlichen Perspektive die Kooperation zwischen den Staaten an die Stelle der bloßen Koordination und der bloßen Ordnung der friedlichen Koexistenz (d. h. der Abgrenzung nationaler Souveränitätsbereiche voneinander) tritt, sind im Felde des nationalen Verfassungsrechts Tendenzen erkennbar, welche die Aufweichung des strikten Innen-  /  Aussenschemas zugunsten einer Völkerrechtsoffenheit bzw. -freundlichkeit und Völkerrechtsgebundenheit anzeigen. Hier einige Beispiele zur innerstaatlichen Textstufenentwicklung: Ein wichtiger Aspekt ist die Frage der Völkerrechtsoffenheit in Verfassungstexten (vgl. BVerfG 6, 309 (362); 31, 58 (75): „Völkerrechtsfreundlichkeit“). Als älteste noch heute geltende geschriebene Verfassung enthält diejenige der Vereinigten Staaten von Amerika vom 17. September 1787, abgesehen von einigen Bestimmungen über die auswärtige Gewalt (Art. 1 Section 8 Abs. 3 und 10 sowie Art. 2 Section 2 Abs. 2)60, keinerlei Aussagen über das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu anderen Nationen. Andere ältere Verfassungen, wie diejenige Norwegens von 181461, der Niederlande von 1815, in: G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, Bd. I, 1964, S. 10 ff. in: P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, S. 404 ff. 60  Text 61  Text

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Belgiens von 1831 und Luxemburgs von 1868, haben sich gegenüber ihrer ursprünglichen Introvertiertheit erst durch jüngste Verfassungsänderungen dem Völkerrecht geöffnet. Indem die neueingefügten Verfassungsartikel im Hinblick auf die europäische Integration die Übertragung von Hoheitsgewalt auf überstaatliche oder völkerrechtliche Organisationen und Einrichtungen gestatten, dokumentieren sie die Bereitschaft zu einem Souveränitätsverzicht, der dem traditionellen Völkerrecht fremd war. Erstmalig sind entsprechende Bestimmungen in der Verfassung Italiens von 1947 (Art. 11) und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 (Art. 24 Abs. 1) niedergelegt worden. Die neue griechische Verfassung von 1975 enthält sie in Art. 28 Abs. 262. Dass sich hier ein möglicherweise allgemeiner grundlegender Wandel im Selbstverständnis souveräner Staaten anzeigt, lässt die neue Verfassung des Königreichs Schweden von 1975 vermuten, die im Gegensatz zur Verfassung von 1809 trotz der unveränderten Neutralität Schwedens in Kapitel 10 § 5 Abs. 2 bestimmt, dass Aufgaben der Rechtsprechung und der Verwaltung „einem anderen Staat, einer zwischenstaatlichen Organisation oder einer ausländischen oder internationalen Einrichtung oder Gemeinschaft übertragen werden“ können (s. jetzt Kap. 10 § 5 Abs. 3). Regional werden spezifische „Europa-Artikel“ üblich (z. B. Art. 23 n. F. GG; Titel XV Art. 88-1 bis 7 Verf. Frankreich von 1958 / 2008), auch in Österreich (z. B. Art 1 Abs. 3 Verf. Salzburg von 1999, Art. 55 Verf. Voralberg von 1997)63 und Italien (Art. 1 Regionalstatut Apulien von 2004, Präambel und Art. 1 Abs. 1 Regionalstatut Piemont von 2005)64. In Spanien finden sich in den Regionalstatuten reiche Europa-Artikel (z.  B. Präambel und Art. 13 Abs. 1 Balearen (1983 / 2007), Präambel Aragón (1982 / 2007), Art.  1 Abs.  4 Valencia (1982 / 2006), Art.  1 Abs.  2 Kastilien / León (1983 / 2007)). Bekenntnisse zur internationalen freundschaftlichen Zusammenarbeit sind vorwiegend in jüngeren Verfassungen enthalten. So bekräftigt Irland nach Art. 29 seiner Verfassung von 1937 „seine Ergebenheit gegenüber dem Ideal des Friedens und der freundschaftlichen Zusammenarbeit unter den Völkern auf der Grundlage internationaler Gerechtigkeit und Moral“. Das japanische Volk erklärt sich nach der Präambel seiner Verfassung von 1946 entschlossen, „die Früchte friedlicher Zusammenarbeit mit allen Völkern … zu erhalten“. Die Verf. von Ecuador (2008) normiert ein ganzes Bündel von auf die Welt und Lateinamerika bezogenen Kooperations- und Integrationsaufgaben (Titel 8). In Afrika findet sich ein ähnlicher Gedanke (z. B. Art. 15 62  „To serve an important national interest and to promote cooperation with other States, competences under the Constitution may be granted by treaty or agreements to organs of international organizations …“ 63  Zit. nach JöR 54 (2006) S. 367 (379 ff. bzw. 384 ff.). 64  Zit. nach JöR 58 (2010), S. 434 (450 f. bzw. 457 ff.); dazu noch unten S. 686 ff.



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alte Verf. Angola von 1992, Präambel Art. 117 Verf. Mali von 1992). Die Präambel der Verf. Kosovo (2008) spricht von „Kooperation mit allen Nachbarländern“, Art. 10 Verf. Bolivien (2007) beschwört die „Kooperation mit den Völkern der Region und der Welt“. Demgegenüber spricht die Verf. Nicaragua (1986) von der „Einheit der Völker Lateinamerikas und der Karibik“ (Art. 9 Abs. 2): „Stoff“ für den kooperativen Verfassungsstaat. Schon der kurze Streifzug durch die europäischen und einige außereuropäische Verfassungen lässt eine Tendenzwende vieler (Verfassungs-)Staaten zur internationalen Kooperation erkennen. Die Analyse von zahlreichen anderen heute geltenden Verfassungen auch der „Entwicklungsländer“ dürfte diese Tendenz nur bestätigen65. Auf spezielle Öffnungs- bzw. Kooperationsklauseln, die letztlich auf kulturellen Gemeinsamkeiten wie derselben Sprache beruhen, sei verwiesen (vgl. Art. 15 Abs. 3 Verf. Portugal von 1976 / 92 in Bezug auf fremde Staatsbürger aus „portugiesisch-sprachigen Ländern“ bzw. Art. 11 Abs. 2 Verf. Spanien von 1978 / 92 hinsichtlich von Verträgen über doppelte Staatsangehörigkeit mit „iberoamerikanischen Ländern“). Klassisch bleibt das Wort Spaniens von den „beiden Hemisphären“ in Art. 1 Verf. Cádiz von 181266. Leider zerbrach der Traum von einem „spanischen Commonwealth“ wegen Napoleon. 3. Die – begrenzte – Integrationskraft von Verfassungen Einleitung Dieses Thema wäre ohne R. Smend (1928 / 1956)67 weder gestellt, noch nach Maßgabe der folgenden Überlegungen vorläufig beantwortet worden68. Gemeint ist seine Integrationslehre einerseits und sein zum Klassikertext gereiftes Wort andererseits: „Es gibt nur soviel Staat, wie die Verfassung konstituiert.“ Kongenial hat dies später der Kronjurist der SPD A. Arndt ähnlich formuliert. Die neue Verfassung Brandenburgs (1992) denkt parallel, insofern sie ihren großen Text beginnen lässt 65  Vgl. z. B.: Verfassung der (alten) Republik Niger (1960), Präambel, Abs. 2: „They affirm their determination to cooperate in peace and friendship with all peoples who share this ideal of Justice, Liberty, Equality, Fraternity and Human ­ Solidarity.“ Weitgehend Art. 145 Abs. 1 Verf. Paraguay (1992): „The Republic of Paraguay, on an equal footing with other states, accepts a supranational legal system that would guarantee the enforcement of human rights, peace, justice, and cooperation, as well as political, socio-economic and cultural development.“ 66  Zit. nach J. de Esteban, Dir., Las Constitutiones de Espana, 2. Aufl. 2000, S. 122. 67  Verfassung und Verfassungsrecht (1928) bzw. Art. Integrationslehre, Integra­tion (1956), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010, S. 119 ff. bzw. 475 ff. 68  Die folgenden Zeilen stellen den hier überarbeiteten gleichnamigen Beitrag für die FS Kirchhof dar (2012).

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mit den Worten: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger Brandenburgs, geben uns diese Verfassung …“ Von „Staat“ ist nicht die Rede. Damit ist allen offenen und versteckten, in Deutschland so beliebten präkonstitutionellen bzw. postmonarchischen Staatsverständnissen eine klare Absage erteilt; freilich leben diese in der Literatur nach wie vor weiter69, während der Schweiz und manchen Autoren in Österreich dieser deutsche Staatsbegriff stets unverständlich war. Die Idee von R. Smend / A. Arndt ist besonders fruchtbar für die Europadebatte: EU und Europarat leben aus und in (Teil-)Verfassungen, ohne dass sie Staaten wären. Erster Teil Die den Staat konstituierende Verfassung – „Verfassungsstaat“ – Verständnisse von Verfassungen – Das „gemischte“ Verfassungsverständnis – Integrationsprogramme – Grenzen – Akteure Vorbemerkung Wort und Sache von „Verfassungstheorie“ haben derzeit Konjunktur70. Der Verfasser darf darauf hinweisen, dass er im Jahre 1974 den Aufsatz gewagt hat: „Verfassungstheorie ohne Naturrecht“71. Im Rückblick bedauert er freilich, dass ein Fragezeichen am Ende des Titels fehlt. Denn erst später wurde ihm (schon 1976 von G. Dürig angemahnt) klar, dass das Naturrecht bei aller Anerkennung der Integrationsinhalte und -kräfte einer Verfassungstheorie und des Verfassungsrechts als letzte „Reserve“ national wie übernational präsent bleiben muss. Vor allem die Menschenwürde als „kulturanthropologische Prämisse“ des Verfassungsstaates kann wohl zu keiner Zeit des Rückgriffs auf vorstaatlich gedachtes Naturrecht entbehren, zu prekär sind alle Erscheinungsformen von Staaten, auch und selbst der Verfassungsstaat und seine „Welt“ sowie der nationale und internationale Frieden. So sehr die Verfassungstheorie heute eine gewisse Renaissance erlebt (auch in Italien: G. Zagrebelsky, Diritto mite, 1992), so hartnäckig gebärden sich alle offenen und versteckten Formen von „Staatlichkeit“. Speziell in Deutschland bleibt es wohl bei einem „ewigen Ringen“ um das Verhältnis von Staat und Verfassung. Der Autor dieser Zeilen freilich hat sich seit langem, auf der Linie seines akademischen Lehrers K. Hesse, für das Denken „von der Verfassung her“ entschieden. In wiefern dies im Völkerrecht möglich ist, zeigt sich wohl im weiteren Verlauf der Diskussion um die „Konstitutionalisierung“ des 69  Vgl. nur J. Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR, Bd. I, 1987, § 13 Rd. Nr. 41: Der moderne Staat als „präkonstitutioneller Grundtypus“. 70  Vgl. den Sammelband O. Depenheuer / C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010; T. Vesting / S.  Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011; H. Hofmann, Vom Wesen der Verfassung, JöR 51 (2003), S. 1 ff.; H. Vorländer (Hrsg.), Integration und Verfassung, 2002; D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 3. Aufl. 2002. – Teilaspekte auch in dem Band H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Beiheft 7, Die Verwaltung 2007; R. Gröschner u. a. (Hrsg.), Freistaatlichkeit, 2011; M. Jestaedt/O. Lepsius/C. Möllers/C. Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011. 71  AöR 99 (1974), S. 437 ff. (wiederabgedruckt in M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1978, S. 418 ff.).



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Völkerrechts72. In wieweit dies vom Europarecht her geboten ist, muss erprobt werden. Der Verfasser votiert für Begriff und Sache des „Europäischen Verfassungsrechts“ (statt „Europarecht“). Die Nationalstaaten sind – wegen der Unionsbürger – ideell nicht mehr die vielzitierten „Herren der Verträge“. Sie haben ihren unverzichtbaren, aber bescheideneren Platz im Rahmen des übergreifenden Europäischen Verfassungsrechts. Darum gibt es auch Versuche zur Etablierung einer „Europäischen Verfassungslehre“73, nicht einer „europäischen Staatslehre“, denn diese Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre gelten nicht einer universalen Staatslehre oder einem Weltstaat, wohl aber einer Weltrechtskultur (mit vielen Teilverfassungen). I. Staats- bzw. Verfassungslehren (Auswahl) Im Folgenden seien einige Staatsrechtlehrer mit Aussagen zu unserem Thema vergegenwärtigt. G. Jellinek74 versteht die Verfassung nur von ihrer „erhöhten formellen Geltungskraft“ her. C. Schmitt (1928) deutet sie im Rahmen seines Dezisionismus als Entscheidung normativ „aus dem Nichts“ (dies wird schon durch die komplexen pluralistischen Vorgänge der Verfassunggebung etwa in Portugal und Spanien (1976 / 78) sowie durch die teils rezipierende, teils neu schaffende Verfassunggebung nach dem „annus mirabilis“ 1989 in Osteuropa widerlegt; überdies: mit C. Schmitt kann man weder die Schweiz erklären, noch Europa bauen. Im Verfassungsstaat geschieht Verfassunggebung nicht aus einem Naturzustand, sondern im Kulturzustand). H. Heller konzipiert sein Denken im Rahmen seiner großen Staatslehre von 1934 konsequent vom „Staat“ her und auf diesen hin. W. Kägi spricht von „rechtlicher Grundordnung des Staates“ (1945). H. Ehmke deutete die Verfassung als Beschränkung und Rationalisierung der Macht sowie als Gewährleistung eines ­freien politischen Lebensprozesses (1953). U. Scheuner (1963)75 erfand die schöne Formel von der Verfassung als „Norm und Aufgabe“, wobei wir das Diktum von R. Smend hinzufügen dürfen: „Verfassung als Anregung und Schranke“ (1928). Der Verfasser wagte noch als Privatdozent in Tübingen im Blick auf J. Habermas die Formel von der „Verfassung als öffentlicher Prozess“ (1969)76 und er unterfütterte diese dynamische und auf die Öffentlichkeit spezifisch vertrauende Formel durch den Gedanken von der „Verfassung als Kultur“ (1982). Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert suchte er den Durchbruch zur Idee „Verfassung aus Kultur“77. 72  Zur kontroversen Konstitutionalisierungsdebatte A. v. Bogdandy, Constitutionalism in International Law: Comment on a Proposal from Germany, Harvard International Law Review 47 (2006), S. 223 ff.; verwiesen sei auch auf die Aufsatzreihe „Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland: Zwischen Konstitutionalisierung und Fragmentierung des Völkerrechts“, in: ZaöRV 67 (2007); jüngst K.-H. Ladeur, Ein Recht der Netzwerke für die Weltgesellschaft oder Konstitutionalisierung der Völkergemeinschaft?, AVR 49 (2011), S. 246 ff. 73  Vom Verf., 1. Aufl. 2001 / 2002, 7. Aufl. 2011. 74  Allgemeine Staatslehre (1900), 3. Aufl., 6. Neudruck 1959, S. 534. 75  Art. Verfassung, jetzt in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 171 (172 f.). 76  Besprechungsaufsatz „Öffentlichkeit und Verfassung“, ZfP 1969, S. 273 ff. 77  Dokumentiert in dem Band: Verfassungsvergleichung in europa- und wel­ tbürgerlicher Absicht, 2009; s. auch M. Kotzur, Die Verfassungskultur der Mit­

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Das eigene „gemischte“ Verfassungsverständnis will nicht eklektizistisch sein. Es kann aber doch zum Ausdruck bringen, dass die meisten der hier nur kursorisch zur Sprache gebrachten Verfassungsverständnisse jeweils ihre relative Berechtigung haben. Viele Kontroversen in Deutschland entstanden und entstehen allein aus der Tatsache, dass jeder Autor „sein“ Verfassungsverständnis absolut setzt, zuweilen nicht ohne Rechthaberei. Hier einige Beispiele für die gebotene Differenzierung: Es gibt Textfelder geschriebener Verfassungen, die sehr präzise und detailliert normiert sind, man denke an die vielen Ziffern bzw. Stichworte von bundesstaatlichen Kompetenzverteilungsnormen (z. B. Art. 73 und 74 GG, Art. 10 BVG Österreich, Art. 21 Verf. Brasilien von 1988 / 2007; im Regionalstaat z. B. Art. 117 Verf. Italien). Hier wirkt das Wort von der Verfassung als „Generalklausel“ oder „Rahmenordnung“ deplatziert. Der viel zitierte Generalklauselcharakter der Grundrechte78 ist ebenfalls nur differenziert richtig. Manche Normstücke von Grundrechtsgarantien sind sehr konkret (z. B. der „Jugendschutz“ in Art. 5 Abs. 2 GG); andere Grundrechte haben hingegen den viel zitierten Generalklauselcharakter. Man denke – neben der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG) – nur an den weiten und offen gewordenen Begriff „Familie“ (Art. 6 Abs. 1 GG). 1949 verstand man unter „Familie“ gewiss nur das Ehepaar (Mann und Frau) mit mindestens einem Kind. Heute wird „Familie“ zu Recht als Begriff geöffnet, so dass z. B. Großeltern mit einem unehelichem Enkel als Familie gelten. Sogar ein Bundespräsident (H. Köhler) formulierte in seinen guten Zeiten das schöne Wort, dass Familie überall dort sei, wo Kinder sind. Sodann: Selbst gewisse dezisionistische („politische“) Elemente sind in der Entwicklung des Verfassungsstaates nicht zu übersehen: so, wenn das BVerfG große Grundsatz-Urteile fällt – oft i. S. der „Echternacher Springprozession“ (Solange I, Solange II bzw. Lissabon-Urteil und Mangold  /  Honeywell-Beschluss). Die Idee von der Verfassung als „öffentlicher Prozess“ hat ihr bestes Anschauungsmaterial in der Rolle verfassungsrichterlicher Sondervoten. Was heute erst ein prospektives Sondervotum (z. B. von Frau Rupp-von Brünneck) etwa in Sachen öffentlich-rechtliche Positionen als Eigentum im Sinne von Art. 14 GG war, kann im Laufe der Zeit zur Mehrheit im Verfassungsgericht werden (so geschehen in BVerfGE E 32, 129 bzw. E 53, 257 (289))79. Selbst das Verständnis der „Verfassung als Kultur“ darf nicht verabsolutiert werden. Es gibt Themenfelder, auf denen Verfassungsnormen bloße Technik sind. Man denke an Regelungen etwa von Fristen (z. B. Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG). „Anregung“ im Sinne von R. Smend ist die Verfassung sehr oft. Erinnert sei an Verfassungsaufträge (seinerzeit in Sachen deutsche Wiedervereinigung) oder an (integrierende) Hymnen und Flaggen, die in Verfassungsstaaten nicht in allgemeine Bürgerpflichten umschlagen dürfen (an­ ders die Praxis in totalitären Staaten) sowie an den einer UN-Konvention (2006  /  2008, „BRK“) gemäßen Integrationsauftrag für Behinderte (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG)80. Die Förderung „des Zusammenhalts aller gesellschaftlichen Grupgliedstaaten und die Gemeineuropäische Verfassungskultur, in: D. Th. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung. Handbuch zur Europäischen Verfassung, 2010, S.  245 ff. 78  Dazu schon meine Dissertation: Die Wesengehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, (1. Aufl. 1962), 3. Aufl. 1983, S. 102, 168, 186 u. ö. 79  Ein fruchtbares Beispiel für ein retrospektives Sondervotum (des Richters Landau) findet sich in der Sache Mangold / Honeywell (BVerfGE 126, 318 ff.).



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pen“ (Art. 9 Abs. 1 Ziff. 1 Verf. Oberösterreich von 1991) gehört hierher81. Der Schrankencharakter vieler Verfassungsnormen (z. B. bei der Gewaltenteilung) ist evident. Man denke auch an die älteste, klassische Dimension der Grundrechte als Abwehrrechte. U. Scheuners Verständnis der Verfassung als „Norm und Aufgabe“ ist ebenfalls sehr differenziert auf die verschiedenen (Text-)Felder von verfassungsstaatlichen Verfassungen anzuwenden. „Norm“ sind die Grundrechte in den meisten ihrer Dimensionen, Aufgaben sind sie nur dort, wo ihnen Pflichten inhärent sind. Selbst das Verfassungsverständnis von G. Jellinek behält einen begrenzten Anwendungsbereich: Das Zweidrittel-Erfordernis bei Verfassungsänderungen ist ein Beispiel für die erhöhte formelle Geltungskraft (Art. 79 Abs. 2 und Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 83 Verf. Thüringen von 1993). Besondere Bedeutung kommt der Lehre von der „Offenheit der Verfassung“ (K. Hesse) und der „offenen Verfassungsinterpretation“ (P. Häberle, 1971) sowie der späteren „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) zu. Sie lässt erkennen, dass jede Verfassung im Wandel der Zeit steht und zugleich unabänderliche Grundelemente festschreibt (Art. 79 Abs. 3 GG, Art. 110 Abs. 1 Verf. Griechenland, Art. 288 Verf. Portugal, Art. 159 Verf. Angola von 1992, Art. 125 Verf. Niger von 1992, Art. 88 Verf. Djibouti von 1992 / 2007, Art. 130 Verf. Republik Guinea-Bissau von 1993, Art. 441 f. Verf. Ecuador von 2008). K. Hesses Erinnerung an die „normative Kraft der Verfassung“ (1959) ist eine Antithese zu „normativen Kraft des Faktischen“ (G. Jellinek). Vor jeder Selbstüberschätzung der Erkenntnisfähigkeit und Gestaltungskraft des Staatsrechtslehrers sei gewarnt. Letztlich weiß nur der „Weltgeist“, wann, wo und wie sich Elemente des Wandels und der Dauer in der Geschichte einer konkreten Verfassung (und des Völkerrechts) abwechseln. 80

Sicher ist, dass jede nationale Verfassung sich Integrationspolitik erlaubt und Integrationskräfte braucht. All dies wird später bei der Frage nach den „Akteuren“ beim Namen genannt. Die Verfassung lässt jedoch auch Räume für Desintegration, Infragestellung (Verfassungsänderungen!, im GG bald 60!) oder Abstinenz und Dissens (zu) – man denke an den in den 50er Jahren Deutschland bekannten Standpunkt des „Ohne mich“: geschützt durch den status negativus der Grundrechte, vielleicht sogar an den zivilen Ungehorsam (vgl. Präambel, letzter Spiegelstrich Verf. Republik Kongo von 1992). So braucht die „normative Kraft der Verfassung“ Elemente und Phasen der Integration und der Differenz zugleich, auch international. Aus der eigenen kleinen Forschungswerkstatt des Verfassers hier nur einige Stichworte: die 1979 entwickelte Kontexttheorie82 sowie das Textstufenparadigma aus dem Jahre 198983, schließlich das Wort von der „Verfassungskultur“ und die Erarbeitung der „Geistklauseln“ in manchen geschriebenen Verfassungen. Auch hier 80  Vgl. BVerfGE 96, 288 (302 f., 312 f.); 128, 283 (306 f.). – Verfassungsvergleichend ergiebig Art. 4 Abs. 4 Verf. Niederösterreich von 1979 / 2004, Art. 13 Abs. 2 Verf. Tirol von 1989 / 2003, Art. 7 Abs 2 lit. f Regionalstatut Latium (2004). 81  s. auch Art. 11 Abs. 3 Regionalstatut Apulien von 2004: „coesione sociale“. 82  Vgl. Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff.; Die Verfassung im Kontext, in: D. Thürer u. a. (Hrsg)., Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 17 ff. 83  Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S. 555 ff. – Selbst nur für „semantisch“ gehaltene oder „aufgehobene“ Verfassungstexte sind oft aussagekräftiger als so manche wissenschaftliche Literatur! – Zum

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

tut Selbstbescheidung Not. Ein Montesquieu kongeniales Buch „Vom Geist der Verfassungen“ ist bis heute nicht geschrieben worden. Es könnte auch nur durch einen umfassenden weltweiten kulturwissenschaftlich inspirierten Verfassungsvergleich in Sachen Texte, Judikate und Theorien84 gedeihen, der die Möglichkeiten und Horizonte des „einsamen Gehirns“ eines Forschers auch im Zeitalter des vernetzten Internets übersteigt. All dies meint das skizzierte „gemischte“ Verfassungsverständnis, wobei das Pluralismusprinzip für Medien (optimal Art. 17 Verf. Ecuador von 2008) eine tragende Konnexgarantie ist: i. S. der „Verfassung des Pluralismus“ (1980, s. auch Präambel Verf. Bosnien-Herzegovina von 1996: „pluralistic society“). II. Integrationsfelder, Kräfte, Ressourcen, Quellen, Vergemeinschaftungsvorgänge, Themen, Integrationsprogramme, Integrations-Artikel, Integrationspolitik, Akteure – im Ganzen: „Kultur“ Es gibt eine Reihe von Themenfeldern verfassungsstaatlicher Verfassungen, die als „Ressource“ für Gemeinschaftungsvorgänge und ihre „Akteure“ besonders wichtig sind. Genannt seien typische Integrationsartikel wie offene Gottesklauseln in der Idealform der Verfassungen Polens (1997) und Albaniens (1998) mit ihrer Einbeziehung auch der Nichtgläubigen, die Präambeln mit ihrer bürgernahen Sprache sowie ihren Zukunftsvisionen (z. B. Präambel Verf. Kosovo von 2008), auch die in afrikanischen Verfassungen beliebten „Wahlsprüche“ z.  B. Art. 4 Abs. 4 Äquatorial-Guinea von 1991, Art. 4 Abs. 1 Madagaskar von 1995) sowie Nationalsymbole wie Artikel zu Flaggen, Hymnen sowie Feiertagen – als emotionale Konsensquellen – bis hin zu Mosaiksteinen der Erinnerungskultur85 wie Museen und Archive (vorbildlich Art. 379 Verf. Ecuador von 2008). Hierher gehören neben Sprachen-Artikeln (vorbildlich Art. 3 Verf. Namibia von 1990, Art. 4 nBV Schweiz von 1999) und Schutzaufträgen für im Ausland lebende Staatsbürger (vgl. Art. 15 Verf. Kosovo und Art. 13 Verf. Serbien von 2006) auch gemeinschaftsbildende Grundrechte, die einen „status corporativus“ schaffen, etwa die Religionsfreiheit und die Freiheit für Vereine und Gewerkschaften. Die politischen, z. B. (Wahl-) Rechte, die ihren letzten Ursprung in der Menschenwürde haben, gehören ebenfalls hierher. Im Ganzen ist es die als offen, pluralistisch konzipierte Kultur, die die Möglichkeit für Integrationskräfte bereit hält, aber auch für das Gegenteil (die Verweigerung, Dissens und Alternativen). III. „Gegenlager“, die Verfassung des Pluralismus, der Vielfalt, der Differenz Bei allen von den Verfassungen angeregten (nicht erzwingbaren) Vergemeinschaftungsvorgängen ist auch an deren Grenzen zu erinnern. Garantiert werden sie durch Verfassungstext geronnen ist der Begriff „Kontext“ in Art. 2 Verf. Singapur von 1962 / 82, Art. 259, 260 Verf. Kenia von 2010, Art. 10 Verf. Jamaika (1962/2011). 84  Fast sensationell ist die Textstufe in Art. 11 Abs. 2 lit. c Verf. Malaŵi von 1994: Verweis auf „comparable foreign case law“ (zit. nach JöR 47 (1999), S. 563). 85  Aus der Lit.: P. Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011.



VI. Die Europäisierung und Internationalisierung111

die aus (berechtigtem) Misstrauen geborene horizontale und vertikale Gewaltenteilung, auch das Subsidaritätsprinzip (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 88-6 Verf. Frankreich von 1958 / 2008, Art. 5 Abs. 1 EUV) ist ein gestuftes Integrationsprogramm, sowie durch den grundrechtlichen status negativus, den Privatheitsschutz (zuletzt Art. 31 Verf. Kenia von 2010) sowie durch den Minderheitenschutz (vorbildlich: Art. 75, 80 Verf. Serbien von 2006). Der Verfassungsstaat muss die „Ohne-michBürger“ ebenso ertragen wie alle Arten der z. B. durch die Demonstrationsfreiheit gesicherten Opposition („Wutbürger“). Vor allem ist an die Freiwilligkeit bei allen Formen der Huldigung an Staatssymbole wie Flaggen und Hymnen zu erinnern, auch darf der Bürger nicht überfordert werden. Die Trennung von Staat und Religionsgesellschaften bzw. das Neutralitätsprinzip (BVerfGE 123, 148 (178)) im Geiste eines offenen, pluralistischen Religionsverfassungsrechts (mit ihrem Prinzip der Religionsfreundlichkeit) gehört hierher. Bei all dem ist freilich zu bedenken, dass der Staat – entgegen einer beliebten Vokabel – durchaus seine eigenen Voraussetzungen mit gestaltet bzw. garantiert, greifbar etwa in Form der Erziehungsziele in den Schulen (z. B. Art. 131 Verf. Bayern, Art. 28 Verf. Brandenburg, Art. 16 Abs. 2 Verf. Griechenland von 1975 / 2001) und in seinen Engagements in Sachen Kulturpolitik (z. B. Art. 30 Verf. Thüringen von 1993, Art. 42 Verf. Bern von 1993). „Parallelgesellschaften“ sollen vermieden werden. Darum ringen etwa interne Integra­ tionsprogramme für Einwanderer, auch die kulturelle Integrationspolitik Deutschlands in Form von Islamzentren an Universitäten (zuletzt in Tübingen, 2012). Art. 80 Verf. Serbien von 2006 gelingt eine vorbildliche ganz neuartige allgemeine ToleranzKlausel: „spirit of tolerance“ (eine Maxime auch im Völkerrecht). Zweiter Teil Werdende Verfassungsgemeinschaften – Teilverfassungen insbesondere in der EU, Aufteilung der Integrationsaufgaben und -aktivitäten sowie Akteure – die Finanzkrise I. Nationale Teilverfassungen in regionalen Verantwortungsgemeinschaften wie EU und Mercosul, Regionalisierung und Globalisierung Die Integrationskraft der klassischen nationalen Verfassungen ist heute von ganz neuer Seite her tief- und weitgehend begrenzt: zunächst von den überregionalen Zusammenschlüssen her, in welcher Form auch immer86. Speziell in der EU sind die nationalen Verfassungen nur noch Teilverfassungen, eine These aus dem Jahre 200187. Das europäische Verfassungsrecht dringt osmotisch in die nationalen Verfassungsräume ein und begrenzt damit deren Integrationsprogramm und Integrationskraft. Es kommt zu Kompensationsvorgängen. Konkret: Viele Themen und Funktionen sind von Deutschland oder Italien nach Brüssel und Luxemburg, aber auch nach Straßburg abgewandert. Man denke an die Lebensbereiche der Grundrechte oder an Teilgebiete 86  Die besondere Ausstrahlung des GG „nach außen“ sei nicht vergessen, dazu T. Rensmann, Wertordnung und Verfassung, Das Grundgesetz im Kontext grenzüberschreitender Konstitutionalisierung, 2007. 87  Das Grundgesetz als Teilverfassung im Kontext der EU / EG, FS Schiedermair, 2001, S.  81 ff.

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

des Privat- und Strafrechts (Stichwort: Europäisches Privat- und Strafrecht88). Mag auch der Vertrag von Lissabon (2007 / 2009) die Europa-Symbole wie die Europaflagge und die Europahymne sowie den Europatag formal-textlich abgeschafft haben: in der europäischen Verfassungswirklichkeit sind sie fast vor jedem Rathaus oder bei größeren politischen Ereignissen präsent. Damit werden auch Integrationskräfte in Bezug auf Europa wach gehalten, z. B. wehen allerorts die Nationalflaggen neben der Europaflagge. Mit anderen Worten: Die auf den Nationalstaat bezogene Integrationslehre von R. Smend ist, so klassisch sie bleibt, heute nicht mehr durchzuhalten; sie ist ins Europäische umzudenken, neu zu formulieren; das Wort von der „Einheit der Verfassung“ (vergleiche Art. 127 S. 1 Verf. Ecuador von 2008: „Integrität der Verfassung“) ist zu modifizieren in „partielle Einheit“. Der in den meisten neueren Verfassungen fixierte „Vorrang der Verfassung“89 ist insofern neu zu lesen. Was die nationale Verfassung an Integrationskräften verloren hat, leistet jetzt die übergeordnete ­regionale Gemeinschaft, konkret die EU bzw. das Europa des Europarates zu ihren Anteilen. Hier haben das Gemeineuropäische Verfassungsrecht (1991), ebenso das Gemeinamerikanische und Gemeinasiatische Verfassungsrecht ihren Platz (2003  /  1997). Zu ihren Mosaiksteinen gehören Artikel des „nationalen Europaverfassungs­ rechts“90. Akteure sind in Europa auch die Unionsbürger und NGO’s. Ein europäisches Integra­tionsprogramm findet sich in Art. 2 EUV (Grundwerte der Union), auch in Sachen „kulturelles Erbe Europas“ (gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 4 ebd.) sowie in der Präambel („kulturelles, religiöses und humanistisches Erbe Europas“). Die Globalisierung91 hat zwei Aspekte: Einerseits relativiert sie die Möglichkeiten der auf die innere Integration zielenden Nationalstaaten, andererseits stützt sie diese, indem sie sie als kooperative Verfassungsstaaten in die Welt ausgreifen lässt. In dem Maße, wie der Mensch zum „Völkerrechtssubjekt“92 reift, wird die Integrationsaufgabe universal. Der Verfassungsstaat wird als Typus „völkerrechtsfreundlich“: BVerfG (E 31, 58 (75 f.); 123, 267 (344)), völkerrechtsoffen und -gebunden. 88  Dazu zuletzt J. Vogel, Strafrecht und Strafrechtswissenschaft im internationalen und europäischen Rechtsraum, JZ 2012, S. 25 ff.; U. Sieber, Die Zukunft des Europäischen Strafrechts, ZStW 121 (2009), S. 1 ff. 89  Beispiele: Art. 6 Verf. Malta von 1964; Art. 3 Abs. 2 und 3 Verf. Benin von 1990; Art. 5 Verf. Bulgarien von 1991; Art. 4 Verf. Kolumbien von 1991; Art. 6 Verf. Georgien von 1995; Art. 1 Verf. Südafrika von 1996 / 2007; Art. 4 Verf. Westkap von 1997; Art. 1 Verf. Nepal von 2006; Art. 182 Verf. Nicaragua von 1986; Art. 6 Verf. Thailand von 1997; Art. 4 Verf. Gambia (1997). 90  Beispiele: Art. 23 GG, Art. 88-1 bis 7 Verf. Frankreich, Art. 1 Verf. Oberösterreich von 2001, Art. 1 Abs. 4 Regionalstatut Umbrien von 2005. – In Sachen afrikanische Einheit: Präambel Verf. Tschad von 1996, Präambel Verf. Mali von 1992; ein Souveränitätsverzicht findet sich sogar in Art. 146 Verf. Burkina Faso von 1991. 91  Aus der Lit.: P. Häberle, Menschenrechte und Globalisierung, JöR 55 (2007), S.  397 ff.; jüngst A. Niederberger / Ph. Schink (Hrsg.), Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2011; vorher schon U. Steger (Hrsg.), Facetten der Globalisierung, 1999; zu den strukturellen Veränderungen der Staatlichkeit durch Globalisierung Ch. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S.  961  ff., 968  ff.; ders., Die Folgen der Globalisierung für die Europäische Verfassungsdiskussion, DVBl. 2000, S. 1 ff. 92  Dazu A. Peters, Das subjektive internationale Recht, JöR 59 (2011), S. 411 ff.



VI. Die Europäisierung und Internationalisierung113

Ein Wort zu den Akteuren in Sachen Integrationsprozess der nationalen (Teil-)Verfassungen: Es sind die Verfassungsorgane (z. B. in Gestalt ihrer Öffentlichkeitsarbeit), die Pluralgruppen, die staatlichen Schulen (dank der Bildungsziele, prominent: Art. 16 Abs. 2 Verf. Griechenland). Letzten Endes agieren die Bürger. Für Verfassungen gibt es keine „Lebensversicherungen“. Es ist die Gemeinschaft ihrer Bürger, die sie am Leben erhält. Selbst der Verfassungsjurist hat nur bescheidene Möglichkeiten. Auf internationaler Ebene sind die NGOs zu unverzichtbaren Akteuren geworden, neben den UN und ihren Unterorganisationen, auch den Internationalen Gerichts­ höfen. Von ihnen allen hängt ab, ob es einmal zu einer „universalen Verfassungslehre“ kommen wird (auf den Spuren von H. Grotius, Montesquieu und I. Kant). II. Insbesondere: Die Finanzkrise als Gefahr für die Teilverfassungen in Europa Die aktuelle Finanzkrise bildet eine akute Gefahr für das Ensemble der Teilverfassungen in Europa und ihre sie verlebendigenden Integrationsvorgänge93. Speziell die Wirkung der in der Schweiz erfundenen „Schuldenbremse“ (§ 120 KV BaselStadt von 2005)94 – Ausdruck des generationenübergreifenden Verfassungsverständnisses und eine Konnexgarantie zur Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG – ist der Testfall für die (begrenzte) Integrationskraft von Verfassungen. Die „soziale Marktwirtschaft“, in manchen europäischen Ländern ausdrücklich Verfassungstext (vgl. Art. 20 Verf. Polen von 1997, Art. 7 Abs. 3 Verf. Tirol von 1989 / 2003), muss darum bemüht sein, die außer Kontrolle geratenen Finanzmärkte zu regulieren und die (USamerikanischen) Rating-Agenturen in die Schranken zu weisen (am besten öffentlich-rechtlich, europäisch, jedenfalls mit Unabhängigkeitsstatus). Ausblick Die – begrenzte – Integrationskraft von „Verfassungen des Pluralismus“ bleibt ein Thema der Vergleichenden Verfassungslehre, wenn sie kulturwissenschaftlich konzipiert ist. Die weltweiten Entstehungsvorgänge von regionalen Verantwortungsgemeinschaften, z. B. Mercosul, der Andenpakt oder die alten und neuen Zusammenschlüsse in Asien (die Länder von Asean, jüngst die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft zwischen Russland, Weissrussland und Kasachstan) relativieren die herkömmlich konzipierte normative Kraft der nationalen Verfassungen. Doch gibt es Kompensationsvorgänge von der „höheren“ Ebene her. Diese sind auch unverzichtbar, da jede menschliche Gemeinschaft von der Kommune über den Kanton (bzw. das Land) bis zum Verfassungsstaat und der diesen überwölbenden internationalen Zusammenschlüsse („Verbünde“) bedarf. Hier ist das Völkerrecht als konstitutionelles Menschheitsrecht in den Blick zu nehmen. Das große Wort von der „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ (Verdross) wäre auch im Blick auf mögliche, von der UN eingeforderte und frei gesetzte Integrationskräfte zu untersuchen, die zu denen 93  Ch. Ohler, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, DVBl. 2011, S. 1061 ff. 94  Aus der Lit.: M. Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung?, 2011.

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

des Verfassungsstaates komplementär wirken. Die Idee des „Weltbürgers“95 deutet die möglichen Horizonte an. Beispiele sind I. Kant, A. Schweitzer, M. Gandhi, N. Mandela und V. Havel. Sie alle wirken ihrerseits vorbildhaft in die Integrationsprozesse nationaler Verfassungen hinein (als „Wohltäter der Menschheit i. S. des bildungsidealistischen Erziehungsziels in Art. 56 Abs. 5 S. 2 Verf. Hessen von 1946): fast weltweit.

4. Das Weltbild des Verfassungsstaates: „Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten“ Als ein Element des Weltbildes des Typus „Verfassungsstaat“ sei die Aussage gewagt, dass die einzelnen Verfassungsstaaten nicht mehr „für sich“ stehen, sondern von vornherein eine – offene – Weltgemeinschaft bilden. Der Bezug zur Welt bzw. zu ihresgleichen in dieser Welt („Menschheit“) ist ein Stück ihres Selbstverständnisses, zeige er sich in Gestalt der Bezugnahme auf allgemeine Rechtsprinzipien bzw. als Verinnerlichung von universalen Menschenrechten (auch in Form der Außenpolitik für Menschenrechte), in Form von entsprechenden Erziehungszielen, z. B. „Völkerversöhnung“, in der Normierung von Grundwerten zur Weltfriedenspolitik, internationaler Freundschaft und Zusammenarbeit oder in der Verpflichtung auf Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe („Welthungerhilfe“). Gewiss, hier droht immer wieder viel Entmutigung. Doch kann der nationale Verfassungsstaat, will er in sich glaubhaft bleiben, nicht davon absehen, dieselben Grundwerte „nach außen“ zu vertreten, die er im Inneren als Element seiner Identität bzw. seines Selbstverständnisses ansieht. Mag es da und dort immer wieder autoritäre und totalitäre Staaten auf der Welt geben: Er steht in einer Verantwortungsgemeinschaft mit seinesgleichen für die Welt und ihre Menschen, einzulösen z. B. in Sachen Umweltvölker- und Weltraumrecht. Manche Texte deuten auf diese Verantwortung hin. Jedenfalls ist die „weltbürgerliche Absicht“ I. Kants heute eine Element des Prinzips „Hoffnung“ und des Prinzips „Verantwortung“ im Verfassungsstaat. Menschenrechte und Menschheitsrecht gehören zusammen96. Der neue „kategorische Imperativ“ von H. Jonas („Handle so, dass die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d.  h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben“)97, ist auf dem Weg, ein 95  Dazu jetzt der Bd.: B. Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Vom Staatsbürger zum Weltbürger, 2011. 96  Im Sinne von I. Kant (1795): „Das Weltbürgerrecht“, „Bürger eines allgemeinen Menschenstaates“ als „notwendige Ergänzung des Staats- und Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte“; s. auch Kants Formel: „das jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ 97  Vgl. seine Stichworte (in: H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979): „Technologie als Beruf der Menschheit“, „Der erste Imperativ: dass eine Menschheit



VI. Die Europäisierung und Internationalisierung115

innerer verfassungsstaatlicher Klassikertext mit Weltbezug zu werden. Schweizer Verfassungstexte z. B. Art. 54 Abs. 2 Verf. Bern (1993) ermutigen – „humanitäre Hilfe für notleidende Menschen und Völker“, s. auch Art. 54 Abs. 2 nBV Schweiz von 1999: „Linderung von Not und Armut in der Welt“: Ausdruck von „Weltrechtskultur“, von Humanitärem. Die universale Verantwortungsgemeinschaft der kooperativen Verfassungsstaaten mag oft von diesen zu viel verlangen oder nur sehr punktuell einlösbar sein. Die Frage ist, ob der Verfassungsstaat auf seiner heutigen Entwicklungsstufe konkreter in regionalen Solidaritätspflichten steht; dies nicht i. S. von Hegemonie im Blick auf einen Ausschnitt der Welt, eben eine Re­ gion, sondern i. S. gleichberechtigter Partnerschaft. Die erwähnten, auf Re­ gionen bezogenen Identitätsklauseln und die grenzüberschreitenden Kompetenz-Artikel deuten von der Seite der Verfassungstexte darauf hin, auch die EMRK- und AMRK-Gemeinschaft in Europa bzw. Amerika, vielleicht schon die OSZE von 1995. Gerade der EMRK-Europarat hat seit 1989 viele konstitutionelle Elemente recht erfolgreich in den postsozialistischen Ländern Osteuropas zur Beitrittsbedingung erhoben (Menschenrechte, Minderheitenschutz etc.). Eine politisch gelebte Regionalpartnerschaft von Verfassungsstaaten zeichnet sich zudem im Blick auf die, wenn auch sehr fehlerhaft wahrgenommene Verantwortung der EU-Staaten für die Länder auf dem Balkan als Teil Europas ab (z. B. die Eulex-Mission im Kosovo, auch 2012 fortgesetzt). Das zeigt sich nicht nur im Versuch der Friedensstiftung, sondern auch in sehr konkreten „Verfassungsvorgaben“, die als „Rahmenvereinbarung“ für Bos­nien-Herzegowina (1995) paktiert wurden98. Denn hier werden den Typus Verfassungsstaat kennzeichnende Elemente wie Grundrechte (Bewegungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit) bzw. international anerkannte Menschenrechte „vorgegeben“; auch die Wahlen, die Anwendung des Mehrheitsprinzips und die Gründung eines „Verfassungsgerichts“ (Art. VI Verf. Bosnien / Herzegowina) sind vereinbart. Die sich damit abzeichnende Aufgabe der „Konstitutionalisierung“ einer Region könnte zu einem Wachstumsring der Kompetenzen und Aufgaben, auch der Legitimation des weltoffenen Verfassungsstaates von heute werden. Sie ist dem Verfassungsbürger vielleicht eher vermittelbar als eine allgemeine, universale Pflicht. Mag er mit der „weltbürgerlichen Absicht“, dem „Weltbürgerrecht“ Kants überfordert sein: mindestens eine Regionalbürgerschaft ist – weil überschaubar – ihm schon heute „zuzumuten“, etwa im Europa der EMRK. sei“, „Kein Recht der Menschheit zum Selbstmord“, „Zukunft der Menschheit und Zukunft der Natur“. – Dazu und zum Folgenden, jetzt überarbeitet, P. Häberle, FS Kriele, 1997, S. 1277 ff. 98  Aus der Lit.: W. Graf Vitzthum / M. Mack, Multiethnischer Förderalismus in Bosnien  /  Herzegowina, in: W. Graf Vitzthum, Europäischer Föderalismus, 2000, S. 81, mit dem Text der Verfassung von 1996.

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2. Kap.: Die geschichtliche Entwicklung, die Dimension der Zeit

In diesen Kontext gehört auch die Diskussion um ein „Menschenrecht auf Staatsangehörigkeit“99. Es könnte ein konstitutioneller Mosaikstein im Völkerrecht als universale Rechtsordnung werden und diesen Vorstudien für eine universale, dem Völkerrecht verpflichtete Verfassungslehre dienlich sein. Es gibt zahlreiche weitere Mosaiksteine: die UN-Charta, die beiden Menschenrechtspakte von 1966, das Statut des Internationalen Staatsgerichtshofs, Sondertribunale der UNO, auch viele UNO-Abkommen, z. B. in Sachen Kinderrechte, Folterverbot, Behindertenschutz, Ottawa-Konvention, durch welche die UN „mittelbarer Verfassunggeber“ in den Nationen werden. In Deutschland wäre zu fragen, ob das Asylrecht durch Elemente des Rechtsschutzes anzureichern ist (Völker- und Verfassungsrecht „aus Kultur“, z. B. die schon klassischen Genfer und Wiener Konventionen).

99  Dazu: S. Usculan, Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit, 2012.

3. Kapitel

Kulturwissenschaftliche Aufbereitung I. Textstufenentwicklung in Raum und Zeit Die Ausgangsthese lautet: Die Textstufenanalyse erweist sich im Rahmen der weltweit vergleichenden Verfassungslehre als juristischer Disziplin ganz allgemein als ergiebig und von der Sache gefordert, sofern sie konsequent typologisch arbeitet und in der „Zeitachse“ denkt. Sie sucht im Ganzen das – sich wandelnde – „Textbild“ der einzelnen Problemfelder verfassungsstaatlicher Verfassungen, soweit diese „geschrieben“ sind, zum „Königsweg“ (sit venia verbo) einer inhaltlichen, auch wirklichkeitswissenschaftlichen Erarbeitung1 ihres Gegenstandes zu machen. Das für das jeweilige Sachgebiet Typische kann dank einer sensiblen Textanalyse (in der mittelfristig und mittelbar „Wirklichkeit“ greifbar ist) sehr präzise erfasst werden. Ja, diese völkerrechtsoffene Verfassungslehre vermag erst mit Hilfe solcher Arbeit an Texten „juristische Text- und Kulturwissenschaft“ zu sein und den – entwicklungsoffenen – Typus „Verfassungsstaat“ auf „vorläufige“ Begriffe und Prinzipien zu bringen: tendenziell universal. Darum wird in diesem Buch soweit wie möglich mit konstitutionellem Textmaterial gearbeitet.  Dieses in der Vergangenheit wie in der Gegenwart vergleichende Ausgehen von den und immer wieder neue Zurückkehren zu den positiven Verfassungstexten verbindet unverlierbare Einsichten eines „aufgeklärten Positivismus“, d. h. das Ernstnehmen der Rechtstexte mit der historischen Tiefendimension, in die eine komparatistisch und geschichtlich arbeitende Verfassungslehre als „Kulturwissenschaft“ vorzudringen vermag: bis hin zu den Teilverfassungen des Völkerrechts, etwa zur kulturellen Vielfalt und zum Kulturgüterschutz (universales Kulturrecht). Die Verfassungsvergleichung, genauer die Verfassungstextvergleichung ist „Vehikel“ bei der Entwicklung des Verfassungsstaates „im Laufe der Zeit“ und bei deren Beobachtung. Zwar darf sich die Verfassungsvergleichung nicht im Textlichen erschöpfen, das „constitutional law in the books“ muss zur „law in public action“ durchstoßen. Da aber dank der Vergleichung oftmals älteres „law in action“ zur Textform der jüngeren „law in the books“ 1  Insofern bleibt sie H. Heller, Staatslehre, 1934 verpflichtet (Staatslehre als „Kultur-“ und „Wirklichkeitswissenschaft“, S. 32 ff., 37 ff.).

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

gerinnt, sind die Texte, in der historischen Entwicklungsperspektive erfasst, nicht nur „Oberfläche“, sondern auch ein Stück Tiefendimension des gelebten Verfassungsrechts. Alle Bemühungen um „Grundrechtsreform“, z. B. in Österreich2, oder um „Totalrevision“ in der Schweiz3, bauen mehr oder weniger erkennbar auf Textvergleichen auf. Gleiches gilt für Osteuropa nach 1989 sowie für die neuen Verfassungen auf dem Balkan (Albanien, Serbien, Kosovo) und in manchen Regionen Lateinamerikas (von Venezuela bis Bolivien und Ecuador) sowie im südlichen Afrika (Südafrika, West-Kap, KwaZulu Natal), jetzt in Malaŵi und Kenia, künftig wohl in arabischen Ländern (seit 2011). Vergleichend arbeiten heute alle staatlichen Funktionen (vom Verfassunggeber bis zum punktuellen oder „totalen“ Verfassungsänderer sowie vielen Verfassungsgerichten), freilich mehr oder weniger intensiv und offen. Zulieferfunktion hat für sie alle in Sonderheit die Wissenschaft vom Verfassungsstaat, d. h. die Verfassungslehre. Eine staatliche Funktion sollte im Verfassungsstaat in ihren rechtsvergleichenden Aufgaben und Leistungen für die Fortbildung des Verfassungsstaates indes nicht unterschätzt werden: die Verfassungsrechtsprechung bis hin zu etwaigen Sondervoten ihrer Richter. Ihre Arbeit am konkreten Verfassungstext eines nationalen Verfassungsstaates bringt es mit sich, dass sie dort, wo der Text ihres Landes nicht ausreicht, rechtsvergleichend „Umschau“ halten. In der Judikatur des BVerfG4 gibt es Belege für diesen Vorgang textvergleichenden Arbeitens gerade in Grundsatzentscheidungen! Die arbeitsteilige Fortentwicklung des Verfassungsstaates in solchen Prozessen des Gebens und Nehmens innerhalb des einzelnen Landes, aber auch über dessen Grenzen hinaus im Blick auf andere Verfassungsstaaten hat es so gesehen immer mit einem Ensemble von Verfassungstexten zu tun. Mag auch nicht alles etwa von einem nationalen Verfassungsgericht oder von der Wissenschaft als materielles Verfassungsrecht ausgewiesenes Ideen- und Wirklichkeitsgut zu Verfassungstexten „gerinnen“: Potentiell kann es im Kreise der „Familie“ der Verfassungsstaaten zu solchen werden, bald früher, bald später. So betrachtet ist Verfassungsinterpretation oft eine Vorform zu Entwicklungsstufen von fortge2  Vgl. R. Rack (Hrsg.), Grundrechtsreform, 1985, passim, bes. Anhang, S. 242 ff.; s. auch R. Wahl, ebd., S. 223 (224 ff.); G. Holzinger, Grundrechtsreform in Österreich, JöR 38 (1989), S. 325 ff. Zum heutigen Grundrechtsbestand: E. Wiederin, Österreich, in: IPE I 2007, § 7 Rn. 114 bis 121. 3  Dazu: Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevi­sion der Bundesverfassung, 1977; jetzt Y. Hangartner / B. Ehrenzeller (Hrsg.), Reform der Bundesverfassung, 1995. – Zur nBV Schweiz (1999): P. Häberle, Die „totalrevidierte“ Bundesverfassung der Schweiz, in FS Maurer, 2001, S. 935 ff.; G. Biaggini, Schweiz, IPE I, 2007, § 10, Rdn. 20 bis 25. 4  Vgl. BVerfGE 7, 198 (208); 19, 342 (348); 39, 68 (71, 73  f.): SV Ruppv. Brünneck / Simon; E 69, 315 (343 f.); 128, 109 (113 f.: fremde Urteile).



I. Textstufenentwicklung in Raum und Zeit119

schriebenen „Verfassungstexten“ bzw. Textstufen. Auch kann sich ungeschriebenes Verfassungsgewohnheitsrecht hier an geschriebenen Texten dort orientieren5. Selbst Texte von Programmen politischer Parteien kommen mittelfristig als „Lieferant“ für neue vom Verfassunggeber oder Verfassungsänderer normierte Verfassungstexte in Frage. Man denke nur an zunächst parteipolitisch formulierte Sozialstaats- oder Umweltthemen sowie kulturpolitische Forderungen und medienpolitische Wünsche. Die „Klassikertexte“ wurden schon erwähnt (es gibt sie auch im Völkerrecht). Die „Pointe“ des Textstufenvergleichs liegt darin, dass sie mittelbar auch Verfassungswirklichkeit erfasst: weil die aus anderen Ländern rezipierten bzw. überarbeiteten Texte jetzt das auf Begriffe und Verfassungstexte bringen, was anderwärts von Praxis (z. B. Verfassungsrechtsprechung), Wissenschaft und Lehre fortentwickelt wurde. Die ungeschriebene – fremde – Verfassungsentwicklung – konkret in westlichen Verfassungsstaaten – wird buchstäblich „fortgeschrieben“, z. B. in den neuen Verfassungen Osteuropas und auf dem Balkan. Das bedeutet nicht, dass die neuen bzw. revidierten Verfassungstexte Osteuropas sofort greifen und sogleich eine verfassungskonforme Verfassungswirklichkeit schaffen. Wohl aber spiegeln die neuen Texte den Entwicklungsstand der Verfassungsstaaten im Westen wider. Konkret: Nicht das GG von 1949 oder die De Gaulle-Verfassung von 1958 wirken als Vorbilder auf so manchen neuen Verfassungsstaat in Osteuropa, sondern das in der Rechtsprechung des BVerfG, in Wissenschaft und Praxis gelebte GG von 1949 / 2012 und die durch Conseil Constitutionnel, Conseil d’Etat und französische Doktrin ausgebaute Verfassung der 5. Republik von heute bzw. 2012 wirken als Vorbilder auf die jungen Verfassunggeber in Osteuropa sowie auf dem Balkan und vielleicht in den Ländern des „Arabischen Frühlings“ (2011 / 12). Zugespitzt: Die beste Literatur zum Verfassungsstaat findet sich in den aufgeschlüsselten verfassungsrechtlichen Textstufen – mittel- und langfristig gesehen: bis hin zum, auch vom Völkerrecht her lebenden, „universalen Konstitutionalismus“. Gewiss, auf längere Sicht genügt der einfache Textvergleich nicht, er bildet nur eine erste Phase wissenschaftlicher Aufbereitung. Ihm muss eine weitere Phase substantieller Verfassungsvergleichung folgen, die nach den Methoden, der Systematik und den Funktionen vorgeht, die die mitbestim5  Die im Schweizerischen Bundesstaatsrecht unter Führung des Bundesgerichts in Lausanne entwickelte Kategorie „ungeschriebener Grundrechte“ (wie Meinungsäußerungs-, persönliche, Sprachen- und Versammlungsfreiheit, aus der Lit.: J. P. Müller / S.  Müller, Grundrechte, Besonderer Teil, 1985, S. 97 f.; J. P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 23 ff.) ist materielles Verfassungsrecht, das in anderen Verfassungsstaaten längst Textgestalt besitzt. Es ist nur konsequent, dass im Rahmen von Teil- oder Totalrevisionen ihre geschriebene Gewährleistung gefordert wurde, dazu G. Biaggini, a. a. O., § 10 Rdn. 46 bis 48.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

menden Kräfte des Kon-Textes der Texte einbezieht. Gerade bei neuen Verfassungen aber ist die Wissenschaft (im Dienste der Verfassungspolitik) zunächst auf den Textvergleich angewiesen, das Übrige wächst erst „im Laufe der Zeit“ nach. Es gibt keine Verfassungstexte, es gibt nur in bestimmten Kontexten interpretierte Verfassungstexte! Schon hier sei auf ausdrückliche verfassungstextliche Kontextklauseln verwiesen (Art.  260 Verf. Kenia von 2010) sowie auf konstitutionelle Interpretationsregeln für Menschenrechte (z. B. Art. 53 Verf. Kosovo von 2008). Freilich können auch Textstufen, zeitlich alter Art und außer Kraft gesetzt, für die Wissenschaft aufschlussreich bleiben: als relevantes Material, da nicht alle Textstufen eine gute Entwicklung widerspiegeln. Dies gilt etwa für die alte, außer Kraft getretene Verfassung Perus von 1979 bzw. die neue von 1993.

II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des „gemischten“ Verfassungsverständnisses 1. Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten a) Problem Neuere Verfassungen in der westlichen Welt, vor allem in Europa seit 1975, haben zahlreiche neue Texte geschaffen oder alte modifiziert6. Da gerade die als Kulturwissenschaft verstandene vergleichende Verfassungslehre die verfassungsstaatlichen Texte ernst nehmen muss, ist eine Bestandsaufnahme des Formenreichtums dieser Texte, ihrer bereits sprachlich greifbaren Vielschichtigkeit und Funktionenvielfalt erforderlich; überdies haben Handwerk und Kunst der Verfassungsinterpretation in den letzten eineinhalb Jahrzehnten Bibliotheken hervorgebracht7. Die vergleichende Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht muss ihren Gegenstand, die Vielfalt der Texte, in ihre Fragen einbeziehen. Schon ein flüchtiger Blick auf die neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen zeigt, wie sehr diese „gewachsen“ sind und sich gegenüber der Typik des älteren Verfassungsstaates formal und inhaltlich ausdifferenziert haben. (Gleiches gilt für das Völkerrecht.) 6  Eine frühe Fassung dieses jetzt überarbeiteten Abschnitts ist mein Beitrag in: FS D. Schindler, 1989, S. 701 ff. 7  Z.  T. dokumentiert in dem von R. Dreier / F. Schwegmann herausgegebenen Band: Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976; s. im Übrigen: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S.  19 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 123 ff. Später: M. Herdegen Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, S. 873 ff.; G. Lienbacher (Hrsg.), Verfassungsinterpretation in Europa, 2011; M. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, S. 26 ff.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte121

b) Bestandsaufnahme in Auswahl, die Beispielsvielfalt Die Bestandsaufnahme ringt um eine Aufbereitung der Verfassungstexte unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen, der rechtstechnisch-dogmatischen und der Funktionen-Vielfalt. Diese Aspekte gehören zusammen, müssen aber zunächst getrennt aufgeschlüsselt werden. Auszugehen ist von der Kongruenz der Text-Formen und Text-Inhalte. Vergleichende Verfassungslehre als „juristische Text- und Kulturwissenschaft“ knüpft präzise an die Texte an, greift aber auf ihre auch im Entstehungsprozess präsenten (!) kulturellen „Kontexte“ zurück, um den ganzen vielschichtigen Inhalt der Texte zu gewinnen. Das ist keine Relativierung der Texte, sondern ihre Fundierung. Es wird sich zeigen, dass die Text-Formen höchst differenziert verwendete und entsprechend zu interpretierende Textinhalte indizieren. Der „Mikrokosmos“ der einzelnen Textstellen ist ein Element im „Makrokosmos“ des Ensembles des Verfassungsganzen. Das führt zur Forderung nach einem differenzierten Einsatz der Methoden der Verfassungsinterpretation. Die Vielfalt des scheinbar nur äußeren Text-„Gewandes“ der Verfassungsinhalte deutet auf eine Vielfalt der Inhalte und Funktionen der Verfassungssätze hin. aa) Die sprachliche Vielfalt Viele Verfassungstexte unterscheiden sich schon sprachlich von Texten einfachen Rechts. Sie bieten außerdem in sich ein höchst differenziertes Bild. Man denke an die „Feiertagssprache“ (vor allem in den Präambeln) und die eher rechtstechnisch-rational gehaltenen Organisations- und Kompetenznormen (etwa in Bundesstaatsverfassungen und Regionalstaaten). Die spezifischen Präambelinhalte und -funktionen („Einstimmung“ der Bürger und Gruppen bzw. des pluralistischen Volkes auf die Verfassung, „Verarbeitung“ der Geschichte, Fundamentierung der nachfolgenden Verfassungstexte als „Konzentrat“ sowie Zukunftsentwürfe) fordern eine „eigene“ Sprache mit spezifischen „Klangfarben“. Ein gelungenes Beispiel unter vielen ist die Verf. von Namibia (1990)8, die sogar aus den USA die Wendung „pursuit of happiness“ rezipiert hat. Weite und Unbestimmtheit, auch „Offenheit“ der Verfassungssätze sind fast schon ein Gemeinplatz; bei näherem Zusehen zeigt sich aber, wie unterschiedlich dieser „Generalklausel-Charakter“ der Verfassungssätze ist (bis hin zur technisch wirkenden Spezialnorm) und wie gezielt der Wortlaut in Sachen Bestimmtheit variiert. In sprachlicher Hinsicht lassen sich Verfassungstexte eher symbolischrhetorischen, edukatorischen, ja sogar irrationalen („Glaubens-“)Inhalts un8  Zit.

nach JöR 40 (1991 / 92), S. 691 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

terscheiden von den stärker „positivistischen“ juristisch-dogmatisch rationalen: bei vielen Übergängen und Mischformen. Felder, in denen der Verfassunggeber symbolisch-rhetorisch, ja mitunter theatralisch und „suggestiv“ arbeitet, sind neben den Präambeln andere Partien der Verfassung: vor allem die Artikel zu Flaggen, Nationalfarben, Hymnen, Sprachen, Erziehungszielen, auch Feiertagen als „irrationalen Konsensquellen“ (K. Eichenberger). Beispiele sind: Art. 131 Verf. Bayern von 1946 / 1984 („Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden“ … „Oberste Bildungsziele sind Ehrfucht vor Gott … Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt …“), Art. 32 Verf. Hessen von 1946 („Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag aller arbeitenden Menschen. Er versinnbildlicht das Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung“), Art. 139 der Weimarer-Reichsverfassung (WRV) bzw. Art. 140 GG („Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt“) und Art. 56 Verf. Spanien von 1978 („Der König ist Oberhaupt des Staates, Symbol seiner Einheit und Dauer. Er wacht als Schiedsrichter und Lenker über das regelmäßige Funktionieren der Institutionen …“). Ein „rhetorisches“ Element lässt sich sogar in manchen Partien der heute so verfeinerten Artikel zu den (wachsenden) Staatsaufgaben entdecken9. Schließlich greift dieser „Geist“ und diese Sprache sogar in Grundrechtsgarantien hinüber10. Den Prototyp einer sprachlich „kultivierten“ und inhaltsreichen Präambel hat die Verfassung Spaniens von 1978 geschaffen. Verf. Portugal (von 1976 / 92) beginnt ihre Präambel mit den großen Sätzen: „Am 25. April 1974 krönte die Bewegung der Streitkräfte den langjährigen Widerstand des portugiesischen Volkes mit dem Sturz des faschistischen Regimes und gab damit dem größten Wunsch des Volkes Ausdruck. Portugal von Diktatur, Unterdrückung und Kolonialismus zu befreien, bedeutete einen revolutionären Wandel und den Beginn einer historischen Wende für die portugiesische Gesellschaft. Die Revolution gab den Portugiesen die Grundrechte und Grundfreiheiten zurück …“ 9  Art. 39 Abs. 1 Verf. Brandenburg (1992): „Der Schutz der Natur, der Umwelt und der gewachsenen Kulturlandschaft als Grundlage gegenwärtigen und künftigen Lebens ist Pflicht des Landes und aller Menschen.“ Ähnlich Art. 12 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993). 10  Beispiele: Art. 22 Abs. 3 Verf. Niederlande von 1983 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff.): „Der Staat und die anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften schaffen Voraussetzungen für die soziale und kulturelle Entfaltung und für die Freizeitgestaltung.“ – Art. 19 Abs. 1 Verf. Kanton Jura von 1977: „Le droit au travail est reconnu.“ Art. 25 Abs. 2 Verf. Griechenland von 1975: „Die Anerkennung und der Schutz der grundlegenden und immerwährenden Menschenrechte durch den Staat ist auf die Verwirklichung des gesellschaftlichen Fortschritts in Freiheit und Gerechtigkeit gerichtet“ (zit. nach JöR 32 (1983), S. 355 ff.).



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte123

Pathos und Ethos sind hier schon sprachlich greifbar. Die Ausstrahlung der spanischen und portugiesischen Präambel auf neue lateinamerikanische Verfassungen ist evident: man vergleiche etwa Präambel der Verf. Guatemala von 1985. „… wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an …“,

auch Perus von 197911. Eine in Rhythmus, Inhalt, Sprache und Form besonders „ansprechende“, den Bürger „einstimmende“ Präambel ist der Verf. Kanton Basel-Landschaft von 1984 gelungen. „Das Baselbieter Volk, eingedenk seiner Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft und Umwelt, im Willen, Freiheit und Recht im Rahmen seiner demokratischen Tradition und Ordnung zu schützen, gewiss, dass die Stärke des Volks sich misst am Wohle der Schwachen, in der Absicht, die Entfaltung des Menschen als Individuum und als Glied der Gemeinschaft zu erleichtern, entschlossen, den Kanton als souveränen Stand in der Eidgenossenschaft zu festigen und ihn in seiner Vielfalt zu erhalten …“

Die Feiertagssprache und -kultur der Präambeln hat ihre lange Tradition, sie repräsentiert nicht etwa eine neue Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Das zeigen ältere Präambeln in der Schweiz (z. B. alte BV von 1874: „Im Namen Gottes des Allmächtigen! Die Schweizerische Eidgenossenschaft, in der Absicht, den Bund der Eidgenossen zu festigen, die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu erhalten und zu fördern …“12). Doch erlebt die konstitutionelle Präambelkultur heute einen starken „Wachstumsschub“: vor allem im Blick auf werthafte Anreicherungen ganz im Sinne des die Grundrechte einbeziehenden „Aufgabendenkens“. Das zeigt sich jetzt sogar in Österreich13 – trotz des Hintergrundes seiner präambelfeindlichen, betont „formalen“ Verfassungsstaatstradition (vgl. 11  Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff. Die Präambel (alte) Verf. Peru von 1979 beginnt: „Wir, Abgeordnete der Verfassunggebenden Versammlung, Gottes Schutz anbefohlen und in Ausübung der souveränen Gewalt, die uns das Volk Perus übertragen hat; im Glauben an den Vorrang der menschlichen Person und daran, dass alle Menschen die Würde und Rechte universeller Gültigkeit besitzen, die vor dem Staat bestanden und diesem übergeordnet sind …“ 12  Vgl. auch Präambel Verf. Irland von 1937: „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt …, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus … In dankbarer Erinnerung an ihren heldenhaften und unermüdlichen Kampf um die Wiedererlangung der rechtmäßigen Unabhängigkeit unserer Nation und in dem Bestreben, unter gebührender Beachtung von Klugheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit das allgemeine Wohl zu fördern, auf dass die Würde und Freiheit …“ 13  Vgl. die 1980 in die Verf. Tirol von 1953 eingefügte Präambel: „… im Bewusstsein, dass die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe, die geistige und

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

­ V-G 1920). Repräsentativ für die vier Charakteristika verfassungsstaatliB cher werteorientierter Präambeln (Feiertagssprache, Bürgernähe, „Verarbeitung“ der Geschichte, Vorwegnahme der substantiellen Gehalte der Verfassung vor allem nach der Grundrechts- und Staatsaufgabenseite hin sowie Zukunftsentwürfe) ist die Präambel Verf. Bremen von 1947: „Erschüttert von der Vernichtung, die die autoritäre Regierung der Nationalsozialisten unter Mißachtung der persönlichen Freiheit und der Würde des Menschen in der jahrhundertealten Freien Hansestadt Bremen verursacht hat, sind die Bürger dieses Landes willens, eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird.“

Überaus geglückt sind jetzt auch die Verfassungen bzw. Präambeln der fünf neuen deutschen Bundesländer von 1992 / 93, der Mongolei (1992), die Verfassungspräambel Polens (1997), auch Albaniens (1998), des Kosovo (2008), in Afrika Madagaskars (1995) und Togos (1992), in Europa nicht Ungarn (2012)! In Lateinamerika ist zuletzt die Präambel der Verf. Ecuador von 2008 geglückt, in den USA früh die Präambel der Verfassung von Connecticut (1818 / 19), im fernen Nauru die von 1968. bb) Die rechtstechnisch-dogmatische Vielfalt Die sprachlichen Differenzierungen14 bzw. die „Figuren-Vielfalt“ der Verfassungssätze – sie nehmen im Verlauf der Wachstumsprozesse des Typus Verfassungsstaat vor allem seit 1975 fast weltweit zu – sind kein Selbstzweck. Die Verfassunggeber haben sie um bestimmter Inhalte und Funktionen willen geschaffen. Freilich „entwickelt“ die Dogmatik im Rahmen ihrer Kunstlehren aus groben, ggf. noch zu undifferenzierten Texten inhaltliche Vielfalt über den Text hinweg und hinaus. Doch dürfte es kaum eine Figur der Dogmatik geben, die heute nicht in irgendeinem verfassungsstaatlichen positiven Verfassungstext schon Gestalt angenommen hätte – so intensiv ist die internationale Zusammenarbeit in Sachen Verfassungsstaat über Kontinente hinweg, universal, mit Ausstrahlungen auf das Völkerrecht. Unterscheiden lässt sich eine reiche Skala von der formalen Kompetenznorm über das „objektive“ Verfassungsprinzip und den Verfassungsauftrag bis hin zum subjektiven (öffentlichen) Grund-Recht. Oft sind mehrere dieser kulturelle Einheit des ganzen Landes, die Freiheit und Würde des Menschen, die geordnete Familie als Grundzelle von Volk und Staat die geistigen, politischen und sozialen Grundlagen des Landes Tirol sind, die zu wahren und zu schützen oberste Verpflichtung der Gesetzgebung und Vollziehung des Landes sein muss …“ 14  Instruktiv: F. Bodmer, Die Sprachen der Welt, 5. Aufl., 1975.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte125

Dimensionen in denselben Verfassungssätzen bzw. konstitutionellen Normenkomplexen enthalten bzw. von Lehre und Rechtsprechung entwickelt worden. Man denke an die viel zitierte „Mehrdimensionalität“ von Grundrechten als objektiven Normen, „Prinzipien“, subjektiven öffentlichen Rechten, Verfassungsaufträgen, Schutzgehalten, Teilhaberechten, Verfahrensrechte oder an die Mehrschichtigkeit des Sozialstaatsprinzips vom Programmsatz bis zum Auslegungstopos, vom subjektiven Mindestrecht (auf Sozialhilfe) bis zum Gesetzgebungsauftrag. Offenbar besteht heute eine Tendenz, Verfassungsnormen möglichst vielschichtig anzulegen und auszulegen, in ihnen nicht nur eine Geltungsdimension zu erschließen15 („Optimierung“). Diese Verfeinerung ist zu begrüßen, sie ist vor allem in der Schweiz und in Deutschland16 nachweisbar. Auch „die Zeit“ wird textlich unterschiedlich verarbeitet: von den bewahrenden Rezeptionsklauseln bis zum dynamischen Verfassungsauftrag. Insgesamt erweist sich die Rechts„quellen“-Lehre schon begrifflich-bildlich als fragwürdig. „Idealtypisch“ sind weltweit zwei Grundmodelle nachweisbar: Das Ermächtigungs- (1) und das Grenzziehungsmodell (2). (1)  Gemeint sind die – klassischen – Organisations- und materiellrechtlichen Normen, bei denen der Ermächtigungs- und Grenzziehungscharakter im Vordergrund steht. Einerseits werden staatliche Organe geschaffen („Krea­ tionsnormen“), Kompetenzen eingerichtet und Funktionen verteilt („Kompetenznormen“), Befugnisse zuerkannt, Verfahren festgelegt und Zuständigkeitsbereiche abgegrenzt (z. B. zwischen Bund, Ländern, Kommunen, einzelnen Staatsorganen, Staat und Kirche); andererseits wird in Gestalt der Grundrechte materiellrechtlich der gesellschaftlich-private Bereich des Bürgers bzw. der Gruppen von den staatlichen geschieden („Einschränkungen“ und „Eingriffe“ als Ausnahmen). Diese Form- und Texttypik ist am reinsten in der Bismarck-Verfassung von 1871 durchgeführt: fast die ganze (grundrechtslose) Verfassung gleicht einem „Organisationsstatut“. Die Grundrechtskataloge im Stil der Erklärung Frankreichs von 178917 oder Belgiens (1831) repräsentieren das klassische Modell für den materiellrechtlichen bzw. Grundrechtsteil. Der „Dualismus“ zwischen organisatorischem und 15  Repräsentativ ist BVerfGE 6, 55 (72); 7, 198 (203 ff.); 39, 1 (38); 95, 193 (209); anders zu Recht: E 129, 108 (118). 16  Vgl. z. B. J. P. Müllers Lehre von den „Teilgehalten“ der Grundrechte (Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 46 ff.); K. Hesse, Grundzüge, a. a. O., S. 28 („Optimierung“). Vgl. auch BVerfGE 81, 278 (292): „Optimierung“; 83, 238 (321). Aus der Lit.: R. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, VVDStRL 61 (2002), S. 7 (25). 17  Anders die Präambel von 1789 („feierliche Erklärung“, „geheiligte Menschenrechte“), zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, Auflage von 2006.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

Grundrechts-Teil war ein dogmatischer Ausdruck dieses Normierungs-Stils, ebenso das „Eingriffs- und Schrankendenken“18 bzw. die Überbetonung des Formalen und Technischen. Aufgaben-Normen fehlen oder sind nur vereinzelt anzutreffen, so in der Präambel der Bismarck-Verfassung von 1871 („ewiger Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“) und in Gestalt der Bundeszwecke in Art. 2 alte Schweizer BV von 1874 („Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen aussen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt“19). Mit Verfassung als „Ermächtigung und Schranke“ lässt sich stichwortartig der organisatorische und Grundrechtsteil dieses Typus kennzeichnen: Schranke im Verhältnis Staat / Bürger, Einschränkung aber auch im Verhältnis Bürger / Staat, wo dieser die grundrechtliche Freiheit begrenzt (im Interesse der anderen), sowie Grenzziehung zwischen Zentralstaat und Gliedstaat (in Bundesstaaten)20. (2) Das zweite „Modell“ ist das Grundwerte-Modell, ein Verfassungs­ typus, der textlich neben den Ermächtigungen und Grenzziehungen Inhaltliches, Werthaftes, Grundsätzliches, vor allem „Aufgaben“ zum Ausdruck bringt. R. Smends Verständnis der Verfassung als „Anregung und Schranke“ fasst beide Aspekte zusammen, wobei die „Anregung“ in den unterschiedlichsten Formen, Intensitäts- und Abstraktionsstufen bzw. „Dichtegraden“ 18  Dazu kritisch P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, a. a. O., S. VII f., 136 ff. – s. auch Bericht der Schweizer Expertenkommission, 1977, S. 14: „Der bloß auf Staatsabwehr eingestellte Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts mochte mit reinen Ermächtigungs- und Schrankennormen auskommen.“ 19  Vgl. aber auch die Feiertagsform, Bekenntnisstruktur und Inhaltsfülle der Bill of Rights von Virginia (1776): „I. Daß alle Menschen von Natur aus gleich frei und unabhängig sind und bestimmte angeborene Rechte besitzen, die sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen; nämlich das Recht auf den Genuß des Lebens und der Freiheit …“ 20  Auch die Verfassung Österreichs von 1920 bleibt im Kontext des staatsrecht­ lichen Positivismus von H. Kelsen in der Tradition des Verfassungstypus, der eher formal-technisch i. S. des Grenzziehungs- und Kompetenzverteilungsdenkens steht. Dieser „Stil“ hat in den Verfassungen der Bundesländer nach 1945 zunächst „Schule“ gemacht. Erst neuerdings finden sich inhaltliche Anreicherungen: z. B. in Gestalt des neuen Staatsaufgaben-Artikels in Art. 4 Verf. Niederösterreich (1979), des Staatsziel-Artikels 1 Abs. 1 Verf. Burgenland (1981) („Burgenland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat“, „Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft“), vor allem aber in den Bekenntnis- und Staatsaufgaben- bzw. Grundrechtsaufgaben-Artikeln der neuen Verfassung von Vorarlberg von 1984 (Art. 7, auch 8 (Ehe und Familie), 9 (Bildung und Kultur)); s. noch unten S. 574 ff.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte127

bis hin zur normativen Verpflichtung auftreten kann. Gingen schon die französischen Verfassungen nach 1791 diesen Weg der inhaltlichen Anreicherung21, so verfolgen die neuen Verfassungen in Europa und Lateinamerika seit 1975 verstärkt die Tendenz materieller „Aufladung“. Das hat (partei)politische Hintergründe – jeder am pluralistischen Prozess und Kompromiss der Verfassunggebung Beteiligte möchte „seinen“ Teil, seine „Politik“ einbringen –, aber wohl auch wissenschaftliche. Das „materiale Verfassungsverständnis“ beginnt den Textgeber zu beeinflussen. U. Scheuners Formel von der Verfassung als „Norm und Aufgabe“22 liefert ein prägnantes Stichwort für diese Entwicklungstendenz. Die Steuerung bzw. Verarbeitung, auch „Beanspruchung“ der Wirklichkeit ist eine schon textlich ablesbare Eigenheit der modernen Verfassunggeber (pionierhaft: Form und „Geist“ des Zweiten Hauptteils der WRV von 1919, besonders Art. 119–122, 139, 148, 151, 155; vgl. jetzt für „Natur und Umwelt“ Art. 39 bis 40 Verf. Brandenburg, 1992; für „Rechte und Grundwerte“: Regionalstatut Latium von 2004; für die „Hauptziele“: Art. 4 Regionalstatut Toscana von 2005; für die „Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns“: Art. 7 Verf. Tirol (1989 / 2003). Auffällig ist die materielle Anreicherung der Verfassung auf allen Problemfeldern und in allen Arten von Verfassungsnormen – wenngleich national und in der Zeitachse unterschiedlich: teils wird schon die Präambel um Aufgaben angereichert, teils wird der (nicht nur bundesstaatlich bedingte) Kompetenzteil in die Aufgaben-Form gebracht, teils begegnen Grundrechte auch als Staatsaufgaben oder im Verfahrensgewand, teils werden ganz neue Normtypen geschaffen (etwa „Im Geiste-“ oder „kulturelles Erbe-Klauseln“, Bekenntnisartikel oder Grundsatznormen). Überdies gibt es Mischformen. Diese „Modell-Lehre“ bedarf der Relativierung: Je nach „Kodifikationsstil“ und das heißt auch „Alter“ einer Verfassungsurkunde bzw. ihrer Änderungen steht (in Europa) das Formale und Technische unterschiedlich stark im Vordergrund, neuere Verfassungen arbeiten gerne material und (wort)­ reich“, ohne auf ältere Texte zu verzichten. Doch gibt es selbst heute Unterschiede. So ist etwa die Verfassung der Niederlande von 1983 mit „großen“ Gehalten und Programmen eher sparsam und zurückhaltend, während die neuen Verfassungen der beiden iberischen Länder Portugal und Spanien barocke, materiale, viele Differenzierungen andeutende Sätze bevorzugen (ganz zu schweigen vom Balkan und von Lateinamerika). Und: Kaum ein inhaltliches Verfassungsthema ist auf nur eine Textgestalt fixiert. Im orga21  Man vergleiche ihre Texte. Stationen sind: Verf. von 1848 (z. B. Präambel und Art. 13), Art. 22 bis 39 Verf. 1946. 22  U. Scheuner, Art. Verfassung (1963), jetzt in: Staatstheorie und Staatsrecht, Ges. Schriften, 1978, S. 171 (172).

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

nisatorischen Teil der Verfassungen können sich starke materiale Elemente finden, im Grundrechtsteil auch formal-organisatorische. Die Teile wachsen zusammen. Schliesslich: Es gibt viele „Mischformen“: etwa kasuistische Aufgaben-Normen, Grundrechtsaufgaben-Normen („soziale und kulturelle Grundrechte“), spezielle Schrankenklauseln, nur an den Gesetzgeber gerichtete Aufträge (Programm-Artikel). Die Texte können insofern verschieden „gearbeitet“ sein, als der Verfassunggeber sie teils generalklauselartig offen, teils speziell und kasuistisch fasst; eine Mischform bilden die im Insbesondere- oder Beispielsstil „getexteten“ Verfassungssätze (bei Grundrechten und ihren Schranken, bei allgemeinen oder detaillierten Staatsaufgaben-Normen). Der Formenreichtum manifestiert sich in der wechselnden Verwendung des „Katalogs“ bestimmter Grundrechte bzw. Verfassungsgüter. Die Aufzählung kann „komprimierend“ wirken, sie kann aber auch in Überfrachtung der Verfassungstexte umschlagen. Bald finden sich offene, d. h. nicht abschließend gemeinte Kataloge, bald „geschlossene“, erschöpfend gemeinte Kataloge23. Die nationalen Verfassungskulturen sind vielfältig. Konstitutionelle Legaldefinitionen, d. h. Begriffsbestimmungen auf Verfassungsebene bilden ein häufig eingesetztes Instrument. Die Verfassung ist hier um ein Höchstmaß an Präzision bemüht, die Prozesse der Verfassungskonkretisierung vereinfachen sich. Beispiele finden sich in Verfassungen sehr unterschiedlicher Entwicklungsstufen und in sehr verschiedenen Problemfeldern24. Eine besondere Gruppe von Verfassungsnormen bilden die BekenntnisNormen, Symbol- und Grundwerte-Klauseln, „Im Geiste“- und „kulturelles Erbe“-Artikel, Identitäts-25, Grundsätze- und die Vorrang-Klauseln. Diese Klauseln sind Ausdrucksformen und Vehikel einer inhaltlichen werteorientierten Anreicherung, ja „Aufladung“ der Verfassungen. Sie kommen an 23  Hier einige Beispiele: Art. 40 Abs. 6 Nr. 1 Verf. Irland von 1937 zählt Rechte des Bürgers auf (Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit), Art. 45 Abs. 2 ebd.: Politische Ziele („insbesondere“). – Vgl. auch Kap. 2 § 1 Verf. Schweden von 1974. – Als tendenziell entwicklungsoffen versteht sich die Grundrechtsklausel in Art. 11 Ziff. 7, 8 Verf Ecuador (2008). 24  Art. 81 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978: „Organgesetze sind jene Gesetze, die sich auf die Entwicklung der Grundrechte und der öffentlichen Freiheiten beziehen …“ Legaldefinitionen finden sich auch in Art. 146 Verf. Namibia von 1990, unter „Vorbehalt des Kontextes“ (ähnlich Art. 127 Verf. Botswana (1966/2002)). – s. auch Art. 121 GG (Begriff der Mehrheit). – Art. 22 Abs. 1 Verf. Irland von 1937 (Definition der „Finanzgesetzvorlage“). – Art. 154 Verf. Hessen von 1946 („Inländer“). – Art. 51 Verf. Schleswig-Holstein von 1949 („Mehrheit“). – Art. 10 Verf. Zimbabwe (1979/2007). 25  Dazu die Nachweise oben 59 ff. sowie aus der islamischen Welt: Art. 2 Abs. 2 Verf. Irak von 2005: „Die Verfassung garantiert die islamische Identität.“



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte129

vielen Stellen vor, potentiell in allen Teilen der Verfassungsurkunde, sie sind in sich differenziert, auch zu Mischformen, und sie prägen die Verfassungen der einzelnen Länder verschieden stark. Im Ganzen nehmen sie heute eher zu als ab. Sie spielen in die Gruppe der Aufgaben-Normen hinüber (z. B. in Art. 3 Abs. 1 und 2 Verf. Bayern oder in der GG-Formel vom „sozialen Rechtsstaat“), bleiben aber von dieser unterscheidbar. In älteren Verfassungen finden sie sich nur bruchstückhaft oder ansatzweise, erst in neueren, etwa in denen der iberischen Länder, sind sie oft gleichzeitig und „massenhaft“ nachweisbar. Treten sie mit der Gruppe Aufgabennormen und mehrschichtig gewordene Grundrechtsnormen gleichzeitig auf, liegt der Prototyp einer „materialen“ Verfassung vor. Eine ihrer Ausdrucksformen ist die „Einheit der Verfassung“ (angedeutet in Art. 427 Satz 1 Verf. Ecuador von 2008 sowie Kap. 14 Ziff. 3 Abs. 1 Verf. KwaZulu Natal von 1996). „Bekenntnis-Normen“ finden sich in vielen Bereichen. Sie dringen in neueren Verfassungstexten stärker nach vorn: etwa in Präambeln26, in Grundlagen-Artikeln27, in Feiertagsgarantien28, aber auch in anderen Partien der Verfassung29. Die „Bekenntnisform“ ist ein Hinweis auf die große Bedeutung der Inhalte, auf ihre Qualifizierung als Grundwerte, auch universale Werte. Sie sucht objektiv vorhanden Gedachtes mit der höchsten Stufe der Identifizierung des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt, des Volkes bzw. des Einzelnen, zu verbinden (fast i. S. von „Glaubens“-Artikeln). Ra­ tio­nalität und subjektiv-irrationale Inhalte gehen eine denkbar enge Verbindung ein. Der Verfassunggeber schafft hier im Grunde eine Identitätsklausel; er trifft eine Aussage über sein Selbstverständnis bzw. das seines Volkes. Symbol-Artikel30 sind den Bekenntnisnormen eng verwandt. Ein gutes Beispiel ist Art. 2 Abs. 2 Verf. Frankreich von 1958 (ähnl. Art. 1 Verf. Benin sowie Art. 2 Verf. Namibia von 1990): 26  s. Präambel Verf. Frankreich von 1958: „Das französische Volk verkündet feierlich seine Verbundenheit mit den Menschenrechten und mit den Grundsätzen der nationalen Souveränität …“ Ähnl. Präambel Verf. Benin (1990). 27  Verf. Spanien von 1978, Vortitel, Art. 1 Abs. 1; Art. 1 Abs. 2 GG von 1949: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ 28  Z.  B. Art. 3 Abs. 2 S. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953: „Er (sc. der 1. Mai) gilt dem Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung.“ 29  Z.  B. Art. 69 Abs. 1 Verf. Hessen von 1946 im Abschnitt „Völkerrechtliche Bindungen“: „Hessen bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung.“ Art. 2 Abs. 3 Verf. Brandenburg (1992): Bekenntnis zu den Grundrechten der EMRK, der ESC etc.; s. auch Art. 1 Abs. 2 Verf. Thüringen (1993). 30  Zu den „Symbolen“, z. B. den Reichsfarben (Art. 3 WRV): R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

„L’Emblème national est le drapeau tricolore, bleu, blanc, rouge. L’hymne national est „la Marseillaise“. La devise de la République est: „Liberté, Egalité, Fraternité“. Son principe est: gouvernement du peuple, par le peuple et pour de peuple.“

– aber auch der Amtseid des Präsidenten der Republik Irland31. Nicht zufällig figurieren sie meist in den Grundlagen-Artikeln der Verfassung32. Spanien (Verf. 1978) fixiert seinen Sprachen- und Flaggen-Artikel ebenfalls im „Vortitel“ (Art. 3 und 4). Und es verwendet (für den König) sogar ausdrücklich den Begriff „Symbol“33. Ähnlich gehen Art. 12 Verf. Mongolei von 1992 sowie Art. 2 Verf. Ecuador von 2008 vor; weitere Textbeispiele liefern: Art. 5 und 6 Verf. Kosovo von 2008 sowie Art. 4 und 5 Verf. Südafrika von 1996, Art. 7 bis 10 Verf. Serbien von 2006, Art. 1 Verf. der Komoren von 2001 (die übrigens schon in der Präambel neben den UNMenschenrechtserklärungen u. a. auf die Menschenrechte der Arabischen Liga verweist); auch Art. 2 und 3 Verf. Namibia von 1990 sowie Art. 6 Verf. Ruanda von 2003 und Art. 3 Verf. Äthiopien von 1994 seien genannt. Den Bekenntnis- und Symbol-Artikeln nahe kommen Grundwerte-Klauseln. Prägnantes Beispiel ist Art. 12 Abs. 6 Verf. Nordrhein-Westfalen: „In Gemeinschaftsschulen werden Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungsund Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse … Überzeugungen gemeinsam unterrichtet …“

Den wohl prägnantesten Grundwerte-Artikel hat der Verfassunggeber Spaniens (1978) in den Worten des Art. 1 Abs. 1 geschaffen34: 2010, S. 162 f., 260 ff. – Beispiele aus neuen Verfassungstexten: Art. 12 Verf. Mongolei (1992), Art. 4 Verf. Madagaskar (1995), Art. 28 Verf. Polen (1997), Art. 6 Verf. Kosovo (2008), Art. 3 Verf. Sierra Leone (1991). 31  Art. 12 Abs. 8 Verf. Irland. 32  So in Verf. Italien (1947), Grundprinzipien, Art. 12: „Die Flagge der Republik ist die italienische Trikolore …“ – Art. 11 Verf. Portugal (Flagge und Hymne); Art. 5 Verf. Berlin von 1950: Landessymbole: „Berlin führt Flagge, Wappen und Siegel mit dem Bären …“ Zuletzt Art. 161 ff. Verf. Angola von 1992; Art. 2 Verf. Ecuador von 2008. 33  Art. 56 Abs. 1: „Der König ist Oberhaupt des Staates, Symbol seiner Einheit und Dauer.“ Ähnlich arbeitet Art. 1 Verf. Japan (zit. nach R. Neumann, Änderung und Wandlung der Japanischen Verfassung, 1982, S. 185 ff.): „Der Tenno ist das Symbol Japans und der Einheit des japanischen Volkes.“ – Art. 85 Verf. Peru von 1979: Flaggen, Wappen und Nationalhymne als „Symbole des Vaterlandes“. – Art. 11 Verf. Georgien (1995): „The State Symbols of Georgia are determined by organic law.“ Art. 34 Verf. Burkina Faso (1997): „Die Symbole der Nation“. Zum Ganzen schon oben S. 46 ff. 34  Vgl. Art. 8 Verf. Mazedonien (1991): „fundamental values“; Art. 3 Verf. Kroa­ tien (1991): „valeurs suprêmes“; Art. 1 Abs. 1 Verf. Äquatorial-Guinea (1991): „höchste Werte“.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte131 „Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus als obersten Werten seiner Rechtsordnung.“

Einen heute nicht seltenen Typus von Verfassungstexten bilden die „Im Geiste-Artikel“. Sie finden sich in vielerlei Regelungsfeldern, so in Präambeln35, in Erziehungszielen36, in Eidesklauseln37 und im Dienst der Umschreibung des Rechtsprechungsauftrags38. Die „lm Geiste-Klauseln“39 spiegeln den Versuch des Verfassunggebers, das Grundsätzliche seiner Inhalte, seiner Bewusstseinslage einzufangen und festzuhalten. Der Grundwerte-Bezug ist ebenso evident wie die juristische Positivität oder gar die Justitiabilität solcher Normen schwer erfassbar bzw. durchsetzbar sind. Doch darf diese Normierungs- und (tendenziell auch) Positivierungstechnik als wichtiges Instrument im Arsenal des neueren Verfassunggebers gelten: an die Adresse aller drei Staatsfunktionen gerichtet und ggf. auch die Bürger verpflichtend. Die „kulturelles Erbe-Klauseln“ sind aus demselben „Stoff und Geist“. Sie finden sich in neuen Verfassungen, etwa in der Präambel Verf. Guatemala von 1985: „… wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an …“40. Auf weitere Text-Beispiele sei verwiesen41 (vgl. nur Art. 34 Abs. 2 Verf. Branden35  Präambel Verf. Hamburg von 1952. Präambel Verf. Brandenburg (1992): „Im Geiste der Traditionen von Recht, Toleranz und Solidarität …“ Präambel Verf. Mosambik (1990): „Geist der Verantwortung und des Meinungspluralismus“. 36  Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947. 37  Z. B. Art. 111 Verf. Hessen von 1946 („… sowie Verfassung und Gesetze im demokratischen Geiste befolgen und verteidigen werde“). 38  Art. 62 Verf. Berlin (1950  / 94): „Die Rechtspflege ist im Geist dieser Verfassung und des sozialen Verständnisses auszuüben.“ Vgl. auch § 10 Verf. Estland (1992): „Sinn der Verfassung“, in Sachen Grundrechtsentwicklungsklausel. 39  Das BVerfG verwandte sie im Lüth-Urteil: E 7, 198 (205): „jede … Vorschrift muss in seinem (sc. des Wertsystems) Geiste ausgelegt werden“. – „Klassikertext“ ist § 112 Abs. 1 Verf. Norwegen von 1814: „Geist dieser Verfassung“. Neuere Beispiele: Art. 39 Abs. 2 Verf. Südafrika von 1996; Art. 20 Abs. 4 lit. b Verf. Kenia von 2010. 40  s. auch Präambel (alte) Verf. Peru von 1979: „… ebenso des berühmten Erbes von Sánchez Carrión, Gründer der Republik …“ Ferner Präambel Verf. Tirol von 1980 („geschichtliches Erbe“); Präambel Verf. Niger (1996). 41  Z. B. Art. 46 Verf. Spanien: „Die Staatsgewalten garantieren die Erhaltung und fördern die Bereicherung des historischen, kulturellen und künstlerischen Erbes der Völker Spaniens und der darin enthaltenen Werte …“ – Art. 78 Abs. 2c Verf. Portugal: „Das Kulturgut zu fördern und zu schützen, damit es zu einem erneuernden Element der gemeinschaftlichen kulturellen Identität werde.“ – Art. 36 Verf. Peru: „Die zum Kulturbesitz der Nation erklärten archäologischen Fundorte und Über­reste, Bauten, Monumente, Kunstgegenstände und Zeugnisse von historischem Wert stehen

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

burg: „Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert“; Präambel Verf. Polen von 1997: „verpflichtet, alles Wertvolle aus dem über tausendjährigen Erbe an kommende Generationen weiterzugeben“). Noch innovativer ist Art. 27 Verf. Kanada von 1981: „This Charter shall be interpreted in a manner coexistant with a preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians“ – eine kühne Interpretationsregel, zugleich ein Beispiel für kulturelle Verfassungsinterpretation! Sie sollte zur Methodennorm werden (Balkan!). Diese Klauseln stehen wohl in einer Verwandtschaft zu der berühmten Wortschöpfung des Maltesers A. Pardo (1967) vom „Gemeinsamen Erbe der Menschheit“. Sie sind eine Bereicherung des Textbildes verfassungsstaatlicher Verfassungen. Man darf von „kulturellem Patrimonium“ sprechen. Art. 99 Verf. Venezuela von 1999 sowie Art. 379 Verf. Ecuador von 2008 kommen dem sehr nahe. Prinzipien-Normen bilden eine Parallelform42. So stellt Verf. Guatemala von 1983 dem Abschnitt „Arbeit“ den Satz vorweg: „Das Arbeitsleben des Landes muss in Übereinstimmung mit den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit organisiert werden“ (Art. 101 S. 2)43. Im Textbild ähnlich arbeitet (alte) Verf. Peru (1979): Art. 110: „Die Wirtschaftsordnung der Republik fußt auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit …“44

Und ganz im Sinne des „Schutzes“ der Verfassung heißt es in Art. 277 Abs. 1 Verf. Portugal: „Verfassungswidrig sind alle Rechtsnormen, die die Bestimmungen der Verfassung oder die in ihr verankerten Grundsätze verletzen.“ unter dem Schutz des Staates.“ – Art. 61 Verf. Guatemala: „Schutz des kulturellen Erbes“. s. auch Art. 60, ebd. (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.). – Vgl. Präambel Verf. Hamburg: „Als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene Aufgabe …“ Die vielleicht umfassendste, über das Juristische hinausführende Umschreibung des – kulturellen – Erbes findet sich in der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950: „… entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen …“ 42  Vgl. Art. 101 Abs. 2 Verf. Saarland: „Die Änderung (sc. der Verfassung) darf den Grundsätzen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates nicht widersprechen.“ – s. auch Art. 129 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 56 Abs. 3 Verf. Mecklenburg-Vorpommern. 43  Art. 118 Abs. 1, ebd., lautet: „Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Republik Guatemala basiert auf den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit.“ 44  s. auch, ebd., Art. 30 S. 3: „Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht, … unter Achtung der Verfassungsgrundsätze Bildungseinrichtungen zu gründen.“



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte133

Im Bereich der Erziehungsziele bedient sich Verf. Spanien von 1978 der Grundsätze-Figur45. Die allgemeinste Form schuf Art. 1 Verf. Portugal (1976 / 92): „Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet …“

H. Hellers Theorie der „Rechtsgrundsätze“46 ist der klassische Rahmen für das Verständnis dieses Artikel-Typus. Neuere Verfassungen in Lateinamerika arbeiten mit dem Begriff „Elementos constitutivos de Estado“ (z. B. Tit. I Verf. Ecuador von 2008; Erster Teil Kap. 2 Verf. Bolivien von 2007 lautet: „Principios, Valores, y Fines del Estado“). Bezugnahmen der Verfassung auf sich selbst sind eine charakteristische neue Artikel-Form. Sie findet sich z. B. in „Ewigkeitsklauseln“47 sowie in anderen Problemfeldern, etwa bei der Umschreibung der Treuepflicht der Lehrer48. Sehr oft handelt es sich um Artikelgruppen zum „Verfassungsschutz“ im tieferen und weiteren Sinne. Besonders klar wird dies in der Verf. Hessen von 194649. Ausländische Verfassungen wenden diese ArtikelForm auf weitere Bereiche an: etwa Art. 30 Abs. 3 (alte) Verf. Peru von 197950, Art. 39 Verf. Georgien von 1995 auf die Grundrechtsentwicklungsklausel (vgl. auch Art. 13 Abs. 2 Verf. Bolivien von 2007). Häufiger werden „Vorrang-Artikel“, d. h. Verfassungsnormen, die ein bestimmtes Rechtsgut besonders herausstellen und damit als hochrangig bewer45  Art. 27 Abs. 2 lautet: „Ziel der Erziehung ist die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unter Achtung der demokratischen Grundsätze des Zusammenlebens sowie der Grundrechte und Grundfreiheiten.“ 46  H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 191 f., 222 ff., 255 ff. 47  Art. 75 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern von 1946: „Anträge auf Verfassungsänderungen, die den demokratischen Grundgedanken der Verfassung widersprechen, sind unzulässig.“ – Art. 20 Abs. 1 Verf. Bremen von 1947: „Verfassungsänderungen, die die … Grundgedanken der allgemeinen Menschenrechte verletzen, sind unzulässig.“ – Ähnlich Art. 150 Abs. 1 Verf. Hessen von 1946 („demokratischen Grundgedanken der Verfassung“); Art. 64 Verf. Kamerun (1996). 48  Art. 36 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947. 49  Vgl. Art. 146 Abs. 2 und 150 Abs. 1 im Rahmen des Abschnitts „Der Schutz der Verfassung“. 50  Vgl. Art. 277 Abs. 1 Verf. Portugal (1976  / 82): „Verfassungswidrig sind alle Rechtsnormen, die die Bestimmungen der Verfassung oder die in ihr verankerten Grundsätze verletzen.“ – Art. 288 ebd.: „Die Verfassungsrevisionsgesetze haben folgendes unberührt zu lassen: a) die nationale Unabhängigkeit und die Einheitlichkeit des Staates; b) die republikanische Regierungsform; c) die Trennung von Kirche und Staat; d) die Rechte, Freiheiten und Garantien der Bürger; …“ Ähnl. Art. 159 Verf. Angola (1992).

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

ten; die Verwandtschaft zu Schutzklauseln51 liegt auf der Hand. Auch die Verfassungsrechtsprechung postuliert oft einen „Vorrang“52, eine gewiss nicht zufällige Parallelität: das BVerfG arbeitet z. T. „wie“ der Verfassunggeber! Ältere Beispiele sind etwa Art. 125 Abs. 1 Verf. Bayern von 1946 („Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes“, das Attribut „gesund“ wurde jüngst gestrichen, Folge wohl der UN-Behindertenrechtskonvention als Teilverfassung), auch Art. 12 Abs. 1 Verf. Bremen von 1947 („Der Mensch steht höher als Technik und Maschine“) oder Art. 24 Abs. 1 S. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950 („Der Schutz seiner (sc. des Menschen) Arbeitskraft hat Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes“)53. Vor allem die neueren Umweltschutzklauseln wagen diesen Kodifikationsstil. Er ist einerseits ein Beleg für die Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit von Abwägungsvorgängen bei der Konkretisierung von Verfassungsnormen, andererseits verrät er Unsicherheiten bzw. er führt zu solchen. Charakteristisch ist Art. 141 Verf. Bayern: „Es gehört auch zu den vorrangigen Aufgaben von Staat, Gemeinden und Körperschaften des öffentlichen Rechts, Boden, Wasser und Luft als natürliche Lebensgrundlagen zu schützen …“54

Im Ausland fällt die einseitige Vorrangklausel in Art. 44 Abs. 2 Verf. Guatemala (1985) auf: „Sozialinteresse geht vor Individualinteresse“ – freilich im Kontext eines Artikels „Naturrechte der Person“. Und schon in ihrer Präambel heißt es vorweg (in gewissem Gegensatz hierzu): „Wir, die Vertreter des guatemaltekischen Volkes …, bekräftigen den Vorrang der menschlichen Person als Träger und Ziel der sozialen Ordnung.“ Die Problematik solcher Vorrangklauseln liegt auf der Hand: Sie drohen sich gegenseitig zu relativieren oder gar aufzuheben oder doch in Wider51  Z. B. Art. 166 Abs. 1 Verf. Bayern von 1946: „Arbeit ist die Quelle des Volkswohlstandes und steht unter dem besonderen Schutz des Staates.“ Art. 40 Abs. 2 S. 2 Verf. Brandenburg: „Daher ist dem öffentlichen Interesse an der schonenden Nutzung des Bodens besonderes Gewicht beizumessen.“ Vgl. auch Art. 30 Verf. Angola. 52  Z. B. BVerfGE 39, 1 (42): „Das menschliche Leben stellt … innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar.“ – E 33, 23 (29): Menschenwürde als „oberster Wert“. Ebenso E 54, 341 (357); s. auch E 89, 28 (35); 95, 220 (241). 53  Art. 53 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: „Die menschliche Arbeitskraft ist als persönliche Leistung und wertvollstes Wirtschaftsgut des Volkes gegen Ausbeutung … zu schützen.“ 54  Ähnlich Art. 11 a Abs. 1 S. 2 Verf. Bremen. – Art. 29a Abs. 2 Verf. NordrheinWestfalen hat eine Ausgleichsklausel gefunden („Die notwendigen Bindungen und Pflichten bestimmen sich unter Ausgleich der betroffenen öffentlichen und privaten Belange“). – Art. 59a Abs. 1 S. 2 Verf. Saarland: „Es gehört deshalb zu den erstrangigen Aufgaben des Staates – Boden, Wasser und Luft als natürliche Lebensgrundlagen zu schützen …“



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte135

spruch miteinander zu treten. Besonders Guatemala ist ein Beispiel dafür. Die (alte) Verfassung von Peru (1979) formuliert in ihrer Präambel: „… Im Glauben an den Vorrang der menschlichen Person …“, und sie wiederholt diese Wertung in einem Grundlagenartikel (Art. 1 Satz 1) in den Worten: „Die menschliche Person ist der höchste Zweck der Gesellschaft und des Staates.“ Dieser Wert ist wohl universal. Die Verf. Portugal (1976 / 92) bedient sich mehrfach der Vorrang-Figur: in Gestalt des Art. 68 Abs. 2 („Die Mutterschaft und die Vaterschaft sind sozia­ le Werte von überragendem Rang“) – eine Klausel, die Unsicherheiten mit sich bringt, da sie nicht die rivalisierenden anderen Werte nennt, wohl auch nicht nennen kann; Präferenzregeln können sich nur allmählich im Prozess der Interpretation entwickeln. Verfassungspolitisch sollten Vorrang-Klauseln im Verfassungsstaat nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden. Hiervon zu unterschieden sind die Aufgaben-Normen. Die AufgabenNormen bilden heute weltweit das wohl reichste Feld verfassunggeberischer Innovation und Phantasie, Wortvielfalt und Differenzierungskunst, auch Ambivalenz. Sie erobern sich alle Teilbereiche und Problemfelder der Verfassung: von der Präambel über den Grundrechts- bis zum organisatorischen Teil und Schlussteil. Sie wenden sich an die unterschiedlichsten Adressaten (Staatsfunktionen, Teilbereiche der Gesellschaft wie die Wirtschaft) und sie reichen von der bloßen „Sorge“-Klausel über „Schutz“- und „Förderungs“Artikel bis zum erzwingbaren Verfassungsauftrag oder Gesetzgebungsbefehl. Sie sind in der Dogmatik z. T. als „Staatszielbestimmungen“ (U. Scheuner)55 oder „Staats­struk­turnormen“56 bekannt. Ihr normativer Bindungsgrad variiert. An der untersten Schwelle steht die bloß formale Kompetenz bzw. „Kann“-Ermächtigung, auch die rezipierende Status-Quo-Garantie. Ihre stärkste Form ist der „Verfassungsbefehl“. Ihr häufiger LeitgrundsätzeCharakter macht sie den Identitäts- und Grundsätze-Artikeln verwandt. Inhaltlich sind sie weit gefächert: vom umfassenden Staatsziel „Gemeinwohl“ bis zum speziellen Teilziel (z. B. der Familienförderung, dem Umweltschutz oder des Schutzes der „Gebärdensprache als Teil der ungarischen Kultur“, so Art. XIX Abs. 3 der im Übrigen viel kritisierten Verfassung Ungarn von 2012, der aber bei diesem Thema eine neue Textstufe gelingt).

55  U. Scheuner, Staatszielbestimmungen (1972), später in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 223 ff. 56  Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S.  551 ff.; M. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, S. 149 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

Im Einzelnen: Die weltweit zunehmende Verwendung von Aufgaben-Normen ist ein Charakteristikum der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Ausdruck des gewandelten Staats- bzw. Verfassungsverständnisses („Staat und Verfassung als Aufgabe“, auch als „Prozess“), geben sie diesem ihrerseits Nahrung. Die Figur des „Verfassungsauftrags“57 ist nur eine Beispielsform, wenn auch die häufigste. Freilich begegnet sie in vielen Varianten: sie kann den Staat bzw. einzelne Funktionen und andere (etwa die „Wirtschaft“ oder Einzelne) zum jeweiligen Adressaten haben58. Auffällig ist die wachsende Verschränkung bzw. Austauschbarkeit der Grundrechte und der Staatsaufgaben: Grundrechte treten als solche auf, aber auch im „Gewand“ von Staatsaufgaben59. Umgekehrt erweisen sich Staatsaufgaben als objektivierte Grundrechtsgehalte60: die Schutzpflichten des BVerfG. Freilich gibt es zwischen den einzelnen Nationen in Sachen AufgabenDenken große Unterschiede: vgl. die eher zurückhaltenden „Sorge“-Artikel der Verf. der Niederlande (1983) einerseits, die vielen Aufgabennormen in Portugal und Spanien andererseits61. Die Schweiz verfolgt wie so oft eine gute mittlere Linie, auch in ihren totalrevidierten Kantonsverfassungen62 sowie in ihrer nBV von 1999 (z. B. Art. 41, 64, 68, 73, 76, 77, 94, 118). 57  Aus der Literatur: P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965), S. 241 ff.; R. Zippelius / T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, S. 48. 58  Als „Grundpflichten“ (z.  B. Art. 120 Abs. 2 und 4 Verf. Griechenland von 1975). Ähnlich Art. 10 Abs. 1 S. 1 Verf. Sachsen (1992): „Der Schutz der Umwelt … Verpflichtung aller im Land.“ Ähnl. Art. 86 Verf. Polen (1997); Art. 50 Verf. Usbekistan. 59  Z. B. Art. 9 Verf. Portugal: „Wesentliche Aufgaben des Staates sind: … b) die Grundrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten und die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates zu achten …“ – Eine enge Verschmelzung von Grundrechten und Staatsaufgaben findet sich in der neuen Verfassung von Vorarlberg von 1984: „Art. 7 Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns (1) Das Land hat die Aufgabe, die freie Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen sowie die Gestaltung des Gemeinschaftslebens nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der Solidarität aller gesellschaftlichen Gruppen zu sichern. Selbstverwaltung und Selbsthilfe der Landesbürger sind zu fördern. (2) Jedes staatliche Handeln des Landes hat die Würde des Menschen, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Verhältnismäßigkeit der angewandten Mittel und die Grundsätze von Treu und Glauben zu achten.“ 60  Vgl. Kap. 1 § 2 Abs. 2 Verf. Schweden von 1974: „Die persönliche, ökonomische und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen soll grundsätzlich den Zweck der öffentlichen Wirksamkeit bestimmen. Es obliegt besonders dem Gemeinwesen, das Recht auf Arbeit, Wohnung und Ausbildung zu sichern und für soziale Fürsorge und Sicherheit und für einen guten Lebensstandard zu sorgen.“ 61  Z. B. Art. 9 (Grundlegende Staatsziele), 60 Abs. 2, 63 Abs. 2, 66 Abs. 2, 81 Verf. Portugal; Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte137

Vielleicht kehrt heute der Verfassunggeber zur klassischen Konzeption zurück, wonach der Staat und damit alle seine Kompetenzen instrumental in den Dienst der Grundrechte gestellt werden, so in Art. 2 Französische Menschenrechtserklärung von 1789: „Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.“

Der Staat besitzt keinerlei Eigenwert; Staatsaufgaben sind letztlich „Grundrechtsaufgaben“63.

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Eine für Österreich kühne Staatszielnorm wagt Art. 4 Ziff. 2 der neuen Verfassung Niederösterreichs von 1979 (ähnlich später Art. 7 Abs. 2 Verf. Tirol von 1984, Art. 9 Verf. Salzburg von 1999): „Lebensbedingungen: Das Land Niederösterreich hat in seinem Wirkungsbereich dafür zu sorgen, dass die Lebensbedingungen der niederösterreichischen Bevölkerung in den einzelnen Regionen des Landes unter Berücksichtigung der abschätzbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse gewährleistet sind.“64

Staatsaufgaben finden sich in höchst konzentrierter Form schon in den Präambeln – dies selbst in traditionell organisationsrechtlich und eher formal konzipierten wie der der Bismarck-Verf. von 1871 und der Schweizer Bundesverfassung von 1874, erst recht aber in neueren Verfassungen. Manche Verfassungen wählen die Grundlagenartikel zum systematischen Ort der Staats- bzw. Grundrechtsaufgaben, so Art. 1 Abs. 2 Verf. BadenWürttemberg von 1953: „Der Staat hat die Aufgabe, den Menschen hierbei (sc. bei der Freiheitsentfaltung) zu dienen. Er faßt die in seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen, gewährt ihnen Schutz und Förderung und bewirkt durch Gesetz und Gebot einen Ausgleich der wechselseitigen Rechte und Pflichten.“

Ein weiteres prägnantes Beispiel liefert Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland von 1975: „Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.“

Die „Patenschaft“ von Art. 1 Abs. 1 GG ist unübersehbar, dies auch für Art. 7 Abs. 1 Verf. Brandenburg von 1992 sowie Art. 9 KV Bern von 1993, Art. 30 Verf. Polen von 1997. Ausstrahlungen finden sich auch in LateinAmerika (z. B. Art. 22 Verf. Ecuador von 2008). 62  Art. 41 Abs. 1 S. 1 Verf. Bern von 1993: „Kanton und Gemeinden schützen und fördern die Gesundheit.“ Ähnlich: §§ 17, 19 KV Basel-Stadt von 2005; ebd., § 14: „Grundrechtsziele“, zit. nach JöR 56 (2008), S. 305 ff. 63  Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (insbes. 103 ff.). 64  Zit. nach JöR 54 (2006), S. 384 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

Das Aufgaben-Denken erobert verfassungstextlich sogar klassische Grundrechte wie die Pressefreiheit65, auch Ehe und Familie66, den Gleichheitssatz67 oder neue kulturelle Teilhaberechte68. Es kommt den „Grundpflichten“ nahe69 und es findet sich in Erziehungszielen70. Auf dem (Um-) Weg über diese bricht das Aufgabendenken sogar in Bezug auf den einzelnen Menschen durch71. Adressat kann der Staat, aber auch die Wirtschaft72 sein. Die Förderungs-Artikel sind eine Variante in der Entwicklung von der bloß formalen Kompetenz zur (Staats-)Aufgabe73. Die Verf. von Ruanda (2003) fordert u. a.: „l’édification d’un Etat de droit et du régime démocratic pluraliste“ (Art. 92 Ziff. 4), auch – wohl neu, vorbildlich – „la recherche permanent du dialogue et du consensus“ (Ziff. 6 ebd.). Art. 50 Abs. 1 verknüpft sogar ein kulturelles Grundrecht mit einer kulturellen Staatsaufgabe: „Tout citoyen a droit aux activités de promotion de la culture nationale“. Parallel zu diesem Terraingewinn der Verfassungsaufträge verläuft das Vordringen der (oft grundrechtsbezogenen) Schutzklauseln. Sie erobern sich immer mehr Themen und Problemfelder, vor allem im Bereich der 65  Vgl. Art. 111 Verf. Bayern von 1946: „Die Presse hat die Aufgabe, im Dienst des demokratischen Gedankens über Vorgänge … des öffentlichen Lebens wahrheitsgemäß zu berichten.“ Art. 67 Verf. Usbekistan (1992): „responsibility for trustworthiness“. Ähnlich für die Medien Art. 108 Abs. 2 Verf. Bolivien (2007): „principios de veridad“. 66  Art. 41 Abs. 3 Nr. 1 Verf. Irland von 1937. 67  Vgl. z. B. Präambel Verf. Guatemala von 1985. 68  Vgl. Art. 34 Abs. 2 S. 2 Verf. Saarland: „Die Teilnahme an den Kulturgütern ist allen Schichten des Volkes zu ermöglichen“ (1947). Derselbe Gedanke findet sich in Art. 26 Ziff. 4 in Gestalt eines Erziehungsziels. 69  Z. B. Art. 59a Abs. 1 S. 1 Verf. Saarland: „Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist der besonderen Fürsorge des Staates und jedes einzelnen anvertraut.“ Art. 12 Abs. 3 Verf. Mecklenburg-Vorpommern: „Jeder ist gehalten, zur Verwirklichung der Ziele der Absätze 1 und 2 beizutragen.“ Art. 82 Verf. Polen (1997): „Die Pflicht jedes polnischen Staatsbürgers ist die Treue zur Republik Polen und die Sorge um das gemeinsame Wohl.“ Auffällig ist der lange Grundpflichtenkatalog in Art. 83 Verf. Ecuador von 2008. 70  Art. 101 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992): „Die Jugend ist … zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe … zu erziehen.“ Ähnlich Art. 23 Verf. Brandenburg (1992). 71  Vgl. Art. 26 Verf. Saarland: „Unterricht und Erziehung haben das Ziel, den jungen Menschen so heranzubilden, dass er seine Aufgabe in Familie und Gesellschaft erfüllen kann.“ („Bürgerschaft durch Bildung!“). 72  Z.  B. Art. 51 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz (1947): „Die Wirtschaft hat die Aufgabe“ … Ähnlich schon Art. 38 Abs. 1 Verf. Hessen (1946). 73  Art. 41 Abs. 3 S. 1 Verf. Bern (1993): „Kanton und Gemeinden fördern die Hilfe und die Pflege zu Hause.“ – Art. 34 Abs. 1 Verf. Georgien (1995): „The State promotes the development of culture …“ Ausführlich: Art. 377 bis 380 Verf. Ecuador (2008), in Sachen Kultur.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte139

Umwelt74 und Kultur75, Arbeit76 und Wirtschaft77. Der Staat wird weltweit immer stärker für detaillierte Ziele in Dienst genommen. Auf die beliebte Indi­kativ- bzw. Gegenwartsform („steht unter staatlichem Schutz“) sei ver­ wiesen78. Eine eigene (ebenfalls schwächere) Kategorie des Aufgaben-Denkens bilden die „Sorge“-Klauseln, etwa Art. 21 Abs. 3 Verf. Griechenland von 1975 („Der Staat sorgt für die Gesundheit der Bürger“; s. auch Abs. 4 ebd: „Die Verschaffung von Wohnungen für Obdachlose … ist Gegenstand der besonderen Sorge des Staates“79). Sie sind ein wesentliches Bauelement in den Texten der Verf. der Niederlande von 198380. Vor allem „soziale Grundrechte“ (Teilhaberechte) treten in dieser Form auf – sie sind damit gegenüber der subjektiv öffentlich-rechtlichen Gestalt abgeschwächt und auf das Objektive, bloß Programmatische zurückgenommen. Eine Parallelform bilden die in der Schweiz entwickelten Wendungen: „Der Staat trifft Vor74  Z. B. Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien von 1947. Art. 39 Abs. 3 Verf. Brandenburg von 1992: „Tier und Pflanze werden als Lebewesen geachtet. Art und artgerechter Lebensraum sind zu erhalten und zu schützen.“ 75  Art. 9 Verf. Vorarlberg von 1984: „Bildung und Kultur. Das Land bekennt sich zur Pflege von Wissenschaft, Bildung und Kunst sowie zur Heimatpflege. Es achtet die Freiheit, Unabhängigkeit und Vielfalt des kulturellen Lebens und das Recht eines jeden, am kulturellen Leben teilzunehmen.“ – s. auch Art. 10 Verf. Benin (1990). 76  Art. 49 Abs. 1 Verf. Bremen (1947): „Die menschliche Arbeitskraft genießt den besonderen Schutz des Staates.“ – Art. 40 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: „Schutz der geistigen Arbeit“. Ähnl. Art. 28 Verf. Burkina Faso (1997). 77  Art. 45 Abs. 4 Nr. 1 Verf. Irland: „Der Staat gelobt, die wirtschaftlichen Interessen der wirtschaftlich schwächeren Gruppen der Gemeinschaft mit besonderer Sorgfalt zu fördern …“ 78  Art. 20 Abs. 1 Verf. Griechenland: „Die Familie als Grundlage der Aufrechterhaltung und Förderung der Nation sowie die Ehe, die Mutterschaft und das Kindesalter stehen unter dem Schutz des Staates.“ Abs. 6 ebd.: „Die Denkmäler und historischen Stätten und Gegenstände stehen unter dem Schutz des Staates.“ – Art. 40 Abs. 3 Nr. 2 Verf. Irland: „lnsbesondere schützt der Staat … das Leben, die Person, den guten Namen und die Vermögensrechte eines jeden Bürgers …“ – Art. 30 Abs. 3 Verf. Thüringen von 1993: „Der Sport genießt Schutz und Förderung durch das Land und seine Gebietskörperschaften.“ 79  s. auch Verf. Luxemburg: Art. 11 Abs. 5: „Das Gesetz trifft Vorsorge für die soziale Sicherheit, den Gesundheitsschutz und die Ruhe der Arbeiter und gewährleistet die gewerkschaftlichen Freiheiten.“ 80  Art. 19 Abs. 1: „Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates …“ – Art. 20 Abs. 1 ebd.: „Die Existenzsicherheit der Bevölkerung und die Verteilung des Wohlstandes …“ – Art. 21: „Die Sorge des Staates … gilt der Bewohnbarkeit des Landes sowie dem Schutz und der Verbesserung der Umwelt.“ – Art. 22 Abs. 2: „Die Schaffung von genügend Wohnraum ist Gegenstand der Sorge des Staates …“

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

kehrungen“ (z. B. zur Förderung der Familie81 oder sozialer Rechte), „sorgt“ für bestimmte Politiken, z. B. in Sachen Wirtschaft und Arbeit (vgl. § 29 KV Basel-Stadt von 2005). Der Wandel im Normierungsstil bzw. die Tendenz zum „Aufgaben-Denken“ ist mitunter in derselben – geänderten – Verfassungsurkunde ablesbar, besonders prägnant in der Schweiz, auch wenn sich Mischformen zwischen bloßen Kompetenz- und Aufgaben-Normen (gelegentlich im gleichen Artikel (!)) feststellen lassen. Es war ein Kennzeichen des Entwurfs einer totalrevidierten Bundesverfassung von 197782, dass hier das Aufgabendenken (zu?) stark im Vordergrund stand. Der neue Entwurf von 1995 suchte dies zu korrigieren. Der nBV Schweiz von 1999 gelingt ein guter Mittelweg (z. B. in Sachen „Sozialziele“, Art. 41). Viele Themen, die in der älteren Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates als bloße Kompetenz normiert sind, werden heute weltweit in die Gestalt von Aufgaben-Klauseln gebracht. Für die ältere Textstufe ist typisch das BV-G Österreichs von 1920. Ein neues Terrain für Aufgabendenken erfindet Verf. Portugal bei der Umschreibung des Auftrags der Rechtsprechung83. Aus der klassischen Programmatik und (im Rückblick) „eindimensionalen“ Normativität der Menschenrechtserklärung von 1789 ist die Mehr-, ja Vielschichtigkeit der Grundrechtsgehalte in neueren Verfassungen geworden. Schon textlich präsentieren sich die Grundrechte nicht nur als subjektive öffentliche Rechte i. S. des „status negativus“, sondern als mehrdimensionales Ensemble mit vielerlei „Teilgehalten“ (ganz abgesehen davon, dass ihre „Themen“ zahlenmäßig zugenommen haben84). „Grundrechtspolitik“, ein 1972 vorgeschlagener Begriff, ist das Ziel der Verfassunggeber (s. auch § 14 KV Basel-Stadt von 2005: „Grundrechtsziele“). In Wechselwirkung mit der gemeineuropäisch differenzierter gewordenen Grundrechtsdogmatik sind die 81  Vgl. § 38 Verf. Kanton Aargau von 1980; § 17 KV Basel-Landschaft von 1984: Kanton und Gemeinden „streben an“ (sc. Recht auf Bildung, Arbeit, Wohnung), zit. nach JöR 34 (1985), S. 437 ff. 82  Zit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff. 83  Art. 206: „… haben die Gerichte die Wahrung der gesetzlich geschützten Rechte und Interessen der Bürger zu gewährleisten, die Verletzung der demokratischen Legalität zu ahnden und Konflikte öffentlicher und privater Interessen zu lösen.“ 84  Ein „neues“ Grundrecht war bzw. ist z.  B. die Demonstrationsfreiheit, vgl. Art. 8 lit. g. Verf. Kanton Jura (1977), Art. 45 Abs. 2 Verf. Portugal, Art. 33 Verf. Guatemala, Art. 29 Abs. 1 lit. d Verf. Uganda (1995), Art. 32 Verf. Paraguay (1992), auch das Recht „to practice journalism“ (Art. 29 Abs. 1 bis 3 Verf. Paraguay von 1992). Neu ist auch das Kommunikationsgrundrecht in vielen Facetten, z. B. Art. 107, 108 Verf. Bolivien von 2007, Art. 16 Verf. Ecuador von 2008.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte141

Verfassungstexte selbst vielgestaltig geworden. Umgekehrt regen die neueren Verfassungstexte bewusst oder unbewusst den Grundrechtsdogmatiker zu weiteren Verfeinerungen an, auch die Iudikatur. Die Beiträge der Verfassungsgerichte aus ganz Europa sind bekannt und zu Recht viel gerühmt. Die verschiedenen Schichten, Dimensionen und Funktionen (auch „Themen“) der Grundrechte erscheinen im Text der Verfassungen nach wie vor oft fragmentarisch, ist die Entwicklung der Rechtsprechung, Dogmatik und Grundrechtswirklichkeit erst einmal über Jahre hin „in Gang“ gekommen. Gleichwohl ist das Textbild vielfältig genug. Die Grundrechte oder doch einzelne Momente von ihnen durchziehen alle Textteile der Verfassungsurkunde: von ihren Präambeln über den organisatorischen Teil bis zum Grundrechtsteil – wobei dieser in der Sache, z. T. auch textlich, den Staatsaufgaben „entgegenwächst“ bzw. vice versa. Nach wie vor gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern, je nach ihrer nationalen Verfassungskultur. Tendenziell lässt sich indes eine starke Zunahme und Verfeinerung der Grundrechtsgehalte beobachten. Das sprachliche Gewand reicht von der eher symbolischen Verbürgung der Grundrechte in der Präambel bis zur normativ präzisen Garantie als subjektives Recht, als „Prinzip“, Institution und als „Grundrechtsverwirklichung durch Organisation und Verfahren“. Selten kommen alle denkbaren Schichten und Dimensionen beim einzelnen Grundrecht schon textlich zugleich zum Ausdruck. Doch sind oft interpretatorische Anleihen beim Nachbar-Grundrecht möglich. Zunächst zum systematischen Ort: Die Idee der Grundrechte hat sich in einigen neueren Verfassungen in deren „Herz“ vorgeschoben, in die Präambeln, und dadurch aufgewertet. Beispiele begegneten bei den „AufgabenTexten“. Oft sind die Grundrechte als Prinzipien in der Präambel vorweggenommen (z. B. Präambel Verf. Kosovo von 2008, Präambel Verf. Kenia von 2010), obwohl oder gerade weil ein ausgefeilter Grundrechtskatalog folgt; oft sind sie direkt oder der Sache nach im Kompetenz- bzw. Staatsaufgabenteil formuliert. Mitunter sind die Grundrechte einzeln oder im Ganzen schon in den Grundlagenteil der Verfassung vorgezogen85. 85  Z. B. Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland: „Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.“ – Art. 1 Verf. Portugal: „Grundsätze der Menschenwürde“; ebd., Art. 2: „Gewährleistung der Grundrechte und Grundfreiheiten, des Meinungspluralismus …“ – Art. 1 Verf. Spanien („Vortitel“): „Bekenntnis zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus“. Art. 9 Abs. 2 ebd.: „Den Staatsgewalten obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Freiheit und Gleichheit des Einzelnen und der Gruppen, in die er sich einfügt, real und wirksam sind …“ – Verf. Kanton Uri: Art. 2 (Staatsziele): „Der Kanton und die Gemeinden streben insbesondere an … b) Rechte und Freiheiten des Einzelnen und der Familie zu schützen und Grundlagen für deren Verwirklichung bereitzustellen …“

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Ein Wort zur wachsenden Vielfalt der Schichten, Zielrichtungen und Dimensionen: Die Form des klassischen Abwehrrechts behält ihren Platz auch in neuen Texten86. Der objektivrechtlich-institutionelle Normierungsstil87 begegnet ebenfalls häufig, wobei bald das individualrechtliche Element angedeutet ist, bald beide Aspekte verschränkt sind88. Die werthafte, prinzipienartige Gestalt ist dem Verfassunggeber ebenfalls geläufig89. Die sozialstaatliche Version von Grundrechtsgehalten dringt sichtbar vor: in Gestalt von sozialen und kulturellen Grundrechten bzw. Teilhaberechten90. Die Garantie von Grundrechten im „Gewand“ von Staatsaufgaben ist fast schon Legion91. Sogar die Dogmatik der Grundrechtsverwirklichung „durch Organisation und Verfahren“92 besitzt schon ihre Textspuren93. Vereinzelt greifen die Grund86  Z. B. Art. 5 Abs. 3 Verf. Griechenland: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ – Art. 45 Abs. 2 Verf. Portugal: „Das Recht der Demonstration ist für alle Bürger anerkannt.“ – Art. 38 Verf. Spanien: „Die Unternehmensfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft wird anerkannt.“ Art. 10 Abs. 1 Verf. Niederlande: „Jeder hat … das Recht auf Wahrung seiner Privatsphäre.“ – Art. 33 Verf. Paraguay von 1992: „Right to privacy“; ebenso Art. 36 Verf. Kosovo (2008). 87  Zur Dogmatik: K. Hesse, a. a. O., S.  112 ff.; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (1962), 3. Aufl. 1983, S. 70 ff., 332 ff. Aus der weiteren Lit.: R. Wahl, Die objektivrechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, HGR, Bd. I (2004), § 19; L. Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen im Vergleich, 2012. 88  Z. B. Art. 9 Abs. 1 S. 1 Verf. Griechenland: „Die Wohnung eines jeden ist eine Freistatt.“ Art. 16 Abs. 1 S. 1: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei; deren Entwicklung und Förderung sind Verpflichtung des Staates.“ 89  Z. B. Art. 21 Abs. 1 Verf. Griechenland: „Die Familie als Grundlage der Aufrechterhaltung und Förderung der Nation sowie die Ehe, die Mutterschaft und das Kindesalter stehen unter dem Schutz des Staates.“ – Art. 1 Abs. 1 Verf. Spanien: „Spanien bekennt sich zu Freiheit, Gleichheit und politischem Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung.“ Art. 10 Abs. 1 ebd.: „Die Würde des Menschen, die unverletzlichen Menschenrechte, die freie Entfaltung der Persönlichkeit … sind die Grundlagen der politischen Ordnung und des sozialen Friedens.“ 90  Z. B. Art. 16 Abs. 4 Verf. Griechenland: „Alle Griechen haben das Recht auf kostenlose Bildung …“ (ähnlich Art. 57 Verf. Albanien von 1998). § 16 Verf. Kanton Basel-Landschaft: „Jeder hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung in Notlagen und auf die für ein menschenwürdiges Leben erforderlichen Mittel.“ – Art. 19 Abs. 1 Verf. Niederlande: „Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates …“ – Art. 41 nBV Schweiz (1999): „Sozialziele“. 91  Art. 20 Abs. 2 Verf. Niederlande: „Vorschriften über den Anspruch auf soziale Sicherheit werden durch Gesetz erlassen.“ – Art. 72 Abs. 1 S. 1 Verf. Polen (1997): „Die Republik Polen gewährleistet den Schutz der Rechte der Kinder.“ (Ausdruck wohl der Konvention der UN von 1990). 92  Zur Dogmatik: K. Hesse, Grundzüge, a. a. O., S.  160 f.; P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, a. a. O., S. 86 ff., 121 ff.; L. Michael / M. Morlok, Grundrechte, 3. Aufl., 2012, S. 255 f. 93  Z. B. Art. 38 Abs. 6 Verf. Portugal. – § 14 Abs. 1 Verf. Kanton Basel-Landschaft: „Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kom-



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rechte bereits textlich in den Kanon der Bildungsziele hinüber94. Der Übergang zum Thema „Schutzpflichten95 des Staates“ ist fließend96. Offenkundig ist dem modernen Verfassunggeber das reiche Tableau der in Dogmatik und Rechtsprechung entwickelten Grundrechtsgehalte präsent. Meist normiert er nur einzelne Dimensionen eines Grundrechts (etwa im Grundrechts- und Staatsaufgaben-Teil), oft nur eine einzige. Das schließt nicht aus, dass die weitere „Entwicklung“ in der Zukunft noch andere Dimensionen entfaltet: sei es im Wege innerstaatlicher Rechtsvergleichung (Analogien zu Nachbargrundrechten), sei es im Wege der die Beispielsvielfalt anderer Verfassungsstaaten umgreifenden Rechtsvergleichung durch Gerichte. Die Wirklichkeit, genauer die Umsetzung der normativen Inhalte in entsprechende Wirklichkeit, ist ein die Verfassungen seit dem 2. Weltkrieg faszinierendes Thema. In dem Maße, wie die Staatslehre ihre eigene „wirklichkeitswissenschaftliche“ Dimension entdeckt hat, vor allem dank H. Heller97, bringt der Verfassunggeber in seinen Texten zum Ausdruck, dass ihm deren „ideale“ Normativität nicht genügt, dass er verfassungskonforme „gesellschaftliche Normalität“, reale Grundrechtswirklichkeit will. Zwei Normierungstechniken kristallisieren sich in den weltweiten Textbildern heute heraus: zum einen die Grundrechtsverwirklichungsklauseln98, zum anderen die Artikel, in denen der Verfassunggeber sonst seine normativen Direktiven in der Wirklichkeit „wiederfinden“ will, vor allem bei den Staatsaufgaben: als Entwicklungsklauseln (numerus apertus der Grundrechte). men“ (ebenso Art. 27 Abs. 1 Verf. Bern von 1993). – Art. 24 Entwurf Bundesverfassung Schweiz (1977): „Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisations- und Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen“; (ähnlich Art. 35 Abs. 1 nBV Schweiz). 94  Z. B. Art. 22 Abs. 3 alte Verf. Peru: „Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen, … Bildungseinrichtungen … obligatorisch.“ – Art. 72 Abs. 2 Verf. Guatemala: „Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung … und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte.“ 95  Zur Dogmatik: K. Hesse, Grundzüge, a. a. O., S. 155 f. Zuletzt BVerfGE 89, 276; 90, 145 (195); 92, 26 (46); 95, 193 (209); 115, 25 (43); 128, 157 (176 f.). 96  Z.  B. Art. 43 Abs. 1 Verf. Spanien: „Das Recht auf Schutz der Gesundheit wird anerkannt.“ – Art. 49 Verf. Kanton Uri: „Der Kanton und die Gemeinden sorgen bei ihrer Tätigkeit für den Schutz des Menschen, seiner Umwelt und seines Lebensraumes.“ – Art. 7 Verf. Peru: „Die Mutter hat ein Recht auf Schutz durch den Staat …“ – Art. 3 Verf. Guatemala: „Der Staat garantiert und schützt das Leben von der Empfängnis an und ebenso die Unantastbarkeit und Sicherheit der Person.“ Art. 58 Verf. Kroatien (190): „Jedem Bürger wird das Recht auf Gesundheitsschutz gewährleistet.“ 97  H. Heller, a. a. O., S.  37 ff. 98  Dazu C. Starck, Europas Grundrechte im neuesten Gewand, FS H. Huber, 1981, S. 467 (481 f.).

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Pionierhaft für jene wirkte Art. 3 Abs. 2 Verf. Italien von 1947: „Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaft­ licher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich begrenzen und die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes verhindern.“

Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien (1978) normiert: „Den Staatsgewalten obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Freiheit und Gleichheit des Einzelnen und der Gruppen, in die er sich einfügt, real und wirksam sind, die Hindernisse zu beseitigen, die ihre volle Entfaltung unmöglich machen oder erschweren, und die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.“99

Eine frühe Vorform der Grundrechtsverwirklichungsklauseln ist Art. 42 Abs. 3 Nr. 2 Verf. Irland von 1937100. Grundrechtwirklichkeit ist auch Thema der Grundrechtswissenschaft geworden, wohl universal. Entwicklungsklauseln finden sich in Art. 15 Abs. 2 Verf. Griechenland von 1975 („Hörfunk und Fernsehen haben in ihren Sendungen einen ihrer sozialen Aufgabe entsprechenden Qualitätsstand zu wahren, um die kulturelle Entwicklung des Landes zu fördern“)101 und verallgemeinert in Art. 25 Abs. 2 ebd. („Die Anerkennung und der Schutz der grundlegenden und immerwährenden Menschenrechte durch den Staat ist auf die Verwirklichung des gesellschaftlichen Fortschritts in Freiheit und Gerechtigkeit gerichtet.“) An die spezifisch öffnende Grundrechtsentwicklungsklausel im Sinne von § 10 Verf. Estland (1992) sei erinnert. (Öffnung für andere als die aufgezählten Rechte, s. auch Art. 39 Verf. Georgien von 1995.) Ein eigenes Wort verdienen die häufiger werdenden Rezeptionsklauseln in Bezug auf regionale und internationale Menschenrechtspakte (z. B. Art.  13 Abs. 2 Verf. Äthiopien von 1994, Art. II, IV Abs. 3 (b) Verf. Bosnien Herzego99  Der Entwurf einer totalrevidierten Schweizer Bundesverfassung (1977) (zit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff.) lässt sich von diesem auf Verwirklichung gerichteten Denk- und Normierungsstil leiten. Art. 24: „Verwirklichung der Grundrechte. Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisationsund Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen.“ Ihm folgt z. B. Art. 15 Verf. Kanton Uri (1984), zit. nach JöR 34 (1985), S. 467 ff: Art. 15 „Verwirklichung der Grundrechte“; s. auch Art. 37 nBV Schweiz (1999). 100  „Der Staat muss jedoch als Hüter des gemeinen Wohles im Hinblick auf die tatsächlichen Bedingungen fordern, dass die Kinder ein gewisses Minimum an moralischer, geistiger und sozialer Erziehung erhalten.“ 101  Art. 16 Abs. 2 ebd.: „Die Bildung ist eine Grundaufgabe des Staates und hat die sittliche, geistige, berufliche und physische Erziehung der Griechen sowie die Entwicklung ihres nationalen und religiösen Bewußtseins und ihre Ausbildung zu freien und verantwortungsbewußten Staatsbürgern zum Ziel.“



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte145

wina (1996), Art. 22 Verf. Kosovo (2008), Art. 21 Verf. Kenia (2010). Sie machen den Verfassungsstaat zum „Grundrechtsstaat“; zugleich werden Elemente des völkerrechtsverpflichteten universalen Konstitutionalismus sichtbar. cc) Differenzierungs- und Wandlungsprozesse Der Formenreichtum der Verfassungstexte und die ihm „entsprechende“ dogmatische Vielfalt der Inhalte ist groß: wenn man wie hier vergleichend über die jeweils einzelstaatliche Verfassung eines Volkes hinausgreift und die Beispielsvielfalt aus möglichst vielen westlichen Demokratien anreichert, Amerika und Teile Afrikas eingeschlossen, d. h. universal. Beobachten lässt sich eine fortschreitende Differenzierung. Darauf deutet schon die zunehmende Quantität der Artikel einzelner Verfassungen hin; erst recht ergibt sie sich aus einer inhaltlichen Analyse. Die „Wachstumsprozesse“ und „Entwicklungsstufen“ des Typus Verfassungsstaat zeigen sich in einer Verfeinerung der textlichen Mittel und Möglichkeiten. Wo der Text ungenügend bzw. bruchstückhaft ist, tut überdies die spätere Verfassungsinterpretation ihr Werk, um aus anderen Textbeispielen eine Differenzierung zu „nehmen“. Hier ein Beleg: Obwohl der Text von Art. 6 Abs. 1 GG objektivrechtlich gefasst ist, werden ihm drei Schutzdimensionen entnommen (BVerfGE 6, 55)102: „Klassisches Grundrecht“, „Institutsgarantie“, „wertentscheidende Grundsatznorm“. Diese sind z.  T. bei anderen Grundrechten textlich zum Ausdruck gelangt. Insofern wirkt das textliche Differenzierungsmaterial des Verfassunggebers potentiell universal: es ist dem Interpreten selbst dort gegenwärtig, wo es der Verfassunggeber (noch) nicht eingesetzt hat. Die Idee der Effektivierung der Grundrechte hat eine solche Dynamik entfaltet, dass nahezu alle nur denkbaren Dimensionen bzw. „Schichten“ entwickelt werden! Mitunter überwuchern die Aufgabennormen die Verfassung (z. B. die Eingangsartikel I bis XXVIII Verf. Uganda von 1995, die indes die Verfassung vorbildlich zum Erziehungsziel macht, Art. 4). Charakteristisch ist, dass sich die grundrechts- und (staats)organisatorischen Teile in ihren „typischen“ Elementen bei aller äußeren Trennung („Zweiteilung der Verfassung“) immer stärker miteinander verflechten: Formal-Organisatorisches findet sich auch im Grundrechtsteil („Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren“). Subjektive öffentliche Rechte verbergen sich auch in Staatszielnormen (Sozialansprüche aus Sozialstaatsklauseln)103. Verfassungsaufträge und Programmatisches begeg102  Dazu P. Häberle, Verfassungsschutz der Familie, 1984, S. 28  ff. – Spätere Judikatur: BVerfGE 87, 153; 105,1; 128, 109 (125). 103  Vgl. § 16 Abs. 1 Verf. Kanton Basel-Landschaft, Art. 102 Verf. Guatemala („Soziale Minimalrechte“). Anders Art. 41 Abs. 4 nBV Schweiz: „Aus den Sozial-

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nen auch im Grundrechtsteil, eminent Materielles auch im scheinbar bloß formalen Organisationsrecht. Die „Einheit der Verfassung“ (vgl. Art. 427 S. 1 Verf. Ecuador von 2008) tut auch hier ihr Werk: beide Verfassungsteile dienen letztlich der einen Res Publica. Die wachsende Verrechtlichung kommt hinzu. Die Staatsaufgaben werden (wieder) letztlich auf die Grundrechte hin gedacht. Die Schutzpflichten-Dimension des BVerfG hat hier ihren Ort. Eine neue Textstufe gelingt Art. 149 Abs. 2 Verf. Afghanistan (2004): „Änderungen der Grundrechte der Bürger sind nur mit dem Ziel erlaubt, sie zu verbessern“ – wobei es freilich vom Kontext, z. B. von der Scharia abhängt, was unter „Verbesserung“ zu verstehen ist. Versucht man, den wachsenden Formenreichtum der neueren Verfassungstext-Entwicklung auf Stichworte zu bringen und Tendenzen namhaft zu machen, so ergibt sich fast universal folgendes Bild: – die Entwicklung von der bloß formalen Kompetenz zur inhaltlichen Aufgabe, zu Werten und Zielen; – die gezielte Verwendung von Bekenntnis-Normen, universale Grundwerte- und Strukturnormen, insgesamt von Identitätsgarantien in vielerlei Bereichen und Varianten (z. B. die „Im Geiste-Klauseln“); – die Zunahme von Schutzklauseln in mannigfachen Varianten (einschließlich der „kulturelles Erbe“-Klauseln und der Verfassungsschutz-Normen); – der Einbau von Abwägungs-, Rang- und Ausgleichsklauseln; – die gezielte Normierung von Rezeptionsklauseln vor allem in Bezug auf regionale und internationale (universale) Menschenrechtspakte; – die Anreicherung der Verfassung in all ihren Teilen mit vielfältigen Aufgaben-Normen (auch und schon in der Präambel); – die Erweiterung vor allem der Grundrechte um GrundrechtsaufgabenNormen, zum Teil mit Gemeinwohlaspekten. Im Ergebnis führt dies zu einer großen, gelegentlich übergroßen Norm-, Wert- und Stofffülle der neueren Verfassungstexte (Beispiele: Portugal von 1976 / 92, auch Guatemala von 1983) – was sich schon an der Zahl der Artikel ablesen lässt (in Portugal: 298, in Ecuador, Verf. von 2008: 444!). Die Verfassungen laden sich mit immer mehr Inhalten und immer differenzierter auf und drohen, sich mitunter zu überladen und programmatisch (auch politisch) zu übernehmen. („Verfassungsrhetorik“, die, maßvoll eingesetzt, aber ihren guten Sinn hat.) Sie „versprechen“ (zu) viel. Es kommt zu zahlreichen Zielkonflikten. Hier ist dann auf die drohenden Defizite an zielen können keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden.“



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte147

Normativität wegen inhaltlicher Überfrachtungen hinzuweisen: nicht i. S. eines „Zurück“ zum rein instrumentalen, formalen, allein die SchrankenFunktion betonenden Verfassungs- und Staatsverständnis, sondern i. S. einer mittleren Linie des Sowohl-als-auch von inhaltlichen Direktiven und eher formalen Grenzziehungen (Verfassung als „Anregung und Schranke“ i. S.  von R. Smend), von Status-Quo bezogenen und „Entwurfs“-Normen („kleinen Utopien“), von werthaltigen Prinzipien und „positivistischen“ Eingrenzungen, von Appellen des Verfassunggebers an Vernunft und Gefühlswelt, ratio und emotio, und damit an den ganzen Menschen und Bürger. Evident ist, wie die verschiedenen Funktionen der Verfassung auf ihre „äußere“ Form zurückwirken und wie bereichsspezifisch zu arbeiten ist. Im Ganzen: Die These von der Verfassung als „Rahmenordnung“ ist viel zu pauschal und darum fragwürdig, denn je nach Kontext ist vieles höchst detailliert geregelt. c) Folgerungen aa) Auf der Ebene der Verfassungsinterpretation Können die Methoden der Verfassungsinterpretation noch so „allgemein“ wie bisher verstanden werden? Ist nicht weit stärker je nach Gegenstand bereichsspezifisch zu differenzieren? Präambeln sind zwar gewiss voll gültiges Verfassungsrecht104 (vgl. BVerfGE 36, 1 (16 f.); 63, 343 (370); 123, 267 (346 f.)). Aber damit beginnen erst die Probleme. Ihre „Auslegung“ muss spezifisch sein, kulturelle Tiefendimensionen erschließen, sie haben sich von anderen, stärker formalen Normenkomplexen zu unterscheiden, man denke an Kompetenznormen und das Organisationsrecht. Oder: Die „konstitutionelle Programmatik“ etwa der Grundpflichten105 oder Verfassungsaufträge z. B. des Art. 6 Abs. 5 GG verlangen höchst „produktive“ Auslegungsmethoden; anders als bei bloßen Rezeptionsklauseln, die Vorhandenes aufnehmen, etwa gemäß Art. 68 Verf. Bremen („Die Freie Hansestadt Bremen führt ihre bisherigen Wappen und Flaggen“) oder auch Art. 140 GG. Ihre klassische Form, die Status-Quo-Garantien106, sind zwar gewiss 104  Manche Verfassungen machen sie ausdrücklich zum „integralen Bestandteil“ ihrer selbst (z. B. letzter Satz Präambel Verf. Senegal von 2001). 105  Vgl. H. Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), S. 42 (79 f.); O. Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, 1988. Beispiele aus neueren Verfassungen: Art. 41 bis 52 Verf. Burundi (1992); Art. 34 Abs. 2 S. 1 Verf. Georgien (1995); Art. 12 KV Tessin (1997); Art. 7 KV Fribourg (2004). 106  Z.  B. Art. 150 Abs. 2 Verf. Bayern: „Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten.“

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

nicht i. S. der „Versteinerungstheorie“ Österreichs auszulegen, doch dürfte der subjektiv historischen Auslegungsmethode hier besonderes Gewicht zukommen. M. E. ist stärker nach den „stofflichen Gegenständen“ zu differenzieren, die ihrerseits meist ein unterschiedliches sprachliches Gewand haben. Die dem Interpreten abverlangte Konkretisierungsleistung ist – je nach dem Abstraktionsgrad der Normen – von großer Unterschiedlichkeit. Dass manche neue Verfassungstexte Interpretationsmaximen für Menschenrechte normieren, sei schon hier festgehalten (z. B. Art. 13 Abs. 2 Verf. Äthiopien von 1994, Art. 39 Verf. Südafrika von 1996, Art. 22 Verf. Kosovo von 2006, Art. 11, 427 Verf. Ecuador von 2008, Art. 24 Verf. Kenia von 2010).107 Damit kommt Universales ins Blickfeld. bb) Auf der Ebene der Verfassungstheorie Die Erkenntnis der Differenziertheit der Verfassungstexte in sprachlicher, inhaltlicher und funktioneller Hinsicht könnte manchen Streit entschärfen: etwa den zwischen einem „instrumentalen“ und „materialen“ Verfassungsverständnis, zwischen der Deutung der Verfassung als „formelles Grundbuch“, „instrument of government“ (W. Hennis ) und ihrem Verständnis als „normativer Strukturplan“ für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens (A. Hollerbach)108, zwischen ihrer Qualifizierung als bloßer „Rahmenordnung“ und ihrer stärkeren Ausfüllung und Auffüllung, zwischen den Posi­ tionen des Dezisionismus und des Normativen, der „Schranke“ und der „Aufgabe“. Die Lösung ist in einem differenzierten Sowohl-als-auch zu suchen. Es gibt Normen und Bereiche der Verfassung, die eher „instrumental“, und solche, die eher „material“ zu deuten sind, Felder, in denen die Verfassung mehr auf Organisation und Verfahren, andere, in denen sie auf inhaltliche Ziele setzt und setzen muss, Themen und Bereiche, die sie „ausgrenzt“ (z. B. Art. 137 Abs. 3 WRV / 140 GG), und solche, die sie gezielt integriert. Im herkömmlichen Streit handelt es sich oft um die Verabsolutierung von Teilgesichtspunkten. Und es ist kein Zufall, dass die Schweiz, die auf kantonaler Ebene seit den 60er und erneut in den 90er Jahren und nach 2000 so viele geglückte Beispiele gut „getexteter“ Verfassungen schafft109, in ihrem oft berufenen „Pragmatismus“ viele „gemischte“ Text-Typen gewählt und sich darin nicht auf ein Verfassungsverständnis festgelegt hat. So 107  Fragwürdig ist Art. 28 Verf. Ungarn von 2012, in dem die Auslegung auf den „Menschenverstand und das Gemeinwohl“ ausgerichtet ist. 108  A. Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, hrsg. von W. Maihofer (1968), S. 37 (46). 109  Dazu mein Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 ff. Vergleiche auch die Fortschreibung in JöR 56 (2008), S. 279 ff.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte149

ist die Schweiz wieder einmal Vorbild in Sachen „Kompromiss“ (der sich in der Präambel Verf. Ecuador von 2008 wohl erstmals als Verfassungstext findet: in Bezug auf Gegenwart und Zukunft). cc) Auf der Ebene der Verfassungspolitik Die Verfassungspolitik darf sich ermutigt sehen: Haben doch die vielen nationalen (bzw. gliedstaatlichen, z. B. kantonalen) Verfassunggeber einen grossen Schatz, ja ein reiches Zeughaus unterschiedlicher Gestaltungsformen erarbeitet. Einzubeziehen sind auch die Regionalstatute Italiens als werdende „kleine Verfassungen“ sowie die Regionalstatute Spaniens. Manches mag in politischen Kompromissen in dem Maße verwischt werden, wie Verfassunggebung in pluralistischen Demokratien stets ein kompromisshafter Vorgang ist und sein muss (anders jetzt Ungarn, neue Verfassung von 2012, „dank“ der Zweidrittelmehrheit der nationalistischen Regierungspartei im Parlament). Als Maxime sei aber weltweit den Verfassunggebern empfohlen, die Unterscheidung, aber auch den Zusammenhang zwischen der sprachlichen Vielfalt ihrer Texte, ebenso ihrer rechtstheoretisch-dogmatischen und Funktionenvielfalt bewusst einzusetzen. Das Rechts­ technisch-Formale, etwa im Parlamentsrecht, hat ganz bestimmte inhaltliche Hintergründe. Auch die irrationalen / emotionalen Sprachmöglichkeiten dürfen nur dosiert (aber sehr bewusst) eingesetzt werden. Schließlich muss der Verfassungspolitiker bei seiner Verfassunggebung und Verfassungsänderungen diese in ihrer Textgestalt sehr gezielt verwenden110. Unter ihren – den fünf Auslegungsmethoden analogen – fünf Gestaltungsmethoden ist die „Textierung“ besonders wichtig (unter dem Anspruch der Textklarheit und Systematik bei der angemessenen Kontextsensibilität). d) Ausblick So vielschichtig, gelegentlich „diffus“, so formen- und inhaltsreich nicht nur jede Verfassung im Ganzen, vielmehr der einzelne Verfassungssatz oft ist: Die Verfassung offenbart in dieser wachsenden Vielfalt ihre Vitalität, ihre Entwicklungsfähigkeit, ihre Aktualität und unverminderte Lebenskraft, d.  h. auch ihre Normativität und Wirklichkeitsnähe. Georges Burdeaus’ 110  Das Thema „Umweltschutz“ wurde jüngst teils in die Präambel (so Verf. Hamburg), teils in die Staatszielbestimmung (Art. 3 Abs. 2 Verf. Bayern), teils in die Erziehungsziele (Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern, Art. 30 Verf. Saar) aufgenommen. Ähnliches gilt für die Verfassungen der neuen Bundesländer (z. B. Verf. Brandenburg: Präambel bzw. Art. 28). Dies hat noch nicht geklärte „Fernwirkungen“ auf andere Teile der Verfassung, z. B. die Grundrechtskataloge.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

Kassandra-Ruf (von 1956) „Une survivance: la Notion de constitution“111 hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Der kooperative Verfassungsstaat und das heißt auch die Res Publica geschriebener Verfassungstexte nimmt an Anziehungskraft weltweit eher zu und erlaubt Wort und Sache einer „universalen Verfassungslehre“. Er hat auf neue Entwicklungen in Gestalt sensibler Fortschreibung und Differenzierung seiner Texte reagiert und es gelingt ihm sogar zu agieren, d. h. die Wirklichkeit zu steuern. Die Staatsaufgabennormen jedweder Art zeigen das, auch die Grundrechtskataloge. Der Verfassungsstaat hat die gesellschaftliche „Wirklichkeit“ (auch die Gesetzgebung) verarbeitet – in neuen oder modifizierten Texten. So sehr in jeder pluralistischen Demokratie mancher Verfassungstext z. T. noch „unerfüllt“ ist: auf das Ganze des atlantisch / gemeineuropäischen Typus des Verfassungsstaates gesehen, spiegelt sich in den Verfassungstexten viel – gestaltende und gestaltete – Wirklichkeit. Diese „denunziert“ die Texte nicht, vielmehr indizieren die Texte viel (Verfassungs-)Wirklichkeit. Bei allen Defiziten im Einzelnen: Die Erfindungsgabe der Verfassunggeber in Sachen Formenvielfalt und Funktionenreichtum, Sprachvariabilität und Vielschichtigkeit ihrer Texte sowie die Herausbildung vieler Mischformen kann in ihrer Bedeutung für die Legitimation des Verfassungsstaates kaum überschätzt werden. Von den Verfassungen wird heute eher zu viel erwartet als zu wenig, wobei es na­tionale Unterschiede gibt: Verfassung ist in den USA fast Religion, in der Bundesrepublik Deutschland fast „Religionsersatz“, England hat andere Identifikationsmöglichkeiten, Österreich gibt der Verfassung auf Bundesebene eher weniger, die Schweiz hält die glückliche Mitte, nicht zuletzt dank ihrer Staatsrechtslehre! Aber auch die Unterschiede sind ein Beweis der Vitalität der Verfassung und ihrer Texte. Ein „Schatzhaus“ eigener Art für Verfassungen „aus Kultur und als Kultur“ ist weltweit Lateinamerika: von Kolum­bien bis Bolivien, von Brasilien bis Ecuador, auch Venezuela. Sogar Afrika leistet in Gestalt seiner Textstufen bemerkenswerte Beiträge, z. B. in den Worten der Präambel Verf. Senegal von 2001: „fundamental cultural values which constitute the cement of national unity“. 2. Funktionenvielfalt der Verfassungstexte a) Problem Alle älteren und neueren Erörterungen über das „richtige“ Verfassungs-, Staats- und Grundrechtsverständnis treffen im Grunde Aussagen über die Funktion der Verfassungssätze, so pauschal sie oft bleiben: sei es in 111  In: L’Evolution du Droit public, Etudes en l’honneur d’Achille Mestre, 1956, auch in: Der Staat 1 (1962), S. 389 ff.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte151

H. Ehmkes Verständnis der Verfassung als Beschränkung und Rationalisierung der Macht und Gewährleistung eines freien politischen Lebensprozesses112, in W. Kägis Deutung der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Staates113 oder in H. Hellers Betonung des Prozesses des bewussten, planmäßigen, organisierten Zusammenwirkens114. So wie K. Hesse einzelne Aspekte dieser Diskussion zu einem ausgewogenen Theorie-Ensemble zusammengefügt hat115, seien im Folgenden stichwortartig die unterschiedlichen Arten bzw. Normgruppen von Verfassungstexten den verschiedenen Verfassungsverständnissen zugeordnet. Umgekehrt sollte der Wandlungsprozess der im Vergleich erarbeiteten Text-Typologie weltweit zu Annäherungen im Disput um das „richtige“ Verfassungsverständnis führen, etwa im Blick auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz116. Die Vielfalt der Texte liefert m. E. genügend Beleg-Material für ein diesem entsprechendes „gemischtes“ Verfassungsverständnis, das traditionelle Frontstellungen und „Kästchen“ hinter sich lässt (auch die Teilverfassungen des Völkerrechts und die Rechtskultur der Verträge müssten in diesem Sinne erschlossen werden). b) Die einzelnen Funktionen der Texte im Rahmen eines anthropozentrischen Verfassungsverständnisses aa) Das anthropozentrische Verfassungsverständnis Klassische und neuere Texte legen ein anthropozentrisches Verfassungsverständnis nahe (trotz der wachsenden Tierschutzklauseln: z. B. Art. 20a GG). Es findet Ausdruck sowohl in der wichtig bleibenden Funktion der Grenzziehung, vor allem in den traditionellen Grundrechtstexten, als auch in der Fülle der dem Aufgabendenken verpflichteten neueren Verfassungstexte. Denn diese Aufgaben stehen letztlich durchweg im Dienste des Menschen, seiner Würde und Freiheit, auch Gleichheit. Der neue Schutzauftrag in Sachen Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, § 5 KV Basel-Landschaft, § 7 Basel-Stadt, Art. 31 Verf. Polen, Art. 10 KV Schaffhausen, Art. 10 Verf. Südafrika von 1996, Art. 24 Abs. 2 Verf. Afghanistan von 2004, Art. 23 Verf. Serbien von 2006, Art. 23 Verf. Kosovo von 2008) und der Klassikertext aus der Französischen Erklärung von 1789 (Art. 2: „Der Endzweck 112  H.

113  W.

Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 88 ff. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945,

S.  40 ff. 114  H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 228 ff. (Neudruck 1963). 115  K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 3 ff. (Neudruck 1999). 116  Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte“117) ordnen alle Verfassungstexte, alle von ihnen konstituierte und begrenzte Staatlichkeit, alle Arten von Organisation und Verfahren sowie alle Staatsaufgaben letztlich auf den Menschen hin. Die neuen „Grundrechtsverwirklichungsklauseln“118 haben ebenso diese Inten­ tion wie die Erziehungsziele (Art. 26 Nr. 1 Verf. Bremen: „Achtung vor der Würde jedes Menschen“) sowie alle neuen Dimensionen und Funktionen der Grundrechte, einschließlich ihrer sich weltweit im Gewand von (Staats-) Aufgaben entwickelnden (z. B. Teilhabe-)Strukturen. Universales wird sichtbar. Das von der klassischen Grenzziehungsfunktion der Grundrechtstexte, ihrer neueren Aufgabenstruktur und den staatlichen Kompetenzen gebildete Ganze steht im Dienste des Menschen, auch Strukturnormen wie die „freiheitliche Demokratie“ und der „soziale Rechts- und Kulturstaat“. Dies gilt selbst und gerade auch für die neuen vielgestaltigen Umweltschutztexte: Sie entwickeln die Menschenwürde, die Prämisse des demokratischen Ver­ fassungsstaates, zu einem „gemäßigten Anthropozentrismus“; im Interesse einer menschenwürdigen Nachwelt wollen sie die heutige Umwelt schützen119. Die Menschenwürde wird im Blick auf spätere Generationen im Zeithorizont gesehen (vgl. Art. 141 Abs. 1 S. 1 n. F. Verf. Bayern: „auch eingedenk der Verantwortung für die kommenden Generationen“; ähnlich Präambel KV Fribourg von 2004, zuvor Präambel nBV Schweiz von 1999). Angesichts des Vordringens der Idee des Umweltschutzes mag man (vermittelt über „Natur als Kultur“ bzw. „Naturschutz als Kulturaufgabe“) zu einem „gemäßigten“ Anthropozentrismus vordringen. Ein „grüner Kant“ ist freilich noch nicht gefunden. Immerhin dürfen wir uns von Art. 17 Abs. 1 Verf. Mongolei von 1992 belehren lassen: sie macht den „Humanismus“ zum Verfassungstext, eine Ermutigung für den universalen Konstitutionalismus und „sein“ im Einzelnen zu differenzierendes Völkerrecht. 117  s. auch Art. 1 Abs. 1 Verfassungsentwurf Herrenchiemsee (1948): „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“: Entstehungsgeschichte der Artikel des GG, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (JöR 1 (1951), S. 48, Neuausgabe 2010). 118  Textbeispiel: Art. 3 Abs. 2 Verfassung Italien (I947). Ähnlich Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien (1978). 119  Vgl. Präambel KV Aargau von 1980: „Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt.“ Präambel Verf. Bern von 1993: „in dem alle in Verantwortung gegenüber der Schöpfung zusammenleben …“; Art. 74 Abs. 1 Verf. Polen von 1997: „Politik, die den gegenwärtigen und den künftigen Genera­ tionen ökologische Sicherheit gewährleistet“; Präambel KV Schaffhausen von 2002: „In Verantwortung vor Gott für Mensch und Natur“; Präambel KV Basel-Stadt von 2005: „In Verantwortung gegenüber der Schöpfung“.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte153

bb) Ratio und Emotio Erfüllen die Verfassungstexte je unterschiedliche Funktionen im Dienste am Menschen, so liegt es nahe, dass sie in einer Verfassung der Freiheit und des Pluralismus diesen Menschen zwar nicht „total“ erfassen dürfen, indes in seinen für das politische Gemeinwesen wichtigen Aspekten „ansprechen“ wollen, so kontrastreich diese sein mögen120. Dieses Eingehen auf den Menschen geschieht, verfassungstextlich nachweisbar, vor allem auf zwei Feldern: auf dem der ratio und dem der emotio. Dass der kooperative Verfassungsstaat auf den Menschen als „Vernunftwesen“ setzt, ist ein Gemeinplatz und in vielen seiner älteren und neueren Texte erkennbar: im Prinzip der Gewaltenteilung121, im Verweis auf die gleichen Grundrechte anderer („Goldene Regel“ bzw. I. Kants „Kategorischer Imperativ“), schon in der „Konstruktion“ von „Verfassung“ überhaupt, in der Organisation ihrer Verfahren, der „Fiktion“ des Gesellschaftsvertrages (von I. Kant bis J. Rawls) und in der Schaffung und Garantie von Verfassungsrecht sowie Rechtsstaatlichkeit bzw. der „Rule of law“ (z. B. Vorspruch der Canadian Constitution (1981)122; Präambel Verf. Philippinen (1986); Art. 1 Abs. 1 Verf. Namibia (1990); Präambel Verf. Äthiopien (1994); Art. 1 Abs. 1 lit a Verf. Südafrika (1996); Art. 3 Abs. 1 Verf. Kosovo (2008)): sie wird heute zu einem Stück universaler Rechtskultur, wie das Folterverbot. Die Seite der „emotio“ ist verfassungstheoretisch bisher vernachlässigt worden, jedenfalls wurde sie nicht präzise den klassischen und neueren Verfassungstexten „entlang“ vergleichend erarbeitet. An die auch emotionale Struktur des Menschen „rührt“ z. B. die Gruppe von Verfassungsnormen, die sich als Bekenntnis-, Symbol- und Grundwerte-Klauseln klassifizieren lassen123. Ihre spezifische Funktion ist es, die „conditio humana“ vom Emotionalen her zu erfassen und damit die res publica von dieser Seite aus ein Stück weit zu verfassen. Ob in Präambeln, ob in Feiertagsgarantien oder in 120  Einzelheiten in meiner Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988 (4. Aufl. 2008). 121  Vgl. Art. 16 französische Menschenrechtserklärung von 1789: „Eine jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte zugesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ 122  Zit. nach JöR 32 (1983), S. 633. 123  Textbeispiele: Art. 1 Abs. 2 GG (1949): „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“; Präambel Verfassung Frankreich (1946): „Es (sc. das französische Volk) verkündet überdies als für unsere Zeit besonders notwendig die nachstehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundsätze.“ Art. 1 Verfassung Japan (1946): „Der Tenno ist das Symbol Japans und der Einheit des japanischen Volkes.“; Art. 1 Abs. 1 Verfassung Spanien: „Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung.“

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

Sprachen-, Flaggen- oder sonstigen Symbol-Artikeln (Nationalhymnen!): die Verfassunggeber gestalten ihre Texte sprachlich und inhaltlich im Blick auf diese Funktion: die Menschen auch vom Irrationalen, die Vernunft „übersteigenden“ Emotionalen her für das Wichtige (der Verfassung) anzusprechen, sie „einzustimmen“, ja zu „gewinnen“. Auch Aspekte der „Erinnerungskultur“ des demokratischen Verfassungsstaates gehören hierher. Selbst in den „Im-Geiste“-Artikeln und „kulturelles-Erbe“-Klauseln, überhaupt in den kulturverfassungsrechtlichen Texten schimmert diese Funktion durch. Die hier gemeinte Emotio steht nicht nur in einem – oft fruchtbaren – Spannungsverhältnis zur Rationalität des Verfassungsstaates. Sie kann diesen auf eine Weise sogar tiefer gründen: im Bürger als Menschen. Darum die an „Glaubens-Artikel“ gemahnenden Texte mancher Verfassungen und Menschenrechtserklärungen (vor allem in den Präambeln). Der demokratische Verfassungsstaat lebt weltweit auch aus dem Konsens im Emotionalen, nicht nur aus dem Diskurs, Dissens und Konsens im Rationalen. cc) Die „Verarbeitung“ der Zeit Die Textgestalt der verfassungsstaatlichen Verfassungsrechtssätze ist u. a. deshalb so vielfältig, weil sie die Zeit (wie schon gezeigt) in unterschied­ licher Weise verarbeiten wollen und sollen. Sie richten sich je spezifisch auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Funktionenvielfalt der völkerrechtsverpflichteten Verfassung im Ganzen hat hierin einen Grund. Gewisse Verfassungstexte bringen die Vergangenheit spezifisch ein bzw. zur Sprache: die von der klassischen Dogmatik eines C. Schmitt entdeckten „Instituts- und institutionellen Garantien“, die sonstigen Rezeptions- (z. B. Status-quo-)Klauseln alter Art, aber auch die neuen kulturelles Erbe-Klauseln124 und manche „Identitäts“-Artikel wie Prinzipien-, Ewigkeits- und Verfassungsschutzklauseln, auch Wesensgehaltgarantien aller Art (z. B. zuletzt Art. 11 Ziff. 4 Verf. Ecuador von 2008, jetzt Art. I Abs. 3 Verf. Ungarn von 2012). Das führt zu Gegenwart und Zukunft als nächsten „Phasen“ in der Zeitachse: Die mannigfachen neuen Textformen und -typen, die Ausdruck von programmatischem Aufgaben-Denken sind, wollen die Zukunft für den jeweiligen Verfassungsstaat gewinnen. Überall dort, wo Texte die Verfassung als „öffentlichen Prozess“ sichern, wo die „Offenheit der Verfassung“ organisiert 124  Z. B. Art. 3 Abs. 2 Verfassung Bayern: „Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung“ sowie zuvor Art. 9 Abs. 2 Verfassung Italien (1947). Weitere Beispiele: Art. 23 Verf. Bulgarien (1991), Art. 9 Verf. Kosovo (2008), Art. 9 KV Schaffhausen (2002): „Nachhaltigkeit“.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte155

wird und Ziele, Entwürfe, Appelle, Hoffnungen, Aufgaben (vor)formuliert sind, tritt diese Seite bzw. Funktion zutage. Das geschieht höchst differenziert: vom Gestaltungsauftrag in Sachen Grundrechte oder Staatsaufgaben über die Verfahren der Verfassungsänderung (Teil- und Totalrevision) bis zur Verfassunggebung im Rahmen des Typus Verfassungsstaat. An die „Ewigkeitsgarantien“ als fragile Verfassungsnormen, die die Grenzen der Verfassungsänderung sichern sollen, sei erinnert (Beispiele: Art. 313 Abs. 1 Verf. Thailand von 1997; Art. 220 Verf. Demokratische Republik Kongo von 2005). Die oft berufene unverzichtbare „Mitte“ der Verfassung zwischen Dauer und Wandel, Statik und Dynamik, Steuerung und Anpassung, schöpferischer Gestaltung und kraftvoller Bewahrung wird so erreicht. Das Sowohl-alsauch von „Prozessabläufen und Inhalten“ verteilt sich auf die verschiedenen Arten von Verfassungssätzen mit unterschiedlichen Akzenten; mitunter findet sie sich sogar in einem einzigen Normenkomplex (so bei den Präambeln oder in mehrschichtigen Grundrechtsgarantien). Die Gegenwart holt sich „Anregungen“ und Verpflichtungen aus der Vergangenheit; sie formuliert Hoffnungen für die als offen gedachte Zukunft. Es gibt „kulturelle Statusquo-Garantien“ des Verfassungsstaates wie Menschenwürde und Demokratie, (klassische) Grundrechte und Gewaltenteilung seit 1776  /  1789 sowie Klassikertexte von I. Kant bzw. die hier textlich gespeicherten Erfahrungen; es gibt aber auch ein verfassungsstaatliches „Utopiequantum“ (z. B. die immer wieder zu suchende Gerechtigkeit, vgl. Präambel Verf. Philippinen von 1986, die sogar ein „Regime der Wahrheit“ verlangt). So bleibt es bei der Einsicht, dass die Verfassung im Ganzen „Anregung und Schranke“ (R. Smend), öffentlicher Prozess und material, instrumental und werthaft, grundsätzlich und offen ist. Doch unterscheiden sich die einzelnen Verfassungstexte bzw. Normtypen dadurch, dass sie eher das eine oder das andere sind. Erst ihr Zusammenspiel, ihre gleichzeitige Garantie in ein und derselben Verfassungsurkunde eines Volkes, m. a. W.: ihre verfassungsstaatliche „Mischung“ ermöglicht, dass sie im Ganzen stabilisierende Ordnungs- und Freiheitsfunktion erfüllen, Einheitsbildung und plurale Vielfalt schaffen, machtkonstituierend und machtbegrenzend wirken können. dd) Grundkonsens und Pluralität Die einzelnen Verfassungstexte haben die je unterschiedliche Funktion der Schaffung, Garantie und Weiterentwicklung von Grundkonsens und Pluralität im Verfassungsstaat im Ganzen. Die Bekenntnis-, Grundwerteund Identitäts-(z. B. „Ewigkeits“-)Klauseln (etwa in Sachen „soziale Gerechtigkeit“, menschenwürdige Wirtschaftsordnung, Demokratie) legen die Verfassung auf ihre vom Grundkonsens getragenen Prinzipien fest. Sie be-

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

anspruchen, unter der Idee des „Richtigen“125 zu stehen, d. h. Gerechtigkeits- und Gemeinwohlaspekte zu verwirklichen126. Sie fordern etwa „Solidarität mit allen Völkern der Erde“ (so Präambel Verf. Ecuador von 2008): eine Ermutigung für den weltoffenen universalen Konstitutionalismus. Diese Aufgabe der verfassungsstaatlichen Verfassungen lässt sich gerade an und in neueren Verfassungstexten bzw. ihren Funktionen präzise ablesen. Die wachsenden, sich ausdifferenzierenden Staatsaufgaben (jüngst in Sachen Umweltschutz bzw. Nachhaltigkeit) sind konstitutionelles Gemeinwohlrecht127 mit diesem Ziel. Und die Gerechtigkeitselemente sucht der Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ immer neu von der verfahrens- und materiell-rechtlichen Seite her i. S. H. Hellers zu organisieren: in Aufgabennormen wie in klassischen und neuen Grundrechtsgehalten (z. B. des „due process“ oder der sozialen, kulturellen Teilhabestrukturen). Pluralität, die „andere“ Garantiefunktion einzelner Verfassungsprinzipien wie der Verfassung im Ganzen, steht hinter den verschiedenen „Seiten“ der Grundrechte: ihrer Schrankenfunktion (Sicherung eines offenen politischen Lebensprozesses), aber auch ihrer Aufgaben-Struktur („Grundrechtsaufgaben“ im Interesse optimaler Grundrechtswirklichkeit möglichst aller). Die neuerdings allgemein (so in Spanien) oder speziell (z. B. bei der Medienfreiheit) entwickelten „Pluralismus-Artikel“128, aber auch der Minderheitenschutz erfüllen diese Funktion der Garantie der Offenheit der Verfassung und d. h. auch Entwicklungsfähigkeit ihrer Texte. Speziell im „offenen“ Bundesstaat ist das Sowohl-als-auch von Pluralität und Grundkonsens opti125  R.

Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 24. Art. 110 Abs. 1 (alte) Verfassung Peru (1979): „Die Wirtschaftsordnung der Republik fußt auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, welche auf eine menschenwürdige Arbeit als Hauptquelle des Reichtums und als Mittel der Verwirklichung der menschlichen Person gerichtet sind.“ – Ähnlich schon Art. 151 WRV (1919) und Art. 151 Verfassung Bayern (1946). Als neue Staatsaufgabe fordert Art. 3 Ziff. 8 Verf. Ecuador (2008) eine „Kultur des Friedens“. 127  Einen frühen Überblick über die verfassungsrechtlichen Gemeinwohlklauseln in meiner Schrift: Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 39 ff. (2. Aufl. 2006). 128  Textbeispiele: Art. 1 Abs. 1 Verfassung Spanien (1978): „Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung“; ebd.: Art. 20 Abs. 3: „Zugang zu genannten Medien, unter Achtung des Pluralismus in der Gesellschaft … “. – s. auch Art. 2 Verfassung Portugal (1976 / 82): „Meinungspluralismus sowie Pluralismus der demokratischen, politischen Ordnung“. Die Anti-Staatsideologie-Klauseln in Osteuropa (z. B. Art. 15 Abs. 2 Verf. Ukraine von 1996) gehören ebenfalls hierher; s. auch Art. 1 Abs. 2 Verf. Paraguay (1992): „pluralistic democracy, which is founded on the recognition of human dignity“. Ähnl. Präambel Verf. Gabun (1997). – Das Pluralismuspostulat auch in Art. 1, 8, 9, 17 Verf. Bolivien (2007); Art. 4 Abs. 3 Verf. Frankreich, 1958 (2008). 126  Vgl.



II. Artenreichtum und Funktionenvielfalt der Verfassungstexte157

mal gelöst (politische, wirtschaftliche und kulturelle Vielfalt einerseits bzw. Homogenitätsklauseln andererseits). Mag das Verhältnis von Grundkonsens und Pluralität in Raum und Zeit spannungsreich variieren: Der Typus „Verfassungsstaat“ braucht eine Vielzahl von Texten, die beides „gemischt“ sichern – als Rahmen für das immer neue „Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller Bürger“ (von „Vertrag zwischen den Ungarn der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft“ spricht Präambel neue Verf. Ungarn von 2012). Darum sind Pluralismusklauseln so wichtig. (Beispiele sind: Art. 6 Abs. 1 Verf. Demokratische Republik Kongo von 2005; Art. 17 Verf. Ecuador 2008; Art. 2, 6 Verf. Venezuela von 1999; Art. 1 Verf. Bolivien von 2007.) Gleiches gilt für Texte zur Toleranz (z. B. Art. 3 Abs. 1 Verf. Bhutan von 2008) sowie Friedensklauseln (z. B. Art. 2 Abs. 1 Verf. Bhutan; Art. 3 Ziff. 8 Verf. Ecuador von 2008; Präambel Verf. Nepal von 2006; Präambel Kambodscha von 1993 / 1999). ee) Die schrankenziehende Funktion Die Funktion der Schrankenziehung (auch unter den Bürgern, z. B. in Gestalt der Drittwirkung der Grundrechte129), Beschränkung von Macht (im Verhältnis Staat / Bürger), Verhinderung von Machtmissbrauch (seitens Staat und Gesellschaft) bleibt vielen alten und neuen Verfassungssätzen eigen und im Ganzen unverzichtbar. Daran ändert alles Aufgabendenken, ändern alle aufgabenorientierten Verfassungstexte der jüngeren Textstufenentwicklung nichts. Der Kanon der klassischen Grundrechte, die Gewaltenteilung, Demokratie als begrenztes Vertrauen und (bzw. in) „Herrschaft auf Zeit“, die präzise Organisation der Verfahren, in denen um das Gemeinwohl gerungen und nach Gerechtigkeit gestrebt wird – all dies lässt sich einzelnen TextTypen dem Wortlaut und der Sache nach sehr genau entnehmen (z. B. den Normen zum Minderheitenschutz). Mag da und dort programmatisches Aufgaben-Denken die Texte überwuchern: Die vergleichend arbeitende ­Lehre vom weltoffenen Verfassungsstaat muss an dieser Funktion einzelner Verfassungstexte wie der Verfassung im Ganzen als einer unter anderen Funktionen festhalten. Die Aufgaben bleiben begrenzt. Recht verstanden steht sogar hinter den vordringenden Aufgaben-Normen (z. B. bei grundrechtsbezogenen Staatsaufgaben) die Sorge um reale grundrechtliche Freiheit in ihrer „klassischen“ Abwehrdimension. Das Aufgabendenken ist nur 129  Vgl. § 14 Abs. 2 und 3 KV Basel-Landschaft (1984): „Wer Grundrechte ausübt, hat die Grundrechte anderer zu achten. – Niemand darf Grundrechte durch Mißbrauch seiner Machtstellung beeinträchtigen.“ Vgl. auch Art. 27 Abs. 1 Verf. Bern (1993): „Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.“ Ebenso Art. 35 Abs. 1 nBV Schweiz von 1999. Als Grundrechtsstaat versteht sich in der Sache auch Ecuador (vgl. Tit. II Art. 10 bis 11 Verf. Ecuador von 2008).

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

ein Element „grundrechtssichernder Geltungsfortbildung“, z. B. in Gestalt des „status activus processualis“ (1972). Art. 1 Abs. 1 GG und der Klassikertext in Art. 2 der französischen Erklärung von 1789 „erinnern“ immer wieder an diese Funktion der Schrankenziehung bzw. ihre zeitgerechte Fortschreibung, weltweit. ff) Wirklichkeitsbezug, Wirklichkeitsgestaltung Sie sind eine letzte, vor allem jüngst in den Vordergrund tretende Funktion von verfassungsstaatlichen Verfassungen bzw. einzelne ihrer Textgruppen und Texttypen. Die Wirklichkeit ist heute nicht nur ein Hauptthema der Rechtswissenschaft (F. Wieacker), sie ist auch im Kraftfeld der Lehre vom Verfassungsstaat zentral geworden. Das zeigt sich vielfältig: allgemein an Staatszielbestimmungen bzw. Grundsatznormen zum sozialen Rechtsstaat, zur „sozialen Gerechtigkeit“, an Texten zu speziellen Staatsaufgaben, die einzelne oder alle Grundrechte effektivieren wollen (im Sinne „realer Freiheit“); es zeigt sich aber auch in den neuen Dimensionen der komplex gewordenen Grundrechtsgehalte selbst, sei es dank der Technik von Förderungs- und Schutzaufträgen (z. B. Art. 6 Abs. 5 GG; § 25 KV Aargau; Art. 42 Abs. 2 Verf. Bern; Art. 14 Verf. Tessin von 1997; Art. 22 KV Schaffhausen von 2002; Art. 19 Verf. Zürich von 2004), über die Dynamisierung des Gleichheitssatzes („Chancengleichheit“, z. B. § 15 Abs. 3 KV Basel-Stadt von 2005) oder über andere Verfassungstexte, die im Dienste der „Grundrechtsoptimierung“ stehen, etwa die Grundrechtsverwirklichungs- und -entwicklungsklauseln oder der „Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren“130. Ein materielles Beispiel für neue Grundrechte sind die den UN zu verdankenden „Kinderrechte“ (1990) (etwa Art. 50 Verf. Kosovo von 2008; Art. 64 Verf. Serbien von 2006; Art. 58 bis Art. 61 Verf. Bolivien von 2007). Die UN wirken hier praktisch als mittelbare Verfassunggeber. Der kooperative Verfassungsstaat will seine Texte verwirklicht, „sozial“ erfüllt sehen, er „beansprucht“ die Wirklichkeit für sich; seine „Normativität“ soll „Normalität“ werden. Er möchte die Wirklichkeit i. S. seiner Texte steuern und gestalten, sich aber auch an ihr ausrichten. Den einzelnen verfassungsrechtlichen Artikelgruppen und Texttypen ist diese Funktion unterschiedlich intensiv eigen, doch geht die Tendenz der Verfassungen insgesamt 130  Textbeispiel: § 14 KV Basel-Landschaft: „1. Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen. 2. Wer Grundrechte ausübt, hat die Grundrechte anderer zu achten. 3. Niemand darf Grundrechte durch Mißbrauch seiner Machtstellung beeinträchtigen.“ s. auch Bundesverfassungsentwurf Schweiz (1977), Art. 24: „Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisations- und Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen.“ Später ähnlich Art. 35 Abs. 1 nBV Schweiz (1999).



III. Die potentielle Relevanz von Verfassungsentwürfen159

in Richtung auf ein „Mehr an Wirklichkeit“, z. B. in Sachen Grundrechte als „reale Freiheit“ oder allgemein für „the Role of State in development“ (Art. X Verf. Uganda von 1995). Auch die Textierung der „Zivilgesellschaft“ (z. B. Präambel Verf. Afghanistan von 2004) ist ein Verweis auf die umzugestaltende, erhoffte Wirklichkeit.

III. Die potentielle Relevanz von Verfassungsentwürfen (Leitbild Schweiz) und „semantischen“ Verfassungen (die Beispiele Myanmar und Venezuela) 1.  Schon ein „empirischer Doppelbefund“ bzw. zwei Beispiele im Europa unserer Tage belegen, wie ergiebig für die vergleichende Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht Entwürfe deshalb sind, weil sie früher oder später „wirksam“ geworden sind und auf spätere Texte bzw. ihre „Übersetzung“ in die Verfassungswirklichkeit ausstrahlen: Das eine Beispiel stammt aus der Schweiz. Dort haben der Entwurf des Baslers Max Imboden von 1959 „Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte“, der Verfassungsentwurf 1977 der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung und der Verfassungsentwurf Kölz / Müller (1984) impulsgebend gewirkt131. Bei aller Kritik im Einzelnen darf heute gesagt werden, dass diese Entwürfe sogar weit über die deutschsprachige Wissenschaftlergemeinschaft hinaus gewirkt haben: in Problemformulierung und Textvarianten. Damit vermögen sie bzw. vermochten sie, auch den nationalen Verfassunggebern in Osteuropa und auf dem Balkan (zusammen mit den neuen Kantonsverfassungen von Nidwalden bis Solothurn, Bern und Appenzell A.Rh.) praktische Hilfestellung zu leisten132. In Europa strahlen viele Verfassungen bzw. Verfassungsentwürfe aus133: auf und von Schaffhausen (2002) bis Basel-Stadt und Zürich (2005), von und auf Tessin (1997) bis Graubünden (2003). Verfassungsentwürfe verdienen also wissenschaftliches Interesse, ganz unabhängig davon, wie „erfolgreich“ sie sind. Ja, selbst dann, wenn sie 131  M. Imboden, Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte (1959), in: ders., Staat und Recht, 1971, S. 219 ff.; Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, 1977; P. Häberle, Der „private“ Verfassungsentwurf A. Kölz / J. P. Müller (1984), in: ZSR 104 I (1985), S. 353 ff. Andererseits P. Häberle, Ausstrahlungswirkungen des deutschen Grundgesetzes auf die Schweiz, in: U. Battis u. a. (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen – 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 17 ff. 132  All dies ist (bis 1985) dokumentiert in meinem Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 ff.; zuletzt JöR 47 (1999), S. 149 ff., bzw. 56 (2008), S. 305 ff. 133  Vgl. P. Häberle, Die Herausforderungen des europäischen Juristen vor den Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft, DÖV 2003, S. 429 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

politisch als „gescheitert“ gelten und dies auch sind, sollten sie von der Staatsrechtslehre wissenschaftlich nachgearbeitet werden, nicht nur von der (sonstigen) Verfassungsgeschichtsschreibung. Denn in ihren Texten objektivieren und kristallisieren sich Inhalte und Verfahren, Ideen und Wirklichkeit, Hoffnungen, Wünsche und verarbeitete Vergangenheit in einzigartiger Weise: Der Zwang, normativ verbindlich Gedachtes in Textform zu gießen, veranlasst zu einer Verdichtungsarbeit, die das diffuse Material, aus dem es gerinnt, konturenschärfer macht. Verfassungsentwürfe rezipieren und kombinieren – bei aller im Einzelnen ganz unterschiedlichen schöpferischen Kraft ihrer Autoren – vor allem weit Verstreutes und recht Heterogenes: etwa Verfassungsgerichtsurteile und Staatspraxis, Dogmatiken der Wissenschaft und Gerichtsurteile, aber auch schon anderwärts zu Texten Gewordenes wie regionale und universale Menschenrechtspakte (aus vielen Kontinenten), mitunter sogar Programme politischer Parteien, ganz abgesehen von den Textvorbildern in Verfassungen anderer Länder bzw. Staaten oder in Verfassungen aus der eigenen Geschichte. Texte, vor allem Verfassungstexte, üben nun einmal eine – den Buchreligionen verwandte – spezifische Faszination aus – selbst dann, wenn sie von der Geschichte „überholt“ worden sind oder wenn sie die Geschichte erst gar nicht „eingeholt“ haben. 2. Die potentielle Relevanz von „semantischen“ Verfassungen (das Beispiel Myanmar und Venezuela): Im Rahmen dieser vergleichenden Verfassungslehre haben nicht nur Verfassungsentwürfe potentielle Relevanz für das Textstufenparadigma, sondern auch sogenannte „semantische“ Verfassungen. Dieser Karl Loewenstein zu verdankender Begriff besagt, dass den Verfassungstexten keine kongeniale Verfassungswirklichkeit entspricht. Indes endet hier nicht die wissenschaftliche Forschung, vielmehr beginnt sie auf eine Weise gerade hier. Selbst Verfassungstexte, die noch oder gar nicht in die Wirklichkeit umgesetzt worden sind, weil sie die autoritären Strukturen eines Machthabers oder Partei verdecken oder beschönigen, besitzen Erkenntniswert. Wie sogleich an den zwei Beispielen aus Burma bzw. M ­ yanmar sowie Venezuela zu zeigen sein wird, finden sich in beiden Verfassungsdokumenten dieser heute autoritär regierten Staaten erstaunliche Innovationen, die in der weltweit ausstrahlenden Werkstatt des Verfassungsstaates aufzuarbeiten lohnend ist: im Dienste einer universalen Verfassungslehre. Die Verfassung von Myanmar (2008), das heute in der Weltöffentlichkeit zunehmend beobachtet wird134, will schon in ihrer Präambel das Mehrparteiensystem etablieren. Sie spricht von „ewigen Prinzipien“, nämlich Ge134  Der „Verfassungsentwuf für ein freies Burma“ (1996) findet sich in JöR 46 (1998) S. 683 ff. Er bietet ein eindrucksvolles Textreservoir für die Zukunft: von der Präambel über die kulturellen Rechte (Art. 24) bis zu den Kinderrechten (Art. 28) sowie bis zum Themenfeld ausdrücklicher Verfassunggebung (Art. 149).



III. Die potentielle Relevanz von Verfassungsentwürfen161

rechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und dauerhaften Frieden und Wohlstand. Auch bekennt sie sich zur Koexistenz mit anderen Nationen und zum Weltfrieden. Eine neue Textstufe gelingt ihr in Kap. I, 4 in den Worten: Die souveräne Macht der Union „is derived from the citizens“. Damit ist die Staatssouveränität vom Bürger her gedacht, nicht wie herkömmlich vom Volk her: kongenial dem in diesem Buch vertretenen Zusammenhang von Menschenwürde der Bürger und Verfassunggebung. Art. 21 (a) spricht in der Gestalt eines Grundrechts vom „right of justice“. Art. 26 (a) gebietet die Freiheit des öffentlichen Dienstes von politischen Parteien. Art. 47 bedient sich des Begriffs des „Kontextes“ bei der Legaldefinition von „Union“. Art. 357 normiert einen vortrefflichen Text in Sachen Schutz der „privacy and security of home, property, correspondence and other communications of citizens“. Bemerkenswert ist auch die Heraushebung des Buddhismus als Glauben der großen Mehrheit der Bürger (Art. 361) – bei gleichzeitiger Anerkennung des ebenfalls existierenden Christentums, Islams, Hinduismus und Animismus (Art. 162). Der Verfassungsänderung gilt ein hoch differenziertes Kap. XII (Art. 433 bis 436 mit Differenzierungen der erforderlichen Mehrheiten, je nachdem wie wichtig die einzelnen Prinzipien sind). Auch Kap. XIII zu den Symbolen (Staatsflagge, Staatssiegel, Nationalhymne und Hauptstadt) ist vorbildlich. Mögen im Übrigen die Grundrechte oft verletzt worden sein, man denke an die Verhaftung der (2012 freigelassenen) Friedensnobelpreisträgerin San Suu Kyi: die guten Textstufen im Ganzen und Einzelnen werden aus Sicht der Wissenschaft m. E. dadurch nicht diskreditiert, denn diese können als Werkstücke in dem universalen Prozess der Produktion und aktiven Rezeption von Texten des Typus weltoffener Verfassungsstaat mittel- und langfristig dienlich sein. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man beim Studium der neuen Verfassung der bolivarischen Republik von Venezuela (1999). Wegen des autoritären Regimes des aktuellen Machthabers H. Chávez hat das Land derzeit politisch einen ebenso schlechten wie verdienten Ruf. Und dennoch darf sich die vergleichende Verfassungslehre davon nicht abschrecken lassen, denn in dem Verfassungsdokument von 1999 finden sich sozusagen wie in einem Speicher bemerkenswerte Wendungen, die erkennen lassen, wie aktiv und passiv der Verfassunggeber in Venezuela in der weltweiten „Werkstatt des Verfassungsstaates“ vernetzt ist. Hier nur wenige Beispiele: Die Präambel enthält eine invocatio dei und zugleich eine Herausstellung des großen Befreiers Simon Bolivar, auch in anderen lateinamerikanischen Verfassungen finden sich mitunter solche Gründerfiguren, also Personalisierungen (z. B. in Bezug auf Generäle, Verf. Nicaragua von 1986: Präambel und Art. 9 Abs. 2135). Das Bekenntnis zur „rule of law“ wird bereichert durch die Bezugnahme auf diese 135  Zit.

nach JöR 37 (1988), S. 720 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

und künftige Generationen. Überdies findet sich ein Bekenntnis zur Kooperation mit den Nationen und zur Stärkung der lateinamerikanischen Integration. Art. 1 legt sich ideologisch auf die Doktrin von Simon Bolivar fest, was ein Verfassungsstaat nicht tun sollte. Auffallend ist gleichzeitig das Bekenntnis zum sozialen Rechtsstaat und politischen Pluralismus in Art. 2. Art. 3 zählt die „wesentlichen Staatsziele“ und bereichert damit die Lehre von den Staatsaufgaben um die unverzichtbare Frage, welche Aufgaben im Verfassungsstaat „notwendig“ sind. Art. 7 fixiert den Vorrang der Verfassung, und Art. 9 ist neuen Verfassungen, etwa der Ukraine kongenial, insofern das kulturelle Erbe nicht nur der Nation, sondern auch der Menschheit (!) geschützt und garantiert wird. Von den vielen wertvollen Textstufen seien nur noch wenige Beispiele genannt: Das eigene Kapitel über „Culture and Educational Rights“, in dem die kulturellen Werte sowohl auf das Volk, als auch auf den Bürger bezogen werden und die „historic memories of the nation“ ebenfalls geschützt werden (Art. 99). Art. 100 zählt die Volkskulturen zur nationalen Identität von Venezuela, und Art. 107 macht die Erziehung in Sachen „Schutz der Umwelt“ auf allen Ebenen obligatorisch – eine so sonst nicht nachweisbare Wendung. Art. 110 stattet Wissenschaft, Technik, Kenntnisse und Innovation als von „öffentlichem Interesse“ aus. Art. 117 gelingt eine erstaunliche Textstufe zum Verbraucherschutz, und Kap. VII nimmt sich überaus differenziert der „Rights of Native People“ an. Noch kühner ist Art. 127, insofern er den Umweltschutz sowohl auf die eigene Generation als auch auf die „world of the future“ bezieht. Der Pflichtenkatalog in Kap. X freilich ist so formuliert, dass er missbraucht werden kann; indessen gelingt die schöne Wendung von „human rights as the foundation of democratic coexistence and social peace“. Art. 141 unterwirft die öffentliche Verwaltung u. a. dem Gebot der Transparenz, Art. 153 formuliert einen beispielhaften Text zum Gebot der lateinamerikanischen und karibischen Integration bis hin zur Bereitschaft, Herrschaftsrechte auf supranationale Organisationen zu übertragen – diese Wahlverwandtschaft zum „nationalen Europaverfassungsrecht“ ist spektakulär. Ein letztes Beispiel für die Ergiebigkeit des Studiums auch solcher Verfassungstexte, die durch eine „schlechte Wirklichkeit“ diskreditiert erscheinen, sei die venezuelanische Regelung der Verfahren der Verfassungsänderung (Art. 340 bis 350). Hier wird zunächst die Teilrevision, ganz im Sinne der Schweizer Tradition definiert als Änderung, die nur den Teil der Verfassung und nicht die fundamentalen Prinzipien betrifft (Art. 342). Sodann geht der Verfassunggeber das Wagnis einer Regelung des Verfahrens der Verfassunggebung ein – in Wahlverwandtschaft zu neueren Schweizer Verfassungen sowie zur Verfassung von Brandenburg (1992). Art. 47 verlangt die Einberufung einer nationalen verfassunggebenden Versammlung zum Zweck der Transformation des Staates durch „Schaffung einer neuen juristischen Ordnung und einer neuen Verfassung“. Hier werden besondere Verfah-



IV. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat163

rensanforderungen normiert. Aufschlussreich ist der Versuch der geltenden Verfassung, in Art. 350 Grenzen sogar des Verfassunggebers zu normieren, wobei die Wortfassung darauf hindeutet, dass dies eher ein Glaube und ein Wunsch ist bzw. dass sich der Verfassunggeber von 1999 für die Zukunft eine etwaige neue Verfassung nur im Rahmen des Typus demokratischer Verfassungsstaat wünscht. Der höchst kreative Text lautet: „The people of Venezuela, true to their republican tradition and their struggle for independence, peace and freedom, shall disown any regime, legislation or authority that violates democratic values, principles and guarantees or encroaches upon human rights.“

Die weltweit vergleichende Verfassungslehre hat allen Grund, diesen Text als Bereicherung der Kontroverse um die Grenzen der Verfassunggebung ernst zu nehmen.136 Er unterstützt die These, dass verfassunggebende Gewalt in friedlichen Ländern aus dem Kulturzustand agiert, nicht aus dem Natur­zustand. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in den Verfassungen, die Verfassungsänderungen im Kriegszustand oder Notstand verbieten (z. B. Art. 219 Verf. Demokratische Republik Kongo von 2005).

IV. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat: Ein Pluralismus von Geschriebenem und Ungeschriebenem vieler Räume und Stufen 1. Die Fragwürdigkeit des Sprachbildes „Quelle“ So sicher es ist, dass die Rechtsquellenlehre – heute schon wegen der positiven Verfassungstexte – ein zentrales Kapitel jeder vergleichenden Verfassungslehre bilden muss, so fragwürdig erscheint das Sprachbild „Rechtsquelle“. Denn es suggeriert, das Recht folge mehr oder wenig „fertig“, „vorhanden“ und vorgegeben aus „einer“ Ursache. Zu wenig ist dabei berücksichtigt, dass das Recht „law in action“ (J. Esser) ist bzw. erst durch und in der Interpretation „wird“137. Auch kann das „Quellenbild“ schwerlich die konstitutive 136  Aus der Lit.: P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat AöR 112 (1987), S. 54 ff.; C. Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung, 2007, S. 150 ff.; M. Kloepfer, a. a. O., Bd.  I, S.  24 f.; H. Dreier, Das Grundgesetz unter Ablösungsvorbehalt, in: ders. (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, S. 159 (172 ff.). 137  Schon klassisch: BVerfGE 75, 223 (243  f.): „… ebensowenig aber können Zweifel daran bestehen, dass die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offenstehen sollten, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind. Der Richter war in Europa niemals lediglich „la bouche qui prononce les paroles de la loi“; das römische Recht, das englische common law, das Gemeine Recht waren weithin richterliche Rechtschöpfungen … Die Gemeinschafts-

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

Bedeutung der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ zum Ausdruck bringen. Das Sprachbild „Rechtsquelle“ wird im Schrifttum zwar da und dort durchaus kritisiert oder korrigiert, aber nicht eigentlich radikal in Frage gestellt.138 M. E. lässt sich der Begriff „Rechtsquelle“ heute, wenn überhaupt, so nur noch mit vielen Frage- und Anführungszeichen gebrauchen: zu produktiv wirken die Interpreten, zu vieldeutig sind die auszulegenden Rechtsbegriffe und zu offen ist der Kanon denkbarer „Rechtsquellen“ im demokratischen Verfassungsstaat. Das schließt nicht aus, dass gewisse hier systematisierte Aussagen über „Rechtsquellen“ sich schon in den positiven Verfassungstexten finden. Ihre „gute Ordnung“ gehört sogar in eine (geschriebene) verfassungsstaatliche Verfassung. Doch kann und will das nicht die Offenheit und Pluralität der Rechtsquellen im Verfassungsstaat in Frage stellen. Es gibt im kooperativen Verfassungsstaat keinen numerus clausus an „Rechtsquellen“. Ihre Aufzählung kann nur exemplarisch sein. Vom Völkerrecht her wachsen neue Rechtsquellen hinzu: als Mosaiksteine des universalen Konstitutionalismus, bei aller Partikularität der Rechtskulturen. Im Übrigen ist mehr als fraglich, ob die übliche Unterscheidung zwischen „formalen Rechtsquellen“ und „Rechtserkenntnisquellen“ aufrecht erhalten werden kann. Das „Richterrecht“ hat sich längst „zwischen“ diesen Kategorien etabliert.139 Im Typus Verfassungsstaat wird die alte Alternative Gesetzes- oder Richterrecht immer mehr zu einem Sowohl-als-auch von beiden „Rechtsquellen“. 2. Offenheit und Pluralität der Rechtsquellen im Verfassungsstaat140 Schon der Verfassungsvergleich legt es nahe, das Wort von der Pluralität und Offenheit der „Rechtsquellen“ zu wagen. Kein geringerer als J. Esser hat dem vorgearbeitet, wenn er von dem „pluralistischen Charakter (nicht dem bloßen ‚Stufenbau‘) unserer Rechtsquellen“ spricht und wenn er nach einer „realistischen“, den Etatismus überwindenden Rechtsquellenlehre Ausverträge sind auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen.“ 138  Vgl. jedoch L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 21 f. 139  Überzeugend die Staatsrechtslehrertagung in Münster: VVDStRL 71 (2012), S.  257 ff. 140  Zum Folgenden, jetzt aktualisiert, mein Beitrag Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen – ein Textstufenvergleich, in: ARSP – Beiheft 62 (1995), S.  127 ff.; ders., Pluralismus der Rechtsquellen in Europa – nach Maastricht: ein Pluralismus von Geschriebenem und Ungeschriebenem vieler Stufen und Räume, von Staatlichem und Transstaatlichem, in: JöR 47 (1999), S. 79 ff. (mit der These: es gibt keinen numerus clausus der Rechtsquellen!).



IV. Rechtsquellenprobleme im Verfassungsstaat165

schau hält141. Die Verfassungen nennen zwar heute zunehmend bestimmte Rechtsquellen, sie legen sich aber kaum auf einen abgeschlossenen Kanon fest, sie bauen vielmehr immer lieber denkbar offene Rechtsquellen ein, wie (internationale) Menschenrechte, allgemeine Rechtsgrundsätze (auch in ­Afrika sowie auf dem Balkan), sogar pauschale Verweise auf „das Recht“. Das ist nicht nur ein Befund, sondern lässt sich auch philosophisch rechtfertigen. Das Stichwort „Zeit und Verfassung“ bzw. „Zeit und Verfassungskultur“ deutet auf die Hintergründe: Offenheit und Pluralität der Rechtsquellen sind eines unter anderen Instrumenten und Verfahren (von der Total- und der Teilrevision von Verfassungen über gesetzliche Experimentierklauseln bis zu Sondervoten von Verfassungsrichtern), die dem Verfassungsstaat ermöglichen, Kontinuität und Wandel, Stabilität und Flexibilität in der Zeit in Balance zu halten (auch im internationalen Kontext). Gerade die flexiblen „Mischungen“ sowohl der Auslegungsmethoden wie der „Rechtsquellen“ erlauben die Bewährung des Verfassungsstaates „im Laufe der Zeit“, universal. Es gibt keinen Numerus clausus der „Rechtsquellen“! 3. Insbesondere: „neue“ Rechtsquellen Die neueren Verfassunggeber zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass sie sich gegenüber neuen Rechtsquellen buchstäblich „aufgeschlossen“ zeigen. Teils normieren sie „alte“ in neuer Gestalt: etwa in Form der klar ausgesprochenen Vorrangklauseln zugunsten der Verfassung, teils nennen sie genauer alte oder ganz neue Rechtsquellen: nämlich allgemeine Rechtsgrundsätze, international anerkannte Menschenrechte, andere als die schon geschrieben „vorhandenen“ Grundrechte (Grundrechtsentwicklungsklauseln i. S. von § 10 Verf. Estland), gelegentlich auch Naturrecht. Diese „neuen“ Rechtsquellen stellen eine Bereicherung der Rechtsfindungsprozesse dar; freilich machen sie diese auch „komplizierter“. Sie betten den nationalen Verfassungsstaat nach außen in übergreifende regionale und universale Zusammenhänge einer „Weltgesellschaft“ bzw. Menschheit ein und sie erlauben nach innen eine Verfeinerung der Rechtsbildungsprozesse und damit ein Mehr an Gerechtigkeit. Überdies ermöglichen sie, Rechtserfahrungen anderer Rechtsgemeinschaften, insbesondere benachbarter Verfassungsstaaten nutzbar zu machen – so wie das (Rechts-)Vergleichen ein Gewinn sein kann. Die nationalen Verfassunggeber sind dafür zu rühmen, dass sie es gewagt haben, die Palette möglicher Rechtsquellen beim Namen zu nennen und zu integrieren, womit sie „klassische“ Souveränitätslehren ebenso aufgebrochen haben wie das simple Stufenbau-Denken. Sichtbar werden nationale und universale Teilverfassungen (unter Einschluss des Völkerrechts). 141  Grundsatz

und Norm, 4. Aufl. 1990, S. 120 ff., 241 ff., 287 ff. u. ö.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

4. Wechselseitige Einflüsse statt einseitiger Über- und Unterordnung der Rechtsquellen Ein weiterer Aspekt der hier vorgeschlagenen „Revision“ der klassischen Rechtsquellenlehre lässt sich weniger aus der Textstufenentwicklung ablesen als in der Praxis beobachten. Er sei wenigstens angedeutet. Die neueren Verfassunggeber normieren zwar, wie gezeigt, sehr häufig den „Vorrang der Verfassung“142 (in islamischen Staaten freilich den Vorrang der Scharia). Sie wollen und können aber dadurch nicht ausschließen, dass der vielzitierte „Stufenbau der Rechtsordnung“ der Wiener Schule nur die eine Seite des Wirkens der „Rechtsquellen“ ist. In der Praxis der Rechtsanwendung, im „hermeneutischen Geschäft der Auslegung“ kommt es oft zu einem schöpferischen Zusammenwirken und vielgliedrigem Zusammenspiel der verschiedenen „Ebenen“, das sich nicht auf das Bild der „Hierarchie“ bringen lässt. So wirken Verfassungsprinzipien und gesetzgeberische Ausgestaltungen im Grundrechtsbereich vielfältig zusammen, so findet neben der verfassungskonformen Auslegung der Gesetze eine „gesetzeskonforme Auslegung der Verfassung“ statt143. Auch der Einfluss der den nationalen Verfassungsstaat transzendierenden „allgemeinen Rechtsgrundsätze“, z. B. i. S. des Europarechts (richtiger: des Europäischen Verfassungsrechts), lässt sich nicht mehr mit dem Bild der „Hierarchie“ einfangen. Gleiches gilt für die innerstaatlich angeordnete oder sich sonst durchsetzende Wirkung der Menschenrechte: Ihr „Universalismus“ relativiert den Nationalismus: im Dienste eines universalen Konstitutionalismus und seiner weltoffenen „Rechtskulturen“. Rechtsquellenkataloge figurieren in neueren Verfassungen nicht selten (z. B. Art. 20 (4) (b), Art. 22 Verf. Kosovo von 2008; Art. 2 Verf. Kenia von 2010; ebd. Art. 19 bis 27 finden sich allgemeine Auslegungsprinzipien für die „Bill of Rights“, u. a. eine „Geist- Klausel“). 5. Abschied vom nationalstaatlichen Etatismus der Rechtsquellenlehre, die „Europäisierung“ der Rechtsquellen Die bisherigen Ausführungen legen es im Zusammenhang mit Textaussagen der neueren Verfassungen nahe, erklärtermaßen vom nationalstaatlichen Etatismus herkömmlicher Rechtsquellenlehren Abschied zu nehmen. Dieser Gedanke durchzieht bahnbrechend das Werk „Grundsatz und Norm“ von J. Esser für das Zivilrecht; er müsste und kann auch der Verfassungslehre zum 142  Für die englisch-sprachige Welt typisch sind Sätze wie „Constitution to be supreme law“ (vgl. Art. 6 Verf. Malta von 1964 / 92) oder „This Constitution shall be the Supreme Law of Namibia“ (Art. 1 Abs. 6 Verf. Namibia von 1990). Weitere Beispiele: Art. 1 Abs. 2 Verf. Südafrika von 1996. 143  Dazu K. Hesse, Grundzüge, a. a. O., S. 33.



Inkurs II: 60 Jahre Grundgesetz als Kultur und aus Kultur167

Vorbild dienen. Hier nur einige Stichworte: Das Vordringen der Kategorie „allgemeine Rechtsgrundsätze“ bricht die Staatlichkeit der Rechtsquellen ebenso auf, wie dies die mehr oder weniger klar ausgesprochenen Bezugnahmen auf vorstaatliche, „vorpositive“ Rechtsgrundsätze, in welcher Form auch immer tun: als „universale Menschenrechte“, als „Recht“, im Wege von „Grundrechtsentwicklungsklauseln“ (z. B. § 10 Verf. Estland von 1992, Art. 11 Ziff. 7, 8 Verf. Ecuador von 2008) – nach Art. IX US-Amerikanisches Amendment als Vorbild. Vor allem sind Vorgänge einschlägig, die z. B. in Europa an die Entstehung eines „Gemeinrechts“ denken lassen. In dem Maße, wie sich nationale Verfassungslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit kooperativ „europäisieren“, bereichert sich der nationalstaatliche „corpus juris“, pluralisieren sich die nationalstaatlichen Rechtsquellen, öffnet sich der innerstaatliche Kanon nach „außen“. Insbesondere sind alle Entwicklungen, die es erlauben, die Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode – nach den klassischen vier von F. C. von Savigny – zu qualifizieren, ein Abschied von, mindestens aber eine entscheidende Relativierung des nationalstaatlichen Etatismus in der Rechtsquellenlehre. Diese Entwicklung kennzeichnet den kooperativen nationalen Verfassungsstaat auf seiner heutigen Textstufe, die nicht „Papier“ geblieben ist, sondern auch die Verfassungswirklichkeit prägt: vor allem in Europa und darüber hinaus. Von einer abstrakten Ebene jetzt zum Konkreten: Im Folgenden sei am Beispiel des GG konkreter die These von der Verfassung „aus Kultur“ und „als Kultur“ entfaltet.

Inkurs II: 60 Jahre Grundgesetz als Kultur und aus Kultur illustriert am Vorbild Italiens und am Beispiel Portugals sowie am 60-jährigen deutschen Grundgesetz – eine Projektskizze Einleitung Verfassung „aus Kultur“ und „als Kultur“ allgemein zu dokumentieren, ist ein vielleicht großes Programm. Es ergibt sich aus dem Konzept der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982). Im Folgenden sei es aus einer neuen Perspektive erschlossen. Begonnen sei im Kleinen mit dem Verfassungstag: „Verfassungstage“ (z. B. in Salamanca stets gefeiert) sind Tage, an denen jährlich wiederkehrend festlich der geltenden Verfassung, ihrer Vorgeschichte, ihrer Inkraftsetzung und ihrer erhofften künftigen Entwicklung staatlich-politisch, gesellschaftlich-sozial und mitunter auch privat (Schweiz) in vielerlei Weise gedacht wird. Als Elemente einer höchst fragmentarischen Bestandsaufnahme seien vorweg einige weltweite Beispiele dargestellt. Es gibt Verfassungstage, die als Feiertage figurieren, z. B. der nationalen Unabhängigkeit oder Revolution wie der 4. Juli in den USA oder der 14. Juli in Frankreich sowie den 25. April in Italien (Tag der Befreiung vom Faschismus), den 25. Mai in Argentinien (Tag der Unabhängigkeit). Sie sind genau

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gesehen Tage vor der Verfassung, präkonstitutionell, und gehören gleichwohl geschrieben oder ungeschrieben zum Fundament des Selbstverständnisses eines politischen Gemeinwesens. Sie bilden eine Art Verfassung vor der Verfassung. Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass Verfassungstage nur der Sache nach bzw. gesetzlich, nicht aber verfassungstextlich der Erinnerung an das Inkrafttreten einer Verfassung dienen und mehr oder weniger offiziell (z. B. durch Beflaggung öffentlicher Gebäude) begangen werden. Dies gilt etwa in Deutschland für den 23. Mai in Sachen Grundgesetz von 1949. Auf der EU-Ebene hat sich Bemerkenswertes, im Grunde Törichtes ereignet. Hatte der Verfassungsvertrag von 2004 in seinem Symbol-Artikel 4 noch einen „Europatag“ vorgesehen (9. Mai), so wurde dieser im sogenannten Reformvertrag von Lissabon 2007 bewusst gestrichen. Gleichwohl ist zu vermuten, dass der Europatag ebenso wie die Europahymne und die Europaflagge materiell als Verfassungswirklichkeit weiterleben werden. Nach dem Nein Irlands am 13. Juni 2008 werden diese Symbole zum Überleben und Erleben Europas noch wichtiger. Eine Textstufenanalyse kann belegen, dass weltweit eine Reihe von Verfassungen verfassungsbezogene oder an die Unabhängigkeit erinnernde Feiertage „anordnen“144, z. B. Art. 14 Abs. 5 Verf. Albanien (1998), auch als Tag der „Flagge“ bezeichnet, Art. 4 Abs. 5 Verf. Äquatorial-Guinea (1991), Art. 2 Abs. 10 Verf. Gabun (1994). Erinnert sei aber auch an den festlich begangenen Reichsgründungsfeiertag (18. Januar 1871) in Deutschland, an dem etwa kein Geringerer als R. Smend in den letzten Tagen der Weimarer Republik einen großen Festvortrag hielt, dessen Stichworte noch bis heute ausstrahlen: „Bürger und Bourgeois …“145 Erster Teil Das Vorbild Italien Eine – vorbildliche – Feier eines Verfassungstages war in Rom zu erleben. Sie bezog sich auf 50 Jahre der italienischen Corte („Verfassungsgerichtsjahr“). In einem auch als Ausstellung präsentierten Prachtband146 wurde aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Corte die Verfassung von 1947 von Seiten und mit den Mitteln der Kultur, Kunst und Wissenschaft gefeiert. Die einzelnen Artikel der Verfassung von 1947 und die zugehörigen großen Judikate der Corte wurden zugleich im Kontext von Erläuterungen berühmter Verfassungsrichter illustriert. Große Dokumente, Gemälde und Zeichnungen aus der Kulturgeschichte Italiens bis hin zu Beispielen moderner Malerei, etwa im Blick auf das Arbeitermilieu und historische Schlachtengemälde sowie Allegorien über die Gerechtigkeit, wurden dokumentiert. Hier einige Beispiele aus diesem kulturwissenschaftlich-verfassungsjuristisch einzigartigen ­bibliophilen Werk, das eine Ausstellung dokumentiert hat: 144  Dazu meine Monographie: Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 20 ff., 107 ff. – Zum Folgenden schon, jetzt überarbeitet P. Häberle, Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 6 ff. 145  Bürger und Bourgeois im Deutschen Staatsrecht (1933), jetzt in: R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 309 ff. (4. Aufl. 2010). 146  1956–2006 – 50 anni di Corte Costituzionale: le immagini, le idee, Rom 2006, a cura di P. Boragina und G. Marcenaro.



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–– Zu Art. 4 (insbes. Recht auf Arbeit): Gemälde einer alten Seidenspinnerei, streikender Arbeiter, auf Reisfeldern tätiger Frauen, eines pflügenden Bauern, einer Baustelle: die Arbeit wird hier zwar traditionell, aber in ihrer ganzen Vielfalt dokumentiert, konsequent angesichts des Art. 1 Satz 1: „auf die Arbeit gegründete Republik“. –– Zu Art. 9, 33 und 34 (insbes. Umwelt, Kultur, Landschaft, Schule): Michelangelos Entwurf des Grabmals für Leo X. und Clemens VII., ein Frauenportrait aus der Renaissance, das Autograph N. Machiavellis zur Einleitung seiner „Discorsi“ (vor 1531), ein Portrait eines Humanisten, mehrerer Astronomen (beide 16. Jh.), das Autograph eines Manuskripts von G. Galilei (1616), eine Ansicht von Venedig (F. Guardi, 18. Jh.), Gemälde des Colloseums (18. Jh.), Olivengärten eines quasiimpressionistischen Malers, „Mein Syrakus“, ein Gemälde im eher modernen Stil, „Die Erzieherin“ (fast kubistisch). –– Zu Art. 29, 30 und 31 (insbes. Familie unter dem Gesamttitel ethisch-soziale Beziehungen): „Madonna mit Kind“ (ca. 1580), Familienbild im Stil der Renaissance, bürgerliches Familienbild, Familienbilder aus dem 20. Jahrhundert, mithin wird auch der Wandel des Familienbildes über die Zeit offenbar. –– Zu Art. 2 und 3 (insbes. Gleichheit, Vereinigungsfreiheit unter dem Gesamttitel Grundprinzipien, auch Religionsfreiheit): Renaissancegemälde einer Messe, antikisierende Darstellung der Predigt eines Apostels (18. Jh.), das Innere einer Synagoge (18. Jh.), Versammlung von Quäkern (18. Jh.), mithin also auch Darstellungen anderer Religionen als der eigenen, Gemälde verschiedener Versammlungen aus unterschiedlichen Zeitperioden (etwa Komödianten auf Märkten), Menschen in einer Straßenbahn (1923). –– Zu Art. 5 (insbes. lokale Autonomie): Phantasie-Städtebild, das die architektonischen Wahrzeichen vieler italienischer Kommunen vereinigt, etwa Roms, Mailands, Turins, Pisas, welches freilich nur exemplarisch bleiben kann. –– Zu Art. 11 (insbes. Verbot des Angriffskrieges): mehrere Schlachtenbilder in altem und neuen Stil, eine Allegorie des Friedens mit Lamm (18. Jh.). –– Zu Art. 24 und 25 (insbesondere Gerechtigkeit und Justizgrundrechte): mehrere allegoriehafte Gemälde zur Gerechtigkeit aus dem 17. und 20. Jahrhundert, eine Erstausgabe des Werks C. Beccarias (1764). –– Zu Art. 10 (insbes. internationales Recht): Gemälde des Empfangs eines Botschafters (18. Jh.); hier fällt ein Defizit ins Auge: der in Italien so früh aufgenommene Gedanke der europäischen Einigung (Ventotene!) ist durch keine einzige Abbildung präsent. –– Zu Art. 32 (insbes. Gesundheit und Heilfürsorge): Gemälde der Armenfürsorge in Florenz (1514), Armenspeisung (17. Jh.). –– Zu Art. 41 und 47 (insbes. privatwirtschaftliche Initiative und Spartätigkeit): familiäre Stickerei im Adelsmilieu (18. Jh.), Portraits bekannter Kaufleute, alter handschriftlicher „Kontoauszug“ Michelangelos (1514). Dem Verf. ist weltweit keine vergleichbare kulturwissenschaftlich-juristische Umsetzung einer gelebten Verfassung im Spiegel ihrer Teilgebiete von Religion, Wissenschaft und Kunst, politischem und sozialen Leben bekannt. Es ist gewiss kein

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Zufall, dass gerade Italien als das Kulturland Europas, ja der Welt, sich in Gestalt dieser Publikation feiert. Andere Länder bzw. verfassungsrechtliche Wissenschaftlergemeinden könnten sich in Kooperation mit (anderen) Kulturwissenschaftlern ein Beispiel an diesem Projekt nehmen: i. S. eines kulturellen Verfassungskommentars. Zweiter Teil Das Beispiel Portugal Aus der Verfassungswirklichkeit sei ein Beispiel aus Lissabon herausgegriffen. Der Verf. hat im Jahre 2006 (25. April) fast zufällig die politisch-soziale Wirklichkeit des in Lissabon gefeierten Verfassungstages Portugals erlebt. Gewiss, er war damals als Redner zu einer Festveranstaltung des portugiesischen Verfassungsgerichts und der juristischen Fakultät der alten Universität eingeladen, doch zuvor mischte er sich unter das Publikum, genauer die nationale Öffentlichkeit, die in ihrer Weise auf der Prachtstraße der Stadt, der Av. de Liberdade, die Verfassung von 1976 feierte. Man erlebte fast ein Volksfest, eine Art „Verfassung als öffentlicher Prozess“ mit vielen Bürgern und Gruppen als aktiven Interpreten. Im Einzelnen: Parteipolitische Gruppierungen, gesellschaftliche Verbände, Dorfabordnungen und Stadtteilvertretungen, aber auch Berufsgruppen aller Art zogen in einer Art Parade den großen Boulevard zum Meer hinunter. Alle Beteiligten und fast alle Zuschauer trugen symbolisch die seit 1974 berühmte rote Nelke („Nelkenrevolution“). Auf Transparenten, teils von den Menschen getragen, teils auf Fahrzeugen gezeigt, wurde ausdrücklich auf bestimmte Verfassungs-Artikel verwiesen, etwa in Sachen Arbeit, Familie oder Umwelt, auch Frieden. Teils wurden verfassungspolitische oder allgemein politische Forderungen vorgebracht und auf schmuck dekorierten Wagen illustriert. Spürbar war eine republikanische Stimmung, eine Artikulierung des Selbstverständnisses als verfasste Nation, bei allen Defiziten, die etwa in Sachen Arbeitslosigkeit angeprangert wurden. Als „teilnehmender Beobachter“ erlebte man ein in die Tat umgesetztes „constitutional law in public action“. Dem Verf. bleibt all dies unvergesslich; es war ihm auch im eher akademischen Milieu der eindrucksvollen wissenschaftlichen Tagung in der Gulbenkian-Stiftung stets gegenwärtig147. Dritter Teil Ein Projekt für Deutschland Ganz gewiss wären Deutschlands Grundgesetz und Portugals148 analog dem Band aus Rom (2006) aus der ganzen Tiefe ihrer nationalen und europäischen Kulturgeschichte in extenso darzustellen. Vier positive Beispiele für Deutschland gibt es schon, auch wenn sie mit dem besagten italienischen Gesamtkunstwerk aus Verfassungsrecht und Kultur nicht konkurrieren können: W. Fiedler (Hrsg.), Die erste deutsche Nationalversammlung 1848  /  49, Handschriftliche Selbstzeugnisse ihrer Mitglieder, 1980 – dieses „Parlaments-Album“ enthält große Texte über das Verfas147  Der Vortrag ist veröffentlicht in EuGRZ 2006, S. 533 ff.: Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus. 148  Dazu unten S. 593 ff.



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sungs- und Rechtsverständnis, auch Selbstverständnis der Abgeordneten; hinzuzunehmen ist das große Wandgemälde in der Frankfurter Paulskirche149 „Einzug der Abgeordneten“ von J. Grützke –, sodann der Bildband B. Fait, Auf dem Weg zum Grundgesetz, Verfassungskonvent Herrenchiemsee 1948, 1998, auch J. Limbach u. a. (Hrsg.), Die deutschen Verfassungen (Reproduktion der Verfassungsoriginale von 1849, 1871, 1919 sowie des Grundgesetzes von 1949), 1999, sowie K. Hempel-Soos (Hrsg.), Unser Grundgesetz, Meine Verfassung, Ansichten von Schriftstellern (mit Fotografien), 2003150. Zur Vorgeschichte des GG gehört: „Herrenchiemsee: Auf dem Weg zum Grundgesetz“151 (1948). Ihr Pionier-Artikel 1 lautet: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“152 Erste Pionierautoren zur deutschen Grundgesetz-Wissenschaft sind: G. Dürig, K. Hesse, G. Leibholz, E.R. Huber (zur Verfassungsgeschichte), E. Forsthoff (zum Verwaltungsrecht153), indes: Selbst sie sind vielleicht „kleiner“ auf den „Schultern von Riesen“ der Weimarer Klassiker der 20er Jahre, nämlich von H. Kelsen, der wohl R. Smend154, C. Schmitt sowie E. Kaufmann „provoziert“ haben dürfte. Resümee: „Weimar über alles“? Jedenfalls genießt heute „Weimar“ im Rückblick europaweit höchstes Ansehen, sowohl die Texte der WRV als auch ihre Verfassungsjuristen; z. B. ist „Weimar“ in Italien viel diskutiert, ebenso in Spanien. Was waren die Gründe für den damaligen Reichtum an Theorieentwürfen? Die Krise, die Kultur der 20er Jahre in Wien und Berlin? Im Rückblick ist Weimar ein europäisches Ereignis der Verfassungsrechtswissenschaft geworden: bis heute155. Für das – z. T. hier visuell gedachte, freilich seit 1949 viel zu oft geänderte (über fünfundfünfzig Mal!) – Grundgesetz156 etwa ist neben klassischen Bilddokumenten und Werken aus Kunst und Kultur und „ikonischen Momenten“ der deutschen Ge149  Abbildungen in: Die Frankfurter Nationalversammlung 1848 / 49, 1989: Abbildung des feierlichen Einzugs des Reichsverwesers in Franfurt / M. am 11.7.1848, S. 3, Abbildung der Eröffnung der Nationalversammlung in der Paulskirche, S. 18. 150  Eine Pionierleistung ist der Band Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, hrsg. von W. Pleister / W. Schild, 1988. Er nimmt zwar nicht auf Verfassungen Bezug, ist aber einer illustrierten Rechtsphilosophie sehr nahe in den Kapiteln: „Der Mythos des Rechts“, „Gott als Richter“, „Gerechtigkeitsbilder, Menschenrecht, Tierfabel und Tierphysiognomik“, „Relativierung von Recht und Gerechtigkeit“, „Die Thematisierung des Verhältnisses von Recht und Herrschaft in der Kunst der Neuzeit“ und „Die Rückseite des Spiegels“. 151  Gleichnamig mit Abbildungen: Haus der bayerischen Geschichte, 1998. 152  Zit. nach JöR 1 (1951), S. 48 (Neuausgabe 2010). 153  Zu ihm jetzt: F. Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, 2011. 154  Zu ihm: S. Obermeyer, Integrationsfunktion der Verfassung und Verfassungsnormativität, 2008. 155  Aus der Lit.: U. J. Schröder / A. von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, 2011. 156  Zur „Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ gleichnamig J. Becker / T. Stammen / P. Waldmann (Hrsg.), 1979. Zu den Textstufen des GG: H. Dreier /  F. Wittreck (Hrsg.), 2006, 2. Aufl. 2007.

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schichte auch im Kontext von Leitentscheidungen des BVerfG sowie von Klassikerzitaten157 Folgendes darstellbar: –– Zur Präambel (Gottesbezug): z. B. Eidesleistung158 des (ersten) Bundespräsidenten im Bundestag (T. Heuss)159; Goethes Dictum „Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Okzident! / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände“; F. Schiller: „Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott“; „Alle Menschen haben Zugang zu Gott, aber jeder einen anderen“ (M. Buber); als Gegentext: „Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht der Gott sein.“ (A. Schopenhauer). –– Zur Präambel (insbes. dem Wiedervereinigungsauftrag): Bilder vom Fall der Berliner Mauer160 (1989), Reststücke der Berliner Mauer in der Hauptstadt; BVerfGE 36, 1 (Wiedervereinigungsauftrag, Grundlagenvertrag), im Kontrast: Dokumente zur Berliner Luftbrücke 1948 / 49161, die Sprengung der Leipziger Pauliner-Kirche als „sozialistisches Exempel“ gegen das Bürgerliche (1968)162. –– Zur Präambel (Vereintes Europa): dazu unten bei Art. 23 n. F. GG sowie BVerfGE 123, 267 (Lissabon-Urteil), zuletzt E 129, 124. –– Zu Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde): der Autograph des Klassikertextes von I. Kant, als Kontrast ergänzt um Dokumente zu Folterszenen in Konzentrations­ lagern (Auschwitz)163 sowie zu „Flucht und Vertreibung“ (1945), Untergang der „Gustloff “ (Buch „Im Krebsgang“ von G. Grass, 2004). –– Zu Art. 1 Abs. 2 GG: J.-J.-F. Le Barbier d. Ä., „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ (1789)164; Goethe: „Und das heilige Menschenrecht | Gilt dem Herren wie dem Knecht.“ –– Zu Art. 2 Abs. 1 GG (Handlungsfreiheit): Klassikertexte: J. W. Goethe165: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“ – Leitentscheidungen BVerfGE 6, 32 (Elfes); Klassikertexte R. Luxemburg: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ „Hab Achtung vor dem Menschenbild166 157  Zur verfassungstheoretischen Einordnung: P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981; s. auch ders., Das Grundgesetz der Literaten, 1983. 158  P. Prodi, Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte, 1992. 159  H. Hamm-Brücher / H. Rudolph / Theodor Heuss, Eine Bildbiographie, 1983, S. 113 (erste Rede vor der Bundesversammlung). 160  Abbildungen der Mauer vor ihrem Fall, in: T. Köster. Die vermessene Mauer, FAZ vom 8. Mai 2008, S. R 10, Nr. 107. 161  Abgebildet in: Idee Europa, a. a. O., S. 306. 162  Abgebildet in FAZ vom 30. Mai 2008, S. 3 und in Rheinischer Merkur Nr.  22 / 2008, S.  32. 163  Fotos der „Selektion“ in: J. H. Schoeps, Neues Lexikon des Judentums, 1992, S. 53–54. 164  Abgebildet in: Idee Europa, a. a. O., S. 164; s. auch das suggestive Flugblatt von 1798, abgebildet in W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), a. a. O., S.  216. 165  Bildnis Goethes in der Campagna, abgebildet z. B. in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  157. 166  Zum „Menschenbild im Verfassungsstaat“ gleichnamig P. Häberle, 1988, 4. Aufl. 2008. Aus der Judikatur: BVerfGE 128, 326 (376).



Inkurs II: 60 Jahre Grundgesetz als Kultur und aus Kultur173 | Und denke, dass, wie auch verborgen, | Darin für irgendeinen Morgen | Der Keim zu allem Höchsten schwillt.“ (F. Hebbel) ; sodann: „das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“ (Goethe); „Freiheit? Ein schönes Wort, wers recht verstünde. Was wollen sie für Freiheit? Was ist des Freisten Freiheit? – Recht zu tun!“ (Goethe); G. Heinemann: „Das Kleid unserer Freiheit sind die Gesetze, die wir uns selber gegeben haben.“ Problembereich: Online-Durchsuchung; schon klassisch: Volkszählungsurteil: BVerfGE 65, 1. – Freiheit als universales Prinzip –.

–– Zu Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheit, Willkürverbot): – Der Anti-Text C. Schmitt: „Die Juden und die deutsche Rechtswissenschaft“ und noch schlimmer: „Der Jude Stahl“, leider auch R. Wagner: „Das Judentum in der Musik“ (…). Dokumenta­tion der Ermordung europäischer Juden durch die Nazis. –– Zu Art. 3 Abs. 2 S. 3 GG (Diskriminierungsverbot gegenüber Behinderten): Speziell BVerfGE 42, 263 (Contergan-Geschädigte). –– Zu Art. 4 GG (Religionsfreiheit): viele Dokumente beginnend mit M. Luther167, die Deutschland als „Land der Reformation“ repräsentieren (M. Luther: „Hier stehe ich und kann nicht anders“)168; T. Riemenschneider (Selbstbildnis aus dem Creglinger Altar)169; Friedrichs II. Toleranz: „Die Religionen müssen alle tolleriret werden“170; Lessings Ringparabel aus „Nathan der Weise“171; der übergreifende schönste Text stammt von Goethe: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion. Wer diese beiden nicht hat, der habe Religion.“ F. Schiller liefert zur Gewissensfreiheit des Art. 4 GG den großen Satz aus „Don Carlos“: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ – Als Negativbild müssen die Reichskristallnacht (1938) und die Bücherverbrennungen172 (1934) erwähnt werden. – Leitentscheidungen des BVerfG sind: BVerfGE 24, 236 (Lumpensammlerfall); 52, 223 (Schulgebet); 93, 1 (Anti-Kruzifix); 104, 337 (Schächten). – Weitere Klassikertexte lauten: „Religion ist die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliche Gebote“ (I. Kant); „Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“ (I. Kant); „Die Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm, die Religion ohne Naturwissenschaft ist blind“ (A. Einstein); „Religion ist Bejahung alles Seienden trotz alledem“ (G. Radbruch). 167  Abbildung der 95 Thesen in: W. Venohr / F. Kabermann, Brennpunkte Deutscher Geschichte 1450–1850, 1978, S. 21; ebd., auch der Holzschnitt Luthers von L.  Cranach d. Ä., S. 23. 168  Abbildung des handschriftlichen Entwurfs für seine Rede vor dem Wormser Reichstag 1521, in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  30. 169  Abbildung in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  43. 170  Abbildung seiner berühmten Randbemerkung in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  117. 171  Bilddokumente Lessings, in: L. R. Santini (Hrsg.), Eine Reise der Aufklärung, Lessing in Italien 1775, 1993, insbes. S. 505 f. – Zu Wolfenbüttel, einer Wirkstätte von Lessing, der Bildband Wolfenbütteler Cimelien, Herzog August Bibliothek, 1989. 172  Dazu W. Treß, „Wider den undeutschen Geist!“, Bücherverbrennung 1933, 2008, mit zahlreichen Abbildungen. Verbrannt wurden etwa Werke von B. Brecht, K. Marx, H. Mann und Erich Kästner.

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–– Zu Art. 5 Abs. 1 und 2 GG (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit): Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg173; G. C. Lichtenberg: „Mehr als das Gold hat das Blei in der Welt verändert. Und mehr als das Blei in der Flinte das im Setzkasten“; Dokumente und Bilder zur Spiegel-Affäre (1962). Freilich auch K. Kraus: „Feuilletonisten und Friseure haben gleich viel mit den Köpfen zu schaffen.“ – Leitenscheidungen BVerfGE 7, 198 (Lüth) – 2008 50 Jahre alt! –; 20, 162 (Spiegel); 93, 266 („Soldaten sind Mörder“), demgegenüber das glückliche Konzept des „Bürgers in Uniform“ für die Bundeswehr (jüngst in Frage gestellt). –– Zu Art. 5 GG Abs. 1 (Informationsfreiheit): Negativerfahrung seit 1939 („Feind hört mit“), Leitentscheidung: BVerfGE 90, 27 (Parabolantenne). –– Zu Art. 5 Abs. 3 GG (Kunstfreiheit): z. B. Buchmalerei174, Nibelungenlied (um 1200); das berühmte Selbstportrait von A. Dürers175, Partituren von J.  S. Bach176 und W. A. Mozart; L. v. Beethovens „Ode an die Freude“: seine Streichung der Widmung der Eroica an Napoleon (1804)177, Autographen von J. W. v. Goethe, H. Janssens Gemälde der drei Lebensalter von Goethe. – BVerfGE 30, 173 (Mephisto); BVerfGE 119, 1 (Esra). – Klassikerzitate: „Die Kunst ist das Gewissen der Menschheit“ (F. Hebbel); „Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ (P. Klee); „Die Kunst gibt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit. Der Dilettantismus folgt der Neigung der Zeit.“ und „Jede Kunst verlangt den ganzen Menschen, der höchstmögliche Grad derselben die ganze Menschheit“ (Goethe); ders.: „Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und verknüpft sich nicht sicherer mit ihr, als durch die Kunst“; Novalis: „Wissenschaft ist nur eine Hälfte, Glauben ist die andere“; „Die Kunst gehört keinem Lande an, sie stammt vom Himmel“ (Michelangelo); „Wenn wir über das Kunstwerk den Künstler vergessen können, damit ist dieser am feinsten gelobt.“ (G. E. Lessing); Goethes Faust178; K. F. Schinkels Wirken in Berlin, z. B. Die neue Wache, 1816179; Filmkunst; z. B. die Nibelungen (Stummfilm)180, in den 60er Jahren der neue deutsche Film181 (z. B. R. W. Fassbinder). – Erweiterung des Kunstbegriffs 173  S. Füssel, Johannes Gutenberg, 2000, mit vielen Bilddokumenten. – Die Illustrationen von L. Cranach zur Lutherbibel (1522) sind abgebildet in: Cranach im Exil, Aschaffenburg um 1540, hrsg. von G. Ermischer u. a., 2007. 174  Abbildungen in F. Walther / N. Wolf, Meisterwerke der Buchmalerei, 2005, S. 138 ff. (Evangilar Heinrichs des Löwen (1175–1188)). 175  Von ihm auch die „Madonna auf dem Halbmond“, um 1500, abgebildet in H. Leicht: Illustrierte Kunstgeschichte der Welt, o. J., S. 453. 176  W. Kolneder / K.-H. Jürgens (Hrsg.), Lebensbilder von J. S. Bach, 1984. 177  Abbildung in: Die Musik, Menschen, Instrumente und Ereignisse in Bildern und Dokumenten, 1979, S. 105. 178  Abbildungen der Titelseite in: J. Göres, Goethes Leben in Dokumenten, 1981, S. 238 f., sowie Lithographien von Einzelszenen z. B. S. 241 (im Kerker). 179  Abgebildet in: N. Pevsner u.  a. (Hrsg.), Lexikon der Weltliteratur, 1971, S. 140; s. auch Schinkel-Museum, Friedrichsverdersche Kirche, 1987. 180  Abbildungen in: J. Brennicke / J. Hembus, Klassiker des Deutschen Stummfilms (1910–1930), 1983, S. 105 ff. 181  Vgl. dazu D. Krusche, Reclams Filmführer, 2000, z. B. der Eintrag zum Film Fassbinders „Angst essen Seele auf “, S. 49 f.



Inkurs II: 60 Jahre Grundgesetz als Kultur und aus Kultur175 durch J. Beuys: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Kommentar des Verf.: „Aber nicht jeder ist ein Beuys“; H. Heine: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“; F. Hölderlin: „Die Kunst ist der Übergang aus der Natur zur Bildung und aus der Bildung zur Natur“; s. aber auch A. Schmidt: „Farbenblindheit ist selten; Kunstblindheit die Regel“.

–– Zu Art. 5 Abs. 3 GG (Wissenschaftsfreiheit): Die „Göttinger Sieben“ (1837, z. B. die Brüder Grimm oder auch F. C. Dahlmann);182 A. v. Humboldts Skizzen seiner Südamerikareisen183; die Erfindungen und Entdeckungen deutscher Wissenschaftler (beispielsweise der chemischen Strukturformel des Benzols A. Kekulés (1865)). – „Die Wissenschaften gehen vorwärts nicht im Zirkel, aber in einer Spirallinie – dasselbe kommt wieder, aber höher und weiter“ (Goethe); „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren“ (Goethe), derselbe aber auch kritisch: „Die Professoren und ihre mit Zitaten und Noten überfüllten Abhandlungen, wo sie rechts und links abschweifen und die Hauptsache vergessen machen, vergleiche ich mit Zughunden, die, wenn sie kaum ein paar Mal angezogen haben, auch schon wieder ein Bein zu allerlei bedenklichen Verrichtungen aufheben, so dass man mit den Bestien gar nicht vom Flecke kommt, sondern über Wegstunden tagelang zubringt.“ Aus der Judikatur des BVerfG: E 35, 79 (Gruppenuniversität); 94, 268 (Wissenschaftliches Personal). –– Zu Art. 6 GG (Ehe und Familie): Bilder der deutschen Familie und ihres Wandels, etwa dokumentiert in dem Band von I. Weber-Kellermann184. Vgl. auch den Gleichstellungsauftrag in Bezug auf uneheliche Kinder in Art. 6 Abs. 5 GG: BVerfGE 25, 167 (Nichtehelichkeit); 44, 1 (Nichtehelichen-Erbrecht); im Übrigen E 6, 55 (Zusammenveranlagung); 105, 313 (Lebenspartnerschaftsgesetz); I. Kant, „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“. –– Zu Art. 7 GG (Schulwesen): Leitentscheidungen: BVerfGE 52, 223 (Schulgebet); 93, 1 (unseliger Anti-Kruzifixbeschluss); 98, 218 (Farce „Rechtschreibreform“); 108, 282 (Kopftuch)185; „Wenn wir die Menschen nur nehmen wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“ (Goethe); „wissenschaftlicher Optimismus“ im Verfassungsrecht als Eigenzitat des Verfassers: „Wenn man die Dinge so negativ sieht, wie sie zu sein scheinen, macht man sie schlechter, als sie sein können“ (Antithese zum „wissenschaftlichen Pessimismus“ eines H. Schelsky). 182  Abbildungen von J. und W. Grimm in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 232. 183  Die W. von Humboldt-Statue vor der Humboldt-Universität zu Berlin als Pendant, Abbildung in: K.-D. Gandert, Vom Prinzenpalais zur Humboldt-Universität, 3. Aufl. 1992, S. 4; s. auch O. Krätz, A. von Humboldt, Wissenschaftler, Weltbürger, Revolutionär, 2. Aufl. 1997 (mit großen Zitaten, etwa zum Umweltschutz und gegen die Misshandlung von Sklaven). 184  I. Weber-Kellermann, Die deutsche Familie, 1996. 185  Vgl. auch P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

–– Zu Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit): „Wir sind das Volk“ (aktualisierter Klassikertext von G. Büchner)186, Montagsdemonstrationen in Leipzig (1989). – Leitentscheidungen: BVerfGE 73, 206 (Sitzblockaden, Mutlangen: H. Böll, W. Jens); Demonstrationsfreiheit187: R. Dutschke mit R. Dahrendorf in Freiburg / Br. (1968); BVerfGE 85, 89 (Eilversammlung). –– Zu Art. 9 GG (Vereinigungsfreiheit): Gewerkschaften, „Solidarnosc“ 1981, ihre europaweite Wirkung, insbes. auch im Blick auf den Mauerfall im deutschen Berlin (1989), der polnische Papst Johannes Paul II.; Leitentscheidung BVerfGE 80, 244 (Vereinsverbot). –– Zu Art. 10 GG: BVerfGE 109, 279 („großer Lauschangriff “); 100, 313 (Rasterfahndung). Repräsentativ die Aufarbeitung der Thematik im Oscar-prämierten Film „Das Leben der Anderen“ (2006). –– Zu Art. 11 GG (Freizügigkeit): Gegenwirklichkeit: das Ausreiseverbot in der Ostzone; „Kopfgeld“ seitens der Honecker-DDR sowie im Rumänien Ceausescus; BVerfGE 110, 177 (Spätaussiedler). –– Zu Art. 12 GG (Arbeit): BVerfG 12, 377 (397): „[Die] Arbeit als „Beruf “ hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde“; aus dem Theater: G. Hauptmanns Drama „Die Weber“ (1892). – Leitentscheidungen BVerfG E 7, 377 (Apothekenurteil); 50, 290 (Mitbestimmung; Berichterstatter K. Hesse); Berufsverbot für E. Nolde (1937–1945: „ungemalte Bilder“); BVerfGE 33, 303 (Numerus clausus); E 115, 276 (Sportwetten). –– Zu Art. 13 GG (Wohnung): Wohnung als „räumliche Privatsphäre“ (BVerfGE 32, 54). –– Zu Art. 14 GG (Eigentum): „Eigentum ist Diebstahl“, aber auch „Eigentum ist Freiheit“, Eigentum verpflichtet (Abs. 2): Verantwortung: BVerfGE 58, 300 (Nass­ auskiesung); BVerfGE 100, 226 (Denkmalschutz). – Klassikerzitat Goethe: „Erwirb es, um es zu besitzen“; Schutz des geistigen Eigentums: BVerfGE 31, 229 (Schulbuchprivileg); 36, 281 (Patentrechte); 51, 193 (Marken); Bild eines deutschen Schrebergartens mit Nationalflagge. –– Zu Art. 15 GG (Sozialisierung): die „vergessene“ (?) Sozialisierung. Anti-Vorgang in der DDR: Zwangskollektivierung, Gründung der LPGs (ca. 1950–1960). –– Zu Art. 16a (Asylrecht): bekannte, nach 1933 Ausgewanderte (z. B. H. und T. Mann, B. Brecht, A. Döblin, L. Feuchtwanger, A. Grosser, P. Hindemith, R. Musil, E. M. Remarque, K. Tucholsky, K. Weill, S. Zweig); aus der Judikatur des BVerfG: E 94, 49 (Sichere Drittstaaten); E 94, 166 (Flughafenverfahren). –– Zu Art. 17 GG (Petitionsrecht): Überreichung von Petitionsschriften; aus der Verfassungsgeschichte: 1849 Angebot der deutschen Kaiserkrone durch Frankfurter Abgeordnete an den preußischen König, der ablehnt (oft gemalt); BVerfGE 49, 24 (Kontaktsperregesetz). 186  E. Kuhn, „Wir sind das Volk“, die friedliche Revolution in Leipzig, 9. Oktober 1989, 1992. 187  s. auch den Band F. Duve / H. Böll / K. Staeck (Hrsg.), Briefe zur Verteidigung der Republik, 1977.



Inkurs II: 60 Jahre Grundgesetz als Kultur und aus Kultur177

–– Zu Art. 18 GG (wehrhafte Demokratie): zusammen mit Art. 21 Abs. 2 und 9 Abs. 2 ein Stück „Anti-Weimar“ im GG, Verbot der KPD, vgl. BVerfGE 2, 1; 5, 85. –– Zu Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver Rechtsschutz): Horrorbild von G. Orwell „1984“, irreführend von der Apo, Gewerkschaften und Teilen der linken Jugend verwendet beim Streit um die Notstandsverfassung (1968 / 69), die von der Großen Koalition (K. G. Kiesinger / W. Brandt) gegen Prominente wie H. M. Enzensberger, M. Walser, E. Bloch verabschiedet wurde; Judikatur des BVerfG als ständige Verfeinerung von Art. 19 Abs. 4 (etwa E 35, 263 (274), st. Rspr., etwa E 108, 341 (347)). –– Zu Art. 20 Abs. 1 GG (Demokratie): Vorgeschichte: Wartburgfest 1818, 1848188; „Der Zug der Republikaner auf das Hambacher Schloss“ (1832)189; Frankfurter Paulskirche190 (die Aufbarung der März-Gefallenen vor der Neuen Kirche auf dem Gendarmenmarkt in Berlin (1848))191; Weimarer Nationalversammlung (Nationaltheater); die Glaskuppel des Reichstages von Sir N. Foster192, Motto über dem Reichstag zu Berlin: „Dem Deutschen Volke“. –– Zu Art. 20 Abs. 1 GG (Bundesstaat): Bundesrat in Berlin (Wappen im Plenarsaal), kulturelle Vielfalt193, 16 unterschiedliche Länderflaggen bzw. -wappen, kulturelle Bundesstaatstheorie194; intensivierte Wahrnehmung der Verfassungsautonomie der Länder insbes. in den fünf „neuen“ Bundesländern; besondere Eigenstaatlichkeit Bayerns195 (evtl. suggestive Bildbände); Unverzichtbarkeit der Stadtstaaten; Kulturpolitik in den Ländern, z. B. der Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche196 oder die Pflege Dresdens als „Elbflorenz“; Föderalismusreform I und II. –– Zu Art. 20 Abs. 1 (Bundesrepublik): Ausrufung der Republik am 9. November 1918 (Balkonbild). –– Zu Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaat): Klassikertext von H. Heller, BVerfGE197 1, 97 (Hinterbliebenenrente); 82, 60 (steuerfreies Existenzminimum), aber auch Fotos der Suppenküchen in München und Berlin (2008). in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  216. in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  234. 190  Abbildung des festlichen Aufzugs zur Eröffnung in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  275. 191  Abgebildet in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  271. 192  Abgebildet in Deutscher Bundestag, Einblicke, 2005, S. 5 und Umschlagseite. 193  Aus geschichtlicher Perspektive dokumentiert in E. Steingräber (Hrsg.), Schatzkammern Europas, 1968, S. 45 ff.: Die Schatzkammer der Residenz München; S. 59 ff.: Das grüne Gewölbe, Dresden. 194  P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 10 ff., sowie in ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 68 f.; ders., Föderalismus, Regionalismus und Präföderalismus als Elemente gemeineuropäischer Verfassungskultur, in: I. Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I 2012, S. 251 ff. 195  Dokumentiert etwa in H. Fehn, Luftbildatlas Bayern, 1973. 196  Dokumentiert in Stiftung Frauenkirche Dresden, Die Frauenkirche zu Dresden, 2005. 197  Später: P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43  ff.: „Grundrechtspflichten des Staates“, Grundrechtsschutz durch Verfahren („status activus processualis“). 188  Abbildung 189  Abbildung

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

–– Zu Art. 20 Abs. 2 GG (Volkssouveränität): „Kultur ist der Geist, der ein ganzes Volk verbindet, eine Menschenmasse wird zu einem Volke nur durch den Besitz einer gemeinsamen Kultur“ (G. Radbruch); R. Dahrendorf: „Bürgerrechte sind Teilnahmechancen“; die poetische Provokation: B. Brecht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin?“ –– Zu Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip, insbes. „Gesetz und Recht“): BVerfGE 39, 1; 39, 168; 95, 96 (Mauerschützenurteile), die Radbruch’sche Formel; J. W. v. Goethe: „Es erben sich Gesetz’ und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort.“; weitere Klassikerzitate von Goethe: „Im Auslegen seid frisch und munter | Legt ihrs nicht aus, so legt was unter.“ Sowie: „Gerechtigkeit: Eigenschaft und Phantom der Deutschen“; I. Kant: „Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden“; aus der bildenden Kunst A. Dürer, „Christus als Sonne der Gerechtigkeit“ (1498  /  99)198; „Gerechtigkeitsbilder“: Schöner Brunnen in Nürnberg (1385–96)199. –– Zu Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht): im Rückblick: „Weiße Rose“ in München (1943); D. Bonhoeffer, 20. Juli 1944: Graf Stauffenberg; ziviler Ungehorsam in der freiheitlichen Demokratie (?), evtl. APO als Stichwort; filmische Bilddokumente der Straßenkämpfe in Frankfurt / M. mit J. Fischer; BVerfGE 5, 85 (KPD-Verbot). –– Zu Art. 20 a GG: C. D. Friedrich (Naturbilder, z. B. Rügen); sterbende Wildente am Strand nach einer Ölpest an der Nordsee; Gaia, Der Öko-Atlas unserer Erde, 1984; Weltkulturerbe der UNESCO, Beispiele in Deutschland200: Aachener Dom, klassisches Weimar, Museumsinsel in Berlin, Wartburg, Berlin-Potsdam, Dresdener Elbtal (Streit um die Waldschlösschenbrücke als Posse: Demokratie gegen Kultur), Dessau mit dem Bauhaus201, Quedlinburg, Lübeck, Lorsch, Bamberg, Kloster Maulbronn, Wörlitz, Stralsund / Wismar. – Klassikerzitate: „Wer die Natur als göttliches Organ leugnen will, der leugne nur gleich alle Offenbarung“ sowie „Die Natur verbirgt Gott! Aber nicht jedem!“ (Goethe). –– Zu Art. 21 GG (Parteien): Bilder zur (Wieder-)Gründung der Parteien nach 1945, ihre Programme; Leitentscheidungen: BVerfGE 5, 85 (KPD-Verbot); E 20, 56 (Parteienfinanzierung); BVerfGE 107, 339 (gescheitertes NPD-Verbotsverfahren). – Anti-Text von Wilhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ (1914); Gegentext zu Art. 38 GG: O. v. Bismarck: „In der Fraktion verliert der Volksvertreter den Blick für das Allgemeine“; aber wichtig K. Jaspers: „Es darf keine Freiheit geben zur Zerstörung der Freiheit.“ –– Zu Art. 22 GG (Hauptstadt, Bundesflagge202): H. Kohls Spatenstich zum Kanzleramt, Bilder vom Berlin-Umzug (1999), Kulturhauptstadt Berlin?; Europäische 198  Abgebildet in W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, 1988, S. 49. 199  Abgebildet in W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), a. a. O., S. 87. 200  Vgl. den Band Schätze der Menschheit, Kulturdenkmäler und Kulturparadiese unter dem Schutz der UNESCO, 7. Aufl. 2000. 201  Der Walter-Gropius-Bau in Dessau ist abgebildet in W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), a. a. O., S.  228. 202  Vgl. P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S.  989 ff.; ders., Nationalflaggen als bürgerdemokratische Identitätselemente und



Inkurs II: 60 Jahre Grundgesetz als Kultur und aus Kultur179 Kulturhauptstädte im Wechsel (Melina Mercouri); Bonn als Bundesstadt; BVerfGE 81, 278 (Verunglimpfung der Bundesflagge).

–– Zu Art. 23 a. F. GG: Bilder des Beitritts der Noch-DDR, 1990 (Volkskammer). –– Zu Art. 23 n. F. GG (Europa): Bild- und Textband M.-L. v. Plessen (Hrsg.), Idee Europa, Entwürfe zum „Ewigen Frieden“, Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union, 2003, hier insbesondere die Reiterstatue Karls des Großen, „Die Seeschlacht bei Lepanto“ (J. Amman, 1571), Bilder von der Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957)203. – Leit­ entscheidungen BVerfGE 37, 271 (Solange I); 73, 339 (Solange II); 89, 155 (Maastricht). – Aus der „schönen Literatur“ der – im Blick auf das „europäische Deutschland“ (T. Mann) angebrachte – Satz von P. Valéry (1924): „Allmählich baut sich dieses Europa auf wie eine ungeheure Stadt“204; Goethe: „Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem es auch seinerseits zu tun … Die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit“; Goethe: „Weimar hat den Ruhm einer wissenschaftlichen und kunstreichen Bildung über Deutschland, ja über Europa verbreitet“; Goethe: „In dem Augenblick, da man (in Europa) überall beschäftigt ist, neue Vaterlande zu erschaffen, ist für den unbefangen Denkenden, für den der sich über seine Zeit erheben kann, das Vaterland nirgends und überall.“ –– Zu Art. 24 GG (Völkerrecht, Frieden): das europaweit berühmte Bild von A. Lorenzetti in Siena (um 1338: „Die gute Regierung, von Tugenden umgeben“205), das Gemälde von G. Terborch: „Allegorie auf Hugo Grotius und den Westfälischen Frieden“ (Mitte 17. Jh.)206, der Friede von Münster und Osnabrück (1648)207; I. Kants Traktat Zum Ewigen Frieden (1795); BVerfGE 118, 244 (Tornado-Einsatz in Afghanistan); Weltoffenheit, Völkerfreundlichkeit. –– Zu Art. 25 GG (Geltung des Völkerrechts): Negativergebnis: wohl keine spezifisch deutschen Bilddokumente, aber Schlachtengemälde ohne Zahl, z. B. Friedrich II. in der Schlacht bei Zorndorf (1782)208. – Klassikerzitate: G. Benn: „Geschichtsbildend sind nicht die Kriege, sondern die Kunst“; B. Brecht: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ – Verfassungstheoretische Textbasis für eine „Verfassungslehre des Völkerrechts“ internationale Erkennungssymbole, 2008, mit der These vom „konstitutionalisierten Flaggen-Völkerrecht“. Das SRÜ der UNO ist eine Teilverfassung der Meere; das Völkerrecht hat viele Teilverfassungen, etwa die Behindertenrechtskonvention der UN, die den universalen Konstitutionalismus bereichern. 203  Abgebildet in Idee Europa, a. a. O., S. 325. 204  Zit. nach Idee Europa, a. a. O., S. 223. 205  Abgebildet und kommentiert in R. Starn, A. Lorenzetti, Palazzo Publico a Siena, 1996. Es wird auch verwendet als Titelbild des Kompendiums der Soziallehre der Kirche, Herder, 2004. 206  Abgebildet in Idee Europa, a. a. O., S. 129. 207  Abbildungen in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 88 f.: der Friedenssaal in Münster, 1648. 208  Abgebildet in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  129.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

und das Verständnis des Völkerrechts als verfassungsstaatlichen Grundwert; Leitentscheidung: BVerfGE 109, 38 (Auslieferung bzw. „Entführung“ durch List). –– Zu Art. 28 Abs. 2 GG (kommunale Selbstverwaltung):209 Kultur der Hansestädte; Bildnis des Freiherrn v. Stein210; Bild- und Textband L. Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, 1993; R. Buchner, Deutsche Geschichte im Europäi­ schen Rahmen, 1975; C. Meckseper, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter, 1982, mit reicher Dokumentation, etwa die Marienkirche in Lübeck, S. T 104; aus der Judikatur des BVerfG: E 22, 180; 50, 195; 91, 228. –– Zu Art. 38 Abs. 1 GG (Abgeordnetenstatus): Leitentscheidungen: BVerfGE 40, 296 (Diätenurteil); 80, 188 („Wüppesahl“); Bilder und Dokumente zur deutschen Parlamentarismusgeschichte (Paulskirche, Bismarck; Verf., Weimarer Verf.; Ermächtigungsgesetz (1933); Bonn, Berlin, Reichstag (Kuppel von Sir N. Foster). –– Zu Art. 42 GG (Öffentlichkeit der Plenarsitzungen des Deutschen Bundestags): Bilddokumente vom Deutschen Bundestag – „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (J. Habermas, 1962), Öffentlichkeit als „Sauerstoff der Demokratie“ (G. Heinemann); BVerfGE 70, 324 (Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste). –– Zu Art. 62 GG (Bundesregierung): L. Börne: „Regierungen sind Segel, das Volk ist Wind, der Staat ist Schiff, die Zeit ist See.“ –– Zu Art. 67 GG (konstruktives Misstrauensvotum): gescheitert 1972: R. Barzel gegen W. Brandt; geglückt 1982: Bilder des Glückwunsches von H. Schmidt an H. Kohl; Art. 67 GG als „Anti-Weimar“ (negative Erfahrungen aus der Geschichte!), vergleiche freilich: BVerfGE 62, 1 (Bundestagsauflösung  /  Vertrauensfrage von H. Kohl; E 114, 121 (dasselbe für G. Schröder). –– Zu Art. 70 ff. GG (Gesetzgebung): Klassikerzitate von Goethe: „Wer ein Gesetz verfasst, betrachte den Sinn seiner Zeiten.“, „Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht, Junge und Weiber wollen die Ausnahme, Alte die Regel.“ –– Zu Art. 75 Ziff. 21 und Art. 87 Abs. 1 GG (Wasserstraßen): C. Magris, Donau – Biographie eines Flusses, 1988; das Gedicht: H. Heine, Die Loreley (am Rhein); L. Geiges, Der Hochrhein, 1984 (mit vielen Abbildungen). –– Zu Art. 92 GG (Gerichtsbarkeit): als Beispiel für den „Mythos des Rechts“ R. v. d. Weyden, Michael als Seelenwäger (1450)211; insbes. auch das BVerfG als „Bürgergericht“ (P. Häberle, JöR 45 (1997), S. 89 (112 ff.); „Richterbilder“ im JöR, z. B. E. Benda über K. Hesse (JöR 55 (2007), S. 509 ff.), zuvor erstmals T. Ritterspach über H. Höpker-Aschoff (JöR 32 (1983), S. 55 ff.); der berüchtigte Gegentext: „Der Führer schützt das Recht“ (C. Schmitt aus Anlass der Ermordung der Beteiligten am Röhm-Putsch 1934 am Tegernsee). 209  Vgl. dazu P. Häberle, Die europäische Stadt – Das Beispiel Bayreuth, Bay­ VBl. 2005, S. 161 ff.; zuvor ders., Kulturpolitik in der Stadt, 1979. Als Bildband ist vielfältig einschlägig: Merian Topographia Germaniae, Schwaben 1643, z. B. mit Graphiken von Augsburg und Tübingen (Neue Ausgabe 1960). 210  Abgebildet in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S.  175. 211  Abgebildet in W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, 1988, S. 41.



Inkurs II: 60 Jahre Grundgesetz als Kultur und aus Kultur181

–– Zu Art. 103 GG (rechtliches Gehör): Goethe: „So üb ich nun des Richters erste Pflicht: Beschuldigte zu hören. Rede denn!“ (vgl. BVerfGE 65, 227; 107, 395). –– Zu Art. 109 GG (Staatsverschuldung): „Schuldenberg“-Rede von F. J. Strauss (1978): „Dieser Berg übertrifft den höchsten deutschen Berg, die Zugspitze, erheblich, nämlich um das Vierfache der Höhe des Kölner Doms“212 – vgl. jetzt die Diskussion um die „Schuldenbremse“ in Deutschland und Europa (2011 / 12). –– Zu Art. 116 Abs. 1 GG (deutsche Staatsangehörigkeit): „Selbst im Fall einer Revolution würden die Deutschen sich nur Steuerfreiheit, nie Gedankenfreiheit zu erkämpfen suchen.“ (F. Hebbel) – widerlegt durch die friedliche Revolution in Ostdeutschland; Deutsche als „Volk der Dichter und Denker“; zum 1. Sept. 2008: Deutschlandkunde-Test für Einwanderer; BVerfGE 85, 128 (Bekenntnis zum deutschen Volkstum). –– Zu Art. 140 GG: historische Vorstufe: „Thron und Altar“ in Deutschland, seit Weimar (1919) „hinkende Trennung“ zwischen Staat und Kirche, heute „Religionsverfassungsrecht“213 (mit dem Prinzip der Religionsfreundlichkeit), statt „Staatskirchenrecht“ („Es gibt keine Staatskirche“214 – ernst genommen); Leitentscheidungen: BVerfGE 19, 129 (Umsatzsteuer); 93, 1 (Antikruzifix-Beschluss); 108, 282 (Kopftuch der Lehrerin). –– Zu Art. 139 WRV (rezipiert über Art. 140 GG, Sonn- und Feiertagsgarantien215): Dokumente zu Gewerkschaftsfeiern des 1. Mai, aber auch zu Krawallen in Hamburg und Berlin, 2008; die Instrumentalisierung des 1. Mai im NS-Deutschland, seit 1933216. – Demokrit: „Ein Leben ohne Feste ist eine weite Reise ohne Gasthaus.“ –– Zu Art. 146 GG: gesamtdeutsche Verfassung in der Zukunft – eine „konkrete“? Utopie (die Alternative 1990: Art. 23 GG (Beitritt) oder Art. 146 GG (neue gesamtdeutsche Verfassung mit Volksentscheid)); Leitfälle: BVerfGE 89, 155 (Maastricht); 123, 267 (Lissabon). Deutschland hätte allen Grund, nicht ohne Stolz analog dem Vorbild Italiens die Leitsätze der genannten großen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, etwa zu Art. 5, 6, 9, 13 und 14 GG, parallel abzudrucken und durch ehemalige BVerfGRichter und große Staatsrechtslehrer kommentieren zu lassen. Ein noch reizvolleres Projekt wäre es, auf gemeineuropäischer Ebene die EU-Grundrechtecharta (2000 / 2007) kulturwissenschaftlich zu unterfüttern. Dann ließen sich auch Länder wie Griechenland, Spanien, Frankreich, die Niederlande, Polen, Dänemark, Österreich, Ungarn sowie Großbritannien (noch ohne geschriebene Verfassung) und die Baltenländer einbeziehen (künftig auch Kroatien, 2013, und Serbien). 212  Zit.

nach FAZ vom 07. Oktober 2005. 1976, S. 452 ff.; s. noch unten: S. 633 ff. 214  Kunsthistorisch schon fast klassisch: H. Maier, Die Kirchen und die Künste, 2008. 215  P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1988, 2. Aufl. 2006; ders., Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; BVerfGE 111, 10 (Ladenschluss). 216  Abbildung in Süddeutsche Zeitung vom 26. / 27. April 2008, S. VI: Die Nazis etablierten den 1. Mai in Deutschland als staatlichen Feiertag und funktionierten ihn gleichzeitig zum völkischen Versöhnungsfest um. 213  DÖV

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

Vergegenwärtigt man sich die UN-Menschenrechtspakte von 1966, so ist es nicht vermessen, nicht nur die erklärten Weltkulturerbe-Stätten, sondern auch bislang nur informelle Hervorbringungen („Ergebnisse“) des Kraftfelds der universalen Grundrechts-Artikel zu dokumentieren, auch die Internationalen Gerichte. Ausblick „Verfassung aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“ wird jetzt als allgemeines Programm sichtbar. Was ist speziell der Sinn – gelebter – Verfassungstage? Sie sollen die Inhalte und Funktionen der Verfassung vergegenwärtigen – bis hin zu ihrem „konstitutionellen Utopiequantum“ (seinerzeit in Deutschland die Wiedervereinigung gemäß der Präambel von 1949, 1989 zur Wirklichkeit geworden). Sie sollen die spezifischen Verfassungswerte in Erinnerung rufen und für die jungen Bürger die Verfassung „als Erziehungsziel“ wirken lassen217: darum die Überreichung eines Textes der bayerischen Verfassung von 1946 an die Schulabgänger (Art. 188 BV; ein älteres Beispiel, fast gleichlautend: Art. 108 S. 2 Verf. Danzig von 1930218). Das gemeinsame Feiern am Verfassungstag soll maßvollen Stolz auf das Erreichte zum Ausdruck bringen, aber auch Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft formulieren, etwa im Blick auf die europäische Einigung. Wie bei anderen Feiertagen, wie beim Beflaggen oder „Flagge zeigen“ entsteht ein Stück Vergemeinschaftung im Namen der Verfassung. Beteiligt sein sollen möglichst viele Bürger; doch darf, anders als in totalitären Staaten, niemand zur Teilnahme gezwungen werden. Vor allem soll pluralistische Öffentlichkeit hergestellt werden – etwa durch Straßenfeste, Umzüge, Ausstellungen, aber auch eher wissenschaftlich-akademisch durch Festveranstaltungen. Aufgabe der Wissenschaft ist es, zumal der Verfassungsrechtslehrer, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit mit ihren Methoden und in kulturwissenschaftlicher Tiefendimension aufzubereiten. Freilich: Auch die ganze offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten ist gefordert (bis zum Völkerrecht). Im Ganzen: Viele Hervorbringungen von Kunst und Kultur lassen sich als „Kommentar“ zu den nationalen Verfassungsartikeln lesen. Umgekehrt verdanken sich viele Verfassungsnormen in der Tiefe letztlich der Kultur. Speziell das Grundgesetz, mittlerweile selbst in Europa zu einer Teilverfassung geworden, wird in diesem Versuch durch Kultur illustriert: ein kultureller GG-Kommentar wird möglich – eine Variante zu den Hunderten von nur juristischen Kommentaren, die noch vergäng­ licher sind als alles andere Menschenwerk. Vielleicht wird auch ein Stück der Möglichkeiten einer universalen Verfassungslehre erkennbar: in einem Falle.

217  Vgl. dazu P. Häberle, Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: FS H. Huber, 1981, S. 11 ff. 218  Zit. nach F. Wittreck (Hrsg.), Weimarer Landesverfassungen, 2004, S. 851; s. auch Art. 50 Verf. Braunschweig von 1922: „Diese Verfassung ist Lehrgegenstand in den Schulen“, vgl. Wittreck, a. a. O., S. 162. Mitunter lässt sich auch eine ganze Verfassung als Symbol verstehen, vgl. M.  P. Singh / S.  Deva, The Constitution of India: Symbol of Unity and Diversity, JöR 53 (2005), S. 649 ff. – Konstitutionelles Textmaterial zu Symbolen: Art. 3 bis 8 Verf. Sierra Leone (1991), mit einer Kontextklausel in Art. 7; Art. 2 und 3 Verf. Gambia (1997).



Inkurs III: Das GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen   183

Inkurs III: Das GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen Einleitung219 Was haben J. Haydn, F. Mendelssohn-Bartholdy, A. Lincoln und C. Darwin gemeinsam? 2009 ist für alle ein Jubiläumsjahr! Was verknüpft A. v. Canterbury, G. F. Händel, A. v. Humboldt220, E. A. Poe, Wilhelmine von Bayreuth und den Eisvogel? Sie alle werden im Jahre 2009 geehrt, sei es wegen Geburt, wegen Todes oder wegen Artenschutzes. Was verbindet zudem J. Calvin, das mare librum (H. Grotius), F. Schiller, das deutsche Jugendherbergswerk und die deutsche Kriegsgräberfürsorge, ja sogar den Europarat und die Nouvelle Vague? Auch ihre Existenz jährt sich in diesem Jahr zum 500., 400., 250., 100., 90. oder 50. Mal. Was eint zuletzt noch Polens „Runder Tisch“221, das annus mirabilis 1989, die Weimarer Verfassung von 1919 sowie das deutsche Grundgesetz? Ebenfalls das Jubiläumsjahr 2009!  Inkurs III: Das GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen  

„Ringvorlesungen“ sind eine eigene Wissenschafts- und Literaturgattung, zumal in Deutschland. Man darf ihnen das Attribut „klassisch“ verleihen. Werden sie zu einer Art „akademischer Verfassungstag“222 wie heuer in Bonn für das zu Recht allenthalben stolz gefeierte223 60 Jahre alt gewordene GG224 – Stichworte sind die 219  Abschlussvortrag in der Ringvorlesung in Bonn Juli 2009, (hier in den Fußnoten überarbeitete) Erstveröffentlichung in: C. Hillgruber / C. Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz, eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 173 ff. 220  Vgl. M. Geier, Die Brüder Humboldt, eine Duografie, 2009. 221  Der Verf. hat den Runden Tisch Polens oft als „kulturelles Gen“ der Menschheit bezeichnet (z. B. in Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 31, 82, 614, 621), auch im Blick auf König Artus’ Tafelrunde, dies wird jetzt Gemeingut, vgl. zuletzt FAZ vom 4. April 2009, S. 10: „Ritter der runden Tafel, Wie Polens Kommunisten unversehens die Macht entglitt.“ – s. FAZ vom 31. März 2009, S. 34: „Helden des Rückzugs?, Polen streiten über den Runden Tisch von 1989.“ Der dt. Runde Tisch gegen den Missbrauch von Kindern (2011). 222  Eindruckvoll für die Schweiz der Band: Zehn Jahre neue Bundesverfassung, hrsg. von A. Epiney u. a., 2009; für Österreich: FS 75 Jahre Bundesverfassung, 1995, hrsg. von der Österreichischen Parlamentarischen Gesellschaft. 223  Freilich waren die Pläne für das Grundgesetzjubiläum in Berlin schon im Vorfeld als „geschichtsfern“ kritisiert worden: „Blamage im Verzug“, FAZ vom 6. Februar 2009, S. 31; „Auto-Gala und Markenparade“, SZ vom 31. Januar / 1. Februar 2009, S. 13; beim Verfassungsjubiläum trat dann nur der soeben wiedergewählte Bundespräsident auf. Gespielt wurde u. a. die Neunte Sinfonie von Beethoven, Der Spiegel 17 / 2009, S. 19. Positiv erschienen vorab demgegenüber nur die Vorhaben der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), „Nacht der Demokratie“ in Bonn, vgl. FAZ vom 28. Februar 2009, S. 33. Allerdings zeigte sich, dass das Berliner Bürgerfest erfreulich großen Zulauf hatte. Auf der Straße des 17. Juni stellten sich Institutionen u. a. wie Bundestag, BVerfG und einzelne Länder vor; s. aus der Presse: „Sechzig Jahre Glück gehabt“, FAZ vom 25. Mai 2009, S. 29; „Deutsche, schwerelos“, Rheinischer Merkur 22 / 2009, S. 18. 224  Schon zum 50-jährigen Jubiläum gab es den Prachtband Die deutschen Verfassungen, 1849–1871–1919–1949, hrsg. von J. Limbach u. a., 1999; sodann T. Ell-

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

„bewährte Verfassung“, das „akzeptierte Grundgesetz“ (so der Titel unserer Festschrift für G. Dürig, 1990)225, die normative Kraft der Verfassung (K. Hesse) –, so ist das Glück vollkommen (Kriterien für die „Bewährung“ einer Verfassung sind226: das grundsätzliche Einverstandensein möglichst vieler Bürger mit der Verfassungswein / E. Holtmann (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, PVS Sonderheft 30 / 1999. Aus der damaligen wissenschaftlichen Lit. grundlegend: H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz – in der Beleuchtung des Handbuch des Staatsrechts, in: Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 ff. Vgl. heute etwa die Ausstellung im Deutschen Historischen Museums in Berlin „Im Namen der Freiheit. Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Deutschland 1849–1919–1949–1989“, 2009. – Auch die Printmedien nehmen sich des Themas an, z. B. Der Spiegel Nr. 7 / 2009: „Die Biografie einer Republik, sechzig deutsche Jahre“. Die Zeit vom 19. März 2009, S. 52: „Unser Buch der Freiheit“ (Rezensionen von P. Zolling, Das Grundgesetz, 2009; sogar die Zeitung „Bild“ veranstaltet zum Geburtstag der Bundesrepublik die große Kunstaktion „60 Jahre, 60 Werke“ (Bundesausgabe vom 31. März 2009, S. 8); die Zeitschrift „Der Stern“ bringt ein Extraheft heraus: „60 Jahre Bundesrepublik“. K.-S.  Fessel / M. Schwarz / Y. Kawamura (III.): GG, was ist das? (Vorwort von J. Limbach, 2009). Bemerkenswert auch die Serie der „Zeit“ (Die Zeit vom 19. März 2009). Der Nordbayerische Kurier veranstaltet eine Umfrage als Serie zum 60. Geburtstag des GG: „Wie haben Sie das Jahr 1949 erlebt?“, NBK vom 31. März 2009, S. 11. – Die F.-Thyssen-Stiftung veranstaltete vom 24.–26. März 2009 ein Kolloquium zum 60-jährigen Jubiläum des GG in Berlin mit Referaten u. a. von H. Schambeck: Das GG und seine Bedeutung für die neue Ordnung des integrierten Europa oder P. Cruz Villalón: Das GG in der spanischen Verfassungsentwicklung (1978–2008) sowie G. Ress: Das GG im Rahmen des europäischen Menschenrechtsschutzes. – Die europäische Akademie Berlin führt zusammen mit Fakultäten der Universität Potsdam im Mai 2009 ebenfalls eine Tagung „60 Jahre Grundgesetz“ durch. Referenten sind u. a. Ministerpräsident a. D. L. de Maizière sowie R. Mußgnug. – Das erste Fernsehprogramm zeigte am 23. Mai 2009 eine Dokumentation: „Wie es begann – eine Zeitreise zum Grundgesetz“, auch Kindern will es die Verfassung mit einer eigenen Sendung nahebringen (FAZ vom 20. Mai 2009, S. 36). Die Hanns-Seidel-Stiftung in München veranstaltete am 20. Juli 2009 eine Tagung „60 Jahre Bundesrepublik – Eine internationale Erfolgsgeschichte“. Zuletzt organisierte die Europäische Akademie Berlin im Mai 2009 eine Tagung „60 Jahre Grundgesetz“. – Auch auf dem Buchmarkt werden die 60 Jahre Grundgesetz, z. T. popularwissenschaftlich, gefeiert: z. B. C. Bommarius, Das Grundgesetz. Eine Biographie, 2009; M. Steinbeis / M. u. S. Detjen, Die Deutschen und das Grundgesetz, 2009; H.-P. Schwarz (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, 2008; H. Prantl / R. Probst (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Wohlstand, 2009. 225  s. auch die Allensbacher Repräsentativumfrage, die zu dem Ergebnis kommt: „Die angesehene Verfassung“, FAZ vom 20. Mai 2009, S. 5; s. noch die Umfrage der „Identity-Stiftung“ zum Nationalgefühl: „60 Prozent der Deutschen sind stolz, Deutsche zu sein“, FAZ vom 30. April 2009, S. 5. 226  Dazu schon P. Häberle, Verfassungsentwicklung und Verfassungsreform in Deutschland, in: Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Kolloquium zum 60. Geburtstag von R. Novak, 2000, S. 41 (60). – Zuletzt P. Lerche, „Bewährung“ des Grundgesetzes?, FS Herzog, 2009, S.  265 ff.



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entwicklung (Stichwort: Akzeptanz, Legitimität, nicht zuletzt dank Verständlichkeit und Übersichtlichkeit der Verfassungstexte) – die Erziehungsziele haben hier ihren Ort (gemeindeutsch etwa: Respekt vor der gleichen Würde des anderen, Verantwortungsgefühl, Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt, soziale Gerechtigkeit, Völkerversöhnung), sodann eine Balance zwischen Konsens und Dissens aller Bürger und Gruppen im Rahmen der Verfassung und ihrer Zivilgesellschaft (Stichwort: friedliche Konfliktaustragung, Integrationsleistung), die Bewältigung der kurz-, mittel- und langfristigen Aufgaben „im Laufe der Zeit“ (Stichwort: Sicherung eines menschenwürdigen Lebens in regionaler, ja globaler Perspektive, auch für „künftige Generationen“), all dies unter den Hauptzielen von Gerechtigkeit (verstanden als Wahrheit des Rechts), Gemeinwohl, Friedensbewahrung nach innen und außen (Kooperation) sowie Wahrheitssuche im Dienst der Menschen und Bürger – im Rahmen einer Verfassung, die Macht begrenzt, Staatsaufgaben und -funktionen etabliert und den drei sinnstiftenden kulturellen Instanzen der Religionen, Wissenschaften und Künste pluralistisch Raum gibt („Freiheit aus Kultur“) – den Begriff „Kultur der Freiheit“ habe ich 1991 geprägt227. In einer „Ringvorlesung“ behandelt die Wissenschaftlergemeinschaft vor Ort, heute die Bonner Juristenfakultät, ein bestimmtes Thema, das „Bonner Grundgesetz“, aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Sie sucht sich auch Redner von außerhalb, und ein Blick auf das Bonner Gesamtprogramm zeigt, dass sie Themen und Redner zu einer gelungenen pluralen Vielfalt unter Einbeziehung auch von Politikern verbunden hat. Das mir zugedachte Thema habe ich im Kleinen schon vor zwanzig bzw. zehn Jahren behandelt228; Große aus unserer Zunft wie H. P. Ipsen äußerten sich zum Jubiläum 40 Jahre Grundgesetz229. Kritische Stimmen z. B. aus der Marburger Schule von W. Abendroth „Der Kampf um das Grundgesetz“ (1977)230 oder das sogenannte Manifest „Eine Verfassung für Deutschland“231 (1991) sowie die Diskussion um die Alternative „Beitritt“ der ost227  P. Häberle, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (184). 228  P. Häberle, Ausstrahlungswirkungen des deutschen Grundgesetzes auf die Schweiz. Ein Beispiel für weltweite Prozesse der Produktion und Rezeption „in Sachen Verfassungsstaat“, in: Ulrich Battis / Ernst Gottfried Mahrenholz / Dimitris Th. Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen – 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 17 ff.; ders., Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033  ff.; in spanischer Übersetzung, in: Derechos Humanos Constitucionalismo Ante El Tercer Milenio, Antonio-Enrique Peréz Luño (coordinador), 1996, S. 151 ff. (auch in: Europäische Rechtskultur, 1994 / TB 1997, S. 175 ff.); ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft am Beispiel von 50 Jahren Grundgesetz (1999), in: ders., Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999, S. 239 ff. 229  Vgl. JöR 38 (1989), S. 1 ff.; s. auch die Tübinger Ringvorlesung Vierzig Jahre Bundesrepublik Deutschland, 1990 sowie Bundesrat (Hrsg.), Vierzig Jahre Bundesrat, 1989; Bundesrat (Hrsg.), 50 Jahre Herrenchiemseer Verfassungskonvent, 1999; s. auch D. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, NJW 1989, S. 1305 ff. – Das 30-jährige Jubiläum des GG wurde gefeiert auf der Berliner Staatsrechtslehrertagung: VVDStRL 38 (1980); s. auch den Sammelband: J. Becker (Hrsg.), Dreißig Jahre Bundesrepublik – Tradition und Wandel, 1979. 230  W. Abendroth u. a., Der Kampf um das Grundgesetz, 1977.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

deutschen Länder oder eine neue Verfassung, legitimiert aus einer gesamtdeutschen Volksabstimmung, seien nicht unterschlagen232. (Klammerzusatz: Ich selbst votierte im „Vormärz 1990“ für eine kombinierte Lösung: Art. 23 plus 146 GG – der auch heute nicht obsolet ist –, all dies im Gegensatz zu Bundeskanzler H. Kohl, der richtig erkannte, dass es nur ein schmales Zeitfenster für die Wiedervereinigung gab. Herr J. Isensee hat in dieser Ringvorlesung gesprochen über „Demokratie ohne Volksabstimmung: Das Grundgesetz“, W. Schäuble über das „Grundgesetz als Rechtsrahmen der deutschen Einheit“.) – Zuzustimmen ist der jüngsten These von Frau Bundeskanzlerin A. Merkel, wonach die DDR ein Unrechtsstaat war233. Der Band von W. Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie (1996)234 ermutigt sehr. Demgegenüber sollten wir den Briefwechsel zwischen E. Forsthoff und C. Schmitt nicht so ernst nehmen235 (bei allem Respekt vor Forsthoff), auch nicht die Unkenrufe von G. Grass in seinem Tagebuch236. Im JöR ist im Frühjahr 2009 eine erste Folge von Beiträgen zu unserem Verfassungsjubiläum, vor allem von ausländischer Prominenz aus den USA, Italien und Österreich, erschienen237. Dies macht unser heutiges Thema indes nicht ganz überflüssig. Denn die Themenvorgabe, „Vorverständnis und Methodenwahl“ (J. Esser) haben eigenen Zuschnitt (bekanntlich sind nach H. Heine die Deutschen ein methodisches Volk). Freilich sei, sit venia verbo, ein kleiner Vorbehalt eingebaut: Der Bonner Dekan C. Hillgruber hat mir die Begriffe „Exportgut“238 und „Wettbewerb“ vorgegeben. Ich halte mich der Form nach höflich an diese mir freilich allzu ökonomisch geprägt erscheinenden Begriffe, diese Freiheit 231

231  B. Guggenberger / U. K. Preuß / W. Ullmann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland, Manifest Text Plädoyers, 1991; B. Guggenberger / T. Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991. 232  Dazu aus der Lit. P. Häberle, Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands, JZ 1990, S. 358 ff. Zuletzt zu Art. 146 GG: H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, 2. Aufl. 2008, S. 1805 ff. (Rn. 58 ff.); H. Bauer, Die Verfassungsentwicklung des wiedervereinten Deutschland, HStR I, 3. Aufl. 2003, § 14. 233  FAZ vom 9. Mai 2009, S. 4; Die Welt vom 9. Mai 2009, S. 2; s. auch den differenzierten Beitrag von R. Schröder, „Vor Recht Macht“, in FAZ vom 9. Mai 2009, S. 8 sowie von G. Roellecke, FAZ vom 15. Juni 2009, S. 29. 234  W. Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996; dazu mein Besprechungsaufsatz in AöR 123 (1998), S. 476 ff. 235  Briefwechsel 1926–1974, hrsg. von D. Mußgnug u. a., 2007, und dazu treffend die Rezension in SZ vom 1. Dezember 2008, S. 14: „Neinsager der Bundesrepublik“. 236  G. Grass, Unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990, 2009. Kritisch zu Recht: FAZ vom 2. Februar 2009, S. 28: „eine Chronik der Ressentiments“. Unselig ist seine These: „Artikel 23 ist als Ermächtigungsgesetz missbraucht“ worden (zit. nach FAZ vom 23. März 2009, S. 28). 237  JöR 57 (2009), S. 1 ff. Eine Zweite und Dritte Folge schließen sich 2010 und 2011 an. 2012 erschien ein Sammelband. 238  s. aber auch P. Cruz Villalón, Vergleich, in: IPE, Bd. I, 2007, § 13, Rdnr. 30: „Beim deutschen Grundgesetz überwiegt ganz deutlich sein Charakter als Exportprodukt.“ Auch der Verf. selbst hat den deutschen Föderalismus noch 1996 als „Export-



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des Redners sei vielleicht gestattet (das Wort „Exportgut“ legt auch fälschlicherweise nahe, dass das GG weggegeben wird, zumal Ideen des GG nicht als Fertigteile, sondern in Prozessen vieler aktiv Beteiligter vermittelt werden). Das Grundgesetz ist kein „Wirtschaftsgut“, sondern Kultur, und es steht weniger im wirtschaftlichen Wettbewerb239 als in Prozessen der Produktion und Rezeption in Sachen Konstitutionalismus, weltweit. Damit widerspreche ich der Eröffnungsrede von Bundespräsident H. Köhler zum 67. Deutschen Juristentag in Erfurt240: „Den weltweiten Wettbewerb der Rechtsordnungen besteht am besten, wer ihn unverzagt annimmt und an ihm wächst.“ Die Verfassungen stehen aber m. E. in kulturellen Kontexten, nicht primär auf ökonomischen Füßen. Ist mir diese Distanzierung von der wirtschaftswissenschaftlichen bzw. präsidialen Terminologie erlaubt? Geboten ist jedenfalls die Frage, was unsere Nation „im Innersten“ zusammenhält. Es ist gewiss nicht der Markt, vielmehr: die Sprache (Luthers, Kants und Goethes), die ganze deutsche Geschichte einschließlich der Reformation, die Weimarer Klassik, das Deutschlandlied, die Nationalflagge und wohl auch die in zwei Weltkriegen und der Juden­ verfolgung entstandene Schuld und das GG des wiedervereinten „europäischen Deutschland“ (T. Mann) sowie Homogenität und Pluralität unseres (kulturellen) Föderalismus und das Ansehen des BVerfG. Manche (vor allem Studenten) mögen auch die Erfolge der deutschen Fußballnationalmannschaft als Integrationsfaktor hinzunehmen (als Staatsrechtslehrer musste man dies jedenfalls bei der Fußballweltmeisterschaft in Berlin 2006 akzeptieren). Das Referat ist zweigeteilt: auf eine historisch in die Zeit und komparatistisch in den Raum ausgreifende Bestandsaufnahme folgt ein Zweiter Teil: ein Theorierahmen mit einem „Inkurs“. Ein Ausblick rundet das Ganze ab. Der Erste Teil erfordert Fleiß, der Zweite Phantasie, der Schluss Bescheidenheit. Erster Teil Bestandsaufnahme – Beispiele I. Allgemeine Beispiele aus Raum und Zeit (historisch) Im Laufe der Geschichte lassen sich viele Beispiele für Rezeptionen aufzählen. Man erinnere sich der Rezeption des klassischen römischen Rechts in Alteuropa seit 1100 n. Chr. (Bologna). Man vergegenwärtige sich die Rezeption des „Roman Dutch Law“ in Südafrika und Sri Lanka241. Japan242 und Korea243 öffnen sich seit Artikel“ bezeichnet: Ein deutscher Beitrag zur italienischen Regionalismus- bzw. Föderalismusdebatte, in FS J.-F. Aubert, 1996, S. 483 (487). 239  Dazu aber G. Wegner, Nationalstaatliche Institutionen im Wettbewerb, 2004. 240  Zit. nach FAZ vom 20. November 2008, S. 11. 241  Aus der Lit.: F.-Florian Seifert, Die Verfassungsreform in Sri Lanka unter besonderer Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts der Sri-Lanka-Tamilen, VRÜ 34 (2001), S. 48 ff. 242  Dazu N. Inoue, Der allgemeine Gleichheitssatz der japanischen Verfassung im Spiegel der Rechtsprechung und Verfassungslehre, JöR 48 (2000), S. 489 ff.; N. Kokubun, Die Bedeutung der deutschen für die japanische Staatslehre unter der Meiji-

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

langem den französischen und deutschen Kodifikationen im Zivilrecht sowie dem US-amerikanischen und dem deutschen Verfassungsrecht. Großbritannien trug sein common law in die halbe Welt. Das deutsche Privatrecht ist mit seinen z. T. neuen Rechtsformen im Wirtschaftsrecht (Stichwort „Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)“) offenbar weltweit attraktiv244. In Bonn erwähne ich gerne den korea­ nischen Gelehrten und hiesigen Ehrendoktor Young Huh, der viel für das Ansehen des deutschen Verfassungsrechts in (Süd-)Korea geleistet hat245. Bekannt ist die 243

Verfassung, 1993; T. Harada, Wehrlose Verfassung des japanischen Kaiserreichs? Einige Bemerkungen zur Rezeption und Entwicklung des westlichen Konstitutionalismus in der japanischen Vorkriegszeit, JöR 49 (2001), S. 587 ff.; H. Wilms, Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung der Verfassung Japans und Deutschlands im Vergleich, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, 2008, S. 107 ff.; s. auch K. Yamauchi, Die Rezeption ausländischen Rechts in Japan – Beispiele aus dem Wirtschafts- und Familienrecht, VRÜ 36 (2003), S.  492 ff.; M. Kotzur, Globalisierung – regionaler, nationaler und universaler Menschenrechtsschutz – ein deutsch-japanisches Symposium, VRÜ 38 (2005), S.  466 ff. 243  Y. Huh, Brücken zwischen der europäischen und der koreanischen Rechtskultur, JöR 52 (2004), S. 93 ff. 244  Dazu J. Jahn, FAZ vom 20. November 2008, S. 11; zum GmbH-Recht ders., FAZ vom 30. Oktober 2008, S. 13. Bemerkenswert die Bundesjustizministerin B. Zypries, Ein Rechtssystem mit Qualitätssiegel, FAZ vom 27. Oktober 2008, S. 10; dies., Der Kampf ums beste Recht – Globalisierung als Wettbewerb der Rechtsordnungen, in: D. Staffelt / P. Struck (Hrsg.), Deutschland in der Globalisierung, 2008, S. 438 ff. Sie denkt freilich primär an Gesetzbücher und privatwirtschaftliche Kodifikationen, z. B. in der Aussage: „Deutschland muss sich in diesem Wettbewerb noch stärker einsetzen, denn die Verbreitung unserer Rechtsordnung ist weit mehr als Wissenschafts- und Kulturaustausch. Sie erleichtert auch die internationalen Aktivitäten deutscher Unternehmen, sie bietet deutschen Anwaltskanzleien neue Aussichten und Felder und erhöht die Bereitschaft ausländischer Unternehmen, in einem Land mit vertrauter Rechtsordnung zu investieren. … Wir können den Wettbewerb um das beste Recht selbstbewusst führen, denn unsere Gesetzbücher tarieren unterschiedliche Interessen fair aus und sorgen für eine angemessene Verteilung der Risiken … Wie dies gelingen kann, zeigt unsere China-Politik: Ein ‚Großer Runder Tisch‘ versammelt regelmäßig alle Akteure des Rechtsstaatsdialogs.“ Vgl. auch N. Schulte-Kulkmann, Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in der europäisch-chinesischen Zusammenarbeit, VRÜ 36 (2003), S. 529 ff. Zuletzt H. Eidenmüller: Kampf um die Ware Recht, FAZ vom 26. März 2009, S. 8, wo zum Glück nicht Verfassungsprinzipien ins Blickfeld kommen; s. auch ders., Recht als Produkt, JZ 2009, S. 641 ff., wo ganz offen von „Rechtsmarkt“ die Rede ist, aber „lediglich“ das Wirtschafts- und Gesellschafts-, auch Insolvenzrecht als Beispielmaterial dienen. Wenig überzeugend bleibt die Grundannahme, das Recht sei zum Produkt geworden. Ganz und gar unangemessen ist die Formulierung: „Vermarktung von Rechtsprodukten“ (ebd., S. 652). – Positiv zu bewerten ist das „German Law Journal“ als Online-Zeitschrift, das kürzlich als „Deutscher Botschafter“ sein zehnjähriges Bestehen feierte (FAZ vom 16. Juli 2009, S. 6). 245  Dazu Ehrenpromotion Young Huh, Bonner Akademische Reden, 2008. Von ihm: Die Grundzüge der neuen koreanischen Verfassung von 1987, JöR 38 (1989), S.  565 ff.; ders., Sechs Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in der Republik Korea, JöR



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Wirkung des deutschen Rechts in der Türkei von Kemal Atatürk. Prominent bleibt hier E. E. Hirsch (er ist der Verfasser des türkischen Handelsrechts)246. In jüngster Zeit gibt es Literatur, die darstellt, wie stark das deutsche Verfassungsrecht in Taiwan beachtet wird247. Auffällig ist die Rezeption der deutschen Strafrechtswissenschaft im heutigen Spanien (vor allem H.-H. Jescheck und C. Roxin). Schon diese kleine Bestandsaufnahme248 lässt erkennen, dass Rezeptionen nach ihren Themen und ihren „Mittlern“ zu systematisieren sind. Erste Umrisse einer Rezeptionstheorie sind schon jetzt aus dem Material deutlich249. Sie wurden bereits vor 20 Jahren entwickelt.

45 (1997), S. 535 ff.; ders., Zur neueren Entwicklung des Verfassungsrechts in der Republik Korea, JöR 48 (2000), S. 471 ff.; ders., 60 Jahre Grundgesetz aus der Sicht Koreas, JöR 59 (2011), S. 199 ff.; zuletzt B. Wagner / H. Scholler, Das koreanische Verfassungsgericht, JöR 60 (2012), S. 621 ff. 246  E. E. Hirsch, Als Rechtsgelehrter im Lande Atatürks, 2008; s. auch E. E. Hirsch, Die Verfassung der türkischen Republik vom 9. November 1982, JöR 32 (1983), S. 507 ff. – s. auch S. Tellenbach (Hrsg.), Das neue türkische Straf- und Strafprozessrecht, 2008 – ein Sammelband der Deutsch-Türkischen Juristenvereinigung. – Das „Deutsch-Türkische Forum für Staatsrechtslehre“ publizierte kürzlich einen Sammelband: Der Schutz staatlicher Ehre und religiöser Gefühle und die Unabhängigkeit der Justiz, 2008 (hrsg. von O. Depenheuer / O. Can u. a.). 247  Yun-Ju Wang, Die Entwicklung der Grundrechte und der Grundrechtstheorie in Taiwan. Eine Rezeptionsgeschichte des deutschen Grundrechtsverständnisses, 2008; Tzu-Hui Yang, Der taiwanesische Verfassungsprozess im Lichte richterlicher Rechtsfortbildung, JöR 57 (2009), S. 711 ff.; C. Starck / W. Heun (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit im Rechtsvergleich, Drittes deutsch-taiwanesisches Kolloquium vom 2.–3. Oktober 2006, 2008; W. Heun / C. Starck u. a. (Hrsg.), Rezeption und Paradigmenwechsel im öffentlichen Recht, Viertes deutsch-taiwanesisches Kolloquium 2008, 2009; M. Neukirchen, Die Verfassung der Republik China (Taiwan), VRÜ 38 (2005), S. 418 ff.; C. Starck (Hrsg.), Staat und Individuum im Kultur- und Rechtsvergleich, 2000. 248  Aus der wachsenden, materialreichen Literatur: J. Kramer  /  B. G. Schubert (Hrsg.), Verfassunggebung und Verfassungsreform im In- und Ausland, 2005; U. Battis u. a. (Hrsg.), Das Grundgesetz im Prozess europäischer und globaler Verfassungsentwicklung, Internationales Symposium zum fünzigjährigen Bestehen des GG, 2000; M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001 (zu Ehren des Verf. P.H.); C. Starck, Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 1990, jetzt in: ders., Verfassungen, 2009, S.  363 ff.; H.-P. Schneider, Das Grundgesetz als Vorbild? Sein Einfluss auf ausländische Verfassungen, in: ders. (Hrsg.), Das Grundgesetz in interdisziplinärer Betrachtung, 2001, S. 159 ff.; C. Starck / A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband I, 2. Aufl. 2007. 249  Dazu P. Häberle, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung II. Das Nehmen und Geben in Sachen Grundgesetz 1. Ein Blick auf Weimar

Im Blick auf das Grundgesetz (bzw. des Werks seiner Väter und vier Mütter250) ist immer auch an die Weimarer Verfassung (1919) zu denken, teils im positiven Sinne, weil das Grundgesetz an Weimarer Traditionen anknüpft (z. T. auch an die Paulskirche von 1849), teils im negativen Sinne, weil das Grundgesetz zum Teil bewusst gegen Weimar gerichtet ist und Erfahrungen mit dieser großen Verfassung verarbeitet. Stichworte sind: die erstrangige Platzierung des Menschenwürde-Artikels, die wehrhafte Demokratie, der stupende Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die Öffnung nach außen im Sinne der „offenen Staatlichkeit“ (K. Vogel, 1964) bzw. des „kooperativen Verfassungsstaates“ (1978) – damit wird die Europäisierung und Internationalisierung wie später in vielen jüngeren Verfassungen eröffnet. Die Weimarer Verfassung (1919) wird wissenschaftlich im europäischen und lateinamerikanischen Ausland besonders beachtet, auch und gerade in den letzten Jahren. Erinnert sei an die Arbeiten von F. Lanchester und J. Luther251 aus Italien. 2. Nehmen und Geben heute a) Die Menschenrechte bilden eine erste Normgruppe (Art. 1 GG in allen Absätzen, besonders wegweisend: Abs. 2 in dem Passus „Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“, was z. B. das Problem der exterritorialen Geltung der Grundrechte differenziert löst). Hier ist das Grundgesetz zunächst „Nehmer“ (Abs. 2), bereichert durch die USA und Frankreich252. Frankreich ist besonders stolz auf sein „Exportgut“ universale Menschenrechte. Deutschland hat in Art. 1 Abs. 1 GG eine Fassung der Garantie der Menschenwürde geleistet, die weltweit ausstrahlt, etwa von Griechenland253 bis nach Südafrika sowie andere ferne und 250  Zur Vorgeschichte des GG: D. Willoweit, Verfassungspolitisches Denken im Vorfeld des GG, Deutsche Geschichtsbilder und Zukunftsvisionen zwischen 1945 und 1948, FS Laufs, 2006, S. 459 ff. 251  F. Lanchester, Momenti e figure nel diritto costituzionale in Italia e in Germania, 1995; J. Luther, Italienische Beobachtungen und Verarbeitungen des Grundgesetzes (1949–2009), JöR 57 (2009), S. 15 ff. Zu begrüßen ist die Ausstellung in Weimar „Weimar 1919. Chancen einer Republik“, 2009, dazu M. Otto: „Auch die Verfassung, deren Fehler das GG nicht wiederholen wollte, hat aber ihre Geburtstagsausstellung verdient“, FAZ vom 3. Juni 2009, S. 32. – Immerhin jetzt: FAZ vom 15. Juli 2009, S. N4: „Keine Schelte der Weimarer Verfassung“, Bericht von einer Tagung über die Weimarer Verfassung „Wert und Wirkung für die Demokratie“, mit einem Hinweis, die WRV sei eine „gute Verfassung in schlechter Zeit“ gewesen. – Jetzt U. J. Schröder u. a. (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, 2011. 252  Allgemein: C. Grewe, Frankreichs Beitrag zur europäischen Verfassungskultur, JöR 52 (2004), S. 43 ff. Zuletzt aus der Lit.: J. Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, 2009. 253  Dazu K. Chryssogonos / L. Papadopoulou, JöR 58 (2010), S. 53 ff.



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nahe Länder254 / 255. Die grenzüberschreitende „Ausstrahlung“ des deutschen GG ist dabei von der verfassungsinternen, die ganze Rechtsordnung erfassenden Ausstrahlung zu unterscheiden. Neben den herausragenden Leistungen des BVerfG, dessen Grundrechtsjudikatur (etwa in Gestalt des fünfzig Jahre alten Lüth-Urteils (BVerfGE 7, 198), das sogar in Mexiko gefeiert wird,)256 heute weithin leuchtet und oft ein Stück materieller Verfassunggebung bzw. -änderung ist, sei auch die Wissenschaft erwähnt. So hat etwa H. Ehmke, einst in Bonn habilitiert, in seinem berühmten Freiburger Staatsrechtslehrerreferat über Verfassungsinterpretation 1961 die „pre­ ferred freedoms doctrine“ rezipiert257. Ein Blick auf die EU-Ebene zeigt, wie viel dort von Deutschland aus „genommen“ wurde. Man denke nur an die Wirkung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit258, an die Schutzpflichtendimension der Grundrechte (seit BVerfGE 39, 1 (4)) und als Textstufe an die EU-Grundrechte-Charta (2000), die bekanntlich schon „vorwirkt“259. Die ungeschriebene „mittelbare Drittwirkung“ wird häufig übernommen. Vor allem die (neben der Menschenwürdeklausel – jetzt endlich im Lissabon-Urteil des BVerfG in den 1987 geforderten Zusammenhang mit der Demokratie gestellt260) vielleicht weltweit erfolgreichste GG-Norm, die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, wird oft nachgeahmt, etwa in Spanien (Art. 53 Abs. 1 S. 3 Verf. von 1978), Portugal (Art. 18 Abs. 3 Verf. von 1976), in der Türkei (Art. 11 Abs. 2 Verf. von 1961), Chile (Art. 19 Ziff. 26 Verf. von 1980) und (Süd-)Korea (Art. 37 Abs. 2 S. 2 Verf. von 1987) sowie in Namibia (Art. 22 a Verf. von 1990) und Art. 11 Abs. 4 Verf. Ecuador von 2008 – „Nachbilder“ – auch in der EU-Grundrechte-Charta von 2000 (Art. 112 Abs. 1). Vor allem die osteuropäischen Verfassungen nach 1989 rezipieren den deutschen Wesensge254  Nachweise in P. Häberle, HStR II § 22, 3. Aufl. 2004, Rdnr. 4. Vgl. zuletzt Chapter 3, Art. 4 Verf. KwaZulu Natal (1996), zit. nach JöR 47 (1999), S. 514 ff.; Art. 19 Abs. 1 Verf. Malaŵi (1994), zit. nach JöR 47 (1999), S. 563 ff. – Aus der deutschen Lit. zuletzt R. Künast, Am Anfang steht die Menschenwürde: Ein Grundgesetz für das 21. Jahrhundert, NJW 2009, S. 1723 ff., freilich mit dem fragwürdigen Vorschlag, einen „neuen Gesellschaftsvertrag“, wohl in einem geänderten Grundgesetz, zu entwerfen. 255  „Vom deutschen Vorbild“ ist z. B. der Grundrechtekatalog der Verf. der Niederlande (1983) beeinflusst, vgl. L. Besselink, Niederlande, in: IPE, Bd. I, 2007, § 6, Rdnr. 92. 256  Dazu H. Schulze-Fielitz, Das Lüth-Urteil – nach 50 Jahren, JURA 2008, S.  52 ff.; R. Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: HGR, Bd. I, 2004, § 19, Rdnr. 12–17 bzw. Rubén Sánchez Gil, Mexiko-City 2012, i. E. (mit einem Vorwort des Verf.). 257  Probleme der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (73 ff., 102). 258  Dazu A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000; J. Saurer, Die Globalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Der Staat 51 (2012), S. 3 ff.; M. Klatt /M. Meister, Verhältnismäßigkeit als universelles Verfassungsprinzip, Der Staat 51 (2012), S. 159 ff. 259  Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4.  Aufl., S. 668, 7. Aufl. 2011, S. 668. Allgemein ders., Wechselwirkungen zwischen den deutschen und außerdeutschen Verfassungen, in: HGR I, 2003, S. 313 ff. 260  P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, 1987, Rn. 61–69.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

haltsgedanken261. Zuvor hatten schon die total revidierten Schweizer Kantonsverfassungen ihre eigene Textstufe in Gestalt von „Kerngehaltsgarantien“ geformt262. Der österreichische Verfassungsgerichtshof, der EGMR und der EuGH haben schon in den frühen 70er und 80er Jahren „Wesensgehaltsjudikatur“ geleistet263. Der neueste, fast sensationelle Rezeptionsvorgang universaler Menschenrechte findet sich, gewiss auch dank der UN-Texte in der Charta 08, am 9. Dezember 2008 in China veröffentlicht264, mit dem suggestiven Satz: „Menschenrechte: Sie sind kein Geschenk des Staates, sondern Rechte, die jeder Mensch von Geburt an besitzt.“ Sowie: „Die Freiheit ist der Kern der universellen Werte.“ – ein Universalitätstext! b) Die parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes verdankt sich Großbritannien. Wichtige Themen der Einzelausformung wirkten dann von 1949 aus auf spätere Verfassungen, z. B. wurde in (alte Verf.) Ungarn in § 39 / A das deutsche konstruktive Misstrauensvotum des Art. 67 GG rezipiert265. Auch knüpft etwa Art. 4 der französischen De-Gaulle-Verfassung (1958) in Sachen politische Parteien an Art. 21 GG an. In Osteuropa übernehmen nur manche Verfassungen Elemente der „streitbaren Demokratie“ des GG (Beispiel: Art. 13 Verf. Polen (1997) im Blick auf das Parteienverbot). Die Charta 08 aus China266 fordert eindrucksvoll: „Abschaffung der Sonderrechte, die einer einzigen Partei das politische Monopol gewähren, Schaffung einer freien Betätigung politischer Parteien und eines fairen (Parteien-)Wettbewerbs, Verrechtlichung und Normalisierung der Parteienpolitik“. Freilich: Das Zuviel an deutscher Parteienstaatlichkeit wirft auch Schatten (z. B. im öffentlich-rechtlichen Fernsehen). c) Der Föderalismus war eine Erfindung der USA mit Ausstrahlung auf die Schweiz (1848) und die deutsche Paulskirche (1849), auch die Bismarck-Verfassung (1871). Der Regionalismus ist aus meiner Sicht der „kleine Bruder“ des Föderalismus. „Weimar“ (1919) wirkte hier nach Italien, das Grundgesetz nach Spanien. Mittlerweile wird in Italien das Stichwort diskutiert „L’Italia verso il federalismo“ P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011, S. 341 f. R. Wiederkehr, Die Kerngehaltsgarantie am Beispiel kantonaler Grundrechte, 2000; M. Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten, 2001; P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 (316). 263  P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 264 ff.; vgl. zuletzt fragmentarisch: C. Grabenwarter / T. Marahun, in: dies. (Hrsg.), EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 54. – Zu „Wechselwirkungen zwischen österreichischer und deutscher Verfassungsrechtsprechung“ gleichnamig M. Holoubek, in: D. Merten (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich, 2008, S. 85 ff. 264  FAZ vom 22. Dezember 2008, S. 6 f.; s. auch Rheinischer Merkur Nr. 5 / 2009, S. 5: „Die Kommunisten werden nervös. Mehr als 8000 Chinesen haben die ‚Charta 08‘ schon unterzeichnet. Obwohl die Sicherheitsorgane hart durchgreifen, schaffen sie es nicht, den im Internet kursierenden Aufruf für mehr Demokratie zu stoppen.“ Dazu Exkurs II. 265  Zur Praxis: G. P. Hefty, Die ungarische Variante, FAZ vom 23. April 2009, S. 10. 266  Dazu meine Freiburger „lectio aurea“: JöR 60 (2012), S. 329 ff. bzw. unten Exkurs II. 261  Dazu 262  Dazu



Inkurs III: Das GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen   193

(A. D’Atena267). Das konstitutionelle Regionalismusrecht268 der Autonomen Gebietskörperschaften in Spanien verarbeitet eigenwüchsig die föderale Idee der vertikalen Gewaltenteilung des Föderalismus weiter. Die jüngsten Regionalstatute in Spanien269 sind fast schon „kleine Verfassungen“ (dies gilt vor allem für Andalusien (2006)270, die Balearen (2007)271, Aragón (2007)). Ähnliches lässt sich für Italien nachweisen. Die Regionalstatute dort, etwa der Toscana (2004) und Umbriens (2005), reichern sich mit vielen Themen gemeineuropäischer Grundrechte und „Staatsaufgaben“ an. Ihre gehaltvollen Europa-Artikel machen sie in ihrem Selbstverständnis „europaunmittelbar“, es entsteht ein Stück gemeineuropäisches Regionalismus- bzw. Verfassungsrecht. Man darf, um jetzt auf die EU-Ebene zu gehen, für dort (trotz des Lissabon-Urteils des BVerfG) von „präföderalen Strukturen“ sprechen (vgl. vor allem Art. 6 und 7 EUV). Speziell die Idee der Bundestreue (R. Smend, 1916) hat sowohl in Spanien272 als auch in Gestalt der Regionalismustreue in Ita­lien und auf der EU-Ebene273 Karriere gemacht274. Auch hier besticht der Rezeptionsvorgang in der erwähnten Charta 08 aus China: „Im Rahmen einer demokratischen und verfassten (Gesellschaft) sollte eine Bundesrepublik China gegründet werden.“ – Das Wort von der „verfassten Gesellschaft“ wurde erstmals 1976 in der deutschen Literatur gewagt275. Jüngst wurde sogar für den Irak eine föderale Ordnung gesucht und der deutsche Bundesrat als Vorbild aufgegriffen276. d) Die Verfassungsgerichtsbarkeit verdankt sich Österreich, insbesondere H. Kelsen und zuvor G. Jellinek. Diese Einrichtung wurde in alle Welt „exportiert“ und nach 1989 vor allem in Gestalt der Textstufen des deutschen Grundgesetzes weiter entwiihm etwa Le Regioni dopo il Big Bang, 2005. mein Beitrag: Das konstitutionelle Regionalismusrecht in Italien, JöR 58 (2010), S.  443 ff. 269  Zum „europäischen Spanien“ gleichnamig: M. Azpitarte, JöR 56 (2008), S. 479 ff. Zur „juristischen Kultur“ in Katalonien gleichnamig P. Häberle, JöR 56 (2008), S. 503 ff. Zum „Beitrag Spaniens zur europäischen Rechtskultur“ gleichnamig: F. Balaguer Callejón, JöR 52 (2004), S. 11 ff. 270  Dazu F. Balaguer Callejón (coord.), El nuevo estatuto de Andalucía, 2007. 271  Aus der Lit.: A. Blasco Esteve (Director), Comentarios al Estatuto de Autonomía de las Islas Baleares, 2008. 272  Dazu E. Alberti, Die Beziehungen zwischen dem Staat und den Autonomen Gemeinschaften, in: J. Kramer (Hrsg.), Die Entwicklung der Statute der Autonomien in Spanien und die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1996, S. 129 (138 f.). 273  Allgemein: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000, z. B. zu Bosnien: S. 81 ff. 274  Aus der Lit.: O. Due, Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue in der EG, 1992; J. Woelk, Konfliktregelung und Kooperation im italienischen und deutschen Verfassungsrecht, 1999. 275  P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 1978, S. 11, 329  ff. u. ö. (3. Aufl. 1998). 276  So von dem arabischen Autor Naseef Naeem (zit. nach R. von Lucius, FAZ vom 11. September 2008, S. 8); s. auch ders., Die bundesstaatliche Ordnung der Verfassung der Vereinigten Arabischen Emirate, JöR 58 (2010), S. 633 ff. 267  Von

268  Dazu

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

ckelt. Viele osteuropäische Verfassungen knüpfen an die weiten Kompetenzregelungen des GG an (ein Beispiel ist Art. 160 Verf. Slowenien (1991)), besonders in Sachen Verfassungsbeschwerde und effektiver Rechtsschutz. Ein Blick auf die europäische Ebene: Hier spricht man zu Recht im Blick auf EGMR und EuGH endlich von (europäischen) „Verfassungsgerichten“277. Die bereits gerühmte Charta 08 aus China postuliert: „Ein Verfassungsgericht ist zu schaffen sowie ein System zur Prüfung von Verfassungsverstößen und zum Schutz der Verfassungsautorität.“ Freilich muss das Verhältnis zwischen dem BVerfG und dem parlamentarischen Gesetzgeber in Deutschland immer wieder neu austariert werden. (Unter diesem Gesichtspunkt sind die Entscheidungen zum Luftsicherheitsgesetz, zur Vorratsdatenspeicherung und zur heim­ lichen Online-Durchsuchung, zur automatischen Kennzeichenerfassung und zum Bayerischen Versammlungsrecht nicht zu kritisieren.) Wo das ungarische Verfassungsgericht mit der geschriebenen Verfassung nicht weiterkommt, greift es gerne auf deutsche Vorbilder zurück (seit der neuen Verfassung Ungarns von 2012 ist dies ­offen). Verfassungsgerichtsbarkeit wird universal. e)  Die Karriere des deutschen Rechtsstaatsprinzips278 ist besonders eindrucksvoll („Vorzeige-Rechtsstaat“). Philosophisch letztlich auf I. Kant zurückgehend, dann von (dem von C. Schmitt geschmähten) F. J. Stahl entwickelt (dessen Ehrengrab vom Berliner Wowereit-Senat kürzlich aufgehoben wurde279), ist der Rechtsstaat unter dem Grundgesetz nicht nur der Deutschen liebstes Kind280. Fast wörtlich wird er im Ganzen oder Einzelnen in osteuropäischen Reformverfassungen nach 1989 rezipiert (z. B. Art. 2 Verf. Polen (1992): „demokratischer Rechtsstaat“)281 und jüngst findet er sich auch auf der EU-Ebene und sogar im Völkerrecht282 wieder. Mit China283 führt Deutschland mehr oder weniger aufrichtig seit den Zeiten von G. Schröder einen sog. Rechtsstaatsdialog, wenig erfolgreich angesichts des kulturellen Völkermords in Tibet284 – der dortige Aufstand gegen China begann vor 277  Früh K. W. Weidmann, Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof (Diss. Bayreuth), 1985; später (vom Verf. im Bayreuther Kolloquium vorgeschlagen): E. G. Mahrenholz, Europäische Verfassungsgerichte, JöR 49 (2001), S. 15 ff. 278  Gerade in Deutschland ist die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit heikel, vgl. das Streitgespräch zwischen W. Hassemer und W. Schäuble, FAZ vom 11. März 2009, S. 33. 279  Dazu FAZ vom 3. März 2009, S. 33. 280  Zuletzt E. Hien, Der Rechtsstaat in Deutschland – Innensicht und Außensicht, DVBl 2009, S. 163 ff.; s. auch D. Grimm, Stufen der Rechtsstaatlichkeit, Zur Exportfähigkeit einer westlichen Errungenschaft, JZ 2009, S. 596 ff. 281  Zur Vorbildwirkung der deutschen Verfassungslehre in Polen: P. Tuleja, Polen, in: IPE, Bd. I, 2007, § 8, Rdnr. 9. 282  Dazu M. Kotzur, Kooperativer Grundrechtsschutz der Völkergemeinschaft, EuGRZ 2008, S. 673 ff. 283  Zu neuen „Stimmen“ der Rechtswissenschaft in China: R. Heuser, Der offene Weg: Ein Jahrhundert chinesischer Verfassungsreform, JöR 56 (2008), S. 655 (665 ff.). 284  Weitere Themen im „Geben und Nehmen“ (etwa in Sachen Drittwirkung, Sonderstatus, Schutzpflichten, Grundrechtsträgerschaft und Medienfreiheit und ihre Dimension des Pluralismusprinzips): P. Häberle, in: HGR, Bd. I, 2004, § 7 Rdnr. 32 ff., 45 ff.



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fünfzig Jahren. Es gibt „Testfälle“ der Rechtsstaatsförderung in Afrika und im westlichen Balkan. „Rechtsstaat made in Germany“ ist eine Losung285. Er wird universal. Zweiter Teil Ein Theorierahmen: Erscheinungsformen, Gegenstände, Akteure und kulturelle Bedingungen für die Vorbildwirkung bzw. Rezeption einer Verfassung wie des GG in anderen Feldern des Konstitutionalismus, die Relevanz der neuen Kontexte („Metamorphosen“) I. Erscheinungsformen und Gegenstände von Rezeptionen Das GG konstituiert sich zuvörderst aus seinen (zu oft formell geänderten, auch durch Interpretation gewandelten) Texten, aus seinen auf sie bezogenen Judikaten, vor allem des BVerfG; und dann aus den in seinem Kraftfeld gewachsenen Theo­rien, d. h. Beiträgen der Wissenschaft286 (mit den „jungen Klassikern“: G. Dürig und K. Hesse). Bei all dem ist auch die Verfassungswirklichkeit im Auge zu behalten. Paradigmen wie die Bürgergesellschaft (civil society), die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“, vor allem in Brasilien seit Jahren intensiv diskutiert (Stichwort: amicus curiae), kommen als Werk der Wissenschaft hinzu. Texte, oft „still“ gewandelt, in neuen Texten etwa in den (leider) über 54 Verfassungsänderungen seit 1949 „laut“ ergänzt, die verfassungsrichterliche Judikatur heute in bald 130 Bänden der Entscheidungen des BVerfG geprägt und bald postglossarische, bald innovative, „abwegige“ und kühne Beiträge der Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft287 fügen sich zu einem schwer auseinanderlegbaren Ganzen. Texte, Judikate und Theo­ rien (einschließlich Klassikertexte wie H. Jonas’ „Prinzip Verantwortung“, vgl. Art. 20a GG und seine weltweiten Vorbilder) bilden die Elemente einer Trias, sie leben in einer Symbiose, die schwer zu entwirren ist. Wir lesen heute das GG, etwa den Grundrechtsschutz, von vorneherein „mit den Augen“ des BVerfG, das oft neue Grundrechte schafft: vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung288 (E 65, 1) bis zum neuen Informationsgrundrecht289. Auch das Schweizer Bundesgericht in 285  Solche Stichworte finden sich im 21. Forum Globale Fragen „Der Rechtsstaat – Patentrezept für alle Welt?“, Berlin, 15. Januar 2009. – s. auch A. Schmitz-Vornmoor, Law – Made in Germany, Versuch einer Standortbestimmung im Wettbewerb der Rechtsordnungen, Notar 6-2009, S. 240 ff. 286  Verfassungsgeschichtliche Darstellungen bei H. Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990, in: HStR, 3. Aufl. I, § 9; H. Dreier, Deutschland, in: IPE, Bd. I, 2007, § 1, Rdnr. 41 ff.; W. Pauly, Wissenschaft vom Verfassungsrecht, IPE, Bd. II, 2008, § 27, Rdnr. 11 ff., 21 ff.; R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006. 287  Dazu das Geburtstagskolloquium für H. Schulze-Fielitz, in: ders. (Hrsg.), Die Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Beiheft 7 Die Verwaltung, 2008. 288  Dazu jetzt G. Britz, Europäisierung des grundrechtlichen Datenschutzes?, EuGRZ 2009, S. 1 ff. 289  BVerfGE 120, 274. Dazu W. Leisner, NJW 2008, S. 2902 ff.; W. HoffmannRiem, Der grundrechtliche Schutz der Vertraulichkeit und Integrität eigengenutzter informationstechnischer Systeme, JZ 2008, S. 1009 ff.

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Lausanne hat „ungeschriebene Grundrechte“ entwickelt, die dann in der total revidierten BV von 1999 „nachgeführt“ auf eine konstitutionelle Textstufe gehoben worden sind. Die Wissenschaft kann Vorreiter von neuen Interpretationen sein – ein prägnantes Beispiel (neben G. Dürigs Kommentierung der Art. 1, 2 und 3 GG) ist die zum geflügelten Wort gewordene Formel von der „praktischen Konkordanz“ (K. Hesse) –, sie kann aber auch bloß „Kommentierte Verfassungsrechtsprechung“ bleiben290. Sie kann als Rezeptionsmittler wirken (dazu sogleich), sie darf punktuell sogar verfassungspolitische Vorschläge wagen. Die Judikatur kann „judicial activism“ pflegen, so oft in den USA, von der Wissenschaft kritisch begleitet nicht selten das BVerfG, vor allem die Verfassungsgerichte in Osteuropa (besonders in Ungarn) nach dem „annus mirabilis“ 1989 und derzeit der Supreme Court in Brasilia sind als Pioniere tätig. Die Judikatur kann aber auch „restraint“ üben, wobei den Sondervoten eine positive Rolle zukommt (es gibt sie vor allem am BVerfG, am EGMR, in Spanien (und Thailand) sogar mit Verfassungsrang291: Art. 164 Abs. 1 Verf. von 1978, leider noch nicht in Italien oder am EuGH). Die deutsche Staatsrechtslehre unter dem GG lebt bis heute von den Klassikern der Weimarer Zeit „auf deren Schultern“ wir als Zwerge stehen. Gleichwohl: Wir können – selten genug – ein wenig weitersehen als diese Klassiker, etwa R. Smend, C. Schmitt, H. Heller, H. Kelsen. Unter „Grundgesetz“ ist also im Folgenden neben den Texten auch die GG-Wissenschaft sowie die Judikatur des BVerfG zu verstehen. Beispiele für eine Ausstrahlung von GG-Wissenschaft sind an erster Stelle die „Grundzüge“ von K. Hesse292, an letzter Stelle vielleicht meine Lehre vom „status activus processualis“, von der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, vom „kooperativen Verfassungsstaat“ und vom kulturwissenschaftlichen Ansatz in Lateinamerika; Beispiel für die Rezeption eines BVerfG-Urteils in einer fernen Wissenschaftlergemeinschaft ist das Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198)293 in Mexiko. Sollte es zu einer geschriebenen Verfassung in Großbritannien kommen, so jüngst die Forderung von T. G. Ash294, so hätte das deutsche Grundgesetz gewiss weitere Rezeptionschancen. II. Rezeptionsmittler und die Frage, was gegenständlich zum Vorbild wird Diese oft unterschätzte personale Frage ist wichtig. Es sind konkrete Personen, die ein Prinzip des GG „nach außen“ transportieren, das Paradigma der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten bzw. -geber“ war ein früher Versuch 290  So

das gleichnamige Buch des Verf. von 1979. ist die auch tatsächlich genutzte Möglichkeit zu Sondervoten in der russischen Verfassungsgerichtsbarkeit, dazu A. Nußberger / C. Schmidt / T. Mor­ ŝĉakova (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung in der Russischen Föderation, 2009. 292  Dazu P. Häberle, Die „Grundzüge“ und ihre Rezeption im Ausland, JöR 57 (2009), S.  545 ff. 293  Dazu T. Henne / A. Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005; H. Schulze-Fielitz, JURA 2008, S. 52 ff. 294  SZ vom 29. Mai 2009, S. 2: „Ein Grundgesetz für Großbritannien“. Aus der Lit.: A. M. Fröhlich, Von der Parlamentssouveränität zu Verfassungssouveränität, Der britische Verfassungswandel am Beispiel des Human Rights Act 1998, 2009. 291  Bemerkenswert



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(1975 / 78), heute wird gerne von „Akteuren“295 gesprochen. Jedenfalls muss die Methodenlehre um den personalen Aspekt ergänzt werden. Fragen wir uns, wer eine Verfassung wie das GG regional, kontinental / überregional oder international in Teilen, etwa das Rechtstaatsprinzip wirksam werden lässt, als Vorbild darstellt bzw. seine Inhalte transportiert. Dabei ist ein weltweiter Blick geboten, der hier nur in Ausschnitten möglich ist. Überdies müssen wir das Grundgesetz nur als ein Beispiel nehmen. Auch andere Verfassungen, vor allem die US-Bundesverfassung wirken übernational (die Präsidialdemokratie z. B. in Lateinamerika) – nach D. Kommers freilich hat das deutsche Grundgesetz die Verfassung der Vereinigten Staaten als Modell heute „abgelöst“296. Hier weitere Beispiele: Spanien297 hat sich vor 1978 in Sachen „Staatskirchenrecht“, richtiger seit 1976: „Religionsverfassungsrecht“298, von deutschen Staatsrechtslehrern wie dem Bonner U. Scheuner in Madrid beraten lassen (Herr C. Waldhoff hat in dieser Ringvorlesung über „Die Kirchen und das Grundgesetz nach 60 Jahren“ gesprochen). Eine Delegation aus Südafrika suchte kurz vor der Erarbeitung der Verfassung von 1997 in Karlsruhe Rat, also bei Verfassungsrichtern. Aus den USA kam nach 1989 eine große Zahl von aggressiven Law Firms in die neuen Reformstaaten Osteuropas, oft in Konkurrenz mit deutschen Staatsrechtslehrern (z. B. durfte ich individuell, ohne Auftrag einer Stiftung, in Polen und für Estland Voten abgeben299). Im Wirkungszusammenhang der Verfassungen300 gibt es also nicht nur viele „Blumen“ sondern auch Hundert „Gärtner“, um im chinesischen Bild zu bleiben. Typologisch sei unterschieden: –– Parteipolitiker, mit Beratern „im Tross“; –– einzelne Staatsrechtslehrer, z. B. deutsche für Albanien301 und Bosnien302, Estland303, Polen304, Georgien305 (hier: H. Steinberger, A. Blankenagel), vielleicht 295  Vgl. etwa meinen Beitrag Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung – an Beispielen des Föderalismus / Regionalismus bzw. von Zweikammersystemen, FS Scholz, 2007, S. 584 (585 f.). 296  Zit. nach FAZ vom 19. Mai 2009, S. 34. 297  Zur „wichtigsten und konstantesten Rolle der deutschen Verfassung“ im spanischen Verfassunggebungsprozess: M. M. Guerrero, Spanien in: IPE, Bd. I, 2007, § 11, Rdnr. 9 (etwa in Sachen demokratischer und sozialer Rechtsstaat, Bindung aller staatlichen Gewalt an die Verfassung, Grundrechte, insbes. Würde des Menschen, freie Entfaltung der Persönlichkeit und Wesensgehaltgarantie). F. Balaguer Callejon und M. Azpitarte Sánchez schreiben sogar einen Beitrag „Das Grundgesetz als ein Modell und sein Einfluss auf die spanische Verfassung von 1978“, JöR 58 (2010). – Zur Wirkung der Schriften des Verf. P. H. in Spanien und Italien: M. García-Pechuan, Spanien, in: IPE, Bd. II, 2008, § 37, Rdnr. 22, m. w. N.; P. Ridola, Das Wirken Peter Häberles in Italien, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 125 ff. 298  P. Häberle, Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfassten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff. – Mit Kummer verfolgte man als wissenschaftlicher Beobachter den Berliner Streit über die Schulfächer Ethik und Religion sowie das Scheitern des Volksentscheids „Pro Reli“ (April 2009). 299  Dokumentiert in: Die Verwaltung 28 (1995), S. 249 ff. (Polen) und in JöR 43 (1995), S. 170 ff. (Estland). 300  So der treffende Titel einer Tagung in Hagen, 1989. 301  Dazu G. Frankenberg, Verfassunggebung zwischen Hobbesianischem Naturzustand und Zivilgesellschaft, Die Verfassung der Republik Albanien, JöR 49 (2001), 47 ff.

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auch für Vietnam 306, sogar die Philippinen und den Irak (H.-P. Schneider) – der Begriff „Zivilgesellschaft“307 macht also nicht nur in Kasachstan Karriere (Präambel der Verf. von 1995)308; 302303304305

–– parteinahe Stiftungen, in Deutschland die Konrad-Adenauer-309, Friedrich-Ebertund Friedrich-Naumann-Stiftung; die SPD bzw. ihr nahestehende Kollegen haben etwa den ANC in Südafrika310 beraten, aber auch DAAD und DFG auf Seminar­ ebene sowie die Alexander von Humboldt-Stiftung (z. B. sind mehrere osteuro­ päischer Verfassungsrichter der ersten Stunde „Humboldtianer“ gewesen, etwa in Ungarn); –– andere Arbeitskreise und Einrichtungen wie die Deutsche Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit e. V. (Bonn)311, hier wirkte zum Beispiel der so früh verstorbene Kölner Kollege G. Brunner für Ungarn; 302  Dazu A. Zimmermann, Einflüsse des deutschen Grundgesetzes auf die Verfassung von Bosnien-Herzegowina, in FS H.-P. Schneider, 2008, S. 551 ff.; U. Karpen, Nation Building im Kleinen – Erfahrungen beim Aufbau von Bosnien-Herzegowina, FS H.-P. Schneider, 2008, S. 500 ff.; ders., Das Grundgesetz als „Exportartikel“ – Föderative Strukturen bei der Verfassungsreform in Südafrika, Bosnien-Herzegowina und Afghanistan, FS Scholz, 2007, S. 615 ff.; ders., Der deutsche Bundesstaat im Internationalen Vergleich und Wettbewerb – Die Bundesrepublik als neues Mitglied im „Forum of Federations – The Global Network on Federalism“, DÖV 2008, S.  814 ff.; E. Sarčevic, Verfassunggebung und „konstitutionelles Volk“: Bosnien zwischen Natur- und Rechtszustand, JöR 50 (2002), S. 494 ff. 303  P. Häberle, Vorläufige und punktuelle Stellungsnahme zum Verfassungsentwurf Estland, JöR 43 (1995), S. 170 ff. 304  P. Häberle, Zwischenrufe zu polnischen Verfassungsentwürfen (1991), JöR 43 (1995), S.  134 ff.; ders., Verfassungspolitische Maximen für die Ausgestaltung der „Verfassungsfähigkeit“ Polens, Die Verwaltung 28 (1995), S. 249 ff. 305  Dazu W. Gaul, Verfassunggebung in Georgien, 2001. 306  Zur vietnamesischen Verfassung vom 5. April 1992: O. Depenheuer, JöR 45 (1997), S.  675 ff. 307  Aus der unüberschaubaren Lit. nur N. Weiß, Zur Rolle der Zivilgesellschaft für den Schutz der Menschenrechte, in: E. Klein / C. Menke (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote, MRZ Universität Potsdam, Bd. 30 (2008), S.  232 ff. 308  Zit. nach JöR 47 (1999), S. 634 ff. 309  Vortrefflich sind die KAS-Auslandsinformationen, z.  B. 1  /  09; s. auch die jüngste Broschüre der K.-Adenauer-Stiftung von 2009: Demokratie- und Rechtsstaatsförderung in der Entwicklungszusammenarbeit. 310  Dazu L. M. du Plessis, German Verfassungsrecht under the Southern Cross, FS H.-P. Schneider, 2008, S. 522 ff.; R. von Lucius, Beraten und Ermüden, Südafrikas Wege zur Verfassungreform, ebd., S. 513 ff.; J. Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht. Südafrika 1993–1996, 2000; H. Klug, Co-operative Government in South Africa’s Post-Apartheid Constitution: Embracing the German Model?, VRÜ 33 (2000), S. 432 ff.; T. M. Grupp, Südafrikas neue Verfassung, mit vergleichender Betrachtung aus deutscher und europäischer Sicht, 1999. 311  Vgl. die Jahresberichte z. B. von 2003 mit der Aufzählung von 19 Partnerstaaten der IRZ-Stiftung, und 2005 mit 20 Partnerstaaten, u. a. dem Kosovo, der Russi-



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–– Verfassungsrichter (z. B. auch auf dem Forum der regelmäßigen Treffen der Verfassungsrichter Europas), eher informell, aber auch als Berater, so der jüngst verstorbene ehemalige BVerfG-Präsident E. Benda in Asien; –– der EuGH als Institution312; –– EU-Institutionen, vor allem die EU-Kommission und ihre „Dienste“; –– die Venedig-Kommission des Europarates (z. B. H. Steinberger und G. Batliner in Sachen Georgien313); –– die GTZ, ein Bundesunternehmen „im Auftrag der Bundesregierung“, das z. B.  der georgischen Regierung bei der Entwicklung eines „demokratisch und marktwirtschaftlich organisierten Rechtsstaats“ hilft und überdies „Projektlisten“ für Länder von Argentinien bis Peru sowie von Afghanistan314 bis Usbekistan führt; –– einzelne nationale Wissenschaftlergemeinschaften (z.  B. die japanische Forschungsgesellschaft für deutsches Verfassungsrecht315), auch bilaterale Juristenvereinigungen (etwa die deutsch-französische316, deutsch-türkische oder deutschportugiesische, auch deutsch-mexikanische317 sowie Partnerschaften zwischen einzelnen Universitäten, etwa seit 50 Jahren zwischen Aix-Marseille und Tübingen, auch Gesprächskreise, z. B. zwischen italienischen und deutschen Staatsrechtslehrern). In Thailand wird ein Exzellenzzentrum aufgebaut unter Beteiligung von P. Kunig. Wie wird er dort mit seiner Zerlegung des Rechtsstaatsprinzip318 zurechtkommen?

schen Föderation sowie Serbien und Montenegro, zuletzt der Jahresbericht 2008 mit der Behandlung von Partnerstaaten wie Albanien und Bulgarien (das TRANSFORMProgramm der Bundesregierung hat das Ziel, „die Entwicklung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlich ausgerichteter Strukturen zu unterstützen und den Aufbau einer unabhängigen funktionsfähigen Justiz zu fördern“). 312  Zahlreiche Begegnungen und Besuche z. B. in Curia, Jahresbericht des EuGH 2007, S.  241 ff. 313  Zu informellen Austauschwegen: Medien, Internet, Weltöffentlichkeit, mein Beitrag in: HGR Bd. I., 2004, § 7, Rdnr. 25. 314  Dazu aus der Lit.: H.-J. Vergau, Manifest der Hoffnung. Über die neue Verfassung Afghanistans, VRÜ 37 (2004), S. 465 ff. 315  Dazu H. Kuriki, Über die Tätigkeit der Japanischen Forschungsgesellschaft für deutsches Verfassungsrecht, JöR 50 (2002), S. 599 ff. Die „FdV“, Japan, ediert sogar die wichtigsten Entscheidungen des BVerfG, zuletzt Bd. III, 2009. – Allgemein zu den „Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit nationaler Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat“: P. Häberle, JöR 53 (2005), S.  355 ff. 316  Bemerkenswert sind deutsch-französische Studienkurse wie zwischen den Universitäten Cergy-Pontoise und Düsseldorf. 317  Dazu M. Foeth, Jahrestag der deutsch-mexikanischen Juristenvereinigung in Berlin, VRÜ 38 (2005), S. 221 ff. 318  P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, dazu meine Rezension in: NJW 1987, S.  175 f.

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Die Entwicklungszusammenarbeit319 ist ein eigenes politisches und wissenschaftliches Thema geworden320. Europarat und OSZE haben sich die Förderung von Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern und darüber hinaus auf die Fahnen geschrieben321. Erinnert sei an die EU-Mission Eulex im Kosovo322. Am sog. „Bündnis für das deutsche Recht“ sind beteiligt: das Bundesministerium der Justiz, die Bundesnotarkammer, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein, der Deutsche Juristinnenbund, der Deutsche Notarverein, der Deutsche Richterbund. Die K.-Adenauer-Stiftung leistet ein eigenes „Rechtsstaatsprogramm“ und spricht auf Hochglanzpapier von „weltweitem Interesse an der deutschen Rechtskultur“323. Der Kreis der Beteiligten ist groß und pluralistisch. Der universale Konstitutionalmus wird in einzelnen Facetten sichtbar (Kooperation). Schließlich mag es auch nicht direkt auf konkrete Personen und Institutionen bezogene Rezeptionsprozesse geben: die Lektüre deutscher BVerfG-Entscheidungen im Inneren, d. h. im wissenschaftlichen Dienst der Corte in Rom oder neuerdings das Internet (das langfristig auch geschlossene Gesellschaften wie China, Burma und Nordkorea zu Öffnungen zwingt). Die Lektüre von Werken von im Ausland bekannten deutschen Staatsrechtslehrer, etwa in Japan324 und Korea, auch in Südamerika oder Portugal325, sollte nicht gering geschätzt werden. Noch gibt es ja Menschen, die die alte Kunst des Lesens von Texten beherrschen! Diese „Tafel“ der Rezeptionsmittler ist offen; unterschiedlich dürfte auch die Intensität und Breite ihrer Aktivitäten sein. Gewiss gehören auch NGOs z. B. in Sachen Menschenrechte hierher, und dies weltweit; auch in Bezug auf das Völkerrecht und seine Teilverfassungen wie die Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht (1985), 319  Einen Theorierahmen sucht mein Beitrag: Aspekte einer kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Verfassungslehre in „weltbürgerlicher Absicht“ – die Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang, JöR 45 (1997), S. 555 ff. 320  Vgl. etwa F. v. Benda-Beckmann, „Recht und Entwicklung“ im Wandel, VRÜ 2008, S.  295 ff.; A. Boeckh u. a. (Hrsg.), Kultur und Entwicklung, 2007; O. Meinecke, Rechtsprojekte in der Entwicklungszusammenarbeit – Theorie und Praxis am Beispiel von GTZ-Projekten zur Konsolidierung des Rechtsstaats in Südafrika und Sambia, 2007. Aus der Tagespresse etwa R. Müller: „Rechtsexport und Jetset. BGB für Sudan, ARD für Afghanistan? Wissenstransfer gibt es auch in der Rechtspraxis. Dieser stößt an seine Grenzen, wo er kulturelle Eigenheiten nicht beachtet.“ – Aus der wissenschaftlichen Lit.: S. Tellenbach, Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan, ZaöRV 64 (2004), S. 943 ff. 321  Dazu die Berliner Tagung vom 15. Januar 2009: Der Rechtsstaat – Patentrezept für alle Welt?, z. B. mit Themen wie Rechtsstaatsförderung in Afghanistan und im Westlichen Balkan. 322  Dazu SZ vom 9. Dezember 2008, S. 4. 323  Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. (Hrsg.), Weltweit für den Rechtsstaat, 2008. 324  Dazu als Beispiel: T. Hatajiri, Eine Studie über die Verfassungslehre von P. Häberle und ihre Rezeption in Japan, in: Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für P. Häberle, 2004, S. 517 ff.; N. Inoue, Eine Seite der japanischen Verfassungskultur, ebd., S. 501 ff. 325  Dazu J. J. G. Canotilho, Interkonstitutionalität und Interkulturalität, in: Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für P. Häberle, 2004, S. 83 ff.



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über die völkerrechtliche Haftung für Schäden durch Weltraumgegenstände (1972), gegen Folter (1984). III. Kulturelle Bedingungen, insbesondere für Rezeptionen Es ist nicht leicht, die Voraussetzungen und Bedingungen zu nennen, die den „Boden“, gleichsam den „Humus“ für eine Rezeption der Prinzipien einer Verfassung wie des GG bilden. Mitunter ist auch die Frage „post“ oder „propter“ nicht zu beantworten. Auch der „Zeit-Punkt“ (die „Stunde“ der Verfassunggebung, die nicht immer wahrgenommen wird, z. B. nicht sogleich in Polen, 1989) ist relevant (rechtzeitig ergriffen in Südafrika, 1996, und der Schweiz, 1999). Hier einige Stichworte: Auf Nehmerseite, also auf Seiten des nationalen Verfassungsstaates oder des konstitutionellen Gebildes wie der EU muss es einen „Bedarf “ für die Rezeption geben, politisch, kulturell, wohl auch z. T. ökonomisch. So haben die totalrevidierten Kantonsverfassungen in der Schweiz seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts sowie die langjährigen Bemühungen um eine neue „nachgeführte“ BV auch im Ausland nach Vorbildern gesucht, was in der Schweiz nicht gerne zugegeben wird326. Bei Staatsneugründungen nach Revolutionen oder Sezessionen besteht viel Bedarf nach Vorbildern. Innerbundesstaatlich geschah dies in den ostdeutschen Ländern, die in ihren neuen Verfassungstexten gerne auch auf die Judikatur des BVerfG oder an die Lehre anknüpften, man denke z. B. an die „Grundversorgung“ durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen, ein Begriff von K. Hesse, jetzt in einer ostdeutschen Verfassung Text geworden (Art. 12 Abs. 1 Verf. Thüringen (1993)). Ganz allgemein kam es nach 1989 zu einem westöstlichen Ideenaustausch in Sachen Verfassungsstaat. (Überhaupt ist die Binnenausstrahlung des GG auf die neuen ostdeutschen Länderverfassungen ein wichtiger Merkposten.) Nach der mehr oder weniger friedlichen Revolution in Osteuropa orientieren sich die Verfassunggeber oft an westlichen Modellen. Das „NationBuilding und Constitution making“ in Südafrika327 (1997) und wohl auch Namibia328 (1990) ist ebenfalls typisch und vom GG beeinflusst. Die Vorbildwirkung der deutschen „Bundestreue“ hat sich in Spanien ausgewirkt, auf die Verfassung selbst wie auf die Judikatur; sie greift auf das Tribunal Constitucional in Madrid über, sie wirkt als „Gemeinschaftstreue“ im EU-Verfassungsrecht. Die Einflüsse der deutschen Grundrechtslehren auf die Judikatur des EGMR oder den Verfassungsgerichtshof in Paris sind bekannt, auch das Europäische Verfassungsrecht wurde z. B. in Sachen Grundsatz 326  Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff.; zuletzt ders., Neueste Schweizer Kantonsverfassungen, JöR 56 (2008), S. 279 ff. – Der hohe Stand der Schweizer Staatsrechtslehre spiegelt sich jüngst in dem Basler Kolloquiums-Band für R. Rhinow: Demokratie – Regierungsform – Verfassungsfortbildung, 2009, sowie in HGR, Bd. VII 2: Grundrechte in der Schweiz und in Liechtenstein, 2007. 327  Dazu mit Nachweisen: J. Lücke, Entwicklung der neuen südafrikanischen Verfassung, JöR 47 (1999), S. 467 ff.; ders., Grundrechte in einer neuen südafrikanischen Verfassung, ZaöRV 52 (1992), S. 70 ff. 328  Dazu E. Schmidt-Jortzig, The Constitution of Namibia: An Example of a ­State Emerging under Close Supervision and World Scrutiny, in: German Yearbook of International Law 34 (1991), S. 413 ff. sowie M. O. Hinz, Die Verfassung Namibias (1990), in: JöR 40 (1991), S. 653 ff., der Verfasser M. O. H. hat Namibia beraten.

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der Verhältnismäßigkeit von Deutschland aus sehr bereichert. Es sind bewährte Verfassungsprinzipien, die gerne als Vorbild genommen werden. Insoweit kommt die Verfassungswirklichkeit eines Landes auf der Geber- und Nehmerseite ins Spiel (das Paradigma der „Textstufen“329). Das GG kann sich rühmen, in Gestalt seiner erwähnten Trias von Texten, Judikaten und Theorien besonders intensiv auszustrahlen. Die Gründlichkeit der deutschen BVerfG-Judikate, aber auch der hohe Stand der GG-, insbesondere der Grundrechtswissenschaft haben sich fast weltweit viel Ansehen erworben. Man denke auch an das BVerfG im Ganzen und Einzelnen oder an die Wirkung der „Weimarer Klassik“ (1919) in Italien330. Die soziale Marktwirtschaft, obwohl nicht als Text im GG ausdrücklich normiert, hat in Osteuropa textlich und in der Realität viel Gefolgschaft gefunden (vgl. Art. 11 Verf. Albanien von 1998; Art. 9 Abs. 3 Verf. Moldau von 1994 nennt sogar den Markt als „Grundfaktor der Wirtschaft“). Weil dem so ist, rechtfertigt sich unser heutiges Thema gerade aus Anlass des 60jährigen GG-Jubiläums: Das GG strahlt europaweit, ja weltweit aus. Es hat manche Bewährungsproben bestanden, ist glaubwürdig, gerade auf den Trümmern zweier deutscher Diktaturen. Der wissenschaft­liche Gelehrtenaustausch spielt bei all dem eine wachsende Rolle. Ob wirtschaftliche Gründe hinzukommen, ist nicht sicher, mein Thema scheint dies suggerieren zu wollen. Zu beobachten sind freilich auch jene Normenbereiche, die im Ausland gerade nicht rezipiert worden sind, die Normfelder, in denen sich das GG gerade nicht durchgesetzt hat, sondern andere Modelle verfolgt wurden: etwa bei der Wahl von Verfassungsrichtern. So entscheiden sich manche osteuropäische Verfassungsstaaten dafür, ein Drittel der Verfassungsrichter vom Staatspräsidenten auswählen zu lassen – das gute italienische Vorbild (1947). Da und dort mag auch der Zufall eine Rolle spielen. Die meisten neueren Verfassungen normieren hochdifferenzierte Staatsaufgabenkataloge – gerade im Gegensatz zum GG! Auch der in Skandinavien, Lateinamerika (vor allem Mexiko) und Osteuropa wirkmächtige Ombudsmann ist auf Verfassungsstufe im GG nicht vorhanden, ein Defizit. Es gehört zum Programm der seit 1982 entwickelten „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“, auch andere kulturelle Bedingungen für das heute fast weltweit gemeinsame Arbeiten am Typus Verfassungsstaat zu erkunden. Doch stößt man hier auf Grenzen dessen, was ein einzelner Gelehrter zu leisten vermag. Einschlägig werden: das hohe Ansehen einer geglückten Verfassung wie des GG einschließlich seines BVerfG und seiner Wissenschaftlergemeinschaft, die „Attraktivität“ der Prinzipien, die sie erarbeitet haben, vor allem aber auch das Bedürfnis für die Übernahme von Texten, Judikaten und Theorien auf der „Nehmerseite“ – dieses war nach 1989 in ganz Osteuropa groß. Sezessionen und Neugründungen von Staaten, etwa in Ex-Jugoslawien, jüngst dem Kosovo bzw. in Südafrika331 mussten vergleichende Umschau halten, ob und wie sie welche konstitutionellen Normenkomplexe übernehmen. Die erwähnten 329  Dazu zuletzt P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 4 ff., sowie erstmals ders., Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaats, FS Partsch, 1989, S. 555 ff. 330  Dazu auch für das GG: J. Luther, a. a. O., JöR 57 (2009), S. 15 ff. 331  Dazu H. Botha, Comparative Law and Constitutional Adjudication: A South African Perspective, JöR 55 (2007), S. 569 ff. – Nach Asien greift über der Band von T. Groppi / V. Piergigli / A. Rinella (eds.), Asian Constitutionalism in Transition, a Comparative Perspective, 2008.



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„Rezeptionsmittler“ wie die parteinahen Stiftungen, auch EU-Institutionen wie jüngst bei einem Seminar in Brüssel (Oktober 2008), auf dem Politiker der Seychellen Informationen für eine Verfassungsreform dort eingeholt haben, spielen eine große Rolle. Der staatsrechtliche Positivismus vermag auch auf diesem Felde gar nichts zu erklären. So sind es letztlich rechtskulturelle und kulturelle Traditionen, die hier wirken: die Offenheit mancher osteuropäischer Staaten wie etwa Polens und Rumäniens für Frankreich, was große Tradition hat (für Polen: F. Chopin). In Afrika wirkten die alten Verbindungen der Kolonialmächte nach: Portugals Verfassung von 1976 etwa im Vergleich zu den lusophonen Staaten wie Angola, Mosambik332. Spaniens spätere Verfassung von 1978 strahlte nach Lateinamerika aus: erleichtert auch durch dieselbe Sprache. Mitunter dürfte es auch zu einer vom Thema der heutigen Vorlesung suggerierten „Konkurrenzsituation“ kommen. Wirtschaftliche Verbindungen können Kräfte freisetzen, um Verfassungsprinzipien als Vorbilder zu transportieren. Reizvoll wäre die Frage, wer, d. h. welche Institutionen und Personen, etwa deutsche Bundesminister und einzelne Staatsrechtslehrer heute z. B. in China die bescheidenen Ansätze zur Entwicklung eines Rechtstaatsprinzips, dort in der Vorhand ist; immerhin wurde jüngst K. Hesses Klassiker „Grundzüge“ ins Chinesische übersetzt (2008)333. Ob das weltweit nachlassende Ansehen der USA negative Auswirkungen hat auf das bislang große Vorbild der US-Bundesverfassung (z. B. für Argentiniens Präsidialdemokratie in der Verfassung von 1853, erwähnt sei auch die Übernahme von Marbury vs. Madison, 1803, durch Argentinien) und die Rezeption ihrer sonstigen Verfassungsinstitutionen, bleibe offen. Die angelsächsische „rule of law“ fügt sich günstig mit dem gemeineuropäischen Rechtsstaatsprinzip334 zu einem Ganzen: universaler Konstitutionalismus. IV. Rezeptionen im Kontext Selbst dort, wo Verfassungstexte z. B. aus dem GG wörtlich „übernommen“ werden, braucht dies nicht zu bedeuten, dass sie kurz, mittel- und langfristig dasselbe auch im Nehmerland bedeuten. Das Rezipierte gewinnt „Selbststand“ – je nach neuem Kontext für den anderen Verfassungsstaat. Das geflügelte Wort von R. Smend (1951: „Auch wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe.“), gilt erst recht im Wirkungszusammenhang von Produktion und aktiver Rezeption zwischen Verfassungsstaaten. Spanien hat 1978 in Sachen „Autonome Gebietskörperschaften“ manches vom italienischen Regionalismus (1947) übernommen. Heute entwickelt es die „Autonomien“ selbstständig. Die rezipierten Verfassungstexte entfalten sich im neuen Kraftfeld des benachbarten Verfassungsstaates oft anders als im Ursprungsland – ein Anwendungsfeld der 1979 entworfenen Kontextthese335. Die 332  Dazu D. Nelle, Mosambik am Scheideweg – die Verfassung von 2004, VRÜ 38 (2005), S. 174 ff. 333  Zur Rezeption seiner „Grundzüge“ im Ausland: mein Beitrag in JöR 57 (2009), S.  545 ff. 334  Dazu zuletzt M. Wittinger, Das Rechtsstaatsprinzip – vom nationalen Verfassungsprinzip zum Rechtsprinzip der europäischen und der internationalen Gemeinschaft?, JöR 57 (2009), S. 427 ff. 335  P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44  ff. u. ö., und ders., Die Verfassung im Kontext, in: Handbuch des Schweizerischen Verfassungsrechts, 2001 (hrsg. von D. Thürer u. a.), S. 17 ff.

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Nehmer bleiben also nicht bloß passiv, das Ganze ist nicht nur „Einbahnstraße“. Diese Vorgänge kann nur das kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis sensibel beobachten und rechtfertigen. So groß also der Einfluss des GG europa-, ja weltweit ist, man darf die aktive originäre Kreativität der Nehmerseite nicht unterschätzen. Die dortigen Wissenschaftlergemeinschaften und Gerichte sind ihrerseits schöpferisch, z. B. bei einer Aufwertung des Verfassungsprozessrechts durch die Verfassungsgerichte in Peru bzw. Brasilien (hier dank des Einflusses einzelner deutscher Staatsrechtslehrer336) und Argentinien. M. a. W. ein produktives Moment wohnt der „Rezeption“ schon im Ansatz bei. Es kommt zu „Metamorphosen“. Im Ganzen in historischer und länderbezogener Betrachtung: Das GG strahlte in den 70er Jahren aus, vor allem auf Griechenland337, Portugal und Spanien, in den 80er und 90er Jahren auf die Schweiz, auch (Süd-)Korea, nach 1989 auf Osteuropa, weltweit in den 90er Jahren auf Länder wie Südafrika, auch Namibia (1990)338. Dabei ist unter „Grundgesetz“ sowohl dessen Text als auch die kreativen Interpretationen durch Rechtsprechung und Wissenschaft zu verstehen. Halten wir kurz inne: Wie verhalten sich all diese Überlegungen zum vieldiskutierten Dekonstruktivismus? (Klammerzusatz: Dieser wühlte mich 2006 in Rom, anlässlich einer Einladung durch den Präsidenten der dortigen Corte auf, in Form einer „dekonstruierten“ Beethoven-Sonate, verunstaltet von I. Pogorelich.) Es war vor allem Jacques Derrida (auch Paul de Man), der den Begriff der Dekonstruktion bzw. des Dekonstruktivismus geprägt hat339. Er kennzeichnet einerseits einen Ansatz der systematischen Philosophie, als poststrukturalistische Kritik gerichtet gegen die Idee des Strukturalismus, der zufolge das selbstbestimmt-rationale Individuum seinen Gedanken in Form eindeutiger Sprachstrukturen Gestalt gebe und dadurch sog. „cultural meanings“, autonome Sinnzuschreibungen durch Sprache produziere340. Der Dekonstruktivismus zweifelt zum einen an der Autonomie des Subjekts, er stellt sich zum anderen vehement gegen die Vorstellung, dass es unveränderliche, ahistorische, gar universelle Bedeutungsstrukturen oder Begriffsgehalte gebe. Damit ist die Brücke zur zweiten Komponente des Dekonstruktivismus geschlagen. Er bezeichnet auch eine Methode der (ideologie-)kritischen Textinterpretation. Ziel dieser hermeneutischen Dekonstruktion ist nicht etwa, Begriffen jeden Bedeutungsgehalt abzusprechen, sondern die Fülle möglicher, jeweils kontextabhängiger, häufig konfligierender, teils offener, teils verdeckter Bedeutungsmöglichkeiten aufzuzeigen und auf 336  Dazu G. Mendes, in: Conversas academicas com P. Häberle, Brasilia 2009, S.  XI ff.; ders., in: Valor EU&, Nr. 424 / 2008, S. 14 f. 337  Zur Wirkung des GG auf Griechenland: S.-I. G. Koutnatzis, Griechenland, in: IPE, Bd. I, 2007, § 3, Rdnr. 12. Zum Versuch der Periodisierung der Ausstrahlung des GG („Rezeptionswellen“) mein Beitrag a. a. O., in: HGR, Bd. I, 2004, § 17, Rdnr. 11. 338  Dazu M. O. Hinz, Die Verfassung Namibias (1990), in JöR 40 (1991 / 1992), S.  653 ff. 339  Mit spezifisch rechtstheoretischem Akzent etwa J. Derrida, The Force of Law: „Mystical Foundation of Authority“, Cardozo Law Review 11 (1990), S. 919 ff.; allg. ders., Grammatologie, 1983; ders., Die Schrift und die Differenz, 2. Aufl. 2003. 340  Textbelege bei P. Engelmann, Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart, 2004.



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diese Weise interpretatorische Bedeutungszuschreibungen als Herrschaftsinstrumente zu begreifen341. In den USA bedienen sich vor allem die „Critical Legal Studies“ dieser Analysemethode342, im Völkerrecht haben ihr nicht zuletzt die Arbeiten von M. Koskenniemi zu manchem Widerhall verholfen343. Dass Texten nur ein vermeintlich objektiver Sinngehalt innewohnt, dass der Richter nicht der objektive „Mund der Gesetze ist“ und jede Interpretation vom subjektiven Vorverständnis des Interpretierenden abhängt, ist indes in den Rechtswissenschaften auch jenseits dekonstruktionistischer Zuspitzung ein bekanntes Phänomen344. Vor allem die rechts- und kulturvergleichende Methode schafft die notwendige Vorverständnis- und Kontextsensibilität; sie hilft, die multiplen, wandelbaren Bedeutungsgehalte von Begriffen aufzudecken. Insoweit mag der Dekonstruktivismus den Rechts- als Kulturvergleich kritisch inspirieren, methodisch infragestellen kann er ihn nicht. Ähnliches in Sachen Selbststand des kooperativen Verfassungsstaates gilt gegenüber G. Teubner. Er erhebt, systemtheoretisch inspiriert und mit Topoi wie „Weltrecht“ und „Weltgesellschaft“ arbeitend, die Forderung, ein staatszentriertes Verständnis von Verfassung durch das Paradigma einer „globalen Zivilverfassung ohne Weltstaat“ zu ersetzen345. Diese Verfassung beruht für ihn nicht – jedenfalls nicht vorrangig – auf hoheitlichen Setzungsakten, sondern auf der komplexen Interaktion zivilgesellschaftlicher Akteure (vor allem multinationaler Unternehmen)346. Sie schaffen, oft spontan, konstitutionelle Strukturen auf Weltebene, die im Sinne des Rechtspluralismus neben staatlich gesetztes Recht treten und sich in globalen Foren wie dem „Cyberspace“ artikulieren347. Dieses „Weltrecht“ genieße, so Teubner, nur geringen politischen und institutionellen Rückhalt, sondern sei eng an soziale und 341  s. J. M. Aroso Linhares, Dekonstruktion als philosophische (gegenphilosophische) Reflexion über das Recht, ARSP 93 (2007), S. 39 ff. 342  R. M. Unger, The Critical Legal Studies Movement, 1986; N. Purvis, Critical Legal Studies in Public International Law, in: Harvard International Law Journal (Vol. 32) 1991, S. 81 ff. 343  M. Koskenniemi, From Apology to Utopia. The Structure of International Legal Argument, 1989; s. auch das Zeitgespräch von M. Koskenniemi: „Das Völkerrecht ist nicht die Bibel“, Die Zeit vom 9. Dezember 2004, S. 52. 344  J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972; s. auch H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 5. Aufl. 1986, S. 281 ff. 345  G. Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, in: ZaöRV 63 (2003), S. 1 ff. sowie 28 und in: Leipziger Juristische Seminararbeiten. Jahrbuch 2005, S. 9 ff. 346  G. Teubner, Privatregimes: Neo-spontanes Recht und duale Sozialverfassung der Weltgesellschaft, in: Liber Amicorum S. Simitis, 2000, S. 437 ff.; J.-Ph. Robe, Multinational Enterprises: The Constitution of a Pluralistic Legal Order, in: G. Teubner (Hrsg.), Global Law without a State, 1996; O. Young, International Governance. Protecting the Environment in a Stateless Society, 1994. – „Zur Lex Mercatoria“: V. Boehme-Neßler, Unscharfes Recht, 2008, S. 194 ff. 347  J.-Ph. Robé, Multinational Enterprises: the Constitution of a Pluralistic legal order, in: G. Teubner (Hrsg.), Global Law without a State, 1997, S. 45 ff.; G. Teubner, Global Bukowina: Legal Pluralism in the World Society, in: ebd., S. 3 ff.; G.-P. Calliess, Reflective Transnational Law: on Definition of Transnational Law, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 23 (2002), S. 185 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

ökonomische Prozesse gekoppelt, von denen es seine wesentlichen Impulse erfahre. Nicht die Setzung, sondern die „Emergenz“ begründet seine Entstehung348. Inkurs: Verfassungspolitische Reformfragen zum Grundgesetz Bei dieser Erfolgsbilanz unseres GG nach 60 Jahren kann nur als Merkposten erwähnt werden, wo sich das GG Reformfragen349 zu stellen hätte und wo es gerade nicht rezipiert wurde, weil es nicht „vorbildlich“ erschien350. Ein Merkposten sei die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen für Auslandseinsätze der Bundeswehr (Stichworte: Einsatz gegen Piraten)351, der Streit um eine mehr oder weniger „stille“ Grundgesetzänderung in Sachen Flugsicherung352 sowie eine m. E. kritisch zu beurteilende staatliche Pressehilfe353. Vieles spricht für die konstitutionelle Verankerung eines Selbstauflösungsrechts des Bundestags, denn die m. E. verfassungswidrige Bundestagsauflösung unter G. Schröder kann nicht einmal mit der normativen Kraft des Faktischen im Sinne G. Jellineks legitimiert werden354. Die Forderung nach grundgesetzlichem Schutz der Homo-Ehe (Frau Bundesjustizministerin B. Zypries355) ist zurückzuweisen. Der erstaunliche Vorstoß des am Verfassungstag 23. Mai 2009 frisch wiedergewählten Bundespräsidenten H. Köhler zu Gunsten einer Direktwahl des Staatsoberhaupts wurde von vielen zu Recht sogleich abgelehnt356. Die sehr hohe Frequenz von mehr als 54 Verfassungsänderungen in 348  G. Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechts­ pluralismus, Rechtshistorisches Journal 1996, S. 255 ff. 349  Aus der schon älteren Lit.: mein Beitrag, Die Kontroverse um die Reform des deutschen Grundgesetzes, 1991 / 1992, ZfP 1992, S. 233 ff.; R. Wahl, Empfehlungen zur Verfassungsreform, AöR 103 (1978), S. 477 ff. 350  So wurde die „wehrhafte Demokratie“ des GG von der neuen Verfassung Griechenlands (1975) gerade nicht rezipiert, vgl. S.-I. G. Koutnatzis, Griechenland, in: IPE, Bd. I, 2007, § 3, Rdnr. 13 f., 92. 351  Dazu A. Fischer-Lescano / T. Tohidipur, Rechtsrahmen der Maßnahmen gegen die Seepiraterie, NJW 2009, S. 1243 ff.; R. Müller, Gegen Piraten und Scheinprobleme, FAZ vom 20. April 2009, S. 10. Die Forderung von W. Schäuble, das Grundgesetz für Bundeswehreinsätze zum Zwecke der Piratenbekämpfung zu ändern, wird von SPD und FDP abgelehnt (FAZ vom 11. Mai 2009, S. 6; FAZ vom 12. Mai 2009, S. 1; SZ vom 12. Mai 2009, S. 5). 352  Dazu zu Recht kritisch S. Hobe: „Nach oben offen“, FAZ vom 20. Mai 2009, S. 8. Die Überwachung des Luftverkehrs soll weiter in der Hand der bundeseigenen Deutschen Flugsicherung GmbH bleiben; diese soll aber Aufgaben an ausländische Flugsicherungsorganisationen delegieren können. Der Bundesrat muss noch zustimmen. 353  Hierzu der Vorschlag von D. Grimm: „Über staatliche Pressehilfe nachdenken, Verfassungsänderungen erschweren“, FAZ vom 13. Mai 2009, S. 1. 354  Dazu T. Holzner, Die normative Kraft des Faktischen: Die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG – stiller Verfassungswandel hin zu einem Selbstauflösungsrecht?, 2009. 355  FAZ vom 22. Mai 2009, S. 1. Gleiches gilt für den erneuten Vorstoß des Regierenden Bürgermeisters von Berlin K. Wowereit, FAZ vom 27. Juni 2009, S. 4. 356  FAZ vom 26. Mai 2009, S. 4. Erstaunlich ist das plötzliche Lob von Altbundespräsident R. Herzog im Zusammenhang mit einer Kritik am „Insiderspiel“ der Politik, FAZ vom 26. Mai 2009, S. 34.



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sechzig Jahren sollte uns ohnehin nachdenklich stimmen. Müssen wir die Verfassungsänderung erschweren? (Klammerzusatz: Sehr viele Verfassungsänderungen bezogen sich auf den Föderalismus, dies ist jedoch kein Argument für seine Labilität, sondern für seine Vitalität und Entwicklungsbedürftigkeit.) Die vielzitierten „plebiszitären Defizite“ des GG357, die es weder in Bayern, noch in den neuen ostdeutschen Länderverfassungen gibt, seien hier nicht behandelt (für mich ist die halbdirekte Demokratie der Schweiz das Ideal358), wohl aber ein Wort zur Frage, ob das GG um einen Sprachen-Artikel angereichert werden sollte359. Bekanntlich werben dafür Teile der CDU / CSU. Die Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht360 könnte viele Argumente für einen Sprachen-Artikel liefern (Deutsch als Landessprache mit Sprachenfreiheitselementen nach Schweizer Vorbild). Zahlreiche Verfassungen nehmen sich des Themas im Kontext der (anderen) Symbol-Artikel: nationale Feiertage, Nationalflagge, Nationalhymne, nationale Hauptstadt an361. Theoretisch stünden wir vor der Frage, ob das Grundgesetz hier eine Normengruppe „importieren“, besser rezipieren sollte. Dies führt in die Abgründe des Streites über die deutsche „Leitkultur“, in die ich mich am Ende meines Vortrages nicht stürzen möchte, obschon das GG und die Landesverfassungen Werte vorgeben (z. B. in den Erziehungszielen). Eine Anmerkung ist indes geboten: Wir sollten nicht von „Multi-Kulti“ sondern von pluralistischer Kultur im Kraftfeld des Grundgesetzes sprechen. Die von mir erstmals 1980 357  Aus der Fülle der Literatur hier nur H. K. Heußner  / O. Jung (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen, 1999. 358  Ungerechtfertigt ist also die These von U. Widmer, Kuhschweizer und Sauschwabe, FAZ vom 31. März 2009, S. 31: „Nie hat sich in den letzten fünfzig oder hundert Jahren ein einziger Deutscher um die Schweiz gekümmert. Die Schweiz kam – bis vor wenigen Wochen – im deutschen Denken einfach nicht vor … “ 359  Dazu etwa aus der Tagesliteratur: Verein Deutsche Sprache e. V., Sprachnachrichten Nr. 39 Oktober 2008, „Deutsch ins Grundgesetz“, sowie Nr. 41 März 2009, „Deutsch als Staatsziel“; SZ vom 8. Dezember 2008, S. 6: „Für Deutsch im Grundgesetz. CDU-Spitzen stehen im Sprachenstreit gegen Merkel.“; „Viel Zuspruch für Deutsch-Antrag“, FAZ vom 5. Dezember 2008, S. 5; Die Welt vom 3. Dezember 2008, S. 1. 360  So der gleichnamige Band des Verf. von 2009. Spezieller mein Beitrag: Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten – eine vergleichende Textstufenanalyse, FS Pedrazzini, 1990, S. 105 ff.; W. Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, VVDStRL 65 (2006), S. 386 ff. (s. auch die Aussprache, ebd.). – Grundsätzlich zuletzt A. Gamper, Verfassungsvergleichung und „gemein­ europäischer“ Verfassungsstaat, ZÖR 2008, S. 359 ff. 361  Dazu P. Häberle, Feiertage als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; ders., Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007; ders., Nationalflaggen, Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008; ders., Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, in: DÖV 1990, S. 989 ff. (auch in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 297 ff.). – Der Vorschlag von H. Prantl, das Deutschlandlied um eine Strophe mit dem DDR-Hymnentext „Auferstanden aus Ruinen“ zu ergänzen (SZ vom 21. April 2009, S. 4), ist eine willkommene Provokation.

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vorgeschlagene362 Kulturstaatsklausel für das GG wurde leider jüngst vom Bundestag erneut abgelehnt363, über die Frage „Sport als Staatsziel im GG“ mag man streiten364. (Ob die Fragen des Einbürgerungstestes geglückt sind, mag dahingestellt bleiben365, gelungen ist jedoch die wohl nach amerikanischem Vorbild erstmals erfolgte Einbürgerungsfeier im Kanzleramt366.) Und: Als Skandal muss es gewertet werden, dass die Große Koalition durch eine Verfassungsänderung die vom BVerfG kürzlich für verfassungswidrig erklärte Mischverwaltung in Sachen Job-Center „korrigieren“ wollte367 – die CDU votierte zum Glück in letzter Minute dagegen. Im Rahmen der beiden Föderalismusreformen hätte man sich durchaus neben der Schuldenbremse auch der Idee des Wettbewerbsföderalismus in Sachen Steuerrecht nach dem Vorbild der Schweiz öffnen sollen368. Freilich sollte hierzu nur das Grundsätzliche in der Verfassung geregelt werden, zu Recht wird die (geplante) detaillierte Regelung als „Verunstaltung“ der Verfassung und als Verstoß gegen die „Verfassungsästhetik“ kritisiert369. Vor allem ist die Schuldenbremse, soweit sie den Ländern ab 2020 die Aufnahme neuer Schulden untersagt (Art. 143d GG n. F.), meines Erachtens ein Verstoß gegen deren Haushalts- und Verfassungsautonomie370. Auch ist es demokratie- und rechtsstaatspolitisch unerträglich, dass in Berlin der parlamentarische Gesetzgeber zum „Gesetznehmer“ wird (Gesetzent362  P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 59. Aus der Lit. zuletzt K. Stern, Kulturstaatlichkeit – ein verfassungsrechtliches Ziel, FS H.-P. Schneider, 2008, S. 111 ff. 363  Vgl. SZ vom 20. / 21. Juni 2009, S. 5. 364  Vgl. die Forderung des DOSB, zit. nach FAZ vom 3. Juli 2009, S. 30. Dazu mein Beitrag „Sport als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen“, FS Thieme, 1993, S. 25 ff., sowie M. Nolte, Staatliche Verantwortung im Bereich Sport, 2004. 365  Z. T. abgedruckt in SZ vom 9. Juli 2008, S. 8. 366  FAZ vom 13. Mai 2009, S. 1. 367  Dazu FAZ vom 4. März 2009, S. 1. Kritisch zu Recht: S. Dietrich, „Durch eine Grundgesetzänderung soll ein verfassungswidriges Gesetz geheilt werden“, FAZ vom 21. Juli 2008, S. 8; s. auch H. Dreier, Verfassungsänderung leicht gemacht, ZSE 3 / 2008, S.  399 ff. 368  Aus der Lit.: J. Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat – Verfassungsmäßigkeit einer verbindlichen Verschuldensregel für die Bundesländer, DVBl. 2009, S.  621 ff.; I. Kemmler, Schuldenbremse und Benchmarking im Bundesstaat, Neuregelung aufgrund der Arbeit der Föderalismuskommission II, DÖV 2009, S. 549 ff. 369  Aus der Zeitungslit.: H. H. Klein, Ein erbärmliches Zeugnis, Übungsfeld für politischen Aktionismus: Die geplante Schuldenbremse verunstaltet die Verfassung, FAZ vom 7. Mai 2009, S. 8; freilich hält Bayerns Ministerpräsident H. Seehofer die berechtigte Kritik von Bundestagspräsident N. Lammert (FAZ vom 23. April 2009, S. 1) nicht für zutreffend, FAZ vom 4. Mai 2009, S. 1; überzeugend demgegenüber H. Prantl: Die Verfassung wird dicker, aber nicht besser, Seitenlange neue Regelungen zur Schuldenbremse sind ein neuer Höhepunkt in der Verschandelung des Grundgesetzes, SZ vom 5. Mai 2009, S. 5; kritisch auch W. J. Patzelt, Unsere Verfassung verträgt keine Basteleien, FAZ vom 5. Juni 2009, S. 9. 370  So auch H.-P. Schneider, Selbstmord der Kostgänger, FAZ vom 18. Juni 2009, S. 8.



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würfe von Anwaltskanzleien)371. Wenigstens sei angemerkt, dass das Grundgesetz sprachlich in der Präambel sowie in den Grundrechtsartikeln der frühen Textstufen von 1949 vorbildlich „bürgerfreundlich“ war bzw. zum Teil noch ist (vgl. aber Art. 16 a GG von 1993372, auch Art. 23 Abs. 3 bis 7 GG von 1992). Die Präambel von 1949 freilich bleibt vorbildlich, suggestiv. Sie erfüllt alle Anforderungen der kulturwissenschaftlichen Präambeltheorie (1982): sprachliche Bürgernähe, Konzentrat der Verfassung, Nachzeichnung der Geschichte und Zukunftsentwurf – Ouvertüren und Präludien der Komponisten sowie Prologen der Dichter analog. Ausblick und Schluss Ausblick und Schluss können knapp sein. Der Typus „Verfassungsstaat“ ist im raumzeitlichen Vergleich gesehen ein Projekt mit großer Tradition: fortlaufend kommt es fast weltweit zu Prozessen der Produktion und aktiven Rezeption und zu Perspektiven eines universalen Konstitutionalismus. Das Ganze ist in größere kulturelle Vorgänge eingebettet, die sich uns oft entziehen. Beteiligt sind viele – vom Bürger bis zum „Weltgeist“. Das deutsche GG ist nur ein Beispiel, freilich ein besonders gelungenes – seit 60 Jahren. Sein Ansehen ist heute weltweit groß, das darf uns mit bescheidenem Stolz erfüllen, bleibt aber auch Verpflichtung, zumal die deutsche Wiedervereinigung und die Weitergeltung des GG ein verdienter (?) Glücksfall ist. F. Stern erklärt das Jahr 1989 zum „glücklichsten des zwanzigsten Jahrhunderts“373. W. Brandts Wort: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, bleibt freilich angesichts mancher Defizite (beklagenswert ist das vorläufige Scheitern des Wettbewerbs für das vom Bundestag beschlossene Einheits- und Freiheitsdenkmal auf dem Berliner Schlossplatz374) nach wie vor eine Mahnung (Stichwort: „Ossis gegen Wessis“). Auch mag man Altbundeskanzler H. Schmidt zustimmen, wenn er meint: „Wir bleiben eine gefährdete Nation.“375 Das „Erfolgsmodell“ GG, das GG als „bewährte Verfassung“ ist ein Geschenk für uns alle, obwohl oder gerade weil wir alle daran Anteil haben376. Ob das Grundgesetz eine ganz große Bewäh371  Dazu

FAZ vom 17. März 2009, S. 11: „Gesetzgeber und Gesetznehmer“. C. Gramm / U. Pieper, Grundgesetz, Bürgerkommentar, 2008; W. Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, 2008 (2. Aufl. 2012). 373  Zit. nach FAZ vom 20. Februar 2009, S. 33, anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der New Yorker Exiluniversität an Bundeskanzlerin A. Merkel; s. aber auch A. Öhler, Schmerzlichen Glückwunsch, Sechzig Jahre Bundesrepublik, Pleiten Pech und Pannen statt Pathos – warum tun wir Deutschen uns so schwer mit staatstragenden Feierlichkeiten?, Rheinischer Merkur 18 / 2009, S. 17. 374  Die Welt vom 7. Mai 2009, S. 7; FAZ vom 6. Mai 2009, S. 31; SZ vom 7. Mai 2009, S. 13. Der Wettbewerb wurde neu ausgeschrieben, vgl. FAZ vom 3. Juli 2009, S. 31. 375  FAZ vom 22. Dezember 2008, S. 33. 376  Aufschlussreich: „Zum Abschluss der Berlinale machen sich dreizehn Regisseure ein Bild zur Lage der Nation: ‚Deutschland 09‘ “, FAZ vom 14. Februar 2009, S. 33. – Beachtlich ist auch der ansprechend illustrierte Bd.: „Unser Grundgesetz. Meine Verfassung. Ansichten von Schriftstellern“, hrsg. von K. Hempel-Soos, 2003. Mitautoren sind hier etwa W. Biermann, C. Dieckmann, E. Loest, R. Giordano. 372  Bemerkenswert

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rungsprobe wie etwa einen 11. September oder Weimar vergleichbare Massenarbeitslosigkeit bestehen würde, bleibt eine offene Frage. H. Köhlers Bild vom Grundgesetz als „Leuchtfeuer der Freiheit“377 wirkt suggestiv. Unbegreiflich ist das Wort des angesehenen Stuttgarter Rechtsanwalts R. Zuck: „Der Bürger steht der Verfassung fern, mit seinem gewöhnlichen Tagesablauf hat sie nichts zu tun.“378 H. Dreiers Kritik an der „Sakralisierung“ des Grundgesetzes379 bleibt fragwürdig. Ebenso fragwürdig ist der Vorschlag von F. Müntefering, eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu fordern380. Gleiches gilt für P. Strucks zum hundertsten Mal wiederholten Vorschlag: „Es können nicht 16 Länder bleiben“381. Die Rechtspolitik ist gefordert beim Schutz des Urheberrechts im Sinne des Heidelberger Appells gegenüber Google382. A. Arndts „Das nicht erfüllte Grundgesetz“ (1960) bleibt nach wie vor eine verfassungspädagogische Mahnung. Das Wort vom „Verfassungspatriotismus“ (D. Sternberger / J. Habermas) ist ein richtiger Versuch, dem GG als Kultur nahe zu kommen. Da der Einigungsvertrag von 1990 – ein Meisterstück von W. Schäuble – ausdrücklich die Kultur als Klammer für Ost- und Westdeutschland charakterisiert hat (Art. 35 Abs. 1: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur […] eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation“), ist es bedauerlich, dass die Berliner Kunstausstellung „60 Jahre – 60 Werke“ die Kunst unter der SED-Diktatur (z. B. den großen W. Tübke) ausgespart hat.383). Die Wirkung des GG im Rahmen des EU-Verfassungsrechts ist ebenfalls groß. Das GG hat als „fußläufige Bonner Republik“ 1949 mit großer heilsam provinzieller Bescheidenheit begonnen, das sollte man in der sog. „Berliner Republik“ nicht vergessen. Von „Karlsruher Republik“ zu sprechen (G. Casper, 2001 vor dem BVerfG) fällt mir schwer, weil wir alle „Hüter“ (besser: Interpreten) der Verfassung sind. H.-D. Genschers384 Vision einer „Weltnachbarschaftsordnung“ ist auch eine Ermu377  FAZ

vom 23. Mai 2009, S. 1. nach FAZ vom 18. März 2009, S. 23. 379  FAZ vom 24. November 2008; ders., „60 Jahre und kein bisschen heilig, Wer das Grundgesetz zur Bibel verklärt, schadet der Demokratie“, Die Zeit vom 7. Mai 2009, S. 13; vgl. auch die Kritik von C. Geyer, Geknebelte Debatte?, H. Dreiers Beitrag zum Verfassungsjubiläum, FAZ vom 9. Mai 2009, S. 33. – Zuletzt von H. Dreier: Das Grundgesetz – eine Verfassung auf Abruf?, in: APuZ 18–19 / 2009, S.  19 ff. 380  FAZ vom 15. April 2009, S. 4. Dass er diesen in einer Sitzung des Bundestags zur Würdigung des Grundgesetzes wiederholte (FAZ vom 15. Mai 2009, S. 1), spricht für sich selbst. 381  FAZ vom 28. März 2009, S. 2. – Kritisch zur Länderneugliederung schon mein Beitrag: Ein Zwischenruf zur föderalen Neugliederungsdiskussion in Deutschland – Gegen die Entleerung von Art. 29 Abs. 1 GG, FS Gitter, 1995, S. 315 ff. 382  Dazu überzeugend R. Reuß, Unsere Kultur ist in Gefahr, FAZ vom 25. April 2009, S. 33. 383  Dazu FAZ vom 2. Mai 2009, S. 33; Rheinischer Merkur, Bunte Republik Deutschland, 19 / 2009, S. 18 („Das Panorama spart die DDR aus“); s. auch E. Beau­ camp, Netzwerker und ihre Moral, Die Kunst der DDR wird zu Unrecht geschnitten, FAZ vom 5. Juni 2009, S. 13. 384  H.-D. Genscher, Für eine Weltnachbarschaftsordnung, FAZ vom 24. Oktober 2008, S. 9. 378  Zit.



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tigung für jede Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, an der das GG als sanfte, aber nachhaltige geistige Macht fast weltweit inhaltlich und personell beteiligt ist. Ist es zu hoch gegriffen, wenn man die These wagt, dass tendenziell in Sachen kooperativer Verfassungsstaat derzeit das weltoffene Grundgesetz – obwohl zur Teilverfassung geworden – fast den Beiträgen des deutschen Idealismus zur Weltkultur (I. Kant, L. v. Beethoven, F. Schiller u. a.) nahekommt? Die Frage nach der Zukunft des Grundgesetzes wage ich nicht zu stellen: Sie kennt nur der Weltgeist, der im Gegensatz zu Hegel kein Schwabe ist385. 

Inkurs IV: Mexiko – Konturen eines Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts – ein jus commune americanum Einleitung, Problem386 Im Folgenden ein Blick über Europa hinaus – gerade im Zeichen des heute oft rechtskulturell in regionale Gemeinschaften eingebundenen Verfassungsstaates: Mexiko ist gerade in allerjüngster Zeit ins Rampenlicht der europäischen, vielleicht sogar der Weltöffentlichkeit geraten. Das zeigt sich bei der „Wende“, die sich dank der demokratischen Wahl des Präsidenten V. Fox im Jahre 2000 vollzogen hat387, es 385  Jüngste GG-Jubiläumsliteratur: T. Oppermann, Deutschland in guter Verfassung – 60 Jahre Grundgesetz, JZ 2009, S. 481 ff.; M. Sachs, Das Grundgesetz in seinem sechsten Jahrzehnt, NJW 2009, S. 1442 ff.; P. Kirchhof, Das Grundgesetz – ein oft verkannter Glücksfall, DVBl 2009, S. 541 ff.; P. M. Huber, Das europäisierte Grundgesetz, DVBl 2009, S. 574 ff.; R. Lamprecht, Vom Untertan zum Bürger – Wie das Bonner Grundgesetz an seinem Karlsruher „Über-Ich“ gewachsen ist, NJW 2009, S.  1454 ff.; S.  Huster / R. Zintl (Hrsg.), Verfassungsrecht nach 60 Jahren, 2009. Die FAZ veröffentlichte am 22. Mai 2009 eine Beilage „60 Jahre Grundgesetz“ mit Aufsätzen u. a. von H.-J. Papier: „Großbaustelle Bundesstaat“, V. Skouris: „Ein ­delikater Balanceakt, das Grundgesetz vermittelt der Europäischen Union Legitimation und wird durch die Integration verändert“, W. Schäuble: „Was uns verbindet“, F. Walter: „Irrwege des Parteienstaates“, C. Özdemir: „Patriot durch Anerkennung“, D. Grimm: „Der Weg zur Musterverfassung“. Auch die Zeitung Die Welt gestaltete eine Sonderbeilage „60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“, Welt am Sonntag vom 10. Mai 2009, S. 25; D. Wellershoff, Meine Verfassung, „Wo Freiheit ist und Recht, da ist auch Vaterland“: Erzählerische Anmerkungen zum Grundgesetz, FAZ vom 23. Mai 2009, S. 42; P. Kirchhof, Gedächtnis der Demokratie, Rheinischer Merkur vom 21. Mai 2009, S. 1; J. Ipsen, Der Staat der Mitte, 2009; K. Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2010; H. Neuhaus (Hrsg.), 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 2010; P. Häberle (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz im JöR, 2011; H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009. 386  Zum Folgenden – jetzt überarbeitet – mein Beitrag in: JöR 52 (2004), S. 581 ff. 387  Dazu etwa FAZ vom 15. Juli 2002, S. 3: „Kein Pardon mehr für Reiche und Mächtige. Unter Präsident Fox arbeitet Mexiko seine Vergangenheit auf.“ Auch die kulturwissenschaftliche Forschung hat sich jüngst des Mexiko-Themas wieder intensiv angenommen, s. etwa S. Bauer, Alternative Mexikountersuchungen zu Mexikobildern in der US-amerikanischen Kulturkritik zwischen 1920 und 1933, 2002; D. Boris, Mexiko im Umbruch, 1996. Aus der neuesten deutschen rechtsvergleichen-

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zeigt sich in der Gründung einer Freihandelszone mit Nordamerika und es wurde besonders greifbar im Zusammenhang mit der Reise von Papst Johannes Paul II. im Sommer 2002 und der Heiligsprechung eines indianischen Bauern aus dem 16. Jahrhundert. Gewiss, der literarischen Öffentlichkeit ist der Schriftsteller Octavio Paz ein Begriff, aber damit kann das große Potential der vom Papst geschaffenen spezifischen Öffentlichkeit kaum verglichen werden388. In der erklärten Absicht, „indianische Werte“ zu verteidigen, spricht er selbst vom „Modell einer geglückten Inkulturation des Evangeliums“ – im Blick auf die Verehrung des Marienheiligtums von Guadeloupe bzw. den damit verbundenen neuen Heiligen Juan Diego. Die deutsche Presse hat all dies mit prägnanten Schlagworten verfolgt389. Freilich sind auch schon unerwartete Folgen verfassungsjuristischer Art eingetreten: Die Ehrerbietung des Präsidenten Fox gegenüber dem Papst, insbesondere seine Bezeichnung der Mexikaner als „katholisches Volk“ hat zu einer innenpolitischen Debatte über die Trennung von Staat und Kirche geführt390. 2012 wurde überraschend der Kandidat der Partei „Institutionalisierte Revolution“ zum Staatspräsidenten gewählt. Der Kampf gegen die übermächtigen Drogenkartelle ist jetzt seine Sache, zumal im Mexiko von heute staats- und rechtsfreie Räume existieren. Auf diesem Hintergrund mag es sinnvoll sein, verfassungstheoretische Grundsatzfragen aufzuwerfen, die man derzeit in Europa und für Europa diskutiert. Das darf nicht im Sinne einer eurozentrischen Besserwisserei geschehen, vielmehr soll das partnerschaftliche Gespräch gesucht werden, in dem Europa auch etwas von Lateinamerika lernen kann. Die „Werkstatt Verfassungsstaat“ ist heute ein universales Vorhaben, bei aller Typenvielfalt der einzelnen Länder und der Unterschiedlichkeit ihrer nationalen Kulturen. Einerseits muss mit den bescheidenen Mitteln des Verfassungsjuristen alles getan werden, dass sich ein Kontinent wie Lateinamerika mit seinem multiethnischen und multikulturellen Völkerreichtum auch im Zeitalter der Globalisierung behauptet, andererseits wird es im Blick auf den Mercosur oder ähnlich dichte wirtschaftliche Zusammenschlüsse dringlich, nach dem Koordinatensystem zu suchen, das von der verfassungstheoretischen Seite her nützlich sein könnte. Hier bietet sich die Fragestellung an, die in Europa für Europa unter dem Stichwort „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ seit 1983  /  91 diskutiert wird. M. a. W.: Gibt es schon greifbare Konturen für ein „Gemeinamerikanisches Verfassungsrecht“? – bei aller Spannung zwischen dem angloamerikanischen Raum der USA und Kanada einerseits, dem lateinamerikanischen Raum andererseits. Lassen sich vorsichtige Analogien zum schon erkennbaren Gemeineuropäischen Verfassungsrecht – und in Zukunft ausgreifend – zu einem hypothetisch denkbaren „geden Literatur mit Blick auf Mexiko A. Jooss, Das Urheberrecht in Mexiko, 2001; A. M. Pacón, Markenrecht und Verbraucherschutz in Lateinamerika, 1999. 388  Schon die Papstreise aus dem Jahre 1979 war mehr als öffentlichkeitswirksam und hat auch ihren literarischen Niederschlag gefunden, z. B. M. Lüning u. a. (Hrsg.), Der Papst in Mexiko, 1979. 389  Vgl. nur FZ vom 30. Juli 2002, S. 6: „Mit seinem Besuch in Guatemala und Mexiko ehrt der Papst die indianischen Ureinwohner“; FAZ vom 2. August 2002, S. 6: „Papst: Indianische Werte verteidigen“. 390  Dazu FAZ vom 3. August 2002, S. 5. Aus der älteren Lit. s. bereits P. Ch. Stanchina, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Mexiko, 1978.



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meinasiatischen Verfassungsrecht“ ziehen?391 In vier Teilen seien im Folgenden die angedeuteten Grundsatzfragen diskutiert. Dabei wird besonderer Wert auf die Theorie gelegt. „Vorverständnis und Methodenwahl“ seien Stück für Stück offengelegt. Erster Teil Der Theorierahmen: Ein – pluralistischer – Kulturraum, die Spannung zwischen der latein- und angloamerikanischen Kultur I. Der kulturwissenschaftliche Ansatz – eine Bekräftigung im neuen Kontext Die Frage nach der Möglichkeit von „gemeinamerikanischen Verfassungsrecht“ muss eröffnet werden durch die (erneute) Skizzierung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes. Seit 1982 Schritt für Schritt entwickelt392, ergänzt er das herkömmliche Verständnis von „Verfassung“, etwa die Lehre von der Verfassung als „Anregung und Schranke“ (R. Smend), als „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner), als „Beschränkung und Rationalisierung von Macht“ (H. Ehmke), von „Verfassung als öffentlicher Prozeß“ (P. Häberle) um die Idee, Verfassung eines politischen Gemeinwesens sei Kultur. Die Verfassungsnormen entstehen und verstehen sich aus kulturellen Prozessen und sie erklären sich aus Texten und Kontexten. Im Einzelnen heißt dies: Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es aber nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger: Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten393. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. 391  Dazu P. Häberle, Aspekte einer kulturwissenschaftlich-vergleichenden Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht – die Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang, JöR 45 (1997), S. 555 (576 ff.). Dazu der Exkurs I unten S. 710 ff. 392  Von P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1.  Aufl. 1982, 2. Aufl. 1998; Teilübersetzung ins Spanische: Teoría de la Constitutión como ciencia de la cultura, 2000. – Aus der weiteren Literatur: H. Hofmann, Recht und Kultur, 2009; S. Kirste, Föderalismus als Rechtskultur, in: I. Härtel (Hrsg.), Föderalismus, Bd. I, 2012, S. 197 ff. 393  Im nicht-juristischen, kulturanthropologischen bzw. ethnologisch gewendeten Sinne wird der Begriff „Verfassung“ nicht zufällig benutzt bei B. Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), 1975, S. 142.

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Vor allem die Kontextthese von 1979394 baut Brücken zu den für die vergleichende Verfassungslehre unentbehrlichen sog. „Nachbarwissenschaften“ wie der Verfassungsgeschichte, der Verfassungssoziologie, auch der Ökonomie und der Pädagogik. Man denke etwa an die Erziehungsziele, die Guatemala (1985) und Peru (1979) pionierhaft früh zu Verfassungsthemen gemacht haben (Stichwort: Menschenrechte / Grundrechte als Erziehungsziele). Die Relevanz des Wirtschaftlichen, auch für den Verfassungsstaat, etwa in der (zu bejahenden) Frage greifbar, wie viel Wohlstand eine Demokratie braucht (und hervorbringt) oder ob es einen einklagbaren Anspruch auf das ökonomische Existenzminimum geben muss (vgl. jetzt Art. 12 neue Bundesverfassung der Schweiz von 1999 sowie BVerfGE 125, 175), liegt auf der Hand. Zwar ist der Markt nicht das Mass aller Dinge, er ist nicht das Maß des Menschen! – von ihm geht die Staatsgewalt aus, nicht von den Märkten. Im Verfassungsstaat geht es um demokratiekonforme Märkte, nicht um „marktkonforme Demokratie“. Wohl aber lebt der Verfassungsstaat auch von den wirtschaftlichen Erfolgen und Ergebnissen seines Volkes. Das Konzept von der „Verfassung als Kultur“ kann diese Einsicht nicht zur Seite schieben, wohl aber richtig einordnen (auch universal). Der kulturwissenschaftliche Ansatz ermöglicht auch, zwischen dem Verfassungsstaat als Typus mit den Elementen Menschenwürde, Menschenrechte und Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat sowie dezentralen Strukturen wie Föderalismus und als – „kleiner Bruder“ von ihm – Regionalismus einerseits und der individuellen Beispielsvielfalt der einzelnen Länder andererseits zu unterscheiden. Sie sind durch ihre je eigene Verfassungsgeschichte geprägt, auch durch ihre Wunden und Traumata, Erfolge und Feste, sie machen das ihnen Wichtige zum Verfassungsthema (so die Ukraine in ihrem Tschernobyl-Artikel 16 von 1996), sie feiern ihre Unabhängigkeit in nationalen Festen (z. B. Art. 2 Verf. Gabun von 1991 / 94) und sie entwickeln ganz eigene kulturelles Erbe-Klauseln (Beispiele unten). Auch Nationalhymnen und ähnliche „emotionale Konsensquellen“ gehören hierher, man denke nur an die Bedeutung der Marseillaise für Frankreich oder an das Deutschland-Lied für Deutschland, in Lateinamerika an Art. 7 Verf. Honduras von 1982  /  94 oder Art. 5 (alte) Verf. ­Venezuela von 1961 / 83 sowie Art. 2 Abs. 1 Verf. Ecuador (2008). Gleiches gilt für die „Erinnerungskultur im Verfassungsstaat“. (Die Welttage der UN.) Mit dem „annus mirabilis 1989“ und der „Arabellion 2011“ hat der kulturwissenschaftliche Ansatz neue Schubkraft gewonnen. Über die weltweit vergleichende Verfassungslehre hinaus werden andere Disziplinen wie die Sprach- oder Religionswissenschaften kulturwissenschaftlich vertieft. Das darf uns ermutigen, auch im Blick auf einen anderen Kontinent und in ihm ein anderes Land wie Mexiko nach dem wissenschaftlichen „Potential“ dieses Ansatzes zu suchen: im Dienste des universalen Konstitutionalismus und „seines“ Völkerrechts. Die Grenzen seien nicht verschwiegen. Begriffe wie der „kulturelle Kontext“, „Freiheit als Kultur“ und „Freiheit aus Kultur“, „Kulturnation“, „Kulturföderalismus“ und „Kulturregionalismus“, ja sogar „kulturelle Demokratie“ erweitern und vertiefen die herkömmliche juristische Arbeit, aber sie sind nicht alles. Es bleibt die disziplinierende Rolle der Dogmatik, das „juristische Handwerkszeug“ mit seinen 394  P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff., weiterentwickelt in: ders., Europäische Verfassungslehre, 2001  /  2002, S. 9  ff. (7. Aufl. 2011); vgl. jetzt: BVerfGE 128, 326 (370).



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klassischen vier, m. E. jetzt fünf Auslegungsmethoden, der Erfahrungsschatz überhaupt, mit dem Juristen arbeiten (ob die Verfassunggeber gut beraten sind, Auslegungsmaximen für die Grundrechte vorzugeben, so etwa in Südafrika, in Kenia und im Kosovo, bleibe hier noch offen); doch vermittelt der kulturwissenschaftliche Ansatz eine Bereicherung und Sensibilisierung des Verfassungsrechts für das „hinter“ oder „vor“ den Rechtsnormen Wirkende. „Kultur“, ein Begriff, der Cicero zu verdanken ist, meint das vom Menschen Geschaffene. Dabei helfen Unterscheidungen: die Kultur im engeren Sinne des „Guten, Wahren und Schönen“ der antiken Tradition, hinzu kommt die Kultur im weiteren Sinne: Bräuche, Sitten, Techniken. A. Gehlens „Zurück zur Kultur“ ist der Gegenklassiker zu Rousseaus „Zurück zur Natur“. Freilich lässt sich das Verhältnis von Natur und Kultur letztlich wohl nicht enträtseln. Goethes: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt gefunden“ vermittelt uns eine Tendenz, aber keine letzte Wahrheit. Indes ist klar, dass bei diesem Ansatz auch Eingeborenenkulturen ihren Platz haben. In sog. Entwicklungsländern wird ihre identitätsstifende Bedeutung immer mehr bewusst. Als nicht nur humorvolles Beispiel sei die sehr ernst zu nehmende Frage gestellt und mit Ja beantwortet, ob auch Baumstämme, in denen etwa in Afrika sog. Naturvölker „Baumgeister“ vermuten, nationalen und internationalen Kulturgüterschutz verdienen. II. Der Verfassungsvergleich – national und übernational Die in Raum und Zeit komparatistische Methode395 hat eine Trias zum Gegenstand: Verfassungstexte, Verfassungstheorien und verfassungsrichterliche Judikate. Bei den Texten ist zu unterscheiden zwischen den Verfassungstexten im engeren Sinne, d. h. den geschriebenen Texten der Verfassungsurkunde und den Verfassungstexten im weiteren Sinne, d. h. den hier sogenannten „Klassikertexte“396 – man denke nur an Montesquieu oder neu an H. Jonas („Prinzip Verantwortung“), der mittlerweile seit 1979 in viele Verfassungstexte umgesetzt worden ist, in Europa etwa in der Verfassung Berns von 1993 (Präambel), in weiteren neuen schweizer Kantonsverfassungen z. B. Präambel KV Basel-Stadt von 2005 oder im neuen Art. 20a GG von 1994. Der Kanon der Klassikertexte ist offen, aber unentbehrlich für die Weiterentwicklung des Verfassungsstaates als Typus. Wir lesen zwar wohl alle Verfassungen fast universal noch heute buchstäblich „mit den Augen“ Montesquieus, d. h. seiner Gewaltenteilung, wir entwickeln diese aber weiter, z. B. in der Theorie von der vertikalen Gewaltenteilung im Bundesstaat als einem Legitimationsgrund für den Föderalismus. Klassiker brauchen solche „Erfolge“ um ihrer Wertgehalte willen, auch im Völkerrecht. 395  Eine vergleichende Fragestellung bei M. Neves, Lateinamerikanische Verfassungen zwischen Autokratismus und Demokratisierung, VRÜ 30 (1997), S. 503 ff.; H. Werz, Dezentralisierung und regionale Entwicklung in Lateinamerika, VRÜ 23 (1990), S.  190 ff.; P. Waldmann, Rechtsunsicherheit, Normpluralismus und soziale Autonomie in Lateinamerika, VRÜ 31 (1998), S. 427 ff.; A. Ferraro, Machtwille und Machtressourcen der lateinamerikanischen Parlamente, VRÜ 35 (2002), S. 23 ff. 396  Dazu P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981; M. Kotzur, Die Wirkweise von Klassikertexten im Völkerrecht, JöR 49 (2001), S. 329 ff.; B. Fassbender u. a. (Hrsg.), Basistexte: Völkerrechtsdenken, 2012.

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Texte, Theorien und Judikate gehen im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates eine wechselvolle Synthese ein: Bald genügt bei einer jungen Verfassung der blosse Text, bald können wir ihn nur noch mit Hilfe von Theorien verstehen, bald gilt das deutsche Grundgesetz nur noch so, wie es vom BVerfG seit mehr als 60 Jahren ausgelegt wird, um eine berühmte Formel aus den USA (unter Berufung auf R. Smend) abzuwandeln. Vor allem aber lässt sich allenthalben die Richtigkeit des 1989 vorgeschlagenen Textstufenparadigmas belegen397. Was im einen Verfassungsstaat noch nicht Text ist, entwickelt sich im anderen schon als Verfassungswirklichkeit durch Staatspraxis, Theorien und richterliche Entscheidungen. Später rezipiert der benachbarte Verfassungsstaat im Wege einer Verfassunggebung oder einer Verfassungsänderung diese „fremde“ Wirklichkeit, bringt sie „nachholend“ auf Texte und Begriffe und schreibt so die alte Verfassung um eine und auf einer neuen Stufe fort. In nationalen Verfassungen in Europa lassen sich hierfür viele Beispiele für die Richtigkeit des Textstufenparadigmas anführen: etwa bei den Grundrechten in Gestalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (jetzt auch auf EU- und EMRK-Ebene gültig)398, beim differenzierten grundrechtlichen Wesensgehaltschutz (pionierhaft ist hier die Schweiz, vgl. Art. 28 KV Bern von 1993, Art. 36 nBV Schweiz, jetzt Art. 52 Abs. 1 S. 1 EU-Grundrechtecharta von 2007), beim Pluralismus-Prinzip im Medienverfassungsrecht – vgl. Art. 11 Abs. 2 EU- Grundrechte-Charta – (prätorisch wirkte hier europaweit das deutsche BVerfG), bei der „Bundestreue“, auch in Regionalstaaten wie Spanien und beim Verfassungsrecht der politischen Parteien. Vor allem die neuen Verfassungen in Osteuropa bringen vieles auf Texte und Begriffe, was in Westeuropa sich nach und nach in der Verfassungswirklichkeit entwickelt hat. Die aktiven Rezeptions- und Produk­ tionsprozesse in Sachen der Prinzipien des Verfassungsstaates sind heute weltweit (auch nach Lateinamerika sowie auf den Balkan hin) zu beobachten. Das Geben und Nehmen kennt keine Grenzen zwischen Kontinenten, Regionen und Nationen. Möglich wird ein universaler Konstitutionalismus, angedeutet in der Präambel der Verf. Polen von 1997: „universale Werte“ (ebenso Präambel Verf. Albanien von 1998, Präambel EUV von 2007), unter Einschluss des universalen Völkerrechts. Das Textstufenparadigma lebt nicht zuletzt aus der Kanonisierung der Rechtsvergleichung zur „fünften“ Auslegungsmethode. Nach den klassischen vier von F. C. von Savigny (1840) brauchen wir heute die erklärte Aufwertung der Rechtsvergleichung zur fünften Methode, ein Vorschlag aus dem Jahre 1989399. Zwar lässt sich im Einzelfall der Rechtsanwendung das Zusammenspiel der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden nicht vorweg abstrakt postulieren, da erst die oft intuitive Gerech397  Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S.  555 ff. 398  Vgl. etwa EuGH, Slg. 1989, 2237 (2269); aus der Lit. mit zahlreichen Nachweisen J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht II, 1988, S. 661 ff. Jetzt Art. 52 Abs. 1 S. 2 EU-Grundrechte-Charta von 2007. 399  P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff. Aus der Lit.: E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 230; B. Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005; A. M. Cárdenas Paulsen, Über die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des BVerfG, 2009; A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010.



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tigkeitskontrolle (durch den Richter) den Pluralismus der Methoden zusammenführt bzw. ordnet. Doch erweist sich im Einigungsprozess des heutigen Europa die Rechtsvergleichung immer klarer als unentbehrlich. Sie wird von den nationalen Verfassungsgerichten oft uneingestandenermassen praktiziert, sollte aber offengelegt werden. Dabei wirkt die schöpferische Kraft der Rechtsvergleichung auf zwei Ebenen bzw. in zwei Formen: als Rechtsvergleichung in der Hand des (Verfassungs-) Richters (und des Staatsrechtslehrers) und als Rechtsvergleichung im Dienste der Rechtspolitik (Im Völkerrecht dürfte Analoges gelten). Letztlich freilich hat jede Art Rechtsvergleichung noch tiefer zu greifen: zu fragen ist nach den Rechtsnormen philosophisch vorausliegenden Prinzipien, Texten, Paradigmen. So beruhen viele europäische Grundlagen des Strafrechts auf der Philosophie von I. Kant, letztlich etwa auch der Satz „nulla poena sine lege“ (P. J. A. Feuerbach, vgl. Art. 31 Abs. 4 Verf. Litauen von 1992, Art. 25 Abs. 1 Verf. Montenegro von 1992; BVerfGE 128, 326 (376)), so sind viele Menschenrechte durch den Rationalismus der Aufklärung geprägt, so hat das Modell des Gesellschaftsvertrags seine lange und tiefe Philosophiegeschichte in Europa und darüber hinaus (von J. Locke bis J. Rawls bzw. den „Runden Tisch“), um nur wenige Beispiele zu nennen. Damit führt der Weg zurück zu Klassikertexten, ggf. auch von Dichtern, etwa von F. Schiller zur Menschenwürde oder von B. Brecht zur Staatsgewalt („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?“). Im Kraftfeld solcher Teilphilosophien, etwa des Kritischen Rationalismus von Popper, „gelten“ letztlich wohl die meisten Rechtsnormen. Die philosophischen Ideen wirken wie ein großer Katalysator, machen vor allem die Verfassung zu einem „öffentlichen Prozess“400 (als Verfassung „im Diskurs der Welt“), auch des Internationalen Rechts. III. Anknüpfungspunkte für ein Gemeinamerikanisches Verfassungsrecht: Der „Modellcharakter“ Europas – Europa im engeren und weiteren Sinne, die Teilverfassungen Vorweg seien einige Strukturierungen des Europäischen Verfassungsrechts skizziert. Erst dann kann nach den Analogiemöglichkeiten im Blick auf ein gemein(latein) amerikanisches Verfassungsrecht gesucht werden. Zu unterscheiden ist zwischen dem Europarecht im engeren Sinne der EU (einer „Teilverfassung“) in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam (1992 / 97) sowie Lissabon (2007)401 und dem Europarecht im weitern Sinne des Europarates bzw. der OSZE (mit seinen derzeit 47 bzw. 56 Mitgliedern). Das Europa im engeren Sinne der EU ist schon in sehr intensiver Dichte teilverfasst. Demgegenüber gibt es für den Raum des Europa im weiteren Sinne nur sehr fragmentarische, ja punktuelle Verfassungsstrukturen; die tragfähigste ist die EMRK von 1950 in ihrem schon weiträumig großen Geltungsbereich402. 400  P.

Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß (1978), 3. Aufl. 1998. Ganzen meine Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, bes. S. 223 ff. 402  Aus der Lit.: J. A. Frowein / W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3.  Aufl. 2009; C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008; K. W. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, 1985; J. Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, 3. Aufl. 2011. 401  Zum

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Bei all dem ist kulturwissenschaftlich zu arbeiten: Europa ist ein kultureller Begriff, in seinen Grenzen offen und flexibel (Problemfall Israel, auch die Türkei, auch wenn diese heute Homer entdeckt403). Die Charakteristika der europäischen Rechtskulturen, die zugleich die wirksamsten „Bindemittel“ sind, seien hier nur kurz aufgezählt: Geschichtlichkeit (mit dem Höhepunkt des Römischen Rechts), die Wissenschaftlichkeit (einschließlich der wissenschaftlichen Dogmatik), die Unabhängigkeit der Rechtsprechung (samt ihren Konnexgarantien wie dem rechtlichen Gehör und anderen due-process-Garantien (etwa „ne bis in idem“: Art. 34 Verf. Albanien von 1998, Art. 27 Verf. Montenegro von 1992), Ausprägung des „europäischen Rechtsstaates“), die weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des Staates mit ihrer grundlegenden Religionsfreiheit (wobei es freilich viele Varianten des Religionsverfassungsrechts gibt: von der strengen Trennung von Staat und Kirche in Frankreich bis zu den Kooperationsformen wie in Deutschland, „Religionsfreundlichkeit“), die europäische Rechtskultur als Vielfalt und Einheit – die Pluralität des nationalen Rechts ist ein Teil der europäischen Identität sowie sechstens die Partikularität und Universalität der europäischen Rechtskultur – partikulär sind Einzelausprägungen wie der offene Regionalismus oder Föderalismus, manche Grundrechte wie der Schutz kultureller Minderheiten als solcher oder die Alternativen von parlamentarischem oder präsidialem Regierungssystem; universaler Natur sind vor allem die Garantie der Würde des Menschen (Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als „universelle Werte“: Präambel EUV von 2007), immanent: Rechtsschutz. IV. Vergegenwärtigung der Theorie des „Gemeineuropäischen Verfassungsrechts für den lateinamerikanischen Kontext 1991 erstmals systematisch entfaltet, sei das Theorieraster des „Gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ kurz umrissen, um es für eine spätere Bereitstellung für Lateinamerika bzw. eine etwaige weltweite Analogiebildung zu öffnen. Dabei sind hier nur (auch für das Völkerrecht relevante) Stichworte möglich. 1.  Das „Gemeinrecht“ ist eine erprobte rechtswissenschaftliche Kategorie, die im Zivilrecht in Anknüpfung an das alte europäische jus commune vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von der modernen Privatrechtswissenschaft wiederbelebt wurde und zwar zur Überwindung des klassischen Nationalstaates und seines etatistischen Rechtsquellenmonopols. Gemeinrecht zielt auf gemeinsam ausgerichtete Rechtsentwicklungen, die grenzüberschreitend wirken, das Grundsätzliche hervorheben und letztlich auf einem gemeinsamen Wurzelboden der Rechtskultur und Kultur basieren. „Gemeinrechtsdenken“ hat eine heuristische Funktion und dient dazu, im Europa von heute das Gemeinsame im Zivilrecht und Strafrecht, aber auch im Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht bewusst zu machen und weiterzuentwickeln. 2. Die Prinzipienstruktur des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts verweist auf das wirklich Grundlegende, nicht auf das formelle Detail, zugleich auf Flexibilität und Offenheit. Der Begriff „Prinzipien“ hat vor allem seit J. Essers große Monographie „Grundsatz und Norm“ (1956, 4. Aufl. 1990) vom deutschen und angloamerikanischen Privarecht her Karriere gemacht und auch die Theorie der Grundrechte 403  Dazu

FAZ vom 27. August 2002, S. 34.



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seit R. Alexys Werk (1985) befruchtet (so sehr dieses das Sozial- und Kulturbild der Grundrechte sowie ihre soziale Funktion vernachlässigt – die Leitbildthese aus dem Jahre 1962). In Europa geht es um verallgemeinerungsfähige Verfassungsprinzipien über alle nationalstaatlichen Grenzen hinweg. Sie können auch zu einer Kräftigung der oft beschworenen „europäischen Identität“ bzw. des „gemeinsamen kulturellen Erbes“ (Art. 167 Abs. 1 AEUV) führen (Paralleles universal). 3. Es gibt zwei Wege der Rechtsgewinnung in Sachen gemeineuropäisches Verfassungsrecht. Zum einen geht es um Rechtspolitik. Hier sind alle Verfassunggeber in Europa gefordert: die auf der nationalen wie übernationalen Ebene. Zum anderen geht es um den Weg interpretatorischer Rechtsfindung: auf der nationalen wie übernationalen Ebene. Nicht nur die Richter der nationalen und europäischen Verfassungsgerichte sind nach Maßgabe einer noch zu entwerfenden gemeineuropäischen Methodenlehre gehalten, durch Vergleichen des Gleichen und Ungleichen, „wertend“ i. S. der Lehre von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode vorzugehen. Auch die einzelnen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften müssen in Kenntnis der jeweils anderen um das Gemeineuropäische Verfassungsrecht ringen. Dabei gibt es auch eine Arbeitsteilung zwischen den unterschiedlichen Literaturgattungen: vom Lehrbuch über den Kommentar und das Handbuch bis zum Grundlagenaufsatz und zur Urteilsrezension. Alle nationalen Rechtskulturen müssen darum ringen, mit ihren verschiedenen Stimmen – voneinander lernend – Beiträge zur „europäischen Identität“ zu leisten, ohne ihre nationalen Identitäten aufzugeben404. Diese knappe Zusammenfassung muss hier genügen, um nach den Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit dieser Theorie auf (Latein)Amerika zu suchen. Zweiter Teil Der Bestand in Lateinamerika – Typologie gemeinamerikanisch orientierter Texte in iberoamerikanischen Rechtskulturen (Auswahl) – ein Theorierahmen Vorbemerkung Konstitutionelle Rechtstexte bringen in besonders konzentrierter Form Inhalte zum Ausdruck, die sonst (etwa aus einer Zusammenschau der richterlichen Entscheidungen und wissenschaftlichen Dogmatik) für einen einzelnen Gelehrten im Ganzen schwer erschließbar sind. Sie mögen oft (noch) „deklaratorisch“ und „deklamatorisch“ bzw. „semantisch“ wirken, Programm oder gar utopisch sein: einmal in der Welt, können solche Texte mittel- und langfristig doch normative Kraft entfalten und Trends ankündigen, die im politischen Prozess liegen. Ihr oft größerer Abstraktions- und Verdichtungsgrad erhöht ihre „Potentialität“ „im Laufe der Zeit“. In Sachen Europäischer Einigung seit 1952 sind auf den nationalen wie übernationalen Ebenen nach und nach sehr variantenreiche ausgekräftigte Texte entstanden, die über Europa hinaus Vorbild sein könnten: etwa in Lateinamerika (später vielleicht auch in Asien und auf 404  Zum Vorstehenden: P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; auch mehrfach ins Spanische übersetzt, z. B. in: Revista de Estudios Politicos 79 (1993), S. 7 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

der arabischen Seite des Mittelmeers als „mare nostrum constitutionale“). Die dortigen Länder machen sich erst langsam auf den Weg einer kontinentalen Vergemeinschaftung bzw. Integration, die einzelnen Nationalstaaten sind noch stark auf sich selbst bezogen. Doch ist zu vermuten, dass es schon heute durchaus Textmaterialien gibt, die mindestens Vorstufen oder „Vorboten“ für eine großräumige Integration sind. Man darf zwar kein „nationales Amerika-Verfassungsrecht“ erwarten, das den differenzierten Erscheinungsformen des „nationalen Europaverfassungsrechts“ entspricht, etwa einen Art. 23 n. F. GG (Europa als Staatsziel) oder Art. 7 Abs. 5 Verf. Portugal („europäische Identität“) sowie die Europa-Artikel in italienischen sowie spanischen Regionalstatuten und österreichischen Landesverfassungen, wohl aber sollte eine sensible Textstufenanalyse einige Ergebnisse zeitigen, die auf den gemeinamerikanischen Weg hindeuten und Umrisse „lateinamerikanischer Identität“ im Rahmen ganz Amerikas ahnen lassen, auch Ausdrucksformen des universalen Konstitutionalismus. I. Allgemeine und spezielle „Amerika-Artikel“ in lateinamerikanischen Verfassungen 1. Bestandsaufnahme Die zahlreichen Europaartikel in italienischen Regionalstatuten sowie in österreichischen Landesverfassungen und in spanischen Regionalstatuten wurden schon erwähnt. Hieran knüpft das Folgende an: „Amerika“, „Lateinamerika“ oder einzelne Regionen wie „Zentralamerika“ oder der karibische Raum finden sich textlich in mannigfachen Formen. Sie begegnen im (an rhetorischen Figuren oft sehr reichen) Text und Kontext von Präambeln, im Gewand der Staatsaufgaben, im Zusammenhang mit Verfassungsnormen zur Staatsbürgerschaft (Öffnungen auch für kulturraummäßig verwandte Bürger: Naturalisation / Einbürgerung) und an sonstigen Stellen geschriebener Verfassungen. Hier eine Auswahl von Beispielen405: Art. 9 Verf. ­Nicaragua von 1986 spricht teils von „Mittelamerika“ und „Karibik“ als Ziel der lateinamerikanischen Integration. Art.  37 Abs.  1 Verf. Bolivien (1967 / 95)406 privilegiert Spanier und Lateinamerikaner in bestimmter Hinsicht bei der Naturalisation. Art. 4 einziger Paragraph Verf. Brasilien (1988)407 macht die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle „In405  Die folgenden Texte sind zit. nach L. Lopez Guerra / L. Aguiar (coord.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1998 (Neuausgabe). 406  Aus der Lit.: F. F. Segado, La Jurisdiccion Constitucional en Bolivia, VRÜ 34 (2001), S. 315 ff., 520 ff.; A. Schilling-Vacaflor, Recht als umkämpftes Terrain: Die neue Verfassung und die indigenen Völker in Bolivien, 2010. 407  Allgemeine Lit. zu Brasilien: M. Neves, Verfassung und Positivität des Rechts der peripheren Moderne, 1992, S. 110 ff.; H. Bergmann Avila, Materiell verfassungsrechtliche Beschränkungen der Besteuerungsgewalt in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, 2002; C. G. Caubet, La Constitution bresilianne à l’epreuve des faits, JöR 38 (1989), S. 447 ff.; A. Krell, 10 Jahre brasilianische Bundesverfassung, VRÜ 32 (1999), S. 8 ff.; M. A. Maliska, Verfassung und normative Kooperation: Zum übergesetzlichen Status internationaler Menschenrechtsverträge in Brasilien, VRÜ 44 (2011), S. 316 ff.; ders., Die Geschichte des brasilianischen Fö-



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tegration“ Lateinamerikas zur Staatsaufgabe des Bundes und statuiert als Ziel die Bildung einer „lateinamerikanischen Gemeinschaft“408. Auch stellt Art. 12 I § 1 die in Brasilien ansässigen Portugiesen unter bestimmten Voraussetzungen den eigenen Staatsangehörigen gleich. Präambel Verf. Kolumbien (1991 / 96) verlangt schon in der Präambel, der „Integration der lateinamerikanischen Gemeinschaft“ Impulse zu geben. Nicht genug, verlangt eine Verfassungsnorm im Rahmen der GrundlagenArtikel (Art. 9 Abs. 2), die Außenpolitik Kolumbiens409 an der Integration Lateinamerikas und der Karibik zu orientieren. Erneut (vgl. die Popularverfassungsbeschwerde) bewährt sich die Verfassung Kolumbiens im lateinamerikanischen Raum von heute als eine der innovativsten und kühnsten: Die lateinamerikanische Integration wird nämlich gleich an zwei Stellen erwähnt, während der Textstufe nach ältere Verfassungen diesbezüglich oft zurückhaltender sind. Das Gesagte bestätigt sich im Kapitel über die Internationalen Beziehungen. Art. 227 Verf. Kolumbien bekennt sich ganz allgemein zur Aufgabe der ökonomischen, sozialen und politischen Integration, hebt aber speziell die Länder Lateinamerikas und der Karibik410 hervor und stellt sogar „supranationale Organisationen“ in Aussicht, die eine „lateinamerikanische Gemeinschaft der Nationen“ schaffen sollen. Der Gesetzgeber wird überdies ermächtigt, Direktwahlen zu einem lateinamerikanischen Parlament zu eröffnen. Kolumbien steht damit an der Spitze „nationalen lateinamerikanischen Verfassungsrechts“ bzw. der lateinamerikanischen Integration als Staatsziel bzw. Verfassungsauftrag. Die „lateinamerikanische Gemeinschaft“ ist Verfassungsthema geworden (zur „mittelamerikanischen Einheit“: Art. 9 Verf. Nicaragua von 1986). Die weit ältere Verf. von Costa Rica (1949 / 97) behandelt das Thema demgegenüber nur im Rahmen der Bestimmungen zur Naturalisation (Art. 14), insofern sie die ansässigen Bürger aus Zentralamerika, Spanien und Iberoamerika unter bestimmten Voraussetzungen den eigenen Staatsangehörigen gleichstellt (Einbürgerungen). Ähnlich geht Art. 92 Ziff. 1 Verf. El Salvador (1983  /  91) vor. (Alte) Verf. Ecuador (1979 / 98) bekennt sich im Kontext der internationalen Beziehungen (Art. 4 Ziff. 5) speziell zur auf die Anden und Lateinamerika bezogenen Integration. Die Verf. von Guatemala (1985 / 97), auf vielen Gebieten ein besonders kreatives Dokument, etwa in Sachen Erziehungsziele (Art. 72), behandelt das Thema „Zentralamerika“ zum einen in Art. 145 (Staatsangehörigkeit), zum anderen in einem differenzierten „Zentralamerika-Artikel“ (Art. 150) unter der Überschrift „Die zentralamerikanische Gemeinschaft“. Die Rede ist vom Bund (Föderation) der zentralamerikanischen Staaten, der partial oder total eine Praxis der politischen und ökonomischen Union herbeiführen deralismus, JöR 58 (2010), S. 617 ff.; G. Mendes, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Brasilien, JöR 57 (2009), S. 679 ff.; H. Sangmeister, Wirtschaftsreformen in der Verfassung Brasiliens, JöR 50 (2002), S. 557 ff. 408  s. auch W. B. Berg, Lateinamerika. Literatur – Geschichte – Kultur, 1995. 409  Aus der Lit.: A. Timmermann, Der Schutz des subjektiven Rechts in der kolumbianischen Verfassung, VRÜ 32 (1999), S. 31 ff. 410  Aus der Lit.: K. Leuteritz, Die Verfassung karibischer Commonwealth-Staaten, VRÜ 29 (1996), S. 139 ff.; J. Lehmann, Der Vertrag über den karibischen Gerichtshof im System der CARICOM, VRÜ 33 (2000), S. 282 ff.; M. DeMevieux, Existing Law and the Implementation of a Bill of Rights: A Caribbean Perspective, VRÜ 19 (1986), S.  5 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

soll (auf der Basis der Gleichheit). Art. 151 (Beziehung zu verwandten Nationen) begeht vorbildlich Neuland411. Die Verfassung Honduras (1982 / 95) beschwört schon in der Präambel die „Restauration der zentralamerikanischen Union“ und sie naturalisiert auch konsequenterweise die in Honduras ansässigen Zentralamerikaner (Art. 24 Ziff. 1). Die Verfassung Nicaraguas (1995) bedient sich bei der Behandlung des Themas schon in der Präambel der klassischen „im Geist-Formel“ mit den Worten: „im Geist der zentralamerikanischen Einheit“. Folgerichtig räumt sie in Art. 17 den Zentralamerikanern Optionsrechte in Bezug auf die Staatsangehörigkeit Nicaraguas ein (Art. 17). Verf. Panama (1972 / 1994) eröffnet die Naturalisation den Spaniern und Lateinamerikanern (Art.  10 Ziff.  3). Die Verf. der Dominikanischen Republik (1962 / 1966) postuliert im Kontext der Grundlagenartikel in Art. 3 Abs. 2 die „ökonomische Solidarität der Länder Amerikas“. Die Verfassung Uruguays (1967 / 96) spricht sich in Art. 6 Abs. 2 für die soziale und ökonomische Integration der lateinamerikanischen Staaten aus. Die Verfassung von Peru (1979) zeigt sich in der Präambel „überzeugt von der Notwendigkeit, die Integration der lateinamerikanischen Völker voranzutreiben“412. Art. 92 erleichtert den gebürtigen Lateinamerikanern und den ansässigen Spaniern die Einbürgerung. Präambel (alte) Verf. Venezuela (1961 / 83) spricht sich in besonderer Weise für die Zusammenarbeit mit den „Schwesterrepubliken des Kontinents“ aus. Die Präambel Verf. Ecuador (2008) bekennt sich intensiv zur „lateinamerikanischen Integration“ (s. auch Art. 422). 2. Erste Folgerungen In Lateinamerika gibt es schon „Lateinamerika-, Amerika- und ZentralamerikaKlauseln“, freilich recht unterschiedlicher Art. Die diesbezügliche Integration (Vergemeinschaftung) wird systematisch in unterschiedlichen Kontexten als Ziel normiert. Die „lateinamerikanische Gemeinschaft“, Union bzw. Solidarität gibt es schon als Verfassungstext413. Auffällig ist, dass die Begriffe Lateinamerika oder Zentralamerika nicht näher definiert werden. Ähnlich den Europa-Artikeln in europäischen Verfassungen oder supranationalen Rechtstexten der EU oder des Europarats dürfte es sich um einen offenen, primär kulturellen Begriff handeln, mit geographischen Komponenten. „Lateinamerika“ ist primär ein kulturwissenschaftlich zu erschließender Begriff. Auch hier lässt sich eine Parallele zu Europa ziehen414. Im Ganzen aber befindet sich, was die ausdrücklichen Verfassungstexte angeht, der Typus Verfassungsstaat in Lateinamerika beim Thema Integration noch auf einer recht frühen 411  Dazu mein Beitrag: Aspekte einer kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht, JöR 45 (1997), S. 555 (568 f.): „Wahlverwandtschaftsklausel“, Herstellung einer spezifischen „Verantwortungsgemeinschaft“. Dazu noch unten Exkurs I (S. 710 ff.). 412  Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.; s. auch den Beitrag von K.-P. Sommermann, Verfassungsrecht und Verfassungskontrolle in Peru, ebd., S. 598 ff. 413  Eine institutionelle Ausprägung ist das „Lateinamerikanische Parlament“: zu dieser „unbekannten Organisation“: U. Zelinsky, VRÜ 12 (1979), S. 47 ff. Aus der Lit. zuletzt: W. Hummer, Neuerungen im lateinamerikanischen und karibischen Integrationsrecht 2006, VRÜ 40 (2007), S. 76 ff. 414  Dazu P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1997, S. 13 ff.



Inkurs IV: Mexiko – Gesamtamerikanisches Verfassungsrecht223

Entwicklungsstufe. Besonders weit geht indes früh die erstklassige Verfassung Kolumbiens (1991), später die von Ecuador (2008). Verfassungspolitisch stellt sich die Frage, ob die lateinamerikanischen Länder mehr „nationales amerikanisches Verfassungsrecht“ wagen sollen (vor allem gilt dies wohl für Mexiko). Manche Europa-Artikel auf dem alten Kontinent könnten hier als Vorbild wirken. Das diente dann auch der Entwicklung von Gemeinamerikanischem Verfassungsrecht. Bei all dem könnten die supranationalen Texte der AMRK, der OAS etc. Impulse vermitteln und panamerikanische Identität schaffen, zu der der Schutz der Eingeborenenkulturen gehört (Multiethnizität, Multikulturalität, etwa in Brasilien und Ecuador, auch Bolivien). Als „regionales Verfassungsrecht“ verdienen der Mercosul und der Andenpakt Aufmerksamkeit. Die supranationalen Organe internationaler und regionaler Gemeinschaften werden oft zum „indirekten“ Verfassunggeber (was sich in Europa zuletzt in Art. 22 Verf. Kosovo und Art. II Ziff. 2 Verf. Bosnien- Herzegowina zeigt). Auch so entsteht universaler Konstitutionalismus. 3. Insbesondere: Gemeinamerikanische Textbilder auf der supranationalen Ebene Die bisher analysierten nationalen Verfassungstexte zum Thema Lateinamerika, latein- bzw. zentralamerikanische Gemeinschaft und der Karibik stehen nicht für sich. Auf der supranationalen Ebene des Völkerrechts gibt es – ihnen historisch meist vorausgegangene – große Texte zum gleichen Thema und sie sind sogar weit dichter, variantenreicher und auf eine Weise „größer“, mögen sie auch oft nur „soft law“ sein. Die einzelnen Nationen haben sie bislang allzu zögerlich verarbeitet. Die folgende Auswahl von Teilverfassungen mag dies belegen, wobei grundsätzlich die historische Entwicklung nachgezeichnet wird, da historisch, nicht systematisch vorgegangen wird. In der Charter of the Organization of American States (Bogotà Charter) vom 30. April 1948415 heißt es in der Präambel: „Convinced that the historic mission of America is to offer to man a land of liberty … Confident that the true significance of American solidarity … can only mean the consolidation on this continent, within the framework of democratic institutions of a system of individual liberty and social justice based on respect for the essential rights of man“. Konzentrierter und treffender können die Grundwerte des ganzen amerikanischen Kontinents gar nicht „konstitutionalisiert“ werden. Damit werden aber auch panamerikanische Verfassungsprinzipien sichtbar, die in Kap. VI um „Ökonomische Standards“, in Kap. VII um „Soziale Standards“, in Kap. VIII um „Kulturelle Standards“ ergänzt sind. Kap. XIII etabliert ausdrücklich ein ständiges Organ, die „Panamerikanische Union“, und Art. 74 umschreibt Amerika direkt von der Kultur her in dem Schutzauftrag zugunsten der „culture for the indigenous groups of the American countries“ (lit. d) und in der großen, auf ganz Amerika bezogenen kulturelles Erbe-Klausel (lit. e): „To cooperate in the protection, preservation and increase of the cultural heritage of the 415  Zit. nach F. Berber (Hrsg.), Völkerrechtliche Dokumentensammlung, Bd. I, 1967, S. 678 ff. – Aus der Lit.: R. Dolzer, Enforcement of International Obligations through Regional Arrangements: Structures and Experiences of the OAS, ZaöRV 47 (1987), I., S. 113 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

continent“. War es im Februar 1960 zu einer lateinamerikanischen Freihandelszone gekommen, also einem regionalen, nicht auf das ganze Amerika bezogenen Zusammenschluss, so erreicht die Idee der panamerikanischen Wertegemeinschaft eine neue Textstufe in der Satzung der OAS (1967) einerseits, in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (1969) andererseits. Zuletzt sei der Mercosul erwähnt416. Bereits in der Präambel der Satzung der OAS fallen die Stichworte, die einen Wertekanon für das ganze Amerika andeuten und beim Ringen um ein etwaiges Gemeinamerikanisches Verfassungsrecht die Basis legen. In der Präambel wird die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass es die „historische Mission Amerikas ist, für den Menschen ein Land der Freiheit zu sein“. Sodann wird die „Achtung von wesentlichen Menschenrechten innerhalb des Rahmens demokratischer Einrichtungen auf diesem Kontinent“ postuliert; gesprochen wird von einem „erhöhten Maß enger kontinentaler Zusammenarbeit“. In Art. 3 lit. k ist die vielleicht schönste, dichteste Textstufe erreicht in dem Satz: „Die geistige Einheit des Kontinents beruht auf der Achtung vor den kulturellen Werten der amerikanischen Länder und erfordert deren enge Zusammenarbeit für die hohen Ziele der Zivilisation“. In der Richtlinienklausel von Art. 46 S. 2 heißt es prägnant: „Sie (sc. die Mitgliedstaaten) fühlen sich jeder für sich und gemeinsam verpflichtet, das kulturelle Erbe der amerikanischen Völker zu wahren“ – ein Stück des amerikanischen Konstitutionalismus. Die AMRK von 1969 ist in vielem der älteren EMRK von 1950 verwandt417. Herausgehoben sei das Präambelelement: „Absicht, in dieser Hemisphäre ein System persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit im Rahmen demokratischer Institutionen zu festigen, die sich auf den Respekt für die wesentlichen Rechte des Menschen gründet“, sodann die Andeutung einer Grundrechtsverwirklichungsklausel („Schaffung von Bedingungen, unter denen jeder seine … Rechte genießen kann“). In Art. 41 wird der Inter-amerikanischen Kommission für Menschenrechte u. a. zur Aufgabe gemacht, über die Förderung der Rechte zu wachen, „die in den wirtschaftlichen, sozialen, bildungsmäßigen, wissenschaftlichen und kulturellen Standards“ der Charta der OAS in der Fassung des Protokolls von Buenos Aires inbegriffen sind (vgl. auch Art.  26: „volle Realisierung der Rechte zu erreichen, welche in den … Standards der Charta der OSA inbegriffen sind“). Im Übrigen sind im Kata416  Aus der Lit.: A. Maliska, Die Supranationalität im Mercosul, JöR 56 (2008), S.  639 ff. 417  Das belegen nicht zuletzt vergleichende Untersuchungen wie M. Maslaton, Notstandsklauseln im regionalen Menschenrechtsschutz. Eine vergleichende Untersuchung der Art. 15 EMRK und Art. 27 AMRK, 2001. Allgemein zum interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystem C. Medina Quiroga, The battle of human rights, 1988; speziell zur Vertragsstruktur des (interamerikanischen) Menschenrechtsschutzes E. W. Vierdag, Some Remarks about Special Features of Human Rights Treaties, in: Netherland Yearbook of International Law 1994, S. 119 ff.; H. Ruiz Miguel, Advisory Function in the intern American System of Human Rights, JöR 47 (1999), S. 15 ff.; L. Burgorgue-Larsen (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights – Case Law and Commentary, 2011; H. Faúndez Ledesma, The Interamerican System for the Protection of Human Rights. Institutional and Procedural Aspects, IIDH 3. Aufl. 2008; D. Harris / S.  Livingstone (Hrsg.), The Inter-American System of Human Rights, 1998; A. A. Cançado Trindade, Die Entwicklung des interamerikanischen Systems zum Schutz der Menschenrechte, ZaöRV 70 (2010), S. 629 ff.



Inkurs IV: Mexiko – Gesamtamerikanisches Verfassungsrecht225

log der Bürgerlichen und Politischen Rechte (Art. 3 bis 25) jene Themen konzentriert aufgelistet, die in vielfachen Entsprechungen in zahlreichen nationalen lateinamerikanischen Verfassungen geschrieben sind. In manchem mögen sie von der AMRK direkt inspiriert sein, in manchem könnten aktive Rezeptionsprozesse direkt von den Mutterländern Spanien und Portugal her erfolgt sein. Aus diesem Grunde seien nachstehend unter II. der Typologie die Verfassungsthemen behandelt, die in nuce Hinweise auf Gemeinamerikanisches Gedankengut, etwa in Sachen Menschenrechte, Vorrang der Verfassung, Habeas Corpus, Demokratie, sozialer Rechtsstaat, Schutz der Eingeborenenkulturen, Gewaltenteilung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Volksanwälte, soziale und kulturelle Rechte etc. enthalten. Zu fragen bleibt auch nach den Unterschieden zwischen der „europäischen Identität“ (vgl. Art. 3 Abs. 4 EUV, Art. 167 AEUV) und der „panamerikanischen Identität“. II. Normenensembles bzw. Artikelgruppen mit tendenziell panamerikanischen Gehalten Nach der Vergegenwärtigung des Theorierasters des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts (und einer Analyse der Süd- bzw. Mittel-Amerika-Klauseln) seien jetzt die Konkretisierungsschritte im Blick auf Amerika gewagt. Folgende Anknüpfungspunkte für ein gemeinamerikanisches Verfassungsrecht, das diesen Namen verdient, seien als „Wachstumsfermente“ bezeichnet („scriptura … crescit“): 1. Nationale und interamerikanische Menschenrechtstexte Sie lassen sich aus einer „wertenden Rechtsvergleichung“ aller nationalen Grundrechtskataloge einerseits und der AMRK andererseits herausdestillieren. Zu suchen sind die Menschenrechte als „allgemeine Grundsätze“, wie sie der EuGH in Luxemburg entwickelt hat und wie sie dann im Vertrag von Maastricht bzw. Amsterdam (1992 / 97) auf eine Formel gebracht worden sind (Art. 6 Abs. 2), später Art. 6 EUV Lissabon (2007): zugleich ein Beleg für das Textstufenparadigma. Bei allen Divergenzen unter den Nationen im Einzelnen lassen sich auch Konvergenzen der Texte, Theorien und Judikate beobachten, die sich zu gemeinamerikanischen Grundrechtsprinzipien verdichten. Im Einzelnen sei an folgende Garantien gedacht: die persönliche Freiheit, das Recht auf menschenwürdige Behandlung, das Recht auf ein faires Verfahren und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, des Schutzes des Gewissens von Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie der Gleichheit – alles Prinzipien aus der AMRK und wohl fast aller lateinamerikanischer Verfassungen418. Zu denken ist schließlich noch an den großen Zusammenhang von Menschenrechtsschutz und Entwicklung419 sowie an das Menschenrecht auf Erziehung420. 418  Vorbildlich ist der neueste Verfassungsentwurf für Peru (2001  / 2002): Art. 1 bis 53. Auch der Greundrechtsteil der Verf. Ecuador (2008) arbeitet mit einer Wesensgehaltsklausel und der Grundrechtseffektivität (Art. 11 Ziff. 4, 5 und 8). 419  Vgl. Th. v. Boven, Human Rights and Development – Rhetorics and Realities, in FS F. Ermacora, 1988, S. 575 ff. 420  J. Delbrück, The Right to Education as an International Human Right, in: German Yearbook of International Law 35 (1992), S. 92 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung 2. Gemeinsame Demokratiepostulate

Sie bilden eine zweite Kategorie421. Die Demokratie ist im – universal gedachten – kooperativen Verfassungsstaat die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde422, freilich mit vielen denkbaren Varianten: von der mittelbaren zur unmittelbaren Demokratie, von gemischten Formen der „halbdirekten Demokratie“ wie in der Schweiz auf Bundes- wie Kantonsebene bis zur parlamentarischen oder Präsidialdemokratie. Ohne ihre Konnexgarantien wie die öffentlichen Freiheiten der Meinungsund Pressefreiheit und ohne die privaten Absicherungen, etwa die Eigentumsfreiheit und Privatautonomie, ist die Demokratie freilich nicht funktionsfähig. Daher sind die Grundrechte „funktionelle Grundlage“ der freiheitlichen Demokratie423. In den lateinamerikanischen Verfassungen begegnen die Demokratieprinzipien in vielen ­ Varianten. Hier eine Auswahl: Art. 1 Verf. Bolivien von 1967 / 95 spricht von der Regierungsform der repräsentativen Demokratie, Art. 2 von der Volkssouveränität, Präambel Verf. Brasilien (1988) vom „demokratischen Staat“, Art. 5 Verf. Honduras von 1991 / 95 von „democracia participativa“, Art. 1 Verf. Ecuador von 2008 von „Estado constitutional“. 3. Das Rechtsstaatsprinzip Es ist eine dritte Erscheinungsform von in ganz Amerika heranwachsenden konstitutionellen Prinzipien (vgl. etwa Präambel Verf. Kolumbien von 1991 / 96: „Estado social de derecho“). Schon in den gemeinamerikanischen Grundrechtsstandards angelegt (vgl. die AMRK), ist sie diesen ebenso wie der Demokratie zugehörig (als „rechtsstaatliche Demokratie“)424. Im angelsächsischen Rechtskreis als „rule of law“ entwickelt, verbindet sie in der Sache längst das lateinamerikanische mit dem angelsächsischen Rechtsdenken. Das lange gültige Bild von den „Rechtskreisen“ sei425 schon hier in Frage gestellt. Es bleibt im Zeichen des Typus kooperativer Verfassungsstaat von heute ohne Aussagekraft, speziell in Europa verliert es seinen Sinn ganz. Auch in Amerikas Norden und Süden sollte es nicht – trennend – tradiert werden. Als besondere Ausformung des Rechtsstaatsprinzips mit seinen vielen Teilaspekten vom rechtlichen Gehör bis zum „habeas corpus“426, von der Gewaltenteilung bis zum Transparenzgebot, vom effektiven Rechtsschutz bis zum Grundsatz der der Lit. etwa M. Lauga, Demokratietheorie in Lateinamerika, 1999. P. Häberle, El Estado Constitucional, Mexiko, 2001 (betreut von D. Valadés und H. Fix Fierro) sowie unten S. 333 ff. 423  Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, S. 17 ff., 3. Aufl. 1983, S. 336 f., 339 f. (Übersetzung ins Spanische: La Libertad Fundamental en el Estado Constitucional, Lima, 1997, sowie Madrid, 2003). 424  s. dazu auch A. Watts, The International Rule of Law, in: German Yearbook of International Law 36 (1993), S. 15 ff. 425  Aus der Lit.: R. Grote, Rechtskreise im öffentlichen Recht, AöR 126 (2001), S.  10 ff. 426  Dazu D. G. Belaunde, Latin American „Habeas Corpus“, JöR 49 (2001), S. 513 ff. Als Beispiel: Art. 93 (alte) Verf. Ecuador von 1979 / 98, neue Verf. von Ecuador von 2008: Art. 89. 421  Aus

422  Dazu



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Verhältnismäßigkeit kann auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates über Europa hinaus und eben auch in Amerika die Verfassungsgerichtsbarkeit427 gelten. Viele mittel- und südamerikanischen Länder kennen eine selbständige Verfassungsgerichtsbarkeit428, und der Amerikanische Gerichtshof nach der AMRK darf ebenfalls als ein solcher gelten. Zusammen mit seiner Judikatur bildet er auch bereits eine Teilverfassung im Rahmen des Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts – wobei der US-Supreme Court seinen weitreichenden Funktionen nach ebenfalls materiell ein Verfassungsgericht darstellt429. Sichtbar werden sogar Elemente eines universalen Konstitutionalismus, bei aller Partikularität der Rechtskulturen. Man mag streiten, ob der effektive, auch korporative Minderheitsschutz (vgl. Art. 27 IPbürgR von 1966) eher dem Demokratiepostulat oder eher den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip zuzuordnen ist. In letzter Instanz vom jeweiligen nationalen Verfassungsgericht geschützt, gehört er jedenfalls in das Gesamtbild eines sich entwickelnden gemeinamerikanischen Verfassungsrechts: mit weltweiten Ausstrahlungsmöglichkeiten (bis ins Völkerrecht). 4. Gemeinamerikanische Grundsätze des Straf- und Privatrechts Gemeinamerikanische Grundsätze des Straf- und Privatrechts seien hier nur als „Merkposten“ erwähnt. In Europa lassen sie sich im historischen Rückblick erschließen; viele rechtsstaatliche Garantien des Strafrechts430 erwachsen etwa aus der Philosophie von I. Kant, man denke an den Satz „nulla poena sine lege“; vieles europäische Privatrecht431 stammt direkt aus „Rom“ bzw. „Bologna“ und wird heute im Rahmen der EU als europäisches Privatrecht diskutiert (Grundlagen sind z. B. die Privatautonomie und viele Grundsätze des Bereicherungsrechts sowie Schadens­ ersatzrechts); es ist europäische Rechtskultur und „kulturelles Erbe“, in Teilen vielleicht auch universal.

427  Dazu N. Lösing, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika, 2001 (dazu J. Samtleben, VRÜ 35 (2002), S. 120 ff.); F. F. Segado, La jurisdiccion Constitucional en Guatemala, VRÜ 31 (1998), S. 33 ff.; N. Lösing, Der Verfassungssenat in Costa Rica – Beispiel für eine erfolgreiche Verfassungsrechtsprechung in Lateinamerika, VRÜ 28 (1995), S. 166 ff. – Zum effektiven Rechtsschutz zuletzt: BVerfGE 128, 282 (311 ff.); zur Verhältnismäßigkeit ebd. S. 313 ff. 428  Dazu in weltweitem Vergleich: P. Häberle, Das BVerfG als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, FS BVerfG, Bd.  1, 2001, S.  311  ff.; A. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992. 429  S. R. Schlesinger, The United States Supreme Court, 1983; W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972; H. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974. 430  Aus der Lit.: U. Sieber u. a. (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011. 431  Dazu K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl. 1996; R. Schulze / R. Zimmermann (Hrsg.), Europäi­ sches Privatrecht, 4. Aufl. 2012; G. Hager, Die Strukturen des Privatrechts in ­Europa, 2012; H. Honsell u. a. (Hrsg.), „Privatrecht als kulturelles Erbe“, Liber amicorum für N.P. Vogt, 2012. – Zur Privatautonomie: BVerfGE 128, 157 (175 ff.).

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung 5. Gemeinamerikanische Methodenlehre

Ein wohl neues Forschungsfeld eröffnet sich mit dem Stichwort: „gemeinamerikanische Methodenlehre“. Sie hätte sich zu fragen, ob es schon genügend Gemeinsamkeiten in ganz Amerika darüber gibt, wie Verfassungen und Gesetze auszulegen sind (über Art. 29 AMRK hinaus etwa im Blick auf allgemeine universale Menschenrechtsstandards). Auch das Völkerrecht wäre einzubeziehen. 6. Amerikanische Öffentlichkeit Voraussetzung und zugleich Erscheinungsform für die Entstehungs- und Wachtstumsprozesse von allen bisher genannten Rechtsprinzipien ist die Frage, ob es eine Amerikanische Öffentlichkeit gibt: sozusagen als „Resonanzboden“ für das gesamte gemeinsame – öffentliche – Recht. So wie gefragt worden ist, ob es schon eine europäische Öffentlichkeit gibt432, ist zu ergründen, ob es bereits eine gesamt­ amerikanische Öffentlichkeit gibt. Diese von G. Belaunde433 im Juli 2002 in Analogie zu meinen älteren Vorschlägen für Europa aufgeworfene Gretchenfrage kann in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden. Der Amerikanische Verfassungsraum wird zu einem solchen erst durch das Funktionieren einer „amerikanischen Öffentlichkeit“. Auf dem Hintergrund der Arbeiten zum „Prinzip Öffentlichkeit“ von R. Smend (1953) bis J. Habermas (1961) ist Öffentlichkeit für den Verfassungsstaat mit konstituierend. Man darf dabei Teilöffentlichkeiten unterscheiden, etwa die öffentliche Meinung im Politischen, die wissenschaftliche Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit aus der Kunst. Auch muss triatisch, d. h. i. S. einer Trias unterschieden werden zwischen den im engeren Sinne staatlichen Bereich, dem öffentlichen Bereich und dem höchstpersönlich privaten Sektor. In Europa gibt es derzeit eine Öffentlichkeit vor allem aus Kunst und Kultur, aber auch schon Teilöffentlichkeiten aus der Politik – greifbar etwa in den öffentlichen Debatten des Europäischen Parlaments oder in der Veröffentlichung von Judikaten des EuGH, des EGMR oder von Berichten des Europäischen Ombudsmannes und des Rechnungshofes. In fast Hegelscher Dialektik konnte beobachtet werden, dass es ausgerechnet die negative „Skandalöffentlichkeit“ ist, die Öffentlichkeit positiv herstellt. Man denke an den BSE-Skandal oder den Sturz der seinerzeitigen Santer-Kommission im Brüssel der EU, auch an den Auftritt des ungarischen Ministerpräsidenten in Straßburg bzw. Brüssel (2012): Durch das Negative wird das Bewusstsein für die europäischen Grundwerte geweckt und verstärkt. Analoges ließe sich vielleicht auf lange Sicht dann auch für das ganze Amerika und seine Öffentlichkeit beobachten (Beispiele finden sich im Ringen um den ökologischen Schutz der Regenwälder in Südamerika, soeben, 2012, in Brasilien, oder um die Bewahrung der präkolumbianischen Kultur sowie beim Schutz der Eingeborenenkulturen, z. B. Art. 56 bis 60 Verf. Ecuador von 2008). Als Teil dieser Öffentlichkeit darf der – zur öffentlichen Freiheit gehörende – „ordre public“ gelten. In Europa gibt es ihn rechtlich verdichtet schon dank der 432  P. Häberle, Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?, 2000 (spanische Teilübersetzung in: Revista de Derecho Comunitario Europeo, 1998, S. 113 ff. 433  Vortrag auf dem Bayreuther Colloquium am 11. / 12. Juli 2002: Publikation in JöR 52 (2004), S. 79 ff.



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EMRK gemäß der beiden europäischen Verfassungsgerichte EGMR und EuGH434; in ganz Amerika dürfte er analog bei Grundrechtsgarantien und -begrenzungen greifbar werden, etwa in Gestalt der Judikatur des Interamerikanischen Gerichtshofes435 in Costa Rica. 7. Wirtschaft Die letzte und siebte „andere“ Geltungsbedingung für Gemein- bzw. Panamerikanisches Verfassungsrecht ist die Wirtschaft bzw. ihr schrittweises Zusammenwachsen. So wie in Alteuropa, beginnend mit der Montanunion von 1952, die Wirtschaft integrierende Kraft im Blick auf die alten nationalen Verfassungsstaaten entfaltet hat, so formen sich aus gemeinsamen Wirtschaftsräumen heute (z. B. den Mer­co­ sour)436 und in Zukunft als Substraten die Konturen des Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts. Amerika kommt gewiss nicht (ähnlich wie Europa) von der Wirtschaft her, es „wird“ aber ein Ganzes nicht ohne die Wirtschaft, die wie alle Ökonomie, freilich nur instrumentale Bedeutung für Würde und Freiheit des Menschen besitzt. Vorbildlich war die alte Präambel Verf. Peru von 1979: „… in der die Wirtschaft im Dienste der Menschen steht und nicht der Mensch im Dienste der Wirtschaft“ (ähnlich Art. 283 Abs. 1 Verf. Ecuador von 2008). Wiederholt sei die These: Alle Staatsgewalt geht von der Bürgergemeinschaft, nicht von den Märkten aus. Der Verfassungsstaat beruht nicht auf der Wirtschaft, sondern auf Würde, Freiheit, Gleichheit und der Arbeit seiner Bürger. Die berühmte Formel „We, the p ­ eople“, die sich in vielen älteren und neueren Verfassungen findet, ist ein wesentlicher Baustein einer universalen Verfassungslehre, ein Stück „Weltrechtskultur“. 8. Brückenfunktionen: Spanien bzw. Portugal / Iberoamerika, Großbritannien / Nordamerika Die gekennzeichneten Erscheinungsformen von werdendem bzw. gewordenem Gemeinamerikanischem Verfassungsrecht sind ohne die Potentiale der Rechtskulturen der „Mutterländer“ nicht zu denken. Spanien und Portugal haben zunächst mit kolonialer Gewalt und später durch Vorbildfunktionen Rechtsprinzipien nach Iberoamerika vermittelt, teils personell, teils inhaltlich. Entsprechendes gilt mutatis mutandis auch im Verhältnis Großbritannien / USA und Kanada. Eine systematisch komponierte Rezeptionstypologie hätte zu erarbeiten, wie die Prozesse des Gebens und Nehmens in Sachen rechtliche Strukturen des Verfassungsstaates verlaufen sind 434  Dazu aus der Lit.: J.  A. Frowein / W. Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, S. 3, 516 f. (3. Aufl. 2009, S. 3, 458). 435  Aus der Lit.: T. Rensmann, Menschenrechtsschutz im Inter-Amerikanischen System: ein Modell für Europa?, VRÜ 33 (2000), S. 137 ff. 436  Aus der Lit.: U. Wehner, Der Mercosour, 1999; J. A. Mayr, Die Rolle des Mercosour – multidimensionales Integrationsschema in Lateinamerika, VRÜ 26 (1993), S. 258 ff.; s. auch das Projekt einer panamerikanischen Freihandelszone ALCA / FTAA, dazu gleichnamig: G. Schulze Zumkley, VRÜ 35 (2002), S. 108 ff.; aus der älteren Lit.: A. Weber, Neuere Tendenzen im Integrationsrecht Lateinamerikas, VRÜ 11 (1978), S. 89 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

und noch verlaufen. Dabei wären zum einen die Gegenstände von Rezeptionsvorgängen zu bezeichnen, etwa Verfassungstexte einschließlich von Klassikertexten z. B. eines J. Locke, Theorien und Judikate z. B. aus der angelsächsischen Tradition; andererseits müssten die personal Beteiligten benannt werden: Verfassunggeber, Gerichte, Politiker oder Gelehrte, die z. B. ihre Ausbildung und Bildung in den Mutterländern absolviert haben (so hat etwa der Portugiese G. Canotilho großen Einfluss in Brasilien, auch J. Miranda; von Spanien aus M. García-Pelayo, 1909– 91437 sowie F. Balagner). Die iberoamerikanischen Mutterländer haben z. T. in ihren heute geltenden Verfassungen positivrechtliche Brücken zu ihren Bezugsländern geschlagen, über die der Austausch von Rechtskultur vonstatten geht (in wechselseitig offenen Prozessen). Erwähnt sei etwa Art. 7 Abs. 4 Verf. Portugal, der wie folgt lautet: „Portugal unterhält besondere freundschaftliche Beziehungen mit den Ländern des portugiesischen Sprachraums“. „Sprachraum“ ist auch ein Stück Kulturraum! Und damit ist auch eine Brücke in Sachen Rechtskultur geschlagen. „Freundschaftliche Beziehungen“ umschließt auch rechtskulturelle Näheverhältnisse. In Art. 15 Abs. 3 Verf. Portugal verbirgt sich ebenfalls ein Brückenelement. Danach können „Staatsbürgern aus Ländern des portugiesischen Sprachraums“ besondere Rechte zugestanden werden. Die zweifache Verwendung des Begriffs „Sprachraum“ sollte ernst genommen und kulturwissenschaftlich ausgeschöpft werden. Ein Sprachraum konstituiert sich gewiss auch aus Elementen der Rechtskultur. Art. 74 Abs. 2 Verf. Portugal verpflichtet den Staat, nach der Qualifizierung der portugiesischen Sprache als „kulturelle Ausdrucksform“, den Kindern von im Ausland lebenden Staatsbürgern „den Zugang zur portugiesischen Kultur zu gewährleisten“. Zu dieser gehört gewiss auch die Rechtskultur (sowie das kulturelle Erbe im Ganzen). Auch die Verfassung Spaniens ist ergiebig. So ermöglicht Art. 11 Abs. 3 Verträge über doppelte Staatsangehörigkeit mit den iberoamerikanischen Ländern – eine Klausel, die gewiss i. S. eines gemeinsamen (Rechts-)Kulturraums interpretiert werden darf, Ausdruck von Kooperation. Es ist eine Aufgabe von eigenem Reiz, zu untersuchen, welche „Gegenstücke“ zu solchen Brückenklauseln es in älteren und neueren lateinamerikanischen Verfassungen gibt (dazu die Beispiele unten). Im Ganzen: Die gemeinsamen Sprachräume sind als Kulturräume auch Rechtsräume. Über die erwähnten verfassungstextlichen und die in der Verfassungswirklichkeit sich vollziehenden aktiven Rezeptionsvorgänge kann es zu Formen Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts kommen. Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass die europäischen Mutterländer theoretisch und praktisch Beteiligte im Entstehungs- und Entwicklungsprozess von jus americanum publicum sind (analog dem jus publicum europaeum). Die Konkurrenz, ja Rivalität mit dem angloamerikanischen Sprach-, Kultur- und Rechtskulturraum freilich bleibt. Sie kann nur als Merkposten erwähnt, nicht aber im Einzelnen dargestellt werden. 437  Von ihm: Obras completas, Bd. I bis III, 2. Aufl. 2009 (klassisch: Derecho constitutionale comparado, 1950, 8. Aufl. 1984). Zu diesem Klassiker: A. Lopéz Pina, M. García Pelayo, Ein streitbarer Staatsrechtslehrer und Verfassungsjurist, JöR 44 (1996), S. 294 ff.



Inkurs IV: Mexiko – Gesamtamerikanisches Verfassungsrecht231 Exkurs: Klauseln zur Afrikanischen Einheit (Integration) in afrikanischen Verfassungen – Elemente eines afrikanischen Konstitutionalismus

Kontinentale bzw. regionale Integrationsziele und -vorgänge sind heute weltweit ein Thema der Politik, gerade um der Selbstbehauptung im Prozess der Globalisierung willen. In Europa am weitesten gediehen, werden sie hier vor allem für Lateinamerika behandelt. Angesichts der heute universalen „Werkstatt“ in Sachen kooperativer Verfassungsstaat lohnt sich aber auch ein kurzer Blick auf Afrika. Mag dieser Kontinent noch so weit entfernt sein von funktionierenden Demokratien und Rechtsstaaten sowie von gelebten regionalen Verantwortungsgemeinschaften: in Textgestalt hat so manches Ausdruck gefunden, was an Europa und Lateinamerika erinnert. Der afrikanische Konstitutionalismus – pionierhaft wirken heute Südafrika, Malaŵi und Kenia, auch Angola – ist in vielen Ländern in der Wirklichkeit oft noch wenig entwickelt, doch liegt ein Textvorrat an Textbausteinen vor, der mittelfristig vielleicht doch eine normative Kraft entfaltet. Für eine Textstufenanalyse und den weltweiten Vergleich lohnt ein Blick auf Afrika allemal. Das gilt gerade für übernationale Integrationsziele. Bei fast allen Verfassungsthemen besitzt die Verf. von Namibia (1990)438 als erste eine Pionierrolle (etwa bei den Präambeln, den Symbol­ artikeln, dem Fair Trial, den Kinderrechten und dem Ombudsmann). Im Einzelnen: In neueren afrikanischen Verfassungen findet sich ein unerwarteter Reichtum an einschlägigen Textmaterialien: die „Afrikanische Einheit“ wird bald in Präambeln als Staatsziel und Verfassungsauftrag postuliert, diese sind oft ausdrücklich zum Bestandteil der Verfassung erklärt worden (z. B. Präambel Verf. Tschad von 1996), bald figuriert das Thema als Staatsaufgabe, bald gibt es erstaunlich weitgehende Ermächtigungen zum Souveränitätsverzicht im Interesse der afrikanischen Einheit. Präambel Verf. Republik Benin (1990)439 normiert den Präambelpassus: „erklären wir unsere Verbundenheit mit der Sache der Afrikanischen Einheit und verpflichten uns, alles zu unternehmen, um die lokale und regionale Integration zu verwirk­ lichen“. Die Präambel der Verf. Burkina Faso (1991 / 97) formuliert noch konkreter: „streben nach ökonomischer und politischer Integration mit den anderen Völkern Afrikas zum Zwecke der Errichtung einer föderativen Einheit Afrikas“– der letzte Satz der Präambel erklärt diese zum „integrierenden Bestandteil der Verfassung“. Neuland wagt dieselbe Verfassung in Gestalt der Schaffung eines eigenen Abschnittes (Teil XII: „Die Afrikanische Einheit“). Ihr Art. 146 lautet: „Burkina Faso kann mit jedem afrikanischen Staat Assoziierungs- oder Gemeinschaftsverträge abschließen, die einen vollständigen oder partiellen Verzicht auf Souveränität zur Folge haben“. Ein solcher weitgehender Verzichts-Artikel findet sich tendenziell nur in 438  Zit. nach JöR 40 (1991 / 92), S. 691 ff. – Ein Ombudsmann findet sich auch in Art. 182 Verf. Ruanda von 2003, zit. nach JöR 52 (2004), S. 644 ff. 439  Die folgenden älteren Texte sind zit. nach H. Baumann / M.Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der francophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas, 1997. – Aus der Lit. zum „afrikanischen Rechtskreis“: C. Richter, Aspekte der universellen Geltung der Menschenrechte und der Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht, 2007, S. 250 ff.; M. Wittinger, Afrikanischer Menschenrechtsschutz, VRÜ 2001, S. 474 ff.; speziell: K. Grütjen, Die Verfassung der dritten Republik Mali vom 25. Februar 1992, JöR 45 (1997), S. 699 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

Europa (z. B. Art. 24 GG), nicht aber in Lateinamerika! Und er hat in Afrika selbst bereits Schule gemacht: Die jüngere Verf. der Republik Niger (1996) besitzt einen analogen Präambelpassus in Sachen Bekenntnis zur afrikanischen Einheit und sie hat in ihrem Artikel 122 eine Souveränitätsverzichtsklausel geschaffen, die fast wörtlich mit Art. 146 Verf. Burkina Faso (1991 / 97) übereinstimmt. Einzigartig in seiner Differenziertheit ist aber Art. 147 Verf. Burkina Faso: „Die Verträge, die den Eintritt Burkina Fasos in eine Konföderation, eine Föderation oder einen Bund afrikanischer Staaten vorsehen, werden dem Volk in einem Volksentscheid zur Zustimmung vorgelegt“. Die Stufung: Konföderation, Föderation oder Bund könnte einem Lehrbuch zur vergleichenden Bundesstaatslehre entstammen! Sie verdient Beachtung in aller Welt, als Element eines völkerrechtsoffenen universalen Konstitutionalismus. Präambel Verf. Republik Burundi (1992) formuliert das „Bekenntnis zur Sache der afrikanischen Einheit“ entsprechend der Charta der Organisation der Afrikanischen Einheit vom 25. Mai 1963, die auch sonst zusammen mit der AfrMRK Bestandteil der Verfassung ist (Art. 10). Einmal mehr ist zu vermuten, dass es zu Rezeptionsprozessen zwischen den früheren „gebenden“ supranationalen Texten in Afrika (OAU und AfrMRK ) und den späteren aktiv „nehmenden“ nationalen Verfassungen kam und kommt (vgl. etwa Präambel Ziff. 9 Verf. Ruanda von 2003; Präambel Demokratische Republik Kongo von 2005). Während die Republik Guinea in ihrer Verfassung (1990) nur in ihrer Präambel das „Bekenntnis zur Sache der afrikanischen Einheit und zur regionalen Integration des Kontinents“ herstellt (s. auch Präambel Verf. Senegal von 2001: „ideal of African unity“), geht die Verfassung Niger (1996), wie schon gezeigt, weiter (Staatsziel der afrikanischen Einheit und Integration, verbunden mit einem partialen oder totalen Souveränitätsverzicht): die intensivste Form von Kooperation. Eine sprachlich und inhaltlich neue Wendung gelingt der (alten) Verf. der Republik Senegal (1963 / 92). In ihrer vorbildlichen Präambel heißt es: „Das senegalesische Volk, –– das bestrebt ist, den Weg der Einheit der Staaten Afrikas zu ebnen und die Perspektiven zu sichern, die diese Einheit bietet, –– das sich der Notwendigkeit einer politischen, kulturellen, ökonomischen und sozialen Einheit bewusst ist, die unverzichtbar ist für die Bestätigung der afrikanischen Persönlichkeit; –– das sich der historischen, moralischen und materiellen Erfordernisse, die die Staaten Westafrikas vereinigen, bewusst ist; –– beschließt, dass die Republik Senegal keine Anstrengungen scheuen wird, um die afrikanische Einheit zu verwirklichen.“ An diesem Verfassungstext ist vielerlei bemerkenswert: der schöne Begriff der „afrikanischen Persönlichkeit“, die Erstreckung der Einheit auf das Politische, Kulturelle, Ökonomische und Soziale sowie die Hervorhebung der „Staaten Westafrikas“440. 440  Aus der Lit.: S. B. Ajula, ECOWAS – Die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten, VRÜ 22 (1989), S. 182 ff.



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Damit wird eine geographische Abgrenzung eingeführt, während sonst keine der analysierten Verfassungen „Afrika“ näher umschreibt. Ähnlich wie in Europa und Lateinamerika wird der Bezugsbegriff vorausgesetzt bzw. offen gehalten: er ist kultureller Natur (Zypern gehört geographisch zu Asien, kulturell zu Europa). Während die Verfassung der Republik Togo (1992) nur die Verpflichtung statuiert, „entschieden die Sache der afrikanischen Einheit zu verteidigen und für die Realisierung der lokalen und regionalen Integration zu wirken“, auch hier macht die Präambel diese zum integrierenden Bestandteil der Verfassung, gelingt der Verf. Tschad (1996) eine neue Textstufe. So heißt es in der Präambel: „auf den afrikanischen Werten der Solidarität und der Brüderlichkeit beruht … unser Bekenntnis zur Sache der afrikanischen Einheit und unser Engagement, alles für die Realisierung der lokalen und regionalen Integrität zu tun“. Art 218 Abs. 2 verdichtet den Vergemeinschaftungsgedanken, freilich ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Afrika in bemerkenswerter Weise in Richtung auf den institutionellen Aspekt: „Die Republik Tschad kann mit anderen Staaten Einrichtungen der gemeinsamen Leitung, der Koordinierung und der Kooperation auf ökonomischen, monetären, finanziellen, wissenschaftlichen, technischen, militärischen und kulturellen Gebieten schaffen“. Hier kommt ohne Zweifel neben dem Kooperativen ein Gedanke zum Ausdruck, der an die schrittweise europäische Integration erinnert – bis heute! Die Verfassung der Zentralafrikanischen Republik (1995) spricht demgegenüber auf einer älteren Textstufe nur in der Präambel von der Überzeugung „von der Notwendigkeit der afrikanischen, politischen und ökonomischen Integration auf lokaler und regionaler Ebene“. Es erfolgt jedoch auch – schon fast gemeinafrikanisch – eine Bezugnahme auf die afrikanische Einheit „entsprechend“ der Charta der OAU. Die Verfassung der Demokratischen Republik Kongo (2005) beschwört in ihrer Präambel u. a. die Afrikanische Menschenrechtserklärung und die Afrikanische Einheit. Darum ein Blick auf die supranationale Ebene. Die Charta der OAU vom 25. Mai 1963441, oft von nationalen afrikanischen Verfassungen ausdrücklich in toto rezipiert, enthält Rechtsgedanken, die zu Stichworten für die späteren Verfassunggeber der afrikanischen Nationen geworden sind. Erwähnt sei nur das Ziel der „Einheit und Solidarität zwischen den afrikanischen Staaten“ (Art. II) oder die angestrebte Zusammenarbeit auf den Gebieten der Politik, Wirtschaft und Kultur (ebd.). Greifbarer ist der Einfluss der AfrMRK vom 27 Juni 1982.442 In ihrer Präambel heißt es u. a.: „unter Berücksichtigung der Kraft ihrer Tradition und der Werte der afrikanischen Zivilisation, die ihre Einstellung gegenüber den Menschenrechten und Rechten der Völker leiten“. Immer wieder ist ohne nähere Definition auf „Afrika“ und die „afrikanischen Völker“ Bezug genommen. In Art. 61 ist von „afrikanischer Praxis“ die Rede, in Art. 45 Ziff. 1 a von „afrikanischen Problemen“. Im Übrigen entwirft 441  Aus der Lit.: J. Hilf, Der neue Konfliktregelungsmechanismus der OAU (von 1993), ZaöRV 54 (1994), II, S. 1023 ff.; s. auch die Dokumentation: Interafrikanische Zusammenschlüsse bis zur OAU 1963, ZaöRV 24 (1963), S. 122 ff.; J. Taeger, Der Sahara-Konflikt und die Krise der OAU, VRÜ 17 (1984), S. 51 ff. 442  Dazu G. J. Naldi, The OAU’s Grand Bay Declaration …, ZaöRV 60 (2000), II, S.  715 ff.

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die AfrMRK einen Grundrechtskatalog, an dem sich später viele nationale Verfassungen Afrikas orientiert haben und der gewiss dem Text nach Ansätze zu einem Gemeinafrikanischen Verfassungsrecht enthält. Im Ganzen: Eine Textstufenanalyse in Afrika erwies sich als ergiebig, vor allem auch im Vergleich mit Lateinamerika. Man mag vieles für im Ganzen noch nur „semantisch“, „rhetorisch“ halten, indes sollte man zufrieden sein, dass überhaupt schon nähere Textaussagen zur „Sache der Afrikanischen Einheit“ geschaffen worden sind, sie können mittelfristig greifen. In manchem ist Afrika „auf dem Papier“ weiter als Lateinamerika. Jedenfalls sollte es bei der wissenschaftlichen Besichtigung der Werkstatt für kontinentale bzw. regionale Zusammenschlüsse nicht von vornherein ausgeschlossen bleiben. Auch Spurenelemente für ein „Gemeinafrikanisches Verfassungsrecht“ bzw. gemeinafrikanische Rechtskultur könnten mindestens mittelfristig sichtbar und wirkkräftig werden, auch vom Völkerrecht her. III. Eigene Identitätselemente lateinamerikanischer Verfassungen – die Differenz zum „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ Bei allen Gemeinsamkeiten in Sachen „Verfassungsstaat“, bei aller Suche nach den Konturen eines „Gemein(latein)amerikanischen Verfassungsrechts“ und bei allen Parallelen zwischen den Zielinhalten bzw. Instrumenten der (latein)amerikanischen Integration (z. B. Art. 9 Verf. Nicaraguas von 1995, s. auch Art. 5 ebd.: „Rekonstruktion des großen zentralamerikanischen Vaterlandes): das Unterscheidende, Besondere, Eigene, ja Eigenwillige im Verfassungsbild Lateinamerikas darf nicht übersehen werden. Es hilft dem Kontinent gerade auch bei der Selbstbehauptung in der einen Welt von heute. Freilich kann dieses Eigene in den vorliegenden Studien nur im Spiegel der Verfassungstexte erarbeitet werden: Verfassungstexte sind in der Trias von Texten, Theorien und Judikaten nur ein Zugang zur ganzen Wirklichkeit des nationalen Verfassungsstaates mit seinen Teilverfassungen. Indes ist aus den schon erwähnten Gründen nur eine Textstufenanalyse möglich. Im Einzelnen: Im Verfassungsbild sind schon prima facie folgende Themen bzw. Textensembles als „Familienähnlichkeiten“ von unterscheidender Kraft gegenüber Europa erkennbar: 1. Multiethnizität und Multikulturalität werden nicht selten als Staatsstrukturbestimmung normiert; in europäischen Verfassungen ist dies unbekannt, Bosnien-Herzegowina443 und das Kosovo (Art. 6 Abs. 1 Verf. Kosovo von 2008444) bilden bislang eine Ausnahme. Allenfalls via Minderheitenschutzklauseln, z. B. in ostdeutschen Länderverfassungen für die Sorben (vgl. Art. 25 Verf. Brandenburg) oder in Schleswig-Holstein für die dänischen Minderheiten (vgl. Art. 5 seiner Verf.)445 kommt auf dem „alten Kontinent“ verfassungstextlich ein multikulturelles bzw. -ethnisches Moment zum Ausdruck. Anders in Lateinamerika. Schon die 443  Dazu W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000 (Die Verf. von 1996 findet sich im Anhang, S. 122 ff.). 444  Zum Kosovo: P. Hilpold (Hrsg.), Das Kosovogutachten des IGH vom 22. Juli 2010, 2011. 445  Sehr allgemein: Art. 18 Verf. Mecklenburg-Vorpommern: „Die kulturelle Eigenständigkeit ethnischer und nationaler Minderheiten und Volksgruppen …“



Inkurs IV: Mexiko – Gesamtamerikanisches Verfassungsrecht235 Kolonialgeschichte und später die Verfassungsgeschichte der dortigen Länder muss angesichts der „vorgefundenen“ Eingeborenen (vgl. Art. 62 Verf. Paraguay von 1992: „Grupos de culturas anteriores“) die Pluralität von Kulturen, Sprachen, Ethnien positiv aufgreifen und verfassungstextlich verarbeiten. Das geschieht vorbildlich446. So weist Art. 1 (alte) Verf. Bolivien (1967 / 95) gleich eingangs dieses Land als „frei, unabhängig, souverän und multikulturell“ aus – ähnlich Art. 1, 3, 5 Verf. Bolivien von 2007 – (s. auch Art. 4 Abs. 1 Verf. Mexiko von 1917 / 97: „composición pluricultural“, Art. 8 Verf. Nicaragua von 1995: „multiethnische Natur“). Verf. Kolumbien (1991 / 96) berücksichtigt im Sprachenartikel 10 die ethnischen Gruppen, zuvor in Art. 7 die „ethnische und kulturelle Vielfalt“. Die alte Verf. Ecuador (1979 / 98) definiert sich im Grundlagen-Artikel 1 Abs. 1 als sozial-rechtsstaatlich, demokratisch etc. und als „plurikulturell und multiethnisch“. Ein Sprachen-Artikel für die Eingeborenendialekte (Art. 1 Abs. 3) sichert dieses Selbstverständnis ab, desgleichen ein eigener hochdifferenzierter Abschnitt zum Schutz der Eingeborenenvölker und Schwarzafrikaner (Art. 83 bis 85). Verf. Guatemala447 (1985) wagt einen besonders gelungenen Abschnitt zum Schutz der Eingeborenengemeinschaften, in dem es heißt: „Guatemala besteht aus verschiedenen ethnischen Gruppen, unter denen die Nachkommen der Maya hervorragen. Der Staat anerkennt, respektiert und fördert ihre Lebensformen …“ (Ähnlich für die „ethnische Identität der Eingeborenengemeinschaften“: Art. 86 Verf. Panama von 1972  /  94.) Jüngst definiert sich Peru in seinem Verfassungsentwurf von 2001 / 2002 als „pluricultural und pluriethnisch“ (Vortitel III). Art. 1 Verf. Ecuador von 2008 verwendet für seinen Verfassungsstaat die Worte „intercultural, plurinacional und laicistico“ und schützt die Eingeborenenkulturen in vielen Bereichen (z. B. sprachlich, Art. 2 Abs. 1, und juristisch, „justicia indigena“, Art. 171). Bereits hier stellt sich die Frage, wie der Verfassungsstaat der Zukunft den Begriff des Volkes ausdeutet, ob er die Vielfalt von unterschiedlichen Ethnien und Na­ tionen in sich aufnimmt und besser mit der Rückbindung an die Gemeinschaft der Bürger arbeitet. „We, the people“ – als werdende universale Rechtskultur.

2. Die Überwindung des Analphabetismus als vordringliche Staatsaufgabe ist ein weiteres Kennzeichen vieler lateinamerikanischer Verfassungen, die oft unausgesprochen freilich via allgemeine Schulpflicht in europäischen Ländern erfüllt wird. Einschlägig sind z. B. Art. 179 (alte) Verf. Bolivien, Art. 73 Verf. Paraguay von 1992, Art. 75 Verf. Guatemala (1985): weltweites Gemeinrecht. 3. Das ausdrückliche Verbot der Sklaverei (z. B. Art. 20 Verf. Costa Rica von 1949; Art. 2 Verf. Mexiko (1917 / 97); Art. 76 Ziff. 29 b Verf. Ecuador von 2008; Art. 40 Verf. Nicaragua von 1986) sei in diesem Kontext ebenfalls erwähnt. Es ist heute ein Element des universalen völkerrechtsoffenen Konstitutionalismus. Das Folterverbot – heute ein Stück Weltrechtskultur – setzt sich nach und nach durch. In Europa ist das Verbot der Sklaverei „selbstverständlich“ (vgl. indessen das Verbot der Kinderarbeit gem. Art. 32 EU-Grundrechte-Charta von 2000 / 07). 446  Aus der Lit.: R. Grote, The Status and Rights of Indigenous Peoples in Latin America, ZaöRV 59 (1999), II, S. 497 ff. – Eine neue Textstufe findet sich in Art. 3, 9, 30 bis 32, 101 (neue) Verf. Bolivien von 2007. 447  Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

4. Kulturelles-Erbe-Klauseln mit besonderer Gewichtung bilden ein weiteres eigenes Merkmal lateinamerikanischer Verfassungen (z. B. Art. 49 Verf. Costa Rica von 1949448, s. auch Art. 215 und 216 Verf. Brasilien von 1988, Art. 3 Ziff. 7 Verf. Ecuador von 2008 sowie Art. 100, 101 Verf. Bolivien von 2007): Sie versichern sich bzw. ihre Völker so ihres eigenen Selbstverständnisses und ihrer besonderen Identität. Was in den älteren Verfassungsstaaten Europas eher noch selbstverständlich erscheint und als eigenes Thema eher selten prominent auf Begriffe und Text gebracht wird (anders auf dem Balkan), jetzt aber auch in EU-Texten üblich (Art. 167 AEUV), wollen die lateinamerikanischen Völker selbstbewusst, weil wohl gefährdet, herausstellen. Beispiele finden sich etwa in der Präambel Verf. Guatemala von 1985, aber auch sonst (z. B. Art. 57 bis 65 ebd.). Eine auf die Person und die Gemeinschaft bezogene Klausel zur „kulturellen Identität“ (Art. 58) sei besonders erwähnt, ebenso die Förderung von Eingeborenengemeinschaften durch Landvergabeprogramme (Art. 68). Kulturelle Identitätsklauseln (prägnant Art. 62 alte Verf. Ecuador von 1979 / 98) sind eine besonders häufige und respektable Textstufe in Lateinamerika. Sie lassen sich nur kulturwissenschaftlich erschließen und werden wohl auch deshalb zum allgemeinen lateinamerikanischen Verfassungsthema, weil die Identität der Menschen und Gruppen von Eingeborenen, ja die des ganzen Landes zumal heute besonders gefährdet erscheint (weitere Beispiele für den Schutz des Kulturbesitzes und der Eingeborenenkultur: Art. 34 bis 37, 81, 161 Abs. 2 alte Verf. Peru von 1979; für Indios: Art. 231 und 232 Verf. Brasilien; für die „Gemeinschaft der Coste Atlantica“: Art. 89 bis 91 Verf. Nicaragua von 1986; für Afro-Brasilianer: Art. 215 Verf. Brasilien. Die Afro-Gruppen werden oft genannt (z. B. Art. 83 (alte) Verf. Ecuador)). Die neue Verfassung von Bolivien (2007) schützt die Eingeborenenkulturen sehr entschieden (Erster Teil, Tit. II, Kap. 4), vorbildlich. 5. Die eingehenden Abschnitte zum Erziehungswesen sind eine besondere Eigenart der lateinamerikanischen Verfassungen. Beispiele finden sich in Art. 73 bis 85 Verf. Paraguay (1992)449 – Art. 73 enthält einen vorbildlichen Kanon von Erziehungszielen –, sodann Art. 21 bis 41 (alte) Verf. Peru; Art. 71 bis 81 Verf. Guatemala; Art. 66 bis 79 (alte) Verf. Ecuador; Art. 32 bis 34 Verf. Haiti von 1987; Art. 151 bis 177 Verf. Honduras von 1987 / 94; Art. 58 bis 61, 77 bis 98 Verf. Bolivien von 2007; Art. 26 bis 29 Verf. Ecuador von 2008. Ins Autoritäre tendiert Art. 117 Verf. Nicaragua von 1986. 6. Die detallierten Verfassungsnormen zur Einbürgerung (Naturalisation) seien an dieser Stelle nur Merkposten. Sie wurden an anderer Stelle analysiert und erklären sich aus der Geschichte dieser Länder als Einwanderungsländer (z. B. Art. 8 bis 16 Verf. Panama von 1972 / 94, Art. 36 bis 42 (alte) Verf. Venezuela von 1961 / 83450, 448  Zur Verfassung von Costa Rica: J. Fuchs, Die Verfassung von Costa Rica, JöR 35 (1986), S. 425 ff.; R. Hernández, The Evolution of the Costa Rica Constitutional System, JöR 49 (2001), S. 535 ff. – Zur Verfassung von Haiti: E. Schmitz, Demokratie in Haiti – Eine unerfüllte Hoffnung?, JöR 42 (1994), S. 613 ff. 449  Aus der Lit.: J.  S. Salgueiro, Die Verfassung der Republik Paraguay vom 20. Juni 1992, JöR 46 (1998), S. 609 ff. 450  Aus der Lit.: N. Lösing, Verfassungsentwicklung in Venezuela, JöR 46 (1998), S.  551 ff.



Inkurs IV: Mexiko – Gesamtamerikanisches Verfassungsrecht237 Art. 14, 15 Verf. Costa Rica von 1949, zuletzt Art. 76 Verfassungsentwurf Peru von 2001 / 2002).

7. Die hochdifferenzierte Rechtskultur des heute wohl universalen Werts „habeas corpus“ (z. B. Art. 48 Verf. Costa Rica) und des Amparo-Verfahrens (z. B. Art. 265 Verf. Guatemala von 1985; Art. 33 bis 34 Verf. Nicaragua von 1986; Art. 183 Verf. Honduras von 1982 / 94; Art. 134 Verf. Paraguay von 1992) gehört hierher. Sie ist eine besondere Leistung gerade auf dem lateinamerikanischen Kontinent451, steht inhaltlich dem „europäischen Rechtsstaat“ nahe. Der häufige Geltungsvorrang der internationalen Menschenrechte ist bemerkenswert (z. B. Art. 46 Verf. Guatemala; Art. 105 alte Verf. Peru). Er dient der Entwicklung eines universalen Konstitutionalismus in besonderer Weise, auch vom Völkerrecht her. 8. Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat hier ihren gesicherten Platz (z. B. Art. 119 bis 121 Verf. Bolivien; Art. 429 bis 440 Verf. Ecuador von 2008). Der Vorrang der Verfassung ist selbstverständlich, z. B. Art. 228 Verf. Bolivien; Art. 4 Verf. Kolumbien; Art. 182 Verf. Nicaragua von 1995452; Art. 424 bis 428 Verf. Ecuador von 2008 mit der Interpretationsfigur von der an deutsche Theorien erinnernden „Einheit der Verfassung“, Art. 427, ebenso die (in § 10 Verf. Estland von 1992 vorbildlich normierte) öffnende Grundrechtrechtsentwicklungsklausel (z. B. Art.  4 alte Verf. Peru von 1979, Art. 3 Verf. Peru von 1993)453 und der Volksanwalt (z. B. Art. 274 alte Verf. Peru: „Prokurator für Menschenrechte“; s. auch Art. 86 Verf. Argentinien von 1956 / 1995454, Art. 127 bis 131 (alte) Verf. Bolivien, Art. 96 (alte) Verf. Ecuador von 1979 / 98). Die Interpretationsregeln für Grundrechte in der neuen Verfassung von Ecuador von 2008 – Art. 11 – beinhalten eine Art Wesensgehaltsgarantie und das Postulat des effektiven Schutzes: ein Beleg für die weltweiten Textstufenvorgänge in Sachen Konstitutionalismus. 9. Das Verhältnis von Staat und Kirche455 ist variantenreich: von der „Staatsreli­ gion“ Katholische Kirche (Art. 75 Verf. Costa Rica, s. auch Art. 2 Verf. Argentinien von 1956 / 1995) bis zur Trennung von Staat und Kirche (z. B. in Mexiko) oder der Garantie der „juristischen Person“ der Katholischen Kirche (Art. 26 Verf. El Salvador von 1983 / 96) oder differenzierten Kooperationsformen (vgl. Art. 24 Verf. Paraguay von 1992). Die Präambel der Verf. Ecuador von 2008 451  Aus der Lit.: R. Hofmann, Grundzüge des Amparo-Verfahrens in Mexiko, ZaöRV 53 (1993), I, S. 271 ff. 452  Aus der Lit.: J. Fuchs, Die Verfassungsentwicklung in Nicaragua, JöR 37 (1988), S.  621 ff.; M. Kellner, The Political Constitution of Nicaragua and its Su­ preme Court, JöR 57 (2009), S. 695 ff. 453  Aus der Lit.: D. G. Belaunde, The new Peruian Constitution (1993), JöR 43 (1995), S.  651 ff.; J. Saligmann, Die peruanische Verfassung von 1993, VRÜ 28 (1995), S.  193 ff. 454  Allgemein: P. A. Ramella, Le Développement du Droit Constitutionnel en Argentine de 1980 à 1986, JöR 36 (1987), S. 507 ff.; B. F. P. Lhoëst, Constitutional Reform in Argentina, VRÜ 28 (1995), S. 155 ff ; A. M. Hernandez, The Distribu­tion of Competences …, JöR 59 (2011), S. 687 ff.; R. G. Ferreyra, Argentine Constitu­ tional Development, JöR 54 (2006), S. 713 ff. 455  Speziell zu Brasilien: C. German, Politik und katholische Kirche in der ­„Neuen Republik“, VRÜ 23 (1990), S. 3 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung wagt sogar eine ausdrückliche „Invocatio Dei“ bei gleichzeitiger Öffnung für die verschiedenen Formen von Religionen und Spiritualität („Religionsfreundlichkeit“).

10. Die Verfahren der Verfassungsreform bis hin zur Totalrevision, vgl. Art. 193 Verf. Nicaragua von 1986, werden zunehmend zum Thema und sind auf dem Weg, Gemeingut des universalen Typus des Verfassungsstaats zu werden, und sie schaffen Möglichkeiten für „Weltrechtskultur“. Diese Themenliste ist nicht erschöpfend, aber doch aussagekräftig: im Sinne einer besonderen lateinamerikanischen Identität, die Gegenstand einer „lateinamerikanischen Verfassungslehre“ zu sein hätte – so wie vielleicht in 50 Jahren eine gemeinafrikanische, gemeinasiatische bzw. gemeinarabische Verfassungslehre möglich wird, die zugleich Partikularität der nationalen Rechtskulturen sichert. Dritter Teil Verfassungspolitik für nationales (latein-)amerikanisches Verfassungsrecht Auf der Grundlage der hier aufbereiteten Textmaterialien zur lateinamerikanischen Integration (Gemeinschaft) bzw. der zitierten innovativen Verfassungstexte zur Afrikanischen Einheit (Exkurs) seien im Folgenden konstitutionelle Bauelemente aufgelistet, aus denen sich künftige Verfassunggeber in Lateinamerika „bedienen“ könnten: je nach ihren eigenen Verfassungstraditionen, aber doch aus einem gemeinamerikanischen Impuls heraus. Auch die Prozesse von nationalen Partialrevisionen lateinamerikanischer Verfassungen in der Zukunft könnten Anregungen aufgreifen. Folgende Textensembles bzw. -strukturen sind „im Angebot“ einer vergleichenden lateinamerikanischen Verfassungslehre, die analog der „Europäischen Verfassungs­ lehre“ (2001 / 2002)456 gerade auch bei diesem Thema zu arbeiten hätte, was die meisten Verfassungsstaaten Lateinamerikas im Sinne der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des BVerfG schon heute praktizieren: 1. Die (latein)amerikanische Einheit als Präambelelement. Ähnlich manchen europäischen und afrikanischen Verfassungen, könnte eine neue revidierte Verfassung einer lateinamerikanischen Nation gleich vorweg ein hohes Bekenntnis zum Ziel der lateinamerikanischen Integration normieren (Ansätze in der Verf. Ecuador von 2008). Damit machte sich die Verfassung die besonderen Inhalte und Funktionen von Präambeln zunutze: Ihre hohe Werthaltigkeit, die besondere (auch rhetorische) Sprachkultur der Bürgernähe und des Feiertagscharakters sowie die Zeitdimension: lateinamerikanische Tradition und Zukunft würden spezifisch herausgestellt. Die vom Verfasser 1982 entworfene verfassungsstaatliche Präambeltheorie457 könnte hier als „wissenschaftliche Vorratspolitik“ ihren Dienst tun. Der Kulturbegriff „Lateinamerika“458 sollte offen bleiben, geographische Elemente 456  P.

Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011. im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff. (Bayreuther Antrittsvorlesung, 1981). 458  Im Verfassungsentwurf Peru (2001–2002) findet sich jetzt im Einleitungstitel VIII ein Bekenntnis zur „Integration der Völker Lateinamerikas“; s. auch Art. 85. Präambel Verf. Ecuador (2008) spricht von „integración latinoamericano“. 457  Präambeln



Inkurs IV: Mexiko – Gesamtamerikanisches Verfassungsrecht239 mögen eine begrenzte Rolle spielen. Dabei hat klar zu sein, dass Präambeln integrierender Bestandteil der Verfassung sind und an deren normativer Kraft teilhaben, wie dies in Europa vom BVerfG und dem Conseil Constitutionnel in Paris praktiziert wird und in Afrika in manchen Verfassungen ausdrücklich statuiert ist (z. B. letzter Satz Präambel Verf. Tschad von 1996). Das nimmt dem Grundwert „lateinamerikanische Integration“ nichts von seiner programmatischen Stoßrichtung.

2. Zusätzlich zur Platzierung in der Präambel könnte das Verfassungsthema „lateinamerikanische Integration“ im Kontext der Staatsaufgaben behandelt werden. Es wäre als ein Staatsziel bzw. Verfassungsauftrag neben anderen wie auf dem alten Kontinent „Europa“ ausgewiesen (prägnant Art. 3a Verf. Bayern von 1946 / 98; Art. 1 Abs. 2 Verf. Niedersachsen von 1993: „europäische Völkergemeinschaft“). In Frage kommt auch der Abschnitt über „Internationale Beziehungen und Integration“ (so jetzt im Verfassungsentwurf Peru von 2001 / 2002: Art. 85, sowie in Tit. VIII Kap. 3 Verf. Ecuador von 2008). 3. In einer Grundwerteklausel, die etwa die Multikulturalität, Multiethnizität und den Schutz der Eingeborenenkulturen einschlösse, könnte die – differenziert verstandene – lateinamerikanische Integration ihren kontextuellen Platz finden. 4. Flankiert werden könnte das Ganze durch eine differenzierte Homogenitäts- und Struktursicherungsklausel nach dem Muster von Art. 23 Abs. 1 GG; gewisse Vorgaben sollten nach außen hin im Blick auf die entstehende Gemeinschaft formuliert werden. 5. Ähnlich Art. 24 GG und den Parallel-Artikeln in vielen nationalen Verfassungen Europas sowie in Analogie zu zwei afrikanischen Verfassungen bietet sich das Modell des Teilverzichts auf die nationale Souveränität an. Dies diente dem in diesem Buch versuchtem „universalen Konstitutionalismus“. 6. Konsequenterweise wären die Konturen etwaiger Gemeinschaftsorgane mit par­ tialen (Gesetzgebungs-)Kompetenzen zu umreißen: etwa ein Gemeinsames Parlament für Lateinamerika, andere Organe, vor allem ein Gemeinschaftsverfassungsgericht. Ein Verfassungsgericht könnte – ähnlich wie lange Zeit der EuGH und heute der EGMR in Europa – ein besonderer Integrationsmotor sein. Lateinamerikanische Verfassungspolitik sollte nicht zögern, sich durch diese aus weltweitem Rechtsvergleich gewonnenen Textvarianten und Textalternativen anregen zu lassen: im Geiste des völkerrechtsoffenen universalen Konstitutionalismus. 7. Erleichterte Einbürgerungen („Naturalisation“) der Gemeinschaftszugehörigen oder eine eigene Gemeinschaftsbürgerschaft nach dem Vorbild der EU (Unionsbürgerschaft: Art. 20 bis 25 AEUV) sollten vorgesehen werden. 8. Die erleichterten Wege zur Inkorporierung von etwaigem Gemeinschaftsrecht könnten angedeutet werden. Derartige Integrationsaufgaben bis hin zur Schaffung einer lateinamerikanischen und karibischen Staatsbürgerschaft finden sich in Art. 422 Ziff. 5 Verf. Ecuador von 2008; Ziff. 5 ebd. denkt an supranationale Organisationen für diesen Raum. 9. „Allgemeine Rechtsgrundsätze“, die sich aus einem wertenden Vergleich der zur lateinamerikanischen Gemeinschaft gehörenden Verfassungsstaaten ergeben, sollten als subsidiäre Rechtsquelle anerkannt werden (vor allem im Bereich der

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

Menschenrechte): i. S. eines Aufbrechens des bisherigen nationalen Rechtsquellenmonopols. Das erhöhte die Integrationsdichte und gäbe der Entwicklung von Gemeinamerikanischen Verfassungsrecht eine besondere Chance. Modell hierfür wäre Art. 6 EUV. Der dienende Charakter allen Vergleichens müsste bewusst bleiben. Andeutungen finden sich in Art. 11 Abs. 1 Ziff. 3, 5, 8, 41 sowie in Art. 427 Verf. Ecuador von 2008. Die universale Verfassungslehre sollte dies zur Kenntnis nehmen (allgemeine Grundsätze als Grundwert des Verfassungsstaates). Dieser – offene – Katalog möglicher lateinamerikanischer Verfassungstexte „zur Sache Amerikanischer Einheit“ gleicht einem flexiblen „Instrumentenkasten“, nicht mehr oder weniger. Nicht alle Klauseln müssen überall zugleich eingebaut werden. Schöpferische Kombinationen und Alternativen einzelner Textvorschläge sollten je nach den in den Prozessen der Verfassunggebung und -änderung zu erreichenden Kompromissen erarbeitet werden. Doch könnte das „Vorrats-Lager“ von Textmaterialien in der einen oder anderen Hinsicht vielleicht bei allen verfassungspolitischen Bemühungen hilfreich sein. Im Übrigen sei daran erinnert, dass den fünf Auslegungsmethoden in der Verfassungsinterpretation fünf Gestaltungsmethoden bei der Redigierung neuer Verfassungstexte in Verfahren der Verfassungsänderung oder Verfassungsgebung entsprechen: Text, Geschichte, Sinn und Zweck, Systematik und Verfassungsvergleichung459 (im Blick auf Klassiker, benachbarte Texte und Judikate). Vierter Teil Spezielle Fragen an die Verfassungspolitik Mexikos Vorbemerkung Jede Verfassung bedarf der textlichen und inhaltlichen Fortschreibung „im Laufe der Zeit“. Es gibt hierfür viele Wege und Verfahren: von der Verfassunggebung über die Verfassungsänderung bis zum „Verfassungswandel“ durch Verfassungsauslegung („Verfassungsgewohnheitsrecht“), oft eingeleitet durch ein verfassungsrichterliches Sondervotum, wie am deutschen BVerfG mehrfach geschehen. Auch die Staatsrechtslehre, die nationale wie die allgemein vergleichend arbeitende Verfassungslehre, hat ihren Anteil an diesen Vorgängen. Im Sinne „wissenschaftlicher Vorratspolitik“ darf sie Alternativen und Varianten vorschlagen. Im Folgenden sei dies für das Verfahren punktueller Verfassungsänderung in der für einen ausländischen Wissenschaftler gebotenen Selbstbescheidung unternommen. Dabei kann es i. S. Poppers jeweils nur um „Stückwerkreformen“ gehen. Ein Verfassungsgespräch in Mexiko und für Mexiko460 liegt um so näher, als Mexiko in seiner Verfassungsgeschichte mehrere große Pionierleistungen vollbracht hat. Erwähnt sei nur das Amparo-Verfahren (Art. 107) aus dem Jahre 1847 und die erstmalige Verankerung sozialer Grundrechte in der Verfassung 459  Dazu die Nachweise in meiner Einleitung zur Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Neuauflage von JöR Bd.1 (1951), 2010, S. V (XVI f.). 460  Zur Kulturgeschichte Mexikos: J. Soústelle, Das Leben der Azteken, 3. Aufl. 1993; Diaz del Castillo, Die Evolution von Mexiko, 1988; S. de Madaríaga, Hernán Cortés, 1997; P. Westheim, Die Kunst Altmexikos, 1966; H. J. Prem / U. Dyckerhoff, Das alte Mexiko, 1986.



Inkurs IV: Mexiko – Gesamtamerikanisches Verfassungsrecht241

von 1917 (Art. 123)461. Wenn heute gefragt wird, ob und auf welchen Themenfeldern Verfassungsrevisionen erforderlich erscheinen, so kann dies nur auf dem Hintergrund primär des lateinamerikanischen Verfassungsvergleichs bzw. den Elementen eines „gemeinlateinamerikanischen Verfassungsrechts“ erfolgen. Gibt es sozusagen punktuelle lateinamerikanische Defizite Mexikos? Weitergreifend: Empfehlen sich aus einem weltweiten Vergleich in Sachen Typus kooperativer Verfassungsstaat Entwicklungen, die sich in revidierten Verfassungstexten niederschlagen sollten? Dabei sei ein Vorbehalt eingebaut. Kein einzelner Verfassungsstaat kann je für sich behaupten, alle idealen bzw. optimalen Textelemente des Typus bei sich hier und heute geschaffen zu haben. Jede Nation hat auf manchen Feldern Neues hervorgebracht, auf anderen nur rezipiert, bald ist sie Pionier, bald „Nachzügler“. Das (tendenziell universale) Ideal des Typus „Verfassungsstaat“ ist insofern eine wissenschaftliche Konstruktion, aus der nicht einfach abstrakt deduziert werden kann, zu individuell-besonders ist jede konstitutionelle Beispielnation462. Gleichwohl dürfen Empfehlungen formuliert werden, auch wenn sie zunächst vielleicht nur „platonisch-theoretischen“ Sinn haben. In diesem Geist sei Folgendes zur Diskussion gestellt: I. Eine Verfassungspräambel? Die geltende Verfassung Mexikos „schmückt“ sich nicht mit einer Präambel, auch wenn die einleitenden Artikel im Ersten Titel Kapitel I in manchen formell sprachlich und materiell-inhaltlich an Präambeln erinnern mögen. Die Frage ist, ob es damit an dem besonderen Potential fehlt, das gerade die traditionsreiche und auch heute weit verbreitete Kunst- und Textform der Präambel der nachfolgenden Verfassung erschließt. Die besonderen Funktionen einer Präambel liegen im Spachlichen, in der bürgerintegrierenden Kraft, in ihrem möglichen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft (vgl. Präambel Verf. Ecuador von 2008: „Kompromiss zwischen Gegenwart und Zukunft“) und in ihrer Chance, eine werthafte „Verfassung (in) der Verfassung“ zu sein: ein Konzentrat des Ganzen. Neuere Musterbeispiele liefern Polen (1997) und die neue Bundesverfassung der Schweiz (1999), auch Südafrika (1996) und Kenia (2010). Gewiss, Art. 4 ist ein Bekenntnis-Artikel, der seinen Platz auch in einer Präambel finden könnte (Selbstverständnis der Nation als „plurikulturell“ und ursprünglich sich aus den Eingeborenenvölkern aufbauend). Er nähme sich m. E. als Präambelelement in seiner sowohl erkenntnishaften als auch bekenntnishaften Struktur gut aus und könnte in einer etwa nach dem jüngsten Vorbild der Schweiz (1999) in späteren Jahren einmal auch in Mexiko glückenden 461  Dazu H.-R. Horn, 80 Jahre mexikanische Bundesverfassung – was folgt?, JöR 47 (1999), S. 399 (423 f. bzw. 411 ff.); ders., Richter versus Gesetzgeber, JöR 55 (2007), 275 (290 ff.); R. Hofmann, Grundzüge des Amparo-Verfahrens in Mexiko, ZaöVR 53 (1993), I, S. 271 ff.; E. Ferrer Mac Gregor, Constitutional Procedure law in Mexican State Constitutions, JöR 53 (2005), S. 629 ff. 462  Weitere Lit. zu Mexiko: G. Scheffler, Die kleinen politischen Parteien Mexikos, VRÜ 14 (1981), S. 429 ff.; R. Grote, The Chiapas Rebellion and the Failure of Mexiko’s Indigenous Policy, VRÜ 29 (1996), S. 163 ff.; G. Maihold, Das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik in Entwicklungsländern: Der Fall Mexiko, VRÜ 20 (1987), S.  219 ff.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

„Nachführung“ der mexikanischen Verfassung, d.  h. sprachlichen Überarbeitung, Integrierung der Verfassunswirklichkeit, besseren Systematisierung und inhaltlichen Erneuerung einen neuen – besseren – Platz finden. II. Eine kulturelle Erbe-Klausel? Es fällt auf, dass Mexiko keine suggestive kulturelles Erbe-Klausel besitzt, wie sie wohl schon lateinamerikanisches Gemeingut ist463, ja vielleicht zum völkerrechtsverbundenen universalen Konstitutionalismus gehört. Sie könnte dem Bekenntnis zur Multikulturalität zur Seite gestellt werden – ebenfalls als Absatz in einer Präambel. Gerade in offenen Gesellschaften bzw. angesichts des Drucks der Globalisierung werden kulturelle Erbes- bzw. Identitätsklauseln nicht nur für sog. Entwicklungsländer immer wichtiger. Sie begrenzen auch die weltweite Tendenz zur unseligen Ökonomisierung aller Lebensbereiche. III. Eine Klausel zu Amerikas Einheit? Diskutabel wäre m. E. gerade im lateinamerikanischen Vergleich und angesichts des in Lateinamerika heranwachsenden Standards eine Klausel zur Amerikanischen Einheit, bezogen auf Lateinamerika oder darüber hinaus. Beispiele wurden bereits genannt. Die lateinamerikanische Integration als Präambelelement bzw. Staatsziel stünde auch Mexiko gut an. IV. Menschenrechtsfragen Auf dem Felde der Menschenrechte könnte diskutiert werden: –– eine ausdrückliche Öffnung zu internationalen Menschenrechtstexten hin, ggf. sogar die Erklärung der vorrangigen Geltung von diesen auf Verfassungshöhe; auch dafür gibt es Beispiele, etwa Art. 105 alte Verf. Peru von 1979: Verfassungsvorrang (ebenso Art. IX Verfassungsentwurf Peru von 2001  /  2002); s. auch Art. 424 Abs. 2 Verf. Ecuador von 2008, („Völkerrechtsfreundlichkeit“ im Sinne des BVerfG: zuletzt E 128, 326 (369 ff.); universales Menschenrecht; –– eine Öffnung der Menschenrechte nach innen im Sinne einer prospektiven Grundrechtsentwicklungsklausel nach dem Modell von § 10 Verf. Estland (1992) und Art.  4 alte Verf. Peru (1979) sowie Art.  53 Verfassungsentwurf Peru von 2001 / 2002; und sogar Art. 13 Abs. 2 Verf. Bolivien von 2007 (Stichworte: offene Grundrechtsentwicklung, Potenzialität von Grundrechten im Laufe der Zeit, numerus apertus für Grundrechte, auch international); –– eine Ausdifferenzierung der kulturellen Grundrechte einschließlich einer Verstärkung des Minderheitenschutzes auf allen Gebieten (vorbildlich Art. 64 Verf. Slo463  Zuletzt Präambel Verfassungsentwurf Peru von 2001  / 2002: „diversidad del patrimonio cultural“. Weitere Textbeispiele: Art. 9, 110 bis 111 Verf. Bolivien von 2007; Art. 377 bis 380 Verf. Ecuador von 2008. – Aus der Lit.: P. Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011, S. 54 ff.



Inkurs IV: Mexiko – Gesamtamerikanisches Verfassungsrecht243 wenien von 1991464, sowie Art. XXVII Verf. Ungarn von 2012 (Nationalitäten und Volksgruppen als „staatsbildende Faktoren));

–– die Normierung eines Hinweises auf vergleichbare ausländische Regelungen (z. B. Art. 11 Abs. 2 c Verf. Malaŵi465 sowie Art. 39 Abs. 1 lit. c. Verf. Südafrika von 1996), sei es in Texten oder Urteilen – die Etablierung des Verfassungsvergleichs. Dieser offene Fragen- bzw. Themenkatalog ist gewiss sehr fragmentarisch. Auch sind dem Verfasser nicht die Feinheiten des höchst lebendigen mexikanischen Verfassungsrechts bekannt. Vielleicht taugt der Versuch aber wenigstens als Diskus­ sionsgrundlage für die Weiterentwicklung des mexikanischen Konstitutionalismus, der in Vergangenheit und Gegenwart in einem so eindrucksvollen Prozess des re­ gionalen und auch europaweiten Gebens und Nehmens mit anderen Verfassungsstaaten bzw. Nationen steht, vor allem naturgemäß mit dem Mutterland Spanien. Ausblick und Schluss Diese Ausführungen sind nur eine Problemskizze nach den derzeitigen kleinen Möglichkeiten und begrenzten Kenntnissen über Lateinamerika, ganz Amerika und Mexiko. Doch können sie vielleicht illustrieren, dass wir heute, auf der einen Welt in einer universalen und regionalen „Werkstatt“ in Sachen Verfassungsstaat leben (universaler Konstitutionalismus). Verfassende Strukturen finden sich je national, regional und sogar auf der Weltebne, in dem Maße wie von einer werdenden „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ mit Teilverfassungen gesprochen werden kann. Die Vergemeinschaftung in Weltregionen bzw. Kontinenten wie in Europa, Amerika, Asien, ansatzweise auch in Afrika ist als Versuch zu deuten, der Globalisierung ein Stück Selbstbehauptung aus den Rechtskulturen der großen und kleinen Regionen entgegenzusetzen. Globalisierung und kulturelle Selbstbehauptung aus dem „Geist der Regionen“ gehören dialektisch zusammen. Vergleicht man die unterschiedlichen Intensitätsgrade der regionalen Vergemeinschaftungsvorgänge, so darf Europa im engeren und weiteren Sinne wohl den ersten Platz beanspruchen. Die verfassenden Texte und die sich entwickelnde kongeniale Verfassungswirklichkeit hat in Europa heute die höchste Dichte erreicht. Demgemäß sind auch die EuropaArtikel in nationalen Verfassungen und die Integrationsaufträge in EU-Texten besonders dicht, durch konkrete Verfahren und Ziele angereichert. Man denke an Art. 23 n. F. GG, italienische, österreichische Texte, auch spanische oder Art. 7 Abs. 5 Verf. Portugal („europäische Identität“). Auch andere Aussagen zu Europa als Staatsziel in einzelnen Verfassungen („nationales Europaverfassungsrecht“) und die entsprechenden Texte in den Teilverfassungen Europas wie der EMRK oder der EU und AEUV (Präambeln) spiegeln einen höchsten Grad an kontinentaler Integration bzw. Vergemeinschaftung wider („Europatrechtsfreundlichkeit“). M. A. W.: Europa bietet der Welt die wohl höchste Textstufe in Sachen Integration, und vielleicht kann mancher Text eine gewisse Vorbildfunktion für andere Teile der Welt entfalten, z. B. bei deren Entwicklung von jus publicum commune in Asien, Afrika oder eben Amerika 464  Zit.

nach H. Roggemann (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas,

465  Zit.

nach JöR 47 (1999), S. 563.

1999.

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3. Kap.: Kulturwissenschaftliche Aufbereitung

(Anreicherung um Integrations- und kulturelle Erbes-Klauseln). In afrikanischen Verfassungen mögen zwar viele einschlägige Texte vorliegen, doch gleichen sie derzeit eher Beschwörungen der Afrikanischen Einheit. Am weitesten geht mit ihrem Souveränitätsverzicht die erwähnte Verfassung von Burkina Faso. Man mag einwenden, alle die vor allem für Amerika untersuchten Texte seien eben „nur Texte“, Programme, oft utopisch oder gar illusionär. Dem ist entgegen zu halten, dass ein Verfassungstext, einmal in der Welt, mindestens mittelfristig normative Kraft entfalten kann. Die historische Entwicklung des Typus kooperativer Verfassungsstaat ist ein einziger Beleg für die Richtigkeit dieser These, und auch die jahrhundertelange Rezeptionsgeschichte von Klassikern wie J. Locke zeigt uns, dass der Verfassungsstaat, aber auch regionale Verantwortungsgemeinschaften in großen Zeiträumen denken und handeln und auf ein „Utopiequantum“ angewiesen sind (dies gilt auch für die Möglichkeiten einer völkerrechtsverbundenen „Weltrechtskultur“). Eines freilich ist sicher: Die Entfaltung eines gemeinamerikanischen Verfassungsrechts ist auf die Arbeit aller in Amerika mitwirkenden nationalen Wissenschaftlergemeinschaften angewiesen. Die offene Gesellschaft der Verfassungs- und Gemeinschaftsinterpreten braucht die je nationalen Staatsrechtslehrer (und Völkerrechtler) aus allen Ländern ihres Kontinents. Der Verf. beobachtet seit längerem neben der Staatsrechtslehre in Peru466 die von Mexiko. Die Arbeiten etwa von Prof. Fix-Zamudio und D. Valadés und des Institutes UNAM in Mexiko City seien hier an besonderer Stelle genannt467. Die „ungeschriebene“, aber schreibende tragende „Brücke“ Lateinamerika / Spanien dank der Wissenschaft vor Ort kann in personeller und inhaltlicher Hinsicht gar nicht überschätzt werden – auch nicht bei der Entwicklung von „Gemein(latein)amerikanischen Verfassungsrecht“. (Ähnliches gilt für Brasiliens lebendigen Konstitutionalismus, dazu Inkurs XI.)

466  Vgl. die Arbeiten von D. G. Belaunde (z. B. De la Jurisdicción Constitucional al Derecho procesal Constitucional, 2. Aufl. 2000; Derecho Procesal Constitucional, 2001) und C. Landa (z. B. Tribunal Constitucional y Estado Democratia, 1999); s. auch das u. a. von J. F. P. Manchego betreute Werk: Derechos Humanos y Constitución en Iberoamerica, 2002. 467  Vgl. etwa die Bücher von D. Valadés, El control del Poder, 1998; zuletzt ders., Constitución y democracia, 2000 sowie ders., Political Guarantee as a Constitutional Principle, JöR 60 (2012), S. 1 ff. Allgemein aus deutscher Sicht: H.-R. Horn, Generationen von Grundrechten im kooperativen Verfassungsstaat, Iberoamerikanische Beiträge zum Konstitutionalismus, JöR 51 (2003), S. 663 ff.

4. Kapitel

Verfassunggebung, Verfassungsänderung, Verfassungsinterpretation und Verfassungsgerichtsbarkeit I. Verfassunggebung 1. Ein Problemkatalog, Fragenkreise und Antworten a) Die Fragestellung Der weltoffene demokratische Verfassungsstaat von heute versteht sich und lebt von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als Summe der Bürger her. Sie ist teils in den Verfassungstexten ausdrücklich als solche ausgewiesen, – sie wurde in der Verfassungsgeschichte des Typus „Verfassungsstaat“ bald revolutionär, bald evolutionär (vor allem gegen die verfassunggebende Gewalt der Monarchen) durchgesetzt –, teils wurde sie „ungeschrieben“ von Wissenschaft und Praxis entwickelt, auf Begriffe gebracht, verfeinert und ganz oder teilweise in Verfassungstexte umgesetzt. Wie kaum sonst ergibt sich das für den Typus Verfassungsstaat „in Sachen Verfassunggebung“ Charakteristische aus einem Ensemble und „Kräfteparallelogramm“ von politischen Ideen, wissenschaftlichen Doktrinen, geschriebenen Verfassungstexten und ungeschriebener Praxis. So groß die Unterschiede von Land zu Land je nach der nationalen Verfassungsgeschichte auch in der Gegenwart sind: Heute hat sich ein Konzentrat von „Lehren“ und von Praxis zur verfassunggebenden Gewalt des Volkes entwickelt, das bei allen „Variationen“ einen Grundtypus erkennen lässt. Er ist vorrangig aus den sich in der Geschichte wandelnden und von Nation zu Nation je nach Kulturzustand verschiedenen Verfassungstexten zu erarbeiten – doch bedarf es dabei der Berücksichtigung der (Verfassungs-)Geschichte der „politischen Lehrmeinungen“ (ohne dass diese alle im Einzelnen dargestellt werden könnten); denn sie haben zu bestimmten Verfassungstexten geführt und diese fortentwickelt, wie umgekehrt diese Verfassungstexte als „Material“ und Herausforderung für die weitere Theoriebildung gewirkt haben bzw. wirken sollten. Speziell im Deutschland des 19. Jahrhunderts kam es überdies zu Formen des „Paktierens“ zwischen den die Verfassunggebung beeinflussenden „Subjekten“ (Monarch und Stände bzw. Volk), an die die – heute wieder aktuellen – Gedanken von der „Verfassung als Vertrag“ erinnern1. 

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4. Kap.: Verfassung

b) Der Problemkatalog: Fünf Fragenkreise als Kontinuum im Wandel der Verfassungstexte Im Einzelnen ergeben sich die folgenden fünf, anhand der im historischen und aktuellen Vergleich weltweit erarbeiteten Verfassungstexte typologisch aufgeschlüsselten Problemkreise, die einerseits das im völkerrechtsverbundenen Verfassungsstaat Typische in Sachen „verfassunggebende Gewalt des Volkes“, andererseits aber auch die große Bandbreite denkbarer verfassungspolitischer Problemlösungen erkennen lassen: 1

aa) An welchen „Stellen“ bzw. in welchen Abschnitten behandeln die einzelnen Verfassungswerke textlich-systematisch das Problem der verfassunggebenden Gewalt des Volkes? „Schon“ in der Präambel (vgl. das GG), in Grundsatz- oder erst bzw. auch in Schlussbestimmungen (so in Art. 146 GG und Art. 115 Verf. Brandenburg), am Ende oder in einem eigenen Kapitel (zuletzt Art. 441 Verf. Ecuador von 2008 als eigenes Kapitel, ähnlich Art. 409 bis 411 Verf. Bolivien von 2007 und Art. 342 bis 350 Verf. Venezuela von 1999) oder überhaupt nicht (wird sie also „systemimmanent“ vorausgesetzt und „praktiziert“ – in Orientierung an der seit 1789 entwickelten Lehre (Sieyès), die in immer neuen Textvarianten um einen Grundtypus kreist)? bb)  Wer ist in welchen Verfahren als „Subjekt“ in die Prozesse der Verfassunggebung eingeschaltet? In diesem Pluralismus wirken heute Parteien, Verbände, Kirchen, einzelne Persönlichkeiten (wie N. Mandela in Südafrika), die Wissenschaft (im Spanien und Portugal der 70er Jahre, in der Türkei der 80er Jahre [auch] das Militär) mit2. In Brandenburg (1992) haben sich die „Bürgerinnen und Bürger des Landes“, also nicht das Volk „diese Verfassung“ gegeben (Präambel), s. auch Präambel Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993). Im Ungarn von 2011 / 12 ist es die mit Zweidrittelmehrheit im Parlament herrschende Regierungspartei von Ministerpräsident Orbán, gegen dessen Verfassung die Bürger im Frühjahr 2012 demonstriert haben – ein wohl einzigartiger Vorgang. Verfassungsgeschichtlich kämpften – im Spiegel der Verfassungstexte ablesbar – in Deutschland Fürst und Stände bzw. Volksvertretungen darum, „Subjekt“ der Verfassunggebung zu sein. Oktroyierte Verfassungen (wie 1  Dazu P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S.  345 ff.; P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S.  438 ff. 2  Zur Rolle der Streitkräfte vgl. Präambel Verf. Portugal (1976 / 82) und Präambel Verf. Türkei (1982); diese nahmen sie 1997 erneut wahr. Erst 2011 zeigt sich ein Wandel: Die Mehrheitspartei von Ministerpräsident Erdogan drängt die Macht der Militärs zurück und plant eine neue Verfassung der Türkei (2012).



I. Verfassunggebung247

die preußische von 1848) waren Ausdruck der verfassunggebenden Gewalt des Monarchen, paktierte (wie die revidierte preußische von 1850) bildeten einen Vertrag bzw. Kompromiss zwischen Fürst und Ständen bzw. dem sie repräsentierenden Volk. Erst spät, d. h. seit 1918 rückte in Deutschland das Volk in die alleinige „Subjektstellung“ in Sachen verfassunggebende Gewalt ein3. cc) Wird die verfassunggebende Gewalt des Volkes schon textlich auf bestimmte Verfahren festgelegt oder nicht? Gibt es ausdrücklich-textlich bestimmte Verfahrensvarianten? Zum Beispiel: Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung mit anschließendem Plebiszit bzw. ohne ein solches. Oder sind diese vom Typus Verfassungsstaat immanent gefordert? Denkbar ist auch das Fehlen jeder direkt demokratischen ex ante- Legitimation des Verfassunggebers (so für das GG von 1949). Die Schweiz ist in der „Prozessualisierung“ der Verfassunggebung insofern besonders weit vorgestoßen, als sie einen festen Kanon von geschriebenen Verfahrensregeln zur „Totalrevision“ entwickelt hat, die heute zur „Substanz“ dieses Verfassungsstaates gehören dürften: auf Bundesebene ebenso wie kantonal (zuletzt etwa Art. 129 Verf. Bern von 1993; Art. 82 bis 90 Verf. Tessin von 1997; Art. 173 und 174 KV Neuenburg von 2000; Art. 114 bis 116 KV Schaffhausen von 2002; Art. 101 KV Graubünden von 2003; §§ 137 bis 140 KV Basel-Stadt von 2005). dd)  Ist die verfassunggebende Gewalt des Volkes textlich in einen „Kontext“ bestimmter – normativierender – Inhalte (wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, historische Vorgänge, Völkerfrieden) eingebettet (z. B. meist in Präambeln oder durch „Bekenntnisartikel“), die damit die Konturen des Typus kooperativer Verfassungsstaat umreißen, oder erscheint sie als ungebundene, freie, „normativ aus dem Nichts“ entscheidende „Gewalt“? ee)  Damit zusammenhängend: Gibt es geschriebene oder ungeschriebene („selbstgegebene“ oder kulturell aufgegebene) Grenzen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes: abgelesen aus den Verfassungstexten (besonders in Präambeln), Verfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE 1, 14 (61 f.): 1. Neugliederungsurteil!) bzw. entwickelt von der Wissenschaft, die sich ihrerseits an den Texten bzw. einem Konzentrat des Typus Verfassungsstaat in Sachen Verfassunggebung orientiert? – Grenzen etwa aus dem Völkerrecht?

3  K. Stern, Staatsrecht, a.  a. O., S. 147, trifft die Feststellung, die Lehre vom pouvoir constituant sei der wichtigste Anwendungsfall der Idee der Volkssouveränität, sie sei im demokratischen Verfassungsstaat selbstverständlich, „aber der Weg dorthin war ein dornenreicher“.

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4. Kap.: Verfassung

c) Antworten Eine im Lichte der Textstufenentwicklung arbeitende und aus Geschichte und Gegenwart Regelungsalternativen „anbietende“ Theorie kann das Problem der verfassunggebenden Gewalt des Volkes wirklichkeitsnäher lösen als so manche Ideologie. Der Typus demokratischer Verfassungsstaat vermag so ein Stück weit über die je konkrete Verfassung eines individuellen Volkes hinauszudenken und Handlungsalternativen bereitzuhalten, die offene Fortentwicklungen der je konkreten Verfassung erlauben. Dass es dabei letztlich auch zu einer Entwicklung des Typus „Verfassungsstaat“ selbst kommen kann, ist nicht auszuschließen – man denke nur an die Grundwertekataloge, in die sich der Verfassungsstaat bzw. der Verfassunggeber seit 1945 bzw. 1989 (prägnant Präambel Verf. Polen von 1997) zunehmend einbindet: sie sind eine neue Textstufe und ein Gewinn für den Verfassungsstaat, ebenso wie die schweizerischen Verfahrensinstrumente unter dem Stichwort „Totalrevision“ und die österreichische „Gesamtrevision“ bzw. das „Modell Spanien“. Sobald eine konkrete verfassungsstaatliche Verfassung Wirklichkeit geworden ist und sich damit auf den „Gleisen“ des Typus „Verfassungsstaat“ (weiter)entwickelt, kann es nur noch evolutionäre Verfassunggebung geben – eben weil die kulturwissenschaftlich arbeitende Verfassungslehre Inhalte und Verfahren auch jenseits der positiven Texte bereit hält, die den Weg zu einer neuen konkreten Beispielsverfassung erlauben. Sobald es zu (Kultur-) Revolutionen kommt, die ein Schritt weg vom und gegen den Verfassungsstaat sind (im Zeichen totalitären Staatsdenkens von links oder rechts), versagt die Verfassungslehre. Der „große Sprung“ zurück (besser: vorwärts) zum Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ kann dann nur durch die oben entwickelte Argumentation geleistet werden: ausnahmsweise Verzicht auf vorgängige Wahlen zu einer Nationalversammlung, aber Unverzichtbarkeit eines späteren Plebiszits oder Wahlen: weil der neue Zustand „näher“ am Typus weltoffener Verfassungsstaat ist als der frühere (Beispiele: Deutschlands GG von 1949 und die Türkische Verfassung von 1982)4. Einer „Werkstatt“ gleichen seit 2011 die Prozesse in arabischen Ländern wie Tunesien, Ägypten5, Libyen, wobei die (konstitutionellen) Monarchien wie Marokko und Bahrain nach wie vor praktisch-politisch sich selbst die Verfassung geben. Die These von der alleinigen „Subjektstellung“ des Volkes in den materiell vorgeprägten und normativ vorstrukturierten Verfahren seiner verfassunggebenden Gewalt wird durch die Ersetzung der traditionellen „Willens4  In

Anlehnung an BVerfGE 4, 157 (169 f.): „näher beim Grundgesetz“; st. Rspr. der Lit.: N. Naeem, Vom Abgang des Staatspräsidenten bis zur Verkündung der verfassungsrechtlichen Erklärung für die Übergangszeit, JöR 60 (2012), S.  643 ff.; P.Häberle, Der „arabische Frühling“ (2011) – in den Horizonten der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, JöR 60 (2012), S. 605 ff. Jetzt Exkurs III. 5  Aus



I. Verfassunggebung249

einheit des Volkes“ durch den heutigen Pluralismus des Volkes6 nicht widerlegt. Der im Verfassungsstaat typische Anspruch des Volkes, alleiniges Subjekt bzw. „Träger“ der verfassunggebenden Gewalt zu sein, macht die Einsicht nicht unrichtig, dass das Volk eine pluralistische Größe ist. Im modernen Verfassungsstaat arbeitet eine Vielheit pluralistischer „Faktoren“ bzw. „Beteiligter“ an dem Grund-Konsens, auf dem letztlich die Verfassung „gebaut“ wird. Man mag von einem Pluralismus „der“ Verfassunggeber sprechen, von einem Kompromiss und Vertrag(en) aller mit allen: in diesen Vorgängen und Beteiligten „ist“ bzw. wirkt heute „das Volk“. Die Renaissance des Gedankens der paktierten Verfassung trifft also den Pluralismus der Inhalte und der an Verfassunggebung Beteiligten besser als die Ideologie vom (unbeschränkten) Willen „des“ Verfassunggebers, der „sich“ die Verfassung „gibt“. Sie ist jedenfalls kein „Rückschritt“ in die Zeit des deutschen Dualismus Fürst / Stände und kein „stände-staatlicher“ Irrweg, so sehr viele Verfassungstexte noch von der Ideologie „des“ Verfassunggebers geprägt sein mögen, der freilich vom Völkerrecht her eingebunden ist. Als Konsequenz des bisher Gesagten ergeben sich aber auch Antworten auf die Frage Nr. 5 des obigen Problemkatalogs nach etwaigen geschriebenen und ungeschriebenen, vom Typus kooperativer Verfassungsstaat bzw. kulturell vorgegebenen Grenzen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Sie folgen daraus, dass sich „Verfassunggebung“ auf die Konstituierung eines konkreten Beispiels für den abstrakteren Typus „Verfassungsstaat“ beziehen muss: andernfalls wären Wort und Begriff „Verfassunggebung“ irreführend und nichtssagend, ein bloßer Formalakt. Aus bis heute überzeugenden Gründen formuliert und normiert Art. 16 der französischen Menschen- und Bürgerrechte-Erklärung von 1789 (die in die Verfassung von 1791 integriert wurde und über die Präambel der Verfassung von 1958 auch heute noch in Frankreich gilt): „Eine jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte zugesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung“. Dies ist ein geltender Verfassungsrechtssatz im heutigen Frankreich und kulturgeschichtlich gesehen zugleich ein kultureller „Klassikertext“ des Typus Verfassungsstaat. Völker, deren verfassunggebende Gewalt eine verfassungsstaatliche Verfassung einrichten konnten, haben sich damit – immanent – mindestens für diesen typusmitbestimmenden Basissatz von 1789 entschieden. Es handelt sich um ein Element des universalen Konstitutionalismus (ebenso wie beim absoluten Folterverbot), der auch vom Völkerrecht her mitgeprägt ist. „Mittelbarer“ ­Akteur werden auch Europarat und die UN (z. B. Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung und Apartheid (1966 / 1973)). 6  Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 5 ff., 62 (Neudruck 1999).

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4. Kap.: Verfassung

d) Die zwei Ebenen: Verfassunggebung im Typus Verfassungsstaat – Verfassunggebung eines konkreten Volkes im Kontext seiner kulturellen Individualität und Identität Stets ist auf zwei – voneinander zu unterscheidenden (in der geschicht­ lichen Entwicklung sich aber wechselseitig beeinflussenden) – Ebenen zu arbeiten: auf der abstrakteren des Typus kooperativer Verfassungsstaat und auf der konkreteren eines konkret verfassten und sich individuell verfassenden Volkes. So ist das Bundesstaatsprinzip (noch?) nicht immanenter Bestandteil jedes typusgerechten Vorgangs der „Verfassunggebung des Volkes“: Es gibt große bzw. traditionsreiche Verfassungsstaaten wie England oder Frankreich, die keine Bundesstaaten sind, allenfalls Vorformen entwickeln (Regionen!). Wohl aber finden sich individuelle Verfassungsstaaten wie die USA oder die Schweiz, in denen das Bundesstaatsprinzip ein Strukturelement jeder Art von Verfassunggebung bzw. Totalrevision des Volkes bildet, seitdem dieses Volk konstituiert ist: Was juristisch (wie in der Schweiz) als „Grenze“ der Totalrevision bzw. Verfassunggebung erscheint, ist in der Sache freilich mehr: lebendiger, ohne Kulturrevolution und Kulturverlust nicht hinterschreitbarer Ausdruck der konkreten „Verfassung als Kulturzustand“. Und die Nation bzw. das Volk befindet sich in diesem sich weiterentwickelnden Kulturzustand, nicht im Natur- bzw. Ausnahmezustand i. S. der Lehren von Sieyés bis C. Schmitt7. Entsprechendes gilt für die Alternative „parlamentarische Monarchie“ (Spanien) oder „Republik“ (Frankreich, das deutsche GG) insofern, als beide Verfassungsstaaten ihrer heutigen kulturellen bzw. verfassungsstaatlichen Entwicklungsstufe gemäß nur konstitutionelle Monarchien bzw. Republiken im Kontext des Völkerrechts sein können. e) Die Normativierung und Konstitutionalisierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes Theorie und Praxis der hier verfochtenen Normativierung und Konstitu­ tionalisierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes8 auf der Folie der sie kontextartig „umgebenden“ Bekenntnisartikel in Sachen Grundwerte bzw. 7  Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 79: „Die verfassunggebende Gewalt ist immer Naturzustand, wenn sie in dieser unveräußerlichen Eigenschaft auftritt.“ 8  M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, liefert einen eindrucksvollen Entwurf des demokratischen Verfassungsstaates. Doch eliminiert er letztlich Volkssouveränität und verfassunggebende Gewalt des Volkes in den Sätzen (S. 226): „Die Volkssouveränität tritt nur am Anfang oder am Ende des Verfassungsstaates auf, bei seiner Konstituierung und bei seiner Abschaffung,“ „Die demokratische Souveränität ruht, solange der Verfassungsstaat besteht.“



I. Verfassunggebung251

ihrer „Klassikertexte“ von 1789 bzw. von 1776 / 1787 und der Schweizer Texte zu den prozessualen Maximen der „Totalrevision“ können auch nicht mit dem Argument widerlegt werden, es handele sich dabei nur um eine „Selbstverpflichtung“ (auf dem Hintergrund „grundsätzlich unbeschränkter Gewalt“) des jeweiligen konkreten Verfassunggebers, nicht um die Normalität und Normativität eines typusimmanenten Verfassungsprinzips des Verfassungsstaates. Nur formal und äußerlich betrachtet verpflichtet „sich“ der Verfassunggeber bzw. das (pluralistische) Volk „selbst“: In der Sache und kulturgeschichtlich gesehen votiert es für Inhalte und Verfahren, die weit „objektiver“ gegeben und aufgegeben sind als ein ungeschichtlicher Dezisionismus wahrnehmen will9. Die Eingebundenheit in einen bestimmten Entwicklungszustand einer Kultur schafft „Realien“ und „Ideelles“, dem die Theorie der bloß subjektiven „Selbstbindung“ und voluntaristischen „Selbstbeschränkung“ nicht gerecht werden kann. Die intensive „Verinnerlichung“ bestimmter Grundwerte wie „Menschenrechte“, „Friede“ etc., die sich an textlichen Präambelelementen wie „Absicht“, „Bewusstsein“, „von dem Willen beseelt“ zeigt, schlägt ins Objektive, in kulturelle Determinanten um. Es sind die Bürger, die bereits im „Kulturzustand“ „sich“ ihre Verfassung geben! (Auch die Teilverfassungen des Völkerrechts wie das Seerechtsübereinkommen, die Kinderschutz- oder die Behindertenkonven­ tion, die zwei Wiener Verträge (1961 / 69) sowie die Weltkulturrechtskonventionen in Sachen Schutz von Kultur und Natur erwachsen aus einem Kulturzustand.) 2. Verfassungspolitische Erwägungen Die bisherigen theoretischen Überlegungen und in sie integrierten vergleichenden Analysen der Verfassungstexte sowie der Praxis der verfassunggebenden Gewalt des Volkes blieben halbherzig, wenn sie nicht in verfassungspolitische Konsequenzen mündeten. Denn die weltweit vergleichende Verfassungslehre schließt die Dimension der Verfassungspolitik in einem „letzten Schritt“ nicht aus, sondern ein. Die Wissenschaft kann und soll künftigen Verfassunggebern praktische Handreichungen bieten bei der Ausgestaltung ihrer Texte, wo möglich auch im Sinne von Alternativen, wie sie in den Totalrevisionsvorhaben der Schweiz als „Varianten“ üblich 9  s. auch K. Stern, Staatsrecht, a. a. O., S. 149: „Ein Grundbestand dieser Vorstellungen (sc. der europäisch-atlantischen Verfassunggebung) besitzt rational und historisch begründbare Objektivität: Menschenrechte, freiheitliche demokratische Grundordnung, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit.“ Aus der Lit. zur Verfassunggebung im Übrigen: H.-P. Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, HStR VII 1992, § 158; C. Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung, 2007; P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat – eine vergleichende Textstufenanalyse, AöR 112 (1987), S. 54 ff.

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4. Kap.: Verfassung

geworden sind10. Eine völkerrechtsoffene universale Verfassungslehre kann von dieser Technik viel lernen. Auf diesem Hintergrund sei Folgendes empfohlen: a)  Die nationalen (bundesstaatlichen, auch gliedstaatlichen bzw. kantonalen) Verfassunggeber sollten sowohl in den Präambeln ihrer Verfassungen als auch in den Schlussartikeln auf die verfassunggebende Kompetenz des Volkes als solche eingehen11: Sie „umrahmen“ so gleichsam ihr Verfassungstextwerk. Dabei ist der jeweils historisch-kulturelle Vorgang der Verfassunggebung i. S. des Postulats der Verfassungstextwahrheit und -klarheit so zu beschreiben wie er sich tatsächlich ereignet hat – dies selbst dann, wenn sich – nach dem Ideal des Verfassungsstaates – eigentlich „inkompetente Instanzen“ wie „Streitkräfte“ und „Besatzungsmächte“ in den Vorgang der Verfassunggebung gedrängt und ein Stück der allein beim Volk liegenden Kompetenz angeeignet haben (wie in Portugal 1976 oder in der Türkei 1982 bzw. in Westdeutschland nach 1945). b)  Die verfassunggebende Gewalt des Volkes sollte dem Typus weltoffener „Verfassungsstaat“ konform von zwei Seiten verfassungstextlich angereichert werden: von der inhaltlichen Grundwerteseite aus einerseits (Beispiele liefern die Verfassungen deutscher Länder nach 1945, aber auch die Verfassungen von Portugal und Spanien von 1976 bzw. 1978, osteuropäische bzw. Balkan-Länder nach 1989: Polen 1997, Albanien 1998; Mazedonien 1991: Präambel und Art. 8), d. h. über „Bekenntnis-“ bzw. „BewusstseinsArtikel“ bzw. -Elemente in Präambeln einerseits, von der prozessualen Seite andererseits (Beispiele geben die schweizer, österreichischen und spanischen „Totalrevisions-“ bzw. „Gesamtrevisions“-Regelungen bzw. die schon erwähnten Normierungen in Bolivien und Ecuador). c)  Empfehlenswert sind eigene Abschnitte über die Totalrevision bzw. Gesamtrevision der Verfassung (möglichst im prozessualen „Dreitakt“: Einleitung durch das Volk, Abstimmung in den Parlamenten und Verabschiedung durch das Volk; das Volk muss mindestens in Form von Wahlen oder durch ein Plebiszit „danach“ das letzte Wort haben). Sie können redaktionell gemeinsam mit der Totalrevision bzw. Verfassungsänderung unter dem „Dach“ eines und desselben Verfassungsabschnitts platziert sein (Beispiele gibt es in 10  Vgl. die „Varianten“ im Totalrevisionsentwurf für eine Bundesverfassung (1977) und für eine Kantonsverfassung wie Solothurn (1985) und Glarus (1977), abgedruckt in JöR 34 (1985), S. 536 ff. bzw. 497 ff. und 480 ff. 11  So heißt es in der Präambel der Verf. Frankreich von 1946: „… le peuple français proclame à nouveau … Il réaffirme solennellement les droits et les libertés“, am Schluss in Art. 106: „La présente Constitution, délibérée et adoptée par l’Assemblée nationale constituante, approuvée par le peuple français … (zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979, S. 389, 410).



I. Verfassunggebung253

der Schweiz auf Bundes- und Kantonsebene). Damit ist „Totalrevision“ auch textlich als möglicher und durchaus normaler Vorgang (der Verfassunggebung) neben der bloßen Teilrevision bzw. „Verfassungsänderung“ ausgewiesen. Auch auf diese Weise kommt zum Ausdruck, dass die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Typus Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe tendenziell normalisiert, normativiert und konstitutionalisiert worden ist12. d)  Der Begriff „Verfassunggebung“ bzw. verfassunggebende Gewalt bzw. Kompetenz des Volkes braucht weder in den Verfassungstexten noch in der Theorie gestrichen bzw. verabschiedet zu werden – zu suggestiv ist die Wirkung der ihn kulturell bis heute tragenden Klassikertexte seit 1776 / 1778 bzw. 1789 / 1791 / 1792. Doch müsste sich die Erkenntnis durchsetzen, dass „Verfassunggebung des Volkes“ und „Totalrevision“ bzw. „Gesamtrevision“ durch das Volk im Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ miteinander identisch sind. Verfassungen, die in Präambeln und / oder Schlussartikeln von „Verfassunggebung“ sprechen, sollten terminologisch konsequent bleiben und auch in einem etwaigen Abschnitt über die „Gesamtrevision“ diese dem Wortlaut nach als „Verfassunggebung“ ausweisen. Zur Verdeutlichung der im völkerrechtsoffenen Verfassungsstaat typischen Annäherung zwischen Verfassungsänderung (Teilrevi­ sion) und Verfassunggebung (Totalrevision) empfiehlt es sich, beide Arten von „Verfassungsreform“ auch systematisch gemeinsam unter einem „Dach“ bzw. Abschnitt zu vereinigen. 3. Verfassunggebung als pluralistischer Vorgang, Normierung des „politisch Wichtigen“ Gerade im Feld der Verfassunggebung schließlich reicht der herkömmlich juristische Ansatz nicht aus. Denn hier liegt ja noch kein „geltender“ positiver Text vor. Allein der tiefere und breite kulturwissenschaftliche Ansatz kann bestimmte Bewegungen, ihre „Promotoren“ und Akteure thematisieren und auf den Begriff bringen. Die neueren Prozesse der Verfassunggebung in Portugal (1976), Griechenland (1975) und Spanien (1978), auch in Kanada (1981), sowie die Schweizer Diskussion um die „Totalrevision“ der Bundesverfassung (Entwurf 1977, 1995 „nachgeführt“, 1999 gelungen) sowie in einigen Ländern Lateinamerikas, etwa in Kolumbien und Ecuador, lassen sich nicht allein wirtschaftlich und politisch, d. h. ohne Beachtung der kulturellen Hintergründe beschreiben und erklären. 12  Vgl. auch Art. 196 Verf. Costa Rica von 1949 (zit. nach JöR 35 [1986], S. 481 [508]): „Eine allgemeine Änderung dieser Verfassung kann nur durch eine zu diesem Zweck einberufene verfassunggebende Versammlung durchgeführt werden.“ – s. jetzt Art. 115 Verfassung Brandenburg (1992) – zur „verfassunggebenden Versammlung“ –, mit genauen Verfahrensvorschriften!

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4. Kap.: Verfassung

Vor der textlichen Ausgestaltung liegen in Fülle unterschiedliche BauElemente für die neue Verfassung „auf dem Platz“. Sachlich ringen Klassikertexte, Partei- und Verbandsprogramme, Erkenntnisse der Wissenschaft, Bruchstücke alter Verfassungstexte, aber auch Lebensleistungen einzelner Persönlichkeiten (z. B. N. Mandela, V. Havel) miteinander. Politische Hoffnungen und Erfahrungen gehen ebenso in die Prozesse der Verfassunggebung ein wie Elemente auswärtiger Verfassungsstaaten als Beispiel des Typus kooperativer Verfassungsstaat. So wirken sich die deutschen Leitbilder von Bundesstaatlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, auch das Verhältnis von Staat und Kirche und der Grundrechtskatalog heute zunehmend in manchen neuen Verfassungen Europas aus. Kulturelle Rezeptionsprozesse etwa der grundrechtlichen Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG13 lassen sich nicht nur im Blick auf die Schweizer Totalrevision (z. B. § 13 Abs. 2 und 3 KV Basel-Stadt von 2005), sondern auch und sogar bis in das südliche Afrika (früher bis nach Bophuthatswana, jetzt Südafrika: Art. 36 Verf. Südafrika von 1996) und auf dem Balkan heute verfolgen. Bis all dies zu einem positiven Verfassungstext „gerinnt“, gibt es viel Kampf, viel Parteinahme und Interessenwahrung, auch der Religionen. Es lohnt insbesondere ein Blick auf die Normierung des „politisch Wichtigen“: Erste Funktion von Verfassunggebern ist es, das ihnen in der Zeitdimension, d. h. aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft „politisch Wichtige“ formalisiert in die Verfassungstexte umzusetzen (Grundordnungscharakter der Verfassung). Das in historischer Erfahrung Bewährte ist mit dem „Geist der Zeit“, insbesondere mit der Wirklichkeit, so zu verbinden, dass auch Hoffnungen für die Zukunft, Möglichkeiten, sie zu gestalten, und Maßstäbe (Ziele) hierfür verfassungstextlich zum Ausdruck kommen. Spezifikum ist dabei das Moment der Dauer, und es legitimiert, einen Rechtsgedanken, eine Institution oder ein Verfahren auf Verfassungsstufe zu normieren. Mit anderen Worten: Dem Verfassunggeber muss ein Thema als dauerhaft genug erscheinen, um es zum Gegenstand einer textlichen Regelung in der neuen Verfassung zu machen. Nicht alles in der jeweiligen gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung ist wert, das Prädikat einer Verfassungsentwicklung zu erhalten. Diese Verbindung von Tradition und Offenheit für die Zukunft, von Stabilität und Dynamik, Abbildung des Vorhandenen mit entwurfhafter Steuerung des Zukünftigen, von Rezeption und Produktion sollte glücken. 13  Dazu die Nachweise in: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 341 ff.; Anklänge zuletzt in Art. 11 Ziff. 2 Verf. Ecuador von 2008 sowie zuvor in Art. 39 Abs. 2 Verf. Südafrika von 1996; wahlverwandt auch Art. 30 Abs. 4 KwaZulu Natal von 1996, zit. nach JöR 47 (1999), S. 514 ff. Weitere Beispiele finden sich in Serbien, im Kosovo sowie in Kenia.



II. Verfassungsänderung255

Dabei ist mit den genannten fünf Gestaltungsmethoden zu arbeiten: mit der Verfassungsgeschichte, Klassikertexten, vergleichend gewonnenen Verfassungstexten anderer Länder, mit der Methode der systematischen Ordnung und der klaren Textgestaltung sowie den Zwecken und Werten. Was der Verfassunggeber für „politisch wichtig“ hält und in sein Textwerk aufnimmt, variiert in Raum und Zeit, von Land zu Land. Doch stellt sich die Frage, welche Kriterien ihm die beratende vergleichende Verfassungslehre zur Verfügung stellt, um das politisch Wichtige thematisch zu beschreiben und rechtstechnisch optimal umzusetzen. Solche Kriterien sind aus einem empirischen Überblick über die wichtigsten verfassungsstaatlichen Verfassungen der heutigen Zeit zu gewinnen (realtypischer Ist-Bestand), ergänzt um die „idealen“ Anforderungen, die bisher de facto noch nicht zum typischen Inhalt gehören, aber verdienten, von möglichst vielen Verfassungen berücksichtigt zu werden (idealtypische Sollforderung). Orientierungspunkt ist dabei die „gute“ verfassungsstaatliche Verfassung. Verfassungspolitik und Staatsrechtslehre haben hier einander zuzuarbeiten, so unvermeidlich gewisse dezisionistische Elemente in der Entscheidung über das „politisch Wichtige“ sind. So bleibt offen, ob die neuen Rechtsquellentexte (z. B. Verf. Polen) und grundrechtliche Interpretationsregeln (wie im Kosovo, in Kenia etc.) „notwendig“ sind, welche Staatsziele „erforderlich“ sind, ob Themen wie der Ombudsmann, der Schutz der Gebärdensprache oder Kinderanwälte in die konkrete Verfassung gehören oder nicht. Der Schutz der Alten, Behinderten, Kinder wird derzeit ein universales Thema vieler Verfassungen. Gleiches gilt für mannigfaltige Ausdrucksformen der vom BVerfG erarbeiteten „Völkerrechtsfreundlichkeit“ sowie der „Kooperation“.

II. Verfassungsänderung 1. Die Ausgangsfragen Das klassische Institut, um Neuem formalisiert und unmittelbar Eingang in die geschriebene Verfassung zu eröffnen, ist die Verfassungsänderung14, also die Änderung des Verfassungstextes in bestimmten Verfahren mit meist qualifizierter Mehrheit als vergrößerter Konsensbasis (vgl. Art. 79 Abs. 2 GG). Alle nationalen Verfassungsstaaten mit Verfassungsurkunde kennen 14  Aus der Lit.: Der Staat Beiheft 20, 2012, Verfassungsänderungen; M. Jestaedt, Herr und Hüter der Verfassung als Akteure des Verfassungswandels, in: H. Neuhaus (Hrsg.), 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 2010, S. 49 ff.; P. Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, HStR, Bd. VII, 1992, § 160. Zum Folgenden, jetzt überarbeitet, P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 267 ff.

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4. Kap.: Verfassung

diese Möglichkeit, dem Wandel der Zeit auch textlich Rechnung zu tragen, mögen sich die Voraussetzungen im Einzelnen (etwa die Größe der Mehrheit) unterscheiden (vorbildlich: Art. XIV Verf. Palau, 1979). Verfassungsänderungen können der Anpassung an Entwicklungen dienen, die faktisch schon gelaufen sind; sie können solche aber auch erst herbeiführen (wollen). „Anpassungs-“ und „Gestaltungsänderung“ sind also zu unterscheiden. Dauer und Stabilität einer Verfassung scheinen zunächst gegen Verfassungsänderungen zu sprechen, doch können diese der Dauer und Stabilität eines Gemeinwesens gerade auch dienen, wenn sie „zeitgerecht“ sind. Ob das so ist, lässt sich nur im Einzelfall und bereichsspezifisch sagen. 2. Ein verfassungspolitischer Problemkatalog in Sachen Verfassungsänderung Die Verfassungsänderung ist das institutionalisierte Verfahren zur Anpassung der Verfassung an den kulturellen Wandel bzw. zur aktiven Ingangsetzung von Steuerungen solchen Wandels. Sie ist aus rechtsstaatlich-demokratischen Gründen nur bedingt ersetzbar bzw. austauschbar mit dem „Verfassungswandel“ (G. Jellinek), d. h. der Änderung des Verfassungsinhalts ohne Änderung des Verfassungstextes, so frappierend der Unterschied zwischen 43 GG-Änderungen in nur 47 Jahren (1949 bis 1996), weitere 10 bis 2012, einerseits und lediglich 7 Änderungen der Bayerischen Verfassung von 1946 bis 2003 in 57 Jahren bzw. nur 27 Amendments der US-Bundesverfassung (auch dank „broad interpretation“) seit 1787 ist. Gleichwohl ist die Verfassungsänderung der Idee nach Ausdruck des normalen Wachstums- und Entwicklungsprozesses einer verfassungsstaatlichen Verfassung. Sie kann im Einzelfall sogar um der Idee der Verfassung willen geboten sein. Sie ist kein „Betriebsunfall“. Sie bildet vielmehr einen Ausschnitt aus dem übergreifenden Thema „Zeit und Verfassungskultur“ bzw. „Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive“ und gehört in die universale Verfassungslehre. Im Folgenden seien typologisch die Problemkreise benannt, die der heutige Verfassunggeber bei seinen Normativierungen der Prozesse der Verfassungsänderung bedenken muss und – in Beobachtung langjähriger in Raum und Zeit vergleichender Praxis – auch tatsächlich beachtet. Dabei ist auffällig, dass sich der Problemkreis Verfassungsänderung durch viele Varianten und fortschreitende Differenzierungen (vor allem in Richtung auf materielle, auch zeitliche Kriterien) auszeichnet. In dem Maße, wie Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht auch eine Lehre der „guten“ Verfassung ist und konsequent verfassungspolitische Fragen von vornherein in ihren Fragenhorizont einbeziehen darf, ja soll, lassen sich folgende Problemkreise unterscheiden, (an die universale UN als „mittelbarer“ Akteur sei erinnert):



II. Verfassungsänderung257

(1) Die Frage, wer „Subjekt“ der verfassungsändernden Kompetenz bzw. Funktion ist – etwa nur die parlamentarischen Körperschaften wie im GG (Art. 79 GG) oder auch (zusätzlich) das Volk (vgl. Art. 75 Abs. 2 S. 2 Verf. Bayern; Art. 46 Abs. 2 Verf. Irland; Art. 51 Abs. 2 Verf. Republik Guinea von 1991 und durchgängig in der Schweiz auf Bundeswie Kantonsebene, vgl. Art. 135 KV Jura (1977)); (s. auch die in Art. 168 Abs. 3 Verf. Spanien verlangte Volksabstimmung, ebenso Art. 152 Verf. Aserbaidschan von 1995). Art. 138 Verf. Italien (1947 / 93) kennt besondere Regelungen zur Einschaltung des Volkes – Alternativen sieht Art. 89 Abs. 2 und 3 Verf. Frankreich von 1958 / 96 / 2008 vor. Verf. Kenia von 2010 unterscheidet zwischen „Amendment by parliamentary initiative“, Art. 256, und „by popular initiative“: Art. 257. (2) Die Frage nach Art und Ausmaß der verfahrensrechtlichen Erschwerungen von Verfassungsänderungen (also z. B. die 2 / 3 Mehrheit von Bundestag und Bundesrat nach Art. 79 Abs. 2 GG oder die in Frankreich erforderliche 3 / 5 Mehrheit), wobei auch Regelungen auffallen, in deren Rahmen für inhaltlich besondere Verfassungsänderungen besondere zusätzliche Mehrheiten mit besonderen Konsequenzen (Auflösung der Kammern) möglich sind (so Art. 168 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978 /  9215). (3) Die Frage, ob es weitere Formvorschriften gibt, etwa das Gebot ausdrücklicher Änderung des Verfassungstextes wie in Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG: eine Urkundlichkeit und Einsichtbarkeit der Verfassungsänderung16, ein Grundsatz, welcher Ausdruck formalisierter Öffentlichkeit der Verfassung ist. Das Fehlen eines Art. 79 Abs. 1 S. 1 hat z. B. dazu geführt, dass das BV-G Österreichs bis zur „Ruine“ verunstaltet ist17. (4) Die Frage sonstiger, dem Verfahren gezogener (z. B. zeitlicher) Grenzen. So normiert etwa Art. 110 Abs. 6 Verf. Griechenland von 1975 ein Verbot einer Verfassungsänderung „vor dem Ablauf von fünf Jahren nach Abschluss der vorhergehenden“ – Ausdruck der Idee der Verfassung als Grund-Ordnung. Eine anloge Zeit-Grenze findet sich in Art. 284 Abs. 1 Verf. Portugal (s. auch Art. XVII Sec. 2 Verf. Philippi15  Vgl. auch § 79 Abs. 1 S. 1 Verf. Island (1944  / 1968). – In Präsidialsystemen mag es auch tunlich sein, spezielle Verbotsgrenzen in Sachen Verlängerung der Amtszeit oder Wiederwahl des amtierenden Präsidenten vorzusehen (so in Art. 129 Abs. 2 Verf. Korea von 1980, zit. nach JöR 35 (1986), S. 604 ff.). 16  Dazu K. Stern, Deutsches Staatsrecht, a. a. O., Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 159. 17  Dazu Österreichische Parlamentarische Gesellschaft (Hrsg.), 75 Jahre Bundesverfassung, 1995, passim, z. B. S. 12 f., 160, 195 ff. – s. auch das Verbot der „Verfassungsdurchbrechung“ in Art. 64 Abs. 4 Verf. Baden-Württemberg von 1953. Aus der Lit.: U. Hufeld, Die Verfassungsdurchbrechung, 1997.

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nen von 1986). So verlangt § 88 Verf. Dänemark (1953) ggf. eine Neuwahl des Folketing, wenn dieser zuvor eine neue Verfassungsbestimmung angenommen hat. Auch Kap. 8 §  15 Verf. Schweden (1975 / 80) fordert vom zweiten eine Grundgesetzänderung bestätigenden Beschluss, dass er erst dann gefasst werden darf, wenn „im ganzen Reich“ zuvor Reichstagswahlen abgehalten wurden. Art. 114 Abs. 2 Verf. Luxemburg (1868 / 1996) erklärt die Kammer von Rechts wegen für aufgelöst, wenn sie sich zuvor für eine Verfassungsänderung ausgesprochen hat. (5) Grenzen der Verfassungsänderung via „Ewigkeitsklauseln“ (wie zuletzt in Art. 56 Abs. 3 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993, Art. 78 Abs. 3 Verf. Sachsen-Anhalt von 1993, Art. 83 Abs. 3 Verf. Thüringen von 1993; in Lateinamerika: Art. 441 Abs. 1 Verf. Ecuador von 2008; in Afrika z. B. Art. 91 Abs. 5 Verf. Republik Guinea von 1990, Art. 130 Verf. Republik Guinea-Bissau von 1993, Art. 125 Verf. Niger von 1996) bleiben diskutabel. (6) Die Frage, ob in bestimmten Zeiten, wie in Kriegszeiten oder im Notstandsfall Verfassungsänderungen unzulässig sind (vgl. Art. 289 Verf. Portugal, Art. 169 Verf. Spanien; s. auch Art. 115e Abs. 2 S. 1 GG, Art. 196 Verf. Belgien von 1994; Art. 148 Abs. 3 Verf. Rumänien von 1991; Art. 91 Abs. 4 Verf. Republik Guinea von 1990). Die Bejahung dieser Frage sollte m. E. zum selbständigen Element allen weltweiten Denkens über Verfassungsänderungen heute werden und dort, wo sie nicht ausdrücklich geregelt ist, ungeschrieben („immanent“) durch (rechtsvergleichende) Verfassungsinterpretation begründet werden. (7) Verfassungspolitisch stellt sich die systematische Frage, an welchen „Orten“ der Verfassunggeber die Verfassungsänderung regelt: etwa nur in Schluss- und Übergangsvorschriften wie in § 95 Verf. Finnland (1991 / 1995), Art. 152 Abs. 1 und 2 Verf. Slowakische Republik von 1992; s. auch Art. 116 Verf. Turkmenistan von 1992 und schon Siebenter Teil Verf. Türkei von 1982 (Art. 175) oder gar im Gegenteil im Abschnitt „Grundbestimmungen“ (so in Art. 9 Verf. Tschechien von 1992), im Abschnitt Bundesgesetzgebung wie in Österreich (Art. 44 B-VG 1920 / 1994) oder in eigenen Abschnitten (wie in Art. 110 Verf. Griechenland von 1975; Art. 46 Verf. Irland (1937  /  1992) oder, wie erwähnt, in Bolivien, Ecuador und Venezuela oder „Gesetzgebung“ (wie in Brandenburg: Art. 79 Verf. von 1992 oder Art. 74 Verf. Süd­ afrika von 1996) oder im Kontext der Verfassunggebung als stärkeren, aber doch benachbarten Verfahren (so in Kap. IX Verf. Bulgarien von 1991, vgl. besonders Art. 158). Die Übergänge zwischen (mehreren) Teilrevisionen und (einer) Totalrevision (Verfassunggebung) können fließend sein. Art. 44 österreichisches B-VG unterscheidet zwischen



II. Verfassungsänderung259

Gesamtänderung und Teiländerung18. Vieles spricht dafür, dass beide Verfahren in einem gemeinsamen Abschnitt zu regeln sind (so Kap. XIII Verf. Nicaragua von 198619 und Titel IX (alte) Verf. Venezuela von 1961; Art. 409 bis 411 Verf. Bolivien von 2007). Besonders geglückt erscheint es, die Verfassungsrevision mit einem Abschnitt zur „Überwachung der Verfassungsmäßigkeit“ zu verbinden (in einem gemeinsamen Teil: „Verfassungsgewährleistung und Revision“: so in Art. 277 bis 289 Verf. Portugal von 1976 / 92). Denn damit kommt zum Ausdruck, dass die Verfassung ernst genommen wird, sich ihre Garantie aber auch einmal in ihrer (behutsamen) Revision äußern kann. Das Wort „Schutz der Verfassung“ wie in Verf. Rheinland-Pfalz von 1947 / 1993 ist also kein Euphemismus, denn gewisse prozessuale und materielle Hürden sind klar bezeichnet (besonders deutlich in Art. 442 Verf. Ecuador von 2008). Insgesamt ist aber davon abzuraten, die Verfassungsänderung „nur“ in den Übergangsvorschriften zu regeln, so wichtig diese sein können. Zu diskutieren ist auch, ob man den neuerdings vordringenden Begriff der „Verfassungsreform“ wählt (so Kap. 8 Verf. Niederlande von 1983, ähnlich Art. 191 bis 195 Verf. Nicaragua von 1986, Titel IX Kap. 3 Verf. Ecuador von 2008) und ob man sich vor der Unterscheidung zwischen „Änderungen“ und „Ergänzungen“ der Verfassung (so aber Verf. Aserbaidschan von 1995: Art. 152 ff. bzw. 156 ff.) besser hüten sollte. 3. Die Grenzen der Verfassungsänderung: Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien Im Folgenden ist lediglich die Skizze einer verfassungsstaatlichen Theorie „in Sachen Ewigkeitsklauseln“ möglich: im Sinne eines Theorievorschlags, bezogen auf den Verfassungsstaat als Typus. So groß die Varia­ tionsbreite positivrechtlich nachweisbarer Ewigkeitsklauseln in Geschichte und Gegenwart ist, so evident ist auch, dass viele verfassungsstaatliche Verfassungen ohne geschriebene Ewigkeitsklauseln auskommen wollen und auch auskommen können (z. B. die Schweiz von heute!): In dem Maße, wie 18  Dazu aus der Lit.: H. Huber, Die Gesamtänderung der Verfassung, FS Scheuner, 1973, S. 183 ff.; T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl., 2010, S. 54 f. 19  Ähnlich schon Abschnitt XVII Verf. Costa Rica von 1949 mit ungewöhnlich detaillierten Verfassungsnormen in Art. 195 und der „allgemeinen Änderung der Verfassung“, die eine verfassunggebende Versammlung voraussetzt (Art. 196). Auch Art. 373 ff. Verf. Honduras von 1982 sprechen von „Reform der Verfassung“. Ebenso Titel XIII Verf. Kolumbien von 1991, auch Tit. IX Kap. 3 Verf. Ecuador von 2008 sowie Art. 411 Verf. Bolivien von 2007.

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es gelingt, zu einzelnen „Themen“, Grundsätzen und Verfahren des Verfassungsstaates etwas „Typisches“ zu sagen, muss es auch möglich sein, über ein traditionsreiches und nicht selten vorkommendes „Element“ dieses Verfassungsstaates, die Ewigkeitsklausel, etwas „Prinzipielles“ zu erarbeiten, und zwar auf dem Forum einer (vergleichenden) Verfassungslehre. Gewiss, die Vielfalt im Erscheinungsbild von im Einzelnen sehr unterschiedlichen „Ewigkeitsklauseln“ macht es schwer, etwas Generelles auszusagen und doch zugleich der Individualität der einzelnen Verfassungsstaaten gerecht zu werden. Es besteht die Gefahr, dass die Verfassungslehre in ihren Methoden und Inhalten so abstrakt wird, dass sie letztlich formal bleibt. Damit leistete man ihr besonders in der heutigen Zeit einen schlechten Dienst, in der der Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ weltweit (zuletzt im arabischen Frühling von 2011, inskünftig vielleicht in China) herausgefordert bleibt und z. B. die Menschenrechte und die Demokratie als klassisches und gelebtes Element des Typus Verfassungsstaat mindestens verbal ein universaler Legitimierungsausweis sind. Die universale völkerrechtsoffene Verfassungslehre muss vielmehr Methoden und Inhalte zu entwickeln suchen, die bei allem Ringen um den Typus des „Verfassungsstaates“ Gestaltungsspielraum für das „Historisch-Individuelle“ der nationalen Beispiele dieses Typus lassen: Der Begriff „Verfassungskultur“ und die Methoden der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft könnten diesen „Spielraum“ positiv ausfüllen. Die hier skizzierte verfassungstheoretische Sicht von „Ewigkeitsklauseln“ setzt viele Ergebnisse der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion voraus, ohne sie im Einzelnen nachzuweisen. Stärker zu betonen als in der überkommenen Literatur, ist die Aufgabe der Integrierung des normativen Beispiels- bzw. Text-Materials der bisher in Geschichte und Gegenwart nachweisbaren Ewigkeitsklauseln. Diese Texte geben für die wissenschaftliche Einordnung und die verfassungspolitische Ausgestaltung von Ewigkeitsklauseln auch „theoretisch“ weit mehr her als bislang aus ihnen „gemacht“ wurde. Doch sei nicht verkannt, dass die Ewigkeitsklauseln zum Teil ihrerseits Ergebnis vorausgegangener höchst produktiver wissenschaftlicher Diskussionen sind20. Heute gehören sie in eine universale Verfassungslehre. Lösungsgesichtspunkte für die verfassungstheoretische Frage des Verständnisses von „Ewigkeitsklauseln“ in diesem Sinne bilden folgende Erwägungen: Ewigkeitsklauseln sind geschrieben oder gar ungeschrieben immanenter Bestandteil verfassungsstaatlicher Verfassungen, sofern man sie von einem 20  Beispiele sind die französische Unterscheidung zwischen grundsätzlichen und anderen Verfassungsinhalten, die Erkenntnisse von C. Schmitt, Verfassungslehre (1928) und ihre Auswirkung auf deutsche Landesverfassungen nach 1945 und das GG von 1949.



II. Verfassungsänderung261

materialen Ansatz aus deutet21. Soweit sie ganz oder teilweise Elemente der „Substanz“ dieser Verfassungen umschreiben, sind sie deklaratorischer Natur. Diese Substanz verfassungsstaatlicher Verfassungen umfasst typusentsprechend folgende Inhalte: Grundrechte mit der Menschenwürde an der Spitze, weil sie die anthropologische Basis bildet, Demokratie und Gewaltenteilung22; schon die (nur formal als „Nichtmonarchie“ begriffene) Republikklausel ist aber vom Typus des Verfassungsstaates her gesehen kein notwendiges „Wesensmerkmal“ (Beispiele: Schweden, Norwegen, Dänemark, in Asien etwa Japan, Thailand und Kambodscha als Königreiche!); Entsprechendes gilt für die Bundesstaatsstruktur (Beispiel: der dezentralisierte Einheitsstaat Frankreich!) sowie für die Regionalstaaten Italien und Spanien. Das schließt nicht aus, innerhalb des vom Typus „Verfassungsstaat“ offengelassenen Rahmens für einzelstaatliche Beispiele die Republikklausel (Frankreich) und Bundesstaatsformel (Schweiz) auf Grund der besonderen, individuellen Verfassungskultur zusätzlich zum „substantiellen Element“ einer geschriebenen oder ungeschriebenen Ewigkeitsklausel zu machen bzw. sie als solche (wissenschaftlich und gegebenenfalls prätorisch) zu deuten. Ewigkeitsklauseln sind im Sinne eines positiven oder „Wesensgehalts“bzw. Identitätsdenkens23 und erst in diesem Rahmen auch im Sinne des „Schrankendenkens“ zu erschließen. Soweit sie positivrechtlich normiert sind, geben sie nicht per se erschöpfende Hinweise auf das, was einer konkreten verfassungsstaatlichen Verfassung „wesentlich“ ist, und diese „Substanz“ erschließt sich – historisch nicht unwandelbar – in ganzheitlicher Interpretation (zum Problem: BVerfGE 128, 326 (371)). Dieses Verständnis von geschriebenen und ungeschriebenen Ewigkeitsklauseln lebt aus einer Zusammenschau der bisherigen typischen Erscheinungsformen solcher Klauseln in den Verfassungstexten und dem, was die Wissenschaft dazu erarbeitet hat: Insbesondere sind die klassische „Geistdieser-Verfassung“-Klausel nach dem Muster Norwegens (1814) und die ihr verwandte „Grundsatzklausel“ (z. B. Art. 75 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern, 1946) sowie das „Substanzdenken“ eines C. Schmitt zusammenzusehen mit den typischen Inhalten, die der Verfassungsstaat in den einzelnen Nationen nach und nach in verschiedenen „Wachstumsschüben“ hervorgebracht hat. „Gemeinverfassungsstaatlich“ typische Inhalte bilden in Sonderheit: die Menschenwürde und Menschenrechte, das Demokratieprinzip, die Gewalihm vor allem H. Ehmke, a. a. O., S.  99 f., 136 ff. K. Hesse, a. a. O., S. 293. Vgl. auch Art. 17 Verf. Gabun (1994). 23  Zu „Identität“ der Verfassung als Grenze der Verfassungsänderung B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 232 f., 236; P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, FS Haug, 1986, S.  81 ff.; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 21. 21  Zu

22  Vgl.

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tenteilung (vgl. Art. 16 der französischen Erklärung von 1789), der soziale Rechtsstaat, die Kulturverfassung. Diese „Zusammenschau“ bedeutet praktisch, dass Verfassungsstaaten mit bloßen, nicht näher spezifierten „Geistdieser-Verfassung“- bzw. „Grundsätze“- und „Grundgedanken“-Klauseln inhaltlich angereichert werden dürfen und müssen mit den „unerläßlichen Bestandteilen einer (!) demokratischen Verfassung“ (in der sprachlich glücklichen Wendung von Art. 92 Abs. 3 Verfassung Baden (1947)), wie sie sich beispielhaft, aber nicht immer erschöpfend in anderen verfassungsstaatlichen Verfassungen finden (z. B. die „Grundwerte“ in Art. 8 Verf. Mazedonien von 1991 sowie Art. 288 in Verf. Portugal von 1976). Umgekehrt liefern ausdrückliche Beispiele in solchen Verfassungen Hinweise darauf, was sie – den Typus Verfassungsstaat illustrierend – als Teil ihrer „Identität“ ansehen. Das braucht nicht erschöpfend zu sein. Denn da der „Geist“ einer verfassungsstaatlichen Verfassung für den verfassungsändernden Gesetzgeber per se unantastbar bleibt, ist die konkrete Verfassung immer auch daraufhin zu untersuchen, ob es gerade ihrem speziellen „Geist“, ihrer konkreten historischen Individualität entspricht, weitere Elemente (wie die Bundesstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland und den „Pazifismus“ in Japan?) zu ihrer „Substanz“ zu rechnen. Erneut zeigt sich, wie viel die Interpretation zu leisten hat, wenn es um das „allgemeine“ und „besondere“ Verständnis von verfassungsstaatlichen Ewigkeitsklauseln geht. Ob die in neueren Verfassungen auftretenden grundrechtlichen Auslegungsmaximen und Interpretationsregeln hierbei helfen, muss hier offen bleiben (z. B. Art. 36, 39 Verf. Südafrika von 1996; Art. 53, 55 Verf. Kosovo von 2008; Art. 24 Verf. Kenia von 2010). Vermutlich sind sie in jungen völkerrechtsoffenen Verfassungsstaaten besonders sinnvoll, notwendig und hilfreich. So gesehen ist die Erschließung geschriebender oder ungeschriebener Ewigkeitsklauseln eine Bewährungsprobe und ein „hic Rhodus hic salta“ der weltweit vergleichenden Verfassungslehre: sowohl in ihrem Anspruch, einen Typus zu umschreiben, als auch in ihrer Aufgabe, der jeweiligen Individualität eines konkreten Verfassungsstaates gerecht zu werden. Bei diesem Ansatz zeigt sich eine spezifische Nähe von geschriebenen oder ungeschriebenen Ewigkeitsklauseln zu dem, was in Präambeln enthalten ist (z. B. Polen von 1997, Bulgarien von 1991, Ukraine von 1991). Vielfach umreißen sie als eine Art „Verfassung der Verfassung“ substan­tielle Grundsätze einer konkreten verfassungsstaatlichen Verfassung. Und es ist kein Zufall sondern positivrechtlicher Beleg dieser Einsicht, dass manche positivrechtlich ausgestalteten Ewigkeitsklauseln die Präambeln ganz oder teilweise einbeziehen24. Mit anderen Worten: Bei der interpretatorischen 24  So wohl Art. 176 Abs. 1 i. V. m. Art. 4 Verf. Türkei (1982); eindeutig Art. 129 Verf. Rheinland-Pfalz (1947).



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“263

Erschließung von geschriebenen oder ungeschriebenen Ewigkeitsklauseln sind die etwaigen Präambelinhalte der konkreten Verfassung und die typischen Wesensinhalte von verfassungsstaatlichen Präambeln insgesamt mit zu berücksichtigen. (Präambel Verf. Litauen von 1992 bezieht sich u. a. auf den „Geist“ des litauischen Volkes.) Solche Geist-Klauseln gehören in eine universale Verfassungslehre, sei es als Text, sei es als Judikat, sei es als wissenschaftliche Theorie: die bekannte Trias.

III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ – Ein Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen“ Verfassungsinterpretation25 1. Erster Teil: Grundthese, Problemstand a) Die bisherige Fragestellung der Theorie der Verfassungsinterpretation Die Theorie der Verfassungsinterpretation stellt sich bisher im Wesent­ lichen zwei Fragen: – die Frage nach den Aufgaben und Zielen der Verfassungsinterpretation26; – die Frage nach den Methoden (Verfahren) der Verfassungsinterpretation (Auslegungsregeln).27 Vernachlässigt ist das Problem, in welchem systematischen Zusammenhang dazu die (neue) dritte Frage nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation steht, eine Frage, zu der die Praxis provoziert: Eine Bestandsaufnahme ergibt nämlich einen sehr weiten, pluralistischen, oft diffusen Beteiligungskreis; dies ist Grund genug für die Theorie, die Beteiligtenfrage explizit und zentral zu thematisieren, insbesondere in wissenschafts- und 25  Der folgende Abschnitt erschien in Urfassung in JZ 1975, S. 297 bis 305, ein Nachtrag 1978. Textlich bleibt es im Folgenden bei der Urfassung, da diese in vielen Sprachen und Ländern publiziert worden ist. Nur die Fußnoten wurden sehr vereinzelt aktualisiert. 26  An Aufgaben werden genannt: Gerechtigkeit, Billigkeit, Interessenausgleich, befriedendes und befriedigendes Ergebnis, Vernünftigkeit (vgl. etwa BVerfGE 34, 269 (287  ff.), Praktikabilität, Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Berechenbarkeit, Transparenz, Konsensfähigkeit, Methodenklarheit, Offenheit, Einheitsbildung, „Harmonisierung“ (U. Scheuner, VVDStRL 20 (1963), S. 125), normative Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive grundrechtliche Freiheit, soziale Gleichheit, (gemeinwohl-)gerechte („gute“) öffentliche Ordnung. 27  Dazu grundsätzlich K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl. 1974, S. 20 ff.

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4. Kap.: Verfassung

demokratietheoretischer Hinsicht. Die Theorie der Verfassungsinterpretation war zu sehr auf die „geschlossene Gesellschaft“ juristischer Verfassungsinterpreten fixiert28, und sie verengte den Blickwinkel noch dadurch, dass sie primär auf die verfassungsrichterliche Interpretation und das formalisierte Verfahren schaute. Wenn eine Theorie der Verfassungsinterpretation das Thema „Verfassung und Verfassungswirklichkeit“ ernst nehmen will – man denke hier an die Forderung nach Einbeziehung der Sozialwissenschaften29, an die schon bekannten funktionell-rechtlichen Theorien30 sowie an die neueren Methoden der öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogenen Auslegung31 – dann muss entschiedener als bisher gefragt werden, wer „Verfassungswirklichkeit“ gestaltet. b) Neue Fragestellung und These In diesem Sinne stellt sich jetzt die Beteiligtenfrage, d. h. die Frage nach den an der Verfassungsinterpretation Beteiligten unter dem Stichwort: von der geschlossenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten zur Verfassungsinterpretation durch und für die offene Gesellschaft! These ist: In die Prozesse der Verfassungsinterpretation sind potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet. Es gibt keinen numerus clausus der Verfassungsinterpreten! Verfassungsinterpretation ist bewusstseinsmäßig, weniger realiter, bislang viel zu sehr Sache einer „geschlossenen Gesellschaft“: der „zunftmäßigen“ juristischen Verfassungsinterpreten und der am Verfassungsprozess formell Beteiligten. Sie ist in Wirklichkeit weit mehr Sache einer offenen Gesellschaft, d. h. aller – insoweit materiell beteiligten – öffentlichen Potenzen, weil Verfassungsinterpretation diese offene Gesellschaft immer von neuem mitkonstituiert und von ihr konstituiert wird. Ihre Kriterien sind so offen, wie die Gesellschaft pluralistisch ist.

28  s. aber H. Ehmkes (VVDStRL 20 (1963), S. 53 (71 f., 133)) auf das „ganze Gemeinwesen“ zielende Figur „aller Vernünftig- und Gerecht-Denkenden“. Zu ergänzen wäre: „und -Handelnden“. 29  Dazu der Sammelband Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften (Hrsg. D. Grimm), Bd. 1, 1973; s. aber auch H. Schelsky, JZ 1974, 410 ff. 30  Dazu H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (73 f.); K. Hesse, a. a. O., S.  29, 32 f. Zu verfahrensmäßigen („procedere“) und materiellrechtlichen Auswirkungen der funktionellen Arbeitsteilung zwischen BVerfG und „anderen Verfassungsorganen“: BVerfGE 36, 1 (14 f.); 35, 257 (261 f.); 4, 157 (168 f.); 36, 342 (356 f.). 31  Dazu m. N. P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (121 ff.).



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“265

c) Erläuterung der These, Interpretationsbegriff Einer Erläuterung bedarf der hier zugrunde gelegte Interpretationsbegriff, der sich auf die Formel bringen lässt: wer die Norm „lebt“, interpretiert sie auch (mit). Jede Aktualisierung der Verfassung (durch jeden) ist mindestens ein Stück antizipierter Verfassungsinterpretation. Herkömmlicherweise wird mit „Interpretation“ nur eine Tätigkeit bezeichnet, die bewusst und intentional auf das Verstehen und Auslegen einer Norm (eines Textes) gerichtet ist32. Die Verwendung eines so umgrenzten Interpretationsbegriffs ist auch sinnvoll: Die Frage nach der Methode zum Beispiel lässt sich nur dort stellen, wo bewusst interpretiert wird. Für eine realistische Untersuchung des Zustandekommens von Verfassungsinterpretation kann aber ein weiterer Begriff von Interpretation erforderlich sein: Bürger und Gruppen, Staatsorgane und Öffentlichkeit sind „interpretatorische Produktivkräfte“: Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne. Zumindest als „Vorinterpreten“ sind sie tätig; die Verantwortung verbleibt bei der „letztlich“ interpretierenden Verfassungsgerichtsbarkeit (vorbehaltlich der normierenden Kraft von Minderheitsvoten). Wenn man will, handelt es sich um eine Demokratisierung der Verfassungsinterpretation33, wie überhaupt die Interpretationstheorie demokratietheoretisch abgesichert werden muss und umgekehrt. Es gibt keine Interpretation der Verfassung ohne die erwähnten Aktivbürger und öffentlichen Potenzen. Jeder, der in und mit dem von der Norm geregelten Sachverhalt lebt, ist indirekt und ggf. auch direkt Norminterpret. Der Adressat der Normen ist am Interpretationsvorgang stärker beteiligt als gemeinhin angenommen wird34. Da nicht nur die juristischen Verfassungsinterpreten die Normen leben, sind sie auch nicht die alleinigen, ja nicht einmal die Primärinterpreten. Dabei geht es nicht nur um die – „Staatspraxis“35 (etwa um die Interpretation der Art. 54 ff. GG durch den Bundespräsidenten oder des Art. 65 GG 32  Diesen engeren Interpretationsbegriff legt K. Hesse, Grundzüge, S. 21, zugrunde. Er bezeichnet das, was hier mit Interpretation im weiteren Sinne gemeint ist, als „Verwirklichung“ (Aktualisierung) der Verfassung; ähnlich Hans Huber, der von „Konkretisierung anstelle von Interpretation“ spricht, GS für Imboden, 1972, S. 191 (195). Zu einem weiteren Interpretationsbegriff vgl. auch H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (68 f.); U. Scheuner, ebd., S. 125. 33  Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (118 ff.). 34  G. Winter und K. F. Schumann, Sozialisation und Legitimierung des Rechts im Strafverfahren, in: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, 1972, S. 529, fordern für den Bereich des Strafrechts die intensive Beteiligung derjenigen, denen ein Normverstoß vorgeworfen wird, an der kritischen Überprüfung und Fortentwicklung des Rechts durch die Justiz. 35  Wie diese die Interpretation beeinflusst, hat G. Jellinek schon mit der normativen Kraft des Faktischen gezeigt, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck 1960, S.  18 f., 332 ff.

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durch den Bundeskanzler). Bei manchen Grundrechten richtet sich die Interpretation (schon bewusst?) danach, wie die „Normadressaten“ selbst den grundrechtlich geschützten Lebensbereich ausfüllen. So bestimmt das BVerfG den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mit Hilfe des Selbstverständnisses der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften36. Ähnliche Bedeutung könnte das Selbstverständnis das Künstlers bei der Auslegung der „offenen“ Kunstfreiheitsgarantie (Art. 5 Abs. 3 GG) erlangen37; auch bei der pluralistisch und verfahrensorientiert zu sehenden Wissenschaftsfreiheit mit ihrem „offenen“ Wissenschaftsbegriff38 stellt sich die Frage, inwieweit sie von den einzelnen Wissenschaften (und ihren Metatheorien) selbst notwendigerweise mitinterpretiert werden muss – wie überhaupt die Grundrechte in einem spezifischen Sinne offen auszulegen sind. In einem weiteren Sinne ließen sich hier auch die an der Realität der modernen Parteiendemokratie orientierte Auslegung der Art. 2139 und 38 GG, die Lehre von den Berufsbildern40, die Durchsetzung eines weiten Begriffs der Presse(freiheit) bzw. ihrer „öffentlichen Aufgabe“41 oder die 36  BVerfGE 24, 236 ff. (247 f.), mit dem bezeichnenden Hinweis auf die „pluralistische Gesellschaft“; dazu meine Anm. in DÖV 1969, S. 385 (388); K. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 202 ff. und meine Bespr. in ZevKR 18 (1973), S. 420 ff. – Zur Negierung des Selbstverständnisses der Reli­ gionsgemeinschaften nach Beginn des Kirchenkampfes in der Rspr. des RG: M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 290 f. 37  Zum verfassungsrechtlichen Kunstbegriff: W. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, bes. S. 128 ff., 164 f., 172 f., 217 ff.; M. Heckel, Staat, Kirche, Kunst, 1968, S. 97: Offenheit des Kunstbegriffs der Verfassung. 38  Zur Freiheit der Forschung jetzt W. Schmitt GIaeser, WissR 7 (1974), S. 107 ff., 177 ff.; BVerfGE 35, 79 (113): Kein Schutz einer bestimmten Auffassung von Wissenschaft oder einer bestimmten Wissenschaftstheorie durch Art. 5 Abs. 3; prinzi­ pielle Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis; vgl. auch das Minderheitsvotum und dessen Hinweis auf den „freiheitlichen Wissenschaftspluralismus“, auf Wissenschaft als „prinzipiell unabgeschlossenen, dialogischen Prozess der Suche nach Erkenntnis“ (S. 157) sowie auf die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit zur „Reform der Reformen“ (S. 165), Für einen „offenen“ Wissenschafts- und Freiheitsbegriff: E.-L. Solte, Theologie an der Universität, 1971, S. 30, 33 ff., dessen Begriff einer „neutralen“ Interpretation der Grundrechte freilich fragwürdig ist. 39  Dazu K. Hesse, a. a. O., S.  69 ff.; P. Häberle, JuS 1967, S. 64 ff. – Z. B. wird jetzt ein verfassungsrechtlicher Schutz der Fraktionen aus der Regelung des Bundestages (BVerfGE 20, 56 (104) und (!) aus Art. 21 GG gefolgert; ihre „Konstitutionalisierung“ in Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 GG (s. schon: BVerfGE 27, 44 (51 f.), dazu mein Aufsatz JZ 1969, 613 f. mit Note 10) folgte der GeschO-BT erst nach. 40  Ihr kommt allerdings nur eine begrenzte Bedeutung zu: BVerfGE 7, 377 (397); 21, 173 (180); 34, 252 (256); Maunz / Dürig / Herzog, GG, Art. 12, Rn. 24 ff. 41  Dazu BVerfGE 34, 269 (283); 12, 113 (125 f.) und mein Öff. Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 582 ff.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“267

Interpretation der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) anführen42, soweit sie das Selbstverständnis der Koalitionen berücksichtigen soll. Diese Relevanz des Selbstverständnisses und des entsprechenden Wirkens von Einzelnen und Gruppen, aber auch von Staatsorganen ist eine herausragende und fruchtbare Form der Verbindung von Verfassungsinterpretation im weiteren und engeren Sinne. Das Selbstverständnis wird zu einem „grundrechtlichen Sachelement“43. Auch die realiter mitinterpretierende Rolle der Sachverständigen in Gesetzgebungs- und Gerichtsverfahren gehört hierher. Dieses Zusammenspiel von Interpreten im weiteren und engeren Sinne findet nicht nur dort statt, wo es schon institutionalisiert ist wie bei den Arbeitsrichtern von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite in den staat­ lichen Arbeitsgerichten44. „Sachkundige“ und „Interessenten“ aus der pluralistischen Gesellschaft werden zu Interpreten staatlichen Rechts. Dieses erweist sich nicht nur im Entstehungsvorgang, sondern auch in der weiteren Entwicklung als pluralistisch: Wissenschafts-, Demokratie-45 und (Verfassungs-)Interpretationstheorie führen hier zu einer spezifischen Vermittlung von Staat und Gesellschaft! 2. Die an Verfassungsinterpretation Beteiligten a) Methodische Vorbemerkung Die Untersuchung, wer in diesem Sinne realiter an Verfassungsauslegung beteiligt ist, ist (verfassungs-)soziologischer Ausdruck und Konsequenz des Begriffs „republikanische“, offene Auslegung, die als Ziel aller Verfassungsinterpretation anzusehen ist. Wenn man davon spricht, dass „die Zeit“, „die pluralistische Öffentlichkeit“, „die Wirklichkeit“ Verfassungsprobleme stellen und Material für Verfassungsauslegung, ihre Notwendigkeiten und Mög42  Ansätze in BVerfGE 4, 96 (108); 18, 18 (32 f.); 34, 307 (316 f.) sowie bei P. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfrechts, 1968, S. 53; R. Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 43 ff., 93. – s. auch das Argument vom Fehlen der „billigenden Aufnahme“ durch beteiligte Kreise in BVerfGE 34, 293 (304 f.) sowie der „allgemeinen Überzeugung“ der Rechtsanwaltschaft“: E 36, 212 (221). Umfassende Rechtsprechungsanalysen hätten nachzuweisen, wo (Rechts-)Ansichten beteiligter Kreise von den Gerichten mitverwertet werden (vgl. auch § 346 HGB). Speziell die Gewohnheitsrechtsbildung dürfte sich als „Fundgrube“ erweisen. – Allgemein stellt sich die Frage, wann welche praktizierten Selbstverständnisses pluralistischer (Rand-)Gruppen in die Verfassungsinterpretation eingebracht werden dürfen, ja müssen; das ist auch ein Problem des Gleichheitssatzes. 43  Ausdruck bei F. Müller, Juristische Methodik, 1971, S. 30 ff., 37 f. 44  Dazu K. Schlaich, a.a.O, S.  66 ff. 45  Zu K. R. Poppers Wissenschaftstheorie als „Philosophie der Demokratie“ noch Anm. 95.

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lichkeiten entfalten46, dann können diese Begriffe nur als vorläufig abstrahierende Chiffren verstanden werden. Eine Verfassungstheorie, die sich (auch) als Erfahrungswissenschaft versteht, muss bereit und prinzipiell im Stande sein, anzugeben, aus welchen konkreten Personen (Gruppen) und Faktoren die Öffentlichkeit besteht, was für eine Wirklichkeit es ist, die in der Zeit auf welche Weise wirkt, welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten es gibt. Die Frage nach den an Verfassungsinterpretation Beteiligten ist zunächst in einem rein soziologischen, erfahrungswissenschaftlichen Sinne zu stellen47. D. h. man fragt realistisch danach, welche vorfindbare Auslegung auf welche Weise zustande gekommen ist, durch welche Elemente der öffentlichen Meinung, durch welche Beiträge der Wissenschaft die Verfassungsrichter (oder die sonst verbindlich entscheidenden Instanzen) in ihrer Auslegung tatsächlich beeinflusst worden sind48. Schon diese Frage ist eine Bereicherung und Ergänzung für eine Verfassungstheorie, die nach Zielen und Methoden (und damit nach der „guten“ Interpretation) fragt; sie hat eine Hilfs-, Informationsfunktion, eine Art „Zubringeraufgabe“. Später werden die Fragen nach Zielen und Methoden sowie nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation in einen systematischen Zusammenhang zu bringen sein, aus dem sich Konsequenzen und neue Fragestellungen für die „juristische“ Verfassungsauslegung wie für die Verfassungstheorie ergeben. b) Systematisches Tableau Der Versuch einer systematisierenden Zusammenstellung der an Verfassungsinterpretation Beteiligten ergibt das folgende, vorläufige Tableau: (1) Die staatlichen Funktionen: – in letztverbindlicher Entscheidung: das Bundesverfassungsgericht (freilich durch das eigene Minderheitsvotum „relativiert“ und eben dadurch „offen“); mein Beitrag in ZfP 21 (1974), S. 111 ff. unter dem Aspekt der hier gestellten Beteiligtenfrage scheint der entscheidungssoziologische Ansatz von R. Lautmann interessant, der die auf den Richter zielenden Verhaltenserwartungen der Verfahrensbeteiligten und der weiteren Umwelt untersucht (Jahrbuch f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. I, 1970, S. 383 ff.); s. aber auch die Kritik von H. Schelsky, JZ 1974, S. 410 (412) an der „rechtstheoretischen Vorherrschaft der ‚Entscheidungstheorie‘ des Richters“ mit einem Hinweis auf das „realdialektisch gegliederte Rationalisierungsverfahren“ des prozessualen Zusammenwirkens von Ankläger, Verteidiger und Richtern. 48  Dazu mit einigem Material mein Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, insbesondere zur normierenden Kraft der Staatspraxis, der Öffentlichkeit und öffentlicher Interessen, S. 475 ff., 678 ff. bzw. 418 f., 558 ff., 572, 584 f., 589 ff. bzw. 215 ff., 260 ff. (2. Aufl., 2006). 46  Dazu

47  Gerade



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– vom GG zu verbindlicher, aber überprüfbarer Entscheidung aufgerufen: die Rechtsprechung, die Legislative, (je nach Sachbereich in unterschiedlichem Maße), die Exekutive, besonders bei der (Vor-) Formulierung öffentlicher Interessen49. (2) Die – nicht notwendigerweise staatlichen – Verfahrensbeteiligten an den Entscheidungen zu 1 a) und b), d. h.: – Antragsteller und Antragsgegner, Beschwerdeführer (z. B. Verfassungsbeschwerde), Kläger und Beklagter, die ihr Vorbringen begründen und das Gericht zur Stellungnahme (zum „Rechtsgespräch“) zwingen; – sonstige Verfahrensbeteiligte, Äußerungs- und Beitrittsberechtigte nach dem BVerfGG (z. B. §§ 77, 85 Abs. 250, 94 Abs. 1 bis 4 bzw. 65, 82 Abs. 2, 83 Abs. 2, 88, 94 Abs. 5), vom BVerfG „zugezogene“ (z. B. § 82 Abs. 4 BVerfGG), jetzt neu § 27a BVerfGG; – Gutachter (z. B. in Enquete-Kommissionen, § 73 a GeschOBT); – Sachverständige und Interessenvertreter in hearings (§ 73 Abs. 3 GeschOBT, § 40 Abs. 3 GeschOBR), Sachverständige im Gericht51, Verbände (Anlage 1a GeschOBT: Registrierung von Verbänden und deren Vertretern), politische Parteien (Fraktionen – sie wirken speziell auch über den „langen Arm“ der Richterwahl ein52); – Lobbyisten, „Deputationen“ (§ 10 GeschOBReg.); – Beteiligte in partizipatorisch ausgestalteten Verwaltungsverfahren53. (3) Die demokratische – pluralistische – Öffentlichkeit, der politische Prozess als „großer Anreger“: Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) – die nicht im engeren Sinne verfahrensbeteiligt sind, professioneller Journalismus einerseits, Lesererwartungen, Leserbriefe andererseits, Bürgerinitiativen, Verbände, politische Parteien außerhalb ihrer organisatorischen Beteiligung (vgl. 2 d), Kirchen, Theater, Verlage, Volkshochschulen, Pädagogen, Elternvereine54. 49  Dazu m. N. aus der Rechtsprechungswirklichkeit der Verwaltungsgerichte: mein Öffentliches Interesse, S. 475 ff., 678 ff. (2. Aufl., 2006). 50  Aus der Praxis des BVerfG: E 36, 342 (353 f., 354 f.). 51  Aufschlussreich ist der vom BVerfG in E 35, 202 (219) eingebaute „Sachverständigenvorbehalt“. 52  Und zwar durchaus konsequenterweise, dazu meine Anm. in JZ 1973, 451 (453). – I.S. einer (partei-)politischen Anbindung schon M. Drath, VVDStRL 9 (1952), S. 17 (102, 106 Anm. 25). 53  Zum Problem: W. Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), S. 179 ff.; s. auch die Typologie in meinem Öff. Interesse, S. 88 ff. 54  Aufschlussreich ist die jetzt von Elternvereinen geforderte Einräumung eines „Klagerechts“, FR vom 18.3.1975, S. 4.

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(4) (in noch zu klärender Weise zwischen 1., 2., 3. einzuordnen) die Verfassungsrechtslehre; sie hat eine Sonderstellung, weil sie die Beteiligung der anderen Kräfte thematisiert, selbst aber auch auf verschiedenen Ebenen beteiligt ist. c) Erläuterung des systematischen Tableaus Aus dieser Übersicht wird deutlich: Verfassungsinterpretation ist weder theoretisch noch praktisch ein „exklusiver“ staatlicher Vorgang. Zugang zu ihm haben potentiell alle Kräfte des politischen Gemeinwesens55. Der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhebt56,57 ist ebenso Verfassungsinterpret wie die politische Partei, die Organklage einreicht58 oder gegen die ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet wird. Bislang herrscht eine zu starke Verengung des Prozesses der Verfassungsinterpretation auf die Staatsorgane oder unmittelbar Verfahrensbeteiligten vor, eine Fixierung auf das „Amt“ der Verfassungsinterpretation, auf das funktionell-rechtliche Zusammenspiel der staatlichen Funktionen, so wichtig dieses ist. Verfassungsinterpretation ist aber ein „Geschäft“, das potentiell jeden und alle angeht. Die genannten Gruppen, Einzelnen usw. können als „mittelbare“ oder langfristig wirkende Verfassungsinterpreten bezeichnet werden. Gestaltung der Wirklichkeit der Verfassung wird auch zu einem Stück Interpretation der „zugehörigen“ Verfassungsnormen. Auch in und hinter den Staatsfunktionen (Gesetzgebung, Regierung sowie Verwaltung und Rechtsprechung) sind die konkreten Personen, die Abgeordneten, Verwaltungsbeamten, Richter zu sehen59 („Personalisierung“ der 55  s. aber E. Forsthoffs Zurückweisung einer „Demokratisierung“ der Verfassungsinterpretation z. B. in Bezug auf Politikwissenschaftler, in: Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 69; dazu meine Kritik in: ZHR 136 (1972), S. 425 (443). 56  Nimmt man A. Arndts Forderung nach dem Rechtsgespräch ernst, dann müssen die „vernünftig und gerecht Denkenden“ i. S. H. Ehmkes zunächst einmal die Verfahrensbeteiligten sein, vgl. G. Roellecke, FS für Gebh. Müller, 1970, S. 323 (328 f.). 57  R. Lautmann, Justiz – Die stille Gewalt, 1972, S. 118, bezeichnet die Parteien des Prozesses als „Lieferanten für Alternativen“. 58  Im Sinne von BVerfGE 4, 27 (30); 20, 56 (113 f.), ständige Rechtsprechung. 59  Vgl. dazu den Versuch von D. Kommers, The Federal Constitutional Court in the West German Political System, in: Frontiers of judicial research (Hrsg. Grossman und Tannenhaus), 1969, S. 73 ff., mit dem behavioristischen Ansatz der amerikanischen Richtersoziologie, die Einstellungen der Bundesverfassungsrichter zu untersuchen. Kritisch dazu P. Wittig, Politische Rücksichten in der Rechtsprechung des BVerfG?, Der Staat 8 (1969), S. 137 (156 f.). Zu den verschiedenen verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen und ihrer Kritik vgl. auch H. Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973, S. 61 ff.



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Verfassungsinterpretation). Die sogenannte Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages im Februar 197460 ist eine vorgezogene Verfassungsinterpretation. Abgeordnete werden hier zu Interpreten der Verfassung. Ihre Äußerungen können sich – auch ohne formelle rechtliche Bedeutung zu haben – z. B. bei der umstrittenen Frage der Einstellung von Verfassungsfeinden im öffentlichen Dienst auf die Verwaltungspraxis, auf die Interpretation durch Staatsorgane auswirken. Der vielberufene „politische Prozess“, der meist sub specie Freiheit für ihn gegenüber der Verfassungsinterpretation zitiert wird61, ist de constitutione lata und de facto viel stärker ein Stück Verfassungsinterpretation, als gemeinhin angenommen wird („Politik als Verfassungsinterpretation“)62. Er ist von der Verfassung nicht ausgegrenzt, sondern einer ihrer wesentlichsten Lebens- und Funktionsbereiche, ein Herzstück im wahren Sinne des Wortes: einer Pumpe vergleichbar. Hier kommt es zu Bewegungen, zu Innovationen, zu Änderungen, aber auch zu „Bekräftigungen“, die mehr als nur „objektives Material“ für (spätere) Verfassungsinterpretation bilden; sie sind ein Stück Interpretation der Verfassung, weil in ihrem Rahmen öffentliche Wirklichkeit geschaffen und oft unmerklich verändert wird. Die Gestaltungsfreiheit, die der Gesetzgeber „als“ Verfassungsinterpret hat, unterscheidet sich zwar qualitativ von dem Spielraum, den der Verfassungsrichter bei der Interpretation hat, weil der Spielraum jeweils auf technisch ganz verschiedene Weise begrenzt wird63. Das bedeutet aber nicht, dass auch qualitativ ein erheblicher Unterschied bestehen muss. Der politische Prozess ist kein verfassungsfreier Raum; er formuliert Gesichtspunkte vor, er setzt Entwicklungen in Gang, die auch dort verfassungsrelevant sind, wo der verfassungsrichterliche Interpret später sagt, es 60  79. Sitzung des 7. BT v. 14.2.1974, Steno Ber. S. 5002 (B), mit dem allseits als herausragend empfundenen Beitrag des bayr. Kultusministers H. Maier, S. 5089 (C); s. auch H. Ehmke, 80. Sitzung des 7. BT v. 15.2.1974, Steno Ber. S. 5139 (C) ff., 5140 (C). 61  Auch H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und öffentlicher Prozess, 1968, untersucht in erster Linie den Einfluss, der vom BVerfG in Richtung auf den politischen Prozess ausgeht. 62  Es gibt nicht nur Politik durch Verfassungsinterpretation, es gibt auch Verfassungsinterpretation durch Politik! 63  Für den Gesetzgeber „technisch“ durch die Kontrolle des BVerfG, „untechnisch“ durch Wahlen, Tragfähigkeit von Koalitionen, (inner-)parteiliche Willensbildung; für den Verfassungsrichter gibt es keine „technische“ Kontrolle. Freilich wird er durch „die Öffentlichkeit“ normiert, diese strukturiert sich aber für ihn aufgrund seiner Berufsauffassung, seiner Sozialisation in die Verfassungsrechtswissenschaft, den professionellen und kollegialen Verhaltenserwartungen, denen er ausgesetzt ist (dazu in anderem Zusammenhang F. Kübler, Kommunikation und Verantwortung, 1973), anders.

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sei Sache des Gesetzgebers, im Rahmen der verfassungskonformen Alternativen so oder anders zu entscheiden64. Der Gesetzgeber schafft ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung, er setzt Akzente für die spätere Entwicklung der Verfassungsprinzipien65. Er wirkt als Schrittmacher von Verfassungsinterpretation und „Verfassungswandel“66. Er interpretiert die Verfassung – revisibel –, etwa bei der Konkretisierung der Sozialbindung des Eigentums. Seine bloß verfassungskonformen Entscheidungen sind durchaus verfassungsrelevant und stecken weitere Entwicklungen der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung mittel- oder auch langfristig ab. Gelegentlich werden sie zum Verfassungsinhalt. Wesentlicher Faktor und Aktivbeteiligter ist die Verfassungsrechtswissenschaft selbst. Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein wesentlicher, wenn auch nicht der alleinige Katalysator der Verfassungsrechtswissenschaft als Verfassungsinterpretation67. Ihr tatsächlicher (verfassungsinterpretierender) Einfluss wirft die Frage nach ihrer Legitimation dazu auf – eine Frage, die freilich auch für alle anderen an Verfassungsinterpretation beteiligten Kräfte gestellt werden muss und allgemein zur Frage der Bewertung der vorgenommenen Bestandsaufnahme führt. 3. Bewertung der Bestandsaufnahme a) Mögliche Einwände, Kritik Ein Einwand könnte lauten: Verfassungsinterpretation wird in eine Vielzahl von verschiedenen Interpretationen und Interpreten „aufgelöst“, je nachdem, welche Funktion agiert. Gerade eine Verfassungstheorie, die die Herstellung politischer Einheit als Aufgabe sieht und den Grundsatz der Einheit der Ver64  Zur Argumentationsfigur der „Alternative“ im Interpretationsvorgang: J. Esser, Vorverständnis, S.  65 f., 132, 151 (unter Hinweis auf K. R. Popper); allgemeiner BVerfGE 24, 300 (348): Zur Funktion der politischen Parteien gehört, dass sie „politische Alternativen für alle einer staatlichen Gestaltung zugänglichen Lebensbereiche anbieten“. – s. auch den Sonderfall zur „Alternative“: richterliche Interpreta­ tion / Gesetzesentwurf (Pflicht zum Abwarten?), BVerfGE 34, 269 (291 f.). 65  Zu ihnen P. Häberle, AöR 99 (1974), S. 437 ff. 66  Dazu meine Dissertation, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, 2. erg. Aufl. 1972, S. 178, 213 ff. (3. Aufl., 1983). 67  Berühmte Beispiele: Die Rezeption des Grundrechtsverständnisses von G. Dürig (Maunz / Dürig / Herzog, Art. 1, Rn. 5 ff.) durch das BVerfG (E 7, 198 (204 ff.), 21, 362 (371 f.)), des „Prinzips der Einheit der Verfassung“ (E 36, 342 (362); 19, 206 (220); 1, 14 (32 f.)), des Parteienstaatsverständnisses von G. Leibholz (BVerfGE 1, 208 (223 ff.); 2, 1 (11, 73 f.); 11, 266 (273) 20, 56 (100); 32, 157 (164), mit einem Hinweis auf K.-U. v. Hassel, dessen Äußerung als Verfassungsinterpretation i. w. S. wirkt), des „bundesfreundlichen Verhaltens“ i. S. R. Smends (BVerfGE 12, 205 (254)).



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fassung betont, muss sich dieser Kritik stellen, allerdings nicht dort, wo sie „nur“ eine realistische Bestandsaufnahme versucht. Auf die Einwände ist im Rahmen einer differenzierten Bewertung einzugehen, die zunächst nach der Legitimation der verschiedenen Verfassungsinterpreten zu fragen hat. Die Legitimationsfrage stellt sich für alle nicht „formell“, „offiziell“, „kompetenzmäßig“ zu Verfassungsinterpreten „bestellten“ Kräfte. Formelle Kompetenz durch die Verfassung haben ja nur die Organe (Ämter), die an die Verfassung „gebunden“ sind und die in einem vorgeschriebenen Verfahren „vollziehen“ sollen – Legitimation durch (Verfassungs-)Verfahren68 – d. h. die Staatsorgane (Art. 20 Abs. 2, 3 GG – Bindung an verfassungsmäßige Ordnung, an Gesetz und Recht). Aber auch die Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG) sind an die Verfassung gebunden, soweit sie nicht Verfassungsänderungen anstreben. Gebunden an die Verfassung sind auch politische Parteien, Gruppen, Bürger, wenn auch in unterschiedlichem Maße und unterschiedlich „direkt“, meist nur auf dem Umweg über die – sanktionierende – Staatsgewalt. Hier scheint einem geringeren Maß an Bindung zunächst auch ein geringeres Maß an Legitimation zu entsprechen. b) Legitimation aus Gesichtspunkten der Rechts-, Norm- und Interpretationstheorie Das Korrespondenzverhältnis von Bindung (an die Verfassung) und Legitimation (zur Verfassungsinterpretation) verliert aber an Aussagekraft, je mehr man neuere Erkenntnisse der Interpretationstheorie berücksichtigt: Interpretation ist ein offener Prozess, keine passive Unterwerfung, kein Befehlsempfang69. Sie kennt alternative Möglichkeiten. Bindung wird zur Freiheit in dem Maße, wie das neure Interpretationsverständnis die Subsumtionsideologie widerlegt hat. Die hier vorgenommene Erweiterung des Kreises der Interpreten ist nur die Konsequenz der allseits befürworteten Einbeziehung der Wirklichkeit in den Interpretationsvorgang70. Denn die Interpreten im weiteren Sinne kons68  Sowohl der Legitimations- als auch der Verfahrensbegriff müssen in einem materialeren Sinne als bei N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, verstanden werden, dazu noch unten bei und in Anm. 73. 69  Dazu vor allem die von J. Esser angeführte Interpretationsdiskussion, Vor­ verständnis und Methodenwahl, 1970, zuvor schon Grundsatz und Norm, 1956; H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff.; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967; F. Müller, Juristische Methodik, 1971; T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974. Zuletzt G. Gabriel / R. Gröschner (Hrsg.), Subsumtion, 2012. 70  Dazu K. Hesse, in FS für U. Scheuner, 1973, S. 123 (137 f.); s. auch H. H. Klein, BVerfG und Staatsraison, 1968, S. 15, 16 ff., 29 (auch im Blick auf meine Bespr. DÖV 1966, S. 660 ff.), dazu meine Bespr. DÖV 1969, S. 150 f.

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tituieren ein Stück dieser pluralistischen Wirklichkeit. Sobald man erkennt, dass die Norm nicht als simpel, fertig Vorgegebene ist, stellt sich die Frage nach den an ihrer „Entwicklung“ funktional und personal Beteiligten, den Aktivkräften der „law in public action“ (Personalisierung und Pluralisierung der Verfassungsinterpretation). Jeder Interpret wird ja von der Theorie und der Praxis angeleitet. Diese Praxis aber wird wesentlich gerade nicht nur von den offiziellen, „amtsmäßigen“ Verfassungsinterpreten gestaltet. Die richterliche Bindung nur an das Gesetz und die persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Richter können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Richter in der Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung interpretiert71. Es wäre falsch, die Beeinflussungen, Erwartungen, sozialen „Zwänge“, denen Richter ausgesetzt sind, nur unter dem Aspekt der Gefährdung ihrer Unabhängigkeit zu sehen72. Diese Beeinflussungen enthalten auch ein Stück Legitimation73 und verhindern eine Beliebigkeit74 richter­ 71  Das übersieht die Analyse von O. Massing, Recht als Korrelat der Macht?, in: Schäfer / Nedelmann (Hrsg.), Der CDU-Staat, 1967, S. 123, die in der „Interpreta­ tionsautonomie“ des BVerfG „die wahre Macht des ‚heimlichen Souveräns‘ “ sieht (S. 129). Die Behauptung, die Souveränität habe sich vom Volk auf andere Instanzen, „in erster Linie auf die Verfassungsgerichtsbarkeit“ hin verschoben (S. 142), geht von einem fragwürdigen Volkssouveränitätsbegriff aus (dazu später), der die Wirkungsweise des demokratischen Prozesses in der pluralistischen Öffentlichkeit nicht erfassen kann. 72  Vgl. O. Bachof, FS für Hans Huber, 1961, S. 26 (43): Der Richter darf sich zwar in einem konkreten Fall nicht durch die öffentliche Meinung beeinflussen lassen, „aber er steht, wie mit den Prozessparteien, wie mit den Kollegen im eigenen Gericht, wie mit der Vielzahl aller ihm neben-, über- oder nachgeordneten Gerichte, wie mit der juristischen Fachwelt und mit der Wissenschaft, so auch mit dem Volk, mit der öffentlichen Meinung, in einer ständigen Kommunikation, gewissermaßen in einem dauernden ‚Gespräch‘ “. O. Bachof sieht sogar die Chance, im Gericht zu mehr echter Kommunikation zu kommen als im Parlament. 73  Auch die „Legitimation durch Verfahren“ im Sinne N. Luhmanns ist Legitimation durch Beteiligung am Verfahren. Dennoch geht es hier um etwas grundlegend anderes: Beteiligung am Verfahren soll nicht die Bereitschaft zur Abnahme von Entscheidungen und zur Verarbeitung von Enttäuschungen erhöhen (so N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 27 ff., 107 ff.). Legitimation, die nicht nur formal verstanden wird, ergibt sich aus der Mitwirkung, d. h. der qualitativ-inhalt­ lichen Einflussnahme der Beteiligten auf die Entscheidung. Nicht um das „Lernen“ der Beteiligten, sondern um das Lernen des Gerichts von den Beteiligten geht es. (Zur Kritik an N. Luhmann in dieser Hinsicht J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 202 ff. und H. Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 141 ff.). 74  Eine Rechtstheorie, die sich auf Normlogik beschränkt, kommt in Gefahr, die soziale Eingebundenheit der Rechtsprechung zu übersehen. Aus der Widerlegung der Subsumtionsideologie folgt nicht, dass „rechtsanwendende Organe als Zufallsgene-



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licher Auslegung75. Die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit ist nur erträglich, weil andere Staatsfunktionen und die pluralistische Öffentlichkeit Material „zum“ Gesetz liefern. Das ist die gedankliche Herleitung der These, alle seien in den Prozess der Verfassungsinterpretation eingeschaltet. Sogar die nicht selbst unmittelbar von einer Interpretation Betroffenen! So offen Verfassungsinterpreta­ tion sachlich und methodisch ist, so offen ist auch der Kreis der an ihr Beteiligten. Denn es geht um die Verfassung als öffentlichen Prozess76. Gegenüber dem Einwand, die Einheit der Verfassung gehe verloren, müsste auf den – weiterhin wirkendem – allgemeinen Bestand an Interpreta­ tionsregeln verwiesen werden, auf das „Konzert“, das durch das Zusammenspiel vieler Verfassungsinterpreten aus ihrer jeweiligen eigenen Funktion heraus zustande kommt, vor allem auf die Offenheit der Verfassung, an deren „Gewand“ viele „sticken“, nicht nur der Verfassungsjurist! Die „Einheit der Verfassung“77 entsteht, wenn überhaupt, so erst aus der „Bündelung“ der Verfahren und Funktionen vieler Verfassungsinterpreten; hier müssen verfassungstheoretische, insbesondere demokratietheoretische Überlegungen eingebracht werden. c) Legitimation aus verfassungstheoretischen Überlegungen Die grundsätzliche verfassungstheoretische Legitimation der mehr oder weniger starken Beteiligung aller pluralistischen Kräfte am „Geschäft“ der Verfassungsinterpretation liegt in der Tatsache, dass diese Kräfte ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung selbst sind – nicht als „hingenommene Tatsache, als factum brutum, sondern im Rahmen der Verfassung: Die mindestens mittelbare Einbeziehung der res publica in die Verfassungsinterpretation insgesamt ist Ausdruck und Konsequenz des hier vertretenen weiten, offenen, in das Spannungsfeld des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen gestellten Verfassungsverständnisses78. Eine Verfassung, die nicht nur den Staat im engeren Sinne, sondern auch die Öffentratoren fungieren“ (A. Podlech, AöR 95 (1970), S. 185 (190 f.)). Vgl. dazu auch D. Schefold, JuS 1972, S. 1 (6). 75  Das bedeutet gleichzeitig, dass die kritische Suche nach einseitigen und illegitimen Beeinflussungen richterlicher Entscheidungsbildung (aus der neueren Richtersoziologie Kaupen / Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, 1971) berechtigt und notwendig ist. 76  Dazu mein Beitrag Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. 77  Dazu K. Hesse, Grundzüge, S. 5 ff., 28. 78  Dazu P. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (121 f.); ders., Bespr. von Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status Quo, 1970, in: AöR 100 (1975), S.  333 ff.

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lichkeit strukturiert und die Gesellschaft verfasst, die die Bereiche des Privaten unmittelbar einbezieht, kann dies nicht nur passiv tun, die gesellschaftlichen und privaten Kräfte als Objekte behandeln. Sie muss diese auch aktiv einbeziehen: als Subjekte. Von der verfassten Wirklichkeit und Öffentlichkeit aus gedacht, in der „Volk“ vielfältig, im Ausgangspunkt diffus, im Endpunkt aber „konzertiert“ wirkt, haben alle tatsächlich relevanten Kräfte theoretische Relevanz für Verfassungsinterpretation. Praxis wird hier zur Legitimierung der Theorie, nicht nur umgekehrt. Da diese Kräfte ein Stück konstitutioneller Wirklichkeit und Öffentlichkeit begründen, haben sie auch teil an der Interpretation der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung! Selbst dann, wenn sie ausgeschlossen werden: wie die vom BVerfG zu verbietenden und dann etwa verbotenen politischen Parteien. Gerade diese zwingen zur Reflexion über den Verfassungsinhalt und beeinflussen durch ihre Existenz die Entwicklung des Selbstverständnisses des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens79. Verfassungsinterpretation auf die „zunftmäßigen“, funktionellrechtlich ausgewiesenen staatlichen Interpreten zu beschränken, hieße Verarmung oder Selbsttäuschung. Zumal ein stärker experimentelles Ver­ ständnis80 der Verfassungsrechtswissenschaft als Norm- und Wirklichkeitswissenschaft kann auf die Phantasie und Schöpferkraft der „nicht-zünftigen“ Interpreten im Prozess der Verfassungsinterpretation nicht verzichten. Verfassung ist in diesem Sinne Spiegel der Öffentlichkeit und Wirklichkeit. Sie ist aber nicht nur Spiegel, sie ist auch Lichtquelle, wenn dieser etwas bildhafte Vergleich erlaubt ist. Sie hat Steuerungsfunktion81. Eine spezielle Frage betrifft die Legitimation der Verfassungsrechtswissenschaft. Sie hat eine Katalysatorfunktion und wirkt, weil sie – öffentlich – Verfassungsinterpretation methodisch reflektiert und zugleich die Ausbildung der „amtsmäßigen“ Interpreten gestaltet, in alle Bereiche der Interpretation in besonderem Maße hinein. Wie lässt sich eine etwaige besondere Legitimation begründen? Auf dem Weg über Art. 5 Abs. 3 GG selbst. Verfassung als Gegenstand ist (auch) Sache der Wissenschaft. Der Bereich Wissenschaft muss über Art. 5 Abs. 3 GG als eigenständiger, integrierender Bestandteil 79  Auch hier ist die Verfassungsdebatte des Dt. Bundestages vom 14.  / 15. Febr. 1974 ein Beispiel. Sie ist nur ein Teil einer Verfassungsdiskussion, die auf allen Ebenen und in allen Bereichen des politischen Gemeinwesens angesichts der Konfrontation mit radikalen Alternativen eingesetzt hat. 80  Zu diesem Versuch, die Forderungen des kritischen Rationalismus nach einer „offenen Gesellschaft“ verfassungstheoretisch aufzunehmen, mein Beitrag in ZfP 21 (1974), S. 111 (132 f.). 81  Zu diesem Verfassungsbegriff K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959; P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (56 f.).



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des politischen Gemeinwesens angesehen werden. Dabei ist die – relative – Autonomie dieser „Sache“ vom Grundgesetz von vornherein mitgedacht; legitimiert wird sie weniger „von außen“ als durch wissenschaftsinterne und -spezifische Verfahren und Kontrollmechanismen82. Es muss aber auch Aufgabe der Wissenschaft sein, ihre Beiträge so zu formulieren und zugänglich zu machen, dass sie für die Öffentlichkeit kritisierbar werden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt der Begriff der Lehre in Art. 5 Abs. 3 GG: er enthält einen Ausbildungsauftrag an die Verfassungswissenschaft, der durch die Treueklausel eigens hervorgehoben wird83. d) Insbesondere: Demokratietheoretische Überlegungen als Legitimation Im demokratischen Verfassungsstaat ist die Legitimationsfrage noch einmal speziell unter demokratischen (demokratietheoretischen) Gesichtspunkten zu stellen. Eine im herkömmlichen Sinne verstandene demokratische Legitimation zu Verfassungsinterpretation hat die Verfassungsrechtswissenschaft, haben die ihr „zuliefernden“ sog. Wirklichkeitswissenschaften, haben Bürger und Gruppen nicht. Aber Demokratie entfaltet sich eben nicht nur über den formalisierten, kanalisierten, im engeren Sinne verfassten Delegations- und Vorantwortungszusammenhang vom Volk zu den Staatsorganen hin (Legitimation durch Wahlen)84 bis zum letztlich „kompetenten“ Verfassungsinterpreten, dem BVerfG85. Sie entfaltet sich in einem offenen Ge82  Dazu F. Kübler, Kommunikation und Verantwortung, 1973, S. 38 ff.; vgl. auch N. Luhmann, Selbststeuerung der Wissenschaft, in: Soziologische Aufklärung, 1970, S. 232 ff. – Zur Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer als möglichem „institutionellen Ansatzpunkt für das verfassungstheoretische Wissen und Gewissen unseres demokratischen Gemeinwesens“: H. Ehmke, a. a. O., S. 133. – Für K. R. Popper ist „ ‚wissenschaftliche Objektivität‘ … nicht ein Ergebnis der Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers …, sondern ein Ergebnis des sozialen oder öffentlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode; und die Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers ist, soweit sie existiert, nicht die Quelle, sondern vielmehr das Ergebnis dieser sozial oder institutionell organisierten Objektivität der Wissenschaft“ (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II, Falsche Propheten, 1958, S. 270). 83  Jedoch ist eine entsprechende Vorbildung der Bundesverfassungsrichter keine Qualifikationsvoraussetzung; s. aber das Erfordernis „besondere Kenntnisse im ­öffentlichen Recht“ und bezugsreich „im öffentlichen Leben erfahrene Personen“ in einigen Verfassungsgerichtshofgesetzen (z. B. § 3 Abs. 1 Satz 1 Hambg. VerfGG) und in § 3 Abs. 2 a. F. BVerfGG. 84  s. jetzt zur Problematik das Urteil des Bremer Staatsgerichtshofes zur Juristenausbildung, NJW 1974, 2223 (2228 ff.). Vgl. auch BVerfGE 33, 125 (158) (Facharztentscheidung, dazu meine Anm. DVBl. 1972, S. 909 (911)). 85  Die Untersuchung von W. Billing, Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, 1969, geht zu sehr von dieser Vorstellung aus, S. 93 ff. (aber differenzierend S. 116).

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meinwesen auch in den „feineren“ mediatisierten Formen des pluralistischen öffentlichen Prozesses täglicher Politik und Praxis, insbesondere in der Grundrechtsverwirklichung, oft angesprochen in der „demokratischen Seite“ der Grundrechte86: durch die Kontroversen über die Alternativen, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Wirklichkeit und auch das wissenschaftliche „Konzert“ über Verfassungsfragen, in dem es kaum „Pausen“ und „Fermaten“ und keine Dirigenten gibt und geben darf87. „Volk“ ist eben nicht nur einheitliche, (nur) am Wahltag „emanierende“ Größe, die als solche demokratische Legitimation vermittelt88. Volk ist als pluralistische Größe für die Interpretationen im Verfassungsprozess nicht minder präsent und legitimierend: „als“ politische Partei89, als wissenschaftliche Meinung, als Interessengruppe, als Bürger; dessen sachliche Kompetenz zu Verfassungsinterpretation ist ein staatsbürgerliches Recht i. S. des Art. 33 Abs. 1 GG! So gesehen sind die Grundrechte ein Stück demokratischer Legitimationsbasis für die nicht nur in ihren Ergebnissen, sondern auch in ihrem Beteiligtenkreis offene Verfassungsinterpretation90. In der freiheitlichen Demokratie ist der Bürger Verfassungsinterpret! Um so wichtiger werden die Vorkehrungen zur Garantie realer Freiheit: leistungsstaat­ liche Grundrechtspolitik91, Freiheit der Meinungsbildung, Konstitutionalisierung der Gesellschaft z. B. durch gewaltenteilende Strukturierung des öffentlichen, insbesondere wirtschaftlichen Bereichs92. 86  Zur Kontroverse s. K. Hesse, Grundzüge, S.  122 f.; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 17 ff. einerseits; H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1971, andererseits (dazu meine Bespr. DÖV 1974, S. 343 ff.), zuletzt E.-W. Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 ff. 87  Dass Verfassungsinterpretation, so wie sie hier verstanden wird, zum „bellum omnium contra omnes der wissenschaftlichen und politischen Meinungen“ (dazu D. Schefold, JuS 1972, 1 (8)) wird, muss (und kann nur) die jetzt vielberufene „Solidarität der Demokraten“ verhindern. 88  Deshalb ist die Frage der demokratischen Legitimation der Rspr. nicht durch Ausweitung der Richterwahl (dazu F.-J. Säcker, ZRP 1971, S. 145 ff.) abschließend beantwortbar. – Zum Zusammenhang zwischen Demokratie und richterlicher Unabhängigkeit vgl. auch K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, 1960, S. 103 ff. 89  Insofern besteht eine Übereinstimmung mit G. Leibholz’ Parteienstaatslehre (Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, bes. S. 78 ff.): Das Volk wird nur in bestimmten Organisationsformen artikulations- und handlungsfähig. Das berechtigt aber nicht zur Identifikation von Volk und (Volks-)Parteien; das pluralistische Gemeinwesen ist viel stärker ausdifferenziert. 90  Zur offenen Verfassungsinterpretation: P. Häberle, JZ 1971, S. 145 ff.; ZfP 21 (1974), S. 111 (121 ff.); vgl. auch K. Schlaich, a. a. O., S.  120. 91  Dazu mein Koreferat VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. (69 ff.). 92  Pluralismus muss organisiert und verfasst werden. Daher muss die Konfrontation zwischen „Demokratisierungsstrategien“, die die Gefahr totalitärer Politisie-



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Das ist keine „Entthronung“ des Volkes – es ist dies allenfalls von einem Rousseauschen Volkssouveränitätsverständnis aus, in dem das Volk absolut und gottgleich gesetzt wird. Volk als verfasste Größe wirkt „allseitig“, universal, auf vielen Ebenen, aus vielen Anlässen und in vielen Formen, nicht zuletzt über tägliche Grundrechtsverwirklichung. Man vergesse nicht: Volk ist vor allem ein Zusammenschluss von Bürgern. Demokratie ist „Herrschaft der Bürger“, nicht des Volkes im Rousseauschen Sinne. Es gibt kein Zurück zu Rousseau. Die Bürgerdemokratie ist realistischer als die Volks-Demokratie. Bürgerdemokratie liegt nahe von einem Denken, das die Demokratie von den Grundrechten her sieht, nicht von Vorstellungen, in denen das Volk als Souverän eigentlich nur den Platz des Monarchen eingenommen hat. ­Diese Sicht ist eine Konsequenz der Relativierung des – allzu leicht missverstandenen – Volksbegriffs93 vom Bürger her! Grundrechtliche Freiheit (Pluralismus)94, nicht „das Volk“ wird zum Bezugspunkt für demokratische Verfassung. Diese capitis diminutio des kryptomonarchischen Volksbegriffsdenkens steht im Zeichen der Bürgerfreiheit und des Pluralismus. Es gibt viele Formen von in diesem Sinne weit verstandener demokratischer Legitimation, macht man sich nur von dem linearen und „eruptiven“ Denkstil traditioneller Demokratievorstellungen frei. Es kommt zu einem Stück Bürgerdemokratie durch die interpretatorische Entwicklung der Verfassungsnorm hindurch95, Möglichkeit und Wirklichkeit freier Diskussion rung aller Bereiche in sich tragen, und restriktiven Auffassungen, die Demokratie auf einen der Gesellschaft gegenübergestellten Staat begrenzen wollen (W. Hennis, Die missverstandene Demokratie, 1973), überwunden werden. 93  Zu stark am herkömmlichen Volksbegriff orientiert ist auch der Versuch, demokratische Legitimation durch Rückgriffe des Richters auf demoskopisch zu ermittelnde „Durchschnittswertungen“ zu verstärken, vgl. W. Birke, Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen, 1968, S. 45 ff. Gegen eine Orientierung am „Mehrheitswillen des Volkes“ aus demokratietheoretischen Überlegungen auch F.-J. Säcker, ZRP 1971, S. 145 (149 f.). Kritisch gegenüber der „Durchschnittswertung“ auch H. F. Zacher, Vierteljahresschrift f. Sozialrecht, Bd. II (1974), S. 15 (48 f., Fn. 95). Zum „Durchschnittsbürger“ u. ä. als normativierter, demokratietheoretisch zu sehender, richterlicher Figur, mein Öff. Interesse, S. 328, 347 f., 425 ff., 573, 725. 94  Diese Sicht gilt auch für alle Formen kommunaler, sozialer usw. Selbstverwaltung. 95  Poppers Demokratiekonzeption und ihr sie rechtfertigender Zusammenhang (!) mit seiner Wissenschafts- und Erkenntnistheorie kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden (Belegstellen zur Demokratie in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. I (1957), bes. S. 25, 156 ff., 170 ff.; Bd. II (1958), S. 157, 159 ff., 186 f., 197 ff., 203 f.). Genügen muss der Hinweis, dass Poppers Wissenschaftskonzept demokratietheoretisch ergiebig ist, das im Text vertretene pluralistische und gewaltenteilige, konstitutionelle, bürgerfreiheitliche Demokratiekonzept sich auf

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von Einzelnen und Gruppen „über“ und „unter“ den Verfassungsrechtsnormen und ihr pluralistisches Wirken „in“ ihnen vermittelt sich dem Interpretationsvorgang vielfältig. (Dass dieser freie Prozess realiter auch von innen her immer wieder bedroht ist und dass selbst unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung in Wirklichkeit gegenüber dem Idealtypus Defizite aufweist, sei ausdrücklich vermerkt.) Demokratietheorie und Interpretationstheorie96 werden zur Konsequenz von Wissenschaftstheorie. Die Gesellschaft ist in dem Maße frei und offen, wie sich der Kreis der Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne öffnet.

K. R. Popper auch insofern berufen kann, als er seine Demokratietheorie ohne, ja gegen „klassische“ Volkssouveränitätsdogmen entfaltet. – Rezeptionen und Adaption K. R. Poppers in der Demokratiediskussion unter dem GG haben mehr oder ausdrücklich und mittelbar schon stattgefunden: besonders im KPD-Urteil des BVerfG, E 5, 85: „process of trial and error (I. B. Talmon)“ (S. 135), „ständige gegenseitige Kontrolle und Kritik als beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie“ (S. 135), Verhältnisse und Denkweisen sind „verbesserungsfähig und -bedürftig“, „nie endende Aufgabe“ (S. 197), Ablehnung der Auffassung, dass die geschichtliche Entwicklung durch ein „wissenschaftlich erkanntes Endziel determiniert“ sei (S. 197), „sozialer Kompromiss“ (S. 198), „Offenheit“ dieser Ordnung (S. 200), „relativer Vernunftgehalt aller politischen Meinungen“ (S. 206); s. auch E 12, 113 (125): pluralistische öffentliche Meinungsbildung; E 20, 56 (97): freier und offener Prozess der Meinungs- und Willensbildung. – Aus der Lit.: W. von Simson VVDStRL 29 (1971), S. 3 (9 f.); G. Dürig, ebd., S. 127: „immanente Spielregeln der Korrigierbarkeit und Revozierbarkeit“; ders., in: Maunz / Dürig / Herzog, GG, zu Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 210 (für die Rechtsfindung). – Unschwer wiederzuerkennen sind hier: K. R. Poppers Falsifikationsprinzip („trial and error“), seine These von der Indirektheit und vom Vermutungscharakter der Erkenntnis (conjectures and refutations), deren ständiger Bewährung, die sich selbst bescheidende, korrigierbare „piece-meal social engineering“ mit ihrer Ablehnung der Technik von Ganzheitsplanung, sein relativer Glaube an die Vernunft, sein experimentelles Verständnis von Politik, sein Plädoyer für schrittweise, folgenorientierte Reformen, seine Mahnung zu Geduld und Toleranz und sein Einsatz für die offene Gesellschaft als „rational und kritisch“, für ihren pluralistischen Wettbewerb unterschiedlicher Ideen und Interessen dank der Freiheit der Kritik, des Denkens und damit des Menschen und dessen persönlichen Verantwortlichkeiten und Entscheidungen, aber auch sein Kampf gegen den Allwissenheits- und Allmachtanspruch „geschlossener“ Gesellschaften. – Insgesamt bleibt die grundsätzliche Aufgabe, K. R. Poppers Wissenschaftstheorie verfassungstheoretisch und -praktisch in die Demokratietheorie und zugleich in die Norm- und Interpretationstheorie im Einzelnen „hineinzuentwickeln“ (Ansätze in meinem Beitrag: AöR 99 (1974), S. 434 (448 ff.)). 96  s. J. Essers Bezugnahme auf Poppers trial-and-error-Methode, Vorverständnis, S. 151, jetzt die abw. Meinung der Richter W. Rupp- v. Brünneck und Dr. H. Simon zum Abtreibungsurteil des BVerfG vom 25.2.1975 (JZ 1975, 205 [215] = NJW 1975, 582 [583]) = BVerfGE 39, 68 ff.



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4. Konsequenzen für die „juristische“ Verfassungsinterpretation a) Relativierung der juristischen Interpretation – neues Verständnis ihrer Aufgaben Die Überlegungen führen zu einer Relativierung der juristischen Verfassungsinterpretation. Sie ist aus folgenden Gründen geboten: (1) Der Verfassungsrichter interpretiert schon im Verfassungsprozess nicht „allein“: mehrere sind am Verfahren beteiligt, die Verfahrensbeteiligungsformen dehnen sich aus. (2) Im „Vorfeld“ juristischer Verfassungsinterpretation der Richter interpretieren viele, d. h. potentiell alle öffentlichen pluralistischen Kräfte. Insofern relativiert sich der Begriff „am Verfassungsprozess Beteiligte“ in dem Maße, wie sich die Kreise der an der Verfassungsinterpretation Beteiligten erweitern. Die pluralistische Öffentlichkeit entfaltet normierende Kraft. Das Verfassungsgericht hat später entsprechend öffentlichkeitsaktualisierend zu interpretieren. (3) Viele Problemkreise und Bereiche der materiellen Verfassung kommen mangels richterlicher Zuständigkeit und mangels Anrufung des Verfassungsgerichts gar nicht zum Verfassungsrichter. Gleichwohl „lebt“ hier materielle Verfassung: ohne Verfassungsinterpretation durch den Richter. (Man denke an Grundsätze der parlamentarischen Geschäftsordnungen!) Die im weiteren Sinne Beteiligten und Interpretierenden entfalten eigenständig materielles Verfassungsrecht. Das Verfassungsprozessrecht ist nicht der einzige Zugang zu den Verfahren der Verfassungsinterpretation. In die Zeit gestellt, geht der Instanzenzug der Verfassungsinterpretation ins Unendliche: Der Verfassungsjurist ist nur ein Zwischenträger97. Sein Auslegungsergebnis steht unter dem Vorbehalt der Bewährung, die sich im Einzelfall zur Bewahrung, zur „alternativenreichen Rechtfertigung“98 oder zur Änderung durch vernünftige Alternativen konkretisieren kann. Das Verfahren der Verfassungsinterpretation muss weit nach vorn und weit über den konkreten Verfassungsprozess selbst hinaus ausgedehnt werden99; der Inter97  Die Verfassungsrechtsprechung unternimmt z. B. mit obiter dicta den Versuch, über die punktuelle Entscheidung hinaus künftige Verfassungsauslegung vorzubereiten – und somit schon vorher kritisierbar zu machen. Kritisch dazu von einem anderen Verfassungsbegriff aus E. Kull, FS für Forsthoff, 1972, S. 213, Fn. 2. 98  Ausdruck: bei J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S. 148. 99  Dem soll mit den Begriffen „Vorverständnis“ und „Nachverständnis“ Rechnung getragen werden, P. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (126 ff.). – (Verfassungs-) Gesetze haben nicht nur Vor-, sondern auch Nachgeschichte.

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pretationsradius der Norm erweitert sich: dank aller „Verfassungsinterpreten einer offenen Gesellschaft“. Sie sind in den Verfahren von „trial and error“ im Rechtsfindungsprozess100 wesentliche Beteiligte. Gesellschaft wird eben dadurch offen und frei, dass alle potentiell und aktuell zur Verfassungsinterpretation Beiträge leisten (können). Juristische Verfassungsinterpretation vermittelt (nur) die pluralistische Öffentlichkeit und Wirklichkeit, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Gemeinwesens, die vor, in und hinter den Verfassungstexten stehen. Interpretationslehren überschätzen immer wieder die Bedeutung des Textes101. So diszipliniert und disziplinierend die Verfahren der Verfassungsinterpretation auf dem Weg über „juristische“ Methoden sind – so vielfältig, ja diffus sind die diesem Prozess „vor“-gelagerten Vorgänge: Relativ rational scheinen noch die Prozesse der Gesetzgebung, soweit sie Verfassungsinterpretation sind, und das ist häufig der Fall; auch die Verwaltung als „interpretierende“ (Gemeinwohl-)Verwaltung102 wirkt in recht rationaler Weise, andere Formen der Staatspraxis sind im Auge zu behalten; die Partizipa­ tionsvorgänge der pluralistischen Öffentlichkeit sind aber alles andere als diszipliniert, darin liegt ein Stück Gewähr ihrer Offenheit und Spontaneität. Trotzdem behalten die Prinzipien und Methoden der Verfassungsinterpretation ihre Bedeutung, allerdings in einer neu verstandenen Funktion: Sie sind die „Filter“, über die erst die normierende Kraft der Öffentlichkeit103 wirkt und Gestalt gewinnt. Sie disziplinieren und kanalisieren die vielfältigen Formen der Einwirkung verschiedener Beteiligter.

J. Esser, Vorverständnis, S. 23, 151 f. auch zur Problematik des Textes als „Grenze der Verfassungswandlung“ K. Hesse, FS für Scheuner, S. 123 (139 f.). Zur geringen Ergiebigkeit des Wortlautes bei der Konkretisierung von Grundrechten H. Huber, GS für Imboden, S. 191 ff. 102  Dazu m. N. mein Öff. Interesse, S. 475  ff., 678 ff.; F. Ossenbühl, AöR 92 (1967), S. 1 ff.; s. auch die sich an den B. des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (JZ 1972, 655 ff.) sowie das U. des BVerwG (JZ 1972, 204 ff.) anschließende Diskussion (O. Bachof, JZ 1972, 641 ff. und 208 ff.; F. Ossenbühl, DÖV 1972, 401 ff.; H.-U. Erichsen, VerwArch 1972, 337 ff.; M. Bullinger, NJW 1974, 769 ff.). 103  Typisierende Nachweise aus der Rspr. des BVerfG in AöR 95 (1970), S. 260 (287 ff.); zuletzt etwa E 34, 269 (283); 35, 202 (222 f., 230 ff.); 32, 111 (124 ff.); 31, 229 (242 ff.); 30, 173 (191); allgemeiner in meinem Öff. Interesse, S. 304 f., 419 Anm. 31, 558 ff., 572 f., 583 f., 594. 100  Dazu 101  Vgl.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“283

b) Insbesondere: Ausmaß und Intensität der richterlichen Kontrolle – Differenzierung im Hinblick auf das Maß an Beteiligung Eine Theorie der Verfassungsinterpretation, die die Frage nach den Zielen und Methoden und die Frage nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation in einen systematischen Zusammenhang bringt, muss daraus konkrete Folgerungen für die Methode der Verfassungsauslegung ziehen. Mögliche Konsequenzen sollen hier thesenartig angedeutet werden. Ein Gericht wie das BVerfG, das die Verfassungsinterpretation einer anderen Stelle überprüft, soll verschiedene Methoden anwenden, je nachdem, wer bei der ersten (zu überprüfenden) Interpretation beteiligt war104. Dies ist andeutungsweise vom funktionellrechtlichen Denken schon gesehen worden: Bei der Überprüfung von Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers sollen sich die Gerichte besonders zurückhalten105; Entsprechendes gilt für die Überprüfung von Landesrecht durch das BVerfG106. In Weiterführung dieses Ansatzes wäre zu erwägen: Es gibt Gesetze (Hochschulgesetze, Reformen des StGB wie § 218, Ladenschlussgesetze), denen die Öffentlichkeit enormes Interesse entgegenbringt, die ständig in der Diskussion stehen, die unter weitgehender Beteiligung und unter der wachen Kontrolle der pluralistischen Öffentlichkeit zustande gekommen sind. Das BVerfG sollte, wenn es ein solches Gesetz überprüft, berücksichtigen, dass dieses Gesetz besonders legitimiert ist, weil besonders viele am demokratischen Prozess der Verfassungsauslegung beteiligt waren. Bei nicht grundsätzlich umstrittenen Gesetzen würde das bedeuten, dass diese nicht so streng zu überprüfen wären wie solche Gesetze, die weniger in der öffentlichen Diskussion stehen, weil sie scheinbar uninteressant (z. B. technische Zweckmäßigkeitsregelungen) oder schon vergessen sind. Besonderes hat aber für diejenigen Gesetze zu gelten, hinsichtlich derer in der Öffentlichkeit großer Dissens herrscht. Man denke an den den „Verfassungskonsens“ berührenden § 218 StGB, an manche Regelungen der 104  Ein ähnlicher Zusammenhang wird bei R. Geitmann, Bundesverfassungsgericht und „offene Normen“, 1971, aufgezeigt: Die Bestimmtheitsanforderungen, die das BVerfG an „offene“ Normen stellt, sind unterschiedlich, je nachdem, wer die Norm setzt (dazu nur kurz S. 22 ff.) und wer sie auszufüllen hat (S. 149 ff.). 105  Vorkonstitutionelle Gesetze können nicht wie nachkonstitutionelle als Verfassungsinterpretation durch den Gesetzgeber angesehen werden. Sie sind daher nicht nur verfahrensmäßig anders (vgl. Art. 100 GG), sondern auch inhaltlich schärfer zu überprüfen. 106  Dazu H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff. (75); H.-H. Klumpp, Landesrecht vor Bundesgerichten im Bundesstaat des GG, 1969, S. 179 ff. – Für das Verhältnis des BVerfG zur zivilrechtlichen Dogmatik (Wissenschaft) bzw. zum BGH: BVerfGE 34, 269 (281 f.).

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Hochschulgesetze, an die paritätische Mitbestimmung. Hier hat das BVerfG streng zu kontrollieren – und von der Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) großzügigen Gebrauch107 zu machen (s. noch unter 3.). Denn bei einer tiefen Spaltung innerhalb der öffentlichen Meinung kommt dem BVerfG die Aufgabe zu, darüber zu wachen, dass das unverzichtbare Minimum an integrativer Funktion der Verfassung nicht verspielt wird. Ferner: Das BVerfG sollte die faire Beteiligung verschiedener Gruppen bei den Verfassungsinterpretationen auch insofern überwachen, dass es bei seiner Entscheidung die Nichtbeteiligten (die nicht repräsentierten und nicht repräsentierbaren Interessen) interpretatorisch besonders berücksichtigt108. Man denke an den Verbraucherschutz, an Umweltschutzprobleme. Hier offenbaren die „öffentlichen Interessen“, nach der Terminologie von Habermas109 die „verallgemeinerungsfähigen Interessen“, ihren Stellenwert. Ein Minus an faktischer Partizipation führt zu einem Plus an verfassungsrichterlicher Kontrolle. Die Intensität verfassungsgerichtlicher Kontrolle ist variabel, je nachdem welche Partizipationsformen möglich sind oder waren. c) Konsequenzen für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozessrechts Für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozessrechts ergeben sich Konsequenzen: Die Informationsinstrumente des Verfassungsrichters110 sind – nicht trotz, sondern wegen (!) der Bindung an das Gesetz – zu erweitern und zu verfeinern, insbesondere die abzustufenden Partizipations107  Tiefe Dissense bzw. Gefahren für den „Verfassungskonsens“ sind der Gemeinwohlgrund i. S. von § 32 Abs. 1 BVerfGG! 108  Hier deutet sich eine Veränderung der Funktion des gerichtlichen Rechtsschutzes überhaupt an. Angesichts der zunehmenden Bedeutung planender und gestaltender Staatstätigkeit ist Rechtsschutz weniger durch ex-post-Kontrolle der Gerichte als durch partizipatorische Vorverfahren zu realisieren (P. Häberle, VVDStRL 30 [1972], S.  43 [86 ff., 125 ff.]; W. Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 [1973], S. 179 [204 ff.]). Die Einhaltung des „richtigen“ Verfahrens muss aber durch die Gerichte überprüft werden können. 109  J. Habermas, a. a. O., bes. S.  153 ff. 110  Vorbildlich ist das Informationsinstrument des § 82 Abs. 4 BVerfGG sowie die vom BVerfG berührten „Stellen und Organisationen“ gegebene Gelegenheit zu Äußerungen, meist in „großen“ Prozessen: E 35, 202 (213 f.); 35, 78 (100 ff.); 33, 265 (322 f.); 31, 306 (307 unter Ziff. 4); 30, 227 (238 f.). Sie vermitteln ein Stück pluralistischer „gesellschaftlicher Repräsentanz“ in das Verfassungsprozessrecht. – Symptomatisch ist die vom BVerfG (2. Senat) an Bundestag, Landtage u. Parteien gerichtete Fragebogenaktion zum Thema Parlamentarierdiäten, FR vom 10.3.1975, S. 1. – s. noch die vorbildliche Regelung in § 48 Hess. StGHG und § 42 Bad.-Württ. StGHG.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“285

formen und -möglichkeiten111 am Verfassungsprozess selbst112 (vor allem „Anhörung“ und „Beteiligung“); neue Formen der Partizipation pluralistischer öffentlicher Potenzen als Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne müssen entwickelt werden. Verfassungsprozessrecht wird ein Stück demokratischen Partizipationsrechts. Entsprechend elastischer und expandierender kann Verfassungsinterpretation der Verfassungsrichter werden113 – ohne dass es je zu einer Identität mit der durch den Gesetzgeber kommen könnte und dürfte. Flexibel muss auch die konkrete Handhabung des Verfassungsprozessrechts durch das BVerfG je nach den anstehenden materiellrechtlichen Fragen und den sachlich Beteiligten (Betroffenen) sein. Der intensive Zusammenhang von materieller Verfassung und Verfassungsprozessrecht zeigt sich auch hier114. 111  Dazu P. Häberle, AöR 98 (1973), 119 (128 Anm. 43). Brisant ist die Streitfrage um die Beteiligung des Bundestages (bzw. seiner Mehrheit) an dem von der Oppositionsminderheit geführten Verfassungsstreit zu § 218 StGB (dazu Woche im Bundestag vom 18.9.1974, Ausg. 15, S. 3). Die Entwicklung des Parlaments zum Gegenüber von Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit spricht dafür, diese Rollenverteilung auch im Verfassungsprozessrecht fortzusetzen: das wäre ein Argument für eine Beteiligung des Bundestages durch Verfahrensbeitritt (s. auch § 77 BVerfGG, der dem Bundestag eine Äußerungskompetenz auch gerade dann gibt, wenn im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ein Drittel der Mitglieder des Bundestages einen Antrag gestellt hat, s. noch §§ 82 Abs. 2, 83 Abs. 2, 94 BVerfGG). Parlaments- und Verfassungsprozessrecht greifen hier ineinander (ein weiteres Beisp. dafür: BVerfGE 27, 44 [51 f.]). Es wäre konsequent, die Opposition als solche im Verfassungsprozessrecht zu „konstitutionalisieren“ und ihr vor dem BVerfG Partizipationsrechte einzuräumen, da sie mit dem klagebefugten Drittel der Mitglieder des Bundestages nicht identisch zu sein braucht. De lege lata sollte der Bundestag bei Stellungnahmen das oppositionelle Minderheitsvotum aufnehmen. 112  Bei G. Winter und K. F. Schumann, Sozialisation und Legitimierung des Rechts im Strafverfahren, in: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, 1972, S. 529 f., werden die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Interaktion in der Gerichtsverhandlung als „beinahe anachronistisch anmutende Inseln kommunikativen Handelns in einer bürokratisch-zweckrationalen Gesellschaftsverfassung“ bezeichnet. Vielleicht bietet sich im Verfassungsprozess die Chance, zu einem höheren Maß an unverzerrter Kommunikation im Sinne Habermas’ zu kommen als in anderen Bereichen, vgl. auch O. Bachof, a. a. O. (oben Anm. 72). 113  Es besteht ein Zusammenhang zwischen den Ermittlungs- und Prognoseinstrumentarien, die dem BVerfG zur Verfügung stehen, und der Schärfe der von ihm angelegten materiell-rechtlichen Maßstäbe: Während bei neueren Wirtschafts- (insbesondere Konjunktur-)Gesetzen das Erfordernis der Geeignetheit recht großzügig gehandhabt wird (BVerfGE 29, 402 (410 f.); 36, 66 (71 f.)), hat das BVerfG z. B. im Apothekenurteil (E 7, 377 ff., JZ 1958 (472 ff.)) seine Untersuchungen und Prognosen empirisch sehr gründlich fundiert (vgl. K. J. Philippi, Tatsachenfeststellungen des BVerfG, 1971, S. 57 ff.) und konnte dann auch materiellrechtlich strenge Maßstäbe anlegen. 114  Dazu mein Beitrag in JZ 1973, 451 ff.; ebenso R. Zuck, JZ 1974, 361 (364). Wichtig war die Beibehaltung der Hochschullehrerklausel des § 3 Abs. 4 BVerfGG (Stichwort von 1976: Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht).

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4. Kap.: Verfassung

Freilich bedeutet eine Expansion verfassungsrichterlicher Tätigkeit eine Restriktion des Interpretationsspielraums des Gesetzgebers115. Insgesamt ist die optimale gesetzgeberische Ausgestaltung und die interpretatorische Verfeinerung des Verfassungsprozessrechts notwendige Bedingung, ohne die die hier versuchte demokratietheoretische Legitimation der Verfassungsrechtsprechung in der Realität nicht genügend abgesichert ist. 5. Neue Fragestellungen für die Verfassungstheorie a) Unterschiedliche Ziele und Methoden der Auslegung bei verschiedenen Beteiligten? Nicht nur für die Verfassungsrechtsprechung und ihre Methoden, sondern auch für eine Verfassungstheorie, die sich mit diesen beschäftigt, ergeben sich aus der Verknüpfung der Fragen nach Zielen, Methoden und Beteiligten der Verfassungsinterpretation neue Fragestellungen. Es wurde schon auf den möglichen Einwand hingewiesen, dass sich die „Auflösung“ der Verfassungsinterpretation nicht spannungslos in eine Verfassungstheorie einbauen lasse, die die Herstellung von Konsens, von politischer Einheit als Ziel verfassungsrechtlicher Verfahren und als Ziel des politischen Prozesses überhaupt ansieht116. Eine solche Verfassungstheorie darf jedoch nicht zu vereinfacht als harmonisierend missverstanden werden. Konsens resultiert auch aus Konflikt und Kompromiss zwischen Beteiligten, die divergierende Meinungen und Interessen eigennützig vertreten. Verfassungsrecht ist nun einmal Konflikt- und Kompromissrecht. Evident ist, dass Antragsteller und Antragsgegner im Verfassungsprozess verschiedene Ziele verfolgen und deshalb auch verschiedene Interpretationsmethoden wählen und ihre Inhalte in solche verschiedene Methoden kleiden werden; Entsprechendes gilt für die Vertreter verschiedener Interessen im Hearing vor Bundestagsausschüssen, für Mehrheitsparteien und Opposition im parlamentarischen Prozess117. Insofern zeigen sich Parallelen zwischen Verfassungsprozessrecht und Parlamentsrecht. Hier ergeben sich Rückwirkungen funktionellrechtlicher Interpretationsprinzipien auf die materielle Verfassungsinterpretation118. Sie müssen stärker 115  Die Frage differenzierter Begründungs- und Materialbeschaffungspflichten des Gesetzgebers müsste überdacht werden. Auch hier zeigt sich ein noch nicht voll ausgeloteter Zusammenhang zwischen Parlaments- und Verfassungsprozessrecht. 116  Vgl. K. Hesse, Grundzüge, S. 5 ff., 28. 117  Zur parlamentarischen Demokratie als „Übertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozess der Gesetzgebung“: M. Kriele, VVDStRL 29 (1971), S. 46 (50).



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“287

als bisher thematisiert werden, entsprechend den Rückwirkungen von Verfahrensgrundsätzen auf die materielle Verfassungsinterpretation119. Das materielle – gelebte – Verfassungsrecht entsteht aus einer Vielzahl „richtig“ wahrgenommener Funktionen: denen des Gesetzgebers, Verfassungsrichters, der öffentlichen Meinung, des Bürgers, aber auch der Regierung und der Opposition. Dieses überdenken der Verfassungsinterpretation von der funktionellen, verfahrensmäßigen Seite her bedeutet: Funktionelle Richtigkeit der Verfassungsinterpretation führt zu praktischer Verschiedenheit der Verfassungsinterpretation. Es hängt ja jeweils vom Organ, seinem Verfahren, seiner Funktion, seinen Qualifikationen ab, wie – richtig – interpretiert wird. 118

b) Aufgaben der Verfassungstheorie Ein anderes Problem ist, ob in diesem Zusammenhang überhaupt von einer – wenn auch relativierten – Richtigkeit der Auslegung gesprochen werden kann. Für die Verfassungstheorie stellt sich jetzt die Grundfrage, ob es ihre Aufgabe sein kann, die unterschiedlichen politischen Kräfte und d. h. Beteiligten im weitesten Sinne normativ einzubinden, ihnen die „guten“ Interpretationsmethoden vorzuschlagen. Wie weit soll die Verfassungslehre, die nach ihrem Selbstverständnis bislang Kritiker und Berater, Diskussions- und Konsenspartner der Verfassungsgerichte war, den Kreis ihrer Gesprächspartner ausdehnen? Das könnte dann auch Konsequenzen für die Auslegung des Verfassungsprozessrechts haben. Ohne Zweifel muss die Fixierung auf die Rechtsprechung überwunden werden. Es scheint sich die Meinung Bahn zu brechen, dass Verfassungslehre zumindest ebenso auch Gesetzgebungslehre sein muss, d. h. Gesprächspartner des Gesetzgebers120. Die Relevanz der Frage nach verschiedenen Zielen und Methoden verschiedener Beteiligter zeigt sich hier an Beispielen: Die preferred-freedomsdoctrine121 und der Grundsatz des self restraint gelten nur für die Rechtspre118  Mit Recht spricht H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (73) vom „unlösbaren Zusammenhang“ materiell- und funktionellrechtlicher Interpretationsprinzipien; s. auch S. 76: „Doppelseitigkeit“. 119  Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (118 ff.); ders., JZ 1973, 451 (452 f.); DVBl. 1973, 388 f. 120  Zur Frage der Gesetzgebungslehre: P. Häberle, in: T. Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 (38  f.); H.-P. Schneider, ebd., S.  76 ff.; P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973. 121  Dazu H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 437 ff.; W. Haller, Su­ preme Court und Politik in den USA, 1972, S. 40 f., 164 f.

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4. Kap.: Verfassung

chung, gerade nicht für die Gesetzgebung. Insoweit ist das Problem bei K. Hesse und H. Ehmke schon angesprochen: Wenn Verfassungsauslegung unter dem Gebot „funktioneller Richtigkeit“ steht, dann muss das auslegende Organ aufgrund seiner speziellen Kompetenzen anders auslegen als ein anderes Organ mit anderen Kompetenzen. Verfassungstheorie als Gesetzgebungslehre sollte die – bislang vernachlässigten – eigenen Besonderheiten der Verfassungsinterpretation durch den Gesetzgeber (und damit auch die hohe Relevanz des Parlamentsrechts) untersuchen. Diese wurde bisher eher „spiegelbildlich“ beobachtet: von der Verfassungsgerichtsbarkeit, d. h. ihren funktionellrechtlichen Grenzen, z. B. mit Hilfe der preferred-freedoms-doctrine, der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit des gesetzgeberischen Handelns122, der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in den Grenzen des „Wertsystems“ der Verfassung123 oder in der Negativformel: kein willkürliches Handeln124. Jetzt geht es darum, Verfassungsinterpretation „durch“ den Gesetzgeber aus sich heraus, positiv zu umschreiben: aus seinen Verfahren (insbesondere des Parlamentsrechts), seinen Funktionen125 usw., nicht nur negativ auf dem Umweg über die Frage, bis zu welchen funktionellrechtlichen Grenzen der Verfassungsinterpret (-richter) kontrollieren kann. Es geht um ein positives Kompetenzverständnis für den Gesetzgeber als Verfassungsinterpreten: sei es, dass er im politischen Prozess ständig „vor“formuliert, sei es, dass er auf formalisierte Weise an den Verfassungsgerichtsverfahren selbst teilnimmt (vgl. §§ 77, 82 II126, 83 II, 88, 94 IV, V BVerfGG). Die Frage, ob und inwieweit andere Beteiligte, Einzelne und Gruppen, von der Verfassungstheorie „konstitutionalisiert“, normativ eingebunden werden sollen, ist schwieriger und muss differenziert beantwortet werden. 122  K.

Hesse, Grundzüge, S. 33. 11, 50 (56); 13, 97 (107); 14, 288 (301.), zur Kritik: H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973; dazu meine Bespr. JR 1974, 487 f. 124  BVerfGE 1, 14 (52), st. Rspr., vgl. BVerfGE 18, 38 (46). Dazu meine Nachw. AöR 95 (1970), S. 86 (104 f., 118 ff.), 260 (281 ff.) und für das Verhältnis Rechtsprechung und Verwaltung im Ermessens„bereich“: Öffentliches Interesse, S. 647 ff. 125  Wichtig ist der Versuch von P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, eine „Methode der Gesetzgebung“ zu entwickeln, die nicht nur „Machttechnologie“ ist, sondern die „Wertfrage“ stellt (S. 63) und Verfahrensweisen vorschlägt, die am Denken des kritischen Rationalismus orientiert sind (vgl. insbesondere die Abschnitte über den Entwurf von Alternativen und die Verfahren ihrer Kritik, S. 107 ff., 120 ff.). P. Noll sieht aber Gesetzgebung nicht so sehr unter dem Aspekt der Verfassungsinterpretation (vgl. nur S. 103 f.). 126  Für eine Ausdehnung des § 82 Abs. 2 BVerfGG auf das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle (durch Gesetzesänderung): E. Friesenhahn, JZ 1966, S. 705 (709). Zur großzügigen Fortentwicklung des § 77 BVerfGG durch das BVerfG: H. Lechner, BVerfGG, 3. Aufl. 1973, Erl. 2 zu § 77. 123  BVerfGE



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“289

Formen und Verfahren der Beteiligung zu konstitutionalisieren, ist spezifische Aufgabe einer (prozessualen) Verfassungstheorie. Für die Inhalte und Methoden kann das nur begrenzt gelten. Grundsätzlich soll der politische Prozess so offen wie möglich sein (bleiben), auch die „abwegige“ Verfassungsinterpretation soll die Chance haben, irgendwann von irgendwem vertreten zu werden. Zwar ist der politische Prozess ein Prozess der Kommunikation aller mit allen, in der gerade auch die Verfassungstheorie versuchen soll, sich Gehör zu schaffen, ihren eigenen Standort zu finden und ihre Funktion als kritische Instanz wahrzunehmen127. Aber ein Zuwenig an „academical self restraint“ kann auch zu einem Autoritätsverlust führen. Die hier angedeutete demokratische Verfassungstheorie hat gleichwohl eine besondere Verantwortung für die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. 6. Nachtrag (1978 / 2012) zu: „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ Dieser Beitrag, konkreter Ausdruck des Verständnisses der „Verfassung als öffentlicher Prozess“, ist seit seinem Erscheinen kontrovers diskutiert worden: vgl. zuerst Yersin, JA 1975 ÖR, S. 129 ff. (453 ff.); einerseits E.-W. Böckenförde, NJW 1976, S. 2089 (2093 ff.); F. Ossenbühl, in: BVerfGFestgabe I (1976), S. 458 (510); s. aber auch ders., in: DÖV 1977, S. 801 (809 Note 47); andererseits P. Kirchhof, in: BVerfG-Festgabe I (1976), S. 50 (101, 106); ders., Rechtsänderung durch geplanten Sprachgebrauch?, Ged.-Schrift für F. Klein (Hrsg. Dieter Wilke und Harald Weber), 1977, S. 227 (239); G. F. Schuppert, Bürgerinitiativen, AöR 102 (1977), S. 369 (396); C. Sailer, ZRP 1977, S. 303 (S. 309 mit Fn. 74); G. Haverkate, Gewissheitsverluste im juristischen Denken, 1977, S. 173 Anm. 61; s. auch K. Stern, Das Staatsrecht der BR Deutschland, Bd.  I 1977, S.  114  f.; D. Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, 1977, z. B. S. 43 sowie H. F. Zacher, in: VVDStRL 34 (1976), S. 284 (Diskussion). Zustimmend und kritisch in einem ist z. B. J. Isensee, NJW 1977, S. 545 (550 f.) bei der Grundwertediskussion. Beifall und Kritik scheinen sich die Waage zu halten (s. später P. Lerche, in: FS für Ipsen, 1977, S. 437 [437 Note 1) für verfassungsprozessuale Fragen). Der Beitrag versteht sich selbst als eine Stimme in der konzertierten Aktion der heute ins Universale greifenden pluralistischen Völkerrechts- und Verfassungsrechtswissenschaft. Der Blick auf die personal Beteiligten an den Verfahren, Inhalten und Ergebnissen der Verfassungsinterpretation erscheint nach wie vor als notwendig. Das Denken i. S. von K. R. Poppers 127  P. Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974), S.  437 (453 ff.).

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4. Kap.: Verfassung

„offener Gesellschaft“ grundiert den Hintergrund in weltbürgerlicher Absicht („constitutio cum legentibus crescit“). Dieser Beitrag ist mittlerweile in viele Sprachen übersetzt worden: z. B. ins Polnische und Koreanische, ins Italienische und Spanische sowie Russische. Weitere Übersetzungen werden von Vertretern anderer nationaler Wissenschaftlergemeinschaften vorbereitet. In Deutschland gibt es bis heute viele zustimmende oder kritische Bezugnahmen, über die Wissenschaft hinaus sogar in Tageszeitungen, z. B. FAZ vom 2. März 1985, S. 6 sowie NZZ vom 11. Sept. 1984, S. 33. Differenzierend z. B. E. Riedel, Methoden der Verfassungsinterpretation im Wandel, FS P. Schneider, 1990, S. 382 (397); P. Kirchhof, Rechtsänderung durch geplanten Sprachgebrauch? (1977), jetzt in: ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung, 1995, S. 42 (57); s. auch: R. Zuck, in: NJW 1996, S. 102); H. Hofmann, Rechtsgeschichte nach 1945, 2012, S. 53; R. Zuck, BayVBl. 2012, S. 417. Im sich einigenden Europa von heute darf der Ansatz von 1975 wohl in die europäische Dimension erweitert werden: In dem Maße, wie sich Europa Stück für Stück teil-verfasst, entsteht in eben diesem Europa eine „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. H. Schulze-Fielitz hat dies für einen personellen Teilbereich beschrieben („Auf dem Weg zu einer offenen Gesellschaft europäischer Staatsrechtslehrer“, DVBl. 1994, S. 991 ff.). Der Verfasser rang in seinem „Generalbericht“ zu dem Teilthema „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ in Lausanne im April 1995 um eine „Fortschreibung“ des Konzepts von 1975 (vgl. den Tagungsband, hrsg. von R. Bieber /  P. Widmer, Der europäische Verfassungsraum, 1995, S. 361 ff.). Eine eingehende Darstellung und Kritik bei R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit, Neuere Ansätze zur Methodik der Verfassungsinterpretation – Untersucht am Beispiel Horst Ehmke, Peter Häberle, Konrad Hesse, Martin Kriele und Friedrich Müller, 1979, bes. S. 150 ff., 193 f. Die Tradition des BVerfG, in großen Prozessen „Beteiligten“ Gelegenheiten zur Äußerung zu geben, wurde konsequent fortgesetzt, z. B. E 89, 214 (233 ff.); 92, 53 (64 ff.); 95, 267 (293); 128, 1 (25 ff.). Dadurch wird ein Stück pluralistischer „gesellschaftlicher Repräsentanz“ in das Verfassungsprozessrecht hineingetragen. – Das Bundesgericht in Brasilien hat diesen Ansatz unter Berufung auf das Paradigma der Verf. in vielen Voten ausgebaut, dazu K. Krukowski, Supremo Corte Tribunal und Verfassungsprozessrecht in Brasilien, 2011, S. 121; G. Mendes, Die 60 Jahre des Bonner Grundgesetzes und sein Einfluss auf die brasilianische Verfassung von 1988, JöR 58 (2010), S. 85 (112 ff.). Diese Übersicht „in eigener Sache“ mag ein kleiner Beitrag zur Rechtfertigung der These sein, ein wissenschaftliches Paradigma könne Verfassungstexte und Judikate anleiten.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“291

7. Zweiter Teil: Die Übertragung auf Europa – Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Europa (regional-europäisch) a) Die These Das Bild von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) lebt vor allem von der provokativen Frage nach den an Verfassungsinterpretation realiter Beteiligten und idealiter zu Beteiligenden, den Akteuren. Die herkömmlichen, freilich in ihrem Zusammenspiel offenen Methoden, bisher vier, durch die Integrierung der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Methode um das entscheidende komparatistische Moment erweitert, bleiben unangefochten. Man darf im Europa des EuGH und des EGMR auf die Verstärkung des dynamischen, evolutiven, rechtsvergleichenden Auslegungselements hinweisen und als ihr schönstes Ergebnis die Schaffung der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ hervorheben (vgl. auch Präambel EU-Grundrechte-Charta von 2007, Art. 6 Abs. 3 EUV von 2007). Schließlich sei das materielle Prinzip europäischer Verfassungsinterpretation, die Europaoffenheit (auch „Menschenrechtsfreundlichkeit“) erwähnt. Es gesellt sich zu den übrigen Prinzipien der Verfassungsinterpretation i. S. des klassischen Kanons. Es bedarf jedoch der Zügelung (Balance) durch das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Präambel EUV, Präambel EU-Grundrechte-Charta) und die Achtung der nationalen Identität (Art. 4 Abs. 2 EUV). Auch sei daran erinnert, dass die nationalen Verfassungsgerichte, die in der Anwendung von EMRK und dem europäischen Verfassungsrecht der EU immer auch „europäische Verfassungsgerichte“ sind (denn sie sind an dieses Recht gebunden), ihrerseits viel Rechtsvergleichung betreiben, auch wenn sie dies oft nur in der geheimen Beratung tun und nicht im Kontext ihrer publizierten Entscheidungen erkennen lassen. Im Übrigen sei im Folgenden das nationalstaatsbezogen gedachte Tableau der an Verfassungsinterpretation Beteiligten aus dem Jahre 1975 jetzt auf Europa übertragen. Es geht hier wieder um die Europäisierung eines ursprünglich nur national entworfenen Prinzips oder Paradigmas. Das Prinzip der in Literatur und Judikatur postulierten „Europarechtsfreundlichkeit“ hat konkrete Folgen. b) Die Konkretisierung Die an europäischer Verfassungsinterpretation Beteiligten sind: (1) Eher formal: – die beiden europäischen Verfassungsgerichte, die nationalen Verfassungsgerichte der 27 EU-Mitgliedsländer mit den sich öffnenden

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4. Kap.: Verfassung

und wegen der Beitrittsbedingungen von Kopenhagen europäisierenden weiteren europäischen Staaten („Beitrittskandidaten“ z. B. Kroatien, Serbien, Island und die Türkei) sowie die nationalen (Verfassungs-)Gerichte der 47 Europarats- bzw. EMRK-Mitgliedsländer, sodann alle Gerichte dieses engeren bzw. weiteren europäischen Raumes; wo wie in Straßburg am EGMR Sondervoten möglich sind, seien diese als potentielle „Motoren“ der Verfassungsinterpretation einbezogen; – die europäischen Gesetzgeber in Straßburg bzw. Brüssel (Das spezifische Zusammenwirken von Rat, Kommission und Europäischem Parlament, 2007 neu geregelt, mag dabei dem Prozess „legislativer Verfassungsinterpretation“ eine kommunikative Dynamik verleihen, die so im innerstaatlichen Bereich nicht greifbar ist. Wenn im Kontext der EU eher von einem „institutionellen Gleichgewicht“ denn einem strikten System der Gewaltenteilung gesprochen werden kann, so bleibt das auch auf den Prozess der Verfassungsinterpretation und auf die Vielfalt der an ihr Beteiligten nicht ohne Auswirkung); – die europäischen und nationalen Exekutiven, einschließlich des Ausschusses der Regionen (Art. 305 bis 307 AEUV); – der Bürgerbeauftragte nach Art. 228 AEUV. (2) Eher materiell: – die Bürger, Verbände und Gruppen (auch die Non-Governmental Organisations) als Teile der Zivilgesellschaft und mittelbar die „europäische Öffentlichkeit“: die Bürger insofern sie z. B. Menschenrechtsbeschwerde beim EGMR einlegen (Art. 34 EMRK), die Gruppen analog, überdies durch ihre „Vorinterpretation“, die sie dank ihres Einflusses in der europäischen Öffentlichkeit ausüben; – das gilt auch für die politischen Parteien (vgl. Art. 10 Abs. 4 EUV: „europäi­ sches politisches Bewusstsein“, ein Begriff, den auch die europäische Methodenlehre erfassen muss); – sodann die „europäische Öffentlichkeit“ in allen ihren oft diffusen Formen, Medien und Pluralgruppen bis hin zu den Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften. Art. 11 EUV spiegelt dies wider (vgl. Abs. 2: „Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft“, Abs. 3: Anhörung der Betroffenen; s. auch Abs. 17 AEUV: „offener Dialog mit den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften“). Dieses Tableau sei hier nur stichwortartig umrissen. Der nächste Schritt gilt der „Europäisierung der Rechtsquellen“ bzw. dem Desiderat einer europäischen Methodenlehre.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“293

c) Europäisierung der Rechtsquellen und das Desiderat einer europäischen Methodenlehre aa) Die Europäisierung der Rechtsquellen Zu den Themen, die Gegenstand zunehmender „Europäisierung“ sind, gehören, wie gezeigt, die Grundrechte, das Rechtsstaatsprinzip, das Umwelt- und Kulturverfassungsrecht etc. Bislang zu wenig bewusst ist die latente und offene „Europäisierung der Rechtsquellen“ – welcher Vorgang mit dem Heranwachsen einer europäischen Methodenlehre parallel geht. Die „Rechtsquellen“, ein Begriff, der an anderer Stelle in Frage gestellt wird, sei hier als nach wie vor gängiger Begriff verwendet (auch wenn das Bild „Quelle“ fehl geht), sie bilden das klassische Souveränitätspotential des nationalen Verfassungsstaates. Im Europa von heute gibt es jedoch viele Vorgänge, die das „etatistische Rechtsquellenmonopol“ in Frage stellen. Neben dem Völkerrecht und seinen den staatlichen „Souveränitätspanzer“ durchbrechenden (allgemeinen) Grundsätzen, sind es im EU-Europa vor allem die das nationale Recht überlagernden und zu Teilverfassungen werdenden „Allgemeinen Rechtsgrundsätze“, besonders die vom EuGH entwickelten Grundrechte. Im EU-Teilverfassungsrecht positiviert, strahlen sie in ihrer normativen Kraft gewiss auch darüber hinaus aus. Sie stellen ein Stück materialer Allgemeinheit (und Öffentlichkeit) Europas dar und sind zusammen mit dem gemeineuropäischen Verfassungsrecht ein Normen­ensemble, das es rechtfertigt, von „Europäisierung der Rechtsquellen“ zu sprechen. Nimmt man das „europäische Verwaltungsrecht“ (J. Schwarze) und seine Wirkungskraft in den EU-Mitgliedsstaaten hinzu, so zeigt sich, wie das nationale Rechtsquellenmonopol aufgebrochen ist. Vor allem die EMRK, die in Österreich und der Schweiz mit Verfassungsrang gelingt, ist ein Beispiel für „innere Europäisierung“ der Rechtsquellen (auch ihre „Pluralisierung“). Hier gibt es keine „letzten Worte“ (s. aber BVerfGE 128, 326 (369)). Das richterliche Innovationspotential der „Allgemeinen Rechtsgrundsätze“ in Europa ist ebenso groß wie die in manchen europäischen Verfassungsstaaten „verinnerlichten“ intensivierten Menschenrechte (Stichwort: Menschenrechtsfreundlichkeit des nationalen Verfassungsrechts: z. B. Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien, auf dem Balkan Serbiens und des Kosovo). Die sich an internationale Standards anlehnende Interpretation der nationalen Grundrechte kommt auch Europa als offener Grundrechtsgemeinschaft zugute. Der Modell-Artikel § 10 Verf. Estland sowie Art. 39 Verf. Georgien lassen sich auf die europäische, sicher aber auf die EU-Ebene übertragen. Aus der Menschenwürde (die „aufgezählten Rechte schließen andere nicht aus“) sowie aus dem demokratischen Rechtsstaat fließen inskünftig weitere Grundrechte im europäischen Verfassungsraum. Die hier vorgeschlagene

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4. Kap.: Verfassung

Europäisierung der nationalen Grundrechtsentwicklungsklauseln könnte in der Zukunft zum Vehikel vieler neuer Grundrechtsthemen und -dimensionen werden (numerus apertus der Grundrechte): vom „Sinn“ des Ganzen her erarbeitet (mit Auswirkungen auch im Völkerrecht). Wenn manche osteuropäische Verfassungen einen eigenen Abschnitt zu den (nationalen) Rechtsquellen vorsehen (so Art. 87 bis 94 Verf. Polen), so ist dies eher kritisch zu beurteilen. Es könnte den Eindruck eines „numerus clausus“ der Rechtsquellen erwecken. In Europa aber deutet alles auf einen numerus apertus der Rechtsquellen – ungeschriebene wie geschriebene. Theoretisch bedeutet dies eine Relativierung von Staatsgebiet und Staatshoheit: in europabürgerlicher Absicht. bb) Das Desiderat einer europäischen Methodenlehre Das Desiderat einer europäischen Methodenlehre ist die „andere Seite“ des beschriebenen Europäisierungsvorgangs; auch die Methodenlehre ist ein Beispielsfall für Europäisierungsvorgänge; doch sind erst die Anfänge zu erkennen. Während im Privatrecht früh und nie ganz vergessen gemeineuropäisch gearbeitet wurde, bot sich im öffentlichen Recht (wegen der Natio­ nalstaatsideologie) lange ein anderes Bild. Zwar gelten die vier klassischen Auslegungsmethoden Savignys bzw. des Römischen Rechts auch für die Auslegung des europäischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts. Doch führt erst die schon geforderte Kanonisierung der rechtsvergleichenden Methode als „fünfter“ konsequent zu einer europäischen Methodenlehre. Die hermeneutischen Probleme von „Vorverständnis und Methodenwahl“, „Grundsatz und Norm“ (J. Esser) wären für das Europa im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne des Europarates erst noch zu entfalten! – ein großes Arbeitsfeld. Doch sei hier wenigstens festgehalten, dass die unterschiedliche Praxis in der Gewichtung der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden in den einzelnen europäischen Staaten bzw. ihren Richter- und Wissenschaftlergemeinschaften ihrerseits verglichen werden müsste, um gemeinsame Standards zu entwickeln. Auch hier hätte die „Europaoffenheit“ als Prinzip der Verfassungsinterpretation ihr Gewicht, auch hier müssen nationale Eigenheiten wie die große Gewichtung von Wortlaut und Geschichte in der Schweiz wegen ihrer Referendumsdemokratie berücksichtigt werden. Sie dürfen nicht „von Europa her“ eingeebnet werden. Die Gewaltenteilung, als funktionellrechtliche Arbeitsteilung zwischen Verfassung(sgesetz)geber und Richter, wird nicht überall gleich zu verstehen sein (man denke an Österreich einerseits, das deutsche BVerfG andererseits). Das unterschied­ liche nationale Vorverständnis, Teil der „nationalen Identität“, muss bei aller „europäischen Identität“ bzw. des „gemeinsamen kulturellen Erbes“ (Art. 107 AEUV) ihren Platz behalten. Die Kriterien für die Erkenntnis des Unglei-



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“295

chen in Europa sollten bei allen gemeineuropäischen Standards rational überprüfbar werden bzw. bleiben („Einschätzungsspielraum“). Ansätze zu einer europäischen Methodenlehre zeigen sich in der Rechtsprechung der europäischen Verfassungsgerichte zu den Grundrechten. So hat der EuGH, angehalten durch die „Solange-I“-Entscheidung des BVerfG, den Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene verbessert und dabei auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückgegriffen. Es wäre denkbar, dass die europarechtliche Argumentationsfigur des „effet utile“ der Methodenlehre ihrerseits Impulse gibt und Element einer europäischen Methodenlehre wird, das seinerseits auf die nationalen Methodenlehren und die Grundsätze der teleologischen Auslegung zurückstrahlt. Insbesondere könnte der „effet utile“ im Rahmen der nationalen Europa-Artikel (z.  B. Art. 23 GG, Art. 11 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993 sowie die Regelungen in österreichischen Landesverfassungen und italienischen sowie spanischen Regionalstatuten) zum verfassungsrechtlichen Argumentationstopos werden. Die Chancen und Grenzen des Richterrechts bzw. des Gewohnheitsrechts wären ein eigenes Thema für gemeineuropäische Standards. Diese Stichwörter müssen genügen, doch ein Horizont ist wohl erkennbar. Eine eigene Frage wäre, inwiefern das „europäische Gemeinwohl“, die „europäische Öffentlichkeit“ auch das Auslegungsergebnis „beeindrucken“ dürfen (Auslegung vom Ergebnis bzw. „Sinn“ her). Jedenfalls können sie das offene Zusammenwirken der Auslegungsmethode mitsteuern, nicht zuletzt über das „Vorverständnis“. 8. Dritter Teil: Wer entwickelt wie das Völkerrecht? – Menschheitsrechtlich Der folgende Teil gelte der Frage, ob und wie sich das Völkerrecht „fortentwickelt“. Dass es sich „entwickelt“, lehrt schon ein flüchtiger Rückblick in die Geschichte des Völkerrechts: es ist öffentlicher Prozess und Kultur. Dass es sich heute behutsam fortentwickeln kann, wird auch von Politikern gefordert (W. Schäuble). Dass die hier verfochtene Konzeption vom Völkerrecht als universalem „Menschheitsrecht“, als Element der universalen Verfassungslehre noch einen weiten Weg vor sich hat und eine Strukturierung in der Zeit und im Raum verlangt, liegt auf der Hand. Hier nur einige Stichworte: Aussagen zum sog. „Wesen“ des Völkerrechts“ dürfen nicht voreilig die erst noch zu beantwortenden Fragen vorwegnehmen. Immerhin seien aus den bisherigen Konzeptionen bezüglich des Verfassungsrechts einige Stichworte aufgegriffen: etwa der besondere Praxis- und Wirklichkeitsbezug („pragmatic approach“), die (zu große) Nähe zur und Abhängigkeit von der Macht der Staaten, die „Unvollkommenheit“ des Völkerrechts, insofern es keine den Verfassungsstaat entsprechende Durchsetzungsinstanzen hat (Stichwort: Konsenstheorie). Zwei Fragen seien behandelt: Wer entwi-

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4. Kap.: Verfassung

ckelt das Verfassungsrecht gerade heute? – die personale Frage –, und in welchen Formen geschieht dies, die formal / materielle Frage. a) Die Frage nach den Beteiligten Wer ist an den Prozessen der Fortentwicklung des Völkerrechts beteiligt? Im Vordergrund standen die souveränen, meist mächtigen Staaten. Aber heute gibt es noch andere „Subjekte“, die als „Akteure“ gelten dürfen: neben der UN vor allem der Sicherheitsrat, auch die UN-Vollversammlung, die UNTribunale, etwa in Den Haag (1993), vor allem der neue Internationale Strafgerichtshof. Den NGOs – Teil einer globalen Zivilgesellschaft – dürfte ebenfalls ein Platz zukommen, vielleicht auch global agierenden Anwaltskanzleien, am Ende sogar dem Bürger als Inhaber von Menschenrechten. Die personale Frage nach dem „Wer“ soll bewusst an das 1975 entworfene Paradigma von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ erinnern. Dabei kommen auch die Völkerrechtsgelehrten in den Blick, so schon nach dem IGH-Statut (Art. 38 Abs. 1lit. d). Das Konzept vom Völkerrecht als universalem „Menschheitsrecht“ hat freilich noch einen langen Weg vor sich, um ein Stück normative Wirklichkeit zu sein. Die normierende Kraft der Weltöffentlichkeit, auch regionaler Öffentlichkeit, sollte dabei nicht gering geschätzt werden. All dies könnte zum „Ferment“ des universalen Konstitutionalismus werden, auch die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ und Völkerrechtspolitik. b) Die Frage nach der Form In welcher Form vollzieht sich die bzw. eine „Fortschreibung“ des Völkerrechts mit seinen erwähnten Teilverfassungen heute? Auch hier eine noch auf eine endgültige Systematik zu bringende Antwort: Neben den klassischen Verträgen (Stichworte: world order Treaties, Überwindung der Pacta-tertiisRegel, den Staaten als „Akteuren“ des Völkervertragsrechts und des Gewohnheitsrechts) kommen vor allem die Internationalen Gerichtshöfe bzw. Richter ins Bild. Sie entwickeln Allgemeine Rechtsgrundsätze, das ius cogens, im Ganzen die in der (wohl zu reformierenden) UN organisierte, freilich wohl nur teilrepräsentierte Menschheit. Man sollte nicht nur auf die Akteure der „Praxis“ verweisen: die nach wie vor übermächtigen souveränen Staaten. Auch kleine Staaten hatten und haben ihre Chance, in juristischen Dokumenten arbeitsteilig an der Fortentwicklung des Völkerrechts mitzuwirken. Wie im innerverfassungsstaatlichen Bereich ist auch auf der völkerrechtlichen Ebene das „Rechtsquellen“-Bild zu revidieren. Es geht nur zum Teil um vorgefundene Rechtsquellen, aus denen „fertig“ Vorhandenes entnommen wird. Die kreative Praxis, die Interpretation ist es, die das Völkerrecht entstehen lässt und fortentwickelt. „Law in public action“ auch hier!



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“297

c) Ausblick Der „Dreischritt“ bleibt gewiss fragmentarisch, auch wenn er sich in neue Felder wagt. Die Richterschaft hat gerade heute eine besondere Verantwortung für den Verfassungsstaat, nicht nur der „hohe Richter“, auch der sog. „kleine“ vor Ort. Richterethos in der mühsamen Kleinarbeit des Alltages und die Beherrschung der bleibenden Kunstregeln der Interpretation sind ein kulturelles Grundelement, auf das jede offene Gesellschaft angewiesen ist und das eine „universale Verfassungslehre“ in all ihren Teilverfassungen, z. B. dem Seerechtsübereinkommen (1982), der WTO ernst nehmen muss. 9. Methoden und Prinzipien der Verfassungsinterpretation – ein Problemkatalog Einleitung Auch in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten bleiben Methoden und Prinzipien der Verfassungsinterpretation unverzichtbar. Der folgende Abschnitt will indes keine systematische Behandlung des riesigen Themas sein, das in Deutschland in einer Fülle von Literatur, etwa Handbuch-Artikeln128, Lehrbüchern129, Monographien130, Staatsrechtslehrerreferaten131 oder Aufsätzen132 tagaus tagein behandelt und vom deutschen BVerfG oft pionierhaft am einzelnen Fall praktiziert wird133. Es geht vielmehr darum, in der Art eines Problemkataloges mit 128  Z. B. Ch. Starck, Verfassungsauslegung, in: HStR, Bd.  VII, 1992, § 164, S. 189 ff. – Zum Folgenden überarbeitet, mein gleichnamiger Beitrag in: REDP Vol. 12, Nr. 3, 2000, S. 867 ff., auch ein spanischer Festvortrag (2008). 129  Schon klassisch, K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995 (Neudruck 1999), S. 20 ff. (Rn. 49 ff.); vgl. auch P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 23 ff. 130  Z. B. O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze. Thesen zu einem Topos der Verfassungsinterpretation, 1988; E. Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982; G. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980; W. Brugger, Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, 1991. 131  P. Schneider und H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 1 ff. bzw. 53 ff. 132  Z. B. E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, S.  2089 ff.; U. Häfelin, Die verfassungskonforme Auslegung und ihre Grenzen, in: FS H. Huber, 1981, S. 241 ff.; H.-J. Koch, Die Begründung von Grundrechtsinterpretationen, EuGRZ 1986, S. 345 ff.; W. Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), S. 1 ff.; L. Michael, Methodenfragen der Abwägungslehre, JöR 48 (2000), S. 169 ff. 133  Dazu P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979; H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeistes, AöR 122 (1997), S.  1 ff.; ders., Staatsrechtslehre und BVerfG – prozedural gesehen, FS Wahl

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4. Kap.: Verfassung

Informationswert Fragen zu formulieren, die sich aus deutscher, aber auch rechtsvergleichender Sicht stellen, wenn eine nationale und – werdende – europäische Verfassung ausgelegt werden soll (Europa lebt m. E. längst ein Ensemble von materiellen Teilverfassungen; welche finale „ganze“ Verfassung es haben soll, ist derzeit aber noch offen). Auch die Gliederungsstichworte sind durchaus „topisch“ gemeint. So gibt es keine zwingene Rangfolge der einzelnen Teile dieses Abschnitt. Denkbar wäre z. B., vorweg die vier bzw. fünf Auslegungsmethoden zu behandeln und erst dann ihren „Gegenstand“, die Verfassung, zu erörtern. Im Grunde gehören das hier entwickelte Verständnis und die Auslegungsmethoden bzw. -prinzipien von vornherein zusammen – sich wechselseitig bestimmend. Der „Verfassung des Pluralismus“ entspricht eine „offene“ Verfassungsinterpretation, die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten ist Konsequenz der „Bürgerdemokratie“ („We, the people“). Erster Teil Der Verfassungsbezug der Methoden und Prinzipien, insbesondere das „gemischte“, kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis I. Verfassungstheorien Verfassungstheorien befassen sich mit der Frage, mit welchem „Vor-Verständnis“ wir an die Auslegung einer geschriebenen Verfassung herangehen sollen. In Deutschland leben wir bis heute vom Grundlagen-Streit der Weimarer „Riesen“, auf deren „Schultern wir als Zwerge“ stehen, indes mitunter nur deshalb ein Stück weitersehen. Eine kurze Skizze der „Positionen und Begriffe“ der Weimarer Klassiker sei ergänzt um die eigene Sicht. Alle Auslegung wird von einem Vorverständnis gesteuert, dieses prägt auch die „Methodenwahl“ (J. Esser)134. Das Vorverständnis muss offengelegt, möglichst rationalisiert werden. Der Wissenschaftler kann seine Theorien „rein“, ohne Kompromisse vertreten, ein Verfassungsgericht als im Antagonismus bzw. Pluralismus der Ideen und Interessen vermittelnde Instanz sollte sich in kompromisshafter „pragmatischer Integration von Theorieelementen“ üben. Dieses sei vorweg gesagt, um den hohen Stellenwert von (alternativen) Verfassungstheorien anzudeuten. In Deutschland ist er im europäischen Vergleich wohl besonders hoch, was nicht unbescheiden sein will. Für die Praxis, auch des BVerfG, höchst einflussreich geworden sind Teile der Lehre von R. Smend. Seine Idee der „Bundestreue“ (1916) hat sich ebenso durchgesetzt (vgl. nur BVerfGE 12, 205 (255); 34, 9 (20 f.); 81, 330 (337 f.); 92, 203 (230 f.); 103, 81 (88); 104, 238 (247 f.))135 wie der Gedanke der Grundrechte als einheit­ 2011, S.  405 ff.; T. Würtenberger, Auslegung und Verfassungsgericht – realistisch betrachtet, FS Hollerbach, 2001, S. 223 ff.; U. Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsauslegung, AöR 134 (2009), S. 158 ff. 134  J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1972; ders., Grundsatz und Norm, 1956. 135  Aus der Lit. zur Bundestreue: H. Bauer, Die Bundestreue, 1992; ders., Bundesstaatstheorie und Grundgesetz, in: Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für P. Häberle, 2004, S. 645 ff.; P. Egli, Die Bundestreue, 2010.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“299

liches Wertesystem (1928). Ein Theorieangebot von R. Smend ist schon aus dem Jahre 1928 das Konzept der Verfassung als „Anregung und Schranke“136. Er hatte seinerzeit Schlagzeilen gemacht durch seine Integrationslehre. Der Staat ist nur in immer neuer Integration – der innerlich europäische Verfassungsstaat unserer Tage hat hier freilich neue Fragen zu stellen und neue Antworten zu suchen! –, C. Schmitt hat in seiner Verfassungslehre von 1928 wichtige Erkenntnisse erarbeitet137, vor allem in dogmatischer Hinsicht, etwa in Gestalt der Lehre von den Instituts- und institutionellen Garantien wie Eigentum, Erbrecht, Berufsbeamtentum und ihrem auch gegen den Gesetzgeber geschützten Wesensgehalt138 (vgl. später Art. 19 Abs. 2 GG, auch Art. 79 Abs. 3 GG); er hat indes auch Positionen bezogen139, die, ganz abgesehen von seiner zeitweiligen Verstrickung mit dem Nationalsozialismus, für eine „europäische (bzw. universale) Verfassungslehre“ untauglich sind. So ist seine Lehre von der verfassunggebenden Gewalt, die „normativ aus dem Nichts“ entscheidet (Dezisionismus) fragwürdig, sie wird schon durch einen Blick auf das pluralistische Zustandekommen von verfassungsstaatlichen Verfassungen wie in Griechenland (1975) oder Portugal (1976) widerlegt; vor allem auch durch die europarechtlichen „Vorgaben“. Jeder nationale Verfassunggeber in Europa ist heute praktisch an die Vorgaben der EMRK gebunden, z. B. auch bald in Sachen Minderheitenschutz dank des Europarates. Das zeigt sich zuletzt im Kosovo (Verf. von 2008: Art. 3 Abs. 1, Art. 22 Ziff. 4). Ein Wort zu H. Heller, dem Dritten im „Dreigestirn“ der Weimarer Zeit140. Er hat nicht nur das Wort vom „sozialen Rechtsstaat“ geprägt, sondern auch ein Wort Goethes schöpferisch im juristischen Kontext verwendet: Verfassung als „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“141. Überdies korrigierte er manche Übertreibungen der Integrationslehre von R. Smend und bleibt wegweisend durch sein Verständnis der Staatslehre als Kulturwissenschaft142. – Ein weiteres Wort zu H. Kelsen, von H. Heller als „Testamentsvollstrecker des Positivismus“ kritisiert („Jeder Staat ein Rechtsstaat“). Er ist demgegenüber nur bei der Lehre vom „Stufenbau der Rechtsordnung“ in der Variante des heute fast universalen „Vorrangs der Verfassung“ (z. B. Art. 9 Verf. Äthiopien von 1995; Art. 2 Abs. 1 Verf. Uganda von 1995; Art. 2 Verf. Süd­ afrika von 1996 / 2007; Art. 16 Verf. Kosovo von 2008) hilfreich; freilich verdanken wir ihm Wesentliches in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit143. 136  R.

Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010, S. 187 ff., 195. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 105 f., 177 f. 138  Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, 3. Aufl. 1983. 139  Aus der (kritischen) Lit.: W. v. Simson, Carl Schmitt und der Staat unserer Tage, AöR 114 (1989), S. 185 ff.; H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 1964 (4. Aufl. 2007). 140  Aus der Lit.: M. Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S.  370 ff.; M. Henkel, H. Hellers Theorie der Politik und des Staates, 2011. 141  H. Heller, Staatslehre, 6. Aufl., 1983, S. 258. 142  Staatslehre, 1934, S. 32 ff. 143  H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 ff. Weitere klassische Lit. ist wieder abgedruckt in: P. Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976. 137  C.

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4. Kap.: Verfassung

Im Kontext der GG-Praxis, d. h. nach 1949, wurden weitere Verfassungstheorien entwickelt, die hier nochmals erwähnt seien: Verfassung als „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner), Verfassung als grundlegender „Strukturplan für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens“ (A. Hollerbach), von der Schweiz aus Verfassung als „rechtliche Grundordnung des Staates“ (D. Schindler, 1945) und ein betont geschichtliches Verfassungsverständnis (R. Bäumlin). H. Ehmke verdanken wir das Verständnis der Verfassung als „Beschränkung und Rationalisierung der Macht und Gewährung eines freien politischen Lebensprozesses“ (1953)144. M. E. ist Verfassung auch Konstituierung staatlicher Macht, muss auch gesellschaftliche Macht beschränkt werden. Vor allem ist Verfassung auch öffentlicher Prozess (1969)145. Zu votieren ist für ein „gemischtes Verfassungsverständnis“, wobei je nach Etappe der Verfassungsentwicklung und je nach Nation der eine oder andere Aspekt im Vordergrund stehen mag. So musste in Spanien 1978 nach Franco das Gewicht auf das Element der „Beschränkung“ gelegt werden, heute kann stärker das Element der „Anregung“ in den Vordergrund rücken, auch das des öffentlichen Prozesses. Das Plan-Element tritt in Zeiten des Umbaus des Sozialstaates und der Privatisierung stärker zurück, wobei freilich anzumerken ist, dass der Neigung zur Verabsolutierung des „Marktes“ heute mehr verfassungsrechtliche „Zügel“ anzulegen sind (Stichwort: „Casinokapitalismus“, Rückbesinnung auf die soziale Marktwirtschaft, ein Mehr an staatlicher Regulierung, Zähmung der US-Amerikanischen Ratingagenturen und Finanzmärkte). II. Der eigene Ansatz Es zeigen sich nationale Besonderheiten: So begegnet uns in den USA fast eine Art „Verfassungsglaube“, geschrieben in den „Federalist Papers“, wie überhaupt Parallelen zwischen den drei Buchreligionen mit Thora, Bibel und Koran einerseits und der Wert- bzw. Hochschätzung der geschriebenen Verfassung weltweit andererseits kaum zufällig sein dürften. In Frankreich steht die Idee des Republikanischen im Vordergrund, auch ein kulturelles Verhältnis zur Verfassung; in Deutschland haben wir in D. Sternbergers Dictum vom „Verfassungspatriotismus“ ein einleuchtendes Theorieangebot, wobei uns freilich das alte Wort von J. Habermas „DM-Nationalismus“ schmerzhaft in den Ohren brennt (kommt es wegen der Griechenland-Hilfe 2012 wieder zu Ehren?). Insgesamt überwuchert derzeit ein unbegreiflicher „Ökonomismus“ unsere Diskussion, als ob der „Wirtschaftsstandort Deutschland“ alles wäre, als ob Europa nur aus dem „EURO“ bestünde. M. E. sind Verfassungen besonders ein Stück Kultur146: Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives Regelwerk, sondern Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Verfassungen werden aus Kultur und sie sind Kultur. Dieses kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis kann Elemente der Arbeiten von R. Smend und H. Heller, D. Schindler, R. Bäumlin und U. Scheuner, auch 144  H.

Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 103 ff. P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, 3. Aufl. 1998, bes. S.  121 ff., 265 ff. 146  Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 19, 2. Aufl. 1998, S. 28 ff., 405, 591 und passim. 145  Vgl.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“301

H. Ehmke sowie K. Hesse beweglich einbauen, je nach Zeit und Raum, diesen beiden zusammengehörenden Dimensionen, in die eine europäische und universale Verfassungslehre ausgreifen muss: als horizontale Rechtsvergleichung in der Zeit (Verfassungsgeschichte) und als vertikale Rechtsvergleichung im Raum (zeitgenössische Komparatistik). Bei all dem kann die „Philosophie des offenen Geistes“ (Popper), sein „process of trial and error“ (vgl. auch BVerfGE 5, 85 (135)), erkenntnisleitend sein: bei Vorstudien zu einer völkerrechtsoffenen universalen Verfassungslehre. Zweiter Teil Die klassischen vier Auslegungsmethoden und die neue „fünfte“ (rechtsvergleichende) – der Pluralismus der Auslegungsmethoden, die Offenheit ihres Zusammenspiels I. Die klassischen vier Auslegungsmethoden – ihr offenes Zusammenspiel Seit F. C. von Savignys (1840), freilich ohne das „Genie“ der römischen Juristen nicht zu denkendem Kanon der Auslegungsmethoden, haben die Juristen ein vermeintlich „sicheres Handwerkszeug“. Nach Savigny gehen sie vom Wortlaut aus (grammatische Auslegung), kehren zur Geschichte zurück (historische Auslegung, mit Varianten der subjektiv historischen und objektiv historischen Interpretation) und erforschen den systematischen Stellenwert der Norm im Ganzen (fragen neuerdings nach dem „Kontext“). Später wurde der Kanon um die Frage nach dem Telos, den Sinn und Zweck der Norm ergänzt147. Offen blieb und bleibt bis heute die „Organisation“ des Zusammenspiels der vier „Auslegungselemente“ oder -methoden148. Der Kanon der Auslegungsmethoden ist ein „flexibles Argumen­ tationsgerüst“149, das sich meist als Prinzipienstruktur150, seltener als Regelsys147  Die Literatur zur Methodenlehre ist unüberschaubar: vgl. nur H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999; E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998 (2. Aufl. 2005); K. Larenz / C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995; F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik 1: Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 2009. 148  Bereits Savigny (System des heutigen römischen Rechts, 1840, Bd. I, S. 212) fasste seine Methoden im Gegensatz zu Thibaut (Theorie der logischen Auslegung des Römischen Rechts, 2. Aufl. 1806) nicht in ein festes Rangverhältnis. Zu den verfassungsrechtlichen Implikationen des Rangfolgenstreits vgl. G. Hassold, Strukturen der Gesetzesauslegung, in: FS Larenz II, 1983, S. 211 (217, 238); A. Gern, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, Verwaltungs-Archiv 80 (1989), S. 415 (431); aus rechtsvergleichender Sicht: F.-R. Graben, Über die Normen der Gesetzes- und Vertragsinterpretation, 1993, S. 162 ff.; zum Ganzen jüngst: C.-W. Canaris, Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht, in: FS D. Medicus, 1999, S. 25 ff. 149  W. Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), S. 1 (31). Aus der Judikatur des BVerfG zur Rechtsfortbildung zuletzt: E 128, 193 (210 f.). 150  L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme – Methodenrechtliche Analyse und Fortentwicklung der Theorie der „beweglichen Systeme“ (Wilburg), 1997, S. 205–209 m. w. N.; zustimmend C.-W. Cana-

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4. Kap.: Verfassung

tem151 beschreiben lässt. Wann prävaliert die historische Auslegung, etwa bei jungen Gesetzen bzw. Verfassungen? Wie weit trägt der Wortlaut der Norm, ist er eine „Grenze“ der Auslegung? M. E. nein152. Ist letztlich die Frage nach Sinn und Zweck das entscheidende Auslegungsinstrument? Aus der Not der Ungewissheit des Zusammenspiels der vier Auslegungsmethoden darf man eine Tugend machen: Im Einzelfall kann der Richter von seinem „Judiz“ her, genauer vom durch Erfahrung geschulten Gerechtigkeitsmaßstab aus begründen, wie und warum die eine über die andere Auslegungsmethode siegt bzw. mehrere ein Ergebnis „tragen“. Der Pluralismus und die Offenheit der vier Auslegungsmethoden wird so zur Garantie der Gerechtigkeitsgewinnung in der Zeit, unter Berücksichtigung von Wandel und Entwicklung. Für das „Sinn-Argument“ gibt es jetzt einen positiv-rechtlichen Beleg: den mehrfach zitierten § 10 Verf. Estland von 1992 zur Grundrechtsentwicklung. Freilich zeigt sich schon im Zivilrecht und im Strafrecht, dass die Anwendung der vier klassischen Auslegungsmethoden von den Propria, den jeweiligen Sach- und Rechtsbereichen und ihren speziellen Gerechtigkeitsprinzipien abhängt. So prägt der Satz „nulla poena sine lege“ als Ausdruck des heute gemeineuropäischen Verfassungsrechts das Strafrecht inhaltlich: keine Analogie zum Nachteil des Beschuldigten, während sich etwa das Privatrecht durch die Technik der Analogiebildung bereichert und fortentwickelt. Schon hier offenbart sich der Zusammenhang zwischen Gegenstand und Auslegungsmethoden im Recht, ein Konnex, der vor allem für das Verfassungsrecht charakteristisch ist. Ehe dem genauer nachgegangen wird, sei die These von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode153 entwickelt, wobei man, dem kulturwissenschaftlichen Ansatz dieses Buches gemäß, anmerken darf, dass auch andere Wissenschaften und Künste auffallend ähnlich wie der Jurist arbeiten: bei der Theologie und ihrem Umgang mit Texten ist dies bekannt; es ist kein Zufall, dass wir Schleiermacher die „Hermeneutik“ verdanken, d. h. die Lehre vom Verständnis eines gesprochenen oder geschriebenen Textes. Aber auch die Musik (Stichwort: historische Aufführungspraxis auf historischen Instrumenten) oder die Kunstwissenschaft (Interpretation von Bildern eines Rembrandt oder Rubens) arbeitet am Text und Kontext, mit Aspekten des Geschichtlichen oder Werkimmanenten bis hin zur Einbeziehung der Wirkungsgeschichte eines „offenen“ Kunstwerkes. Einmal mehr zeigt sich, dass der Umgang von uns Juristen mit Texten nur ein Anwendungsfall des Umgangs mit (anderen) Hervorbringungen des Geistes bzw. des Menschen ist: also des Verständnisses von „Kultur“ bzw. der Verfassung; dies gilt auch für völkerrechtliche Teilverfassungen (wie die UN-Konvention gegen Korruption und das internationale Flüchtlingsrecht): „e consensu gentium“. ris, Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, in: FS Medicus, 1999, S. 25 (59). 151  Beispiele für Regel- und Prinzipienstrukturen belegt jetzt C.-W. Canaris, a. a. O., S.  25 ff. 152  Anders K. Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), Rn. 77–78, S.  29 ff. 153  P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 164 ff., 463 f. und passim.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“303 II. Kulturelle Verfassungsvergleichung – Verfassungsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode

Verfassungsvergleichung erweist sich (weltweit) als für kulturwissenschaftliches Denken besonders geeignet: auf der Ebene der europäischen Rechtsvergleichung sowie auf der Ebene „innerer“ Verfassungsvergleichung in Bundesstaaten (wie Deutschland, Österreich und der Schweiz, auch Brasilien) zwischen den Verfassungen der Gliedstaaten untereinander und zwischen ihnen und dem Bundesverfassungsrecht (dem die Gliedverfassungen als „andere“ Ebene von vornherein zuzurechnen sind). Gleiches gilt für die „Regionalstaaten“ wie Spanien mit seinen Autonomen Gebietskörperschaften sowie für Italien und seine Regionalstatute. Funktionell kann Verfassungsvergleichung dabei auf allen drei Ebenen der „Verfassungsentwicklung“ (Verfassungsinterpretation, Verfassungsänderung, Verfassunggebung) und in deren Rahmen fruchtbar gemacht werden. Vorgänge, Inhalte und Verfahren kultureller Produktion und aktiver Rezeption lassen sich innerhalb der Bundesstaaten (respektive der Regionen) belegen, aber auch zwischen den Bundesstaaten untereinander oder zwischen dem Föderalismus und seinem „kleineren Bruder“, dem Regionalismus: So hat die deutsche Bundesstaatswissenschaft gerade auf einem kulturverfassungsrechtlichen Gebiet (Stichwort: „Kulturförderungsgesetze“ Österreichs) rechtspolitische Impulse aus Österreich aufgegriffen, die Schweiz lehnt sich in ihren Arbeiten zur Totalrevision der Bundesverfassung auch an Werke der deutschen Staatsrechtslehre an (1977 und 1995, jetzt nBV Schweiz 1999). Italiens und Spaniens Regionalstatute lassen sich von Verfassungstexten, Judikatur und Wissenschaft aus ganz Europa inspirieren. Auch das Gegenteil, das Verweigern von Rezeptionen, die Differenz, lässt sich oft kulturell erklären, weil die Unterschiede zwischen den Rechtssystemen und ihrer kulturellen Ambiance zu verschieden sind und „Importe“ nur bedingt empfohlen werden können154 (Vergleichen des Ungleichen, rechtskulturelle Vielfalt). Nicht nur im Felde der Verfassungs- und Rechtspolitik, auch bei der „bloßen“ Interpretation von geltendem (Verfassungs-)Recht erweist sich kulturwissenschaft­ liche Rechtsvergleichung als hilfreich. Nur sie vermag etwa zu erklären, warum gleichlautende Texte im Laufe der Zeit oder von Anfang an einer unterschiedlichen Interpretation zugänglich und bedürftig sind. Der Gleichheitssatz etwa wird in der Rechtskultur einer Schweiz immer auch andere Ergebnisse zeitigen als in der Bun-

154  Der rechtspolitische Vorschlag etwa, das richterliche Beratungsgeheimnis für Revisionsgerichte und das BVerfG nach Schweizer Vorbildern durch öffentliche Beratungen der Richter aufzugeben (so J. Scherer, Gerichtsöffentlichkeit als Medienöffentlichkeit, 1979, S. 155 ff.), findet seine Grenzen an der bundesdeutschen politischen bzw. Verfassungskultur: Sind bei uns nicht in mehrfacher Weise die Bürgeröffentlichkeit, die Medienöffentlichkeit und auch die Justiz selber erst noch auf jene Bahnen gewachsener kultureller Verfassungstraditionen zu bringen, die Bedingung für das Funktionieren öffentlicher Urteilsberatungen in der Schweiz sind? Zur Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung: P. Häberle, Die Wesensgehalt­ garantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 407 ff.

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4. Kap.: Verfassung

desrepublik Deutschland155. Ebenso können gleiche Institutionen in unterschied­ lichen Nationen ganz unterschiedliche Aufgaben haben156. So kann das kulturwissenschaftliche Denken in der (Verfassungs-)Rechtsvergleichung teils Unterschiede erklären und rechtfertigen157, teils zu Gemeinsamkeiten führen. Zugleich erweisen sich so die konkreten Verfassungen (z. B. Italiens, Spa­ niens, der Schweiz, Österreichs oder der Bundesrepublik Deutschland) als kultur­ bedingte Variationen des Grundtypus demokratischer Verfassungsstaat westlicher Prägung. Entsprechendes gilt für die panamerikanischen Verfassungsstaaten. Es ist durchaus kein Privileg gerade der vergleichenden Verfassungslehre, für den kulturwissenschaftlichen Ansatz besonders geeignet zu sein. Die Zivilrechtslehre kann nicht minder fruchtbar kulturwissenschaftliche Fragen aufgreifen und sie hat dabei, vor allem im Felde der Rechtsvergleichung, Tradition158. Auch im Strafrecht lassen sich kulturelle Hintergründe erarbeiten159. Indes scheint die Verfassungslehre 155  Zu dieser „kulturspezifischen Varianz“ vgl. meine Diskussionsbemerkungen in: C. Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 83 ff., 104 f. 156  Grundlegend A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 1956, S. 96. 157  Ist z. B. im Mitbestimmungsurteil des BVerfG (E 50, 290 ff.) nicht ein prinzipiell kooperatives Verhältnis von Arbeitnehmern (bzw. Betriebsrat und / oder Gewerkschaften) und Arbeitgebern eine vorrechtliche Grundbedingung, die ihrerseits Ausdruck einer spezifisch deutschen politischen (Arbeiter-)Kultur und -Tradition ist? 158  Die Rechtsvergleichung als Wissenschaft hat den kulturwissenschaftlich zu erschließenden Hintergrund des Rechts seit langem im Auge, ohne dass sie ihn jedoch genügend tief ausgeleuchtet und strukturiert hätte. Fast ein Klassikerzitat ist schon das Wort von J. Kohler, das Recht sei eine Kulturerscheinung, vgl. etwa Ernst Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung (1924), jetzt in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. III (1967), S. 4. Zum „Recht als Ganzem“, als Kulturerscheinung: H. Coing, Aufgaben der Rechtsvergleichung in unserer Zeit, JuS 1981, S. 601 (603). – Auch der Stil-Begriff der Rechtsvergleichung (z. B. M. Rheinstein, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (1979), S. 74; K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, Bd. I (1971), S. 73 (jetzt 3. Aufl. 1996, S. 62 ff.)), deutet auf kulturwissenschaftliches Denken. Vgl. auch B. Grossfeld, Kernfragen der Rechtsvergleichung, 1996, S. 10 f.: „Kultur und Ordnung“. 159  Die Strafrechtswissenschaft betont seit langem die Einbettung ihres Gegenstandes in die Kultur. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts (Graf Dohna, Die Rechtswidrigkeit als allgemein gültiges Merkmal im Tatbestand strafbarer Handlungen, 1905) bezieht sich die Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit im Gegensatz zur rein positivistisch-formellen Sicht auf „den ganzen Kulturzusammenhang“ des Rechts, „den gesamten Zusammenhang der Kultur, aus der das Recht erwächst und auf die es regelnd sich bezieht“, als „Grundlage“ der Gesetze (E. Mezger, Strafrecht, 3. unveränd. Aufl. 1949, S. 203 f.). Anstoß war u. a. M. E. Mayers Werk Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903. Die Beachtung des Spezifischen der jeweiligen Kultur wird ebenso gefordert in der Strafrechtsvergleichung bzw. der vergleichenden Kriminologie: E. Mezger / A. Schönke / H.-H. Jescheck, Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, 1955, S. 7; G. Kaiser, in: ders. / T. Vogler, Strafrecht, Strafrechtsvergleich, 1975, S. 79 ff., 87 ff., 88: „interkultureller Vergleich“; ders., in: H.-H. Jescheck, Deutsche strafrechtliche Landesreferate zum X. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung, 1978, S. 129 ff., 135 f.: „Rechtsnormen in einem gegebenen



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in besonderem Maße fähig und bedürftig, um die Dimension der Kulturwissenschaften bereichert zu werden, zielt sie doch auf das übergreifende Ganze einer Rechtsordnung160, gerade wenn man in die Welt und ihr Völkerrecht ausgreift. Als „Argument“ zur „Eingemeindung“ der Rechtsvergleichung in den Auslegungskanon des Typus Verfassungsstaat, zumal seiner Grundrechte, sind Hinweise auf das Schrifttum dienlich. Bekanntlich besitzt die Privatrechtswissenschaft in Sachen Rechtsvergleichung einen großen, nicht nur zeitlichen Vorsprung: in den Handwerks- wie in den Kunstregeln161. Zur Vergegenwärtigung dieses „Vorsprungs“ hier einige Stichworte, die zugleich helfen können, die Rechtsvergleichung entschlossen in den Interpretationskanon des Verfassungsstaates aufzunehmen: als längst fälliger Schritt von F. C. v. Savigny her zu dem in seine nationalen, regionalen und universalen Grund- und Menschenrechtstexte eingebetteten (und diese zugleich hervorbringenden) Typus Verfassungsstaat. (An-)Leitender Klassikertext sei, sozusagen vor die „Klammer“ aller engeren fachspezifischen Überlegungen gezogen, die schöne Wendung von G. Radbruch162, Rechtsvergleichung sei „Zu-Ende-Denken eines weltüberall Gedachten“, dem K. Zweigert163 als Herausgeber einen Hinweis auf seinen heute wohl ebenfalls klassischen Aufsatz „Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode“ hinzufügte. Der Verfassungsstaat ist auf dem Weg, als Typus bzw. in seinen Elementen „weltüberall gedacht“ zu sein bzw. zu werden, vor allem im Grundrechtsbereich. Darum ringen diese Studien um eine universale Verfassungslehre. Was liegt also näher, als bei der Auslegung der textlich ohnedies nie „vollkulturellen Zusammenhang“, „Besonderheiten … und kulturelle Gemeinsamkeiten“ ist von der „Verteidigung gemeinsamer Kulturinteressen im Wege des Strafrechts“ die Rede (H.-H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1988, S. 152; jetzt auch H.-H. Jescheck / Th. Weigend, ebenso, 5. Aufl. 1996, S. 170). Zum „Beitrag des Strafrechts zur Europäischen Rechtskultur“ gleichnamig G. Dannecker, JöR 52 (2004), S. 127 ff. 160  Der Verf. hat erstmals 1989 vorgeschlagen, die Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode nach den klassischen vier von F. C. von Savigny (1840) zu inthronisieren (Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff.); dazu auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, S. 122. 161  Dazu M. Morlok, Rechtsvergleichung auf dem Gebiet der politischen Parteien, in: D. Th. Tsatsos u. a. (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, 1990, S. 695 (707 ff. m. w. N.). – s. im Übrigen H. Roggemann, Von der innerdeutschen Rechtsvergleichung zur innerdeutschen Rechtsangleichung, JZ 1990, S. 363 ff., der u. a. die Idee des Verf. von der Rechtsvergleichung als „fünfter Auslegungsmethode“ aufgreift (ebd., S. 367). Zuletzt A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S.  10 f. 162  Einführung in die Rechtswissenschaft, 13. Aufl. 1980, S. 284. 163  Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949 / 50), S. 5 ff. Die vorbildhaften Werke europäischer Verfassungsvergleichung kommen aus Italien bzw. Frankreich: G. de Vergottini, Diritto Costituzionale Comparato, 7. Aufl. 2007, und C. Grewe / H. Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, 1995, sowie Spanien: M. Garcia-Pelayo, Derecho constitucional comparado, 7. Aufl. 1961 (1984); zuletzt P. Ridola, Diritto comparato e Diritto Costituzionale Europeo, 2010; A. A. Cervati, Per un studio comparativo del diritto costituzionale, 2009.

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4. Kap.: Verfassung

ständigen“ (meist fragmentarischen) Grundrechtsgarantien auf die Entwicklung der Grundrechtsideen in anderen Beispielsländern des kooperativen Verfassungsstaates zu schauen – seien diese schon zu Texten geronnen oder noch in Gestalt von Verfassungs­judikatur oder bloßer „Grundrechtspolitik“ präsent? Der (z. B. gemeineuropäische) Grundrechtsvergleich ist für den Verfassungsinterpreten so ein „Transportmittel“ seiner eigenen Auslegung, wobei das Vergleichen seinerseits andere Auslegungsmittel wie die historische, Wortlaut- und systematische Interpretation, selbst die teleologische je nach Problemlage mit integrieren kann (auch im Völkerrecht). Ein Blick auf die Schweizer Privatrechts- bzw. Methodenlehre ist förderlich. Sie nimmt Art. 1 Abs. 2 ZGB zu Hilfe: „Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht, und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“ Dieser Text „inspirierte“ einen A. Meier-Hayoz zu der schon klassischen Folgerung164 bzw. dem als Zwischenstation auf dem hier verfolgten Weg einzuordnenden Satz: „Da der Bundesgesetzgeber die komparative Methode anwendet, muss auch der Richter, welcher bei der Lückenfüllung ja nach Art. 1 Abs. 2 ZGB wie der Gesetzgeber voranzugehen hat, bei der Gesetzesergänzung die Rechtsvergleichung pflegen“. Erinnert sei an die Lehre vom Gesetzgeber als „Erstinterpreten“ des deutschen GG und des BVerfG als „Zweitinterpreten“. Freilich gibt es im Verfassungsrecht der offenen Gesellschaft keine „Letztinterpreten“. Als ähnlichen zu Rechtsvergleichung „anregenden“ positivrechtlichen Privatrechtstext darf man, E. A. Kramer folgend165, § 7 des österreichischen ABGB werten, der als letztes Mittel zur Lückenfüllung die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ nennt. Mag das „gemeindeutschsprachige“ Privatrecht sich an positiven Texten gleichsam als „Trägerrakete“ zum Wagnis des rechtsvergleichenden Flugs orientieren müssen und zu Recht zur Vorsicht mahnen166: Das Verfassungsrecht kann, wie schon 1985 vorgeschlagen, seinerseits den Gedanken von Art. 1 ZGB für sich aufgreifen167. Es darf, anknüpfend an die neueren Verfassungs- und EU-Texte, die europäische Gerichtspraxis zu „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ und methodologischen Äußerungen im Schrifttum, die Grundrechtsgehalte vergleichend erarbeiten und sie als zwar „ausländische“, aber dem Typus Verfassungsstaat immanente „Rechtsgedanken“ bewerten168. Die Rechtsvergleichung wird so in Sachen Grundrechte zu einer „normalen“, „natürlichen“ Auslegungsmethode; ihre „Universalität“ entspricht der 164  A. Meier-Hayoz, in: Berner Kommentar zum schweizerischen Zivilrecht, Art. 1 Rdnr. 368; s. auch B. Grossfeld, Macht und Ohnmacht der Rechtsvergleichung, 1984, S. 34. 165  E. A. Kramer, Topik und Rechtsvergleichung, RabelsZ 33 (1969), S. 1 (7). Von ihm zuletzt: Sentenzen zu Gesetz, Richter und Methode, FS H. P. Walter, 2005, S. 87 ff. – BVerfGE 125, 39 (83): Verfassung als „teleologisches Sinngebilde“. 166  Vgl. etwa B. Grossfeld, a. a. O., S.  35 f. 167  P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 (350 f.). 168  In Anlehnung an die Wendung von Kramer, Topik, a. a. O., S. 7: „rechtsvergleichend gewonnener Topoikatalog ausländischer Rechtsgedanken“.



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Universalität des Verfassungsstaates. Positivrechtlicher Abstützungen nach Art von Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien, 16 Abs. 2 Verf. Portugal, 4 Verf. Peru, 46 Verf. Guatemala, Art. 6 Abs. 3 EUV bzw. Art. 1 Abs. 2 ZGB, § 7 ABGB bedarf es nicht mehr, so hilfreich sie als Wegweiser bleiben. Zu erinnern ist auch an Art. 139 der Verfassung von Äquatorial Guinea169 sowie Art. 22 Verf. Kosovo (2008). Bemerkenswert lautet Art. 427 Verf. Ecuador von 2008: „Principios generales de la interpretación constitucional“. Dadurch darf sich die universale Verfassungslehre ermutigen lassen. Eine „Relativierung“, genauer Präzisierung, ist freilich notwendig: Im Rahmen der als juristische Text- und Kulturwissenschaft gepflegten Verfassungslehre sind bei allem Vergleichen die kulturellen Kontexte immer mitzubedenken. Die kulturell fassbare Individualität des einzelnen Verfassungsstaates darf nicht über das „Medium“ bzw. Vehikel der Verfassungs- bzw. Grundrechtsvergleichung interpretatorisch eingeebnet werden. Vielfalt drohte sonst zur Uniformität zu verarmen. Äußere Textähnlichkeiten dürfen nicht über Unterschiede, die sich aus dem kulturellen Kontext der Beispielsverfassungen ergeben, hinwegtäuschen. Auch müssen die via Rechtsvergleichung rezipierten (Grundrechts-)Gehalte in den „eigenen“ Kontext des aufnehmenden Verfassungsstaates umgedacht werden. Dies ist ein aktiver (Rezeptions-) Vorgang – so wie der herkömmliche Interpretationsprozess höchst produktiv ist170. Insgesamt ist die Erkenntnis Goethes wegleitend: Wer keine fremden Sprachen kennt, kenne nicht die eigene. Hier und heute: Wer keine fremden Verfassungen bzw. Rechtsordnungen kennt, kennt auch nicht seine eigene! Zu Recht verweisen einige neue afrikanische Verfassungen auf ausländisches Recht (z. B. Art. 39 Verf. Südafrika von 1996, Art. 11 Abs. 2c Verf. Malawi von 1994). Zuletzt eine Präzisierung: Wenn hier von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode gesprochen wird, so nur aus Gründen der damit möglichen Bezugnahme auf die vier klassischen Methoden. Damit ist nicht etwa eine Rangfolge angedeutet. Es gibt sie ja schon unter den klassischen Methoden nicht. Im Einzelfall kann es durchaus sein, dass die Rechtsvergleichung etwa in Verbindung mit der teleologischen Auslegung ganz im Vordergrund steht. Auch ist denkbar, dass die Rechtsvergleichung ein Aspekt bei allen anderen Auslegungsmethoden ist: Z. B. könnte die Entstehungsgeschichte in einem rechtskulturell benachbarten Land (vor allem in Europa oder im lateinamerikanischen „Rechtskreis“) ein zulässiges Argument sein. M. a. W.: Rechtsvergleichende Arbeit kann – muss – auf der Ebene des text­lichen Wortlautes, der Geschichte, der Systematik oder des Telos geleistet werden. Insofern hat die rechtsvergleichende Dimension „Annexcharakter“. Um der (auch pädagogischen) Durchschlagskraft willen sei aber an der Nummerierung als „fünfter“ Methode festgehalten, gerade in und für eine universale Verfassungslehre. 169  Vgl. hierzu P. Häberle, Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen – ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127 (132 f.). 170  Die Gefahren und Schwierigkeiten aus der „Kanonisierung“ der Vergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode seien nicht verkannt: Das Vergleichen darf nicht zu Beliebigkeiten des Interpreten führen, er muss die kulturelle Nähe beachten, auch die systematischen Zusammenhänge, in denen die Texte stehen. Dennoch sollte das Tor zur Welt der Rechtsvergleichung in der beschriebenen Weise geöffnet werden. Disziplinierende „Anwendungsregeln“ werden sich im Laufe der Zeit im typischen Verfahren ebenso herausbilden können wie sonst.

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4. Kap.: Verfassung Dritter Teil Inhaltliche Direktiven für das Zusammenspiel der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden und ihre Unverzichtbarkeit für die Verfassungsinterpretation I. Gerechtigkeit und Gemeinwohl

Die vier klassischen Auslegungsmethoden sind zwar über Jahrhunderte in anderen Rechtsgebieten als denen des heutigen Verfassungsrechts entwickelt worden, sie leisten aber seit der Entwicklung des Verfassungsstaates insbesondere mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit auch hier ihren Dienst. Vor allem das Privatrecht erweist sich einmal mehr als „ältere“ und in manchem „weisere“ Schwester des Öffentlichen Rechts. Freilich hat die Weimarer Zeit und hier vor allem R. Smend erarbeitet, dass „Verfassung“ nicht einfach bzw. technisch wie ein Gesetz auszulegen ist. M. a. W.: Die andere Sache, der besondere, wenn man will „große“ Gegenstand „verfassungsstaatliche Verfassung“ fordert hier eine angemessene „besondere“ Anwendung der Auslegungsmethoden. Der ganze Anspruch einer verfassungsstaatlichen Verfassung bzw. die vielerlei Arten ihres Verständnisses wirken sich auch auf die Methodenwahl aus. Gerade weil nicht feststeht, welche der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden wie zusammenspielen, bedarf es hinreichender Direktiven, auf die vor allem der Verfassungsrichter, ihm vorarbeitend aber auch die Wissenschaft, zurückgreifen können. Solche konstitutionellen Direktiven sind zum Teil älter als der heute völkerrechtsoffene Verfassungsstaat, von ihm bzw. in ihm heute aber mitgedacht, etwa die (soziale) Gerechtigkeit, wie sie sich schon in vielen Verfassungstexten ausdrücklich findet171. Ebenso das Gemeinwohl172 bzw. die Lehre von den Staatszwecken und Staatszielen173 (vgl. die Abschnitte Gemeinwohl und Staatsaufgaben: S. 459 ff.). Diese Begriffe sind vor allem auf dem Forum der Rechtsphilosophie erarbeitet worden und insofern wird ein intensiveres Gespräch zwischen ihr und der weltweit vergleichenden Verfassungslehre erforderlich. So wie der erfahrene Zivilrechtler sein durch Auslegung gewonnenes Ergebnis an der Gerechtigkeitsidee kontrolliert, so arbeitet auch der Verfassungsrichter ausdrücklich oder der Sache nach bei seiner Auslegung mit der Vergegenwärtigung von Gerechtigkeitsprinzipien. Nachweisbar fließen Gemeinwohlaspekte in die richterliche Praxis ein („Gemeinwohljudikatur“, ein Begriff aus dem Jahre 1970). 171  Dazu die älteren Nachweise in P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 1044 ff. 172  Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970 (2. Aufl. 2006). 173  Dazu U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 223 ff.; W. Hebeisen, Staatszwecke, Staatsziele, Staatsaufgaben, 1996; K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997; P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff.; J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR, Bd. III, 1988, § 57, S.  3 ff.; ders., Gemeinwohl im Verfassungsstaat, HStR, Bd. IV, 2006, § 71. Zum Ganzen noch unten S. 459 ff.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“309

Sind Gerechtigkeit und Gemeinwohl allgemeine Leitbegriffe, die potentiell stets und aktuell oft die Verfassungsauslegung mitsteuern, so gibt es Felder der geschriebenen Verfassung, die erst mit Hilfe allgemeiner oder besonderer Theorien, zum Teil auch sog. Klassikertexte „verstanden“ werden können. Zwei Beispiele seien herausgegriffen: die Grundrechte und der Föderalismus. II. Grundrechtsideen und Föderalismuskonzepte als Beispielfelder Die Grundrechtsdogmatik und Judikatur wird heute über Deutschland hinaus nach wie vor von der Statuslehre eines G. Jellinek geprägt. Mit seinem „status negativus“, „passivus“, „positivus“, „activus“ hat er Klassikertexte geschaffen, die Fundamente aller neueren Grundrechtstheorien sind bzw. bleiben dürften. Viele Auslegungsfragen in Sachen Grundrechte werden durch diese Schlüsselbegriffe angeleitet, wobei es nicht nur um formale „Einteilungen“ i. S. des Kästchendenkens geht. Unter dem GG wird seit Jahrzehnten über G. Jellinek hinaus höchst lebhaft um die „richtige“, „beste“, bescheidener gesagt „relativ richtige“ Grundrechtstheorie gestritten. Sie soll die einzelnen Fragen der Grundrechtsinterpretation mit steuern174. So wurde 1971 ein „status activus processualis“ vorgeschlagen bzw. eine leistungsstaatliche Grundrechtstheorie entwickelt175; so hat das BVerfG die Schutzpflichtentheorie entwickelt (seit BVerfGE 39, 1; 88, 203; 115, 25); so wird jüngst eine „gemeineuropäische Grundrechtstheorie“ gefordert. Diese Theorien wollen auf das Zusammenspiel der Auslegungsmethoden als Forum oder Horizont inhaltlich Einfluss nehmen und sie sind letztlich unentbehrlich. Ein Verfassungsgericht tut freilich gut daran, nicht stets „einer“ Theorie als der „allein richtigen“ zu folgen, sondern um eine pragmatische Integration von Theorieelementen zu ringen: das entspricht dem Geist der „Verfassung des Pluralismus“. Das auf Ausgleich und Kompromiss gerichtete Verfassungsverständnis legt der Verfassungsrechtsvergleichung solches nahe. Ein anderes Beispiel sei der Föderalismus. Auch hier wird seit langem um die „richtige“ Theorie gestritten, die dann Einzelfragen der Auslegung „meistern“ soll. Die in Raum und Zeit vergleichend betrachtete Entwicklung vieler Bundesstaaten kann mehrere Modelle benennen: den klassischen „seperative federalism“, den „kooperativen Föderalismus“, wie er in Deutschland in Art. 91a und b Gestalt geworden war, den „unitarischen Bundesstaat“ (K. Hesse), im Kontext der deutschen Einigung 174  Die Lit. ist unüberschaubar; grundlegend bleibt K. Hesse, Grundzüge, 1. Aufl. 1966, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999); s. auch K. Stern, Staatsrecht, Bd. III / 2, 1994; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1.  Aufl. 1962, 3. Aufl. 1983; als „Einteilung“ i. S. des „Kästchendenkens“ wirksam, aber unfruchtbar: E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 ff.; (als Studienbuch) gute Sekundärliteratur: B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte, 26. Auf. 2010; Handbuch-Literatur: P. Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in HStR, Bd. V, 1992; § 121, S. 739 ff.; J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, ebd., § 111, S. 143 ff.; als Lehrbuch: L. Michael / M. Morlok, Grundrecht, 3. Aufl. 2012. 175  P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat¸VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff.).

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4. Kap.: Verfassung

den „fiduziarischen Föderalismus“ (intensivierte Solidaritätspflichten von Bund und westdeutschen Ländern auf Zeit gegenüber den neuen Bundesländern). Jüngst wird vor allem von der Politik her stärker der marktähnliche Wettbewerbsföderalismus propagiert176. Vor allem bei offenen Auslegungsfragen bedarf es des Rückgriffs auf Aspekte der einen oder anderen Föderalismustheorie, die in Deutschland bekanntlich R. Smend schon 1916, heute europaweit wirksam, mit seinem Begriff der „Bundestreue“ befruchtet hat; akut: Finanzausgleich, Steuerwettbewerb. M. E. ist keine Theorie absolut richtig. Heute liegt ein „gemischtes Bundesstaatsverständnis“ nahe, jedenfalls für Deutschland177. Die Akzente wechseln im Laufe der Zeit: Bald ist das Kompetitive, bald das Solidarische stärker zu betonen, man denke auch an das Ja und Nein zum Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in Sachen Wissenschaft und Forschung (Frühjahr 2012). III. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess – ein Pluralismuskonzept 1. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess oder Öffentlichkeitsaktualisierung – dieses Programm verknüpft Verfassung und Verfassungsinterpretation mit „Öffentlichkeit“ schon im Ansatz178. Eine derartige Sicht der Verfassungsinterpretation ist dabei nicht Ergebnis theoretischer Willkür und persönlicher Beliebigkeit; sie ist vielmehr „angeregt“ durch die bisherige Praxis der Verfassungsinterpretation zum Grundgesetz, insbesondere in Bezug auf erkennbar öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogene Begriffe179, z. B. Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit von Bundesregierung (und Bundestag!)180, die neuere Diskussion um Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt bzw. Parlamentsvorbehalt (Publizität). Verfassungsinterpretation bedarf theoretisch der Erweiterung und Vertiefung um die Dimension des Öffentlichen, weil ihr Gegenstand die Verfassung der res publica ist und weil die an ihren Vorgängen 176  Aus der allgemeinen Lit.: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), S. 96 ff.; J. Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), S.  248 ff.; P. Häberle, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 ff.; S. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997; H. P. Bull, Finanzausgleich im „Wettbewerbsstaat“, DÖV 1999, S.  269 ff. Weitere Lit.: M. Haag, Die Aufteilung steuerlicher Befugnisse im Bundesstaat, 2011. Zuletzt I. Härtel (Hrsg.), Handbuch des Föderalismus, Bd. I, 2012. 177  Dazu P. Häberle, erstmals in VVDStRL 46 (1988), S. 146  ff.; L. Michael, Abweichungsgesetzgebung als experimentelles Element in der gemischten Bundesstaatslehre, JöR 59 (2011), S. 321 (323). 178  Dazu mein Beitrag: Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. („Verfassung als öffentlicher Prozeß“). Zum Folgenden schon P. Häberle, Verfassungslehre, a. a. O., S.  117 ff. 179  Nachw. in: P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, passim, bes. S. 274 ff., 349 ff., 708 ff. (2. Aufl. 2006). 180  Gerade auch in Bezug auf die Öffentlichkeitsarbeit „für“ die Verfassung (BVerfGE 44, 125 (147); 105, 252 (269 f.). Aus der Lit.: F. Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, 1992.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“311

personal Beteiligten öffentliche Kräfte, „Akteure“ und „Faktoren“ sind181: der bunte Bogen der in manchen Verfassungen schon zum Text geronnenen „Zivilgesellschaft“. 2. Ein Wort zu Struktur und Funktion der Öffentlichkeit. Verwiesen sei auf die Grundsatzarbeiten von Rudolf Smend und Konrad Hesse182. Die Verfassung steht schon dem GG-Text nach in vielfältigen Öffentlichkeitsbezügen: z. B. Art. 42, 21 Abs. 1 S. 3 und 4, 79 Abs. 1 S. 1 GG. Zu erwähnen ist die Demokratiekomponente der Grundrechte, insbesondere die öffentliche Seite der Pressefreiheit183. Idealiter geht es um pluralistische Öffentlichkeit, eine Öffentlichkeit, die aus der Vielfalt von Ideen und Interessen lebt: i. S. der „republikanischen Bereichstrias“. Die Öffentlichkeitskristallisationen, d. h. Anhaltspunkte für pluralismus- und „öffentlichkeitsbewusste“ Verfassungsinterpretation sind komplex; sie können nicht abschließend systematisiert werden, auch nicht die Medien oder „Vermittler“, d. h. Beteiligten an – öffentlicher – Verfassungsinterpretation184. Besonders seien genannt: das Verständnis und Selbstverständnis gesellschaftlicher Gruppierungen wie politischer Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbände, der Presse und anderer Medien; sonstige „Objektivationen“ der öffentlichen Meinung wie Parteiprogramme, Regierungserklärungen oder Festreden, aber auch Bürgerproteste, künstlerische und wissenschaftliche Äußerungen als Ausdruck der „Zivilgesellschaft“. Den theoretischen Hintergrund für Verfassungsinterpretation als pluralistisch-öffentlichen Prozess bildet die gleichermaßen demokratische wie grundrechtliche Fundierung des freiheitlichen Gemeinwesens. Sie lässt sich als „Bürgerdemokratie“ umschreiben und ist als solche eine Absage an „volks-demokratische“ Konzeptionen jeder Art185. Ausdruck und Folge des öffentlichen Prozesscharakters der Verfassungsinterpetation lassen sich an Beispielen verdeutlichen: 181  P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S.  297 ff.; ders., Formen und Grenzen normierender Kraft der Öffentlichkeit in gemeinwohlhaltigen Fragen der Praxis, in: T. Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 ff. – Das Konzept des Verf. wird in Italien z. B. diskutiert von L. Mengoni, Ermeneutica e dogmatica giuridica, 1996, S. 124, vor allem aber in Brasilien, dazu die Nachweise oben S. 290. 182  R. Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit, in: Gedächtnisschrift für W. Jellinek, 1955, S. 11 ff.; K. Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, VVDStRL 17 (1959), S. 11 (39 ff.). Daran anknüpfend mein Beitrag: Struktur und Funktion der Öffentlichkeit im demokratischen Staat, in: Politische Bildung, 1970, H. 3, S. 3 ff. (wiederabgedruckt in: Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 126 ff.). Den öffentlichen Status des Abgeordneten erarbeitet das BVerfG zu Recht auch unter Hinweis auf Art. 42 Abs. 1 GG: E 70, 324 (355). Vgl. zuletzt E 76, 256; 102, 204; 130, 318 (352 f.). 183  Dazu D. Czajka, Pressefreiheit und „öffentliche“ Aufgabe der Presse, 1968. 184  Dazu und zum Folgenden P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff.; in diesem Band S. 263 ff. 185  Dazu mein Aufsatz: Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteienund Bürgerdemokratie, JZ 1977, S. 361 ff. – Zur Relevanz bürgerdemokratischer Konzeptionen für ein vereintes Europa s. den Tindemans-Bericht v. 29. Dez. 1975 über die Europäische Union, Bulletin EG Beil. 1 / 76, S. 29 ff.: „Das Europa der Bürger“, später Art. A Abs. 2 „Maastricht“: „bürgernah“, jetzt ebenso Präambel EUV

312

4. Kap.: Verfassung

a) In verfahrensmäßiger Hinsicht: – an der Praxis zum BVerfGG, in der das BVerfG pluralistisch eine Art öffentlicher Hearings schon bisher bei mehr oder weniger „großen“ Prozessen seinen Entscheidungen vorgeschaltet hat186, – oder in der Einrichtung von und Praxis zu Sondervoten im BVerfG (ebenso in Verfassungsstaaten wie Spanien, Albanien und Lettland, Russland, Südafrika, Brasilien und Thailand). b) In materiellrechtlicher Perspektive seien genannt: – Abwägungsvorgänge bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Grundrechte187, – die Auslegung betont öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogener Begriffe wie „öffentliche Aufgabe“ der Presse und Pressefreiheit188, – der Durch- bzw. Rückgriff auf öffentlich vorgebrachte Wertungen bestimmter Gruppen, Fachkreise usw., aber auch des Gesetzgebers, – die Umschreibung des Wandels verfassungsrechtlicher Begriffe, – der (zulässige) Blick auf die Folgen einer bestimmten Verfassungsinterpreta­ tion189. 3.  Ein Verständnis der Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess hat aber auch Grenzen und birgt Gefahren. Sie liegen in der denkbaren zu starken Dynamisierung des sogenannten „geschriebenen“ Verfassungsrechts – das freilich weit mehr von 2007. Zuvor die Wiener Staatsrechtslehrertagung mit dem großen Thema „Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat“, VVDStRL 55 (1996), vgl. besonders W. Berka, ebd., S. 48 ff. 186  Dazu mein Beitrag in JZ 1976, S. 377 (382 f.); Beispiele hierfür: BVerfGE 40, 296 (299 ff.); 42, 133 (136 f.); 43, 34 (40 f.), 79 (85 ff.), 213 (220 ff.). Zuletzt E 83, 238 (285 ff.); 92, 365 (389 ff.); s. auch die „Umfrage“ in E 91, 1 (22 ff.). Eine Anwendung des § 27 a BVerfGG z. B. in E 129, 124 (161 ff.), 300 (316). 187  Zu Beispielen des Verf.: „Gemeinwohljudikatur“ und Bundesverfassungsgericht, AöR 95 (1970), S. 86 (96 ff., 112 ff.); ders., Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 351 ff.; fortgeschrieben in ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 308  ff. Zuletzt findet sich „Gemeinwohljudikatur“ in BVerfGE 88, 103 (114 f.); 89, 48 (66), 69 (84); 90, 263 (271); 91, 186 (207), 294 (308), 335 (340); 113, 167 (215, 218 f.); 114, 196 (248), 258 (301 f.); 115, 1 (17); 116, 96 (125 ff.), 202 (223 ff.); 117, 163 (182), 272 (294, 296); 118, 168 (195 ff.); 120, 82 (113); 121, 317 (350, 356 f.); 122, 248 (273); 124, 78 (123 f.); 125, 260 (316); 126, 112 (140), 331, 360; 130, 372 (391). 188  Zu Beispielen des Verf. s. ebenfalls: „Gemeinwohljudikatur“ und Bundesverfassungsgericht, in: AöR 95 (1970), S. 260 (287 ff.), fortgeschrieben in: Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl. 2006, S. 774 ff. 189  Dabei geht es um folgenorientierte Interpretation wie auch, bei komplexen, d. h. besonders bei leistungsstaatlichen Erscheinungen, um dogmatikgesteuerte, funktions- und kompetenzgerechte Beschränkung der Folgenberücksichtigung. – Vgl. allgemein meine Schrift Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, z. B. S. 711 (2. Aufl. 2006).



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“313

ungeschrieben ist als gemeinhin gesehen wird, insofern Verfassungsauslegung prinzipiell im Spannungsfeld von (verfassungsrechtlichem) Grundsatz und („unterverfassungsrechtlicher“) Norm geschieht. Gewiss ist die Verfassung nicht nur Prozess, sie hat wesentliche Momente der Konstanz, ist vor allem – funktionell-rechtliche – Grundordnung190 und „konstituiert“. Verfassungsinterpretation darf nicht in den Sog von tagespolitischen Augenblickstimmungen, Pressionen einer „formierten“, „verordneten“ (statt pluralistischen!) Öffentlichkeit, sie darf nicht unter die „Herrschaft der Verbände“ (T. Eschenburg) geraten. Ihr Zurechnungspunkt ist die Bürgerdemokratie aller191. Zur Abwendung der Gefahren bedarf es einerseits der „feinen“ Instrumente rationaler und pluralistischer Verfassungsinterpretation und ihrer herkömmlichen Methoden, andererseits der pluralistischen Strukturierung und Organisation der Öffentlichkeit. All dies gehört in das Kraftfeld des universalen Konstitutionalismus, im Kontext auch des Völkerrechts: „e consensu gentium“. 4. Zusammenfassend sei festgehalten: „Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozess“ – das ist zum Teil Programm, zum Teil aber schon die heutige Wirklichkeit der Verfassungsinterpreten einer offenen Gesellschaft mit oder ohne Verfassungsgerichtsbarkeit. Dieses normativ-prozedurale, pluralistische Verständnis von Verfassungsinterpretation lässt den herkömmlichen Interpretationsmethoden ihr relatives Recht192, ergänzt aber ihr ohnehin reiches, ständig verfeinertes Spektrum und Instrumentarium um die öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogene, pluralismusorientierte Auslegung. Sie fordert für die Zukunft einen weiteren Ausbau der Pluralismusgesetze, eine noch bewusstere Pluralismusrechtsprechung und eine bürgerdemokratische Aktivierung (z. B. in Gestalt des status activus processualis im Verhältnis Bürger / Öffentliche Verwaltung). Die Aktualisierung der Verfassung durch gelebte Freiheit ihrer Bürger und die normierende Kraft der Öffentlichkeit im gekennzeichneten Sinn verlangt viel von uns. Der Jurist kann als Verfassungsinterpret (im engeren und weiteren Sinne) einiges dazu tun, um das Gemeinwesen verfasst und dadurch den Bürger in Freiheit zu halten. Letztlich aber muss sich der Bürger selbst engagieren, um (sich) verfasste Freiheit in Staat und Gesellschaft zu sichern. Das ist seine (unverzichtbare) Verfassungsinterpretation in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten – auch im Ganzen Europas!

190  W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945; dazu F. Renner, Der Verfassungsbegriff im staatsrechtlichen Denken der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, 1968, S. 488 ff. 191  Zu diesem Konzept: P. Häberle, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie, JZ 1977, S. 361 ff. 192  Dazu mein Beitrag in: R. Dreier / F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 (305 ff.). – Zu den vier Auslegungsmethoden jetzt präzise: N. Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 1996, S. 104 ff.; s. auch BVerfGE 128, 193 (210: „anerkannte Methoden der Gesetzesauslegung“).

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4. Kap.: Verfassung Vierter Teil Prinzipien der Verfassungsinterpretation und ihre Grenzen Vorbemerkung

Als letzter Problembereich im „al fresco“ gemalten Bild einer verfassungsstaatlichen Verfassung und ihrer interpretatorischen Ausgestaltung seien die „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ angedeutet. Sie unterscheiden sich von den „Methoden“ als interpretatorischen Zugangswegen zu den Inhalten der Verfassung dadurch, dass sie selbst Inhalte darstellen, wenn auch mitunter mit formellen Seiten. Ihr Zusammenhang mit den „Methoden“ bleibt, gleichwohl sind sie von diesen zu unterscheiden. Im Ganzen zeigt sich indes schon hier, wie stark Inhalte, Methoden und Prinzipien beim „Geschäft“ der Verfassungsauslegung zusammenspielen. I. „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ Diese sind, erstmals in Deutschland auf einer Staatsrechtslehrertagung 1961 entwickelt193, fast zu einem Kanon geworden194, und sie werden auch in einer künftigen völkerrechtsnahen universalen Verfassungslehre ihren Platz haben: –– Das Prinzip der Einheit der Verfassung195; gemeint ist eine ganzheitliche Sicht der einzelnen Verfassungsprinzipien (aus der Judikatur des BVerfG, z. B. E 1, 14 (32); 30, 1 (19); 49, 24 (56)): So ist das GG z. B. Rechtsstaat und Sozialstaat, so sind Grundrechts- und Kompetenznormen zusammenzusehen („positives Kompetenzverständnis“); freilich ist dieses Prinzip im Europa der Teilverfassungen zu modifizieren. –– Das Prinzip „praktischer Konkordanz“ (K. Hesse)196 oder des nach beiden Seiten „schonendsten Ausgleichs“ (P. Lerche); das GG muss im Konfliktfall z. B. zwischen Grundrechten und der Funktionsfähigkeit von Sonderstatusverhältnissen (wie der Bundeswehr, der Strafhaft oder dem Berufsbeamtentum) beiden Verfassungswerten optimale Geltung verschaffen, beiden Gütern müssen Grenzen gezogen werden; dies lässt sich auch für andere Verfassungsstaaten entfalten. –– Das Prinzip der verfassungskonformen Auslegung; danach ist ein Gesetz nicht für nichtig zu erklären, wenn es im Einklang mit dem GG ausgelegt werden kann (BVerfGE 2, 266 (282), st. Rspr., zuletzt E 90, 263 (274 f.) sowie E 93, 37 (81)197 und E 101, 361 (387 f.); 118, 212 (234); zur „unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts“: E 129, 78 (99)), ein Stück Europäisierung. 193  Referate

53 ff.

von P. Schneider und H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 1 ff. bzw.

194  Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), S. 19 ff.; R. Dreier / F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976. 195  Aus der Lit.: P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 24 f. 196  Zuletzt BVerfGE 129, 78 (102); 128, 1 (41). 197  Hierzu und zu den Unterschieden der „verfassungsorientierten“ Auslegung vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 1996 zu Art. 1 III Rz. 61 m. w. N.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“315

–– M. E. ist auch der Gedanke der Europarechtsfreundlichkeit (BVerfGE 123, 267 (347); 129, 124 (172)) bzw. Völkerrechtsfreundlichkeit (BVerfGE 6, 309 (362); 31, 58 (75); 112, 1 (24 ff.); 127, 267 (344); 128, 326 (371)) i. S. des kooperativen Verfassungsstaates als Prinzip der Verfassungsinterpretation zu „kanonisieren“; hierher gehört das Postulat der menschenrechtsfreundlichen Auslegung des GG198; Entsprechungen gibt es im lateinamerikanischen Konstitutionalismus; BVerfGE 128, 282 (306 f.) zieht die UN-Behindertenkonvention von 2006 als „Auslegungshilfe“ heran. –– Schließlich ist aus meiner Sicht die Verfassungsvergleichung, in Sonderheit auf dem Felde der Grundrechte, ein Prinzip der Verfassungsinterpretation bzw. die „fünfte“ Auslegungsmethode, wie schon erwähnt; zwei Verfassungen in Südafrika kommen dem schon sehr nahe199. Als spezieller Anwendungsfall ist das Prinzip „gemeineuropäischer“ oder vielleicht auch „gemeiniberoamerikanischer Hermeneutik“ zu nennen. Vergleichend arbeitet BVerfGE 128, 109 (113 ff.). II. Prinzipien zu den Grenzen der Verfassungsinterpretation Sie seien zuletzt behandelt. Benannt sind sie zum einen als Maßstab „funktioneller Richtigkeit“200. Es geht besonders um die Grenzen im Verhältnis zum demokratischen Gesetzgeber sowie im Verhältnis zu den übrigen Gerichtsbarkeiten, das BVerfG spricht leider von sog. „Fachgerichten“ (z. B. E 94, 1; zuletzt E 122, 89 (107), 248 (257 f.); 128, 193 (210 f.); 129, 37 (46, 48), 75 (103); 130, 1 (31)), was die anderen Gerichte m. E. ungebührlich abwertet: auch sie sind in einem tiefen Sinne Verfassungsgerichte, weil an die Verfassung gebunden und sogar an ihrer interpretatorischen Weiterentwicklung beteiligt. Zum anderen gibt es Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Gestalt der sog. gesetzeskonformen Auslegung der Verfassung201. Wenn das BVerfG ein Gesetz am Maßstab der Verfassung überprüft, dann legt es auch das Gesetz aus. Es kommt zu einer Wechselwirkung zwischen Verfassungs- und Gesetzesinterpretation. Sie misst sich an der (wegen Europa zu relativierenden) „Einheit der Verfassung“. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass der einfache Gesetzgeber viel zur Konkretisierung der Verfassung „von unten her“ leistet, ohne dass dieses hierarchische Bild wörtlich genommen werden darf. Alle Verfassungsorgane und Rechtsprechungskörper leisten Teilbeiträge zur Verfassungskonkretisierung, vor allem in der Zeitachse als Ver­ fassungsentwicklung zu sehen202. So wirkt z. B. das sich wandelnde Privatrecht mittelfristig auf das Bild zurück, das sich die Verfassung vom „Privatrecht“ macht – unbeschadet allen „Vorrangs der Verfassung“. Hier hat das Stichwort von den „Propria“, den spezifischen Strukturen der Teilrechtsgebiete wie des Privatrechts seinen Platz; Gleiches gilt für das Strafrecht. 198  Dazu aus der Lit.: K.-P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung, AöR 114 (1989), S. 391 ff. 199  Nachweise im Einzelnen in meinem Buch: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., 1998, S. 1052 f. bzw. hier S. 307, 319. 200  Dazu K. Hesse, a. a. O., S.  28. 201  Dazu K. Hesse, a. a. O., S.  30 ff. 202  Vgl. B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982.

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4. Kap.: Verfassung III. Insbesondere: Der Vorrang der Verfassung und die Grenzen des Verfassungsrechts dank der eigenständigen Strukturen der anderen Rechtsgebiete

Der „Vorrang der Verfassung“203, die Lehre von der Verfassung als höchster Rechtsordnung (vgl. Art. 8 Abs. 2 Verf. Ukraine: „The Constitution has the highest legal force“, ähnlich Art. 2 Verf. Südafrika von 1996: „supreme law“, ebenso Art. 9 Verf. Äthiopien von 1994, später Art. 16 Verf. Kosovo von 2008), abgesehen vielleicht von Vorgaben des Naturrechts (in Deutschland aktuell unmittelbar nach 1945), könnten dazu verleiten, die spezifischen Grenzen des Verfassungsrechts zu vergessen. Sie ergeben sich zunächst einmal innerverfassungsstaatlich aus der Koexistenz mit anderen Rechtsgebieten wie dem Zivil- und Strafrecht. Gerade der Verfassungsrichter sollte daran immer wieder denken. In Deutschland wird das Problem sichtbar in der Frage der Grenzen zwischen BVerfG und den sog. „Fachgerichten“. Das BVerfG soll darum Entscheidungen nur nach der Seite der Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“ hin überprüfen (vgl. BVerfGE 45, 63 (74); 79, 365 (367))204. Auch wird gerne von „funktionellrechtlichen Grenzen der Verfassungsinterpretation“ gesprochen205. Das Zivilrecht und das Strafrecht haben eigenwüchsige Strukturen und Konturen – ein „Proprium“. Sie sind zwar verfassungsgebunden, in den Grenzen des GG aber autonom. Diese Propria haben sich im Privatrecht seit den großen Leistungen der römischen Rechtskultur entwickelt. Das Verfassungsrecht sollte sie nicht von oben oder außen her einebnen wollen. Die Juristenkunst des Privatrechts ist alt, das Verfassungsrecht relativ jung und neu. Rechtswahrheiten und Rechtsweisheiten, wie sie in der Lehre von der „condictio“ und z. B. ihrem Satz „in pari turpitudine melior est causa possidentis“ (§ 817 BGB) zum Ausdruck kommen, bestehen fort, nicht im Sinne von „Verfassungsrecht vergeht, Zivilrecht besteht“, um ein von O. Mayer für das Verwaltungsrecht geprägtes Wort abzuwandeln. Wohl aber hat der Verfassungsjurist allen Grund, die „feinen Gewebe“ zivilrechtlicher Juristenkunst zu respektieren. Gewiss, die Privatautonomie206 (vgl. BVerfGE 103, 89 (100); 114, 1 (33)) ist auch ein Prinzip des Verfassungsrechts, ihre kunstvolle Balance der verschiedenen Interessen aber ist tunlichst zu bewahren – dies freilich in Grenzen. So ist etwa dem BVerfG-Judikat in Sachen Bürgschaft beizupflichten (E 89, 214). Auch greift die „Drittwirkung der Grundrechte“ notwendig in Privatrechtsstrukturen ein (seit 203  Aus der Lit.: R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S.  485 ff. 204  Aus der Lit.: R. Zippelius / T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, S. 523. 205  Aus der Lit.: K. Hesse, a. a. O., S. 28, 31, 242; G. F. Schuppert, Funktionellrechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980; P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S. 822. 206  Dazu K. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988; P. Lerche, Grundrechtseinwirkungen im Privatrecht, Einheit der Rechtsordnung und materielle Verfassung, FS Odersky, 1996, S. 215 ff. Allgemein: C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999. – Zum „Beitrag des Zivilrechts zur europäischen Rechtskultur“ gleichnamig E. A. Kramer, JöR 52 (2004), S. 121 ff.



III. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“317

BVerfGE 7, 198 (208 f.) – Lüth-Urteil; zuletzt E 62, 230 (244 f.); E 82, 126; E 89, 1; E 92, 196 und E 95, 28, s. auch E 129, 78 (102)). Ein Wort zum Strafrecht. Es ist besonders stark vom tendenziell universalen Rechtsstaatsprinzip der Verfassung her „dirigiert“. Das deutsche BVerfG hat auch hier viel geleistet, etwa in Sachen Schuld207 (vgl. BVerfGE 20, 323; 91, 1 (31 f.); 95, 96 (140); 120, 224 (253 f.); 128, 326 (376)) und „faires Verfahren“ (E 46, 202; 52, 131; 89, 120 (129))208. Wo der GG-Text explizit keine Aussagen trifft, etwa zugunsten der Unschuldsvermutung, kann mit Hilfe der EMRK (Art. 6 Abs. 2) gearbeitet werden (vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (114); zuletzt E 128, 326 (360 f.)), oder aber man beruft sich gleich auf das Rechtsstaatsprinzip (BVerfGE 82, S. 114 f.). Im Übrigen aber bleibt das einfache Strafrecht der Anwendung durch die ordentlichen Strafgerichte überlassen. Einige Arbeitsfelder großer BVerfG-Entscheidungen zum Strafrecht seien erwähnt (etwa zur Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege als verfassungsrechtlichem Schutzgut: E 33, 367; 51, 324; 130, 1 (26)). Weltweit entwickeln sich Grundrechtsgarantien gerade im Strafrecht intensiv weiter (Beispiele finden sich in Südafrika, im Kosovo, aber auch in Lateinamerika). Ausblick und Schluss Ein Wort zum „europäischen Spanien“209, auch zur Bekräftigung des stetigen Blicks in andere europäische Verfassungen. Spanien kann auf seine bald 35-jährige Erfolgsgeschichte210 als Verfassungsstaat stolz sein, ebenso wie zuvor auf seine unblutige Phase der „transición“ der mittelbaren Nach-Franco-Zeit. Die politischen Parteien, die Gewerkschaften, das Königshaus, die Kirchen, die politische und wissenschaftliche Öffentlichkeit: Sie alle haben sich im Prozess der Verfassunggebung vor 1978 als wahrlich verfassungsgestaltende Faktoren bewiesen und eine „offene Gesellschaft der Verfassunggeber“ sichtbar werden lassen. Von 1978 an wurden sie zur „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, durchaus dort weiterhin von verfassunggebenden Momenten, wie sie die Verfassung von 1978 nicht nur auslegen, sondern schöpferisch fortentwickeln, etwa im konstitutionellen RegionalismusRecht211, bei der Entfaltung der normativen Kraft der Grundrechtskategorien, in der spannungsreichen Balance zwischen ganz Spanien und den 17 Autonomen Gebietskörperschaften und in seinem kreativen Beitrag zur Einigung Europas (besonders greifbar in Gestalt von F. Gonzales). Spannungen seien nicht übersehen, etwa im Verhältnis zu Katalonien212 und dem Baskenland213. (Das sei in diesem Festvortrag in Salamanca gesagt.) 207  Dazu: H. A. Wolff, Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ als Verfassungsrechtssatz, AöR 124 (1999), S. 55 ff.; BVerfGE 130, 326 (376). 208  Vgl. jetzt Art. 32 Verf. Serbien von 2006: „Rights to a fair trial.“ Wieder einmal zeigt sich die aktive Rezeption in Textstufenprozessen. 209  Dazu M. Azpitarte, Das europäische Spanien, JöR 56 (2008), S. 479 ff. 210  Aus der Lit.: P. Cruz Villalón, Weitere zehn Jahre spanische Verfassung, JöR 48 (2000), S. 311 ff. 211  Aus der Lit.: F. Balaguer Callejón, JöR 47 (1999), S. 109 ff., im Blick auf Andalusien.

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4. Kap.: Verfassung

Spanien ist wahrhaft „nach Europa“ zurückgekehrt. Einerseits rezipiert es, was den kooperativen Verfassungsstaat angeht, Texte, Theorien und Judikate der „alten“ europäischen Verfassungsstaaten, es ringt um das richtige Verständnis von Klassikern wie I. Kant oder R. Smend und H. Heller. Es rezipiert aber nicht nur. Es leistet seinerseits Beiträge zur Entwicklung des europäischen Verfassungsstaates. So beweist sich das Verfassungsgericht in Madrid längst als „europäisches Verfassungsgericht“, z. B. indem es die EMRK-Grundrechte respektiert, ja vitalisiert. Die spanische Staatsrechtslehre ist in all diesen Rezeptions- und Produktionsprozessen ein Teil der Europäischen Rechtswissenschaft (sogar mit Brückenfunktion nach Lateinamerika). Diese wird vom Leitbild der „europäischen Juristen“ der nächsten Generation leben.

IV. Die Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode und als Kulturvergleichung – eine Reprise Wie immer man über die Reihenfolge der herkömmlichen Auslegungsmethoden denken mag: im Verfassungsstaat unserer Entwicklungsstufe wird die Grundrechtsvergleichung zur unverzichtbaren – „fünften“ – Auslegungsmethode. Bekanntlich normiert das GG keine Auslegungsregeln. Doch ist zu erwägen, ob § 1 ZGB der Schweiz von 1911, die große Leistung von Eugen Huber (z. T. im Geiste von Aristoteles), in der Sache sich nicht auf die Verfassungs- bzw. Grundrechtsinterpretation übertragen lässt214. Gleiches gilt für die bereits zitierten Interpretationsregeln in den Verfassungen von Südafrika, KwaZulu Natal und Malaŵi, aber auch in Serbien und im Kosovo. 212

213

Jedenfalls sollte die Rechtsvergleichung entschieden und offen in die Grundrechtsauslegung eingebaut werden. Das deutsche BVerfG arbeitet vereinzelt durchaus in dieser Richtung215. Zwei Gründe ermutigen zu dieser Forderung: zum einen die Lehre und Praxis des EuGH in Luxemburg zu den in „wertender Rechtsvergleichung“ gewonnenen Grundrechten als „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“216; zum anderen gibt es einige neuere Verfassungen, die bei bzw. in ihren Grundrechtsgarantien schon ausdrücklich auf große Grundrechtstexte verweisen. Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien lautet: „Die 212  Dazu H. P. López Bofill, Das Statut von Katalonien vor dem spanischen Verfassungsgericht, JöR 60 (2012), S. 533 ff. – P. Häberle, Juristische Kultur in Katalonien, JöR 56 (2008), S. 503 ff. 213  Dazu X. Arzoz, Verfassungsentwicklung im Baskenland (2000–2009), JöR 59 (2011), S.  603 ff. 214  § 1 ZGB lautet: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“ 215  Nachweise in P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 408 f. 216  Dazu A. Bleckmann, Europarecht, 4. Aufl., 1985, S. 104 ff.



IV. Die Rechtsvergleichung319

Normen, die sich auf die in der Verfassung anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten beziehen, sind in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den von Spanien ratifizierten internationalen Verträgen und Abkommen über diese Materien auszulegen.“217 Wenn in der Schweiz die EMRK dank Verfassungsinterpretation(!) Verfassungsrang hat218, so ist dies ein Zeichen der Integration von Verfassungsstaat und Menschenrechten; sie ist Element einer universalen Verfassungslehre. Was in diesen Texten ausdrücklich angeordnet wird, darf allgemeine Geltung beanspruchen: In der „Internationale des Verfassungsstaates“, in der „Familie“ der Verfassungsstaaten hat der Grundrechtsinterpret immer auch die universalen und regionalen Menschenrechtstexte „mitzudenken“. Die Öffnung der Grundrechtsinhalte und -dimensionen „nach außen“ liegt in der Konsequenz der Entwicklung zum „kooperativen Verfassungsstaat“. Es entsteht eine „Grundrechtsinterpretengemeinschaft“. Oder: Die offene Gesellschaft der Grundrechtsinterpreten wird international, differenziert auch nach regionalen Menschenrechtspakten (z. B. der EMRK und der EU oder der AMRK) und kultureller Zusammengehörigkeit, etwa im europäischen oder lateinamerikanischen, auch afrikanischen Raum. Der universale Anspruch der UN wirkt auch in Sachen Menschenrechte (Allgemeine Erklärung von 1948, Pakte von 1966 als Teilverfassungen). Die jüngste Ausrichtung öst­ licher bzw. ehemals sozialistischer Staaten an den Grundrechtsgarantien des Typus kooperativer Verfassungsstaat ermutigt (man denke an die neue oder alte öffentliche Vereinsfreiheit in Polen und Ungarn, andere wieder erstarkende politische Grundrechte von der Demonstrationsfreiheit bis zu Vorformen von „realen“, d. h. Alternativen kennenden Wahlrechten). Die „Kanonisierung“ der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode, jedenfalls im Verfassungsrecht des Typus „Verfassungsstaat“, wäre in der Geschichte der juristischen Auslegungslehren m. E. nur konsequent. Sie wagt sich in machen Textstufen bereits hervor: vgl. Art. 39 Abs. 1 (c) Verf. Südafrika von 1996: „may consider foreign law“, ähnlich Art. 11 Abs. 2 e Verf. Malaŵi von 1994: „comparable foreign case law“. Im „System“ F. C. Savignys als Begründer der „historischen Rechtsschule“ musste naturgemäß die historische Auslegung einen vorderen Platz einnehmen. Im Rahmen einer 217  s. auch Art. 16 Abs. 2 Verf. Portugal; ferner Präambel KV Jura (1977), zit. nach JöR 34 (1985), S. 425 ff.: „Le peuple jurassien s’inspire de la Déclaration des droits de l’homme de 1789, de la Déclaration universelle des Nations unies proclamée en 1948 et de la Convention européenne des droits de l’homme de 1950.“ 218  Dazu J. P. Müller, Elemente einer Schweizer Grundrechtstheorie, 1982, S. 177. – Bemerkenswert auch Art. 46 Verf. Guatemala (1985): „Es gilt das generelle Prinzip, dass auf dem Gebiet der Menschenrechte internationale Verträge und Konventionen, soweit sie durch Guatemala ratifiziert worden sind, Vorrang vor dem nationalen Recht haben.“

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4. Kap.: Verfassung

Lehre vom universal werdenden Typus „Verfassungsstaat“ kommt jetzt der Verfassungsvergleichung ein „parallel“ bedeutsamer Platz zu. Aus der historischen Dimension folgt – weiter gedacht – hier und heute die Vergleichung in der zeitgenössischen Dimension: die „konstitutionelle Komparatistik“. Jedenfalls ist die weltweite Verfassungsvergleichung der Weg, auf dem die einzelnen Beispielsverfassungen untereinander aktuell „kommunizieren“. Die prägende Kraft des einen Typus weltoffener „Verfassungsstaat“ macht sich so höchst folgenreich geltend. Mochte der „historischen Rechtsschule“ die historische Auslegung als wichtige, wenn nicht „erste“ klassische Methode erscheinen: In der verfassungsstaatlichen Auslegungslehre von heute muss die rechtsvergleichende Methode mindestens einen „fünften“, wenn nicht vorderen Platz einnehmen, jedenfalls tendenziell. Die beste Textstufe findet sich in Kap. 14 Zif. 3 Verf. KwaZulu Natal (1996)219, in dem der Topos „Verfassung als Ganzes“, die Kontextthese und der (universale) Konstitutionalismus besser als in jedem Lehrbuch zusammengefasst sind: „3. Interpretation of this Constitution (1)  The language of this Constitution shall be interpreted as a whole, on the basis of the meaning of its text, and, when necessary or appropriate, in the context ot the principles and values expressed by this Constitution as well as domestic and broadly recognised principles of constitutionalism in democratic countries in which a constitution is the supreme law of the land.“

Zusammenfassend sei festgehalten: Schöpferische Produktions- und Rezeptionsprozesse vollziehen sich nicht von selbst. Erforderlich ist, dass die Rezipienten (besser: Akteure) in den Rezeptionsverfahren offen und sensibel „Ausschau“ halten: indem sie das Typische und Individuell-Eigene des im engeren oder weiteren Sinne „benachbarten“ Verfassungsstaates beobachten und verarbeiten – „erwerben, um es zu besitzen“ (Texte, Judikate, Theo­rien). Dabei entsteht dann oder bestätigt sich „gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ oder weiter ausgreifend gemeineuropäisch / atlantisches Verfassungsrecht, z. T. auch nur (wahl-)„verwandtes“ Recht. Aktive Rezeptionsprozesse verlangen m. a. W. Rechtsvergleichung, die freilich nur als Kulturvergleichung gelingen kann220: auch hier gilt „Verfassung aus Kultur und als Kultur“. Die Rezipienten arbeiten – im Vergleichen – teils rechtspolitisch (etwa der Verfassunggeber, auch der Gesetzgeber), teils interpretatorisch, so fließend die Grenzen sein können: beim Auslegen durch die Verfassungsrichter oder die Verfassungsrechtslehre; darum kommt heute, im Kraftfeld des Verfassungsstaates der Rechtsvergleichung der Rang einer „fünften“ Ausle219  Zit.

nach JöR 47 (1999), S. 514 (539). Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2, 3. Aufl. 1983, S. 407 ff. 220  Zur



Inkurs V: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit321

gungsmethode – nach den klassischen vier Savignys – zu221. Der kooperative Verfassungsstaat durchlebt „Wachstumsringe“ aus Texten, Judikaten und Theorien vieler nationaler Verfassungsstaaten. Sie sind – im Ganzen gesehen – der beste Kommentar zum Typus Verfassungsstaat! – und sie lassen die Horizonte einer universalen völkerrechtsoffenen Verfassungslehre erkennen: Es gibt schon eine „universale Werkstatt“ in Sachen Verfassungsstaat.

Inkurs V: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungsstaat Erster Teil Das deutsche BVerfG als Verfassungsgericht – als „gesellschaftliches Gericht“ eigener Art, seine Rolle bei der Garantie und Fortschreibung des Gesellschaftsvertrages (u. a. als Generationenvertrag) I. Das BVerfG als „Verfassungsgericht“ – als „gesellschaftliches Gericht“ eigener Art Das BVerfG hat formal betrachtet alle Eigenschaften eines – in seiner eigenen Terminologie gesprochen – „staatlichen“ Gerichts (dazu E 18, 241), d. h. es beruht auf staatlichem Gesetz, und der Staat regelt bzw. beeinflusst die Richterbestellung. Es ist indes weit mehr: Es ist Verfassungsgericht, d. h. kompetent für enumerativ aufgezählte materielle Verfassungsstreitigkeiten. Das volle Gewicht dieser Aussage erhellt erst aus einer Klärung des Verfassungsbegriffs. „Verfassung“ ist rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft; sie ist nicht nur Beschränkung staatlicher Macht, sondern auch Ermächtigung zu staatlicher Macht. Sie umgreift Staat und Gesellschaft. Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft wirkt von vornherein jenseits des Trennungsdogmas Staat / Gesellschaft222 – bis ins Völkerrecht. 221  Dazu erstmals mein Beitrag Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpreta­ tion im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff., hierzu zuletzt E. A. Kramer, Die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ des § 7 ABGB heute, in FS 200 Jahre ABGB, 2011, S.  1169 (1188 ff.); R. Wiederkehr, Allgemeine Rechtsgrundsätze im Kontext, JöR 52 (2004), S.  131 ff. 222  Zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Ausland: W. Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 1987; A. Auer, Grundlagen und aktuelle Probleme der schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit, JöR 40 (1991 / 92), S. 111 ff.; F. Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, 2. Aufl. 1991; L. Favoreu / P. Loic, Le Conseil Constitutionnel, 2. Aufl. 1991; C. Starck / A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986; E. Smith (Hrsg.), Constitutional Justice under Old Constitutions, 1995; dies., Teilband I, 2. Aufl. 2007; H.-R. Horn / A. Weber (Hrsg.), Richterliche Verfassungskontrolle in Lateinamerika, Spanien und Portugal, 1989; J.  A. Frowein /  T. Marauhn (Hrsg.), Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 1998; P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit in der offenen Gesellschaft, in: R. C. von Ooyen u. a. (Hrsg.), Das BVerfG im politischen System, 2006; ders.,

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4. Kap.: Verfassung

Dass das BVerfG „Verfassungsgericht“ der ganzen res publica ist, hat sehr konkrete Auswirkungen in Detailfragen, z. B. bei der Richterablehnung (dazu BVerfGE 35, 171 (246); 89, 28); es hat überdies zur Folge, dass das Gericht sich nicht auf eine Theorie oder „Schule“ festlegen darf, sondern sich um eine pragmatische Integration von Theorieelementen bemühen muss. Darum sollte sich jeder professorale Verfassungsrichter davor hüten, „seine“ Theorie in den Entscheidungen festzuschreiben. Auch sollten nicht zu viele Professoren im Gericht sitzen. Dieser materielle Verfassungsbezug der Verfassungsgerichtsbarkeit hat materielle und prozessuale Implikationen: z. B. in ihrer Verpflichtung auf das Pluralismusmodell und in der Forderung nach Ausbau des Verfassungsprozessrechts im Blick auf pluralistische Informations- und Partizipationsinstrumente. Die wachsende pluralistische Informationsbeschaffungspolitik des BVerfG (jetzt legalisiert durch § 27a BVerfGG) ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Auch die Verfassungsrichterwahl, aus dem Spektrum aller politischen Parteien und in Zukunft hoffentlich noch stärker über diese hinausgreifend, bezieht den Pluralismus effektiv in die Verfassungsverfahren ein (und wirkt auf ihn ein). Das ist Voraussetzung für eine Steuerung der Gesellschaft durch das Verfassungsgericht und „sein“ Recht. Hier kommt es zu einer Wechselwirkung: Je mehr das BVerfG in die Prozesse der Steuerung der offenen Gesellschaft eingreift, desto mehr wendet sich diese Gesellschaft ihm zu, will sie sich Gehör „in Karlsruhe“ verschaffen. Wie sehr dies der Fall ist, zeigte sich in der Verhandlung in Sachen Mitbestimmung: Man spürte (1978) förmlich die Kraftlinien gesellschaftlicher Öffentlichkeit im Sitzungssaal (E 50, 290). Gleiches dürfte für die großen Entscheidungen in Sachen Europa gelten (z. B. Lissabon-Urteil, Griechenlandhilfe, zuletzt Fiskalpakt und ESM, 2012). Dieser Ansatz führt zu einer weiteren „Stufe“. Das BVerfG ist in seinem intensiven Bezug zur Gesamtgesellschaft zu sehen: Es ist ein „gesellschaftliches Gericht“ eigener Art und im weiteren Sinne. Es öffnet sich durch seine Rechtsprechung für die Vielfalt von Ideen und Interessen – nimmt sie in sich auf –, umgekehrt steuert es die Zivilgesellschaft. Angesichts der Richterwahl, der Handhabung seines Verfassungsprozessrechts und der materiellen Auslegungsergebnisse (z. B. in der Strukturierung von Teilaspekten der Gesellschaft über die „Drittwirkung“ von Grundrechten, zuletzt E 95, 28 (37); E 103, 89 (100)) ist es mehr ein gesamtgesellschaftliches denn ein „staatliches“ Gericht. Das hat Konsequenzen auf höherer Ebene, aber auch für die Alltagsarbeit des Gerichts!

Funktion und Bedeutung der Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive, EuGRZ 2005, S. 685 ff.; H.-J. Sigwart, We and the People: Selbstverständnis und politische Rolle des U.S. Supreme Court, ZfP 2010, S. 363 ff. – Neuere Verfassungen auf verschiedenen Kontinenten nehmen die selbstständige Verfassungsgerichtsbarkeit sehr ernst, z. B. Art. 167 bis 168 Verf. Südafrika von 1996; Art. 166 bis 175 Verf. Serbien von 2006; Art. 429 bis 440 Verf. Ecuador von 2008; Art. 112 bis 118 Verf. Kosovo von 2008. – Zum Folgenden schon, jetzt überarbeitet, P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 435 ff.



Inkurs V: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit323 II. Verfassungsgerichtsbarkeit „im“ Gesellschaftsvertrag: Das BVerfG als Regulator in den kontinuierlichen Prozessen der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag

Die These lautet: Das BVerfG hat eine spezifische gesamthänderische Verantwortung in der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag; es steuert ihre kontinuierlichen Prozesse mit; es ist dabei dem Pluralismusprinzip verpflichtet. Das Modell des Gesellschaftsvertrages – klassischer gemeineuropäischer (vielleicht schon universaler) Besitz – ist im hier gebrauchten Sinn ein Denkmodell, ein heuristisches Prinzip zum Zweck der Verbürgung personaler Freiheit und öffentlicher Gerechtigkeit. Es ist gewiss kein „Leisten“, über den sich die ganze Wirklichkeit einer Verfassung als öffentlicher Prozess schlagen ließe; aber es kann Hilfestellung geben für die sachgerechte Bewältigung mancher politischer bzw. verfassungsrechtlicher Grundsatzfragen – frei von vereinseitigenden „Setzungsideologien“. So alt das Vertragsmodell ist, so relativ jung ist die (verselbständigte) Verfassungsgerichtsbarkeit. In Beziehung zueinander wurden beide (wohl eben darum) noch nicht gesetzt. Das kann eine Chance sein. Sie sollte genutzt werden. Die klassische Lehre vom Gesellschaftsvertrag hat im Gang der Geschichte in den verschiedensten Zusammenhängen als Erklärungs- und Rechtfertigungsmodell gedient (von J. Locke bis J.-J. Rousseau, von I. Kant bis zur Diskussion um den Grundkonsens und die „runden Tische“). Warum sollte sie heute nicht Aussagekraft für unsere Probleme, für Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit, für die Fortentwicklung der Verfassung (auch dank des Völkerrechts) entfalten können? III. Möglichkeiten und Grenzen der Leistungsfähigkeit des BVerfG – das BVerfG im Rahmen der politischen Kultur der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des GG Verfassungsgerichtsbarkeit ist letztlich weder eine juristische noch eine „politische Lebensversicherung“! Ihr entwickeltes pluralistisches und politisches Verständnis ist eingebunden in die Gesamtkultur unserer Republik. Das vermittelt ihr positive Funktionen, führt aber auch zu Grenzen. (Eine Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit folgt auch daraus, dass sie nur auf Antrag tätig wird, nicht von Amts wegen. Sie muss vom Bürger oder politischen Kräften „angestoßen“ werden.) Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit ist Beschränkung, Rationalisierung und Kontrolle staatlicher und gesellschaftlicher Macht, sie ist inhaltliche (Mit)Arbeit am Grundkonsens, sie liegt im je neuen Schutz der Minderheiten und der Schwachen, im flexiblen zeitgerechten Reagieren auf neue Gefahren für die Würde des Menschen, in ihrem nicht unpolitischen Steuerungs- und Antwortcharakter; Beispiele: der Schutz der Transsexuellen: BVerfGE 49, 282 (297); 115, 1 (14); 128, 109. Schließlich sollte sich die Verfassungsgerichtsbarkeit der Völkerrechtsgemeinschaft gegenüber intensiv öffnen (vgl. E 128, 326 (367 ff.)): kooperativer Verfassungsstaat.

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4. Kap.: Verfassung Zweiter Teil Das deutsche BVerfG – eine „Nachlese“ zu 60 Jahren seiner Tätigkeit Einleitung

Unser deutsches BVerfG erfährt aus Anlass seines 60jährigen Jubiläums 2011 rundum viel Lob und zwar aus fast allen Bereichen. Ausgerechnet die Politik, die oft genug von „Karlsruhe“ in ihre Schranken verwiesen wird (man denke an Urteile zur Flugsicherheit, zur Vorratsdatenspeicherung, punktuell auch zum Euro-Rettungsschirm), war des Lobes voll: So rühmt die Bundeskanzlerin A. Merkel das BVerfG als „Schlussstein unserer Verfassungsarchitektur“; so finden sich Stimmen in der Publizistik die vom „Symbol des deutschen Verfassungspatroitismus“ sprechen oder sogar von einem „badischen Weltgericht“223 reden. Eher differenziert sind Lob und Kritik in der Wissenschaft224. Die große Beliebtheit im deutschen Volk spiegelt sich in stetigen hohen Umfragewerten. Die Ausstrahlungs- und Vorbildwirkung des BVerfG als Institution einerseits und seine Grundsatz-Judikatur andererseits reichen weit über Europa hinaus. Oft wird vom BVerfG als „Exportgut“ gesprochen, eine Ökonomisierung, die der Verf. jedoch ablehnt. Unverkennbar ist die Vorbildwirkung des BVerfG für die Verfassungsgerichte in Portugal und Spanien (1976 / 1978)225 und später im „annus mirabilis“ (1989) für die osteuropäischen Reformstaaten, wie Ungarn, Polen, die Ukraine und Albanien. Einzelne Leitentscheidungen sind fast legendär geworden. Dies gilt etwa für das Lüth-Urteil (E 7, 198 ff.) – mit seiner „mittelbaren Drittwirkung“ – oder das erste Fernseh-Urteil (E 12, 205 ff.) wegen seiner Schaffung einer pluralistischen Struktur für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Freilich sind gegenläufige Entwicklungen nicht zu übersehen: In Osteuropa kommt es derzeit leider zu offenen oder versteckten Zurückdrängungen der Verfassungsgerichtsbarkeit, z. B. in Ungarn, der Ukraine, in Rumänien, aber auch in der Türkei. Selbstbescheiden ist daran zu erinnern, dass das BVerfG als Institution seinerseits von großen Vorbildern lebt. Österreich kommt die Ehre zu, 1920 die erste Verfassungsgerichtsbarkeit geschaffen zu haben, wissenschaftliche Vorarbeit hierzu haben G. Jellinek und H. Kelsen geleistet. Vor allem aber ist den USA in Gestalt des Urteils Marbury vs. Madison 1803 das richterliche 223  SZ vom 24.  / 25. September 2011, Die letzte Instanz, Ein Wunder wird 60 Jahre alt: Ohne das Bundesverfassungsgericht wäre die Bundesrepublik eine andere Republik. 224  Vgl. etwa C. Hillgruber, Ohne rechtes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht nach 60 Jahren, JZ 2011, S. 861 ff.; differenziert: R. C. van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, Von Solange über Maastricht zu Lissabon – und zurück mit Mangold  /  Honeywell?, 4. Aufl., 2011; M. Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, 2011; s. auch die Beilage APuZ, 61. Jg., 35–36 / 2011 vom 29. August 2011, mit vielen Beiträgen, z. B. H. Vorländer, Regiert Karlsruhe mit?, S. 15 ff.; C. Gusy / H.-H. Kutscher, 60 Jahre Bundesverfassungsgericht, Recht und Politik, 3 / 2011, S. 129 ff.; aufschlussreich U. Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010. 225  Zum Verfassungsgericht in Madrid der Band: Jurisdicción constitucional y democracia, Madrid 2011.



Inkurs V: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit325

Prüfungsrecht des Supreme Court zu verdanken. Heute ist das BVerfG Ausdruck speziell der deutschen Verfassungskultur226, auch wenn manche Entscheidungen vielleicht Kritik verdienen. I. Verfassungstheoretische Überlegungen 1. Der Statusbericht des Bundesverfassungsgerichts aus der Feder eines Bundesverfassungsrichters der ersten Stunde, G. Leibholz227, ist ein Meilenstein, denn damals wurde das Selbstverständnis des BVerfG als „Verfassungsorgan“ mit weitreichenden Folgen begründet. An Selbstbewusstsein fehlt es dem BVerfG seitdem bis heute nicht, auch nicht seinen in Temperament, Bescheidenheit und Öffentlichkeitsarbeit sehr unterschiedlichen jeweiligen Präsidenten. Auf dieser Linie wirkte die berühmte Rede von R. Smend anlässlich des zehnjährigen Bestehens des BVerfG, die in dem berühmt gewordenen Satz gipfelte, das Grundgesetz gelte praktisch so, wie es das BVerfG auslege228. 2. Die These vom BVerfG als „gesamtgesellschaftlichen Gericht“, von seiner Mitarbeit am Grundkonsens und seiner Beteiligung an der Fortschreibung des konstitutionellen Gesellschaftsvertrag wurde 1979 entwickelt229. In diesen Kontext gehört auch das spätere Wort vom BVerfG als „Bürgergericht“230 (1997): denn dank der Verfassungsbeschwerde ist Jedermann der Zugang zum BVerfG offen; darum ist auch allen Versuchen, diese Zugangsoffenheit etwa im Sinne des amerikanischen Supreme Court einzuschränken, entgegenzutreten231 (2012 erneut diskutiert). 3.  Verfassungsvergleichend betrachtet – und gerade die Verfassungsgerichtsbarkeit braucht institutionell und prozessual den kontextsensiblen weltweiten Vergleich – sind in den einzelnen Ländern je nach Raum und Zeit unterschiedliche Phasen der Wechselwirkung von „judical activism“ und „juridicial restraint“ zu unterscheiden. Dies gilt nicht nur für den US-Supreme Court. Auch das BVerfG wagt sich zeitweise weiter vor (Lissabon-Urteil: E 123, 267), um dann vorsichtig wieder zurück zu rudern (Man226  Der Begriff „Verfassungskultur“ stammt vom Verf.: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 20 ff., er hat sich mittlerweile fast weltweit durchgesetzt. – Die deutsche Lit. zur Verfassungsgerichtsbarkeit ist nahezu unüberschaubar: schon klassisch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1966, 20. Aufl. 1995, S. 278 ff.; einen Sammelband hat der Verf. herausgegeben: Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976; zuletzt aus der Lit.: J. Masing /  ­ O. Jou­an­jan (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 2011; J. Menzel / R. Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2011. 227  JöR, Bd. 6 (1957), S. 103 ff. 228  Abgedruckt in dem von P. Häberle herausgegebenen Sammelband Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 329 (330). 229  P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 421 ff., 436 ff., 438 ff. 230  So mein Vorschlag: Die Verfassungsbeschwerde im System der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, JöR 45 (1997), S. 89 (112 ff.). 231  Ebenso unter Berufung auf den Verf.: J. Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 48.

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4. Kap.: Verfassung

gold / Honeywell: E 126, 286)232. Wann richterliche Aktivität angezeigt ist (so etwa in Ungarn nach 1989 unter Hinweis auf eine ungeschriebene, „geheime“ Verfassung), wann sich richterliche Zurückhaltung empfiehlt, kann ein Wissenschaftler kaum sagen. Dieses Urteil obliegt dem „Weltgeist“, und dieser ist bekanntlich kein Schwabe … Indes gibt es funktionellrechtliche Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit233, sie sind schwer zu bestimmen. „Das Verfassungsgericht ist kein Weltgericht!“ 4. Das Verfassungsprozessrecht ist konkretisiertes Verfassungsrecht. Diese vom Verf. 1976 entwickelte These234 kann gar nicht genug unterstrichen werden. Sie bewährt sich besonders am Supreme Court in Brasilia. Er hat sein Verfassungsprozessrecht unter Berufung auf die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) in den letzten Jahren unter der Präsidentschaft von G. Mendes in vorbild­ licher Weise vitalisiert235. Teile der Zivilgesellschaft kommen auf dem Forum des Gerichts in Brasilia in öffentlichen „Hearings“ zu Wort; auch dient die Ausweitung des „amicus curiae“ demselben Ziel236. Brasilien geht also weiter als das deutsche BVerfG, auch wenn diesem in § 27a BVerfGG jetzt ein in diese Richtung zielendes Instrument beigegeben wurde („Sachkundige Dritte“, z. B. BVerfGE 119, 96 (113); 331 (350 f.)). Der Supreme Court in Brasilia bezieht nämlich als Teil der Zivilgesellschaft Dritte ein. Immerhin praktiziert das BVerfG seit langem die Möglichkeit, sich gegenüber Stellungnahmen von Staatsorganen, Verbänden, Kirchen und Organisa­ tionen zu öffnen (zuletzt etwa E 117, 244 (254 ff.); 127, 132 (144 f.); 128, 90 (98), 136, 400 (412 ff.), 157 (173 ff.); 130, 76 (92 ff.)). II. Kontroversen Sie seien nicht verschwiegen. 1. Richterwahl Die Wahl der Richter zum BVerfG wird immer wieder kontrovers diskutiert. Denn sie ist beherrscht von parteipolitischer Dominanz und wird vorher in den Dunkel232  s. auch die „Echternacher Springprozession“: Solange I (E 37, 271 (280 ff.) und Solange II (E 72, 339 (387) bzw. E 102, 347 (169). 233  Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 31 f. 234  P. Häberle, Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, JZ 1976, S. 377 ff.; aus der späteren Lit.: C. Hillgruber / C. Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011; B. Bohn, Das Verfassungsprozessrecht der Popularklage, 2012. 235  Vgl. den Sammelband seiner Entscheidungen: G. Mendes, 2002–2010, 2011. 236  Aus der Lit.: D. Medina, Amicus Curiae, 2009; K. Krukowski, Supreme Tribunal Federal und Verfassungsprozessrecht in Brasilien, 2011, bes. S. 60 f., 121; G. Mendes, Die 60 Jahre des Bonner Grundgesetzes und sein Einfluss auf die brasilianische Verfassung, JöR 58 (2010), S. 95 (111 ff.); G. Mendes / A. Rufino do Vale, El pensamiento de Peter Häberle en la jurisprudencia del Supremo Tribunal Federal del Brasil, GUİA, 6 / 2011, S. 147 ff.; zuletzt R. Schmidt / V. A. da Silva (Hrsg.), Hyperkonstitutionalismus? Die Rolle von Verfassung und Verfassungsgericht im Prozess der Demokratisierung in Brasilien und Deutschland im Vergleich, 2011.



Inkurs V: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit327

zimmern der politischen Parteien ausgehandelt. Auch der Verf. hat immer wieder mehr Öffentlichkeit und Transparenz gefordert, ohne jeden Erfolg237. Vorbildlich ist die Regelung in der Verfassung Brandenburgs (Art. 112 Abs. 4 von 1992). Sie verlangt, dass öffentliche Hearings stattfinden. Solche Anhörungen gibt es vor einem Ausschuss des Senats in den USA. Für eine Änderung der Rechtspolitik lohnt ein weiterer vergleichender Blick über die Grenzen. Vorbildlich ist etwa die Beteiligung von Staatspräsidenten bei einem Teil der Berufung zum Verfassungsrichter, so etwa in Italien (Art. 135) und Rumänien (Art. 140 Abs. 2 Verf. von 1991). In Frankreich wirkt der Senat bei einem Drittel der Kandidaten mit (Art. 56 Verf. von 1958 / 2008). Insgesamt ist auf dem Hintergrund von verfassungsvergleichendem Material eine Demokratisierung der Richterwahl dringend geboten. So sehr zu rühmen ist, dass die deutschen Bundesverfassungsrichter vom Augenblick ihrer Ernennung an sich gegenüber parteipolitischen Einflüssen stets als resistent erwiesen haben, so misslich bleibt der „Kuhhandel“ unter den politischen Parteien, bis es unter den Kandidaten eine Auswahl gibt. Das BVerfG hat hierzu kürzlich in „eigener Sache“ recht fragwürdig judiziert (keine Bedenken gegen Wahlmännergremium des Bundestages, B. vom 19. Juni 2012, E 131, 230). 2. Verfassungsrechtsprechung als punktuelle Verfassunggebung Nicht nur in der Praxis des BVerfG zeigt sich, dass große Judikate nicht nur einfache Auslegung vorhandener Texte sind, sondern dass sie höchst schöpferisch sein können. Im Grunde handelt es sich m. E. um ein Stück „punktueller Verfassunggebung“. Dies ist umstritten. Indessen legt die intensive und extensive prätorische Tätigkeit des deutschen BVerfG bei großen Entscheidungen, vor allem zu den Grundrechten (z. B. Art. 12 GG: E 33, 303 – numerus clausus), zu neuen Grundrechten und zum Föderalismus238 auf der Hand. 3. Grundsatzurteile In der mehr als 60jährigen Praxis des BVerfG kommt es immer wieder zu großen Urteilen, die Weichenstellungen gleichen. Einige Beispiele seien genannt: aus der frühen Zeit bei den Grundrechten das Lüth-Urteil (E 7, 198) sowie das ApothekenUrteil (E 7, 377). Besonders auffallend sind die vielen Fernsehurteile, die eine pluralistische Medienverfassung bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten durchgesetzt haben. Dies beginnt etwa mit dem ersten Fernsehurteil (BVerfG E 12, 205) und endet bis heute nicht (zuletzt E 119, 181 (214 ff.)). Das Wort von der Aufgabe der kulturellen Grundversorgung hat Verfassungsgeschichte geschrieben. Der Begriff „Grundversorgung“ ist innerdeutsch etwa in der Verfassung von Thüringen (1993) zum geschriebenen Verfassungstext geworden (Art. 17). Der Pluralismus als Prinzip der Medienverfassung (vgl. später Art. 111a Verf. Bayern, 237  Dazu P. Häberle, Bundesverfassungsrichterkandidaten auf den Prüfstand?, in: B. Guggenberger u. a. (Hrsg.), Der Souverän auf der Nebenbühne, 1994, S. 131 ff.; U. Kranenpohl, Bewährt oder reformbedürftig?, ZSE 1 / 2011, S. 78 ff. 238  Z. B. E 12, 205 (254 ff.); 6, 309 (340 ff.); 72, 330 (382 ff.); 101, 158 (221 f., 232 ff.), etwa in Sachen „Bundestreue“, „Solidargemeinschaft“.

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4. Kap.: Verfassung

Änderung von 1973) sowie die „Grundversorgung“ sind plastische Beispiele für die hier vertretene These von Verfassungsrechtsprechung als punktueller Verfassunggebung. Im Folgenden summarisch noch einige Hinweise auf weitere Beispiele für Grundsatzurteile: etwa in Sachen „Völkerrechtsfreundlichkeit“ (E 128, 326 (270 ff.), in Sachen Hochschule (E 35, 79), in Sachen Menschenwürde (E 115, 118; 125, 175 (222 ff.)). Das BVerfG bekennt sich ausdrücklich zur begrenzten „Befugnis schöpferischer Rechtsfindung und Rechtsfortbildung“ (E 128, 193 (210)). Seine beliebte Herabstufung der anderen Gerichte zu bloßen „Fachgerichten“ (z. B. E 107, 248 (257 f.); 117, 71 (116, 122); 123, 1 (32); 130, 1 (31)) ist indes unangemessen. 4. Europa Die Europa-Urteile des BVerfG haben im Guten wie im Schlechten Geschichte geschrieben. In ganz Europa beachtete Stationen sind etwa das umstrittene Maas­ tricht-Urteil (BVerfGE 89, 155) sowie das Lissabon-Urteil (E 123, 267). In ihm wird der vom Verf. 2001  /  02 vorgeschlagene Begriff der „Europarechtsfreundlichkeit“ übernommen (ohne Zitat!). Geglückt ist der neue Begriff der „Integrationsverantwortung“. Das Lissabon-Urteil ist besonders umstritten239, das BVerfG hat sich in einer späteren Entscheidung ein Stück weit selbst korrigiert (Mangold / Honeywell, BVerfGE 126, 286). Zuletzt wird die Entscheidung zur 5 %-Klausel bei den deutschen Wahlen zum Europäischen Parlament sehr kontrovers diskutiert240. Derzeit stehen die Euro-Rettungsschirme auf dem Prüfstand241. Das BVerfG fühlt sich bald an den Grenzen der Europäisierung Deutschlands, jedenfalls ist dies die Meinung des heutigen Gerichtspräsidenten A. Voßkuhle. Diskutiert wird, ob ein „Mehr an Europa“ im Grunde eine neue Verfassung Deutschlands verlangt, wobei auch Art. 146 GG und der dort geforderte Volksentscheid eine Rolle spielen. Föderale „Vereinigte Staaten von Europa“ müssten nach einer starken Meinung vom deutschen Volk gebilligt werden. Man erinnere sich auch des Klassikertextes von W. Hallstein „Der unvollendete Bundesstaat“242. Heute erinnert Vieles in der EU an präföderale Strukturen (z. B. Art. 7 EUV)243. An die „europarechtsfreundliche“ Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG sei erinnert (BVerfGE 129, 78).

239  Dazu Nachweise bei P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S.  729 ff. 240  BVerfGE 129, 130; einerseits M. Morlok, Chancengleichheit ernst genommen, JZ 2012, S. 76 ff.; andererseits C. Schönberger, ebd., S. 80 ff. 241  Dazu das Sonderheft ZSE 3 / 2011; BVerfGE 130, 318; 129, 124. 242  Aus der Lit.: R. C. van Ooyen, Die Staatstheorie des BVerfG und Europa, 4. Aufl. 2011. 243  Zu Europa hier nur: D. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung 2010; J. Luther, Europa Constituenda, 2007; F. Balaguer Callejón, Die europäische Verfassung auf dem Weg zum europäischen Verfassungsrecht, JöR 53 (2005), S. 401 ff.; ders., ebd., S. 411 ff.; M. Azpitarte, Europäisches Spanien: Widerstreitende Meinung im europäischen Verfassungsdiskurs, JöR 56 (2008), S. 479 ff.; Fausto de Quadros, Direito da União Europeia, 2009.



Inkurs V: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit329 5. Zitierpraktiken

Die Zitierpraxis des BVerfG ist in der deutschen Wissenschaft sehr umstritten. Sie wird immer wieder gerügt und zur Diskussion gestellt244. Auffallend ist, dass das BVerfG sehr selbstbezogen zitiert und oft keine pluralistische Literaturauswahl trifft. So hat es die von mir erstmals 1987 entwickelte These, wonach ein Grundrecht auf Demokratie aus der Menschenwürde folgt, in E 123, 267 (341) zitatlos übernommen245 (s. auch E 129, 124 (169)). Als Autor bzw. Staatsrechtslehrer sollte man sich nicht grämen, denn letztlich ist es Aufgabe der Wissenschaft, dem BVerfG nach bestem Wissen und Gewissen „zuzuarbeiten“. (In Rom und Madrid wird noch weniger zitiert.) 6. Das Defizit an Rechtsvergleichung Nach wie vor ist dem BVerfG kritisch vorzuwerfen, dass es zu wenig Rechtsvergleichung leistet246. Es ist hierbei nicht allein. Viele Richter des US-Supreme-Court lehnen Rechtsvergleichung ausdrücklich ab. Aus meiner Sicht ist die Rechtsvergleichung die „fünfte“ Auslegungsmethode nach dem klassischen Kanon Savignys von den vier Auslegungsmethoden. Bemerkenswert bleibt, dass speziell in der Schweiz und Österreich die EMRK auf Verfassungsstufe gilt. Das BVerfG bejaht bislang nur gelegentlich Ausstrahlungen der EMRK auf das deutsche Verfassungsrecht (z. B. E 128, 326 (393); 128, 326 (365 ff.); auch E 119, 181 (215), etwa auch beim Rechtsstaatsprinzip). Bemerkenswert ist, dass manche Sondervoten in Karlsruhe intensiv Rechtsvergleichung betreiben (z. B. E 39, 68 (70 f., 73 f.); 118, 146 (150 ff.); 126, 286, 318 (326 ff.))247. Dies ist verständlich, da sie unter verstärktem Legitimationsdruck stehen. 7. Schöpferische Handhabung des Verfassungsprozessrechts Das Verfassungsprozessrecht ist konkretisiertes Verfassungsrecht – so die These des Verf. aus dem Jahre 1976248. Ungemein ergiebig ist hier die VerfassungsvergleiM. Jestaedt, Autorität und Zitat, FS Bethge, 2009, S. 513 ff. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HdStR I, 1987, S. 815 (848 f.); 3. Aufl. 2004, Bd. II, § 22, Rd. Nr. 67–69. 246  Aus der Lit.: A. M. Cárdenas Paulsen, Über die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des BVerfG, 2009; allgemein: B. Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005; P. Hilpold u. a. (Hrsg.), Rechtsvergleichung an der Sprachgrenze, 2011; A. A. Cervati, Per uno studio comparativo del diritto costituzionale, 2007; P. Ridola, Diritto Comparato e Diritto Costituzionale Europeo, 2010; G. Repetto, Argomenti comparativi e diritti fondamentali in Europa, 2011; S. Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode: Interkulturelle und intersubjektive Kompetenz, ZaöRV 2004, S. 735 ff. 247  Die unterlegene „Minderheitshälfte“ arbeitet mit Rechtsvergleichung in E 118, 277 (397 f.). – Ein Beispiel für Rechtsvergleichung im Rahmen der EU: BVerfGE 127, 132 (139 f.); weitergreifend: E 128, 109 (113 ff.). 248  Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, JZ, 1976, S. 377 ff., auch in Revista Iberoamerica de Derecho Processal Constitucional, Nr. 1  /  2004, S.  15 ff. 244  Vgl. 245  P.

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4. Kap.: Verfassung

chung. Der Supreme Court in Brasilia zeichnet sich, wie erwähnt, durch schöpferischen Umgang mit dem Verfassungsprozessrecht aus. Dies sollte weltweit Schule machen. Das Verfassungsprozessrecht ist im Verhältnis zu den übrigen Prozessrechten des einfachen Rechts, etwa der ZPO oder der StPO, eigenständig. Analogien verbieten sich angesichts des Eigenwerts des Verfassungsrechts249. Das deutsche BVerfG geht gelegentlich durchaus kreativ mit dem Verfassungsprozessrecht um (z. B. BVerfGE 98, 218 (292 f.); 119, 394 (409 f.)). In der Literatur wird dies mit­ unter heftig kritisiert250. III. Verdienste, Innovationen, Errungenschaften Nur in Stichworten sei in dieser Nachlese zu den großen Verdiensten des BVerfG nach über 60 Jahren Einiges hervorgehoben: –– Die frühe Aktualisierung der Präambel, vor allem in Sachen deutsche Wiedervereinigung (BVerfGE 36, 1 (17 f.); 5, 85 (127 f.); 82, 316 (320 f.)) ist beispielhaft. Dies glückte, weil das BVerfG die normative Kraft der Präambel des GG ernst genommen hat. Es kann sich dabei durch einen Rechtsvergleich bestätigt fühlen: In manchen Ländern Afrikas werden die Präambeln textlich zum integrierenden Bestandteil der Verfassung erhoben (z. B. letzter Spiegelstrich Präambel Verf. Burkina Faso von 1997, Präambel letzter Spiegelstrich Verf. Republik Togo von 1992). Das deutsche BVerfG zieht zur Begründung der „Europarechtsfreundlichkeit des GG“ und des Staatsziels der europäischen Integration ebenfalls die Präambel heran (z. B. E 123, 267 (345 ff.)). –– Die langfristig angelegte Entwicklung neuer Grundrechte ist ein besonderes Charakteristikum der Judikatur des BVerfG. Genannt sei das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ seit E 65, 1 (Volkszählung), zuletzt E 128, 1 (42); 130, 1, und es votiert der Sache nach oft für „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ im Sinne des 1971 in der Wissenschaft entwickelten „status activus processualis“251; zuletzt entwickelt es ein Grundrecht auf „Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“252; auch der Privatheitsschutz wird sehr ernst genommen (z. B. E 54, 148 (153); 57, 125; 101, 361; 119, 1 (29 f.); 129, 208 (249)). –– Das BVerfG verstärkt sehr oft geschriebene Grundrechte, dies geschieht vor allem im Bereich der Menschenwürde, der Pressefreiheit (E 20, 162; 54, 148; 97, 125) und des Eigentumsschutzes (E 24, 367; 58, 300), auch der Versammlungsfreiheit (E 69, 315; 73, 206; 128, 226). –– Es übernimmt auch von der Wissenschaft geprägte dogmatische Begriffe wie Grundrechte als „Wertsystem“ (G. Dürig), „praktische Konkordanz“ (K. Hesse) sowie „Parlamentsvorbehalt“, „Religionsverfassungsrecht“, „Europarechtsfreundlichkeit“ (P. Häberle) und entwickelt sie in neuen Kontexten schöpferisch fort. 249  Dazu jetzt der Bd.: T. Vesting / S.  Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011. 250  Dazu C. Hillgruber, Ohne rechtes Maß?, JZ 2011, S. 861 (866 f.). 251  P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff.). 252  Dazu mit Nachweisen: F. Hufen, Staatsrecht II, Grundrechte, 2. Aufl. S. 206.



Inkurs V: Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit331

–– Das BVerfG lässt Raum für eine mittel- und langfristige Bewährung der Sondervoten, welche in den großen Theorierahmen von „Zeit und Verfassung“ (1974) gehören. Zwar ist in Deutschland für das BVerfG die Möglichkeit zu Sondervoten nur auf einfachgesetzlicher Ebene garantiert (§ 30 Abs. 2 BVerfGG) – dies im Gegensatz zu der fortschrittlichen spanischen Verfassung, die das verfassungsrichterliche Sondervotum schon auf Verfassungsstufe eröffnet (Art. 164 Abs. 1). Es gibt eine reiche Praxis der Sondervoten, in denen die oft zeitlich nur vorläufige „abweichende Meinung“ im Hegel’schen Sinne „aufgehoben“ ist und das Rechtsgespräch im Gericht sowie den wissenschaftlichen Diskurs bereichert. Wichtige Sondervoten finden sich in jüngster Zeit z. B. in E 126, 286 (318 ff.) sowie in E 128, 226 (265 ff.). Mitunter beruft sich das BVerfG selbst auf ein älteres Sondervotum (zuletzt in E 119, 1 (27)), oder aber ein Sondervotum verweist auf ein älteres Sondervotum (z. B. E 72, 276 (278)). –– Der Durchbruch im Blick auf den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und demokratischer Teilhabe (vgl. E 123, 267 (340 ff.); zuletzt E 129, 124 (169)) ist ein Glücksfall. Von der Wissenschaft vorbereitet, jedoch nicht zitiert, gewinnt damit das in der Menschenwürde wurzelnde „Maßgabegrundrecht auf Demokratie“ Konturen. Damit verbietet sich auch das unselige Wort von der „marktkonformen Demokratie“; das Umgekehrte ist richtig: der völkerrechtsoffene, kooperative Verfassungsstaat setzt Rahmen für die demokratiekonformen Märkte. IV. Ausblick, Zukunftsfragen –– Die neuen Medien bilden eine Herausforderung nicht nur für die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit. Wie ist den weltweiten Gefahren für das Urheberrecht und den Privatheitsschutz zu begegnen? Hier bedarf es der Vorarbeit seitens der Verfassungstheorie. Der derzeitige (wildwachsende, vermachtete, den Markt verabsolutierende, beliebige) Naturzustand im Internet muss vom Verfassungsstaat in einen rechtlich strukturierten Kulturzustand überführt werden (national, regional und global), durch Verträge der Verfassungsstaaten und Konventionen der UN. Gefordert ist die universale Verfassungslehre im Kontext des dynamischen Völkerrechts. –– Die Intensivierung des Rechtsgesprächs (A. Arndt) zwischen dem BVerfG und den anderen europäischen Verfassungsgerichten, seien es nationale (z. B. in Brünn) oder übernationale, ist ein Desiderat der Wissenschaft (Stichwort: Kooperation mit Straßburg und Luxemburg, statt Konfrontation, rechtskulturelle Vielfalt). –– Schließlich: Die Öffentlichkeitsarbeit eines Verfassungsgerichts muss der klassischen richterlichen Zurückhaltung treu bleiben. Urteile des Gerichts sollten nicht von ihren Verfassungsrichtern in der Öffentlichkeit kommentiert werden. Vor allem müssen sich die Gerichtspräsidenten zurückhalten, etwa keine Interviews über verfassungspolitische Fragen geben (wie leider sehr oft der vorletzte deutsche Präsident des BVerfG), am besten: schweigen.

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4. Kap.: Verfassung Dritter Teil Verfassungspolitik in Sachen Verfassungsgerichtsbarkeit

Der Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit ist heute weltweit253. Nach den Pionierleistungen Österreichs bzw. H. Kelsens (1920) gehört sie zu den Elementen des Verfassungsstaates, die vielfältig rezipiert, weiterentwickelt, auch verändert und immer neu erprobt werden. Der US-Supreme Court wirkt auf seine Weise als Vorbild, sei es in der Rechtspolitik, insofern z. B. in Deutschland (1997 / 98) erwogen wird, zur Vermeidung einer Überlastung des BVerfG bei Verfassungsbeschwerden ein freies Annahmeverfahren vorzusehen, sei es indem seine Doktrinen immer wieder diskutiert werden (z. B. die Preferred-Freedoms-Lehre). Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist auf dem Weg, ein Strukturelement des universalen Konstitutionalismus zu werden (auch dank der Internationalen Gerichte). Dabei liegt auf der Hand, dass „Modelle“ bzw. Texte nicht einfach übernommen werden können. Jede einzelne Verfassungskultur eines Landes ist „individuell“ gewachsen und muss als „autonome“ respektiert werden. So kann etwa Frankreich nicht einfach das US-Modell übernehmen – sein Conseil Constitutionnel leistet schon genug in der vorsichtigen Ausweitung seiner Kompetenzen. So muss auch für Osteuropa zur Vorsicht gemahnt werden; das dort anbrechende Verfassungszeitalter, das zugleich eine Epoche neuer Verfassungsgerichtsbarkeit ist (wobei Polen schon vor der Wende von 1989 vorausgegangen war254), bleibt prekär, wie man 2012 an Ungarn sieht. Andererseits mag es beglücken, zu hören, dass südafrikanische Richter 1996 in Karlsruhe beim BVerfG Rat suchten und dass das südafrikanische Verfassungsgericht sogar in den Prozess der Verfassunggebung eingeschaltet war, um auf der Erfüllung aller „Constitutional Principles“ der Vorläufigen Verfassung von 1993 in der endgültigen von 1996 zu bestehen (vgl. Kap. 5 Art. 66 Abs. 2 bis 4). 253  P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), Festschrift zum 50jährigen Bestehen des BVerfG, 2 Bde., 2001; D. G. Belaunde / F. Segado (Coord.), La Jurisdiccion Constitucional en Iberoamerica, 1997; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987; David. L. Faigman, Laboratory of Justice. The Supreme Court’s 200 year Struggle to integrate Science and the Law, 2004; J. A. Frowein / T. Marauhn (Hrsg.) Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittelund Osteuropa, 1998; Mac-Gregor E. Ferrer, La Acción Constitucional de Amparo en México y Espana, 2002; W. Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: D. Thürer u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz 2001, S. 1167 ff.; K. Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 7 ff.; C. Landa, Tribunal Constitucional y Estato Democratico, 2. Aufl. (Lima) 2003; J. Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1990; Chien-liang Lee, Die Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtsentwicklung in Taiwan (1949–1999), in: C. Starck (Hrsg.), Staat und Individuum im Kultur- und Rechtsvergleich, 2000, S. 135 ff.; Robert G. Mac Closkey, The American Supreme Court, 2005; Miguel P. Maduro, We the Court, 2001; A. Nussberger, Das abstrakte Verfassungsauslegungsverfahren …, in: A. Adam (Hrsg.), 21. Verfassungstagung Pecs, 2004, S. 237 ff.; S.  R. Roos / J. Woischnik (Hrsg.), Códigos de ética judicial (Uruguay), 2005; C. Starck (Hrsg.), Fortschritte in der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt – Teil I, 2004; Cruz P. Villalón, La curiosidad del juriste persa …, 1999; M. Wyrzykowski (ed.), Constitutional cultures, 2000. 254  Dazu L. Garlicki, Vier Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen (1985–1989), JöR 39 (1990), S. 285 ff.

5. Kapitel

Einzelausprägungen I. Die Menschenwürde als „kulturanthropologische Prämisse“ des Verfassungsstaates, die Demokratie als „organisatorische Konsequenz“ 1. Die Menschenwürde als „kulturanthropologische Prämisse“ a) Problem Trotz der großen Rechtsprechungstradition des Bundesverfassungsgerichts1 ist keine für ausreichend gehaltene, „handliche“ Formulierung für das, was Menschenwürde sein soll, erkennbar. „Zwischen den Zeilen“ der verschiedenen Menschenwürdeklauseln und Identitätstexten der Verfassungen lässt sich spüren, dass die Klauseln jeweils auf eine kulturspezifische Vorstellung von Menschenwürde bezogen sind. Dies wirft die Frage nach der Kulturabhängigkeit (vor allem auch Religionsabhängigkeit) von Menschenwürdevorstellungen auf2. Verstößt z. B. die Stellung der Frau im Islam gegen einen in der ganzen Welt („universal“) geltenden, nicht aufgebbaren Inhalt von Menschenwürde? Oder gilt etwa der berühmte Satz: „The mores can make anything right“ (William G. Sumner)? Gibt es einen kulturkreis­ unabhängigen „Kern“ der Menschenwürde?    Diese Frage kann nur grundrechtsspezifisch beantwortet werden3. Auszugehen ist von der These, dass die Gesamtheit der personal bezogenen Rechtsverbürgungen einerseits und Pflichten andererseits es dem Menschen 1  Nachweise (und auch zum Folgenden, jetzt überarbeitet) in P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I (1987), 2. Aufl. 1995, S. 815 (820 ff.), 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 22; zuletzt bei H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Abs. 1 bei Rn. 81 bis 86. Zuletzt BVerfGE 89, 28 (35); 93, 266 zum Schutz der persönlichen Ehre; s. auch E 94, 12 (34); 95, 96 (130); 97, 391 (399 f.); 107, 275; 109, 133; 109, 279; 115, 118 (153); 128, 109; 129, 208 (263); 130, 1 (26). 2  Vgl. BVerfGE 12, 1 (4): „heutige Kulturvölker“, „Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung“; vgl. auch BVerfGE 24, 236 (246). 3  s. bereits BVerfGE 12, 45 (50 f.); später E 54, 341 (357).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

ermöglichen soll, Person4 zu werden, zu sein und zu bleiben. In dieser rechtlichen lebensbereichsspezifischen Absicherung des Person-Seins, der Identität, nimmt die Menschenwürde ihren zentralen Platz ein: Wie der Mensch zur Person wird, gibt auch Hinweise auf das, was „Menschenwürde“ ist. Zwei Fragen sind zu unterscheiden: wie sich menschliche Identität in einer Gesellschaft bildet, und inwieweit man von einem interkulturell gültigen (und damit „universalen“) Identitätskonzept ausgehen kann. b) Einige Folgerungen Betrachtet man die psychologischen und sozialwissenschaftlichen Identitätskonzepte, so zeigt sich eine sachliche (nicht: terminologische) Gemeinsamkeit: Identitätswerdung scheint sich zu vollziehen in einer in einen bestimmten „Rahmen“ eingebetteten Freiheit: Dieser Rahmen ist zum Teil auch der rechtliche „Überbau“ der Gesellschaft. In ihm vermittelt der Grundsatz der Menschenwürde dem Individuum bestimmte normative „Personenvorstellungen“, die durch die Kultur geprägt werden, in der sie entstanden sind5. Menschenwürde ist dennoch nicht nur kulturspezifisch inhaltlich analysierbar. Schon beim Blick auf interkulturell gültige Identitätskonzepte zeigt sich, dass bestimmte grundlegende Komponenten menschlicher Persönlichkeit in allen Kulturen berücksichtigt werden müssen: Sie sind damit auch Inhalt eines nicht kulturspezifisch reduzierbaren Menschenwürdekonzeptes, ein Stück „Weltrechtskultur“ und Baustein des Völkerrechts. Jenseits dessen ist der Orientierungsrahmen, vor dessen Hintergrund sich in freier, aber orientierter Entfaltung der Mensch zur Person findet, durchaus nicht statisch. Gesicherte, d. h. sozial akzeptierte Entfaltungs- und Kommunikationsmöglichkeiten – z. B. in der Form von gefestigten Rollen, im Beruf etwa „Berufsbilder“ – werden ein Teil des (nicht nur rechtlichen) Orientierungsrahmens; die Kulturspezifik von Menschenwürdevorstellungen 4  So schon J. M. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, bes. S. 6: Würde kommt dem Menschen zu, weil er „wesensmäßig“ Person „ist“. – Die deutsche Literatur zur Menschenwürde ist unüberschaubar. Hier nur: C. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997; ders., Das Bekenntnis zur Menschenwürde im Bonner Grundgesetz, JöR 59 (2011), S. 245 ff.; H. Hofmann, Die „versprochene“ Menschenwürde, AöR 118 (1992), S. 353 ff.; F. Hufen, Staatsrecht II, 3. Aufl., 2011, S. 130 ff.; H.-G. Dederer, Die Garantie der Menschenwürde, JöR 57 (2009), S. 89  ff.; zuletzt J. Isensee, Die Menschenwürde, in: Merten  /  Papier (Hrsg.), HGR 2011, Bd. IV, § 87. 5  s. auch R. Zippelius, Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung), Art.  4 GG (1966), Rn. 4: „Der zweite Hauptbegriff der in unserer Kulturgemeinschaft (!) lebendigen Vorstellungen über die Menschenwürde ist die sittliche Autonomie.“



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wird damit zu einer Kulturspezifik in der Zeit, der Orientierungsrahmen durch die wachsende Zahl seiner Orientierungsmöglichkeiten immer flexibler und differenzierter6. Eine Rückkehr zu überkommen-starren Vorstellungen wird schwer, ja unmöglich gemacht. Mit anderen Worten: Die Dürigsche Objektformel wird zur Subjektformel: der kooperative Verfassungsstaat verwirklicht Menschenwürde, indem er die Bürger zum Subjekt ihres Handelns macht7. Menschenwürde ist in diesem Sinne die gewachsene und wachsende Biographie des Verhältnisses Staat-Bürger8 (und, mit dem Schwinden der Trennung von Staat und Gesellschaft, des Verhältnisses Staat / Gesellschaft-Bürger). Hier liegt die (partielle) Berechtigung, wenn z. T. die Menschenwürde als gelungene Selbstdarstellung individuell konstituierter Persönlichkeit und damit als eigene Leistung des einzelnen Menschen hervorgehoben wird9, die z. B. als Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ praktisch sinnfällig ist10. Das Konzept der Identitäts(-wahrnehmung und -findung) wird hier wegen der Offenheit jenes Orientierungsrahmens für Menschenwürde in einem weiten Sinne verstanden, der die sozialen und rechtlichen Möglichkeitsbedingungen einbezieht11. Dies gilt auch im Völkerrecht (Freiheit: universal). c) Menschenwürde im Du-Bezug und im Generationenverbund Die sozialwissenschaftlichen Identitätskonzepte belegen zudem die weitere juristische Erkenntnis: In der Menschenwürde ist der Du-Bezug von vornherein mitgedacht. Die Anerkennung der „gleichen Menschenwürde des Anderen“12 bildet die dogmatische Brücke zur Du-bezüglichen Einbettung der Menschenwürde „des Einen“, wie dies die Menschenbildjudikatur des 6  Daher ist es auch funktional „richtig“, ein allgemeines „Auffang-Grundrecht“ wie Art. 2 Abs. 1 GG zu normieren, der in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in die Zukunft wirken kann. 7  Deutlich BVerfGE 38, 105 (114 f.); 9, 89 (95); E 87, 209 (228); s. auch E 89, 28 (insbes. 35). Grundlegend G. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde (1956), später in: G. Dürig, Gesammelte Schriften, 1984, S. 127 ff. 8  Auch Art. 79 Abs. 3 GG betrifft nicht so sehr abstrakte philosophisch-ethische Würdekonzepte als vielmehr eben die gewachsene Biographie des Verhältnisses Staat / (Gesellschaft)-Bürger. 9  N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, 2. Aufl. 1974, S. 68 ff.; A. Podlech, GG-AK, 2. Aufl., Bd. 1, 1989, Art. 1 Abs. 1, Rn. 11. 10  Vgl. BVerfGE 65, 1 (41 ff.); P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 148 f. 11  Begrifflich enger A. Podlech, Alternativ-K. GG, Art. 1 Abs. 1 (1989), Rn. 34 ff. 12  Vgl. zu den Gleichheitsrechten: HStR, Bd.  V (1992), S.  837  ff. (insbes. P. Kirchhof); K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, FS Lerche, 1993, S. 121 ff.

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Bundesverfassungsgerichts13 oder der Katalog der Grundrechte besonders in Art. 6 und 140, 9 und 21 oder 28 Abs. 2 GG konkretisieren14. Der Bezug zum „Anderen“, „Nächsten“, dem „Du“ und „Bruder“ (im Sinne der Brüderlichkeit von 1789), heute auch der „Schwester“, ist integraler Bestandteil des Grundrechtssatzes von der Menschenwürde, auch im Völkerrecht. Kurz: Der Mensch ist Mitmensch und zugleich Glied der „Generationenkette“. Der Generationenvertrag ist eine kulturelle Leistung! Sie muss immer neu erarbeitet werden: vom Einzelnen und von den politischen Gemeinwesen, z. B. via nationaler und universaler Kulturgüterschutz und Erinnerungskultur. Viele neue Verfassungen nehmen jetzt die künftigen Genera­ tionen ausdrücklich in den Blick (dazu S. 501 ff.). d) Menschenwürde im kulturellen Wandel Der Verfassungssatz der Menschenwürde bringt ein Mindestmaß an Entwicklungsfähigkeit und damit auch Wandelbarkeit der scheinbar „absoluten“ Menschenwürde mit sich. So rücken Gefahren im Umweltbereich und aus dem Internet erst jüngst ins Bewusstsein, wird manche gesellschaftliche Randgruppe (z. B. die der Transsexuellen) erst heute wahrgenommen: Die Menschenwürdeund Identitätsklauseln stehen im Kontext der Verfassungskultur. Dieser weist über das Juristische der Verfassung hinaus: auf das Kulturelle, d. h. auf Klassikertexte ebenso wie auf konkrete Utopien (z. B. der Umweltschützer), auf Erfahrungen eines Volkes (z. B. mit Tyrannen) ebenso wie auf Hoffnungen (bis 1990 die Einheit Deutschlands, heute die Europas, Afrikas und Lateinamerikas). 2. Der Zusammenhang von Menschenwürde und Demokratie a) Das „klassische“ Trennungsdenken und seine Kritik Grundlage des Verfassungsstaates ist eine doppelte: Volkssouveränität und Menschenwürde. Geistesgeschichtlich wurden Volkssouveränität und Menschenwürde bislang meist getrennt gedacht und „organisiert“. Volkssouveränität war das politisch-polemische Gegenstück gegen die monarchische Fürstensouveränität15. Ihr klassisches Verständnis in der Tradition von J.-J. 13  Dazu P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S.  44  ff. (4. Aufl., 2008). Aus der weiteren Lit.: J. M. Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995; F. Hufen, a. a. O., S.  139 f. 14  Zum „status corporativus“: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 376 ff. 15  Zur Souveränität vgl. grdl. P. Dagtoglou, Art. Souveränität, in: EvStL, 1966, Sp. 2321 ff. (jetzt 3. Aufl. 1987, Sp. 3155 ff.); S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat



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Rousseaus „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ prägt viele geschriebene Verfassungstexte und die viele Wissenschaftstraditionen bis heute. Seine Durchschlagskraft ist so stark, dass Korrekturen eher peripher, grundsätz­ liche Infragestellungen kaum und substantielle Verfassungstextvarianten selten wahrgenommen werden. Noch in Dolf Sternbergers Satz: „Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ liegt eine ungewollte Verbeugung vor der – bekämpften – „Position“ J.-J. Rousseaus. Im Postulat der gewaltenteilenden oder rechtsstaatlichen Demokratie16 liegt ebenso eine Korrektur „absoluter“ Volkssouveränitätslehren wie im Hinweis auf das pluralistische Aufgespaltensein des Volkswillens17 sowie im US-amerikanischen (oft rezipierten) „We, the people“. Dennoch bleibt es Aufgabe, Volkssouveränität von ihrem historisch-polemischen Ursprung abzulösen und mit Menschenwürde im Zusammenhang zu sehen. b) Wandlungen der Verfassungstexte Ein Vergleich der Texte verfassungsstaatlicher Verfassungen zeigt in älteren Verfassungen das Volk als primäres Element der Drei-Elemente-Lehre allgemeiner Staatslehren, gelegentlich wird der Bürger zum „Objekt“ der Staatsgewalt degradiert, textlich zum einen in der Tradition der Volkssouveränitätsdoktrin, d. h. als Passus „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“; zum anderen fällt die nationalstaatliche Kodifikationsgestalt auf: Das Volk wird als (gegen ethnische Minderheiten) einheitliches, „nationales“ postuliert: im Sinn von „deutschem Volk“ u. ä. Fast unbemerkt gehen einige neuere Verfassungstexte einen anderen Weg18. Entweder modifizieren sie die Volkssouveränitätsklausel19, sprechen von „Multiethnizität“ oder sie bauen ihren Grundrechtsteil so deutlich von der Menschenwürdegarantie her auf, dass dieses auf das Verständnis der überlieferten Volkssouveränitätsklausel nicht ohne Auswirkung bleiben kann – so in Art. 1 GG, der den Art. 20 Abs. 2 „korrigiert“. Wenn nach dem Verfassungs-Entwurf von Herrenchiemsee von 1948 (Art. 1 Abs. 1) „der zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; D. Grimm, Souveränität, Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, 2009. 16  R. Bäumlin, Die rechtsstaatliche Demokratie, 1954. 17  K. Hesse, a. a. O., S.  61 f. 18  Punktuell wird der Zusammenhang von Volk und Menschenrechten angedeutet z. B. in § 130 Paulskirchenverfassung (1849); s. auch Art. 1 S. 2 B-Verf. Österreich (1920): „Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Die Überschrift des Grundrechtsabschnitts der Verf. Japan (1946) formuliert: „Die Rechte und Pflichten des Volkes“ (zit. nach R. Neumann, Änderung und Wandlung der japanischen Verfassung, 1982, S. 187). 19  Vgl. Art. 1 Abs. 2 Burgenland (1981): „Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen.“

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Staat um des Menschen willen da“ ist (nicht umgekehrt), dann mag alle Staatsgewalt vom Volk „ausgehen“, aber dieser Satz hat seinerseits schon seine „primäre Prämisse“ in der Menschenwürde! Sie ist der „archimedische Bezugspunkt“ aller – auch im kooperativen Verfassungsstaat notwendigen – Herrschaftsableitungen und -zusammenhänge bzw. „Legitimationsketten“. „Herrschaft des Volkes“ (durch das Volk und für das Volk) wird erst in einem zweiten Denkschritt gedacht. Der Menschenwürdeschutz (auch in seiner Ausstrahlung auf Einzelgrundrechte!) ist als kulturanthropologischer Rechtsgrundsatz „Staat“ und „Volk“ vorgegeben, auch allen Herrschafts­ ableitungen und Legitimationszusammenhängen vom Volk zu den Staatsorganen (vgl. dazu BVerfGE 93, 37 (67 f.)), auch völkerrechtlich. Eine Parallelität von Menschenwürde und Volkssouveränität wird schon deutlich in Art. 1 und 2 Verf. Griechenland (1975). Art. 1 Abs. 2 lautet: „Grundlage der Staatsform ist die Volkssouveränität“, Abs. 3: „Alle Gewalt geht vom Volk aus, besteht für das Volk …“ etc. Wenn dann Art. 2 Abs. 1 die „Grundverpflichtung“ des Staates zu Achtung und Schutz der Menschenwürde normiert, so sind Volkssouveränität und Menschenwürdekonzept von vornherein verklammert. Noch besser formuliert aber Art. 1 Verf. Portugal (1976 / 1992) diesen Zusammenhang20. Auf die bereits erwähnte Vielzahl von Menschenwürdeklauseln in neueren Verfassungen sei verwiesen. Prägnant ist Verf. Südafrika von (1996) mit vielen allgemeinen und speziellen Menschenwürdeklauseln (Kap. 1, Art. 1 (a), Art. 10, Art. 39 Abs. 1 (1)  (a)) mit vielen Wirkweisen: Prinzip, Grundrechte, Interpretationsregeln. Zuvor stellte schon Art. 13 Abs. 2 Verf. Äthiopien von 1995 einen Menschenrechtsrat heraus. Die Rückführung der Souveränität auf die Bürger bringt Art. 4 Verf. Myanmar (2008) auf die beste Textstufe: „The Souvereign power of the Union is derived from the citizens …“

c) Die Einzelausarbeitung21 Erster Teil Einleitung „Menschenrechte“ und „Demokratie“ sind die großen Parolen unserer Zeit, sie gleichen fast schon einer „Erlösungsformel“. Bald werden sie auf nahezu allen Politikfeldern teils je für sich, teils im gleichen Atemzug gefordert, bald werden sie 20  „Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet und deren Ziel die Errichtung einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft ist.“ 21  Der innere Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Demokratie ist erneut in meinem gleichnamigen Beitrag in FS Ress, 2005, S. 163 ff. erarbeitet worden.



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zur Legitimierung des eigenen Handelns angerufen, oft „beschworen“. Der große Antipode zur Demokratie als Kontrastprogramm ist der totalitäre Staat, in welcher Erscheinungsform auch immer. „Menschenrechte“ werden bald unter Bezugnahme auf die Menschenwürde, bald ohne nähere Kennzeichnung sehr pauschal postuliert; oft fehlen präzise Hinweise etwa auf die verschiedenen Inhalte und Dimensionen wie die klassischen Menschenrechte, die wirtschaftlichen bzw. sozialen und kulturellen Grundrechte (als Teilhaberechte). Der Bezug zur (in fast allen neuen Verfassungen, zuletzt in der EU-Grundrechtecharta normierten) Menschenwürde wird oft mitgedacht, diese selbst aber nicht näher definiert. Mitunter findet sich eine Anrufung I. Kants („Der Mensch ist sich selbst Zweck“) oder ein Hinweis auf die einschlägigen Texte der UN. Klassikertexte zur Demokratie werden gerne in Anspruch genommen: etwa die Formel von A. Lincoln: Herrschaft des Volkes, für das Volk und durch das Volk (s. auch Art. 2 Abs. 5 Verf. Frankreich). Die Rede ist von der Demokratie als Herrschaft der öffentlichen Meinung oder der Mehrheit. Gefragt wird aber auch mit B. Brecht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin“? Nach dem Scheitern der sog. Volksdemokratie bzw. sozialistischen Planwirtschaft, spätestens im annus mirabilis 1989, erinnert man sich wieder fast universal an die Formeln von der bürgerlichen Demokratie („Bürgerdemokratie“), von der rechtsstaatlichen, gewaltenteilenden pluralistischen Demokratie, beruft man sich auf die dank der Demokratie eröffnete politische Mitgestaltung der Bürger, die Konkurrenz von Ideen und Interessen, die Selbstbestimmung oder „Selbstregierung“ des Volkes, die Zivilgesellschaft. Der Bezug zum Volk ist konstituierend, im Rahmen der europäischen Einigung wird das Volk auf der europäischen Ebene oft vermisst, weshalb die Idee einer „europäischen Demokratie“ ins Leere zu laufen scheint bzw. verneint wird (Stichwort: Demokratiedefizit), ebenso wie – immer noch – das Vorhandensein einer „europäischen Verfassung“ oder europäischen Öffentlichkeit geleugnet wird, obwohl die Konturen der europäischen Bürgerdemokratie sichtbar werden. In den Worten des GG hätte man zu fragen, in welchem Verhältnis Art. 1 (Menschenwürde) und Art. 20 Abs. 2 (Volkssouveränität) zueinander stehen: ein Nebeneinander?, ein Nacheinander, ein Miteinander oder ein Aliud? Eine Harmonisierungsformel ist bislang nicht gefunden. Hart trifft der Lehrsatz Rousseaus: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ auf die konstitutionelle Vorordnung der Menschenwürde des Einzelnen, die als „versprochene“ (H. Hofmann) sogar der Demokratie vorauszuliegen scheint. Geht also i. S. Sternbergers „nicht alle Staatsgewalt vom Volk aus“? Ist der Einzelne vor dem Volk zu denken, was kulturell gar nicht möglich ist? Löst sich das Volk im Internet auf zu „digitaler Wirklichkeit“? Zweiter Teil Pluralistische Demokratie als organisatorische Konsequenz der Menschenwürde I. Erscheinungsformen der Demokratie (Übersicht) Sie seien hier, in Raum und Zeit verglichen, in wenigen Stichworten aufgelistet: Erinnert sei an die beiden klassischen Demokratievarianten der repräsentativen (indirekten) und direkten Demokratie, die m. E. in der Schweiz als Idealform die sog. „halbdirekte“ Demokratie als Mischform gefunden hat. An Hand von Verfassungs-

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texten (Demokratie-Artikeln) und Judikaten, auch Theorien, lässt sich die soziale Demokratie (H. Heller) und C. Schmitts „Identität von Regierenden und Regierten“, ferner die sog. „parteienstaatliche Demokratie“ (G. Leibholz) nennen, auch die sog. Mediendemokratie bzw. „Stimmungsdemokratie“ ist im öffentlichen Sprachgebrauch heute besonders präsent. J. Habermas’ Unterscheidung zwischen drei Modellen der Demokratie, der liberalen, republikanischen und deliberativen sei kritisch erwähnt. Die gewaltenteilige, „abwehrbereite“, „streitbare“ Demokratie ist für das deutsche GG nach den Erfahrungen der Weimarer Zeit charakteristisch (Möglichkeit des Verbots politischer Parteien und verfassungsfeindlicher Vereinigungen: Art. 21 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 GG). Das BVerfG hat die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ in schon klassisch gewordener Weise wie folgt umschrieben: E 2, 1 (12 f.): „So lässt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“ Damit ist ein komplexes Ensemble einzelner verfassungsstaatlicher Prinzipien gebündelt, das zur genaueren Analyse aufgeschnürt werden müsste. Hier soll das Direktzitat genügen. Es lässt Zusammenhänge erahnen, die im Verlauf dieses Abschnitts wieder auftauchen. Erinnert sei an die Ausdehnungen des Demokratieprinzips: fragwürdige wie die „Wirtschaftsdemokratie“, gute, etwa in Gestalt der „innerparteilichen Demokratie“ nach Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG, gesprochen wird von „demokratischer Analogie“; erinnert sei aber auch an große Kulturbereiche, die sich der Demokratie gerade entziehen, etwa das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Aus der wissenschaftlichen Literatur sei der Gedanke von U. Scheuner erwähnt, der anschaulich von der demokratischen Legitimationskette „vom Volk zu den Staatsorganen“ sprach. Volksbegehren, Volksinitiative, Volksentscheid oder Volksbefragung sind weitere Erscheinungsformen der Demokratie; das Wort von den „demokratischen Grundrechten“ wie der Pressefreiheit wird gerne benutzt; der „Volksanwalt“ Österreichs ist ebenfalls einschlägig. Mit konstituierend ist das „Prinzip Öffentlichkeit“ (G. Heinemann: Öffentlichkeit als „Sauerstoff der Demokratie“). II. Leistungen des Demokratieprinzips Vom weltoffenen Verfassungsstaat her gesehen, und nur auf seiner Ebene sei argumentiert, da er auf der heutigen Entwicklungsstufe der Menschheit (im Geiste W. Churchills gesprochen) das am wenigsten schlechte Modell für politisches Zusammenleben darstellt, zeichnen die von der Würde des Menschen her gedachte Demokratie zwei Leistungen aus, „Leistung“ hier nicht im engeren Sinne des Utilitarismus verstanden: zum einen die Chance der gerechten, gemeinwohlorientierten



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Verarbeitung von Wandel, zum zweiten der menschenwürdegerechte Schutz vor Machtmissbrauch. Beides gehört zusammen. Im Einzelnen: 1. Demokratie als Verfahren zur gerechten und gemeinwohlorientierten Verarbeitung des kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen Wandels Das – konfliktreiche – Zusammenleben der Menschen in einem politischen Gemeinwesen ist dem Zeitfaktor unterworfen. Was immer die „Zeit“22 ist, von Augustinus bis H. von Hofmannsthal vermögen wir sie theoretisch nicht zu fassen: Jede Rechtsordnung muss sich ihr praktisch stellen, d. h. Instrumente und Verfahren einrichten, die den Wandel, eine Ausdrucksform von „Zeit“, verarbeiten. Die pluralistische Demokratie dürfte die Regierungsform sein, die am ehesten geeignet erscheint, zeitgerechtes Handeln zu ermöglichen (Stichwort: Offenheit der Ordnung). Demokratie wird suggestiv als „Herrschaft auf Zeit“ verstanden. Die regelmäßig wiederkehrenden Wahlen realisieren dies, wobei freilich die Attribute „frei“, „gleich“, „geheim“, „fair“ hinzugedacht werden müssen. Der Wandel wird so auf friedliche Weise ermöglicht. Konflikte werden friedlich gelöst. Missliebige Herrscher werden „ohne Blutvergießen“ ausgewechselt, um den Klassikertext von Popper zu zitieren: Demokratie „als Versuch und Irrtum“ (R. Dahrendorf). Wandel bezieht sich dabei auf die Kultur, das Soziale, die Wirtschaft und das diesen Feldern zugehörige Recht (vom Verfassungsrecht bis zum Privat- und Strafrecht, Wirtschafts- und Verbraucherschutzrecht, sogar Internetrecht). Der kooperative Verfassungsstaat besitzt ein bewährtes großes Instrumentarium zur Verarbeitung der Zeit und ihrer Konflikte: von der Totalrevi­sion über die Teilrevision von Verfassungen sowie die Gesetzesnovelle bis zur Rechtsprechungsänderung, dem obiter dictum und der „feinen“ Form des verfassungsgerichtlichen Sondervotums, das aus einer Minderheit „im Laufe der Zeit“ zum Mehrheitsvotum werden kann, wozu es in den USA wie in Deutschland große Beispiele gibt. „Ewige“ Herrscher neigen zu Machtmissbrauch, auch „ewig“ an der Herrschaft befindliche politische Parteien. Zu Recht erlauben viele Verfassungen nur eine einzige (unmittelbare) Wiederwahl des Staatspräsidenten23. Damit sind wir bereits bei dem zweiten Aspekt. 2. Der Schutz vor Machtmissbrauch Alle Menschen neigen von Natur aus dazu, die Macht zu missbrauchen, darum bedarf es der immer weiter zu entwickelnden verfassungsstaatlichen bzw. -recht­ lichen Kontrollmechanismen. Die bekannte skeptische Erkenntnis Montesquieus hat sein klassisches Konzept der Gewaltenteilung (1748) angeleitet. Demokratische Wahlen (basierend auf einem relativ optimistischen Menschenbild) aber sind ein 22  Zum Versuch einer Annäherung P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: A. Peisel / A. Mohler (Hrsg.), Die Zeit, 1983, S. 298 ff. 23  Z. B. Art. 88 Abs. 1 Verf. Südafrika von 1996; Art. 116 Abs. 3 Verf. Serbien von 2006; Art. 169 Verf. Bolivien von 2007; Art. 142 Abs. 2 Verf. Kenia von 2010. – Angesichts der russischen Erfahrung (Putins Wiederwahl 2012) müsste man die Lebenszeit erwähnen (Wiederwahl des Staatspräsidenten nur ein Mal in dessen ­Leben).

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Stück Gewaltenteilung in der Zeit, notwendig, weil der Mensch stets auch derselbe missbrauchsgefährdete „Sünder“ geblieben ist: als Bürger und als Amtsträger. Das nur gedämpft optimistische Menschenbild des Verfassungsstaates (z. B. in der „Resozialisierung“ und den schulischen Erziehungszielen greifbar) hat aus heutiger Sicht die pluralistische Demokratie zur unverzichtbaren Konsequenz. Nur sie erlaubt jene Machtkontrolle seitens der Bürgerschaft, die die Herrschenden buchstäblich „verdienen“. Gerechtigkeit und Gemeinwohl (ebenso klassisch definiert wie modern fortgeschrieben: von Aristoteles bis Rawls bzw. von Cicero bis E. Fraenkel) sind dabei Orientierungspunkte, auch zur Umschreibung des Begriffs „Missbrauch der Macht“. Elemente der unmittelbaren Demokratie gehören hierher (Vorbild ist die Schweiz). III. Voraussetzungen für menschenwürde-konsequente Demokratie Nach den Voraussetzungen bzw. Bedingungen zu fragen, verlangt, das im engeren Sinne juristische Denken zu überschreiten: Kontextorientiert ist kulturwissenschaftlich und in diesem Rahmen zu ergründen, welcher Bedingungen es bedarf, damit Menschenwürde und Demokratie praktisch gelebt werden können, dank der Garantiemacht des Verfassungsstaates als Typus, bei aller nationaler Beispielsvielfalt. Es sind drei ineinander greifende Voraussetzungen: die Kultur, ein Minimum an ökonomischem Wohlstand und die Garantie der Menschenwürde bzw. der Menschenrechte selbst (auch denen der anderen, der Mitbürger), d.  h. allgemeiner gesagt: der „Rechtsstaat“ samt seinen vielen Teilprinzipien wie Minderheitenschutz, Gewaltenteilung, Staatshaftung, Unabhängigkeit der Gerichte etc. (Der Begriff „vorrechtliche Voraussetzungen“, vgl. BVerfGE 89, 155 (185), ist zu unscharf.). Im Einzelnen: 1. Die Würde des Menschen dank des Kulturzustandes Die Dialektik von Naturzustand und Kulturzustand ist, in welchen Spielarten auch immer, ein klassisches Paradigma der Staatsphilosophie von T. Hobbes über J. Locke bis I. Kant. M. E. gibt es Menschenwürde nur im status culturalis, jenseits des Naturzustandes. Zwar bleibt es eine unverzichtbare Fiktion, dass der Mensch „von Natur aus“, sozusagen „eingeborene“ Rechte habe, damit kein Staat, totalitär oder nicht, auf diese Rechte zugreifen kann. Indes ist „Würde“, historisch betrachtet, Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses, eine kulturelle Errungenschaft par excellence, Ausdruck der kulturellen Evolution, ob man nun mit dem Vertragsmodell arbeitet oder nicht. Vielleicht klingt dieser Gedanke an in F. Schillers „Bedeckt Ihr die Blöße, ergibt sich die Würde von selbst“. A. Gehlens „Zurück zur Kultur“ ist der gegen Rousseau durchschlagende neue Klassikertext. Würde, Freiheit und Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verlangen Text und Kontext der Kultur, eine Fülle von auch rechtlichen Grundsätzen, Verfahren und Institutionen des Verfassungsstaates, um gelebt werden zu können. Die „Erfüllung“ der Freiheit ist nur „aus Kultur“ möglich. Es gibt nur kulturelle Freiheit, keine „natürliche“ Freiheit. Menschenwürde, Freiheit und Demokratie sind „Kulturthemen“, auch global. Ein Beleg für diese Zusammenhänge zeigt sich in den verfassungsstaatlichen Bildungs- und Erziehungszielen neben der allgemeinen Schulpflicht und der Bekämpfung des Analphabetismus in Entwicklungsländern. Vor allem deutsche Länderverfas-



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sungen nach 1945 und im Osten nach 1989, aber auch schon im Ansatz die WRV von 1919 (Art. 148: „staatsbürgerliche Gesinnung“) haben in ihrem Kanon von Erziehungszielen die Demokratie verankert (vgl. Art. 131 Abs. 3 Verf. Bayern, Art. 28 Verf. Brandenburg). Demokratie muss buchstäblich „gelernt“ werden (Beispiele: Deutschland nach 1945, Slowenien und Kroatien nach 1990, Irak heute, die arabischen Länder wie Tunesien und Libyen vielleicht morgen, nach 2011). Demokratie hat Teil der kulturellen Sozialisation des jungen Menschen zu sein. Sie „wird“ nicht von selbst. Aus diesem innerdeutschen Rechtsvergleich, der auf andere Verfassungsstaaten hin ausgeweitet werden kann (vgl. das Erziehungsziel „Einführung in die Verfassung“ in Art. 72 Verf. Guatemala (1985) sowie in Mexiko (Art. 3 Verf.)), ist kulturwissenschaftlich zu folgern, dass der völkerrechtsoffene Verfassungsstaat als Typus sehr wohl weiß, dass Demokratie wie Menschenwürde erst auf einem bestimmten kulturellen Humus gedeihen (vgl. auch das Erziehungsziel „Achtung vor der Würde des Menschen“, z. B. in Art. 22 Verf. Thüringen). Der zweite „Hintergrund“ für die Möglichkeit von und die Wirklichkeit zu menschenwürdegerechter Demokratie ist der Rechtsstaat im Ganzen und Einzelnen, sind „Allgemeine Rechtsgrundsätze“ und alle Verfahren für die Existenz einer öffentlichen gerechten Friedensordnung (dank des verfassungsstaatlichen Gewaltmonopols). Darauf ist zurückzukommen. Hier nur so viel: Die Rechtsordnung ist Teil der Kultur, angedeutet in dem Begriff der „Rechtskultur“ (auch im Internationalen Recht). Nicht zufällig war der größte Jurist der Antike, Cicero, zugleich der Schöpfer des Begriffs „Kultur“! Auszugehen ist heute von einem offenen, pluralistischen Kulturkonzept (Hoch- und Volkskultur, Alternativ- und Subkultur). Auch ein erweiterter Kulturbegriff (J. Beuys) ist relevant. 2. Ein Minimum an ökonomischem Wohlstand Diese Voraussetzung für menschenwürdekonsequente Demokratie wird oft schamhaft oder fahrlässig, aus falschem Idealismus oder gar aus Heuchelei vergessen, sie lässt sich aber sowohl an entwickelten Verfassungsstaaten als auch an sog. „Entwicklungsländern“, „Schwellenländern“ und Übergangsgesellschaften veranschaulichen. Das deutsche BVerwG hat sehr früh (1954) schon im ersten Band seiner Entscheidungen (E 1, 159 (161 f.)) den Fürsorge- bzw. Sozialhilfeanspruch aus Menschenwürde und Demokratie entwickelt. Das BVerfG konkretisiert die Mindestanforderungen für ein menschenwürdiges Dasein (vgl. E 82, 60 (85); 125, 175). Das Schweizer BG hat ein solches einklagbares Recht als „ungeschrieben“ bejaht, die neue BV von 1999 ist ihm darin (i. S. des Textstufenparadigmas) „geschrieben“ gefolgt: Jeder hat einen menschenrechtlichen Anspruch auf das wirtschaftliche Existenzminimum (Art. 12): „Mittel für ein menschenwürdiges Dasein“: ein schon klassisches soziales Grundrecht, ein „demokratisches Grundrecht“ par excellence. Die freiheitliche Demokratie funktioniert nur, das Wahlrecht wird nur dann von der bloßen Form zum Inhalt, zur öffentlichen Freiheit, zum politischen Mitgestaltungsrecht, wenn das Minimum der materiellen Existenzbedingungen für den Bürger garantiert ist. Für die Entwicklungsländer, in denen große Teile der Bevölkerung unter der sog. Armutsgrenze leben, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit von Demokratie bei wirtschaftlicher Not dramatisch (seit 2011 besonders in arabischen Ländern). Gleiche Schwierigkeiten zeigen sich in Übergangsgesellschaften: auf dem Weg vom totalitären Staat zum demokratischen Verfassungsstaat (Der im Mai 2004 von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte „Transformationsindex“ (FAZ vom 8. Mai 2004, S. 5) vertritt die These:

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„Demokratie führt zu Wohlstand“). Dass die osteuropäischen Reformstaaten nach 1989 oft ohne weiteres Demokratie „gewagt“ haben, verdient Bewunderung – Motiv war gewiss auch die Hoffnung auf Wohlstand schaffende soziale Marktwirtschaft. Man wird keine „florierende Wirtschaft“ verlangen dürfen, um einem Volk die Möglichkeit zu oder gar „Reife“ zur Demokratie zuzusprechen, doch muss der Zusammenhang im Blick behalten werden. Große Wirtschaftskrisen können Diktatoren den Weg bahnen und allgemeinen Unfrieden schaffen (Beispiel: das Deutschland der Weimarer Endzeit). Übergangsgesellschaften brauchen vielleicht zunächst Präsidialdemokratien (Russland?). Zu große Unterschiede zwischen Arm und Reich sind ebenso Gefahrenpotenziale für die freiheitliche Demokratie und den „sozialen Zusammenhalt“ wie ökonomische Monopolbildungen, die daher immer wieder von Verfassungen ausdrücklich verboten werden (z. B. Art. 156 BayVerf von 1946, Art. 41 Verf. Bremen von 1947, Art. 39 Abs. 1 Verf. Hessen von 1946): weil sie in politische Macht umschlagen können und die Offenheit der politischen Prozesse gefährden. Die Kumulation von politischer Macht, Wirtschafts- und Medienmacht im Italien Berlusconis (bis 2011) ist fragwürdig. Die pluralistische Medienverfassung (vgl. Art. 11 Abs. 2 EU Grundrechte-Charta von 2007; Art. 17 Verf. Ecuador von 2008; Art. 34 Abs. 4 und 5 Verf. Kenia von 2010) ist ein Kernstück der freiheitlichen Demokratie (aktuell: Subventionierung der Pressevielfalt, Verbot der Monopolbildung in der Presse). Das Verhältnis Markt / Demokratie bedürfte angesichts der europäischen Schuldenkrise von 2012 einer speziellen Untersuchung; ebenso die Demokratieproblematik in staatenübergreifenden Zusammenhängen (Internationalisierung). Und wie steht es um die demokratische Legitimation des Völkerrechts? Im klassischen Völkerrecht, das auf zwischenstaatlichen consensus gründet, gibt es sie gewiss nicht. Die wenigsten Staaten waren „Verfassungsstaaten“, konnten also auch keine demokratische Legitimation in Bezug auf die Rechtsquellen des Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht vermitteln. Heute, da ebenfalls immer noch nur eine Minderheit „Verfassungsstaaten“ sind, die grundrechtlich fundiert und demokratisch legitimiert sind, gilt Folgendes: Innerverfassungsstaatlich hat alles Verfassungsrecht und Recht die Menschenwürde zur kulturanthropologischen Prämisse, deren „organisatorische Konsequenz“ die Demokratie ist. Auf das Völkerrecht lässt sich dieser Ansatz aber – noch – nicht übertragen. So sehr die Menschenrechte vordringen, sie sind noch nicht die Basis des Völkerrechts, vielleicht rechtskulturell „Humus“. Sie formen auch noch keine demokratischen Strukturen im Völkerrecht aus. Es mag Ansätze geben: etwa über das Entstehen einer „Weltöffentlichkeit“, in Gestalt der UN-Vollversammlung als „Weltparlament“, respektive „townmeeting of the world“, in der Art und Weise, wie der UN-Sicherheitsrat da und dort in einzelnen Nationen bzw. Staaten Demokratie durchzusetzen sucht, etwa in Ex-Jugoslawien und im künftigen „demokratischen Irak“, auch die Weltöffentlichkeit des IGH in Den Haag sei erwähnt. Schon die Rechtsquellen der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ (und jus cogens) lassen sich nicht auf demokratische Legitimationszusammenhänge zurückführen. Sie gehen im Übrigen auch nach innerstaatlichem Recht oder in der EU nicht vom Volk aus. Insgesamt zeigt sich, dass die Demokratie kein „Allerweltsprinzip“ ist. Im Völkerrecht sollte ganz und gar der menschenrechtliche Ansatz im Vordergrund stehen (i. S. einer „anthroprozentrischen Wende“: M. Kotzur). Er mag dann mittel- oder langfristig auch da und dort zu einem Mehr an Demokratie führen. Der kulturwissenschaftliche Ansatz kann auch das Völkerrecht als „Kultur“ im neuen Licht erscheinen lassen. Z. B. sind die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ zuvörderst gerechtigkeitsnahe kulturelle Errun-



I. Die Menschenwürde und die Demokratie345

genschaften. Zugespitzt: Das Völkerrecht geht nicht vom Volk oder von den Völkern aus. Immerhin wagt die Präambel der UN-Charta eine Rezeption des US-amerikanischen Klassikertextes: „We, the people“, ist das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in Art. 1 Abs. 1 IpbürgR menschenrechtlich kontextualisiert. Doch in letzter Konsequenz ist Rousseau auch hier nicht einschlägig. Wohl aber geht das Völkerrecht – hoffentlich – auf die Menschenwürde hin! Eine spezielle Frage lautet: Wer ist der „Hüter“ des Völkerrechts, das rechtliche Weltgewissen? Für einen Teilbereich des humanitären Völkerrechts gewiss das Internationale Rote Kreuz und ihr „Mentor“, die Schweiz, der Idee nach auch die UNO, der IGH, der Int. Strafgerichtshof, die offene Gesellschaft der wissenschaftlichen Völkerrechtsinterpreten, einschließlich der NGO’s. Die vom seinerzeitigen UN-Generalsekretär K. Annan 2003 berufene Reformgruppe zur „Revitalisierung“ der UNO lässt hoffen, selbst heute noch. 3. Menschenwürde und Menschenrechte als Voraussetzung für pluralistische Demokratie Dieser Zusammenhang ergibt sich aus dem Bisherigen. Die Demokratie kann nur „leben“, wenn die Würde des Menschen, auch im mitmenschlichen Du-Bezug gesehen, garantiert ist. Der Kulturzustand, den die Menschenrechte voraussetzen und zugleich schaffen, ist Bedingung für die Möglichkeit und Wirklichkeit von Demokratie. Erwähnt sei besonders der menschenrechtliche Minderheitenschutz; Demokratie als reale Möglichkeit zum Machtwechsel verstanden, verlangt nach vielfältigen Garantien des Minderheitenschutzes: vom Schutz der Opposition (z. B. dank des Rechts auf parlamentarische Untersuchungsausschüsse) bis zu Garantien von reli­ giösen und anderen z. B. ethnischen (auch Sprach-)Minderheiten (vgl. etwa Art. 22 Verf. Serbien von 2006, durchgängig Verf. von Bosnien und Herzegowina von 199624). Die Minderheit von heute muss realiter zur Mehrheit von morgen werden können – der demokratische Lehrsatz (Mehrparteiensystem). Viele Menschenrechte sind Ausdruck der Menschenwürde, doch sind beide Begriffe nicht deckungsgleich. Bestimmte wirtschaftliche Freiheiten (wie z. T. die Medienfreiheit) etwa gehen über den Minimalgehalt der Menschenwürdegarantie hinaus. Doch lässt sich sagen: Wo ein Verfassungsstaat die Menschenwürde nicht zu schützen vermag, läuft die Demokratie ins Leere, wird sie zur Anarchie bzw. Diktatur, kommt es zu T. Hobbes’ Naturzustand. Seit längerem wird von den Grundrechten als „funktionelle Grundlage der Demokratie“ gesprochen, stehen Religions- und Meinungsfreiheit im Zentrum. Die Befriedung und Demokratisierung, vielleicht „Föderalisierung“ des Irak wird heute zum Testfall. Dasselbe gilt für Somalia, auch Syrien. Das Thema Menschenwürde und Demokratie im Islam ist ebenso aktuell wie ungelöst, aktuelle Herausforderungen stellt der Arabische Frühling von 2011. 4. Die menschen- und bürgerorientierte Volkssouveränität Volk ist weniger eine naturhaft vorgegebene Größe als eine kulturell sich in einer verfassungsstaatlichen Verfassung konstituierende und in ihren kulturellen Zusammenhängen immer neu werdende pluralistische Größe. Es besteht aus „Grundrechts24  Zit.

nach W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000, S. 122 ff.

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trägern“, d. h. aus Bürgern. Von ihnen geht letztlich alle (Staats-)Gewalt aus, auch die Verfassunggebung. Darum ist Achtung und Schutz der Menschenwürde eine „Grundpflicht“ des Verfassungsstaates, genauer eine „Grundrechtspflicht“. Insofern ist Art. 1 Abs. 1 GG „Staatsform“: Begründung des Verfassungsstaates. In der Menschenwürde hat Volkssouveränität ihren „letzten“ und ersten (!) Grund. Volk ist keine mystische Größe, sondern eine kulturelle Zusammenfassung vieler Menschen mit je eigener Würde: eine räumlich verortete, zeitlich gewordene und weiterentfaltungsfähige und öffentlich gelebte und verantwortete Zusammenfassung einer „Menge Menschen“ unter Rechtsgesetzen (im Sinne Kants): das demokratisch verfasste, im Selbstverständnis an der Menschenwürde orientierte, auf sie verpflichtete Volk. Ein solches Verständnis umgeht Gefahren, die durch die Überbetonung der Gemeinschaft nicht selten zu totalitären Entwicklungen geführt haben. Alle Autorität ist abgeleiteter Natur, es gibt keine „Würde“ des Staates, es gibt nur eine Würde des Menschen und Bürgers. Der „homo oeconomicus“ ist nur eine Teilwahrheit. Vom einzelnen Bürger her gesehen besteht ein gedanklicher „Fortsetzungszusammenhang“ zwischen Menschenwürde und freiheitlicher Demokratie. Die berühmte „Objektformel“ Dürigs (und des BVerfG) dürfte (unfreiwillig) verdeckt haben, dass ein positiver Zusammenhang zwischen Menschenwürde und den politischen (demokratischen) Gestaltungsrechten des Bürgers (in der Schweiz: den „Volksrechten“) besteht. Art. 1 GG, die Wahlrechte nach Art. 38 und die Grundrechte in und aus Art. 21 GG stehen in einer Gedankenkette zu Art. 20 GG. Zwar ist eine Konkordanzformel, die Art. 1 und 20 GG auf einen „Nenner“ brächte, noch nicht gefunden worden (und wohl auch nicht möglich, weil die Differenz von Individuum und Gemeinschaft bzw. verfasstem Gemeinwesen ein unaufhebbares, konflikterzeugendes Spannungsverhältnis konstituiert, dessen rechtliche Anerkennung für die neuzeitliche Staatlichkeit gerade charakteristisch ist). „Volk“ ist aber weder antigrundrechtliche noch antistaatliche Größe, sondern von vornherein grundrechtlich strukturiert und verfassungsstaatlich kulturell eingebunden; Grundrechte sind in einem tieferen Sinne auch „Volksrechte“ („Volksfreiheiten“). Punktuell wird der Zusammenhang von Volk und Menschenrechten schon angedeutet z. B. in § 130 Paulskirchenverfassung (1849); s. auch Art. 1 S. 2 B-Verf. Österreich (1920): „Ihr Recht geht vom Volk aus“; die Überschrift des Grundrechtsabschnitts der Verf. Japan (1946) formuliert: „Die Rechte und Pflichten des Volkes“. 5. Menschenwürde als (Maßgabe-)Grundrecht auf Demokratie Die „universal“ und kulturspezifisch umrissene „Kultur der Menschenwürde“ und die sie konkretisierende „Kultur der Freiheit“25 entfalten deshalb unmittelbar demokratiebegründende Kraft. So oft, und in Deutschland besonders erfolgreich, Spielarten des Liberalismus, des Positivismus und das den Traditionen des „bourgeois“ bzw. der Leitbilder des dem deutschen Konstitutionalismus verpflichtete Denken die Demokratie als bloße „Staatsform“ von den Grundfreiheiten unpolitisch trennen wollen, so unmissverständlich muss heute der Zusammenhang zwischen Menschenwürde bzw. Grundfreiheiten und freiheitlicher Demokratie betont werden. 25  Dazu P. Häberle, Aktuelle Probleme des Föderalismus, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (184).



I. Die Menschenwürde und die Demokratie347

Allerdings folgt daraus keine Präferenz für eine bestimmte Demokratieform. Vermutlich verstärkt sich aber im Verständnis von Einzelgrundrechten die demokratische Komponente in dem Maße, wie sich eine Verfassung (wie das Grundgesetz) allein auf die repräsentative Demokratieform festgelegt hat. Es wäre deshalb kurzschlüssig, die unmittelbare Demokratie als die „besonders“ menschenwürde-konforme zu bezeichnen, genauso wie es fragwürdig ist, die repräsentative Demokratie als die „eigentliche“ anzusehen. Auch eine „nur“ repräsentative Demokratie „genügt“ dem Postulat von der demokratiebegründenden Kraft der Menschenwürde. Menschenwürde als Recht auf politische Mitgestaltung (vgl. jetzt Art. 21 bis 24 Verf. Brandenburg) ist mit dieser Maßgabe ein Grundrecht auf Demokratie: Einerseits ist ihre demokratiebegründende Seite zu sehen; andererseits sind die Grundrechte dem Volk „zuzurechnen“. Die „Summe“ dieser Grundrechtsträger als Einzelmenschen bedeutet in einem ideellen Sinne auch eine Summe von Grundrechten, die das Volk im Verfassungsstaat kulturell konstituieren („We, the people“, z. B. Verf. Gambia (1997), Präambel Verf. Palau (1979)). Konsequenz ist ein entsprechendes Verständnis der Wahlrechte (z. B. aus Art. 38, 29, auch 33 GG) und Grundrechte auf demokratische Teilhabe: Sie sind – zumal im Verbund mit der politischen Dimension der Art. 5 und 8 GG (Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit) – als „funktionelle Grundlage der Demokratie“ konkrete Ausformung der aktivbürgerlichen „Schicht“ der Menschenwürdeklausel. Es wäre z. B. ein Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn einzelne Gruppen von Bürgern (etwa „die Alten“) von ihren Wahlrechten ausgeschlossen würden: Sie würden zum Objekt staatlichen Handelns (mit Auswirkungen auch im gesellschaft­ lichen Raum) und verlören ihre Identität als Person sowie die Fähigkeit zu sozialer, öffentlicher Kommunikation (auch Stimmenthaltung kann Identitätsfindung sein). Ungeachtet der textlich-redaktionellen Distanz: Die innere Verknüpfung von – auch politisch verstandener – Menschenwürde und den demokratischen Wahlrechten ist im kooperativen Verfassungsstaat denkbar eng, sie liegt an seiner „Wurzel“. In diesem Geist textet Art. 1 Abs. 2 der neuen Verfassung von Paraguay (1992): „pluralistic democracy, which is founded on the recognition of human dignity“. In diesem Sinne heißt es im Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE vom 29. Juni 1990 (EuGRZ 1990, S. 239 ff.) unter I. Ziff. 5: „… unter den Elementen … die folgenden wesentlich für den umfassenden Ausdruck der dem Menschen innewohnenden Würde …: Freie Wahlen werden in angemessenen Zeitabständen abgehalten …“ In ähnlichem Sinne sagt Chapt. 2 Ziff. 7 Abs. 1 Verf. der Republik Südafrika (1996): „This Bill of Rights is a cornerstone of democracy in South Africa. It enshrines the rights of all people in our country and affirms the democratic values of human dignity, equality and freedom.“ (Ähnliches Gedankengut jetzt in Art. 19, 20 Abs. 4 (a), Art. 24 Verf. Kenia von 2010.) IV. Grenzen der freiheitlichen Demokratie Die Grenzen des großen Kulturthemas „Demokratie“ seien wenigstens angedeutet. Sie zeigen sich an der Richtigkeit des Satzes von D. Sternberger „Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“. Doch bedarf es einer Verdeutlichung: Der Rechtsstaat, samt vielen Ausprägungen wie der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der dritten

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Gewalt, dem Minderheitenschutz und vor allem der sog. „Ewigkeitsklausel“ wie Art. 79 Abs. 3 GG von 1949, Art. 288 Verf. Portugal von 1976, Art. 441, 442 Verf. Ecuador von 2008, normieren eine Grenze für alle Demokratieformen. Gerechtigkeit und Recht (der „Rechtsstaat“) sind in ihren Kernbereichen für die sog. „Herrschaft des Volkes“ nicht verfügbar. Sie sind dem Volk als Kultur buchstäblich vorgegeben: „Herrschaft des Rechts“ bzw. „Rule of Law“ (z. B. Art. 1 Abs. 1 (c) Verf. Südafrika von 1996). Zugespitzt: Nicht alles Recht geht vom Volk aus, aber alles Recht ist von der Würde des Menschen her zu denken! Die Toleranzidee, der Minderheitenschutz, der reale Pluralismus (einschließlich aller Arten von Gruppen), die kulturelle Vielfalt – all dies kann nicht im Schema der Rousseau’schen Demokratie-Ideologie begriffen werden. Nicht alle Kultur geht vom Volk aus, um noch stärker zu provozieren. Eine Leistung des in vielen Generationen entwickelten weltoffenen, kooperativen Verfassungsstaates besteht gerade darin, viel „Recht“ dem Volk buchstäblich „vorzugeben“. Das Recht – Teil der Kultur – besitzt in vielen Ausprägungen keine demokratische Legitimation (z. B. die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Ehe und Familie, die Kirchen, andere Religionsgesellschaften), wohl aber menschenrechtliche Zuordnung. Die Grenzen der freiheitlichen Demokratie sind gerade im Abwehrkampf gegen totalitäre Systeme als „Toleranzgrenze“ immer wieder notwendig geworden. Demokratie bzw. Wahlen und Abstimmungen sind keine Kompetenzen zur Beliebigkeit, sie haben „vorstaatliche“, vom Verfassungsstaat „nachgezogene“ Grenzen, von denen einige erwähnt worden sind. Darum das Wort von der Würde des Menschen als kulturanthropologischer „Prämisse“. Das hier Gesagte bleibt in vielem ein offener Fragenkatalog. Es dient der These, die Menschenwürde sei im Verfassungsstaat die kulturanthropologische Prämisse, die pluralistische Demokratie sei ihre instrumentale organisatorische Konsequenz – die soziale (zunehmend auch ökologisch orientierte) Marktwirtschaft mit ihren wirtschaftlichen Freiheiten steht in gleichem Kontext, wegen ihrer Wohlstand schaffenden Kraft. Demokratie bleibt das große Ideal, ebenso wie die Menschenwürde bzw. die Menschenrechte (Menschenrechte und Demokratie als „Erziehungsziele“). Defizite sind selbst in entwickelten Verfassungsstaaten bei beiden Idealen allenthalben schmerzlich greifbar. Die Frage nach Voraussetzungen und Grenzen der Demokratie führte zu einigen Erkenntnissen, z. B. zu dem Satz: Nicht alles Recht geht vom Volk aus: „Allgemeine Rechtsgrundsätze“, rechtsstaatliche Prinzipien, die Menschenrechte, der Minderheitenschutz sind kulturelle Determinanten („Kon-Texte), die sich dem Volk kulturell auferlegen. Auch lebt der Mensch selbst (ja das Volk im Ganzen) nicht von Demokratie allein. Zu seiner „conditio humana“ gehören private Schutzzonen wie die Religionsfreiheit, Felder, Aktivitäten, emotionale Ressourcen, die gerade nichts mit Demokratie zu tun haben (wollen) – das hat die Demokratisierungsbewegung der 68er Jahre verkannt. Kulturelle Identität der Bürger, Völker und Minderheiten, auch Europas ist nur zum Teil ein Werk der Demokratie. Die hier gewählte Methode ist die kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende (Stichwort: die Verfassung als Kultur, Relevanz der kulturellen Kontexte und Textstufen). Sie erst kann m. E. vorletzten Grund und Gründe für den Verfassungsstaat erschließen, sie erst vermag zu erklären, dass und wie Menschenwürde und pluralistische Demokratie zusammenhängen: Sie sind konstitutionelles Programm und ein Stück weit auch immer Utopie, wie alle Ideale des Verfassungsstaates ein Gran Utopie bleiben, so viel Wirklichkeit er heute besitzt und prägt, europa-, ja weltweit.



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3. Menschenrechte / Grundrechte im Verfassungsstaat a) Verfassungsstaatliche bzw. verfassungstextliche Bezugnahmen auf die Menschenrechte – eine vergleichende Typologie: Die schrittweise „Konstitutionalisierung“ der Menschenrechte als Positivierung Erste Erkenntnisse über das Verhältnis von Menschenrechten26 und Verfassungsstaat lassen sich aus einem raum- / zeitlichen Vergleich der Verfassungstexte selbst gewinnen. Verfassungslehre – als vergleichende „juristische Textund Kulturwissenschaft“ begriffen – geht von den positiven Verfassungstexten aus, stellt sie (sensibel) in ihre kulturellen Kontexte und vermag so die Entwicklung des Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ nachzuzeichnen, weil die Verfassunggeber aller Zeiten und Nationen in einem intensiven Produktions- und Rezeptionsprozess stehen. Heute ist eine verfassungsstaatliche Weltöffentlichkeit entstanden. Da der jeweils jüngere Verfassunggeber nicht nur die alten Texte der anderen „abschreibt“, sondern auch die fremde Verfassungsrechtsprechung und Lehre teilweise übernimmt und in Texte umgießt, und da er überdies teilweise die fremde Verfassungswirklichkeit, im Ganzen die „ungeschriebene Verfassung“ seinerseits auf neue Texte zu bringen sucht, wird über die „Textstufenentwicklung“ der Verfassungsstaat als Ideal- und Real-Typus im „Laufe der Zeit“ greifbar. Bei allen nationalen Varianten und kontextlichen Unterschieden der einzelnen Beispielsverfassungen: Dank des Textstufenparadigmas lassen sich die Dynamik und Statik, das Gemeinsame und Trennende, das Neue und Alte des Typus „Verfassungsstaat“ und seiner Themen beim Namen nennen und auf Begriffe bringen: aus Kultur und als Kultur. Die beiden iberischen Länder etwa und der besondere Kulturzusammenhang, in dem sie mit Lateinamerika – zum großen Nutzen 26  Die Literatur ist unüberschaubar: z. B. J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte, Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, 1978; ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981; L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987; B. Mensen (Hrsg.), Grundrechte und Menschenrechte in verschiedenen Kulturen, 1988; H. Maier, Wie universal sind die Menschenrechte?, 1997; C. Richter, Aspekte der universellen Geltung der Menschenrechte, 2007. – Aus der USamerikanischen Grundrechtsliteratur: G.  M. Abernathy / B.  A. Perry, Civil liberties under the Constitution, 6. Aufl. 1993; R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977; N. Vieira, Civil Rights in a Nutshell, 2. Aufl. 1989; s. auch W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten, 1987. – Zu Frankreich: M. Itin, Grundrechte in Frankreich, 1993; J. Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 11. Aufl. 1991, S. 87 ff. – Zu Italien: A. Pace, Problematica delle liberta costituzionali, 2 Teile, 2. Aufl. 1990 bzw. 1992; P. Ridola, Diritti di Libertà e costituzionalismo, 1997; F. Modugno, I „nuovi diritti“ nella Giurisprudenza Costituzionale, 1995. – E. Mikunda-Franco, Das Menschenrechtsverständnis in den islamischen Staaten, JöR 44 (1996), S. 245 ff.; I. Richter, Transnationale Menschenrechte, 2008.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

für ganz Europa – stehen (genannt sei der große Bogen von der spanischen Verfassung von Cádiz (1812) bis zur den neuen, innovationsreichen Kolumbiens (1991), Boliviens (2007) und Ecuadors (2008)), eröffnet der weltweit vergleichenden Verfassungslehre besondere Perspektiven: im Blick auf ihre Universalität, auch zum Völkerrecht hin. b) Die Menschenrechte als Bestandteile allgemeiner Bekenntnisklauseln Ein schon klassisches Textelement bilden die menschenrechtsbezogenen Bekenntnisklauseln, sei es in Präambeln, sei es in Grundlagen-Artikeln. Stilbildend ist hier der Vorspruch der französischen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789 („natürliche, unveräußerliche und geheiligte Menschenrechte“), schon die Declaration of Rights von Virginia (1776) enthält den Satz (in I.), „dass alle Menschen von Natur aus gleich frei und unabhängig sind“. Später lautet die Präambel der Verf. Frankreich ­ (1958 / 1976 / 2008): „Das französische Volk verkündet feierlich seine Verbundenheit mit den Menschenrechten …, wie sie in der Erklärung von 1789 niedergelegt wurden …“27. Die sprachlich wohl schönste Wendung gelingt der Präambel Verf. Kanton Jura (1977): „Le peuple jurassien s’inspire de la Déclaration des droits de l’homme de 1789, de la Déclaration universelle des Nations unies proclamée en 1948 et de la Convention européenne des droits de l’homme de 1950“28. Die Präambel (alte) Verf. Peru (1979) gibt sich entschlossen, einen demokratischen Staat zu begründen, der „durch stabile und legitime Institutionen die volle Geltung der Menschenrechte gewährleistet“. Im Grundlagen-Artikel 2 Verf. Italien (1947) heißt es: „Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der sozialen Gemeinschaften, …“ Nach der Präambel Verf. Spanien (1978) ist die spanische Nation von dem Wunsche beseelt, „alle Spanier und Völker Spaniens bei der Ausübung der Menschenrechte … zu schützen“. Auf weitere Beispiele sei verwiesen29. 27  Z. B. heißt es im Vorspruch Verf. Baden-Württemberg (1953): „in feierlichem Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten und den Grundrechten der Deutschen …“ 28  Dieser Text wird übernommen von Art. 2 Abs. 2 Verf. Brandenburg (1992): „Das Volk des Landes Brandenburg bekennt sich zu den im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in der Europäischen Sozialcharta und in den Internationalen Menschenrechtspakten niedergelegten Grundrechten.“ 29  Art. 2 Verf. Türkei (1982): Achtung der Menschenrechte. – Art. 1 Verf. Baden (1947) stellt die „unveräußerlichen und geheiligten“ Menschenrechte unter den Schutz der Verfassung; s. auch Art. 1 Verf. Tschechien von 1992 (zit. nach JöR 44



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Art. 7 Abs. 1 Verf. Südafrika (1996 / 97) sagt bildhaft: „This Bill of Rights is a cornerstone of democracy in South Africa“. Präambel Verf. Kenia (2010) beschwört die „essential values of human rights“ und die „rule of law“. Erwähnt seien auch die neuen Auslegungsregeln (Art. 19 bis 25). c) Menschenrechte als Erziehungsziele Eine recht neue „Verbindung“ mit innerverfassungsstaatlichen Themen gehen die Menschenrechte mit den Erziehungszielen ein. Der kooperative Verfassungsstaat „verinnerlicht“ die Menschenrechte auf spezifische Weise, weil und insofern er sie zum Thema seiner Erziehungsziele macht. Im Grunde sucht er so seine Bürger von Jugend an zu „Weltbürgern“ zu erziehen – Erinnerungen an das menschenrechtliche Sendungsbewusstsein der USA, vielleicht auch an das universale Pathos von 1789 und an den deutschen Idealismus mit weltweiter Ausstrahlung sind erlaubt. Eine Pionierleistung30 vollbrachte hier Art. 27 Verf. Spanien (1978): „Ziel der Erziehung ist die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unter Achtung der demokratischen Grundsätze des Zusammenlebens sowie der Grundrechte und Grundfreiheiten“. Diese Idee wird in Art. 22 Abs. 3 Verf. Peru (1979) rezipiert in den Worten: „Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen und militärischen Bildungseinrichtungen und in allen Stufen obligatorisch“. Später heißt es – verbessert – in Art. 72 Abs. 2 Verf. Guatemala (1985): „Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und der Menschenrechte“. Art. 27 Verf. Ecuador (2008) stellt einen intensiven Bezug zwischen den Menschenrechten und der Erziehung her, der Schule machen sollte (universal). (1996), S. 458 ff.): „Die Tschechische Republik ist ein auf der Beachtung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers begründeter souveräner, einheitlicher und demokratischer Rechtsstaat.“ – Präambel Verf. Bulgarien von 1991: „… érigeant un principe suprême les droits de l’individu, sa dignité et sa sécurité … – Art. 12 Abs. 1 Slowakische Republik von 1992 (zit. nach JöR 44 (1996), S. 478 ff.): „People are free and equal in their dignity and rights.“ – Präambel Verf. Georgien (1995): „The Citizens of Georgia … guarantee universally recognized human rights …“ Art. 18 Abs. 1 Verf. Serbien (2006): „Human and minority rights guaranteed by the Constitution shall be implemented directly.“ Die Verfassung der Republik Venezuela (1999) beruft sich in ihrer Präambel auf die „universale und unteilbare Garantie der Menschenrechte“: „nationales Völkerrecht“! 30  Eine frühe Ausprägung dürfte es sein, wenn eine Verfassung wie die Mecklenburg-Vorpommerns (1947) die Erziehung der Jugend zu „wahrer Menschlichkeit“ fordert oder Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern (1946) die Achtung vor der Würde des Menschen zum Bildungsziel erhebt (vgl. jetzt auch Art. 28 Verf. Brandenburg (1992)).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

II. „Bilderphilosophische Aspekte“: Menschenbild, Staatsbild, Volksbild, Gottesbild, Weltbild Die – als juristische Text- und Kulturwissenschaft verstandene – weltweit vergleichende Verfassungslehre kann sich auf eine „Bilderphilosophie“ einlassen. Denn die Staatsrechtslehre arbeitet seit längerem (im Gefolge der Menschenbildjudikatur des BVerfG) mit der Kategorie des „Menschenbildes“31 und sie ist ein Aspekt in einer Trias: zusammen mit dem „Staatsbild“ und dem „Weltbild“. Mensch, Verfassungsstaat und Welt bezeichnen Zusammengehörendes, auch und gerade für den Juristen. Er hat freilich allen Grund, bei diesem Thema sich weit zu den anderen Disziplinen hin zu öffnen. Denn sie konstituieren „die Welt“ – jedenfalls in der (Re)konstruktion durch den Menschen – mit, man denke an H. Küngs völkerverbindendes „Welt­ ethos“, das Projekt und kulturelles Erbe zugleich sein will. Die Lehre vom völkerrechtsoffenen Verfassungsstaat dürfte heute besonderen Grund haben, nach dessen Kompetenzen und Aufgaben im Blick auf die Welt zu fragen (nicht nur weil wohl die meisten Staaten Verfassungsstaaten sind bzw. sein wollen). Denn er nimmt allenthalben Verpflichtungen wahr, die sich auf die Welt beziehen und er trägt das sich weiter entwickelnde Völkerrecht in besonderer Weise, universal im Rahmen der UN sowie via Entwicklungshilfe, z. B. für Afrika, regional auch in Gestalt von Ansprüchen und Interventionen, etwa der EU auf dem Balkan, der vom UN-Sicherheitsrat ermächtigten NATO in Libyen (2011), Stichwort: „Schutzverantwortung“, nicht in Syrien (2012). Es sind gewiss andere Wissenschaften und die Künste, die längst vor der Verfassungslehre die „Welt“ oder menschlich genommen die „Menschheit“ zu ihrem Gegenstand gewählt haben. So gibt es J. G. Herders großes Werk „Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menscheit“ (1785), I. Kants „weltbürgerliche Absicht“ (1775 / 1795); so kennen wir J. Burckhardts „weltgeschichtliche Betrachtungen“ aus dem Nachlass (1905)32. Zuvor sprach G. W. F. Hegel von „Weltgeist“ und „Weltgericht“ (1821). Die Geschichtswissenschaft hat sich immer wieder an eine „Weltgeschichte“ gewagt. Ein A. Heuß wollte nur diejenigen Hochkulturen behandeln, die eine deutliche „Welthaftigkeit“ besaßen, also über längere Zeit prägenden Einfluss auf die Welt ausübten. Solche „Welthaftigkeit“ konnte man der chinesischen, der 31  Dazu meine Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988 (4. Aufl., 2008, ebd., S. 12 ff. erstmals zur Frage des „Weltbildes“). Weitere Lit.: C. Bumke, Menschenbilder des Rechts, JöR 57 (2009), S. 125 ff.; U. Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, AöR 134 (2009), S. 157 ff. 32  Vgl. noch J. Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien, 1860, 4. Abschnitt: „Die Entdeckung der Welt und des Menschen“.



II. „Bilderphilosophische Aspekte“353

indischen, der arabisch-muslimischen und vor allem der europäischen Hochkultur zuschreiben. Sie ist es auch, die heute im Völker- und Verfassungsrecht, z. B. in Sachen Menschenrechte, Demokratie und soziale Marktwirtschaft unter wachsendem Widerstand der islamischen „Welt“ die Menschheit prägt. So mag man mit Hans Freyer die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts als eine „Weltgeschichte Europas“ schreiben33, doch ist es kein Zynismus, wenn man feststellt, dass die ersten als solche bezeichneten „Weltkriege“ von eben diesem Europa ausgingen. Gewiss wird man in den (bildenden) Künsten bei der Suche nach ihrem „Weltbild“ z. B. im Mittelalter und nach 1492 besonders fündig. Und J. W. v. Goethe hat seinen Beitrag vorweg geleistet in dem Vers: „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nordund südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände“. Wie konstituiert sich aus der Perspektive der vergleichenden Verfassungslehre diese eine Welt? – die „Weltgesellschaft“ (N. Luhmann)? Übernimmt sie sich angesichts der Vielfalt der Kulturen und des „Zusammenstoßes der Zivilisationen“? Oder hat sie sich eben deshalb wegen ihres hoch entwickelten Verfassungsrechts der Toleranz und dank des Völkerrechts der Koexistenz und Kooperation mit Elementen des – ihres – Weltbildes zu beschäftigen? Hier gebührt dem Projekt von J. Habermas ein Platz34: „Allein eine demokratische Staatsbürgerschaft, die sich nicht partikularistisch abschließt, kann im Übrigen den Weg bereiten für einen Weltbürgerstatus, der heute schon in weltweiten Kommunikationen Gestalt annimmt“. Und: „Der weltbürgerliche Zustand ist kein bloßes Phantom mehr, auch wenn wir noch weit von ihm entfernt sind. Staatsbürgerschaft und Weltbürgerschaft bilden ein Kontinuum, das sich immerhin schon in Umrissen abzeichnet“. In der deutschen Sprache kommt die „Welt“ auch in jenem Begriff bzw. Wort zum Ausdruck, das sich als „Umweltrecht“, einschließlich des „Umweltvölkerrechts“ rasant entwickelt. Mag Streit um das anthropozentrische oder physiozentrische „Weltbild“ herrschen: Die Umwelt ist ein Stück „Welt“ und sie macht in der Summe die Welt insgesamt aus. Gerade der Ordnungs-, Schutz- und Gestaltungsauftrag im Blick auf die Umwelt fordert es, die Frage nach dem „Weltbild“ des kooperativen Verfassungsstaates zu stellen. Erinnert sei auch an das humanitäre Völkerrecht sowie an viele UN-Konventionen zum Schutz von Aspekten der Welt bzw. Menschheit (z. B. in Sachen Völkermord (1948), Montrealer Protokoll (1987), nukleare Unfälle (1986), grenzüberschreitende Luftverunreinigung (1979), Weltraumvertrag (1967)). 3. Aufl., 1969; A. Heuß, Zur Theorie der Weltgeschichte, 1968. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 659 f. Ebd. S. 138 ff.: „unterstellte Republik von Weltbürgern“. 33  1954, 34  J.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

III. „Kulturelle Freiheit“, Freiheit aus Kultur, Menschenrechte / Grundrechte im Verfassungsstaat 1. Kulturelle Freiheit In der kulturellen Dimension muss die grundrechtliche Freiheit, muss die freiheitliche (und kulturelle) Demokratie auch von ihren Ergebnissen her gesehen werden. So beliebig das sein darf und soll, was der Einzelne mit seiner Freiheit anfängt bzw. aus ihr macht (oder nicht macht), so ergebnisorientiert ist aufs Ganze gesehen die Garantie der Freiheit für alle bzw. als solcher: Kultur aus Freiheit. Kulturelle Freiheit ist – in der Zeitachse betrachtet – eine Leistung vieler Generationen, im „Querschnitt“ gesehen ist sie Produkt vieler unterschiedlicher Kreise und Gruppen eines Volkes bzw. der Verfassungsinterpreten. Von der individuellen Statur eines Volkes aus gesehen wird Freiheit wesentlich um ihrer „Objektivationen“ und „Materialisierungen“ sprich: Resultate willen garantiert, die ihre Einzelausübung hervorbringen kann; Bemühungen um „alternative“ Kulturformen und ihre schließliche Anerkennung (z. B. „Die Beatles“) bestätigen den Zusammenhang von Kultur und Freiheit. Darum auch das Wort von der „Verfassung aus Kultur“, von Freiheit als universalem Wert.  Der Begriff „kulturelle Freiheit“ sucht also die Freiheit vom Gegenständlichen her anzureichern, nicht i. S. einer normativ-verbindlichen Vorgabe, sondern vom erwarteten, gewiss oft verfehlten Ergebnis her. So gesehen ist alle Freiheit „kulturelle Freiheit“: als Freiheit, die in realistischer Betrachtung in ein Geflecht von Erziehungszielen und Orientierungswerten, kulturellen Maßstäben und sachlichen Bindungen eingefügt ist, kurz die „Kultur“ buchstäblich „zum Gegenstand“, ja zur Aufgabe hat. Kultur ist in dieser Form Gegenstand sowohl der Freiheit des und im Einzelnen als auch der Freiheit als „Gesamtzustand“ eines Volkes. Diese Freiheit „gerinnt“ oder objektiviert sich zu kulturellen Elementen, es kommt zu kulturellen Kristallisationen, auf denen spätere individuelle und kollektive Freiheitsausübung aufbauen kann. Kulturelle Wachstumsprozesse verlaufen über solches Wechselspiel von „potentieller“ Freiheit über „erfüllte“ Freiheit bzw. kulturelle Freiheitsergebnisse bis zu Werken, von denen aus wieder neue individuelle Freiheit möglich, aber auch notwendig ist und gewagt werden muss (mit der Möglichkeit des Scheiterns): Meinungs- und Pressefreiheit führen zu Meinungen und Pressewerken, die dem kulturellen und politischen Prozess zugute kommen; Kunst- und Wissenschaftsfreiheit führt zu Werken der Wissenschaft und Kunst, auch zur Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur, die bei späteren Auslegungsvorgängen hilfreich werden können; die Glaubensfreiheit führt zu religiösen Inhalten und Orientierungen, die das Selbstverständnis der religiösen Gruppen prägen können; Ähnliches gilt für



III. Freiheit und Menschenrechte / Grundrechte355

alle korporativen Aspekte grundrechtlicher Freiheit. Auch um dieser individuellen und sozialen „Gesamterfolge“, um dieser Resultate willen werden Grundrechte normiert, ausgestaltet und entwickelt. Und das, was ihre Inanspruchnahme politisch, wirtschaftlich und kulturell hervorbringt, prägt auf längere Sicht seinerseits wieder die Grundrechte: in ihrer normativen Gestalt und auf den Wegen ihrer Erfüllung. Die erwähnten Prozesse der Produktion und Rezeption nehmen ihren Weg gerade „durch“ die Grundrechte hindurch. Darum wagen diese Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre im Schulterschluss mit dem Völkerrecht das Thema Verfassungsstaat „aus Kultur und als Kultur“. In der Präambel Verf. Senegal von 2001 heißt es: „Valeurs fondamentales qui constituent le ciment de l’unité nationale.“ 2. Insbesondere: „Grund-Rechte“, die Unterscheidung zwischen „Menschen-“ und „Bürgerrechten“, insbesondere: Der „status mundialis hominis“ a) „Grund-Rechte“ (bzw. spanisch: „derechos fundamentales“) bilden heute den Oberbegriff für universale Menschenrechte und nationale Bürgerrechte. Beide Arten von Grundrechten35 sind, wenn auch in verschiedener Intensität, notwendiger Bestandteil der Rechtskultur jedes weltoffenen „Verfassungsstaates“, der diesen Namen verdient. b) Der die Grundrechte fundierende Theorie-Rahmen der Lehre vom Gesellschaftsvertrag (i. S. von J. Locke gerichtet auf Freiheit und Eigentum, aufbauend auf T. Hobbes: Leben und Sicherheit), heute als „Verfassungsvertrag“ zu deuten, ist von der nationalen Ebene auf die universale zu erstrecken: Neben die einzelstaatliche Gesellschaft und ihren „status civilis“ tritt ergänzend die „Weltgesellschaft“ mit der Folge eines grundrechtlichen status mundialis jedes Menschen; in ihrem Kraftfeld ist – mindestens als Fiktion i. S. Kants – ein „Weltgesellschaftsvertrag“ zu „denken“. Nicht nur innerstaatlich hat der Mensch den Übergang vom „status naturalis“ in den „status civilis“ geschafft – auch im Weltmaßstab, global gesehen, ist der Übergang vom „status naturalis“ in den „status civilis“ mindestens fiktiv erfolgt: Vertragspartner sind alle Menschen und alle Verfassungsstaaten (bzw. Völker) 35  Schon die deutsche Literatur zur Grundrechtsdogmatik ist unüberschaubar, hier nur einige Hinweise: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 125 ff.; P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961; G. Dürig, Gesammelte Aufsätze, 1984; F. Hufen, Staatsrecht II, 3. Aufl, 2011; L. Michael / M. Morlok, Grundrechte, 3. Aufl. 2012. – Umfassend ist das Sammelwerk D. Merten / H. J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, 9 Bände seit 2004. Vom Verf. – jetzt überarbeitet – zum Folgenden: Das Konzept der Grundrechte, Rechtstheorie 24 (1993), S. 397 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

– sogar bis hin zur Perspektive späterer Generationen. Sie garantieren sich alle gegenseitig die Menschenrechte eines jeden. Mag die Völkerrechtswissenschaft in der Anerkennung der Menschenrechte bzw. der Völkerrechtssubjektivität des Menschen noch zurück sein: Es ist Sache der Verfassungslehre, eine Menschenrechtstheorie mit ihren verallgemeinerten in den Weltmaßstab projizierten Denkfiguren wie den Gesellschaftsvertrag zu begründen. Die Tradition des deutschen Idealismus liefert die nötigen Stichworte („weltbürgerliche Absicht“, „Ewiger Frieden“ (1795) etc.), und das angelsächsische Denken von der Virginia Bill of Rights (1776) bis zur UN-Menschenrechts-Erklärung von 1948 und zur Menschenrechtspolitik eines J. Carter vermittelt die erforderliche Praxis der Theorie. c) Die Menschenrechte – verstanden als würdebezogene Rechte jedes Menschen aller Nationen unter Einschluss der sog. „Staatenlosen“ – haben ihre Wurzel im natio­nalen Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe und in der universalen „Menschheit“. Textelemente finden sich schon, etwa in Gestalt der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN (1948): „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“; nachfolgend ist vom „Gewissen der Menschheit“ die Rede. Auch wird ebenda von dem „Glauben“ der Völker der Vereinten Nationen an die „grund­ legenden Menschenrechte“ gesprochen. Das Grundgesetz von 1949 wagte bereits den Satz in Art. 1 Abs. 2: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder (!) menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Kongenial heißt es in der Präambel der EMRK von 1950: „… unter erneuter Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden …“ Und in der Präambel der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (1969) steht der Satz: „… in Anerkennung dessen, dass die wesentlichen Rechte des Menschen nicht seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat entspringen, sondern sich auf Merkmale der menschlichen Persönlichkeit gründen …“36. Es ist Sache der weltweit vergleichenden Verfassungslehre als Lehre vom Typus Verfassungsstaat, weitere Theorie- und Textelemente zu entwickeln (z. B. eigene Abschnitte „Grundrechte für Ausländer“ bzw. verbesserte Gleichstellungs-Artikel nach dem Vorbild von Art. 13 Abs. 1 Verf. Spanien; das hätte Teil einer Revision des deutschen GG zu sein). 36  Im IPbürgR von 1966 heißt es in der Präambel: „… in der Erwägung, dass die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde … die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet …“



III. Freiheit und Menschenrechte / Grundrechte357

d)  So wie es Menschenrechte „im“ Verfassungsstaat gibt (z. B. für Ausländer, aber auch für Inländer kraft ihres Menschseins), so gibt es menschenrechtliche Elemente auf Staatsangehörigkeit – ein Beleg für die hier verfochtene ideelle Verklammerung von Menschenrechten und Bürgerrechten als den „zwei Ausprägungen“ der „Grundrechte“ – das Wort „Grund“ ist auszuschöpfen, es bezeichnet das Vorstaatliche, Präpositive, dem sekundären Recht Vorausliegende, eben das „Grundlegende“. Man darf es auch so formulieren: Der Mensch hat „von Natur“ aus gewisse Rechte, und zugleich ist es gerade der Verfassungsstaat („als Kultur“ und „aus Kultur“), der ihm als solcher eben diese Menschenrechte und die Bürgerrechte sichert („Kultur-Rechte“). Eindrucksvoll heißt es in Art. 15 AllgErklMenschenR (1948): „Jeder Mensch hat Anspruch auf Staatsangehörigkeit. – Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen, noch ihm das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln“37. Das theoretisch schwierige Problem liegt ja in dem Versuch, den für die Grundrechte unentbehrlichen Staat im vorstaatlichen menschenrechtlichen Feld, wenn man will: im „status naturalis“ zu denken – letztlich hilft hier nur der kulturwissenschaftliche Ansatz. Das heißt: Die Freiheit als Menschenrecht besteht zwar „von Natur“ aus, sie ist „angeboren“ – Art. 1 AllgErklMenschenR sagt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ –, aber sie ist letztlich kulturell „erfüllt“, sie ist „Kulturrecht“. Die Gedankenkette reicht vom status naturalis zum status civilis als status culturalis (vgl. Art. 58 Verf. Guatemala (1985): Recht auf kulturelle Identität; ähnlich Art. 21 Abs. 1 Verf. Ecuador von 2008). Das bricht sich in der Forderung von Art. 26 Abs. 2 Verf. Guatemala Bahn: „Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben.“ Erziehung und (Aus-)Bildung sind als „zweite Geburt“ des Menschen (Hegel) zu verstehen, Menschen- bzw. Grundrechte als Erziehungsziele, wobei gerade heute erkennbar wird, wie rasch der Rückfall in den status naturalis des T. Hobbes drohte in den 90er Jahren (Ex-Jugoslawien, heute in Somalia und Syrien, Attentate auf Ausländer bzw. Andersgläubige in Deutschland, Italien und Frankreich). Anders gesagt: Die universalen Menschenrechte sind heute die Elemente der „Weltkultur“ als Weltgesellschaft, aber ohne Weltstaat („Weltkulturrecht“)! Neben ihr bleibt aber die nationale bzw. regionale Identität als Kultur. Kultur ist dabei die „andere“, die „zweite“ Schöpfung: die der Menschen; man denke universal an die Musik. Sodann die Prinzipien, die das Thema der „Menschenrechtsfreundlichkeit“ variieren. Anders gesagt: Die nationalen Grundrechtskataloge, und 37  Vgl. auch Art. 24 Abs. 3 IPbürgR: „Jedes Kind hat das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben“. Weiterführend: S. Uslucan, Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit, 2012.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

zwar auch dort, wo sie Bürgerrechte und Menschenrechte garantieren, sind menschenrechtskonform auszulegen. Ein Beispiel gibt Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien. Manche neuen Verfassungen und Verfassungsentwürfe in Osteuropa bringen erstaunliche „Fortschreibungen“ hervor (z.  B. Art. 10 Verf. Tschechische Republik (1992): „Ratifizierte und verkündete internationale Verträge über Menschenrechte und Grundfreiheiten, an welche die Tschechische Republik gebunden ist, sind unmittelbar bindend und haben Vorrang vor dem Gesetz“)38 – Verfassungspolitik als Völkerrechtspolitik. In den letzten Jahren verdichtet sich das Verfassungstextmaterial in Sachen Integrierung universaler und regionaler Menschenrechte auf drei Kontinenten: in Europa (z. B. Art. 18 Verf. Serbien von 2006, Art. 22, 53 Verf. Kosovo von 2008), in Afrika (z. B. Präambel Verf. Niger von 1993, Art. 39 Abs. 1 (a) und (b) Verf. Südafrika von 1996, Präambel Verf. Senegal von 2001) sowie in Lateinamerika (z. B. Art. 11 Ziff. 3 Verf. Ecuador von 2008). Im Grunde zeigt sich hier, wie menschenrechtliche Teilverfassungen des Völkerrechts zu solchen der nationalen Verfassungsstaaten werden. War bislang vor allem dank der Schweiz von der „verfassungskonformen Auslegung“ des einfachen Rechts die Rede39, so stehen wir jetzt vor dem Gebot der „menschenrechtskonformen Auslegung der Grundrechte“ bzw. vor dem „werdenden“ verfassungsstaatlichen Grundsatz der Menschenrechtsfreundlichkeit40, vielleicht bald universal. Die „höchste“ Entwicklungsstufe wäre der Satz, „internationale Menschenrechte brechen nationale Grundrechte“, sofern letztere nachteilig von dem globalen Menschenrechtsstandard abweichen (vgl. Art. 142 GG). Wie verwirrend die Terminologie noch ist, zeigt sich gerade hier. Innerverfassungsstaatlich meint „Grundrechte“ immer die beiden Ausprägungen: die Menschenrechte und die Bürgerrechte. Es lässt sich ja durchaus denken, dass ein nationaler Verfassungsstaat seinen eigenen Bürgern zu wenig an „Grundrechten“ gibt: dann kann dies, soweit sich dies durch Interpreta­ tion ausgleichen lässt, durch die internationalen (und ggf. auch regionalen – EMRK –) Menschenrechtsgarantien korrigiert werden. Grundrechtstheoretisch gesprochen: Der grundrechtliche (universale) „status mundialis hominis“ strahlt in den nationalen status civilis bzw. culturalis aus. Textbelege gibt es schon. Der Theorierahmen ist in der oben angedeuteten Weise zu 38  Aus der Lit.: K.-P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung, AöR 114 (1989), S. 391 ff. 39  Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 30 ff. 40  Vgl. Art. 12 Abs. 2 Verf. Angola (1992); Art. 29 Abs. 2 Verf. Guinea-Bissau (1993); Art. 22, 52 Verf. Kosovo (2008); Art. II Abs. 2 Verf. Bosnien-Herzegowina (1996); Art. 26 neue Verf. Angola (2010).



III. Freiheit und Menschenrechte / Grundrechte359

schaffen, wie überhaupt heute, in der „Weltstunde“ des Verfassungsstaates (1989 / 2011), die Aufgabe entsteht, die im nationalen Rahmen entwickelten Grundrechtstheorien menschenrechtstheoretisch weiterzuführen und umgekehrt, die universalen Menschenrechte in die nationalen Grundrechtstheorien einzubauen: Dass dies nur in Gestalt eines multinationalen und multikulturellen „Konzerts“ vieler, ja aller einzelstaatlichen Grundrechtskulturen bzw. -dogmatiken möglich ist, liegt auf der Hand41. Das Postulat der Grundrechtsvergleichung als „fünfter Auslegungsmethode“ (1989) hat übrigens hier, anlässlich von Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien und seiner Entsprechungen seinen „Platz“: Nur durch Vergleich, der von den nationalen Grundrechtsgarantien zu den „allgemeinen“ wandert und von dort nach hier bereichert zurückkehrt, kann dieses Werk gelingen42. Umgekehrt bedarf es einer bislang, soweit ersichtlich, fehlenden universalen Theorie der Menschenrechte, die diese Arm in Arm mit den Grundrechtslehren des nationalen Verfassungsstaates begründet. Dieser kann heute seinerseits die „eigenen Grundrechte“ nicht ohne die universalen Menschenrechte sehen, schaffen, auslegen und weiterentwickeln (auch wenn man dies nicht immer zugibt). Der Konflikt mit der „partikularen“ moslemischen Kairoer Erklärung der Menschenrechte (1990) ist schwer, das universale Menschenbild in Frage gestellt43. Das Asylrecht für politisch Verfolgte und die effektive Ausgestaltung ihres menschenrechtlichen Status (der deutsche Streit um Art. 16 GG, seine Europäisierung, d. h. Einschränkung gemäß Art. 16a, ist bekannt) speziell für um der Grundrechtsidee willen Verfolgte (vgl. Art. 105 Verf. Bayern von 1946) ist eine weitere sehr allgemeine Form des grundrechtlichen, genauer menschenrechtlichen „status mundialis“ im weltoffenen Verfassungsstaat. Das menschenrechtliche Pathos, das in der vorbehaltslosen Garantie durch die „Väter und Mütter“ des GG steckt, ist angesichts des heutigen Missbrauchs dieses Grundrechts durch Wirtschaftsflüchtlinge in Gefahr. Art. 14 Abs. 1 AllgErkl­ MenschenR bestimmt: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen“. Vergegenwärtigen wir uns die verfassungsstaatlichen Beispiele, die dieses würdebezogene Menschenrecht in den einzelnen Ländern bzw. in ihren Verfassungen gefunden hat: Art. 10 Abs. 3 Italien (1947), Art. 33 Abs. 6 Portugal (1976), Art. 56 41  Die Schwierigkeiten eines interkulturellen Verständnisses von Begriffen wie „Menschenwürde“, „Gleichheit“, „Freiheit“ seien nicht geleugnet. 42  Zur Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode: P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation, JZ 1989, S. 913 ff. – Weitere Lit. zur Rechtsvergleichung: A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2011; A. ­Tschentscher, Dialektische Rechtsvergleichung …, JZ 2007, S. 807 ff. 43  Vgl. die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (1990), in: Gewissen und Freiheit 19 (1991), S. 93 ff. Aus der Lit.: H. Bielefeldt, Menschenrechte und Menschenrechtsverständnis im Islam, EuGRZ 1990, S. 489 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Polen (1997), Art. 40 Verf. Albanien (1998), Art. 57 Verf. Serbien (2006), Art. 14 EU-Grundrechte-Charta (2007), Art. 41 Verf. Ecuador (2008).

IV. Erziehungsziele (Menschenrechte als Erziehungsziele), „Verfassungspädagogik“ und Orientierungswerte 1. Erziehungsziele a) Erziehungsziele als konsensbildende Elemente im Verfassungsstaat Erziehungsziele und Orientierungswerte dienen spezifisch als Verfassungstexte im weiteren Sinne44. Sie sind konsensbildende Elemente im Verfassungsstaat und bilden ein Stück seiner kulturellen Identität und Öffentlichkeit. Erziehungsziele sind z. B. Toleranz und Menschenwürde (bzw. „Menschenbild“), Rechtlichkeit, Rechtschaffenheit und Verantwortungsfreude, Weltoffenheit und Pflichtgefühl (Grundpflichten): vgl. Art. 131, 136 Abs. 1 Verf. Bayern, Art. 26 Verf. Bremen, aber auch Art. 1 und 20 Abs. 1 („Republik“) GG oder 12 GG (Berufsfreiheit, Erziehungsziel „Arbeit“ bzw. „Arbeitsethos“), von ihrer „anderen Seite“ her interpretiert: Solche „pädagogische Verfassungsinterpretation“ ist ergiebig z. B. für die Sozialethik in Wirtschaftsartikeln deutscher Länderverfassungen (z. B. Art. 27, 30, 38 Verf. Hessen von 1946, Art. 51, 52–56 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947), etwa als Grundpflichten der Unternehmer. Erziehungsziele bilden Basisbedingungen für die „Verfassung der Freiheit“, sie sind materielles Verfassungsrecht und werden in erzieherischem Trägerpluralismus teils elterlich-privat, teils staatlich-schulisch, teils gesellschaftlich-öffentlich interpretiert und verwirklicht. Erziehungsziele bilden eine Art kulturelles „Glaubensbekenntnis“ des Verfassungsstaates, zuletzt besonders deutlich in Art. 77 bis 90 Verf. Bolivien von 2007, Art. 3 Abs. 1, Art. 26 bis 29 Verf. Ecuador von 2008. In einigen Verfassungsstaaten Europas, aber auch darüber hinausgreifend in den „Entwicklungsländern“, finden aufschlussreiche Wachstums- und Entwicklungsprozesse über das Medium von Rezeptionen statt. Im Vordergrund stehen Deutschland hier (auch Portugal und Spanien) – „Entwicklungsländer“ wie Peru (alte Verfassung) und Guatemala dort. Ein gemeineuropäischer Bestand an verfassungstextlichen Erziehungszielen ist (noch?) nicht erkennbar – insoweit sei dieses Thema auch als Beispiel dafür behandelt, dass es Felder gibt, wo für den Typus kooperativer Verfassungsstaat als 44  Zum Folgenden ausführlich P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungs­ werte im Verfassungsstaat, 1981 (jetzt aktualisiert).



IV. Erziehungsziele361

solchen „Fehlanzeige“ besteht, während einige einzelne Mitglieder seiner „Familie“ sehr prägnante – und in sich konsequente – Strukturelemente entwickelt haben. „Klassikertext“ in Sachen Erziehungsziele ist Art. 148 Abs. 1 und 2 WRV von 1919 (auch im Blick auf die Völker): „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, dass die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden.“

b) Erziehungsziele als Basisbedingungen der Verfassung des Pluralismus Erziehungsziele erweisen sich als Basisbedingungen für die Verfassung des Pluralismus und der Freiheit. Die Verfassung des Pluralismus ist auf die Freilegung erzieherischer Gehalte angewiesen: Die Offenheit von Gesellschaft und Verfassung kann nur auf dem Hintergrund erzieherischer bzw. kultureller „Substanzen“ durchgehalten werden („Freiheit aus Kultur“). Beides bedingt einander, so wie Freiheit und Bindung zusammengehören. Freiheitliche Demokratien bedürfen der inneren sachlichen „Stütze“ durch grundlegende Erziehungsziele, die sich auf Menschenrechte, Toleranz, Solidarität, Völkerversöhnung, Verantwortung, Humanität, Arbeit usw. richten. Sie bleiben prekär, „formell“ und damit gefährdet, wenn sie sich nur rechtlich im herkömmlichen Sinn verfasst sehen und nicht auch die Tiefe und Breite der „Verinnerlichung in Freiheit“ ihrer Grundgehalte, die ihre Verfassungen juristisch vorzeichnen, pädagogisch-praktisch bewirken und auf ­ihrem kulturellen Hintergrund tagtäglich leben. Die Verfassung muss zunächst einmal zu sich selbst erziehen. Der „Wille zur Verfassung“ (K. Hesse) verlangt erzieherische Vorleistungen in der Schule – z. B. Verfassungsverständnis, staatsbürgerliches Mindestwissen in Sachen Demokratie und Menschenrechte, Toleranz und Friedenswillen. Die „Basisbedingungen“ für Pluralismus müssen jeder Generation neu vermittelt werden: als Stück des Generationenvertrages. Damit wird nicht etwa „Verfassungstreue“ im Sinne einer religion civile von allen Bürgern erwartet: Die Anforderungen an öffentliche Bedienstete auf alle zu übertragen, wäre systemwidrig. Die offene Gesellschaft freier Verfassungsinterpreten, die ja auch die offene Gesellschaft der Verfassunggeber ist, würde geschlossen, das Möglichkeitsdenken als pluralistisches Alternativendenken würde Einbahnstraße und Sackgasse, der Bürger verlöre seine Freiheit. Die „Verfassung des Pluralismus“ trägt nämlich auch die Grenzen des Erziehungsauftrages des Staates in sich selbst. Ihre Erziehungsziele sind inhalt-

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5. Kap.: Einzelausprägungen

lich ebenso begrenzt wie die Mittel zu ihrer Durchsetzung: Erziehungsdiktaturen, die sich im Besitz absoluter Wahrheit wähnen, sind verfassungswidrig. Selbst ein grundlegendes, in den „Toleranzartikeln“ der deutschen Länderverfassungen normiertes Erziehungsziel wie Toleranz findet Grenzen, wie sie auch aus den „Pluralismusartikeln“ folgen45; auch muss die Verfassung hinsichtlich ihrer eigenen Erziehungsziele selbstkritisch sein (können). c) Erziehungsziele als Medien einer „Verfassungspädagogik“ Der pädagogische Auftrag des GG fordert nicht so sehr Vermittlung theoretisch-juristischen Wissens – das bleibt Sache der „zunftmäßigen“ Juristen. Es geht um Vermittlung der Verfassung als Rahmen für und Aussage über Erziehungsideale: Die Verfassung ist Schulbuch und Lehrbuch. Ihre Wirklichkeit beginnt in den Klassenzimmern: Die Schule der Verfassung ist die Schule! Was sie leistet, kommt der Verfassungskultur zugute. Dieser pädagogische Weg zum GG als gelebter Verfassung kann in seiner mittelbar juristischen Relevanz und Fernwirkung kaum überschätzt werden. Schule und Universität, Berufsschule und Erwachsenenbildung formen den Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne: In dem Maße, wie er selbstbewusst wird, kann er aktiver Verfassungsinterpret werden. Der Zusammenhang zwischen den Lehrplänen bzw. Curricula und der Verfassung wird denkbar eng: Im weiten Sinne geht es um „Verfassungsunterricht“ (angedeutet in Art. 27 Verf. Ecuador von 2008 sowie Art. 79 und 80 Verf. Bolivien von 2007 und besonders in Art. 4 Verf. Uganda von 1994: „The State shall promote public awareness of the constitution“). „Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele“ – das ist weniger juristische Bindung denn pädagogischer Auftrag: Verfassung als Sozialethik („Verfassungspädagogik“). Die Verfassung ist in ihrer Bedeutung für die Pädagogen und ihre Aufgaben zu erschließen – dies kommt auch den Juristen zugute. Dieses „pädagogische“ Verständnis der Verfassung ist eine Konsequenz der Lehre von den Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne: ein Charakteristikum für die offene Gesellschaft und ihre sozialethischen Fundamente. Verfassung ist eben nicht nur eine rechtliche Ordnung für Juristen (und Politiker), sie ist wesentlich auch „Leitfaden“ für Nichtjuristen: für den Bürger. 45  Zuletzt Art. 2 alte Verf. Angola (1992), Art. 1 Verf. Äquatorial-Guinea (1991), Präambeln Verf. Benin (1990) und Verf. Tschad (1996) sowie Art. 15 Verf. Ukraine (1996); auch Art. 1 Verf. Bolivien (2007). In Art. 3 Abs. 8 Verf. Ecuador (2008) figuriert – weltweit wohl neu – unter den grundrechtsbezogenen Staatsaufgaben ein Recht auf „Kultur des Friedens“. – In der deutschen Literatur leistet das Buch von W. Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Verfassungsstaat des Grundgesetzes, 2. Aufl. 2012, vorbildlich ein Stück „Verfassungspädagogik“; s. auch die Schrift von E. M. Frenzel, Zugänge zum Verfassungsrecht, 2009.



IV. Erziehungsziele363

d) Erziehung der Jugend: Ein Auftrag der „Verfassung als Vertrag“ Erziehung der Jugend ist Verfassungsauftrag. Er wird arbeitsteilig zwischen Eltern, Staat bzw. Schule und anderen Erziehungsträgern nach Wahl (wie den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften) erfüllt und auch in den sachlichen Zielen unterschiedlich wahrgenommen. Diesen differenzierten Aufgaben von der Erziehung der Kinder bis zur Bildung der Erwachsenen kann sich die Verfassung nicht entziehen. Sie normiert sie um ihres eigenen Fortbestandes willen. Sie garantiert sich als freies Gemeinwesen in der Generationsfolge der „Verfassung als Vertrag“46 über ihre Erziehungsziele – in Appellen an die Jugend als neuen Vertragspartner. Ziele wie Toleranz, Demokratie, Menschenwürde, Umweltbewusstsein, Völkerversöhnung oder „Geist der Demokratie“ sind offene Direktiven für einen Prozess, bei dem wechselseitige, immer neue Verständigung zwischen den Genera­ tionen möglich sein muss: Erziehung ist keine Einbahnstraße! Nur so kann der allgemeine Wertewandel aufgefangen werden. Erziehungsziele sind auf eine Weise „Vertragsziele“: im Blick auf den Generationenvertrag zwischen jung und alt. Der Erzieher muss verstehen, dass eine junge Generation ihre Zukunft zunächst einmal selbst suchen will. Dass sie auch im kulturellen Erbe der Vergangenheit liegt, verkörpert in entsprechenden Erziehungszielen, muss er plausibel machen. Erziehungsziele sind zugleich in Vielem ein vorweggenommener Entwurf des Menschen, der zukünftig die Verfassung leben und gestalten soll. So gesehen begegnet sich die Verfassung in den Erziehungszielen selbst. Ihre Gegenwart trifft in pädagogischer Gestalt auf ihre Zukunft! Die in zahlreichen neuen Verfassungen typische Bezugnahme auf die „künftigen Generationen“ gehört in diesen Kontext. 2. Orientierungswerte Orientierungswerte sind z. B. Moralkonzepte, Programme der politischen Parteien und der Gewerkschaften, Vereinssatzungen, Familienleitbilder und sonstige gesellschaftliche Leit- und Vorbilder (z. B. Klassikertexte eines F. Schiller oder B. Brecht, J. Locke oder Montesquieu, „Heilige Schriften“, Selbstverständnisse und Denkschriften der Kirchen und Religionsgemeinschaften). Sie werden vom mündigen Bürger im Verfassungsstaat verwirklicht, weiterentwickelt, aber auch verfehlt. So hätte der Orientierungswert „Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn“, wie gelegentlich in den 90er Jahren vorgeschlagen, im deutschen GG (Präambel) durchaus Sinn. Das Scheitern 46  Jetzt angedeutet in Präambel letzter Satz Verf. Ecuador von 2008: „profundo compromiso con il presente y il futuro.“ – s. auch Präambel Verf. Venezuela von 1999: „rule of law for this and future generations“.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

der Verfassungsänderung stellt die Frage um so dringlicher: „Wie viel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft?“ (A. Hirschmann)47 Manche Verfassungstexte normieren fast suggestiv Orientierungswerte, die sich zum Teil auch als Erziehungsziele lesen lassen: etwa Präambel Verf. Philippinen von 1986: „Regime of truth, justice, freedom, love“; Präambel Verf. Südafrika von 1996: „social justice“; Verf. Myanmar von 2008 spricht in ihrer Präambel von: „eternal principles namely justice, liberty“ und beschwört den „Geist des wahren Patriotismus“; Präambel Verf. Kosovo von 2008 definiert sich als Land „that will be a homeland of all citizens“; Art. 1 Verf. Serbien von 2006 spricht von: „principles of civil democracy“; die Präambel Verf. Kenia von 2010 normiert den Orientierungswert: „respect of the environment which is our heritage“. In Afrika sind vor allem die „Wahlsprüche“ einschlägig, etwa: „Einheit – Frieden – Gerechtigkeit“: Art. 4 Abs. 4 Verf. Äquatorial-Guinea von 1991; Art. 1 Abs. 5 Verf. Benin von 1990: „Ein Volk – ein Ziel – ein Glaube“; Art. 25 Abs. 5 Verf. Mali von 1992:„Unity, work, patriotism“; ebenso Art. 6 Abs. 5 Verf. Ruanda von 2003; Art. 1 Abs. 9 Verf. Niger von 1992: „Fraternité, Travail, Progrès“. Frühes Vorbild ist Frankreich. In Lateinamerika fordert die Präambel Verf. Bolivien von 2007 den Orientierungswert „memoria de nuestros mártires“; Präambel Verf. Ecuador von 2008 beschwört den Frieden und die Solidarität mit allen Völkern, welche Orientierungswerte in den Erziehungszielen wiederkehren (Art. 27 Abs. 1); Art. 3 Verf. Venezuela von 1999 macht die gerechte und „peace loving society“ zum Staatsziel und Orientierungswert sowie zum Erziehungsziel (Satz 2); Präambel Verf. Senegal von 2001 postuliert die Brüderlichkeit der Welt. Noch bleibt die brüderliche Welt-Zivilgesellschaft Utopie, doch sie lohnte als solche (gerade im Völkerrecht). Erziehungsziele und Orientierungswerte unterscheiden sich, sie stehen aber auch in einem – Wandel bewirkenden – Wechselverhältnis zueinander. Viele Orientierungswerte sind in Rechtstexten gar nicht (vor-)formuliert, nicht einmal in Umrissen. Sie sind dies z. T. nur in Erziehungszielen und damit nur mit begrenzter Kraft und Geltung. Demgegenüber werden die wesentlichen Erziehungsziele wenigstens als Grundsätze in Verfassungsund anderen kulturellen Rechtstexten formuliert. Da sie, wenn auch nur „als“ soft law des Kulturverfassungsrechts, dem heranwachsenden Bürger im Sonderstatus „Schule“ erzieherisch beigebracht werden sollen, bedarf es ihrer rechtlichen Fixierung (z. B. „Völkerversöhnung“). 47  Aus der Lit.: P. Häberle, Gemeinwohl und Gemeinsinn im internationalen, verfassungsstaatlichen und europarechtlichen Kontext, in: H. Münkler / K. Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, Bd. III, 2002, S. 99 ff.



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Orientierungswerte sind „pluralistisch“, ja antagonistisch; sie widersprechen sich zuweilen, konkurrieren untereinander, schließen sich zum Teil auch aus. Zwischen ihnen kann der erwachsene Bürger deshalb frei wählen; sie können rechtlich nur sehr begrenzt verbindlich gemacht, ihre Verwirk­ lichung kann vom Staat kaum erzwungen werden. Anders bei den Erziehungszielen: Sie prägen verbindlich den staatlichen Unterricht in den Schulen. Hier ist der Pluralismus ein „Lernziel“, via Toleranz (in neuen Verfassungen oft normiert). Hier werden Werte und Texte der Klassik und der Moderne vermittelt, Rechte und Pflichten („Solidarität“) vorgeführt, Menschenwürde und Toleranz, Freiheit und Gleichheit sowie Sprachen gelehrt. Diesem (eher formellen) Unterschied im Grade rechtlicher Verbindlichkeit entspricht ein inhaltlicher: Die Erziehungsziele ordnen sich letztlich zu einem ausgewogenen Ganzen: Menschenwürde und Toleranz gehören zusammen, ebenso Rechtschaffenheit, Rechtlichkeit und Verantwortungsfreude, Erziehung zum Zugang bzw. zur Teilnahme an den Kulturgütern sowie Umweltschutz einerseits, Weltoffenheit, „Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker“ (Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen) andererseits (vgl. schon Art. 26 Verf. Bremen), mag es im Einzelnen auch Spannungen geben. Ganz anders die Orientierungswerte. Was in der offenen Gesellschaft hier „angeboten“ wird, schließt sich vielfach aus, steht jedenfalls nicht in einem tendenziell ausgeglichenen Verhältnis zueinander. Die politischen Parteien werben mit gegensätzlichen Programmen um den mündigen Bürger, Kirchen und Weltanschauungsgesellschaften schließen sich oft aus, „Wertetafeln“ vieler Pluralgruppen leben gerade vom Streit untereinander. Im Übrigen vermitteln die Orientierungswerte das, was in der kulturellen Evolution entstanden ist: Religionen, Moralsysteme, kulturelles Erbe, Wissenschaften und Künste etc. (gerade in Lateinamerika gewinnen die neuen Verfassungen aus diesen ihre kulturelle Identität, vgl. etwa Präambel und Art. 9 Ziff. 1, 3, Art. 100 und Art. 101 Abs. 1 Verf. Bolivien von 2007 sowie Art. 3 Ziff. 7 Verf. Ecuador von 2008, auch Art. 9 Verf. Venezuela von 1999).

Inkurs VI: Bürgerschaft durch Bildung als europäische Aufgabe48 Vorbemerkung Eigentlich müsste diese Studie in einer der alten großen italienischen Stadtrepubliken vorgetragen werden, etwa in Bologna, Pisa, Amalfi oder Venedig. Immerhin führte Ravenna den zu einer autonomen Republik wachsenden Städtebund zu dem 48  Zum Folgenden schon mein gleichnamiger – jetzt überarbeiteter – Beitrag in FS H.-P. Schneider, 2008, S. 460 ff., zuvor als Vortrag in Ravenna, 2007.

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Ancona, Vano, Pesaro, Senigallia und Rimini gehörten, auch war es im 11. Jahrhundert Sitz einer bedeutenden Rechtsschule. Doch Venedig galten die wunderbaren Sätze von Petrarca aus seinen Epistole (1364): „Die höchst erhabene Stadt der Veneter ist heute der einzige Hort der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit, die einzige Zuflucht der Guten, der einzige Hafen für die von den Stürmen der Kriege und Tyranneien geschüttelten Flöße all derer, welche gut leben möchten, eine Stadt reich an Gold, doch reicher noch an Ehre; stark durch Macht, doch stärker noch durch Tugend; beständig in Marmor errichtet, doch beständiger noch durch die Einheit ihrer Gemeinschaft; salzig sind die Wasser, die sie umfließen, doch sichert sie das Salz der Weisheit ihrer Bürger.“ Einleitung Konkrete Anlässe für das Thema sind das 2005 zu Ende gegangene Europäische Jahr des Europarates „Citizenship through Education“, gewiss auch die Besinnung auf das schon zum Klassikertext gereifte Europäische Kulturabkommen von 1954, das bis heute ausstrahlt. Ein tieferer Hintergrund dürfte das Werden des konstitutionellen Europa aus seiner Familie von nationalen Verfassungen und Kulturen sein. Das Ausrufen von „Jahren“, die bestimmten Zielen und Ideen gelten, ist ja auch im Rahmen der UN bekannt. Ähnlich wie Feiertagsziele (z. B. in Deutschland der 1. Mai) oder Gedenktage (z. B. der Martin-Luther-King-Tag in den USA, in Spanien und Lateinamerika der Nationalfeiertag) dienen sie der Vergegenwärtigung bestimmter Grundwerte oder Ereignisse, die den Bürger „ansprechen“ wollen; man denke auch an die Verfassungspräambeln und an andere Artikel, die die offenen Gesellschaften der Demokratien von der Kultur her grundieren und den gesellschaftlichen Grundkonsens herstellen möchten. Akute Dringlichkeit für unser Thema zeigte sich kürzlich in Frankreich (dem „Vaterland“ der Menschen- und Bürgerrechte) in Gestalt der Unruhen arbeitsloser Jugendlicher in Vorstädten und sogar in Paris (Okt. / Nov. 2005), die befürchten lassen, dass das stolze „republikanische Integrationsmodell“ gescheitert ist (da es den Einwanderern keine würdigen Lebensbedingungen verschafft), und sie zeigt sich etwas friedlicher im deutschen Streit um die sog. „PisaStudie“ (2000 / 2005), die dem Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg nachgeht („Chancengleichheit im Bildungswesen“). Zunächst sei die Aufwertung bedacht, die das „Bürgerliche“ in den letzten 6 Dekaden erfahren hat: die „Bürgerbewegung“ in den USA (1950  /  60), die „Bürgerinitiativen“ in Westdeutschland (1968 / 1980) – 1992 sogar in der Verf. Brandenburg auf die Textstufe gehoben (Art. 21 Abs. 3) –, die Bürgerbewegungen in Osteuropa (1976 / 1989)49, die 49  Der schönste Klassikertext stammt von V. Havel, Die Herrschaft der Gesetze, in: ders., Sommermeditationen, 2. Aufl. 1994, S. 14 ff., 26 f.: „Die Bürgergesellschaft, die auf der Universalität der Menschenrechte begründet ist, ermöglicht uns nämlich am besten, uns als alles das zu verwirklichen, was wir sind, also nicht nur als Angehörige unseres Volkes, sondern auch als Angehörige unserer Familie, unserer Gemeinde, unserer Region, unserer Kirche, unseres Berufsverbandes, unserer politischen Partei, unseres Staates, unserer überstaatlichen Gemeinschaft – und das alles, weil sie uns vor allem als Angehörige des Menschengeschlechtes versteht, also als Menschen, als konkrete menschliche Wesen, deren individuelles Sein seinen



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„die Bürger“ in einigen Verfassungspräambeln sogar zu Verfassunggebern gemacht haben. Die Unabhängigkeitserklärung der werdenden USA (1776) und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich (1789) gelten als klassische Dokumente des Bürgertums. Methodisch arbeitet das Folgende gemäß dem ins Völkerrecht verlängerten kulturwissenschaftlichen Ansatz (Stichwort: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982), „Alle Freiheit ist kulturelle Freiheit“, pluralistisches Kulturkonzept“ (1979), „Klassikertexte im Verfassungsleben“ (1981)). Gewiss, es mag auch andere Annäherungen an unser Thema geben, etwa die pädagogische, doch geht es im Folgenden um die spezifisch verfassungsrechtliche. Erster Teil „Bürgerschaft“ – Begriffstraditionen und einschlägige Texte „Bürger und Bourgeois“ bilden seit R. Smends berühmter Rede (1933) ein klassisches Gegensatzpaar: „sittlich an den Staat gebundener Bürger“ bzw. „rechenhafter Egoist der kapitalistischen Zeit“. (Wir denken aber auch an die Komödie von Mo­ lière: „Le Bourgeois Gentilhome“, 1670.) Das Wort „Bürger“ ist heute meist positiv besetzt, es kommt in vielen Konnotationen vor: „Bürgersinn“, „Bürgerstolz“, „Bürgergesellschaft“, „bürgerliche Freiheiten“, „Bürgerrechte“, „Bürgerethos“, „Bürgerpflichten“, speziell in Deutschland als „Bürger in Uniform“ (= Soldat der Bundeswehr). Wohl in allen europäischen Verfassungsstaaten gibt es inhaltliche Entsprechungen: vom Lateinischen herkommend (civis, status civilis): die „citadinanca“ des Italienischen und die „ciudadancia“ des Spanischen. Die „civil society“ hat in angelsächsischen Rechtskulturen einen hohen Klang. (Eine erstaunliche Renaissance ist in Osteuropa seit 1989 zu beobachten.) Im Deutschen Idealismus bzw. der Weimarer Klassik ist er hörbar, und gewiss knüpft der Europarat an all diese Traditionen an. Das Wort „Staatsbürgerschaft“ wirkt in unserem Kontext fragwürdig: denn der Staatsbezug verengt und ist vor allem in Deutschland ideologisch besetzt. Meines Erachtens „gehören“ die Bürger nicht dem Staat (an), darum verdient der Begriff „Staatsangehörigkeit“ Kritik50. Zumal im europäischen Verfassungsraum, dem engeren der EU und dem weiteren des Europarates mit seinen jetzt 47 Mitgliedern, nicht primär vom Staat her gedacht werden sollte. Es sind die „Unionsbürger“ bzw. „Europabürger“, von denen aus zu denken ist. Eine Bestandsaufnahme der positiv geltenden Rechtstexte kann erste Materialien für den im Dritten Teil zu entwickelnden Theorierahmen liefern. Einige Klassikertexte sollen die Spannung erhöhen und erste Erkenntnisse vermitteln: von Goethe („Einseitige Bildung ist keine Bildung. Man muss zwar von einem Punkte aus-, aber nach mehreren Seiten hingehen.“ – „Keine Nation, weniger die Neuern, am wenigsten vielleicht die deutsche, hat sich aus sich selbst gebildet.“ – „Der zur Vernunft geborene Mensch bedarf noch großer Bildung, sie mag sich ihm nun durch Sorgfalt der Eltern und Erzieher, durch friedliches primärsten, natürlichsten und zugleich universalsten Ausdruck in ihrem Status als Bürger findet, in ihrem Bürger-Sein im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes.“ 50  Aus der Lit.: B. Ziemske, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz, 1995; I. von Münch, Die deutsche Staatsangehörigkeit, 2007; krit.: P. Häberle, „Staatsbürgerschaft“ als Thema einer europäischen Verfassungslehre, FS Heckel, 1999, S.  725 ff.

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Beispiel oder durch strenge Erfahrung nach und nach offenbaren.“); von Schiller („Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe ein Bürger derer, welche kommen werden.“ – „Was ich als Bürger dieser Welt gedacht, in Worte ihres Untertans zu kleiden.“); von W. v. Humboldt („Der isolierte Mensch vermag sich ebenso wenig zu bilden als der in seiner Freiheit gewaltsam gehemmte“); von Hegel („Der Mensch ist, was er als Mensch sein soll, erst durch Bildung“). I. Kant stellt dem „status naturalis“ den „bürgerlichen (status civilis)“ gegenüber, wobei dieses unter einer „distributiven Gerechtigkeit“ steht; „societas civilis“ definiert er als „Staat“, den „cives“ als „Staatsbürger“. „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“, heißt es bei ihm, der „Bildung“ synonym mit „Kultur“ gebraucht. I. Einschlägige nationale Verfassungstexte An erster Stelle sei die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte erwähnt (1789). Sie kehrt als solche den Worten nach auch in vielen modernen Verfassungen wieder, zuletzt in Osteuropa (vgl. Abschnitt II Verfassung Polen von 1997: „Freiheiten, Rechte und Pflichten der Bürger“; Kap. III Verf. Kroatien von 1990: „Die grundlegenden Menschen- und Bürgerfreiheiten und -rechte“; ähnlich Kap. II Verf. Mazedonien von 1991; s. auch Art. 4 Abs. 1 Verf. Moldau von 1994). Von „Bürger“ sprechen auch Art. 39, 44, 66 Abs. 3 Verf. Polen. Auf die „Grundsätze der Bürgergesellschaft“ beruft sich hochrangig die Präambel der Verfassung der Tschechischen Republik (1992), die Heimat „gleichberechtigter Bürger“ sein will. Die Präambel Verf. Litauen (1992) spricht von „offener, gerechter, harmonischer bürgerlichen Gesellschaft“ und vom „Willen der Bürger“ zu dieser Verfassung. Art. 9 Abs. 1 Verf. Spanien (1978) bindet die „Bürger und die öffentliche Gewalt“ an die Verfassung und die übrige Rechtsordnung. Verf. Portugal (1976) unterscheidet zwischen „Bürger“ und „Staatsbürger“. Der vornehmste „Bürger-Text“ findet sich in der Präambel Verf. Brandenburg (1992): „Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg haben uns in freier Entscheidung diese Verfassung gegeben“ (ähnlich Präambel Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993). Der Bürger wird anstelle des Volkes zum Verfassunggeber! (ein Abschied von Rousseau!). Auch die „Bürger von Georgien“ haben sich 1995 ihre Verfassung gegeben (ähnlich Verf. Slowakische Republik von 1992). Die slowakische Republik wagt sogar den Satz (Art. 2 Abs. 1): „Die Staatsgewalt geht von den Bürgern aus“ (s. auch Präambel Verf. Tschechische Republik von 1992: „Wir, die Bürger … nehmen diese Verfassung … an“). Das ist konstitutionelle Bürgerdemokratie: mit Vorbildwirkung hoffentlich für ganz Europa! Das US-amerikanische „We, the people“ liegt nahe. II. Verfassungstexte im Europäischen Verfassungsrecht, die EU-Verträge und die als soft law vorwirkende EU-Grundrechtecharta Art. 17 bis 22 EGV (jetzt Art. 20 bis 25 AEUV) regeln prominent die „Unionsbürgerschaft“, Art. 39 bis 46 EU-Grundrechtecharta befassen sich mit „Bürgerrechten“, z. B. dem Recht auf eine gute Verwaltung und dem Recht auf Zugang zu Dokumenten. Der Bürger-Begriff erfährt so eine eindrucksvolle Europäisierung und Aufwertung. Der EU-Verfassungsentwurf von J. Voggenhuber (2003) überträgt die erwähnten ostdeutsch- und osteuropäischen Präambeltexte in den europäischen Kon-



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text: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas und ihre Staaten errichten mit dieser Verfassung die Europäische Union“ (zit. nach JöR 53 (2005), S. 604). Die Gemeinschaft der Bürger wird zum Verfassunggeber für Europa! Der Beitrag spanischer Konventsmitglieder (D. L. Garrido et al. 2002) arbeitet gezielt mit der „Europa-Bürgerschaft“, erhofft sich einen „Zivildialog“ und fragt: „Was die europäi­schen Bürger von Europa fordern“ (zit. nach JöR 53 (2005), S. 457 (489)). Speziell Spanien ist also das konstitutionelle Bürger-Thema besonders teuer. Es setzt auf das Bürgerschaftsideal. Art. 11 EUV bezieht sich auf die „Bürgerinnen und Bürger“ und spricht von „Zivilgesellschaft“. (Die EU-Charta gilt jetzt positivrechtlich.) III. Völkerrechtliche Texte (UN-Menschenrechtspakte) Hier ist der „Internationale Pakt über bürgerliche (!) und politische Rechte“ einschlägig (1966) und als Beleg ausreichend. Er verweist nebenbei auf „Bürgerpflichten“ (Art. 8 Abs. 3 lit. iv) und gibt „jedem Staatsbürger“ gewisse Rechte (Art. 25). Zweiter Teil „Bildung“ Im Folgenden sei das Thema „Bildung“, parallel der „Bürgerschaft“, kultur- und textgeschichtlich aufgeschlüsselt: jenes aus deutscher Sicht, dieses auch aus der das Nationale übersteigenden europäischen und universal völkerrechtlichen Perspektive. I. „Bildung“ – das klassische deutsche Thema Bildung ist ein der deutschen Kultur lange „lieb“ gewesenes Thema, ehe es in der 68er Revolution, im Streitwort von der „Bildungskatastrophe“ und in der Verächtlichmachung des „Bildungsbürgertums“ einen fragwürdigen Sinn erhielt. „Bildung kennzeichnet sowohl den Vorgang der Menschwerdung des Menschen als auch seine Bestimmung“ – so lautet der Eingangssatz im Herderschen Staatslexikon von 1985. Danach entfaltet der Bildungsbegriff seine volle Bedeutung im Bildungsbegriff der europäischen Aufklärung und des deutschen Humanismus: Herder, Goethe, Schiller, W. von Humboldt, auch Schleiermacher und Fichte erarbeiteten die Texte, die zu Klassikertexten geronnen sind (einige wurden schon zitiert) – zuvor hatten sich die Reformatoren M. Luther und P. Melanchthon für die Bildung im Geiste des Priestertums aller Gläubigen engagiert, auch Erasmus von Rotterdam gehört zu denjenigen, die durch „Lesen, Rechnen, Lernen“ damals eine frühe Bildungsreform auf den Weg gebracht haben. Für das 20. Jahrhundert wird von einer „Krise der humanistischen Bildung“ gesprochen, von einer „Umorientierung durch die empirische Wissenschaft“, auch der „Ideologiekritik der Bildung“. Bescheidener wird nur noch eine „Grundbildung“ gefordert. Sie soll jene Kenntnisse und Fähigkeiten umfassen, „die es dem Menschen ermöglichen, seine Welt zu interpretieren und in ihr bestehen zu können“. „Bildung und sozialer Wandel“ ist ein weiteres Stichwort. „Bildung macht frei“ (J. Meyer, 1850) bleibt ein Motto. Schon jetzt wird sichtbar, dass der „Bürger“ nicht der viel zitierte „homo oeconomicus“ ist. „Allgemeinbildung“ und „berufliche Bildung“ sind zu unterscheiden, aber nicht gegeneinander auszuspielen.

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5. Kap.: Einzelausprägungen II. Bildungsziele in deutschen Länderverfassungen – sonstige canones

Der europäische Verfassungsjurist hat es in manchem einfacher als der Historiker, Pädagoge, Politologe oder Philosoph. Er kann sich auf eine Weise auf die positivrechtlich geltenden Texte „verlassen“, auch wenn diese gelebt bzw. interpretiert werden müssen. Hier ein Überblick über das Schatzhaus gemeindeutscher Bildungsziele und sonstige Texte zum Bildungsverfassungsrecht, die viel Gedankengut der Klassiker positivieren und „Geist-Klauseln“ normieren: Schon in der WRV (1919) heißt es (Art. 148 Abs. 1): „In allen Schulen ist sitt­ liche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben“. Die westdeutschen Länder nach 1945 und die ostdeutschen seit 1991 entwickelten diesen pädagogischen Klassikertext fort. Beispiele sind: Art. 131 Verf. Bayern von 1946 / 1984 (Bildungsziele): „(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden. (2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt. (3)  Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.“ Als Beispiel aus den ostdeutschen Ländern sei Art. 28 Verf. Brandenburg (1992) zitiert: „Grundsätze der Erziehung und Bildung. Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, die Entwicklung der Persönlichkeit, selbstständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde, dem Glauben und den Überzeugungen anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für Natur und Umwelt zu fördern.“ Wer denkt hier nicht an das „Prinzip Verantwortung“ von H. Jonas (1979)? Eine eigene Variante schafft Art. 26 Verf. Bremen (1947), insofern es dort in Ziff. 3 heißt: „Die Erziehung zum eigenen Denken, zur Achtung vor der Wahrheit, zum Mut, sie zu bekennen und das als richtig und notwendig Erkannte zu tun.“ Damit ist das Thema des Verf. „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“ (1995) angedeutet51. Bemerkenswert ist auch Ziff. 4: „Die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker.“ Pädagogik im Blick auf das Völkerrecht! Als historischer Kontrapunkt zu Bayern (1946) sei Art. 56 Abs. 4 und 5 Verf. Hessen (1946) zitiert: 51  Fortgeführt

in FS Hollerbach, 2010, S. 15 ff.



Inkurs VI: Bürgerschaft durch Bildung 371 Abs. 4: „Ziel der Erziehung ist, den jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit zu bilden, seine berufliche Tüchtigkeit und die politische Verantwortung vorzubereiten zum selbstständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit.“ Abs. 5: „Der Geschichtsunterricht muss auf getreue, unverfälschte Darstellung der Vergangenheit gerichtet sein. Dabei sind in den Vordergrund zu stellen die großen Wohltäter der Menschheit, die Entwicklung von Staat, Wirtschaft, Zivilisation und Kultur, nicht aber Feldherren, Kriege und Schlachten. Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden.“

Fast ist man an an I. Kants „weltbürgerlicher Absicht“ erinnert, auch an Lessings Toleranzparabel „Nathan der Weise“, manche Nobelpreisträger. Aufmerksamkeit verdient auch Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993), auch seine „Geist-Klausel“. „Das Ziel der schulischen Erziehung ist die Entwicklung zur freien Persönlichkeit, die aus Ehrfurcht vor dem Leben und im Geiste der Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen zu tragen.“ Der Generationenbezug findet sich auch in Art. 27 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt (1992); angedeutet ist der „kulturelle Generationenvertrag“: bis ins Universale. Einschlägig ist sodann Art. 109 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992): „Die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt.“ (Ähnlich schon Art. 4 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953 sowie später Art. 1 Abs. 1 Satz 2 Verf. Vorarlberg von 1999). Denn damit ist der kulturelle Trägerpluralismus in Sachen Bildung in eine Textform gegossen. Nicht nur der Staat hat Bildungsaufgaben. (In Art. 17 Abs. 3 AEUV ist von offenem, transparentem und regelmäßigem „Dialog“ der Union mit den Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften die Rede – „in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags“.) Soweit ersichtlich, haben die umfangreichen Materialien des Europarates zu unserem Thema (der „Leitfaden“, siebzehn Seiten, die Kurzübersicht und die von sieben Autoren verfasste Studie vierundneunzig Seiten) nirgends auf all diese reichen Texte Bezug genommen! Das ist bedauerlich, denn diese Texte konturieren das Ideal der „Bürgerschaft durch Bildung“ und stellen sich damit gegen die sonst für unseren Zeitgeist so typische fragwürdige zweckhafte, am Nutzen orientierte Ökonomisierung der Bildung sowie ihre Denaturierung zur Ware (Kritik an der Ideologie des Marktes und des homo oeconomicus). Im Übrigen sei die seinerzeitige Initiative des Europarates auch hier sehr positiv gewürdigt. Ergänzt werden müsste diese Bestandsaufnahme durch eine Erarbeitung der praktizierten Bildungsziele in den Schulen Europas. Das ist hier naturgemäß nicht möglich52. Abstrakt sei darauf verwiesen, das jede Nation ihre klassischen Bildungska52  In England gibt es eine untergesetzliche Norm mit folgenden Wortlaut: „Citizienship gives pupils the knowledge, skills and understanding to play an effective

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5. Kap.: Einzelausprägungen

nones hat: In ihrer nationalen Kultur-, auch Sprachgeschichte figurieren so Dante für Italien, Cervantes für Spanien, überhaupt die Inhalte des sog. „Goldenen Zeit­ alters“ (z. B. in Spanien, den Niederlanden, auch in Dänemark). Dabei spielt das Werden und die Weiterbildung der Sprachen eine prägende Rolle (zu denken ist heute an die Sprachförderung für Zuwanderer). Von Goethe stammt der Satz, Luther habe durch seine Bibelübersetzung die Deutschen zu einem Volk gemacht; dasselbe darf für Dante bzw. Italien gelten. Bildung durch Sprache bleibt ein einschlägiges Stichwort. Die in den einzelnen Länderverfassungen zum Ausdruck kommenden Grundwerte (Präambeln, Feiertagsgarantien, Hymnen und Flaggen, andere staatliche Symbole) sind solche, aus denen sich auch die nationale Bildung dieser Nationen speist und die das Wort vom „Verfassungspatriotismus“ (D. Sternberger) rechtfertigen. Eine Grechtchenfrage ist: Brauchen Bürgergesellschaften eine „Leitkultur“ als identitätsstiftende Kraft? Genügt in Deutschland das GG? Können wir ein „Lob deutscher Bildung“ (FAZ vom 17. Okt. 2005, S. 37) noch wagen? Vieles spricht heute für lebenslange Prozesse aller Bildung der Bürger. Sie ist jedenfalls mit dem Schulende nicht abgeschlossen. Vieles deutet aber auch auf die Verschiedenheit der Bildungsideale je nach Nation und Kultur hin (Partikulares). Die EU-Richtlinie über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates verbrachten Kulturgütern hat ihren tiefen Sinn; es geht um die nationale Identität aus Kultur: ein Stück Partikularität (Vielfalt). Im Folgenden noch ein kurzer Überblick über geschriebene Verfassungstexte einiger europäischer Länder, die sowohl Mitglied des Europarates als auch der EU sind. Art. 42 Abs. 2 Ziff. 2 Verf. Irland (1937 / 1992) lautet: „Der Staat muss jedoch als Hüter des allgemeinen Wohles im Hinblick auf die tatsächlichen Bedingungen fordern, dass die Kinder ein gewisses Minimum an moralischer, geistiger und sozialer Erziehung erhalten.“ In Abs. 4 ebd. ist erneut von den Einrichtungen „auf dem Gebiet der religiösen und moralischen Bildung“ die Rede. Art. 16 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975 / 1986) lautet: „Die Bildung ist eine Grundaufgabe des Staates und hat die sittliche, geistige, berufliche und physische Erziehung der Griechen sowie die Entwicklung ihres role in society at local, national and international levels. It helps them to become informed, thoughtful and responsible citizens who are aware of their duties and rights. It promotes their spiritual, moral, social and cultural development, making them more self-confident and responsible both in and beyond the classroom. It encourages pupils to play a helpful part in the life of their schools, neighbourhoods, communities and the wider world. It also teaches them about our economy and democratic institutions and values; encourages respect for different national, religious and ethnic identities; and develop pupils’ ability to reflect on issues and take part in discussions.“ – In Finnland lautet eine Regierungsvorschrift: „The target for education is to support the pupils’ development into people with harmony and a healthy ego and as members of society with skills to take a critical view of their social and natural enviroment. The basis is respect for life, nature and human rights as well as appreciation of their own and others’ learning and work.“ (Beide Texte zit. nach der erwähnten Studie des Europarates.)



Inkurs VI: Bürgerschaft durch Bildung 373 nationalen und religiösen Bewusstseins und ihre Ausbildung zu freien und verantwortungsbewussten Staatsbürgern zum Ziel.“ Auffällig ist Art. 43 Abs. 2 Verf. Portugal (1976 / 1992): „Der Staat darf sich nicht das Recht zusprechen, Bildung und Kultur nach den Maßstäben irgendwelcher philosophischer, ästhetischer, politischer, ideologischer oder religiöser Richtlinien programmatisch festzulegen.“

Denn der alteuropäische traditionelle Bildungskanon und seine Fortschreibung heute machen naturgemäß eine Auswahl der Grundwerte und (Bildungs-)Ziele erforderlich. Tradition sei, nach einem schönen Wort von G. Mahler, verstanden als „Weitergabe des Feuers“, nicht als „Anbetung der Asche“. Die jungen Menschen werden mit diesen Bildungszielen „auf den Weg“ gebracht, die Erwachsenen können sie als „Orientierungswerte“ verinnerlichen, alle leben davon. Im Übrigen enthalten fast alle neueren Verfassungen ein Grundrecht auf Bildung (vgl. Art. 57 Abs. 1 Verf. Albanien von 1998, Art. 53 Abs. 1 Verf. Bulgarien von 1991); Art. 11 Verf. Baden-Württemberg (1953) spricht vom „Recht auf Erziehung und Ausbildung“ (ebenso Art. 25 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt, 1992); Art. 41 Abs. 1 lit. f nBV Schweiz (1999) verlangt von Bund und Kantonen in Bezug auf Kinder und Jugendliche Maßnahmen in Richtung auf „ihre Entwicklung zu selbstständigen und sozial verantwortlichen Personen“ (s. auch das Ziel ihrer „sozialen, kulturellen und politischen Integration“; ähnlich § 29 Abs. 2 KV Basel-Stadt (2005) und zuvor § 42 Abs. 1 Verf. Bremen (1993)). Die allgemeine Schulpflicht ist ein Hinweis auf den demokratischen Verfassungsstaat als Kulturstaat bzw. ein klassisches Element seines Bildungsverfassungsrechts, ebenso die (Aus-)Bildung an den Universitäten. Der Sache nach „versteckt“ sich auch in Art. 48 Verf. Spanien ein Bildungsauftrag; Art. 27 Abs. 1 normiert ein Recht aller auf Erziehung. Im nationalen Kulturverfassungsrecht kristallisieren sich Bildungsinhalte. (Das lässt sich auch für Verfassungsstaaten auf anderen Kontinenten sagen, etwa für Lateinamerika.) III. Das Thema Bildung auf der gesamteuropäischen und Völkerrechtsebene Verfolgen wir kurz die Erscheinungsformen des Themas Bildung auf der die Nationen überschreitenden Ebene, d. h. im Europäischen Verfassungs- und im hier besonders vitalen Völkerrecht. Ein Überblick über Bildungsthemen im Europäischen Verfassungsrecht wird vor allem im Kompetenzteil und im Grundrechtsteil fündig. Beispiele sind: Bereits aus der Satzung des Europarates (1949) der Passus: „… in unerschüttlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht …“ Eine kulturelle Erbesklausel, die immanent stets auch auf Bildungsziele verweist, findet sich in Präambel und Art. 5 Europäisches Kulturabkommen (1954). Aus dem Europäischen Verfassungsrecht im weiteren Sinne sei Art. 2 des Zusatzprotokolles zur EMRK (1952) erwähnt:

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5. Kap.: Einzelausprägungen

„Recht auf Bildung. Das Recht auf Bildung darf niemandem verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.“ Relativ viel Bildungsverfassungsrecht findet sich im EU-Verfassungsrecht: So heißt es in der Präambel des EGV (1992 / 97, jetzt AEUV von 2007): „Entschlossen, durch umfassenden Zugang zur Bildung und durch ständige Weiterbildung auf einen möglichst hohen Wissensstand ihrer Völker hinzuwirken“, so regeln Art. 149 f. ebd. (jetzt Art. 165 f. AEUV): „allgemeine Bildung und berufliche Bildung der Jugend“ („Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen“, „Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen“). Art. 14 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta normiert das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung. Der EuGH stärkt das Grundrecht auf gleiche Ausbildungschancen gerade jüngst von der Unionsbürgerschaft her (das europäische Hochschulinstitut in Florenz sei erwähnt, auch der Bolognaprozess mit seinen heute 40 Teilnehmerstaaten sowie das Tempus-, Erasmus-, Sokrates-, Leonardo da Vinciund Comenius-Programm, nicht zufällig große Namen der europäischen Bildungsbzw. Kulturgeschichte: „Vor-Bilder“). Aus den völkerrechtlichen Texten seien erwähnt: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN (1948) (längst klassisch): „Art. 26 (Kulturelle Betreuung, Elternrecht): (1)  Jeder Mensch hat Recht auf Bildung. Der Unterricht muss wenigstens in den Elementar- und Grundschulen unentgeltlich sein. Der Elementarunterricht ist obligatorisch. Fachlicher und beruflicher Unterricht soll allgemein zugänglich sein; die höheren Studien sollen allen nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten und Leistungen in gleicher Weise offenstehen. (2)  Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Friedens begünstigen.“ In Art. 13 Abs. 1 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) heißt es kongenial: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf Bildung an. Sie stimmen überein, dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss. Sie stimmen ferner überein, dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss.“ In all diesen reichen Texten kommt viel europäisches Bildungsgut zum Ausdruck. Es ist von den UN sogar zur universalen Aufgabe gemacht (Bürgerschaft durch



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Bildung als universale Aufgabe). Die Satzung der UNESCO (1945), Präambel und Art. I geben dazu viele Hinweise („gleiche Bildungsmöglichkeiten für alle“), „Erziehung des Menschengeschlechts zur Gemeinschaft, Freiheit und Friedensliebe“, „Volksbildung“, „Erziehungsmethoden, die am besten geeignet sind, die Jugend der ganzen Welt auf die Verantwortung vorzubereiten, welche die Freiheit auferlegt“). All dies sind Mosaiksteine einer völkerrechtsverbundenen universalen Verfassungslehre und ein Beitrag zum universalen Konstitutionalismus, der sich so über die UN und die UNESCO als „mittelbare Verfassunggeber“ für Teilverfassungen entwickelt. Dritter Teil Bürgerschaft durch Bildung – der Zusammenhang Nachdem die bisherige Bestandsaufnahme manchen Ertrag erbracht hat, kann jetzt der Zusammenhang, der gemeinsame Theorierahmen „Bürgerschaft durch Bildung“ als europäische, ja universale Aufgabe angedeutet werden. I. Menschenrechtserziehung „Erziehung zu den Menschenrechten“ ist ein erster Bildungsauftrag – auf der nationalen und europäischen, ja Weltebene. Manche nationalen Verfassungen, vor allem der „Entwicklungsländer“, deuten ihn vorbildlich an (Verf. Peru von 1979; Art. 22 Abs. 3 Verf. Guatemala von 1985; Art. 72 Abs. 2; Art. 27 Abs. 1 Verf. Ecua­ dor von 2008). Es gibt entsprechende UNESCO-Programme, und wohl in allen staatlichen Schulen in Europa werden die Menschenrechte als Grundwerte des Verfassungsstaates vorgestellt. Die Erziehung zu den Menschenrechten umfasst den Grundwert der Toleranz und Solidarität, welch letztere die spanische Verfassung in anderem Kontext normiert (Art. 2, 138). Den jungen Bürgern muss klar gemacht werden, dass um der Menschenwürde willen jeder Mitbürger dieselben Menschenrechte und Würde hat. Auch hier hat I. Kant einen Klassikertext geschrieben, Art. 7 Abs. 2 Verf. Brandenburg (1992) („Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde“) knüpft an ihn an. Menschenrechtserziehung ist der Ausgangspunkt aller Bemühungen um Bürgerschaft durch Bildung. Der Europarat nennt die Menschenrechtserziehung ausdrücklich in seinen erwähnten Papieren. Menschsein und Bürgersein gehören zusammen. Kultur ist der Humus für Beides. Sollten „Verschulungstendenzen“ im „Bologna-Prozess“ überhand nehmen, sind Korrekturen erforderlich. II. Erziehung zur (pluralistischen) Demokratie als Bildungsziel Das zweite Bildungsziel ist das Demokratieprinzip, unter Betonung der aktivbürgerlichen Dimension („Teilhabe“), d. h. der Möglichkeiten über Volksabstimmungen und Wahlen hinaus das politische Leben stetig mit zu gestalten. Angesichts der oft sehr geringen Wahlbeteiligung bei manchen nationalen und EU-Wahlen ist dieser Bildungsgehalt der zweitwichtigste. Demokratie folgt aus der Menschenwürde der Bürger als kulturanthropologischer Prämisse des Verfassungsstaats, sie ist deren organisatorische Konsequenz. Es gibt viele (nationale) Demokratievarianten zwischen der nur repräsentativen und der auch direkten Demokratie (vorbildlich ist die „halb-

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direkte Demokratie“ der Schweiz). Demokratische Grundrechte wie Petitionsfreiheit, der Gang zum Ombudsmann, Volksanwalt, der Europäischen Bürgerbeauftragte etc. gehören hierher, Volksinitiativen, Bürgerbegehren kennen wir besonders in den neuen deutschen Bundesländern. Der status activus politicus des Bürgers, die partizipatorische Demokratie, wie sie der Lissabon-Vertrag von 2007 im Ansatz vorsieht (Art. 11 Abs. 4 EUV), wird einschlägig. Nach einem Wort von G. Grass „verdorrt“ die Demokratie ohne bürgerliches Engagement. Das Ehrenamt hat seine aktivbürgerliche Bedeutung in ganz Europa. Dabei ist daran zu erinnern, dass die demokratischen, politischen Mitgestaltungsrechte der Bürger (vgl. Art. 21 Verf. Brandenburg), die „öffentliche Freiheit“ (Verf. Spanien) nur greifen, wenn ein Mindestmaß an Bildung, an Information über die Grundwerte und Grunddaten der politischen Vorgänge vorhanden ist (Grundrechte als „funktionelle Grundlage“ der Demokratie). Demokratische Aufklärung (in Deutschland die „staatsbürgerliche Erziehung“ nach 1945) ist ein Stück Demokratieerziehung zur Bürgerschaft. Man darf von „Demokratiebürger“ und der „Bürgerdemokratie“ sprechen, jedenfalls in der deutschen Sprache. Der Europarat spricht eindrucksvoll zu Recht von „Demokratielernen“ und „Demokratieleben“. Dazu gehört auch europäische Integrationspolitik vor Ort (z. B. in Vorstädten). Lokale und regionale „europäische Bürgergesellschaften“ sind an der Zeit. „Parallelgesellschaften“ werden überall fragwürdig, da sie den Begriff „Bürger“ spalten. Die viel zitierte „Bürgergesellschaft“ ist ein Element des Verfassungsstaats. III. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten – die Unverzichtbarkeit von Bildungsstandards – national wie europäisch Das Paradigma von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“, 1975 entwickelt und jüngst auch auf Europa bezogen, in Brasilien seit einigen Jahren intensiv diskutiert, setzt voraus, dass die Bürgerschaft „gebildet“ und das politische Gemeinwesen kulturell grundiert ist53. Die potentielle und reale Relevanz des alltäglichen Bürgerverhaltens (vor allem im Grundrechtsbereich) für die schrittweise Fortbildung der Verfassung und ihre tägliche Verlebendigung verlangt „Bildung“ und damit auch einen gewissen Idealismus im und zum Verfassungsstaat. „Kulturelle Sozialisation“ im Blick auf eine konkrete nationale Verfassung und die europäischen Grundwerte kann nur glücken, wenn diese dem Bürger bzw. Mitbürger von den Schulen angefangen über die Universitäten („europäischer Hochschulraum“) und andere Bildungseinrichtungen wie Volkshochschulen, Erwachsenenbildung, berufliche Weiterbildung, auch kirchliche karitative Organisationen, ja sogar die Medien und NichtRegierungsorganisationen vermittelt werden (darum ist es so fragwürdig, dass in Russland im Juli 2012 ein Gesetz über nichtstaatliche Organisationen als „Agenten“ auf den Weg gebracht wurde). Die Suche nach dem „europäischen Gemeinwohl“, der im EU-Vertrag von 2007 postulierte „Dialog“ z. B. mit den Religionsgesellschaften 53  Vgl. das schöne Wort von J. Burckhardt (Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905/1963, S. 57 ff.): „Jede Kultur ist Lernaufgabe, Leitstern und Leitkultur für alle in ihr Geborenen, und je mehr ein Mensch im Laufe seines Lebens fremde Kulturen kennenlernt, desto freier und wissender wird sein Blick auf die eigene Kultur sein, desto eher wird er auch Mängel in seiner eigenen und Vorzüge in einer fremden Kultur erkennen.“



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kann nur so gelingen. Der „homo europaeus“ ist nur z. T. der vielzitierte „Marktbürger“. Das europäische Menschenbild ist das hier skizzierte, wobei im Begriff „Menschenbild“ der Ursprung der imago dei-Lehre zu spüren sein dürfte, weltweit. Ausblick und Schluss Wissenschaftliche Beiträge zu Grundsatzfragen wie hier dürfen mindestens am Ende in verfassungs- bzw. europapolitische Ausblicke münden. Gefordert ist zum einen, dass der nationale Verfassungsstaat sich der Instrumente bedient, die „Bürgerschaft durch Bildung“ herstellen können: ausdrückliche Erziehungsziele für die Schulen, entsprechende Bildungsprogramme in der Erwachsenenbildung, Vergegenwärtigung in den Parlamenten und politischen Parteien sowie Medien, auch in „Sonntagsreden“ (warum nicht?). Sodann: Der europäische Bürger braucht aber auch Initiativen auf der übernationalen Ebene. Die Instrumente des Europarates in den Jahren von 1997 bis 2005 gehören hierher (Europa als „Raum für Bildung“). Dabei darf es freilich zu keiner „Indoktrination“ kommen. Die Idee der Bürgerfreiheit sollte das verhindern. Europa braucht die „Bildungsbürger“, um ein altmodisches deutsches Wort aufzugreifen. Gerade in der unbegrenzt globalisierten und ökonomisierten Welt von heute ist das Programm „Bürgerschaft durch Bildung“ unverzichtbar. „Weltbürger“54 waren ein Kant und Goethe, wenige Gelehrte wie Leibniz, sind heute ein N. Mandela, war V. Havel, ist wohl auch ein Dalai Lama. J.  S. Bachs h-mollMesse gilt manchen als ein „Stück Weltreligion“. So hoch können und dürfen wir für uns nicht greifen. Der sog. „gemeine Mann“, d. h. wir müssen hier und heute als Forscher und Lehrer alles dafür tun, dass das Projekt Bürgerschaft durch Bildung im Alltag gelingen kann – nicht für die genannten Ausnahmepersönlichkeiten, sondern für den normalen „Durchschnittsbürger“. Die Bürgergesellschaft („Zivilgesellschaft“) meint die „kooperative und gemeinwohlorientierte Selbstorganisationskompetenz der Gesellschaft“. Sie stellt die Frage, wie „auf der Ebene der alltäglichen Lebensvollzüge der Sinn und die Sorge für eine Lebensgestaltung eingeübt und ermutigt werden kann“ (J. von Soosten). Bildung und Bürgergesellschaft im Verfassungsstaat sind ein Ideal. Ihre sie zusammenbindenden Werte lauten: Freiheit und Menschenwürde, Demokratie und Verantwortung, Toleranz, Solidarität, Leistungsbereitschaft, Ehrfurcht vor dem Leben, Friedfertigkeit, Kritikfähigkeit, Gerechtigkeitssinn auch im Blick auf die künftigen Generationen und Umweltbewusstsein (bürgerschaftliche Partizipation), Völkerversöhnung. Was für die jungen Bürger „Erziehungsziele“ sind, werden für die Erwachsenen „Orientierungswerte“. Nationale und europäische Identität gehören zusammen. De Gaulles „Europa der Vaterländer“ behält seinen Sinn. Bildung macht Europa zum „Mutterland“55, vielleicht die Welt. 54  Aus der Lit. jetzt: B. Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Vom Staatsbürger zum Weltbürger – ein republikanischer Diskurs in weltbürgerlicher Absicht, 2011. 55  Aus der einschlägigen Lit.: H.-J. Blanke, Europa auf dem Weg zu einer Bildungs- und Kulturgesellschaft, 1994; G. Böhme, Die philosophischen Grundlagen des Bildungsbegriffs, 1976; R. Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, 1965; U. Engelhardt, Bildungsbürgertum, 1986; M. Fuhrmann., Bildung. Europas kulturelle Identität, 2002; ders., Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, 1999; P. Glotz / K. Faber, Richtlinien und Grenzen des GG für das Bildungswesen, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 1363 ff.; I. Kant, Ausgewähl-

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V. Demokratie als organisatorische Konsequenz der Menschenwürde 1. Demokratievarianten Im weltoffenen und völkerrechtsfreundlichen Verfassungsstaat ist die gewaltenteilende Demokratie das organisatorische Grundprinzip. Es folgt auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates direkt aus der Menschenwürdegarantie. Sie ist seine kulturanthropologische Prämisse. Die Demokratie ist die organisatorische Konsequenz. Diese innere Verbindung von Demokratie und Menschenwürde bzw. den aus ihr fließenden Menschenrechten ist nicht selbstverständlich. In Deutschland wird gerne zwischen der „unpolitischen“ Menschenwürdegarantie und der politischen Demokratie unterschieden. In Wahrheit wird der Mensch als Bürger im Kern getroffen, wenn er keine Möglichkeit hat, seine Wahl- und Abstimmungsrechte praktisch auszuüben oder Meinungs- und Demonstrationsfreiheit auch zu politischen Zwecken effektiv zu nutzen („Bürgerdemokratie“). Man vergegenwärtige sich nur, mit welcher Begeisterung die Bürger Ägyptens und Libyens, zuvor Tunesiens erstmals ihr demokratisches Wahlrecht ausübten (2012). „Demokratie“ gilt heute fast weltweit als Inbegriff einer „guten“ Staatsordnung. Dabei wird gerne vergessen, dass es näherer Kennzeichnung bedarf: „gewaltenteilende“, „wertgebundene“, „freiheitliche“, „pluralistische“ Demokratie. Damit ist eine Absage erteilt an alle Formen „totalitärer“ Demokratie, etwa der sog. „Volksdemokratie“ sozialistischer Regime wie im Osten Deutschlands bis 1989. Zugleich kommt darin zum Ausdruck, dass es viele Demokratievarianten der einzelnen Nationen gibt, die vor dem Forum des Verfassungsstaates als Typus gleichermaßen Bestand haben. Auch wandelt sich das Demokratieverständnis im Laufe der (Verfassungs-)Geschichte bzw. in Raum und Zeit. Die verfassungsstaatliche Demokratie ist ständig te Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung, Ausgabe 1963; F.-R. Jach, Schulverfassung und Bürgergesellschaft in Europa, 1999; K. Kroeschell, Art. Bürger, in: HRG, I. Bd., 1971, Sp. 543 ff.; T. Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, 1955; F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, Ausgabe 1962; C. Menze, Art. Bildung, in: Staatslexikon, Bd. I, 7. Aufl., 1985 und 1995, Sp. 783 ff.; ders., Art. Bildung, in: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 1, 1982, S.  350 ff.; J. Mittelstraß (Hrsg.), Art. Bildung, in: Philosphie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1 (1995), S. 313 f.; H. Münkler (Hrsg.), Bürgerreligion und Bürgertugend, 1996; U. K. Preuß, Der EU-Staatsbürger – Bourgeois oder Citoyen, in: G. Winter (Hrsg.), Das Öffentliche heute, 2002, S. 179 ff.; I. Richter, Bildungsverfassungsrecht, 1973; J. von Soosten, Art. Bürgertum und Bürgergesellschaft, in: Evangelisches Soziallexikon, 2001, Sp. 226 ff.; R. Vierhaus (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, 1980; M. Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, 2005; zuletzt H. Wißmann, Bildung im freiheitlichen Verfassungsstaat, JöR 60 (2012), S. 225 ff.



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reformbedürftig: z. B. durch Verbesserung des Minderheitenschutzes, durch Stärkung der Oppositionsrechte in der parlamentarischen Demokratie, durch Verhinderung des Umschlagens übergroßer wirtschaftlicher Macht in politische Macht oder durch Begrenzung der staatlichen Parteienfinanzierung sowie den Ausbau der Kontrollkompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, neu: durch Strukturierung des Internets (Stichwort: vom staatsfreien, rechtlosen Naturzustand i. S. von T. Hobbes zum rechtlich strukturierten und gerichtlich kontrollierten Kulturzustand i. S. von J. Locke / I. Kant) sowie durch Schaffung unabhängiger Organe, wie des Ombudsmannes und der Menschenrechtskommissionen, auch des Menschenrechtsrates (Genf). Solche Demokratievarianten spiegeln sich in der Unterscheidung zwischen Präsidial- und parlamentarischer Demokratie (wie in den USA und Frankreich einerseits bzw. Großbritannien und Deutschland andererseits) oder in der Differenz zwischen repräsentativer (indirekter) und unmittelbarer Demokratie (Volksbegehren, Volksentscheid, Volksinitiative) bzw. ihren Mischformen. So hat das deutsche Grundgesetz von 1949 in bewusster Abkehr von Formen unmittelbarer („plebiszitärer“) Demokratie der WRV sich grundsätzlich für die repräsentative Demokratie entschieden. Nicht einmal an der Verabschiedung des GG war das deutsche Volk via Volksentscheid beteiligt, auch nicht im Rahmen der Wiedervereinigung im Jahre 1990. Diese „Aussperrung des Volkes“ steht in merkwürdigem Kontrast zu den Elementen unmittelbarer Demokratie in vielen deutschen Landesverfassungen nach 1945 (etwa Verf. Hessen von 1946: Art. 124). Sie ist auch schwer begreiflich angesichts des siegreichen Mottos der friedlichen Oktober-Revolution von 1989 in der untergehenden „DDR“: „Wir sind das Volk“. Konsequenterweise haben denn auch alle Verfassungen der neuen Bundesländer Elemente unmittelbarer Demokratie eingebaut (z. B. Art. 76 bis 78 Verf. Brandenburg von 1992, Art. 71 bis 73 Verf. Sachsen von 199256). Die Schweiz kann sich auf kommunaler, kantonaler und Bundesebene rühmen eine „halbdirekte“ Demokratie zu praktizieren, die zugleich manche negative Erscheinungsformen der „Parteiendemokratie“ in Zaum hält. Auch andere Verfassungsstaaten wie die USA kennen z. B. in Kalifornien geglückte Mischformen beider schon klassischer Demokratievarianten. Klassikertexte zur Demokratie gibt es viele: „Durchschlagend“ ist der Satz von J.-J. Rousseau geworden: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ – er findet sich in vielen älteren und neueren Verfassungen (z. B. Art. 20 Abs. 2 GG von 1949; Kap. 1 § 1 Abs. 1 Verf. Schweden von 1975; Art. 3 Abs. 1 Verf. Frankreich von 1958; Art. 1 bis 3 Verf. Portugal von 1976; Art. 6 Abs. 1 Verf. Ruanda von 1991 / 96; Art. I sect. 1 Verf. Philippinen von 56  Zu den neuen Verfassungen in Ostdeutschland vergleiche die Texte und Kommentare in JöR 42 (1994), S. 149 ff.; 43 (1995), S. 355 ff.

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1986; Art. 1 Verf. Kenia von 2010; Art. 2 Abs. 1 Verf. Kosovo von 2008). Ironisch fragt der Dichter B. Brecht weiter: „aber wo geht sie hin?“, was einer Aufforderung vor allem an die Juristen gleichkommt, immer wieder nach den Gefahrenzonen demokratisch begründeter Macht zu fragen. Auch kann die These von D. Sternberger: „Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ an die Grenzen der Demokratie erinnern. Das verfassungsstaatliche Menschenbild legt uns den Satz nahe: Der Mensch lebt nicht von Demokratie allein. Schließlich ist immer wieder ein Stück des Denkens von Montesquieu, d. h. sein skeptisches, aber wohl „realistisches“ Menschenbild, das ihn zur Gewaltenteilung führte, in die jeweilige positivrechtliche Ausgestaltung der „Demokratie“ in einem konkreten, heute kooperativen Verfassungsstaat einzuspeisen. M. a. W.: Die „reine“ Volkssouveränität ist im Verfassungsstaat von heute von der in der Verfassung rechtlich gebundenen Kompetenz des Volkes abgelöst worden (vgl. Art. 1 Abs. 1 Verf. Uganda von 1995), Volk als Summe der Bürger verstanden. Das angelsächsische „We, the people“ kommt dem nahe (z. B. auch Präambel Verf. Bangladesh (1973/2004), Art. 6 Abs. 4 Verf. Sierra Leone (1991)). Erneut sei das Vorverständnis dieser Studien in Erinnerung gerufen: Wie Wachstumsringe legen sich Texte, Judikatur und Theorien um den „Typus Verfassungsstaat“ bzw. seine durch Vergleich erarbeiteten nationalen Beispiele. In diesen Horizonten kann es auf lange Sicht zu einem universalem Konstitutionalismus kommen, zu dem auch das konstitutionalisierte Völkerrecht seinen Beitrag leistet, etwa durch UN- Konventionen, die zu nationalen Verfassungstexten gerinnen, etwa in Sachen Folterverbot, Kinderrechte, Rechte der Behinderten, kulturelle Vielfalt – letztere ist sowohl ein Stück Weltkulturrecht als auch Weltrechtskultur, ein universaler Wert. Im Folgenden sei zunächst die Vielzahl möglicher konkretisierender Aussagen in Verfassungstexten zur Demokratie an Beispielen illustriert, sodann seien Elemente der freiheitlichen, oft auch „bürgerlich“ genannten Demokratie dargestellt, wie sie von der Wissenschaft und Rechtsprechung vieler Nationen entwickelt worden sind. Viele von ihnen klingen an, wenn heute fast weltweit die Idee des „idealen Staates“ unter den Stichworten „Menschenrechte und Demokratie“ beschworen wird. Folgende ältere und neuere Verfassungen, aber auch Menschenrechtstexte (z. B. der EMRK und UN) ringen schon textlich um Demokratie bzw. lassen sich als „Demokratieartikel“ bezeichnen: – Staatsform-Klauseln (z. B. Art. 1 Verf. Österreich von 1920; Art. 2 alte Verf. Angola von 1992; Art. 1 Abs. 1 Verf. Senegal von 2001; Art. 1, 45 Verf. Äthiopien von 1994); – im Kontext der Grundrechte (z. B. Art. 21 Verf. Brandenburg von 1992; Art. 6 Verf. Republik Sao Tomé und Princípe von 1990);



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– Bürgerrechte und politische Rechte (z. B. 2. Kap. nBV Schweiz von 1999); UN-Menschenrechtspakte (1966); – Parteienartikel (z. B. Art. 21 GG; Art. 4 Verf. Frankreich von 1958/2008; Art. 32a Verf. Luxemburg von 1868 / 2008; Art. 69 bis 72 Verf. Uganda von 1995; Art. 4 Verf. Senegal von 2001; Art. 91, 92 Verf. Kenia von 2010; Art. 17 neue Verf. Angola von 2010); – Erziehungsziele (z. B. Art. 131 Abs. 3 Verf. Bayern von 1946); – kommunale Selbstverwaltung („Aufbau der Demokratie von unten nach oben“: Art. 3 Abs. 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993); – Oppositions-Artikel (z. B. Art. 23a Abs. 1 Verf. Hamburg von 1952 bzw. 1972; zuletzt Art. 58 Verf. Senegal von 2001)57; – andere Formen (z. B. Kap.1 § 2 Abs. 3 Verf. Schweden von 1975, Art. 14 Verf. Äquatorial Guinea von 1991; andere Formen „demokratischer Partizipation“ (Art. 62 bis 74 Verf. Venezuela von 1999; Art. 26 bis 29 Verf. Bolivien von 2007; Art. 95 bis 99 Verf. Ecuador von 2008). Dem deutschen Autor seien auch einige prägnante Umschreibungen aus der Judikatur des BVerfG erlaubt. Im Parteiverbotsverfahren gegen die SRP arbeitete das BVerfG (E 2, 1) die Grundsätze des Mehrheitsprinzips, der Volkssouveränität und des Mehrparteien- und Oppositionsprinzips als Elemente der freiheitlich demokratischen Grundordnung i. S. des Parteien-Art. 21 Abs. 2 GG und damit als „oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates“ (E 2, 1 (12)) heraus. Zu ihrer Verwirklichung 57  „Die Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der politischen Demokratie.“ Vorarbeit für den „Oppositions-Artikel“ in Verf. Hamburg (Art. 23a) haben (auch hier) viele geleistet, vor allem Verfassungsrechtsprechung (vgl. BVerfGE 2, 1 (13): „Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition“; E 5, 85 (199): „Kritik der oppositionellen Minderheit“) und Staatsrechtslehre (aus der Lit.: H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1974; S. Haberland, Die verfassungsrechtliche Stellung der Opposition nach dem Grundgesetz, 1995). Die wohl früheste Konstitutionalisierung der Opposition auf Textebene findet sich (für die Parteien) in Verf. Baden von 1947: Art. 120 Abs. 3 S. 1: „Stehen sie (sc. die politischen Parteien) in Opposition zur Regierung, so obliegt es ihnen, die Tätigkeit der Regierung und der an der Regierung beteiligten Parteien zu verfolgen und nötigenfalls Kritik zu üben.“ Im Verfassungsstaat als offenem Typus bzw. in der Bundesrepublik Deutschland ist die Opposition gewiss Teil des materiellen Verfassungsrechts, unabhängig von der formellen Verfassungsurkunde. Doch ist sie dies wohl erst dank eines Zusammenwirkens vieler geworden: von einer „vorpreschenden“ gliedstaatlichen Verfassung ­(Baden) über Rechtsprechung und Lehre bis zum „nachziehenden“ gliedstaatlichen verfassungsändernden Gesetzgeber (Hamburg: Art. 23a (1952 / 1996)). Vgl. zuletzt Art. 26 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993); Art. 59 Verf. Thüringen (1993); Art.  16a Verf. Bayern (1946 / 1998); Art.  85b Verf. Rheinland-Pfalz (1947 / 2000).

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bedarf es auch demokratischer Grundsätze für die innere Ordnung der Parteien (ebd. S. 14). Im KPD-Urteil erklärt das BVerfG einen Grundkonsens aller politischen Parteien über diese Grundsätze zu einer Voraussetzung des grundgesetzlichen „Typus der Demokratie“ (E 5, 85 (141)). Hinsichtlich der Ausgestaltung des Wahlverfahrens (Art. 38 Abs. 3 GG) gesteht das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten, im Einzelnen aber umstrittenen Gestaltungsspielraum zu (BVerfGE 95, 335 (349) einerseits, 367 ff. andererseits). Das Wahlrecht, etwa die 5 %-Klausel, unterliegt keinen starren Maßstäben, sondern ist stets auf die konkreten politischen Verhältnisse anzupassen (BVerfGE 6, 84 (89 ff.) einerseits und E 82, 322 (337 ff.) andererseits). Die Entscheidung zur 5 %-Klausel bei den deutschen Wahlen zum Europäischen Parlament (BVerfGE 129, 300, mit prospektivem Sondervortum) bleibt umstritten58. (Andere Länder kennen andere Klauseln.) Mit der Verfassungsrechtsdogmatik lassen sich zu den „Grundzügen“ der demokratischen Ordnung des welt- und völkerrechtsoffenen Verfassungsstaates folgende Elemente rechnen59: a)  Pluralismus meint Vielfalt von Interessen und Ideen. Sie ist im Verfassungsstaat eine „Gegebenheit“, d. h. er findet sie vor, seine Verfassungsgeschichte hat sie mit hervorgebracht, aber sie stellt ihm auch Aufgaben, z. B. zum Erfolg von „Pluralismusgesetzen“ (wie Pressefusions- und Kartellgesetzen) oder in Sorge für pluralistische Strukturen in den Massenmedien wie Rundfunk und Fernsehen („Binnen-“ bzw. „Außenpluralismus“, vgl. BVerfGE 57, 295 (325 f.)). Die Philosophie des Pluralismus ist das Konzept der „offenen Gesellschaft“ (die Philosophie des „offenen Geistes“), im Gegensatz zur geschlossenen, das Sir Popper (in Kritik an Hegel, Marx und Platon) entworfen hat60. Kongenial nehmen auch einige neue Verfassungen diesen Gedanken auf (z. B. Präambel Peru, alte Verf. von 1979), und derselbe Gedanke findet sich nach 1989 in Gestalt von Antistaatsideologieklauseln in osteuropäischen Verfassungen wie der Ukraine (Art. 15 Abs. 1 und 2) oder Russland (Art. 13). Eine Ausdrucksform von Pluralismus und damit einer pluralistischen Verfassungstheorie ist – neben Bekenntnissen zum politischen Pluralismus (z. B. Art. 1 Verf. Bolivien von 2007; Art. 2 Verf. Venezuela von 1999) – auch die Toleranz als Verfassungsprinzip (vgl. Präambel Verf. Bulgarien von 1991; Art. 81 Verf. Ser­ bien von 2006; Präambel neue Verf. Angola von 2010: „Kultur der Toleranz“) und das Erziehungsziel der Toleranz (z. B. Art. 131 Verf. Bayern; 58  Aus der Lit. z. B. M. Morlok, Chancengleichheit – ernst genommen, JZ 2012, S.  76 ff. 59  Zum Folgenden für das deutsche GG: K. Hesse, Grundzüge, a. a. O., S.  63 ff.; s. auch P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S. 327 ff. 60  K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 7. Aufl. 1992.



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Art. 33 Verf. Bremen; Art. 7 Nordrhein-Westfalen). Gewiss, es gibt Grenzen für den verfassungsstaatlichen Pluralismus (sie liegen in den unverzichtbaren Grundwerten), im Grundsatz aber bildet er das Lebenselixier für ihn. Aus dem Kräfteparallelogramm vieler Ideen und Interessen entwickelt der Verfassungsstaat seine eigenen Kräfte. Konsequenz ist eine „pluralistische Gemeinwohltheorie“, so wie die Anerkennung der Interessengruppen und Verbände, Religionen, Kirchen und pluralistischen Parteien. Die Pluralismusidee erinnert daran, dass der Verfassungsstaat kein „über“ den Bürgern schwebender „Herrschaftsverband“ ist, sondern sich aus seinen Bürgern und Gruppen immer wieder neu konstituiert und in ihrem Dienst steht. Die geschriebene und ungeschriebene Verfassung ist dabei teils „Rahmenordnung“, teil dichtes Direktivenbündel mit, wie gezeigt, „anregenden“ und begrenzenden Aspekten. Vielfalt von Ideen und Interessen statt „verordneter“ Einheit macht den weltoffenen Verfassungsstaat, wie sich 1989 und 2011 wieder einmal gezeigt hat, allen Formen totalitärer Herrschaft gegenüber überlegen. Pluralismus ist Ausdruck und Bedingung individueller wie kollektiver Freiheit des Bürgers bzw. Menschen. b) Das Mehrheitsprinzip steht in einem Spannungsverhältnis zum Schutz von Minderheiten. Manche Verfassungen sehen ausdrücklich das Mehrheitsprinzip vor (z. B. Art. 121 GG), sie regeln zugleich vielfältige Formen des Minderheitenschutzes (z. B. in Gestalt von Antragsrechten der parlamentarischen Opposition zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Art. 44 GG) oder beim Zugang zum BVerfG (Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG). Die scharfe Waffe des Mehrheitsprinzips ist überhaupt nur deshalb „erträglich“, weil es (gestaffelten) Minderheitenschutz gibt (vor allem über den „Vorrang der Verfassung“, vgl. Art. 2 Abs. 1 Verf. Uganda von 1995, Art. 2 Abs. 1 Verf. Kenia von 2010 bzw. den Schutz der Grundrechte). Die innere Rechtfertigung der Demokratie als „Herrschaft der Mehrheit“61 ist schwer: Sie ist zu leisten dank der Idee der Freiheit und Gleichheit und der Notwendigkeit, zu einer funktionsfähigen Entscheidung zu kommen. Das Mehrheitsprinzip hat auch immer wieder seine („Gegen-)Klassiker“ gefunden, z. B. im Satz von F. Schiller: „… nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe …“, Demetrius). Im Verfassungsstaat von heute fällt die kluge Abstufung der Mehrheiten auf: z. B. 2 / 3 Mehrheit oder noch größere Mehrheit für Verfassungsänderungen (z. B. 3 / 5 Mehrheit), 1 / 4 Mehrheit für Untersuchungsausschüsse etc. So sehr die Kunst des alltäglichen politischen Prozesses darin liegt, in der Öffentlichkeit des Parlaments Mehrheiten zu finden und zu gestalten, so klar ist immer wieder an verfassungsstaatliche Grenzen des Mehrheitsprin61  Dazu U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973; P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (1977), in: ders., Verfassung als öffenlicher Prozeß, 3. Aufl. 1998, S. 565 ff.; C. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, ÄöR 127 (2002), S. 460 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

zips zu erinnern. Sie finden sich z. B. in Gestalt von „Ewigkeitsklauseln“ als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien62. Im Übrigen muss die Möglichkeit unterschiedlicher und sich verändernder Mehrheitsverhältnisse bestehen, so dass die bei einer Entscheidung Unterliegenden die reale gleiche Chance haben, in einem späteren Fall die Mehrheit zu gewinnen63. Das Wechselspiel von Mehrheit und Minderheit setzt einen Grundkonsens voraus, der es auch dem ad hoc unterliegenden Teil ermöglicht, das Mehrheitsvotum anzuerkennen. Die Möglichkeit des Sondervotums in manchen Verfassungsgerichten (USA, Deutschland, Spanien, Albanien, Thailand, Brasi­ lien) ist die subtilste Form des Minderheitenschutzes, hinter der zugleich ein Stück „Öffentlichkeit der Verfassung“ sichtbar wird: Das Sondervotum von heute kann – prospektiv – zum Mehrheitsvotum von morgen werden (so in den Fällen von BVerfGE 32, 129 (141 ff.) – „Österreicherfälle“ bzw. E 53, 257 (289 ff.) – „Versorgungsausgleich bei ‚Altehen‘ “). Im völkerrechtsoffenen Verfassungsstaat ist immer wieder an die Grenzen der Demokratie zu erinnern. Bei aller Unverzichtbarkeit der Bereitschaft des Bürgers, sich „aktivbürgerlich“ zu betätigen: Legitim ist auch der Standpunkt des unpolitischen Bürgers i. S. des „Ohne mich“ des Bürgers, der z. B. nicht zur Wahl geht (darum ist die Wahlpflicht mancher Länder wie Belgien fragwürdig). Verfassungsrechtlich wird „unpolitisches Verhalten“ mehrfach abgesichert: durch den grundrechtlichen status negativus der Bürger und Gruppen, durch den in neueren Verfasungen in Afrika und auf dem Balkan differenziert ausgebauten Privatheitsschutz, der das demokratische Prinzip Öffentlichkeit dialektisch begrenzt, und durch die simple Einsicht in die Natur des Menschen, der eben nicht von Demokratie allein lebt und auch „in Ruhe gelassen“ werden will. Demokratie ist auch im „weltbürger­ lichen“ Verfassungsstaat nicht die alleinige Lebensform des Menschen. An Negativbeispielen lässt sich die Notwendigkeit von Grenzen der Demokratie illustrieren: Das Schlagwort der 68er Bewegung von der „Demokratisierung“ aller Lebensbereiche, auch der Wirtschaft, hat zu totalitären Erscheinungsformen geführt; z. B. wurde in Deutschland in Forschung und Lehre eine „Mitbestimmung“ des nichtwissenschaftlichen Personals propagiert (dagegen aber die Grenzziehung des BVerfG in E 35, 79). Auch die unverzichtbare Autonomie der Kunst (bis hin zur „Anarchie“ vieler Künstler) geht verloren, wenn ihre Lebensbereiche „demokratisiert“ bzw. „veröffentlicht“ werden. Die demokratische Stimmabgabe ist in totalitären Staa­ten 62  Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. 1998, S. 267 ff. – Jüngere Textbeispiele: Art. 441 und 442 Verf. Ecuador von 2008; besonders hohe Anforderungen an die Mehrheiten für Verfassungsänderungen in Art. 69 Verf. Mongolei von 1992 sowie in Art. 258 bis Art. 267 Verf. Uganda von 1995. 63  So K. Hesse, Grundzüge, a. a. O., S. 64.



V. Demokratie als organisatorische Konsequenz der Menschenwürde385

praktisch nicht mehr geheim. 99-prozentige Wahlbeteiligung bzw. Abstimmungen wecken Zweifel an der Freiheitlichkeit eines politischen Regimes. Im Übrigen ziehen einige Verfassungsstaaten auch positivrechtlich Grenzen der Demokratie, insofern sie etwa das Verbot verfassungswidriger politischer Parteien institutionalisieren (Art. 21 Abs. 2 GG, Art. 13 Verf. Polen von 1997, Art. 9 Abs. 2 Verf. Albanien von 1998, Art. 5 Abs. 3 Verf. Ser­bien von 2006) und mit dem Begriff der „wertgebundenen“, „abwehrbereiten“ Demokratie an vorstaatliche, auch das politisch agierende Volk bindende Grundwerte (wie die vom Völkerrecht gebotenen Menschenrechte) erinnern. 2. Demokratietheoretische Überlegungen als Legitimation Im demokratischen Verfassungsstaat ist die Legitimationsfrage noch einmal speziell unter demokratischen (demokratietheoretischen) Gesichtspunkten zu stellen. Eine im herkömmlichen Sinne verstandene demokratische Legitimation zu Verfassungsinterpretation hat die Verfassungsrechtswissenschaft, haben die ihr „zuliefernden“ sog. Wirklichkeitswissenschaften, haben Bürger und Gruppen nicht. Aber Demokratie entfaltet sich eben nicht nur über den formalisierten, kanalisierten, im engeren Sinne verfassten Delegations- und Verantwortungszusammenhang vom Volk zu den Staatsorganen hin (Legitimation durch Wahlen)64 bis zum letztlich „kompetenten“ Verfassungsinterpreten, dem BVerfG. Sie entfaltet sich in einem offenen Gemeinwesen auch in den „feineren“ mediatisierten Formen des pluralistischen öffentlichen Prozesses täglicher Politik und Praxis, insbesondere in der Grundrechtsverwirklichung, oft angesprochen in der „demokratischen Seite“ der Grundrechte: durch die Kontroversen über die Alternativen, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Wirklichkeit und auch das wissenschaftliche „Konzert“ über Verfassungsfragen, in dem es kaum „Pausen“ und „Fermaten“ und keine Dirigenten gibt und geben darf, auch keine „letzten Worte aus Karlsruhe“. Das sei hier wiederholt. „Volk“ ist eben nicht nur einheitliche, (nur) am Wahltag „emanierende“ Größe, die als solche demokratische Legitimation vermittelt65. Volk ist als pluralistische Größe für die Interpretationen im Verfassungsprozess nicht minder präsent und legitimierend: „als“ politische Partei66, als wissenschaft64  Vgl. auch BVerfGE 33, 125 (158) (Facharztentscheidung), später E 93, 37 (67 f.); 130, 318 (342 ff.). 65  Zum Zusammenhang zwischen Demokratie und richterlicher Unabhängigkeit vgl. K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, 1960, S.  103 ff. 66  Insofern besteht eine Übereinstimmung mit G. Leibholz’ Parteienstaatslehre (Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, bes. S. 78 ff.): Das Volk

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5. Kap.: Einzelausprägungen

liche Meinung, als Interessengruppe, als Bürger; dessen sachliche Kompetenz zu Verfassungsinterpretation ist ein staatsbürgerliches Recht i. S. des Art. 33 Abs. 1 GG! So gesehen sind die Grundrechte ein Stück demokratischer Legitimationsbasis für die nicht nur in ihren Ergebnissen, sondern auch in ihrem Beteiligtenkreis offene Verfassungsinterpretation. In der freiheitlichen Demokratie ist (auch) der Bürger Verfassungsinterpret! Um so wichtiger werden die Vorkehrungen zur Garantie realer Freiheit: leistungsstaatliche Grundrechtspolitik67, Freiheit der Meinungsbildung, Konstitutionalisierung der Gesellschaft z. B. durch gewaltenteilende Strukturierung des öffentlichen, insbesondere wirtschaftlichen Bereichs, Garantie des ökonomischen Existenzminimums, der kulturellen Teilhabe. Das ist keine „Entthronung“ des Volkes – es ist dies allenfalls von einem Rousseau’schen Volkssouveränitätsverständnis aus, in dem das Volk absolut und gottgleich gesetzt wird. Volk als verfasste Größe wirkt „allseitig“, universal, auf vielen Ebenen, aus vielen Anlässen und in vielen Formen, nicht zuletzt über tägliche Grundrechtsverwirklichung. Man vergesse nicht: Volk ist vor allem ein Zusammenschluss von Bürgern. Demokratie ist „Herrschaft der Bürger“, nicht des Volkes im Rousseau’schen Sinne. Es gibt kein Zurück zu J.-J. Rousseau. Die Bürgerdemokratie ist realistischer als die VolksDemokratie. Die klassische Formel „We, the people“ (z. B. Präambel Verf. Philippinen von 1986, Präambel Verf. Mongolei von 1992, Präambel Verf. Togo von 1992, Präambel Verf. Burundi von 1992, Präambel Verf. Weißrussland von 1994, Präambel Verf. Polen von 1997, Präambel Verf. Albanien von 1998, Präambel Verf. Kosovo von 2008, Präambel Verf. Kenia von 2010) wird schon ein wesentliches Stück des universalen Konstitutionalismus mit reichen Textstufen, auch Mischformen (z. B. Präambel Verf. Niger von 1996: „Wir, das souveräne Volk“, ebenso Präambel Verf. Burkina Faso von 1991 / 97). Freilich muss der Begriff „Volk“ angesichts der Zunahme von multiethnischen Teilen neu überdacht werden. So sagt die Präambel Verf. Russische Föderation von 1993: „Wir, das multiethnische Volk“. Hier hat die weltweit vergleichende Verfassungslehre noch viel zu erarbeiten. Bürgerdemokratie liegt nahe von einem Denken, das die Demokratie von den Grundrechten her sieht, nicht von Vorstellungen, in denen das Volk als Souverän eigentlich nur den Platz des Monarchen eingenommen hat. Diese Sicht ist eine Konsequenz der Relativierung des – allzu leicht missverstandenen – Volksbegriffs vom Bürger her! Grundrechtliche Freiheit (Pluraliswird nur in bestimmten Organisationsformen artikulations- und handlungsfähig. Das berechtigt aber nicht zur Identifikation von Volk und (Volks-)Parteien; das pluralistische Gemeinwesen ist viel stärker ausdifferenziert. 67  Dazu mein Koreferat: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S.  43 ff. (69 ff.).



VI. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne387

mus), nicht „das Volk“ wird zum Bezugspunkt für demokratische Verfassung. Diese capitis diminutio des kryptomonarchischen Volksbegriffsdenkens steht im Zeichen der Bürgerfreiheit und des Pluralismus. Bemerkenswerterweise schreibt die Präambel Verf. Georgien von 1995 die Verfassung „den Bürgern Georgiens“ zu (ähnlich schon Präambel Verf. Tschechische Republik von 1992). Es gibt viele Formen von in diesem Sinne weit verstandener demokratischer Legitimation, macht man sich nur von dem linearen und „eruptiven“ Denkstil traditioneller Demokratievorstellungen frei. Es kommt zu einem Stück Bürgerdemokratie durch die interpretatorische Entwicklung der Verfassungsnorm hindurch68. Möglichkeit und Wirklichkeit freier Diskussion von Einzelnen und Gruppen „über“ und „unter“ den Verfassungsrechtsnormen und ihr pluralistisches Wirken „in“ ihnen vermittelt sich dem Interpretationsvorgang vielfältig. (Dass dieser freie Prozess realiter auch von innen her immer wieder bedroht ist und dass selbst die deutsche freiheitlich-demokratische Grundordnung in Wirklichkeit gegenüber dem Idealtypus Defizite aufweist, sei ausdrücklich vermerkt.) Demokratietheorie und Interpretationstheorie werden zur Konsequenz von Wissenschaftstheorie. Die Gesellschaft ist in dem Maße frei und offen, wie sich der Kreis der Verfassungsinterpreten (und -geber) im weiteren Sinne öffnet. Damit macht seit einigen Jahren das Bundesgericht in Brasilien durch öffentliche Hearings ernst, unter Berufung auf den Verf.

VI. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne – Organkonstituierung und Funktionenteilung im Interesse der Aufgabenerfüllung 1. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne a) Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist sowohl „Klassikertext“ Montesquieu (1748) als auch in der Trias Gesetzgebung, Vollziehung Rechtsprechung konstituierendes Prinzip des Typus „Verfassungsstaat“ positives Verfassungsrecht in allen seinen nationalen Beispielsfällen

seit und und und

68  Poppers Demokratiekonzeption und ihr sie rechtfertigender Zusammenhang(!) mit seiner Wissenschafts- und Erkenntnistheorie kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden (Belegstellen zur Demokratie in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I (1957), bes. S. 25, 156 ff., 170 ff.; Bd. II (1958), S. 157, 159 ff., 186 f., 197 ff., 293 f.). Genügen muss der Hinweis, dass Poppers Wissenschaftskonzept demokratietheoretisch ergiebig ist, das im Text vertretene pluralistische und gewaltenteilige, konstitutionelle, bürgerfreiheitliche Demokratiekonzept sich auf Popper auch insofern berufen kann, als er seine Demokratietheorie ohne, ja gegen „klassische“ Volkssouveränitätsdogmen entfaltet.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Varianten. Zwischen den drei Ebenen bzw. Erscheinungsformen gibt es zahlreiche wechselseitige Überschneidungen und Befruchtungen. Das positive Verfassungsrecht vieler Länder bringt derzeit manches neue Verfassungsorgan (z. B. den Bürgerbeauftragten bzw. den Ombudsmann) hervor, das dann in das Gesamtbild der Gewaltenbalance eingeordnet werden muss, so wie die stark gewordene Verfassungsgerichtsbarkeit in vielen Ländern erst nach und nach ihren „richtigen Standort“ im Gesamtbild eines Verfassungsstaates findet. Inspirierender Klassikertext bleibt die Schrift von Montesquieu „De l’esprit des lois“, in der es im XI. Buch, Kap. 4 heißt: „Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen“. (Negativ ist auch die Gier.) Dieses realistische Menschenbild der ständig akuten Gefahr des Machtmissbrauchs durch Menschen nicht nur in politischen bzw. staatlichen Ämtern leitet auch heute noch alles verfassungsstaatliche Ringen um optimale Gewaltenteilung an, und die immer neue schöpferische Rückkehr zum klassischen „Urtext“ Montesquieus (und J. Lockes) vermag auch neue Gefahrenzonen von Machtmissbrauch zu erkennen und zu bekämpfen. M. a. W.: Gewaltenteilung ist ein relativ offenes Prinzip, mit Konstanten und Varianten. Während die Gefahr des Machtmissbrauchs konstant bleibt, weil der vom Verfassungsstaat in den Blick genommene Mensch und Büger wohl zu allen Zeiten und in allen Räumen (insofern) „derselbe“ bleibt (in seinen Schwächen und Stärken), variieren die einzelnen Ausprägungen der Gewaltenteilung von Zeit zu Zeit und Land zu Land. Dabei ist zwischen der Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne zu unterscheiden. Gewaltenteilung im engeren Sinne meint die Teilung der staatlichen Gewalten; Gewaltenteilung im weiteren Sinne bezieht sich darüberhinaus auf den ­gesamten gesellschaftlichen Bereich: z. B. ist in Deutschland von einer „publizistischen Gewaltenteilung“ zwischen privater Presse und öffentlichrechtlichem Rundfunk und Fernsehen die Rede; z. B. ist auf eine Gewaltenbalance zwischen den Tarifvertragsparteien (Gewerkschaften und Arbeit­ geberverbänden)69 zu achten. Dies ist im Einzelfall sowohl Sache vor allem der Verfassungsgerichte, aber letztlich des gesamtgesellschaftlichen, auch politischen Prozesses. Sogar im Privatrecht kann das Bild des Gleichgewichts hilfreich sein, etwa zwischen bürgerlichen Vertragsparteien, auf das vor allem beim Mietverhältnis (vgl. BVerfGE 89, 1) und bei der zivilrechtlichen Bürgschaft geachtet (vgl. BVerfGE 89, 214) werden muss. Das Kartellrecht bzw. Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen dient im Grunde ebenfalls der Idee der Gewaltenbalance auf dem „offenen“ Markt, und manches grobe Ungleichgewicht wird z. B. durch die Generalklauseln des 69  Vgl. P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 295: „Gleichgewichtigkeit der Tarifparteien“.



VI. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne389

Zivilrechts (Verbot sittenwidriger Rechtsgeschäfte bzw. „Treu und Glauben“) beseitigt. Zu denken ist auch an das innerbetriebliche Kräfteverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, das bezeichnenderweise im (deutschen) „Betriebsverfassungsgesetz“ geregelt ist. Im Folgenden sei die Gewaltenteilung im engeren Sinne, die sich also auf den Staat bezieht, näher gekennzeichnet. Zu unterscheiden ist hier zwischen der „horizontalen“ und der „vertikalen“ Gewaltenteilung. Die horizontale bezieht sich klassisch auf die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative, organbezogen gedacht auf Parlament, Regierung bzw. Verwaltung sowie die Gerichte (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Bemerkenswert ist, dass sich die Zahl der Gewalten im Rahmen der gesellschaftlichen Wachstumsprozesse des Verfassungsstaates vermehrt hat. So gibt es in vielen Verfassungsstaaten die Rechnungshöfe70 (auch die deutsche Bundesbank, jetzt die Europäische Zentralbank), die in ihrem unabhängigen Status den Gerichten nahestehen (vgl. Art. 100 Abs. 1 und 2 Verf. Italien); so haben sich „Ombudsmänner“ (vor allen in skandinavischen Ländern, s. auch Art. 142 alte Verf. Angola von 1992) oder benachbarte Formen wie Wehrbeauftragte (z. B. Art. 45 b GG), Datenschutzbeauftragte (z. B. Art. 21b Verf. Berlin von 1950 / 1994) oder „Kinderanwälte“ (Art. 72 Abs. 4 Verf. Polen von 1997) entwickelt (die in mehreren Verfassungen trotz breiter Kinderschutzartikel noch fehlen, z. B. Art. 28 Verf. Südafrika von 1996, Art. 50 Verf. Kenia von 2010, Art. 44 bis 46 Verf. Ecuador von 2008). Dass mitunter sogar die freie Presse als „vierte Gewalt“ bezeichnet wird, deutet daraufhin, dass Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne zusammengedacht werden muss. M. a. W.: Der Kanon der „Gewalten“ und der von ihnen wahrzunehmenden Funktionen ist offen – wie die Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates selbst: Die Felder staatlichen Handelns ändern sich, gerade wenn sich der Blick ins Weltweite öffnet: zum Völkerrecht. Im staatlichen Bereich ist von der horizontalen Gewaltenteilung die vertikale zu unterscheiden. Sie ist im Bundesstaat die Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern. Sie sichert aus deutscher Sicht (zusammen mit den Grundrechten) zusätzlich die politische Freiheit und rechtfertigt den Föderalismus dadurch in besonderer Weise. Aber auch Verfassungsstaaten, die sich „nur“ für den Regionalismus entschieden haben (von Italien bis Spanien) oder um einen solchen ringen (Großbritannien als „devolution“ in Schottland und Wales, seit 1998 auch in Nordirland) machen sich im Grunde die Idee der „vertikalen“ Gewaltenteilung zunutze; dies umso mehr, wenn man den Regionalismus als zwar eigenständige Variante des Typus Verfassungsstaat ansieht, aber gleichwohl als „kleineren Bruder“ des Föderalismus deutet. 70  Dazu H. Schulze-Fielitz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), S. 231 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

b) Die nationalen Varianten des „Prinzips Gewaltenteilung“ sind groß71. So hat die USA-Bundesverfassung von 1787 das System der „checks and balances“ entwickelt, welches die Trennung der Gewaltenteilung betont, während die Demokratien mit parlamentarischem Regierungssystem, in denen die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängt, Elemente vielfältiger Überschneidungen zwischen erster und zweiter Gewalt kennen (Gewaltenverschänkung). In ihnen bleibt freilich die unabhängige Gerichtsbarkeit stark ausgegrenzt und unabhängig, wenngleich es auch hier Einwirkungen gibt (z. B. Wahl bzw. Berufung der Richter teils durch die Parlamente, teils durch die Regierungen). Wie immer sich eine nationale gewaltenteilende Demokratie verfasst: Entscheidend ist, dass der Grundgedanke der Gewaltenteilung, die Verhinderung von Machtmissbrauch, gewahrt bleibt. Die Textbilder in Sachen Gewaltenteilung sind heute höchst variantenreich: „Gleichgewicht“ (Art. 7 Verf. Albanien von 1998), „Teilung der Gewalten“ (Art. 10 Verf. Polen von 1997), „Gewaltentrennung und Gewaltengleichgewicht“ (§ 4 Verf. Estland von 1992), „Prinzip der Gewaltenteilung“ (Art. 5 Abs. 4 Verf. Georgien von 1995) – bis hin zur Qualifizierung als „Grundwert der Verfassung“ (Art. 8 Verf. Mazedonien von 1991). Wieder einmal zeigt sich, dass die konstitutionellen Textstufen die Entwicklung der wissenschaftlichen Lehren widerspiegeln72, diese verarbeiten, oft zusammen mit der Judikatur, sowie dass umgekehrt das Verfassungstextmaterial die Literatur und Judikatur inspiriert. Ein Blick auf die jüngsten Verfassungen auf dem Balkan73 ist ebenso ergiebig, wie ein solcher auf Afrika74. Gleiches gilt für Lateinamerika75. Ein Element der Architektur des universalen Konstitutionalismus wird sichtbar. (Weltweit dringen Internationale Gerichte vor.) 71  Aus der Lit.: C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005; J. Isensee (Hrsg.), Gewaltenteilung heute, 2010; H.-D. Horn, Über den Grundsatz der Gewaltenteilung in der Demokratie und Europa, JöR 49 (2011), S. 278 ff. 72  s. auch Art. 6 Verf. Moldau von 1994: „Trennung und Zusammenarbeit der Gewalten“; Art. 5 Abs. 1 Verf. Montenegro von 1992: „Gliederung“ in die drei Gewalten. 73  Vgl. Art. 4 Abs. 1 Verf. Kosovo von 2008: „the principle of separation of ­power and the checks and balances among them“; Art. 4 Abs. 2 Verf. Serbien von 2006: „Relation between branches of power shall be based on balance and mutual control“. 74  Vgl. Art. 59 Abs. 2 Verf. Guinea-Bissau von 1993: „Trennung und Unabhängigkeit der Hoheitsorgane“; Präambel Verf. Madagaskar von 1995: „Teilung und Ausgeglichenheit der Gewalten“; Art. 159 lit. f Verf. Angola von 1992: „Trennung und Interdependenz der Hoheitsorgane“; Art. 2 Abs. 1 neue Verf. Angola von 2010: „Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung“. 75  Vgl. nur: Art. 12 Verf. Bolivien von 2007: „separación, coordinación y cooperación de estos organos“.



VI. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne391

Hierbei ist auch die jeweilige Inkompatibilitätsregelung in den Blick zu nehmen (vgl. Art. 94 Abs. 1 S. 3, 137 Abs. 1 und 55 Abs. 1 GG sowie § 2 GeschOBRat)76. So bemüht sich Frankreich 1998 um ein Inkompatibilitätsgesetz, das z. B. die gleichzeitige Mitgliedschaft im Parlament und die Innehabung eines Bürgermeisteramtes ausschließen soll. Dem Gedanken der Gewaltentrennung ist noch der der Gewaltenbalancierung hinzuzufügen, der wechselseitigen Kontrolle und Beschränkung77. Historisch und weltweit rechtsvergleichend gesehen, ist die Gewaltenhäufung („Gewaltenkonzentration“) das – abschreckende – Gegenmodell: Es ist im Marxismus-Leninismus und seiner Ideologie des sozialistischen Zentralismus („sozialistische Gesetzlichkeit“), auch der „Parteilichkeit des Rechts“ ebenso praktiziert worden wie im deutschen Nationalsozialismus („Führerprinzip“, der „geheime Führerbefehl“ als oberste Rechtsquelle). Auch das SED-Regime im Deutschland der „DDR“ hat in Gestalt des (geheimen) Schießbefehls an der „Mauer“ bzw. innerdeutschen Grenze bis 1989 warnende Pervertierungen hervorgebracht. So ist es kein Zufall, dass zahlreiche Reformstaaten Osteuropas nach dem „annus mirabilis“ 1989 auf die Gewaltenteilung als leitendes Konstitutionsprinzip zurückgreifen (z. B. Art. 10 Abs. 1 Verf. Polen von 1997: „Die Staatsordnung der Republik Polen beruht auf der Teilung und dem Gleichgewicht der gesetzgebenden Gewalt, der vollziehenden Gewalt und der rechtsprechenden Gewalt.“ Der „arabische Frühling“ (2011) muss nach wie vor darum ringen, vor allem um Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch Verfassungen in Übersee bekennen sich zur Gewaltenteilung und verwirklichen damit ein Stück „Montesquieu“ in ihrer Verfassung (z. B. Präambel Madagaskar von 1992 / 95). Montesquieu ist heute ein universaler Klassikertext der einen Menschheit unseres „blauen Planeten Erde“; er legte einen Grundstein für den universalen Konstitutionalismus; er ist ein Stück „Weltrechtskultur“ – als Klassikertext und als positiver Verfassungstext. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Gewaltenteilung in einer feinziselierten Dogmatik ausgebaut und immer neu umschrieben. Der Text des Grundgesetzes, auch Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, enthält kein eindeutiges, ausdrückliches Bekenntnis zur Gewaltenteilung, weder zur Gewaltentrennung, noch zur Gewaltenbalancierung78, sondern impliziert nur die Gewaltenverteilung, ihre Gliederung79. Aber hinter der sparsamen Formulierung 76  Hierzu K. Hesse Grundzüge, S. 212, Rn. 489; zu Letzterem: D. Th. Tsatsos, Die Unzulässigkeit der Kumulation von Bundestags- und Bundesratsmandat, 1965. 77  K. Hesse, a. a. O., S. 207, Rn. 476. 78  K. Hesse, a. a. O., S. 20, Rn. 477. 79  E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR I, 2. Aufl. 1995, § 24 RN. 47, S. 1010 (3. Aufl. Bd. II, 2004, § 26 Rn. 47, S. 565).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

verbirgt sich das überpositive Gedankengut der Klassiker Montesquieu und Locke. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist die Gewaltenteilung ein tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes (E 3, 225 (247); st. Rspr.; zuletzt E 95, 1 (15)). Will man dies in das GG „hineinlesen“, bleibt zu beachten, dass das GG auch in der einzelnen Ausgestaltung den Ge­ waltenteilungsgrundsatz „nirgends rein verwirklicht“ hat (BVerfGE 3, 225 (247); st. Rspr.; zuletzt E 95, 1 (15), s. auch E 110, 199 (215 ff.)). Diese differenzierte Betrachtung bringt das BVerfG zu einer bereichsspezifischen Einzelfall-Rechtsprechung. Diese ist methodisch von drei Gedanken geprägt: Erstens argumentiert das Gericht teleologisch, indem es auf den Zweck der Gewaltenteilung abstellt, die nämlich „der gegenseitigen Kontrolle der Staatsorgane und damit der Mäßigung der Staatsherrschaft“ (E 95, 1 (15), st. Rspr. m. w. N.) diene. Zweitens stellt das BVerfG funktionelle Überlegungen an, „dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organgen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen“ (E 68, 1 (86); zuletzt E 95, 1 (15)). Drittens bemüht das Gericht die Idee des „Wesensgehalts“, dogmatisch verankerbar in Art. 79 Abs. 3 GG80, indem es einen unveränderlichen Kernbereich jeder Gewalt für unveränderbar erklärt und die im GG „zugeschriebenen typischen Aufgaben“ (E 34, 52 (59); zuletzt E 95, 1 (15)) schützt. Das schließt aber beispielsweise staatliche Planung durch Bundesgesetz nicht aus, jedenfalls „wenn hierfür im Einzelfall gute Gründe bestehen“ (E 95, 1 (15)), d. h. Gründe für das „Gemeinwohl“ (ebd.). Das BVerfG betrachtet die Gewaltenteilung somit nicht nur als negativen Schutzmechanismus gegen Machtmissbrauch, sondern auch als positives Konstitutionselement staat­ licher Macht, als Element der funktionellen Optimierung und „Gewaltenver­ antwor­tung“81. Dies sollte Schule machen. Andere Länder können ein unterschiedliches Bedürfnis der Gewaltenteilung haben. Wichtig ist nur, dass sie den Machtmissbrauch effektiv verhindern. Im Ganzen erweist sich die Gewaltenteilung als Herzstück jedes Verfassungsstaates. Sie ist eine der glücklichsten „Erfindungen“ der Geistesbzw. Kulturgeschichte und gleicht einem der 10 Gebote der Bibel – neben Menschenwürde und Demokratie, Menschenrechten und sozialem und ökologischem Rechtsstaat, auch Kulturstaat, Föderalismus bzw. Regionalismus, Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte und Verfassungsgerichtsbarkeit. Vielleicht lässt sich sogar von einem verfassungsstaatlichen „Grundrecht auf Gewaltenteilung“ sprechen: Jedenfalls dient diese letztlich der Idee der 80  Vgl. E. Schmidt-Aßmann, a.  a. O., Rn. 56, S. 1016 (3. Aufl., a. a. O. Rn. 56, S. 571). 81  E. Schmidt-Aßmann, a. a. O., Rn. 50, S. 1012 (a. a. O. Rn. 50, S. 568).



VI. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne393

Menschenrechte, dem Schutz der „Freiheit des Einzelnen“ (BVerfGE 9, 268 (279)). Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung von 1789 nennt die Menschen- und Bürgerrechte in einem Atemzug mit der Gewaltenteilung und bezeichnet beide Elemente als schlechthin konstituierende: „Eine Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht zugesichert und die Teilung der Gewalten nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“. Somit gehört die Gewaltenteilung zu den Hauptelementen des modernen Verfassungsstaates82; sie ist ein Baustein des universalen Konstitutionalismus, wenngleich sehr variantenreich. 2. Organkonstituierung und Funktionenteilung im Interesse staatlicher Aufgabenerfüllung a) Die verfassungsstaatliche Gewaltenteilung bezieht sich, soweit es um die im engeren Sinne geht, auf bestimmte Staatsorgane, Verfassungsorgane bzw. Einrichtungen, auf die die staatlichen Funktionen als Aufgaben gleichgewichtig verteilt werden. In dieser Darstellung hätte man auch zunächst mit diesen Organen beginnen können, weil sie von der Gewaltenteilung einander zugeordnet werden. Indes werden im kooperativen Verfassungsstaat alle „Organe“ durch die Verfassung konstituiert und das überzeitliche Prinzip, der Klassikertext, der alle verfasste Staatlichkeit „teilt“, balanciert und ihre Erscheinungsformen einander zuordnet, ist eben die Montesquieu’sche Gewaltenteilung. Gewaltenteilung ist „zunächst Konstituierung unterschiedlicher Gewalten83 und sie ist – gedanklich der klassischen Lehre von der „gemischten Verfassung“84 nahe – das „organisatorische Grundprinzip der Verfassung“ (K. Hesse), tendenziell weltweit. Die drei klassischen Funktionen, nämlich Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung sowie die hinter ihnen stehenden Aufgaben, wie sie sich aus den Grundrechten und den sog. Staatszielen bzw. Gemeinwohlaufgaben ergeben, einerseits und die Organe und Kompetenzen andererseits sind von vorneherein zusammen zu denken bzw. aufeinander zu beziehen – auch wenn sie in der vorliegenden Darstellung getrennt erörtert werden müssen. Auch hier wird im raumzeitlichen Rechtsvergleich gearbeitet, werden die positiven Verfassungstexte und ihre gestufte Entwicklung in den Blick genommen. Dem Programm der vergleichenden Verfassungslehre als „Kulturwissenschaft“ gemäß sind jedoch stets auch die kulturellen Kontexte, die politische Kultur, das, was Wissenschaft und Rechtsprechung aus den Texten P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 373. Hesse, Grundzüge, S. 210. 84  Dazu A. Riklin, Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, 2006. 82  Vgl. 83  K.

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„gemacht“ haben, wie sie sie praktisch leben, „kultivieren“, hinzunehmen. Dass dies nur höchst fragmentarisch und punktuell gelingen kann, liegt angesichts der Fülle der zu verarbeitenden verfassungsstaatlichen Verfassungen aus aller Welt auf der Hand, ganz abgesehen davon, dass heute kein einzelner Gelehrter mehr alle Texte und Kontexte zu überblicken vermag. Das vermöchte nur ein Aristoteles oder Montesquieu unserer Zeit (freilich mit zusätz­licher Hilfe des Internets). Im Folgenden werden zunächst die drei „typischen“ Staatsfunktionen behandelt, sodann die typischen verfassungsstaatlichen Organe, nämlich das Parlament (ggf. auch zweite Kammern), das Staatsoberhaupt (Präsident oder Monarch), die Exekutive (d. h. Regierung und Verwaltung) sowie die Gerichte, insbesondere die Verfassungsgerichtsbarkeit; verwandte unabhängige Instanzen wie Rechnungshöfe, Landesräte für Rundfunk und Fernsehen (z. B. Art. 213 bis 215 Verf. Polen von 1997), Staatsbanken oder Bürgerbeauftragte, Ombudsmänner; Menschenrechtskomissionen (vor allem im afrikanischen Konstitutionalismus) können nur „Merkposten“ sein. In einem eigenen Abschnitt sind später die „Staatsziele“ zu behandeln, die als „Gemeinwohl“ oder „Staatsaufgaben“ eine eher abstrakte Bezeichnung haben, im einzelnen nationalen Verfassungsstaat aber je unterschiedlich durch Prinzipien wie „sozialer und ökologischer Rechtsstaat“, „Kulturstaat“, „Umweltstaat“ und durch die Menschen- bzw. Bürgerrechte konkret werden. So wie die Staats- bzw. Verfassungsorgane von den Funktionen her Gestalt gewinnen, so sind auch die „Organe“ bzw. ihre Funktionen von der Erfüllung bestimmter Gemeinwohlziele bzw. Staatsaufgaben her zu verstehen. (Im neuen Völkerrecht gewinnen heute die Gerichte Selbststand.) Die drei typischen Staatsfunktionen dienen der Erfüllung bestimmter in der Verfassung inhaltlich oder prozessual vorgezeichneter Aufgaben. Sie sind ihrerseits dem geschichtlichen Wandel unterliegende Instrumente des Verfassungsstaates. Trotz aller nationalen Vielfalt und Aufgabenvermehrung, die freilich heute durch Privatisierung zurückgeführt werden sollte, indes zu einem Zuviel an Deregulierungen geführt hat, lassen sich nach wie vor die drei Staatsfunktionen Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung unterscheiden. (Das Völkerrecht bleibe hier noch ausgeklammert.) b) Die Konstituierung bestimmter „Organe“ bzw. die Einrichtung von Kompetenzen geschieht im kooperativen Verfassungsstaat um bestimmter, umgrenzter Aufgaben willen. Das „Primat des Rechts“, die „Herrschaft des Rechts“, die Funktion der Verfassung, „rechtliche Grundordnung“ des Staates und der Gesellschaft zu sein, äußert sich darin, dass die „Organe“ des Staates nur auf rechtlicher Grundlage agieren dürfen. Auch hier tut die Gewaltenteilung als Kontrollsystem i. S. von checks and balances ihr Werk. Kein Staatsorgan hat „Blankovollmacht“ i. S. spät- oder nachabsolutistischer Staatsleh-



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ren. Die Modellvielfalt ist im raum-zeitlichen Vergleich groß. Die universal vergleichende Verfassungslehre kann auch hier nur typisierend vorgehen. a) Das Parlament Das Parlament steht im demokratischen Verfassungsstaat an erster Stelle, da es das demokratisch unmittelbar legitimierte „Hauptorgan“ ist. Selbst in einer Präsidialdemokratie kommt ihm eine besondere Legitimation zu, da es die Vielfalt eines pluralistisch aufgespaltenen Volkes „repräsentiert“85 und auf eine Weise ein „Spiegelbild“, ein breites Forum der Nation ist, eingeschränkt selbst dann, wenn es nach „reinem“ Mehrheitswahlrecht gewählt wurde („gemischte“ Wahlsysteme mit Elementen des Mehrheits- und Verhältniswahlrechts wie in Deutschland, auch Italien, verdienen eben wegen der breiten „Repräsentativität“ den Vorzug)86. Dass das Parlament als Organ und die Gesetzgebung als staatliche Funktion nicht deckungsgleich sind, beweist die Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Gesetz, wonach nicht alle abstrakt generellen Normen vom Parlament erlassen werden und nicht alle Parlamentsgesetze Rechtsnormen sind87. Klassisch ist bis heute die Unterscheidung von W. Bagehot88. Die Aufgaben des Parlaments liegen in seiner „elective“, „expressive“, „teaching“ und „informing“ function sowie in der „function of legislation“. Die einzelnen Länder gehen sehr unterschiedliche Wege. Manche haben ein echtes Zweikammersystem (USA: Repräsentantenhaus und Senat), was primär durch den Föderalismus bedingt ist (s. auch Bundestag und Bundesrat in Deutschland). Es gibt aber auch zentralistische Staaten, die einen „Senat“ besitzen (Tschechien, Slowenien, Polen). In dem Maße, wie der Regionalismus auf dem Vormarsch ist, kommt es auch zur Repräsentation der Regionen in eigenen Kammern, mindestens aber zu Regionalparlamenten. Im GG fallen dem Bundestag u. a. folgende Aufgaben zu: die Kompetenz der Gesetzgebung (Art.  77 Abs.  1 GG) einschließlich der Haushaltsverabschiedung (Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG) sowie der europäischen (Art. 23 Abs. 2 und 3 GG) und auswärtigen (Art. 52 Abs. 2, 115a Abs. 1, 115 l GG) Angelegenheiten, der politische Einfluss durch die Wahl des Kanzlers (Art. 63 GG) und die Kontrolle (z. B. Art. 43 Abs. 1, 44 GG). Von den sonstigen Auf­ gaben89 sei hier nur die (2012 umstrittene) Wahl der Hälfte der Mitglieder des BVerfG (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG) durch den Bundestag genannt. Zu den Repräsentation vgl. H. Hofmann, Repräsentation, 4. Aufl. 2003. der Lit.: K. Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl 1984, S. 301. 87  K. Hesse, Grundzüge, a. a. O., S.  216 f. 88  W. Bagehot, The English Constitution, The World Classics, 1928, S. 117 ff. 89  Hierzu K. Hesse, a. a. O., S.  252 f. 85  Zur

86  Aus

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5. Kap.: Einzelausprägungen

typischen Aufgaben können aber nach der Rechtsprechung des BVerfG auch im Einzelfall untypische, wie etwa die der Legalplanung (E 95, 1) treten. Auch wenn es unbestreitbar manche Krisenerscheinungen in Bezug auf die Parlamente90 gibt, denen durch schrittweise „Parlamentreformen“ abzuhelfen ist (z. B. Einführung des Selbstauflösungsrechts, aktueller Stunden, Ausbau der wissenschaftlichen Hilfsdienste, Stärkung der Minderheitenrechte der Opposition gegenüber der Regierung, Verbesserung des Rechts der Untersuchungsausschüsse (z. B. durch öffentliche Sondervoten) etc.): Sie bleiben die repräsentative Stätte öffentlicher politischer Kontroversen, auf der sich die politischen Parteien verantworten müssen. Ein Stück „Öffentlichkeit der Verfassung“ wird gerade aus dem Parlament heraus geschaffen. Die Parlamentswahlen sind auch heute noch ein wesentlicher einheitsbildender Vorgang für ein Volk, zumal dann, wenn die Demokratie wie im deutschen GG nur als mittelbare, nicht auch als unmittelbare (wie in der Schweiz: „halbdirekte Demokratie“) ausgestaltet ist. Gerade hier zeigt sich auch die intensive Verknüpfung von bestimmten Grundrechten mit der Demokratie: Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit sind „funktionelle Grundlage der Demokratie“. Der Bürger, der sich über die Parlamentsarbeit informiert und sie bewertet, stellt ein Stück parlamentarischer Öffentlichkeit her. Auch wenn das Gewicht der Regierungs- und Administrativfunktionen gerade auch im Europa der EU (Kommission in Brüssel) zunimmt: Die in den (nationalen) Parlamenten und über sie gebildete öffentliche Meinung91 ist für den Verfassungsstaat unverzichtbar. Sie wirkt als sein Elixier, so wie überhaupt Öffentlichkeit „Sauerstoff der Demokratie“ (G. Heinemann) ist. Ein Wort zu zweiten Kammern (z. B. Art. 15 Verf. Tschechische Republik von 1992, Art. 4 Verf. Georgien von 1995, Art. 95 Verf. Polen von 1997), auch wenn sie (wie in manchen Nationen) nur eine schwache (vor allem beratende) Position haben92: i. S. der Lehre von der „gemischten Verfassung“ können sie der Demokratie ein aristokratisches Element vermitteln; in jedem Falle aber sind sie ein Element der Gewaltenteilung im gekennzeichneten Sinne. Was an „Effizienz“ verloren zu gehen scheint, stellt sich im Ganzen dann doch als Gewinn für Bürgerfreiheit und politische Pluralität dar. In Föderalstaaten sind sie unentbehrlich, in Regionalstaaten hilfreich. 90  Dazu H.-P. Schneider / W. Zeh (Hrsg.), Parlamentrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989. 91  Aus der Lit.: M. Kloepfer, Öffentliche Meinung, Massenmedien, HStR, Bd. II, 1987, S. 171 ff. (3. Aufl., Bd. III, 2005, § 142). 92  Aus der Lit.: P. Häberle, Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung – am Beispiel des Föderalismus / Regionalismus bzw. von Zweikammersystemen, FS Scholz, 2007, S. 583 ff.; G. Mulert, Die Funktion zweiter Kammern in Bundesstaaten, 2006; M. C. Wittmann, Der Senat der Italienischen Republik und der Bundesrat der Republik Österreich, 2012.



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Das Parlamentsrecht, formal oft in bloßen Geschäftsordnungen geregelt, ist in seinen Grundsätzen materielles Verfassungsrecht93: so grundlegend und wichtig ist es für die ganze res publica. Die innere Gliederung in die Fraktionen („Parteien im Parlament“) und Ausschüsse gehört hinzu. Gerade hier zeigt sich aber, dass die Parlamente eigentlich keine „Staatsorgane“ im engeren Sinne des Wortes sind oder jedenfalls nicht nur: Sie ragen in den gesellschaftlich-öffentlichen Bereich hinein, sie bündeln den Pluralismus einer offenen Gesellschaft; ihre Organisation als ein Stück verfasster Staatlichkeit ist sekundäre Folge. Auf eine Weise sind sie „das Volk“ als Gesamtheit der Bürger und Gruppen. Auch die einzelnen Abgeordneten, die einen Status der Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit haben94, sind auf das Wohl des ganzen Volkes bezogen und nur ihrem Gewissen verpflichtet (vgl. Art. 38 Abs. 1 GG). Ebenso sind die politischen Parteien im Verfassungsstaat nicht „staatliche Einrichtungen“ wie in Einparteienstaaten, sondern freie gesellschaftliche „Gebilde“, so sehr sie Macht akkumulieren, den Staat, d. h. Gesetzgebung und Vollziehung beeinflussen wollen und können und obligatorische Strukturen haben, die durch innerparteiliche Demokratie (vgl. Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG) nur zum Teil aufgelockert werden können; wohl aber ist es ein Vorzug der „halbdirekten“ Demokratie der Schweiz, ein Gegengewicht gegen die „Arroganz der Macht“ politischer Parteien zu schaffen. Eine einseitige „Parteienschelte“, wie sie in Deutschland immer wieder beliebt ist95 – Stichwort der „Staat als Beute“ der Parteien –, verkennt die positive unverzichtbare Funktion politischer Parteien wie sie im deutschen Recht anschaulich zum Ausdruck kommt: Art. 21 Abs. 1 S. 1 (Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes), § 1 PartG („verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“). Mögen sich die einzelnen Länder in ihrer Parteienstruktur und -kultur unterscheiden (eher lockere Gruppen in den USA, eher ideologisch orientiert in Deutschland): Der Verfassungsstaat bringt in vielen Parteienartikeln auch neuerer Verfassungen (z. B. Art. 11 Verf. Polen von 1997, Art. 19 Abs. 1. Verf. Südafrika von 1996, Art. 4 Verf. Angola von 1992, Art. 5 Verf. Serbien von 2006, Art. 32 a Verf. Luxemburg 93  N. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 39; J. Pietzker, Schichten des Parlamentsrechts, in: H.-P. Schneider / W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlaments­ praxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 333 ff., 354 spricht von sekundärem Verfassungsrecht. Aus der weiteren Lit.: E. Wohland, Bundestag, Bundesrat und Länderparlamente im europäischen Integrationsprozess, 2008. 94  Dazu P. Häberle, Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, NJW 1976, S. 537 ff. 95  Dazu aus der Lit.: H. H. von Arnim, Der Staat als Beute, 1993; s. aber auch P.  M. Huber / W. Mößle / M. Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, 1995.

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von 1868 / 2008, Art. 10 Abs. 4 EUV von 2007, Art. 91, 92 Verf. Kenia von 2010) zum Ausdruck, wie unverzichtbar ihr Wirken ist. Dass aber immer wieder Reformbedarf besteht (wegen „Ämterpatronage“, Ämterhäufung, Inkompatibilitäten, Zurückdrängung des Einflusses in Rundfunk und Fernsehgremien) sei selbstkritisch angemerkt. Hier gibt es Defizite. Im Übrigen ist auf das Gegengewicht durch andere Pluralgruppen wie Massenmedien, Kirchen und Verbände zu setzen. Ihre „Konkurrenz“ schafft jene Pluralität des Verfassungsstaates, die ihn im Ganzen zu einem freiheitlichen Gemeinwesen machen. Vereinzelt nehmen sich die neueren Verfassungen in neuer Weise dieser Vielfalt an. So finden wir zunehmend Aussagen zu den Massenmedien (Portugal, Art. 38; Spanien, Art. 20; Art. 183 bis 187 Verf. Tschad von 1996; Art. 42 Verf. Kosovo von 2008; Art. 34 Verf. Kenia von 2010; Art. 16 bis 20 Verf. Ecuador von 2008), zu Verbänden (z. B. Art. 40 Abs. 1 Verf. Portugal). Religionen und Konfessionen werden in einer reichen Formenvielfalt von den nationalen Verfassungen zur Kenntnis genommen („Religionsverfassungsrecht“, vgl. unten S. 633  ff.). Die Verbände bzw. juristischen Personen werden von der Grundrechtsseite her garantiert (z. B. Art. 9 GG)96, auch in ihrer Grundrechtsfähigkeit geschützt (z. B. Art. 19 Abs. 3 GG von 1949; Art. 3 alte Verf. Peru von 1979). Sie sind aber auch in anderen Textensembles berücksichtigt (z. B. § 29 BNatSchG). Darum lässt sich im Typus Verfassungsstaat von einem „status corporativus“ sprechen, der in manchem die einseitig individualistische Ausrichtung der klassischen Grundrechtskataloge korrigiert97. Die Verbände sollten als „Pressure groups“, die sie gewiss auch sind, nicht nur negativ bewertet werden: In einer Verfassung des Pluralismus sind sie für den Einzelnen, sich im „kleinen“ vergemeinschaftenden Menschen ebenso unverzichtbar wie im Großen. Dass das Parlamentsrecht Öffentlichkeit und Transparenz durch „Lobby-Listen“98 u. ä. zu schaffen sucht (Offenlegung von Beraterverträgen und Honoraren der Abgeordneten99), ist nur konsequent. Die Entwicklungen auf EU-Ebene und im Völkerrecht seien hier nur angemerkt (z. B. die „Cosac“). 96  Weiteres Textmaterial: Art. 59 Verf. Polen von 1997; Art. 46 Verf. Albanien von 1998; Art. 55 Verf. Serbien von 2006; Art. 12 EU-Grundrechtecharta von 2007; Art. 44 Verf. Kosovo von 2008; Art. 36 und 37 Verf. Kenia von 2010; Art. 13 Verf. Gabun von 1991 / 94. 97  Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 965. 98  Geregelt in Anlage 2 zur GeschOBT: vgl. hierzu R. Steinberg, Parlament und organisierte Interessen, in: H.-P. Schneider / W. Zeh (Hrsg.), a. a. O., S. 217 ff., 256. – Zur Öffentlichkeit: BVerfGE 130, 318 (344). 99  Geregelt in §§ 1 Abs. 2 Nr. 5, 6 Anl. 1 zur GeschOBT. Zur „Transparenz der Entscheidungsprozesse“: BVerfGE 40, 296 (327); dazu P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 337.



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b) Insbesondere: Das Staatsoberhaupt – Staatspräsident bzw. Monarch Ein wesentliches Stück verfasster Staatlichkeit mit kaum verzichtbaren Funktionen der Integration und Repräsentation ist im Verfassungsstaat das – sehr deutsch sogenannte – „Staatsoberhaupt“ oder „head of state“. Während sie in der Verfassungsgeschichte durch ihre oft absolutistische Fülle an Kompetenzen herausragten, bietet der Verfassungsstaat der jüngeren Textstufenentwicklung ein anderes Bild: Staatspräsidenten bzw. in den konstitutionellen Monarchien Europas (die allesamt Demokratien sind) die Monarchen, haben nur noch rechtlich begrenzte Kompetenzen, auch wenn sie unterschiedlich weit sind: Man denke an die starke Stellung des US-amerikanischen Präsidenten dort, die schwache Position der skandinavischen Monarchen (Schweden, Norwegen und Dänemark) hier. Sie sind ein „Amt“ im Gefüge der Staatsfunktionen, erfüllen bestimmte Aufgaben und bilden einen Teil der gewaltengliedernden Vielfalt des kooperativen Verfassungsstaates. Die verfassungsstaatlichen Verfassungstexte erfinden sehr verschiedene Formulierungen, um den Präsidenten bzw. Monarchen zu kennzeichnen. Verf. Japan (1946 spricht vom „Tenno“ als Symbol Japans und der „Einheit des japanischen Volkes“), Art. 2 Verf. Thailand (1997) von „king is head of the state“ (s. auch Art. 1 bis 11 Verf. Kambodscha von 1993 / 99). Art. 5 der de-Gaulle-Verfassung von 1958 formuliert: „Der Präsident der Republik wacht über die Einhaltung der Verfassung … Er ist der Garant der nationalen Unabhängigkeit“ – ein Beispiel, das sich in manchen osteuropäi­ schen Reformverfassungen mit Präsidialstruktur (z. B. Art. 80 Verf. Russische Föderation von 1993, Art. 102 Verf. Ukraine von 1996), auch in Afrika (z. B. Art. 58 Verf. Togo von 1992, ähnlich Art. 66 Verf. Tschad von 1996, Art. 44 Verf. Madagaskar von 1992  /  95, Art. 8 Verf. Gabun von 1991 / 94) wiederfindet. In Italiens Verfassungsreform wird ab und zu um die Position des (vom Volk zu wählenden?) Staatspräsidenten („Semipräsidentia­ lismus“) gerungen. Deutschland hat in seiner Verfassungsgeschichte mehrere Varianten durchlebt: Während die Weimarer Verfassung den in unmittelbarer Volkswahl gewählten Reichspräsidenten fast als „Erben“ des konstitutionellen Monarchen der Bismarck-Verfassung von 1871 einsetzte und damit einen Dualismus gegenüber dem Parlament („Reichstag“) begründete, sind die Kompetenzen des durch eine parlamentarische Körperschaft („Bundesversammlung“: Art. 54 GG) gewählten Bundespräsidenten bescheiden: Er hat keine selbständige Teilhabe an der „obersten Staatsleitung“100. (Wieder einmal zeigt sich, wie sehr Verfassungen „Reaktionen“ auf ihre Vorgänger100  Vgl. K. Hesse, Grundzüge, S. 274; P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S.  538 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

verfassungen sind und wie sehr die vergleichende Verfassungslehre Erfahrungswissenschaft ist.) Gleichwohl kann der deutsche Bundespräsident – vor allem durch das „Wort“, die Rede – als von den politischen Parteien und ihrem Alltagsgeschäft „abgehobene“ Instanz manches „anregen“, auch kritisieren, etwa Reformen anstoßen. Er ist zwar kein „pouvoir neutre“ i. S. von B. Constant; er befriedigt aber das menschliche Bedürfnis, im Verfassungsstaat – neben den Gerichten – auf Zeit eine möglichst unabhängige Instanz zu haben, die das politische Ganze symbolisiert, auch nach außen. Bei jedem Neubau von Verfassungen, vor allem beim „Nation building“ und „Constitution making“ etwa in Südafrika, aber auch bei den neuen Verfassungen in Osteuropa, ist auf den Zusammenhang von Wahlverfahren und Kompetenzen des „Staatsoberhauptes“ zu achten. Je größer die Kompetenzen des Präsidenten sind, desto eher ist an eine unmittelbare Volkswahl zu denken (vgl. etwa Art. 59 Verf. Togo von 1992, Art. 61 Verf. Tschad von 1996, Art. 114 Abs. 1 Verf. Serbien von 2006, Art. 167 Abs. 1 Verf. Boli­vien von 2007, Art. 138 Verf. Kenia von 2010, Art. 7 sec. 4 Verf. Philippinen von 1986 / 91). Das ist zwar nicht zwingend so. Doch kann ein verfassungsstaatlicher Staatspräsident seine größeren Kompetenzen besser wahrnehmen, wenn er selbst unmittelbar demokratisch legitimiert ist (Beispiel: USA). Es kommt dann gegenüber dem Parlament zwar zu „Reibungen“, ggf. auch Blockaden, doch können diese ein heilsames Stück „checks and balances“ sein. In Tschechien wird jetzt der Präsident vom Volk gewählt. Die Monarchie ist als verfassungsstaatliche Einrichtung keine defiziente Form oder „abartige“ Variante zum republikanischen Staatspräsidenten („verfassungsstaatliche Monarchie“). Ihr Merkmal der Berufung durch Erbfolge mischt dem Typus Verfassungsstaat national ein monarchisch / aristokratisches Element bei. Die aktuellen Beispiele Belgien (lange Zeit König Baudouin) und Spanien zeigen, wie intensiv monarchische Staatsoberhäupter Integrations- und Repräsentationsaufgaben für ihre z. T. sehr gespaltenen „Völker“ erfüllen können. In Bezug auf den spanischen König (Juan Carlos I.) hat man davon gesprochen, er sei „König der Republik Spanien“. Das ist keine „contradictio in adjecto“, sobald man mit „Republik“ die Begriffe „freiheitlich“, „demokratisch“, in der Tradition eines Cicero auf die res publica und die „salus publica res populi“ bezogen verbindet. Im Übrigen fühlt sich mancher Bürger von den „Herrscherhäusern“ in seiner „emotio“ durch ihre „Tradition“ eher angesprochen als in seiner „ratio“ wie beim Staatspräsidenten auf Zeit. Beides charakterisiert den Menschen – ratio und emotio –, und der Verfassungsstaat tut gut daran, auch emotionale Konsensquellen zu nutzen: z. B. in Gestalt von sog. Staatssymbolen (Flaggen, Hymnen, Wappen) oder von Staatsfeiern bzw. Verfassungstagen (wie dem 14. Juli in Frankreich oder dem 4. Juli in den USA bzw. ihrem neuen MartinLuther King-Tag).



VI. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne401

Bemerkenswerte Aufgabenkataloge finden sich in manchen neuen Verfassungen, auch in Abgrenzung zu Aufgaben des Parlaments und der Regierung (vgl. Art. 106 Ziff. 1 bis 30 Verf. Ukraine; Art. 84 und 185 Verf. Südafrika; Art. 84 Verf. Kosovo von 2006; Art. 147 Verf. Ecuador von 2008). Solche Kataloge, in denen sich Aufgabendenken zeigt, sind auf dem Weg, ein Element des universalen Konstitutionalismus zu werden, ähnlich wie die nur einmalig mögliche Wiederwahl des Staatspräsidenten (z. B. Art. 105 Verf. Uganda von 1994; Art. 103 Abs. 3 Verf. Ukraine von 1996; Art. VII Sect. 4 Abs. 1 Verf. Philippinen von 1987). Die Erfahrungen mit dem russischen Staatspräsidenten W. Putin (und mit H. Chávez, Venezuela) sollten lehren, dass lebenszeitlich nur eine Wiederwahl möglich bleibt. c) Die Regierung Regierung im institutionellen Sinne meint im kooperativen Verfassungsstaat die Einrichtung, die grundsätzlich mit der spezifischen „Regierungsfunktion“ betraut ist und sich aus dem Ministerpräsidenten und den Ministern zusammensetzt. Während freilich der angelsächsische Begriff des „government“ weiter ist und das Ganze der Wirksamkeit des Staates meint, ist der kontinental-euro­päische Beriff „Regierung“ enger: Er bezeichnet die politische Staatsführung als verantwortliche Leitung des Ganzen der inneren und äußeren Politik101. Damit ergeben sich freilich Überschneidungen zu den Aufgaben und Tätigkeitsweisen des Staatspräsidenten einerseits (so im Präsidialsystem Frankreichs) und des Parlaments andererseits (so im deutschen Grundgesetz, das die Regierungsfunktion eng mit der Gesetzgebungsfunktion verknüpft). Dennoch lässt sich der besondere Bezug zur politischen Funktion des Verfassungsstaates – im Unterschied zur vor allem in der Judikative verkörperten Rechtsfunktion – für die Regierung im institutionellen und funk­ tionellen Sinne erarbeiten: Elemente der schöpferischen Dynamik und Aktivität, der eigeninitiativen Tätigkeit, der flexiblen Gestaltungsfreiheit, des „Führens“ stehen im Vordergrund. Es geht beim Regieren sicher auch um Machtausübung, im Verfassungsstaat geschieht sie jedoch um bestimmter materiell und prozessual in der Verfassung umrissener (Gemeinwohl-)Aufgaben willen. Die Regierung kontrolliert nach „unten“ bzw. innen die „Verwaltung“, nach außen sucht sie durch Informationspolitik die öffentliche Meinung zu beeinflussen, von der sie freilich (ihrerseits) zugleich kontrolliert wird. Im Parlament muss sie die Mehrheiten gewinnen und sich mit der Opposition auseinandersetzen, die in vielen Verfassungen jetzt textlich institu­ tionalisiert ist (z. B. Art. 16 a Verf. Bayern, Art. 23a Verf. Hamburg). 101  K. Hesse, Grundzüge, S. 226 f., unter Hinweis auf U. Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 455 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Die völkerrechtsoffen werdenden Verfassungen sind klug beraten, wenn sie textlich die Regierung im institutionellen und funktionellen Sinne nur im Groben regeln und alles Übrige dem politischen Prozess überlassen. So sollte etwa die Zahl und Art der Ministerien von der Verfassung nicht vorgeschrieben werden: In Koalitionsregierungen parlamentarischer Systeme etwa muss Raum bleiben für das „bargaining“ auch hier; vieles hängt von den beteiligten Personen und Parteien ab. Ein Verfassunggeber kann auch schwerlich alle neuen Bedürfnisse voraussehen, denen eine Regierung ad hoc und oft sehr rasch gerecht werden muss. So wurde z. B. im Freistaat Bayern ein Umweltministerium eingerichtet (1970), lange bevor sich die bayerische Verfassung im Wege einer Verfassungsänderung zum Umweltschutz als Staatsziel bekannte (1984). Es fällt freilich auf, dass nur neuere Verfassungen in Sachen Regierung umfangreiche Aufgabenkataloge normieren, die z. T. sehr detailliert werden (Beispiele: Art. 40 und 41 Verf. Südafrika von 1996; Art. 116 Verf. Ukraine von 1995; s. auch Art. 146 Abs. 4 Verf. Polen von 1997; Art. 174 Verf. Kenia von 2010). Wissenschaftlich ist diese Textstufe noch zu erarbeiten. Vermutlich sollen solche „Aufgabentafeln“ nicht nur der „Anregung“ sondern auch der Begrenzung dienen: In Südafrika hat der Apartheitsstaat die Regierungsfunktion missbraucht, in Osteuropa und auf dem Balkan hat der allmächtige sozialistische Staat als unumgrenzte Regierungsgewalt die Bürger zu Untertanen degradiert. So lassen sich die neuen Textstufen hier wie dort wohl erklären, dennoch muss daran erinnert werden, dass die regierungsbezogenen Aufgabenkataloge nicht allzu „barock“ überlastet werden sollten, um der Regierung Gestaltungsspielraum zu lassen. Die neue Governance-Lehre bleibe ein Merkposten102, auch die EU. d) Die Verwaltung Die Verwaltung im institutionellen und funktionellen Sinne ist im Verfassungsstaat nicht minder wichtig. Das zeigt schon das Wort vom Verwaltungsrecht als „konkretisiertem Verfassungsrecht“ (F. Werner), aber auch ein Blick in die Normalität des Alltags. Hohe Staatsziele in der Verfassung müssen praktisch „vor Ort“ umgesetzt werden. Zu Recht spricht man seit langem von „Verwaltungskunst“ und seit kurzem von „Verwaltungskultur“103. Die einzelnen Nationen unterscheiden sich gerade in dieser Hinsicht sehr: 102  Aus der Lit.: G. F. Schuppert, A. Voßkuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008; s. noch unten S. 403. 103  P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1.  Aufl. 1982, S. 20 Anm. 25; 2. Aufl. 1998, S. 1079 Anm. 1344 m. w. N.



VI. Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne403

So ist im (freilich noch recht zentralistischen) Frankreich die Ausbildung durch die Hohen Verwaltungsschulen viel gerühmt, genießt die bayerische Verwaltung im Gegensatz zu manchen norddeutschen Ländern besonderes Ansehen. New Public Management-Methoden, die Tendenz zur Privatisierung freilich deuten derzeit auf einen „Umbau“ der Verwaltung, der jeden Verfassungsstaat vor große Herausforderungen stellt104. In Bundesstaaten und Regionalstaaten kommt ein Stück freiheitsschützender Gewaltenteilung auch in die Verwaltungsinstitution und -funktion, weil sie vertikal in Ebenen aufgegliedert wird. Im Übrigen ist Verwaltung im Verfassungsstaat durch die „Verwirklichung der staatlichen Aufgaben im Einzelnen und Besonderen in der Gebundenheit an rechtliche Maßstäbe“ gekennzeichnet105. Insbesondere sind folgende Merkmale hilfreich: Verwaltung als „angeleitete“ Tätigkeit mit der Aufgabe einzelfallbezogener Konkretisierung, bei der Fach- und Sachkunde verlangt ist. Mit dem Begriff „abhängiger Vollzug“ und dem Bild „wertfreie Technik“ kann sie in der verfassungsstaatlichen Wirklichkeit von heute nicht angemessen umschrieben werden. Denn die Rechtsgebundenheit ist differenziert: in relativ offenen Verfassungsprinzipien wie „So­ zialstaat“, „Umweltstaat“, „Kulturstaat“, aber auch im Bereich unbestimmter Rechtsbegriffe wie „Gemeinwohl“ oder „öffentliches Interesse“, auch auf dem Felde der planenden, leistenden Verwaltung sowie im Ermessensbereich ist die öffentliche Verwaltung freier. Stets ist sie aber verfassungsunmittelbar. Sie hat einen selbständigen Verfassungsauftrag (vgl. BVerfGE 49, 89 (125 ff.), 81, 310; s. auch E 84, 25; 100, 249; 102, 167; 104, 249), ihr kommt in ihren Kernfeldern ein verfassungskräftig geschützter Vorbehalt der Verwaltung zu106. Z.  B. hat sie auch einen unmittelbaren Auftrag, Grundrechte zu schützen und bei ihrer Verwirklichung zu „helfen“. Insofern behauptet sich die Verwaltung im Ganzen des Verfassungsstaates als eigenständige Gewalt, besser „Funktion“, so sehr sie von der politischen Regierung „dirigiert“ wird. Eine besondere Leistung des Verfassungsstaates, die 104  P. Mastronardi / K. Schedler, New Public Management, 1998. Vgl. auch G. F. Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, 1981, S. 24 ff. zu den „Public Corporations“. Allgmein zu Bereichen der Verwaltung mit „selbstständiger Entscheidungsverantwortung“; P. Badura, a. a. O., S. 677 ff. – Recht neu ist das „Internationale Verwaltungsrecht“. 105  K. Hesse, Grundzüge, S. 229 f., dort auch zum Folgenden. – Art. 195 Verf. Südafrika von 1996 legt ausdrückliche Verwaltungs-Ziele fest, z. B. „high standard of professional ethics“, „transparency“, „good human-resource management“ etc. Art. 47 Verf. Kenia von 2010 verlangt: „Fair adminstrative action“. 106  Dazu aus der Lit.: W. Schmidt / R. Bartelsperger, Organisierte Einwirkungen auf die Verwaltung, VVDStRL 33 (1975), S. 183 ff.; S. 306 (Diskussionsbeitrag P. Häberle); vgl. auch M. Schröder, Die Bereiche der Regierung und der Verwaltung, HStR, Bd. III, 1988, § 67, Rn. 22 ff. (Neuauflage ders., HStR, Bd. III, 2005, §§ 64, 65).– Zur Eigenverantwortung der Verwaltung: BVerfGE 129, 1 (21).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

immer wieder gefährdet ist, besteht in der Ausgestaltung von Konnexgarantien solchermaßen rechtsgebundener Gemeinwohlverwaltung. Hier gehört in neuerer Zeit immer mehr das Prinzip „Öffentlichkeit der Verwaltung“107 (z. B. in Gestalt eines Grundrechts auf Umweltinformation greifbar etwa Art. 74 Abs. 3 Verf. Polen von 1997; Art. 51 Verf. Serbien von 2006; Art. 41 Verf. Kosovo von 2008; Art. 35 Verf. Kenia von 2010; Art. 42 EU-Grundrechte-Charta von 2007; Art. 41 Verf. Uganda von 1995); schon klassisch sind die mit dem Berufsbeamtentum verbundenen Postulate der „Unparteilichkeit“ bzw. strengen „Sachbezogenheit“ (vgl. Art. 130 Abs. 1 WRV: nicht „Diener einer Partei“), die freilich durch Ämterpatronage auch in vielen europäischen Demokratien oft gefährdet sind. An Bürgerbeauftragte (z. B. Art. 43 EU-Grundrechte-Charta; Art. 200 Verf. Polen; Art. 159 Verf. Slowenien von 1991; Art. 77 Verf. Mazedonien von 1991) sei erinnert. Erneut zeigt sich, wie sehr weltweit sensible Arbeit mit den Textstufen ergiebig ist. Zur zweiten Gewalt bzw. zur Verwaltung gehört auch die kommunale Selbstverwaltung, die im Verfassungsstaat sogar einen besonderen Bezug zu Demokratie und Grundrechtsentwicklung aufweist108, was in Deutschland mit der Reform des Freiherrn vom Stein (1808) begonnen hat. Ein geglückter Verfassungstext ist insofern Art. 11 Abs. 4 Bayerische Verfassung von 1946: „Die Selbstverwaltung der Gemeinden dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben“. Analogien finden sich in der europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung von 1985 und in neuen Verfassungstexten nach 1989 (z. B. Art. 3 Abs. 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993, zum Ganzen s. auch Inkurs VII, S. 408 ff.). Ebenfalls zur zweiten Gewalt gehört die „militärische Verteidigung“, auch wenn sie gegenüber den anderen Verwaltungsfunktionen ihre „Propria“ hat. Für den Verfassungsstaat ist entscheidend, dass er der Verteidigung bzw. dem Militär gegenüber genügend effektive Kontrollmechanismen aufbaut, damit sie sich nicht zu einem „Staat im Staat“ (wie in Weimar) verselbständigen. Dabei besteht ein Bedarf an funktionierender Kontrolle durch eine wache pluralistische Öffentlichkeit, aber auch an rechtlichen Kontrollmechanismen: Hierzu gehört die Frage, wer die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte hat (oft liegt sie beim Staatsoberhaupt, z. B. dem US-Präsidenten oder dem französischen Staatspräsidenten (s. auch 107  Zu „Publizität, Partizipation und Akzeptanz“ der öffentlichen Verwaltung: R.  Zippelius / T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, S. 409 ff. – Die oben folgenden Verfassungstexte bestätigen die frühe These von der Öffentlichkeit der öffentlichen Verwaltung, dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 713 ff.; höchst innovativ und besonders weitgehend jetzt Art. 69 neue Verf. Angola (2010): „Habeas Data“. Jetzt „Open Data“. 108  Vgl. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl., 1998, S.  751 ff.



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Art. 106 Ziff. 16 Verf. Ukraine; Art. 134 Abs. 1 Verf. Polen von 1997; Art. 202 Verf. Südafrika von 1996; Art. 112 Abs. 2 Verf. Serbien von 2006) oder beim Monarchen (vgl. Art. 62 lit. h Verf. Spanien von 1978), mitunter beim Verteidigungsminister bzw. im Kriegsfall beim Regierungschef (vgl. Art. 65 a, 115b GG); hierzu gehört die Schaffung von effektiven Einrichtungen parlamentarischer Kontrolle (z. B. einen „Wehrbeauftragten“: Art. 45 b GG109). In Systemen kollektiver Sicherheit wie der Nato geht viel Entscheidungskompetenz an deren Bündnisinstanzen über, auch wenn in Deutschland vom BVerfG ein sog. Parlamentsvorbehalt begründet wurde (vgl. E 90, 286; 121, 135), Stichwort „Parlamentsheer“ (vgl. E 90, 286; 121, 135; 123, 267 (422 f.)). Im Grunde stehen wir auch hier vor Erscheinungen kooperativen Handelns von Verfassungsstaaten, das traditionelle Leitbegriffe wie „Souveränität“ fragwürdig macht. Erst recht gilt dies in der Europäischen Union: Hier ist „Europäisches Verwaltungsrecht“ (J. Schwarze) entstanden. Dass die Streitkräfte in manchen Demokratien eine eigene „Wächterrolle“ haben (lange Zeit in der Türkei der Nationale Sicherheitsrat: vgl. auch Präambel sowie Art. 118 und Übergangsartikel 15 Verf. von 1982) oder dass sie eine solche praktisch ausüben (so wohl auf den Philippinen oder lange Jahre in Indonesien), ist ein Beleg dafür, dass diese Länder noch keine voll „entwickelten“ Verfassungsstaaten waren bzw. sind. In Nordkoreas dynastischer Diktatur ist das Militär selbst 2011 / 12 die „erste Gewalt“. e) Die Rechtsprechung Die Rechtsprechung hat als Institution und Funktion im Verfassungsstaat von heute eine unvergleichliche Aufwertung erfahren. Das hängt mit den negativen Erfahrungen in kommunistischen und nationalsozialistischen Unrechtsstaaten zusammen, dürfte aber auch konvergent zu der herausgehobenen unabhängigen Stellung der Richter im angloamerikanischen Rechtssystem sein (im deutschen GG Art. 97 Abs. 1). Hinzu kommt, dass die „Krönung“ von Rechtsschutz und Rechtsstaat oft in einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit gesehen wird. Sie kann eine bespiellose Erfolgsgeschichte von Österreich (1920) bis ins ferne Südafrika (1996), von Italien, Frankreich, Portugal und Spanien bis zum deutschen BVerfG vorzeigen (von den klassischen Verfassungsstaaten besitzt nur Griechenland keine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit). Hinzu kommt das Vorbild des US-amerikanischen Supreme Court und der Ausbau „europäischer Verfassungsgerichte“ wie des EuGH und des EGMR, auch die Tätigkeit des inneramerikanischen Verfas109  Vgl. hierzu F.-H. Hartenstein, Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, 1977; E. Busch, Der Wehrbeauftragte, 4. Aufl., 1991.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

sungsgerichts in Costa Rica und das der Andenpaktländer. Bei allen Unterschieden je nach der historisch geprägten Rechtskultur: Durchgängig hat sich der Verfassungsstaat von der Idee Montesquieus, der Richter sei nur „bouche de la loi“ verabschiedet. Obgleich das Bild vom „Richterstaat“ (R. Marcic) überzeichnet ist, wächst durchweg die Einsicht in die „prätorische“ Funktion der dritten Gewalt, in ihre auch schöpferischen Aufgaben: „Wahrung des Rechts“ (vgl. Art. 164 EG-Vertrag110, jetzt Art. 19 Abs. 1 EUV) allein reicht nicht aus: Es geht auch um behutsame Rechtsfortbildung bis hin zum Richterrecht als eigener „Rechtsquelle“. In den USA spricht man plastisch von „law in action“, was zu ergänzen ist um das die Öffentlichkeit einbeziehende Wort: „law in public action“. Freilich ist die demokratische Legitimation der Richter in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich: In der Schweiz werden manche Richter auf Kantonsebene noch heute vom Volk direkt gewählt, ebenso in den USA in Einzelstaaten; in Deutschland wählen Richterwahlausschüsse i. V. mit den Länderregierungen; auf die Sonderregelungen für Verfassungsrichter sei verwiesen (bald werden Teile von ihnen durch den Staatspräsidenten oder / und andere Organe (vgl. Art. 135 Verf. Italien; Art. 147 Verf. Bulgarien von 1991; Art. 172 Verf. Serbien von 2006; Art. 148 Verf. Ukraine von 1996) berufen). In Polen wählt der Sejm die Verfassungsrichter (Art. 194 Verf. von 1997). Da auch die im Verfassungsstaat von heute so aufgewertete „dritte Gewalt“ nur ein Teil der staatlichen Funktionen ist und in das Gesamtsystem der Gewaltenteilung eingeordnet bleibt, hat sie das Prinzip funktionellrechtlicher Grenzen der rechtsprechenden Tätigkeit zu beachten, mögen diese auch in Raum und Zeit, von Land zu Land variieren („judicial activism“ / „judicial restraint“). Das deutsche BVerfG schiebt seine Kompetenzen nicht erst heute besonders weit vor. (Das Verhältnis von EGMR und EuGH ist strittig.) Der Verfassungsstaat tut gut daran, um des großen Vertrauens willen, das der dritten Gewalt fast überall entgegengebracht wird, viele Konnexgaran­tien zu schaffen, um die persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Richter zu sichern. Ihre Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit, ihre Freiheit von Weisungen sowie andere als „justizielle Grundrechte“ ausgebaute Garantien wie rechtliches Gehör, effektiver Rechtsschutz (Art. 11 Abs. 5 Verf. Ecuador von 2008), „Fair trial“ (z. B. Art. 32 Verf. Serbien 2006; Art. 31 Verf. Kosovo von 2008), „Fair hearing“ (z. B. Art. 50 Verf. Kenia von 2010), Verbot von Ausnahmegerichten, „nulla poena sine lege“ (z. B. Art. 34 Verf. Serbien von 2006) und „ne bis in idem“ (z. B. Art. 34 Verf. Kosovo) sowie Öffentlichkeit sind unverzichtbare Elemente, um den „Verfassungsstaat“ als solchen durch110  Hierzu I. Pernice, in: E. Grabitz  / M. Hilf (Hrsg.), Kommentar der Europäischen Union, Stand Mai 1998, zu Art. 164, Rn. 7–19. Allgemein R. Streinz, Die Rolle des EuGH im Prozess der Europäischen Integration, AöR 135 (2010), S. 1 ff.



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zusetzen. Gewiss, es gibt auch Probleme der „inneren Unabhängigkeit“ der Richter: Sie müssen sich ihr kulturelles „Vorverständnis“ (Sozialisation) eingestehen, tunlichst von parteipolitischen Einflüssen freihalten und mit Hilfe eines (seit F. C. von Savigny, 1840) rational gesicherten (aber auch erweiterungsfähigen: Rechtsvergleichung!) Methodenkanons arbeiten, der das so gefundene Ergebnis an „letzten“ und „vorletzten“ Gerechtigkeitsmaßstäben orientiert. Mitunter sind sogar Durchgriffe auf vorstaat­liches Naturrecht erforderlich (wie bei der Beurteilung der Strafbarkeit der „Mauerschützen“ an der innerdeutschen Grenze: zur Strafbarkeit der Hintermänner BVerfGE 95, 96). Sowohl hinsichtlich der erwähnten Konnexgarantien als auch in Bezug auf die „Rechtsanwendung“ bzw. Rechtsfortbildung gibt es heute einen Standard an Regeln und Verfahren, die den Typus Verfassungsstaat charakterisieren und an dem alle nationalen Ver­ fassungsstaaten arbeiten müssen111. Das BVerfG (E 34, 269 (286) – Soraya, s. auch E 65, 182; 69, 188; 75, 223; 128, 193 (210 f.)) hat die Rechtsfortbildungsfunktion der Gerichte auf die bewusste Abkehr des GG vom Gesetzespositivismus in Art. 20 Abs. 3 gestützt. In zahlreichen Entscheidungen leistet es sogar punktuelle Verfassunggebung (z. B. im Medien- und Bundesstaatsbereich, vgl. E 7, 198; 12, 205; 74, 297; 119, 198), auch im Wahlrecht. Fragt man vor diesem Hintergrund nach der „Grundtypik“ der Rechtsprechung, so ist auf ihre weitgehende Absonderung von den übrigen staatlichen Funktionen einerseits, ihre Aufgaben „autoritativer und damit verbindlicher, verselbständigter Entscheidung in Fällen bestrittenen oder verletzten Rechts“ andererseits zu verweisen112. Wegen des den kooperativen Verfassungsstaat kennzeichnenden „Vorrangs der Verfassung“ (z. B. Art. 8 Abs. 1 Verf. Polen von 1997, Art. 3 Abs. 2 Verf. Benin von 1990, Art. 7 Verf. Bangladesh (1973/2004), Art. 2 Verf. Nauru (1968), Art. 4 Verf. Gambia (1997)), insbesondere der Bindung aller Staatsgewalten an die Verfassung, vor allem die Grundrechte, sind alle Gerichte in einem tieferen und weiteren Sinne „Verfassungs­gerichte“113. Die spezifischen Funktionen und Strukturen der Internationalen Gerichte bleiben hier ausgeklammert, so wichtig sie für die universale Verfassungslehre werden. 111  Einige finden sich in Art. 20, 22, 24 Verf. Kenia von 2010; sowie in Art. 22, 53, 55 Verf. Kosovo von 2008. Man darf von Konstitutionalisierung der Interpretationsmethoden sprechen, so wie manche Verfassungen die Rechtsquellen konstitu­ tionalisieren (z. B. Polen Art. 87 bis 94 Verf. von 1997). 112  So die Stimmen in der deutschen Lit. zusammenfassend: K. Hesse, Grundzüge, S. 234 f. Aus der Grundsatzliteratur B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982. 113  Dazu jetzt die Kontroversen in VVDStRL 61 (2001), S. 185 f., 192 f. – Aussprache.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Inkurs VII: Kommunale Selbstverwaltung unter dem Stern des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts Einleitung Das Thema114 ist anspruchsvoll, zumal an diesem Ort: Der genius loci Athens sollte jeden Redner beflügeln, und wenn ein Referat unter den „Stern“ eines Themas gestellt wird, so assoziieren wir einerseits S. Zweigs „Sternstunden der Menschheit“ (1927), andererseits das Dichterwort „Blick auf zu den Sternen, hab Acht auf die Gassen“. Auch an I. Kants „gestirnten Himmel über mir“ mag man denken. Das große Thema darf sich die attische Demokratie vor Augen halten, an die „Bürger“ Athens erinnern, an die Erfindung der Freiheit im klassischen Griechenland, auch an die der Öffentlichkeit – der Agora, der Arena und des Amphitheaters (von Athen bis Segesta und Syrakus) –, und man kommt sich auf den Schultern der Riesen Platon und Aristoteles weniger als ein Zwerg vor. Indes darf man auch spätere Zeiten ins Auge fassen: Die Stadtrepubliken Oberitaliens im Zeitalter der Renaissance, die deutschen Hansestädte und Freien Reichsstädte im Alten Reich115 sowie die Entstehung spezifischer Hochkultur, die speziell in Deutschland das Weimar Goethes und Schillers als „Athen des Nordens“ erschienen ließen, oder das Prädikat von „Elbflorenz“ für Dresden, das – heute dank der glücklichen Wiedervereinigung 1989 wiedererstanden – die Wahlverwandtschaft zwischen Florenz und Dresden evozierte. Goethe ließ im „Faust“ Leipzig als „KleinParis“ bezeichnen, und es gäbe gewiss weitere große Worte dieser Art, etwa im Blick auf das „zweite“ und „dritte“ Rom. Übrigens kannte schon das antike Griechenland die rhetorische Kunst der Laudatio auf Städte. Von Athen aus hat, um jetzt in der Gegenwart anzukommen, eine Idee ihren Ausgang genommen, die nicht nur für unser Thema, sondern weit darüber hinaus stil- und schulbildend wurde: die Schaffung der „europäischen Kulturhauptstadt“116 als Ehrentitel auf Zeit – dank der Griechin Melina Mercouri, die wir als junge Menschen zunächst von ihrem Film „Sonntag nie“ her kannten. Damit sind wir am Ende dieser „Einstimmung“ schon mitten in unserem Thema: sein glanzvoller Rahmen ist das 80jährige Jubiläum des griechischen Nationalen Städtetages.

114  Beitrag, erarbeitet für ein Kolloquium in Athen 2009, jetzt aktualisiert, vgl. JöR 58 (2010), S. 301 ff. 115  Vgl. allgemein L. Benovolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, 1993; s. auch B. Blickle (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa (1991); ders. (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, 1998; ders., Kommunalismus: Kommunalismus, Bd. 1, Oberdeutschland, Bd. 2, Europa, 2000; ders., Das alte Europa: Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, 2008. 116  Aufschlussreich R. Burger: „Das schwere Welterbe der Ausgezeichneten“, Ein Unesco-Titel bringt Aufmerksamkeit. Oft jedoch sind sich Städte der mit ihm verbundenen Pflichten nicht bewusst und unterschätzen den Machtanspruch des Vergabe-Komitees, in FAZ vom 9. Juli 2008, S. 3. – Kulturhauptstädte sind 2012 Guimarães (Portugal) und Maribor (Slowenien), 2013 Marseille und Košice (Slowakei).



Inkurs VII: Kommunale Selbstverwaltung409 Erster Teil Die kommunale Selbstverwaltung – national, europäisch – typologische Bestandsaufnahme neuerer Verfassungstexte (Auswahl) I. Ausgewählte Beispiele in nationalen Verfassungsstaaten Europas 1. Griechenland, Textproben aus alten und neuen Verfassungen

In der Verfassungsentwicklung Griechenlands finden sich viele Textstufen. Die Verfassung Griechenlands vom 1. Mai 1827117 bestimmt in Art. 4: „Alle Städte, Flecken und Dörfer sollen einen Demogeronten (Volksältesten) haben“. Die Verfassung von 1864 verlangt in Art. 105: „Die Wahl der Gemeindebehörden erfolgt in unmittelbarer, allgemeiner und geheimer Abstimmung mittels Wahlkugeln“. Eine weitere Textstufe findet sich in Art. 104 Verf. 1925: „Der Staat ist in Regionen unterteilt, innerhalb derer die Bürger unmittelbar die örtlichen Angelegenheiten verwalten. – Die Kommune bildet obligatorisch die erste Stufe dieser Organisation der örtlichen Selbstverwaltung, die wenigstens aus zwei Stufen bestehen muss, unabhängig von den Gemeinden und den Kommunenverbänden. – … Der Staat kann den Organisationen der örtlichen Selbstverwaltung wirtschaftlich beistehen.“ Die Verfassung der Republik Griechenland von 1926 wiederholt diese Texte wörtlich in Art. 104. Mit nur geringen Variationen finden sich diese Texte auch in der Verfassung von 1927. Die Verfassung von 1975 nimmt sich des Themas der kommunalen Selbstverwaltung sehr ausführlich an (Art. 102). Hier finden sich neue Textelemente etwa zur Zuständigkeitsvermutung bei der Verwaltung von örtlichen Angelegenheiten, zur Selbstständigkeit der Verwaltung und der Finanzen, zur Gesetzmäßigkeitskontrolle des Staates sowie zu dessen Pflicht, die Mittel bereitzustellen, die die örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften zur Erfüllung ihrer Aufgaben brauchen. 2. Italien Die mittelalterlichen Kommunen in Oberitalien wurden schon erwähnt. Das berühmte Bild in Siena über die „gute Regierung“ ist ein Beispiel für frühe Kommunalverfassungen aus Kultur. Italien hat in einer Verfassungsänderung im Jahre 2003 für seine Verfassung von 1947 eine beachtliche Innovation geschaffen. In Art. 5 Abs. 1 heißt es: „Die Republik ist eine Einheit …; sie anerkennt und fördert die lokale Selbstverwaltung“. Art. 114 Abs. 1 lautet: „Die Republik ist in Gemeinden, Provinzen, Großstädte, Regionen und den Gesamtstaat gegliedert“. Diese aufsteigende Linie mit der erstrangigen Nennung der Gemeinden bedeutet für diese eine Aufwertung. Beachtung verdient auch die Normierung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 118 Abs. 1 und 4) sowie der Finanzautonomie (Art. 119 Abs. 1). Neuere Statute von Regionen Italiens sind ebenfalls ergiebig. Die Regionalstatute in Italien durchlaufen derzeit inhaltlich und formal eine ungemein reiche Phase neuer Textstufen. Sie sind auf dem Weg zu „kleinen Verfassungen“, ähnlich den 117  Diese und die folgenden griechischen Texte sind zit. nach D. Gosewinkel /  J. Masing (Hrsg.), Die Verfassungen in Europa 1789–1949, 2006.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Statuten der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, z. B. in Katalonien und Andalusien (2006). Speziell in Sachen Kommunale Selbstverwaltung seien einige Beispiele zusammengestellt. Schon in den Eingangsartikeln der Kompetenzen und Ziele sagt das Statut der Region Apulien (2004) in Art. 8 Abs. 1: „La Regione concorre allo sviluppo delle autonomie locali secondo i principi di sussidiarietà, leale collaborazione, differenziazione, unicità e adeguatezza delle funzioni.“ Noch erstaunlicher ist die Berufung auf die Europäische Charta der lokalen Autonomien in Art. 6 Ziff. 8 des Regionalstatuts von Latium (2004). Ihr Art. 4 regelt darüber hinaus unter dem Stichwort „Concorso degli enti locali“ die Zusammenarbeit von Region, Kommunen und Provinz. Art. 65 des Statuts der Toskana (2005) widmet sich ebenfalls dem „Concorso degli enti locali“, Art. 66 ebenda konstituiert einen Rat der lokalen Autonomien. Das Regionalstatut von Piemont (2005) bezieht die Kommunen in die Zusammenarbeit und Programmgestaltung ein. Titel V des Statuts der Marken (2005) nimmt sich eingehend der Beziehungen mit den lokalen Autonomien, mit ihrem Rat und ihren Kompetenzen an. Ähnliches sieht Art. 64 bis 66 Regionalstatut Ligurien (2005) vor. Das Regionalstatut Umbriens (2005) regelt die Kommunale Selbstverwaltung in Art. 26 bis 29 in Sachen Funktionen und Kompetenzen ungemein ausführlich. Auch der offenbar gemeinitalienische Rat der lokalen Autonomien findet sich (Art. 29). Sogar in die Präambel aufgerückt sind die lokalen Gemeinschaften in dem Regionalstatut der Emilia Romagna (2005). Ihr Art. 8 Abs. 1 verpflichtet die Region zu einem „koordiniertem System der lokalen Autonomien“. Abs. 2 normiert die Formen der Zusammenarbeit zwischen der Region und der Provinz, der „Città metropolitana di Bologna“ und der Kommunen. Das Regionalstatut der Abruzzen (2007) befasst sich mit der Rolle der lokalen Autonomien bemerkenswerter Weise in Art. 10 zum Stichwort „Die Subsidiarität“ (s. im Übrigen noch unten S. 616 ff.). 3. Die Schweiz (Kantonsverfassungen und nBV) Die Schweiz darf in Anspruch nehmen, im europäischen Raum die vitalste Gemeindewirklichkeit auszuleben118 (Stichwort: gegliederte, bürgernahe Demokratie). Das zeigt sich z. T. auch in den Texten der totalrevidierten Kantonsverfassungen. Hier eine kleine Auswahl, die belegt, dass die Schweizer Kantone zum einen die Gemeinden von vorneherein in fast alle Staatszielkataloge einbeziehen, zum anderen in ausführlichen Abschnitten das Thema „Kommunale Selbstverwaltung“ regeln: Die Verf. des Kantons Schaffhausen (2000) sagt schon in Art. 3 Abs. 2: „Er (sc. der Kanton) erfüllt die ihm vom Bund übertragenen Aufgaben unter Wahrung seiner Interessen und derjenigen der Gemeinden“. Beim Thema „Öffentliche Aufgaben“ (Art. 79 ff.) sind die Gemeinden durchweg einbezogen, etwa in Sachen „Öffentlicher Friede und Sicherheit“ (Art. 80), Umwelt, Naturschutz (Art. 81) oder Raumplanung (Art. 82) und Sozialhilfe (Art. 85). Es heißt fast stereotypisch „Kanton und Gemeinden sorgen für …“ (analog Art. 91 für Kultur und Heimatschutz, Art. 93 in Sachen 118  Aus der Lit.: T. Fleiner, Landesbericht in: VVDStRL 36 (1978), S. 338 ff. (Gemeinde als „Ort genossenschaftlicher Demokratie“, „bürgernahe, menschliche Verwaltung“.)



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„Rahmenbedingungen für eine leistungsfähige Wirtschaft“). Im späteren eigenen Abschnitt „Gemeinden“ (Art. 102 bis 107) verdienen besonders die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden (Art. 106) und die Zusammenarbeit mit den Kantonen Aufmerksamkeit (Art. 107). Sichtbar wird ein besonderes kooperatives Kommunalrecht, Vorbild für andere Verfassungsstaaten. Ein Blick in die neue Züricher Verfassung (2005) ist besonders ergiebig. Schon eingangs sagt Art. 1 Abs. 4: „Der Kanton anerkennt die Selbstständigkeit der Gemeinden“. Art. 4 regelt die schon bekannte „Zusammenarbeit“. In einem weiteren Grundlagen-Artikel zur „Nachhaltigkeit“ (Art. 6) sind „Kanton und Gemeinden“ aufgerufen. Gleiches gilt für die Schaffung „günstiger Voraussetzungen für den Dialog zwischen den Kulturen, Weltanschauungen und Religionen“ (Art. 7). Im Kapitel zu den Sozialzielen sind wiederum die Gemeinden mit aufgerufen (Art. 19), und das eigene spätere Kapitel „Gemeinden“ regelt besonders detailliert die einschlägigen Themen (Art. 83 bis 93), etwa die „Volksrechte in der Gemeinde“ (Art. 86) und die Zusammenarbeit der Gemeinden in vielerlei Form (Art. 90 bis 93). Auch an die Subsidiarität ist gedacht (Art. 97). Bei der großen Aufgaben-Tafel der Art. 100 bis 124 sind Kantone und Gemeinden im gleichen Atemzug angesprochen (etwa bei Umweltschutz, bei Wirtschaft und Arbeit oder bei der „Integration“ (Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in gegenseitiger Achtung und Toleranz)). Da es hier nicht auf Vollständigkeit, sondern auf das Erfassen der Tendenz der Textstufenentwicklungen im kommunalen Verfassungsrecht der Schweiz ankommt, nur noch einige Beispiele: Die KV Graubünden (2003) denkt in ihrem EingangsArtikel 3 ganz eigen an die Sprachenfrage. Abs. 2 lautet: „Kantone und Gemeinden unterstützen und ergreifen die erforderlichen Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache“. Art. 64 spricht von „Förderung von interkommunaler Zusammenarbeit und Zusammenschluss“, Art. 65 umschreibt die „Gemeindeautonomie“. Im großen Abschnitt zu den „Öffentlichen Aufgaben“ schließlich sind die Gemeinden zusammen mit dem Kanton in allen Teilbereichen in die Pflicht genommen (etwa Raumplanung, Wirtschaftspolitik, Integration, Gesundheit, Familie, Sport) – relevant für die „Staatsaufgaben“. Ein Blick in die französische Schweiz ergibt Analoges. So tauchen die Kommunen in der Verf. des Waadtlandes (2003) in vielen Themenfeldern auf: bei der Normierung der Zusammenarbeit (Art. 5 Abs. 2), im umfangreichen Aufgaben-Teil (Art. 59 bis 73). Im Kapitel zu den Kommunen schließlich (Art. 137 bis 157) ist mit großer Präzision das Themenfeld aufbereitet, z. T. mit besonders glücklichen Formulierungen wie „patrimoine communal“ (Art. 139 lit. a). Auch ist an Gemeindefusionen und die vielen Formen interkommunaler Zusammenarbeit gedacht (Art. 151 ff. bzw. Art. 155). Im Ganzen: Vieles von dem, was in Deutschland noch nur auf Gesetzesebene in Sachen Kommunaler Selbstverwaltung normiert ist, findet sich in der Schweiz auf Verfassungsstufe. Erneut sei die durchgängige und konsequente Einbeziehung der Kommunen bei den „Staatsaufgaben“ bzw. den „Sozialzielefeldern“ hervorgehoben. Die deutsche Dogmatik zu den Staatsaufgaben hat hier viel Nachholbedarf119. Die 119  Vgl. etwa P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S.  595 ff.; J. Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 73; s. noch unten S. 486 ff.

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neue BV (1999) macht nur wenige Vorgaben (vgl. Art. 50)120. Im StaatsaufgabenTeil („Zuständigkeiten“) heißt es stets: „Bund und Kantone fördern“. Sichtbar werden Varianten und Konstanten in den Wachstumsprozessen des Schweizer Kommunalverfassungsrechts. Jeder Kanton behält eine eigene „Handschrift“, alle Kantone haben aber auch viel „Gemeinrecht“ geschaffen. Die Bundesverfassung von 1999 sagt in Art. 50 im Abschnitt über Gemeinden: (1) Die Gemeindeautonomie ist nach Maßgabe des kantonalen Rechts gewährleistet. (2) Der Bund beachtet bei seinem Handeln die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden. (3) Er nimmt dabei Rücksicht auf die besondere Situation der Städte und der Agglomerationen sowie der Berggebiete. Vielleicht darf man von der Verpflichtung zu „gemeindefreundlichem Verhalten“ sprechen, für Europa vorbildlich. 4. Deutschland (Vorgeschichte, Grundgesetz sowie west- und ostdeutsche Landesverfassungen) Der deutsche Klassikertext aus der Paulskirchenverfassung von 1849 lautet: § 184: Jede Gemeinde hat als Grundrechte ihrer Verfassung: a)  die Wahl ihrer Vorsteher und Vertreter; b) die selbstständige Verwaltung ihrer Gemeindeangelegenheiten mit Einschluss der Ortspolizei, unter gesetzlich geordneter Oberaufsicht des Staates; c)  die Veröffentlichung ihres Gemeindehaushaltes; d)  Öffentlichkeit der Verhandlungen als Regel. In Art. 127 WRV (1919) heißt es nur: „Gemeinde und Gemeindeverbände haben das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze“. Doch haben „Riesen“ der Weimarer Staatsrechtslehre so wichtige dogmatische Figuren wie die Lehre von der institutionellen Garantie und dem Wesensgehaltschutz zu diesem Text entwickelt (C. Schmitt). Das Verfassungsbild der kommunalen Selbstverwaltung, das das GG in Art. 28 Abs. 2 entwirft121, ist ebenso prägnant wie historisch gewachsen. Es ist ein text­ 120  Aus der Lit.: Hj. Seiler, Gemeinden im schweizerischen Staatsrecht, in: Verfassungsrecht der Schweiz, hrsg. von D. Thürer u. a., 2001, § 31. 121  Aus der unüberschaubaren Lit.: M. Nierhaus, in: Sachs, GG Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 28. Einige Aspekte in: VVDStRL 62 (2003): Referate von J.  Oebbecke / M. Burgi, S. 366  ff., besonders in der Aussprache, ebd., S. 460  ff.; G. Püttner, Kommunale Selbstverwaltung, HStR IV 1990, § 107; E. Schmidt-Aßmann, Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, FS BVerfG 2001, Bd. II, S.  803 ff.; W.  Blümel / R. Grawert, Gemeinde und Kreise vor den öffentlichen Auf­ gaben der Gegenwart, VVDStRL 36 (1978), S. 171 ff.; D. Ehlers, Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, DVBl. 2000, S. 1301 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S. 418 ff.



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liches Konzentrat vieler historischer Entwicklungen, es eröffnet aber auch neue: insofern das gerade hier sehr kreative BVerfG z. B. ein rechtsstaatliches Gebot auf Anhörung vor Gemeindeneugliederungen erarbeitet hat (E 50 (50 f.), 195 (202 f.); 86, 90). Die vor dem GG entstandenen Landesverfassungen enthalten einige schöpferische Textelemente ebenso wie nach der deutschen Einigung die neuen ostdeutschen Landesverfassungen Innovationen schufen, die erst eine „Textstufenanalyse“ dokumentieren kann. Die erste Großtat gelang früh dem Verfassunggeber Bayern (1946) mit dem Satz in Art. 11 Abs. 4: „Die Selbstverwaltung dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben“. Dieser Satz machte Geschichte: Nach der Wiedervereinigung rezipierte ihn die Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993 wörtlich (Art. 3 Abs. 2): innerdeutsche Verfassungsvergleichung im Dienste der Verfassungspolitik. Ebenfalls in den Kontext des Demokratieverständnisses gehört die viel spätere Verfassungsnovelle in Art. 12 Abs. 3 Verf. Bayern (1993): „Die Staatsbürger haben das Recht, Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinden und Landkreise durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid zu regeln“. Art. 72 Abs. 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern spricht allgemeiner und blasser in Satz 2: „Durch Gesetz können Formen unmittelbarer Mitwirkung der Bürger an Aufgaben der Selbstverwaltung geregelt werden …“ Eher den grundrechtsnahen Problembereichen gehört die Einrichtung der „kommunalen Verfassungsbeschwerde“ an, wie sie sich in Art. 76 Verf. Baden-Württemberg, in Art. 123 Verf. Saarland, in Art. 90 Verf. Sachsen von 1992, Art. 80 Ziff. 2 Verf. Thüringen von 1993, Art. 53 Ziff. 8 Verf. Mecklenburg-Vorpommern findet. Den rechtsstaatlichen und demokratischen Ideen zuzuordnen ist das neue Anhörungsrecht z. B. nach Art. 97 Abs. 4 Verf. Brandenburg (1992): „Die Gemeinden und Gemeindeverbände sind in Gestalt ihrer kommunalen Spitzenverbände rechtzeitig zu hören, bevor durch Gesetz oder Rechtsverordnung allgemeine Fragen geregelt werden, die sie unmittelbar berühren“. Ähnlich lautet Art. 57 Abs. 6 Verf. Niedersachsen (1997); auch Art. 124 Verf. Saarland (1999) schreibt die Anhörung der Kommunen vor (Postulat des „Rechtsgesprächs“). Ein neuer Themenbereich, in dem die Verfassunggeber textlich an die Gemeinden „denken“, ist der Umweltschutz (so in Art. 12 Abs. 1 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, ähnlich Art. 69 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 29a Abs. 1 Verf. NRW). Überhaupt beziehen die neueren Verfassungen die Gemeinden gezielt in neue Staatsaufgaben ein (so in Bezug auf „Kunst, Kultur und Sport“: Art. 6 Verf. Niedersachsen, ähnlich Art. 18 Verf. NRW, auch Art. 40 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 9 Abs. 3 Verf. Schleswig-Holstein, Art. 30 Verf. Thüringen). Art. 17 S. 2 Verf. NRW „erahnt“ den kulturellen Trägerpluralismus in den Worten: „Als Träger von Einrichtungen der Erwachsenenbildung werden neben Staat, Gemeinden und Gemeindeverbänden auch andere Träger, wie die Kirchen und freien Vereinigungen anerkannt.“ Unter dem Abschnitt „Staatsziele“ denkt die Verf. Sachsen-Anhalt von 1992 in vielen Teilfeldern neben dem Staat auch an die Kommunen: bei der Gleichstellung von Frau und Mann (Art. 34), beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 35 b), bei der Förderung von Kunst, Kultur und Sport (Art. 36b), beim Schutz „kultureller und ethnischer Minderheiten“ (Art. 37), bei dem Thema Arbeit (Art. 39

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Abs. 1) und bei dem Schutz vor Obdachlosigkeit (Art. 40 Abs. 2). Hier erfolgt eine bemerkenswerte Erstreckung neuer Staatsaufgaben auf die Kommunen schon von Verfassung wegen („Gemeinde-Aufgaben“). Im Ganzen: Es zeigen sich lebhafte konstitutionelle Entwicklungsprozesse im (z. T.) gemeindeutschen Kommunalverfassungsrecht, teils im Wege der Verfassungsänderung im Westen, teils in Gestalt neuer Verfassungen in Ostdeutschland. Dabei dürften die Textgeber teils voneinander „abgeschrieben“ haben, teils Konsequenzen aus der Judikatur des BVerfG gezogen haben (E 50, 50 f.): Anhörung vor der Neugliederung von Gemeinden: Art. 88 Abs. 2 S. 4 Verf. Sachsen; Art. 74 Abs. 2 S. 3 Verf. Baden-Württemberg; Art. 98 Abs. 2 und 3 Verf. Brandenburg; Art. 90 Verf. Sachsen-Anhalt von 1992. Auch die Vorbildwirkung europäischer Texte ist zu vermuten. Einmal mehr bewährt sich die Textstufenarbeit. II. Die Kommunale Selbstverwaltung im „Text-Kontext“ von EU und Europarat 1. Die EU Auf EU-Ebene kommen die Kommunen textlich in Art. 22 EUV (alt) (s. auch II-Art. 100 Verfassungsvertrag Entwurf von 2004) vor: in Gestalt des Kommunalwahlrechts der EU-Bürger. Das EU-Verfassungsrecht ist im Übrigen „gemeindeblind“ (anders der Europarat!). Immerhin haben die Länder in Deutschland im Ausschuss der Regionen von ihren 24 Stimmen drei den Kommunen überlassen122. Weitere Texte schuf 2007 das (Teil-)Verfassungswerk von Lissabon, etwa in Art. 40 EUGrundrechte-Charta. 2. EU-Verfassungsentwürfe Einige EU-Verfassungsentwürfe erweisen sich als ergiebig – sie bleiben trotz ihres Entwurfscharackters für die Wissenschaft, wie in diesem Buch schon begründet, ein Reservoir. Bemerkenswert ist, dass im Verfassungsgrundriss von J. Voggenhuber (2003)123 die Selbstverwaltung von Städten und Gemeinden als eine von „fünf Ebenen“ der „europäischen Demokratie“ ausgewiesen ist (sub. III Abs. 3). Auch heißt es: „Die Subsidiarität ist ein Grundwert der Europäischen Union“. Im Verfassungsentwurf von J. Leinen (2002)124 heißt es in Art. 91 Abs. 1 Satz 2: „Der Ausschuss der Regionen vertritt die Interessen der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre.“ Im Entwurf von G. d’Estaing (2003) lautet Art. I-31 Abs. 2: „Der Ausschuss der Regionen setzt sich aus Vertretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften zusammen, die entweder ein Wahlamt in einer regionalen oder lokalen Gebietskörperschaft innehaben oder gegenüber einer gewählten Versammlung politisch verantwortlich sind.“ Im Verfassungsprojekt von D. L. Garrido et al. (2002) werden „Die Regionen und Kommunen“ in der EU besonders herausgeR. Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, Rdnr. 176. nach JöR 53 (2005), S. 604 ff. 124  Zit. nach JöR 53 (2005), S. 582 ff. 122  Vgl. 123  Zit.



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stellt und zwar mit einem sonst nicht so gehörten Akzent („La realidad regional“, „Participación de las instituciones regionales y locales“). Nicht zufällig figuriert hier auch die Subsidiarität. Die lokale Autonomie wird sogar als „Teil der politischen Tradition Europas“ bezeichnet – der Weg zu den „Kommunen als europäische Verfassungsform“ ist nicht mehr weit, der „Kommunalismus“ gewinnt (wieder) Terrain. 3. Der Europarat Spezifisch ist das Bild im Verfassungsraum des Europarates. Die schon erwähnte Charta der kommunalen Selbstverwaltung125 (sie integriert auch Art. 123 Abs. 3 Verf. Kosovo von 2008: ein Beweis für Europa als „mittelbarer Verfassunggeber“) spiegelt den hohen Stellenwert der kommunalen Selbstverwaltung in und für Europa wider, besonders in der Präambel (das Recht der Bürger auf Mitwirkung „kann auf der kommunalen Ebene am unmittelbarsten ausgeübt werden“, „zugleich wirkungsvolle und bürgernahe Verwaltung“, Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung „als wichtiger Beitrag zum Aufbau eines Europas, das sich auf die Grundsätze der Demokratie und der Dezentralisierung der Macht gründet“). Die folgenden Artikel arbeiten mit Texten wie „eigene Verantwortung zum Wohl ihrer Einwohner“ (Art. 3 Abs. 1), sie lassen Formen unmittelbarer Demokratie zu (Abs. 2 ebd.), normieren vorherige Anhörungsrechte (Art. 4 Abs. 6, s. auch Art. 5) und entwerfen im Ganzen ein kräftiges Bild effektiver kommunaler Selbstverwaltung. Die späteren Rahmenabkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften126 sprechen etwas weniger von den Kommunen (s. aber Präambel: „Gemeinden und Regionen Europas“), doch sind sie der Sache nach durch den technischen Oberbegriff „Gebietskörperschaften“ erfasst. Man darf fragen, wann und wie die weitere Verfassungsentwicklung in der EU einzelne Themen aus dem reichen Textreservoir des Europarates aufgreift, etwa im Kontext der Demokratie- und der Aufgaben-Artikel. Eine Ausstrahlung auf die jüngsten Kantonsverfassungen der Schweiz ist zu vermuten (sie ist ja Mitglied des Europarates). 4. Insbesondere: Ein kurzer Blick nach Übersee (Brasilien) Die Verf. Brasiliens (1988)127 zeichnet sich durch ihre eigenständige Konzeption der „Stadtpolitik“ aus. Schon in Art. 18 § 4 heißt es: „Die Einrichtung, Eingliederung, Fusion oder Ausgliederung von Gemeinden sollen der Bewahrung der Kontinuität und geschichtlich kulturellen Einheit der Stadtentwicklung (ambiente) dienen“, wobei sogar die vorherige Anhörung der direkt betroffenen Bevölkerung im Wege des Plebiszits zur Pflicht gemacht wird (!). Eine zusätzliche Überraschung ist das 125  Zit. nach R. Streinz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, 2000, S. 107 ff. – Bemerkenswert ist der große Abschnitt zur kommunalen Selbstverwaltung in Art. 188 bis 193 Verf. Serbien von 2006. 126  Dazu R. Streinz (Hrsg.), Europarat, a. a. O., S. 117 ff.; grundlegend M. Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 2003. 127  Zit. nach JöR 38 (1989), S. 462 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

eigene Kapitel II in Titel VII mit der Überschrift „Stadtpolitik“ (Art. 182 und 183). Hier ist vom Ziel der „vollständigen Entfaltung der sozialen Funktion der Stadt“ die Rede128. Auch werden die einzelnen rechtstechnischen Instrumente skizziert. Brasilien hat damit eine weltweit vorbildliche neue Textstufe geschaffen. Sie könnte ein Element der universalen, weltbürgerlichen Verfassungslehre werden. Zweiter Teil Gemeineuropäisches Verfassungsrecht – Elemente des Theorierahmens (1983 / 91) – Eine Reprise im jetzigen Kontext Seit 1983 / 91 entfaltet, sind Wort und Sache dieses Begriffs in Europa fast schon ein Gemeinplatz geworden, freilich hat der Verf. vor etwa zwei Jahrzehnten sogar die Übertragung dieser Leitidee auf Lateinamerikas und Südasiens Verfassungsstaaten gefordert129. „Gemeineuropäisch“ ist das klassische private jus commune, seit und in Jahrhunderten geworden und bis heute geblieben. Im Nationalstaat nach 1789 konnte erst in jüngster Zeit für das Verfassungsrecht an altes Theoriewissen angeknüpft werden – dank der europäischen Integration seit 1957 und der EMRK von 1951: „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ geht zum einen von der Idee von „Gemeinrecht“ als rechtswissenschaftliche Kategorie aus, zum anderen arbeitet es mit der Erkenntnis vom Prinzipiencharakter des Rechts. Dabei war an die Lehren von H. Heller (Staatslehre von 1934) und J. Esser („Grundsatz und Norm“ von 1956) anzuknüpfen. Das Wissen um „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ eröffnet zwei Wege kraft Rechtsvergleichung: den der Rechtspolitik und den der juristischen Interpretation. Unverzichtbar ist dabei die neue These von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode (1989), nach den klassischen vier von Sa­ vigny, und von der Grundrechts- bzw. Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung (1982 / 83) sowie von der Kreativität, die sich dem eröffnet, der nach dem Kontext von Rechtsprinzipien fragt (Arbeit am Kontext meint: „Auslegen durch Hinzudenken“). Diese Ansätze haben sich seit den 80er Jahren europaweit verbreitet. Eine enorme Schubkraft verdankt sich dem „annus mirabilis“ 1989, als es darum ging, in Osteuropa neue Reformverfassungen im Wege von schöpferischen Rezep­ tionen westeuropäischer Verfassungsprinzipien zu schaffen. Die beiden europäischen Verfassungsgerichte EGMR und EuGH tun ein Übriges, vor allem dank der Lehre von den Grundrechten als „allgemeinen Rechtsprinzipien“. Wir sprechen von „Europäisierung der nationalen Rechtsordnungen und nationalen Verfassungsgerichte“ (seit 1991), und heute lässt sich wohl sagen, dass es im EU-Rechtsraum kein „Europarecht“ über den nationalen Rechtsordnungen als eigene Rechtsmaterie mehr gibt, sondern nur noch Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht: zu intensiv ist die Osmose. Im arbeitsteiligen Prozess der Rechtsgewinnung hat auch die euro128  Aus der deutschen Lit.: V. Bärenbrinker, Nachhaltige Stadtentwicklung durch Urban Governance, 2012. 129  P. Häberle, Un ius commune americanum, in P. Häberle / M. Kotzur, De la soberania al derecho constitucional común: para un diálogo europeo-latinoamericano, 2003, S.  1 ff.; ders., Aspekte einer kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Verfassungslehre in „weltbürgerlicher Absicht“ – die Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang, in: JöR 45 (1997), S. 555 ff.; vgl. unten Exkurs I, S. 710 ff.



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päische Rechtswissenschaft ihren Platz, sofern sie vergleichend arbeitet, sensibel für das je Eigene, Besondere, die Partikularität der nationalen Rechtskulturen bleibt und gleichwohl den Kraftlinien von Gemeineuropäischem Verfassungsrecht nachspürt. Es gibt eine gemeineuropäische offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten: Wir, „europäische Juristen“, sind ein Teil von ihr130. Dritter Teil Die kommunale Selbstverwaltung als „Herzstück“ Europas – national wie gemeineuropäisch Die Sichtung des Textstufenmaterials und die Vergegenwärtigung des Theorierahmens von Gemeineuropäischem Verfassungsrecht erlauben jetzt diesen Dritten Teil als Synthese und vielleicht Quintessenz unseres Themas in drei Schritten. I. Die kommunale Selbstverwaltung als ein Stück Kultur der Freiheit, kultureller Freiheit vor Ort im Kleinen, „Kulturpolitik in der Stadt“ Die kommunale Selbstverwaltung gleicht einem Grundrecht i. S. der Frankfurter Paulskirchen-Verfassung von 1849, sie ist mitunter national sogar durch eine kommunale Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsrecht bewehrt (vgl. Art. 94b GG) und sie ist theoretisch entsprechend hoch anzusiedeln. Europäische Kulturhauptstädte (in Deutschland z. B. Weimar 1999, Essen und das Ruhrgebiet 2010, der seinerzeitige Streit um die Waldschlösschenbrücke in Dresden ist bekannt) bringen dies prägnant zum Ausdruck und rücken es ins Bewusstsein, sie verbinden die Idee Europa mit der Kultur und den Kommunen zugleich, sie lassen aber auch genug Raum für die Einsicht, dass kleinere Kommunen ihre „Kulturpolitik in der Stadt“ höchst innovativ pflegen können und sollen131. Es gibt kommunales Kulturverfassungsrecht. Kultur, eine Begriffsschöpfung Ciceros, verschafft dem Menschen den „aufrechten Gang“ i. S. Blochs. Die Hochkultur i. S. des Platonschen Guten, Wahren und Schönen ist in manchen deutschen Landesverfassungen i. S. des deutschen Idealismus jetzt nicht nur (staatliches) Bildungs- und Erziehungsziel, sie ist auch Sache der Kommunen. Gewiss, neben der Hochkultur gibt es im Rahmen des „offenen, pluralistischen Kulturkonzepts“ auch die „Volkskultur“ und die „Alternativkulturen“ (Beispiel waren etwa die Beatles), und erst die drei Unterscheidungen lassen erkennen, was „Kultur“ im Ganzen meint. Der das Kommunalrecht ernst nehmende Verfassungsjurist darf daran erinnern, dass es einen erweiterten „Kunstund Kulturbegriff “ gibt – eine Erkenntnis von J. Beuys’ Wort: „Jedermann ein Künstler“. Freilich ist m. E. nicht jedermann ein Beuys! Der Jurist sollte aber auch sehen, dass die Kultur einen lokalen und regionalen „Humus“ für den Bürger ist, für eine lebendige Zivilgesellschaft. Kulturhauptstädte, Staatsopern, kulturelle Frei130  Zum „Europäischen Juristen“ mein gleichnamiger Beitrag in JöR 50 (2002), S. 123 ff.; s. auch A. Weber, Auf der Suche nach dem europäischen Juristen, JöR 60 (2012), S.  307 ff. 131  Dazu der Verf. „Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag“, 1979; s. auch O. Scheytt, Kommunales Kulturrecht, 2005; P. Häberle, Die europäische Stadt – Das Beispiel Bayreuth, BayVBl. 2005, S. 161 ff.

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zeitgestaltung dank Kirchen und Gewerkschaften i. S. des „kulturellen Trägerpluralismus“ schaffen den Grund, auf dem der „homo politicus“ wachsen kann und „erwachsen“ werden kann, was mehr als ein Wortspiel im Deutschen sein darf. Innerhalb der Nationen Europas und auf der europäischen Ebene kommt es heute wie selten zuvor zu einem Wettbewerb in Sachen Kultur („Konkurrenzkommunalismus“). Freilich sind auch die Gefahren beim Namen zu nennen: die glamouröse „Event-Kultur“, der wachsende Einfluss sog. „Sponsoren“, kurz die Ökonomisierung – hier muss jede kommunale Kulturpolitik auf der Hut sein. „Mäzene“ wie eh und je, gut und schön, aber sie sollten den Eigenwert und Selbstzweck der Kunst und Kultur, ihre eigengesetzlichen Strukturen nicht gefährden. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, er lebt auch von der Kultur. Sie ermöglicht ihm, seinen „Sinn“ zu finden. Er stürzte sonst buchstäblich ins Bodenlose. Wirtschaft ist nur instrumental sehen, der Markt ist nicht das Maß aller Dinge! – weder national, noch global (als „Weltmarkt“), er bedarf der normativen Rahmenvorgaben. Hier hat die kulturelle Selbstverwaltung der Kommunen ihren Ort. Die vielen Teilaspekte kultureller Freiheiten von der Religionsfreiheit über die Kunstfreiheit und Wissenschaftsfreiheit bis hin zum Sport in der Freizeitkultur sind in den Blick zu nehmen. Auch sei an Goethes großes Wort erinnert: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion, wer diese Beiden nicht hat, der habe Religion“. Diese kulturelle Freiheit vor Ort findet in den Kommunen ihr bestes „Gehäuse“. Unbegreiflich und gefährlich in Italien ist bzw. war S. Berlusconis „Griff nach dem Kulturerbe“, auch in den Kommunen132. Die vom (damaligen) italienischen Ministerpräsidenten geplante Privatisierung der „Beni culturali“ ist nicht nur ein Verstoß gegen den in der italienischen Verfassung garantiert Schutz des „historischen und künstlerischen Erbes der Nation“ (Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien), sondern auch ein Angriff auf das freie kommunale Städtewesen aus der Kulturgeschichte Italiens seit der Renaissance. Es war hier und im antiken Griechenland, wo viele politische Ideen öffentlichen Lebens, der res publica, öffentlicher Freiheit, auch aus Kunst und Kultur, entwickelt worden sind. Die spätmittelalterlichen Stadtrepubliken Italiens sind geschichtlich im Einzelnen und Ganzen die ersten Ausprägungen von „Kulturpolitik in der Stadt“ im Sinne des Konzepts von 1979. Überspitzt formuliert: Berlusconis Kommerzialisierung der res publica widerruft das, was seit der römischen Antike eine „res extra commercium“ war. Ein anderes aktuelles Beispiel ist der deutsche Streit um die Waldschlösschenbrücke. Die Elbe steht bekanntlich bislang unter Unesco-Kulturschutz. Die Bürger Dresdens hatten vor Jahren mit Mehrheit für die neue Brücke über die Elbe gestimmt. Die Unesco drohte den Ehrentitel zu entziehen und tat dies auch. Die völkerrechtsoffene nationale Verfassungsrechtslehre bleibt in diesem Fall intensiv gefordert: sie muss eine Theorie entwickeln, wonach das soft law des Völkerrechts (verstanden als konstitutionelles Menschheitsrecht) gerade im kulturellen Bereich den kommunalen Bürgerwillen vor Ort bricht. Überspitzt formuliert: Universales Kulturrecht geht vor lokaler Demokratie133. Die Frage „Nachhaltigkeit und Städte132  Dazu SZ vom 5. August 2008, S. 11: „Die drohende Liquidation der Denkmalpflege versetzt der politischen Kultur Italiens den Todesstoß und beraubt Europa kostbarster Schätze.“ (Beispiel: Pompeji.) 133  Aus der Lit.: P. Häberle, Verfassungsstaatliche Textstufen in Sachen kommunaler Selbstverwaltung – eine Skizze, FS Siedentopf, 2008, S. 411 (427); zuletzt M. Ki-



Inkurs VII: Kommunale Selbstverwaltung419

bau“ ist ein eigenes Thema134 (Stichwort: Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt, 2007). Architekturwettbewerbe werden zu Recht als Voraussetzung für gelungenen Städtebau verstanden135. Erinnert sei an Beispiele, die zeigen, wie sehr es einigen Städten gelungen ist, sich durch gute Bauten auszuzeichnen: Barcelona und seine Ramblas seit den Olympischen Spielen, die Hafencity in Hamburg, Bilbao oder die Städte, die zur „europäischen Kulturhauptstadt“ ernannt wurden. Ein solches Wahrzeichen ist auch das Brandenburger Tor in Berlin. Unvergessen ist das Wort des Regierenden Bürgermeisters E. Reuter (1948): „Bürger der Welt, schaut auf diese Stadt“. Erinnert sei auch an die schöne Wendung des e­ hemaligen Berliner Innensenators H. Lummer: Während das Brandenburger Tor ­geschlossen blieb, war die deutsche Frage offen. Seit dem 9. November 1989 ist das Tor offen. Es gehört als Monument zu den Ikonen unserer Republik: „Republik aus Kultur“. II. Das Europa der Kommunen als gelebte pluralistische Demokratie „von unten nach oben“ Das Demokratieprinzip, verstanden von der Menschenwürde her, deren „Konsequenz“ die pluralistische Demokratie letztlich ist, hat in der kommunalen Selbstverwaltung politisch ihren ersten Ort. Man darf an große Politiker in Deutschland erinnern, die zunächst Bürgermeister waren: K. Adenauer in Köln und W. Brandt im Stadtstaat Berlin, und es bis zum deutschen Bundeskanzler brachten (freilich sollte man nicht von „Bonner“ oder „Berliner“ Republik sprechen: Im föderativen Deutschland entspricht dies nicht dem Geist der Verfassung und unserem Selbstverständnis). Gemeindepolitik ist eine Art „Schule“ für die sog. „Große Politik“. Doch sei besonders und zuallerst an den Bürger gedacht. Er kann politisches Handeln im überschaubaren Raum vor Ort erleben und als gewählter Gemeinderat mit gestalten. Der Alltag prägt zuvörderst das Leben der Menschen, und dieser Alltag ist politisch der Ort in den Kommunen. Wo es keine kommunale Selbstverwaltung gibt, gibt es auch keine Demokratie auf staatlicher Ebene! Die Erfahrungen mit den beiden deutschen totalitären Regimen der NS-Zeit und der DDR bewiesen dies. Gerade Europa ist politisch vor allem von den Kommunen her zu denken. Die viel zitierte, in der EU oft vermisste „Bürgernähe“ beginnt auf kommunaler Ebene. Darum ist der Europäi­ sche Ausschuss für Kommunen und Regionen so wichtig zu nehmen. Die pluralistische Demokratie ist das Leitbild auch auf der kommunalen Ebene. In Deutschland ist es ein Glücksfall, dass es neben den politischen Parteien, die oft genug zu Machtmissbrauch neigen, kommunale Wählergemeinschaften gibt. Zu begrüßen ist nicht nur das Wahlrecht für EU-Bürger auf kommunaler Ebene, wie es schon geltendes Recht ist (z. B. Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG), sondern auch das Ausländerwahlrecht, das der damalige spanische Ministerpräsident J. L. R. Zapatero ab 2011 für Kommunalwahlen anstrebte136. Freilich bedarf es wohl nach der spanischen Verfaslian, Die Brücke über die Elbe: völkerrechtliche Wirkungen des Welterbe-Übereinkommens der UNESCO, in: Landes- und Kommunalverwaltung, 6 / 2008, S. 248 ff. 134  Dazu gleichnamig J. Kersten, in: W. Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 396 ff. 135  Dazu FAZ vom 4. August 2008, S. 31: Wem darf man denn noch bauen? 136  Vgl. FAZ vom 1. August 2008.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

sung ausdrücklich der Abkommen auf Gegenseitigkeit. Schwieriger dürfte es werden, ein kommunales Ausländerwahlrecht in Bezug auf solche Staaten zu schaffen, die kein vergleichbares demokratisches System haben (etwa China, Pakistan oder Algerien, Tunesien, diese an einem „mare nostrum constitutionale“). III. Gewaltenteilung und Subsidiarität als Verfassungsform der Kommunen und Europas Der dritte Pfeiler für unser Verständnis des hier behandelten großen Themas ist die vertikale Gewaltenteilung, die als spezifische Ausprägung die kommunale Selbstverwaltung legitimiert. Die Katholische Soziallehre und ihre Idee der Subsi­ diarität ist mit Montesquieus Klassikertext von 1748 gemeinsam zu lesen. Da der Mensch von Natur aus dazu neigt, Macht zu missbrauchen, bedarf es neben der Herrschaft auf Zeit der Gewaltenteilung. Eine Form dieses Gedankens ist – in der Vertikalen gedacht – die kommunale Selbstverwaltung. Man stelle sich einen Verfassungsstaat ohne kommunale Selbstverwaltung vor: seine Freiheit, seine Rechtsstaatlichkeit und vor allem seine Demokratie wären amputiert, ja recht eigentlich beseitigt. Der Föderalismus wurde von K. Hesse (1961) als vertikale Gewaltenteilung gedacht, heute ist die kommunale Selbstverwaltung übrigens sehr politisch in diesen Kontext zu stellen (Art. 4 Abs. 1 Verf. Kosovo von 2008 spricht allgemein von „checks and balances“). Die Besonderheit von Stadtstaaten sei erwähnt: in Deutschland etwa Hamburg, Bremen137 und Berlin. Sie bilden eine geglückte Mischung von kommunalen und föderalen Strukturen. Speziell sind sie eine kulturelle Bereicherung, die nicht in einer törichten kurzsichtigen Föderalismus-Reform aus finanzpolitischen Gründen durch Bildung größerer Länder beseitigt werden sollte: mein ceterum censeo seit 1998. Auch die Hauptstädte verlangen nach besonderen Stukturen, man denke an Washington DC oder Buenos Aires, auch Berlin (Art. 22 nF GG). Sie ändern aber nichts an dem hier gewagten Konzept. Die Hauptstadtfunktionen sind spezifisch und dem Typus Verfassungsstaat angemessen, etwa i. S. einer gesamtstaatlichen Repräsentanz, auch in Sachen Kultur138. Finanzielle Zuwendungen an den Bund auch aus der „Provinz“ sind legitim (Finanzausgleich). Ausblick Im Stichwort vom „Europa der Regionen und Kommunen“, in den mannigfachen Texten des Europarates, die die Kommunen tendenziell einbinden wollen, kommt zum Ausdruck, dass die Kommunen in Theorie und Praxis als ein Baustein von Europa als Verfassungsgemeinschaft gelten dürfen. Gewiss, sie haben (noch?) kein eigenes Klagerecht vor dem EuGH, sie finden in den EU-Texten keinen Ausdruck (Stichwort: „Kommunalblindheit“), wohl aber in einzelnen EU-Verfassungsentwürfen: Gleichwohl bilden sie einen Grundpfeiler des „europäischen Projekts“. 137  Dazu mein Festvortrag Fünfzig Jahre Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen, 1997; A. Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsverbund, JöR 59 (2011), S. 215 ff. 138  Dazu P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungproblem, DÖV 1990, S. 989 ff. Textmaterial: Art. 13 Verf. Island (1944).



Inkurs VII: Kommunale Selbstverwaltung421

Nimmt man alle Theoriestränge zusammen, so zeigt sich, wie grundlegend die kommunale Selbstverwaltung für den nationalen Verfassungsstaat im Europa von heute ist. Dass die „Europäisierung“, die auch ursprünglich nur national gedachte Kommunen erfasst, zeigen viele Verfassungstexte, nicht nur zum Kommunalwahlrecht für EU-Bürger. Freiheit und Demokratie, Kultur und Europa spiegeln sich in ihrem spannungsreichen, aber fruchtbaren Zusammenwirken gerade auch in den Verfassungsgarantien zur kommunalen Selbstverwaltung wider. Gibt es auch noch keinen „Freiherrn vom Stein Europas“139: Letztlich hat er bereits einen Weg gewiesen, der bis zur „Gemeindefreiheit Europas“ führen könnte. Mag die Europäische Gemeinschaft ein „unvollendeter Bundesstaat“ i. S. W. Hallsteins sein, mag ihre „Finalität“ offen bleiben: Die Kommunen sind in all diesen Prozessen nicht nur innerstaatlich im Gesamteuropa Thema, sondern auch „Akteur“. Das gilt vor allem für die „Kulturpolitik in der Stadt“. Dass die Verfassunggeber so reiche Textbilder in ihrem Interesse geschaffen haben, zeichnet sie aus. Sie sollten stärker als bisher von der wissenschaftlichen Literatur beim Wort genommen werden und im Geiste des globalen, völkerrechtsoffenen Konstitutionalismus verarbeitet werden. Dieser kleine Festvortrag sucht die kommunale Selbstverwaltung als ein „Herzstück“ des nationalen und europäischen Verfassungsrechts auszuweisen. Man hat unser Jahrhundert als „Jahrhundert der Städte“ bezeichnet, da immer mehr Menschen weltweit vom Land in die Städte ziehen. Die Stichworte „urban government“, Projekte für den bundesdeutschen Wettbewerb „Die Soziale Stadt 2008“, „Metropolregionen“ mit einer Stadt als Mittelpunkt (z. B. Nürnberg) werden über die Wissenschaft hinaus fast populär. Die Gefahren seien nicht verschwiegen: Vermassung, Steigerung der Kriminalität, Armenquartiere etc. Auch die rasante Ökonomisierung und Globalisierung tun zum Teil ihr negatives Werk. Speziell Europa hat wie wohl kein anderer Kontinent die Chance, die kommunale Selbstverwaltung als Ort öffentlicher und privater Freiheit, gelebter unmittelbarer Demokratie und als Forum für Kultur und Kulturpolitik erfahrbar zu machen. Die europäische Integration vermittelt besondere Chancen. Die präsentierten Textstufen in Sachen kommunaler Selbstverwaltung national und im Europäischen Verfassungsrecht, die Leitidee des Europas der Kommunen und Regionen, die Metapher von der in den Kommunen beginnenden Demokratie „von unten nach oben“ (Verf. Bayern), was jedoch nicht hierarchisch gemeint sein darf. Die an der kommunalen Selbstverwaltung festgemachte Subsidiarität140 i. S. der katholischen Soziallehre und die Rückbesinnung auf das Potential von Stadtkulturen seit der griechischen Antike sollten uns einen Blick auf die Vertikale erleichtern: eben auf die erwähnten „Sterne“, zu denen die Prinzipien des „Gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ gehören. Die kommunale Selbstverwaltung ist ein Stück Europa im „Kleinen und Großen“. 139  Zur Kommunalreform des Freiherrn vom Stein: S. Haack, Städtewesen und Staatsgedanke, JöR 57 (2009), S. 301 ff. 140  Aus der Lit.: C. Calliess, Die „Freiheit“ der Kommunen als Testfall der „Subsidiarität Europas“, FS Merten, 2007, S. 305 ff. Allgemein: P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 169 ff.; J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968 (2. Aufl. 2001); J. Droege, Art. Subsidiarität, in: Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 2416 bis 2422.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

VII. Der soziale Rechtsstaat 1.  Die Formel vom „sozialen Rechtsstaat“ (vgl. Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) zu einem zusammengehörigen Verfassungsprinzip verbunden zu haben, ist eine Gemeinschaftsleistung der deutschen Rechtswissenschaft und Verfassungspraxis. Ihre Klassiker sind F. J. Stahl und R. v. Mohl einerseits, insofern sie im 19. Jahrhundert wissenschaftliche Vorkämpfer der Rechtsstaatsidee waren141, H. Heller andererseits, weil er im Blick auf die Weimarer Verfassung und allgemein den „Sozialstaat“ propagiert hat142. Kein Geringerer als Carlo Schmid, einer der einflussreichsten „Väter“ des Bonner Grundgesetzes, hat in den Verfassungsberatungen diese von H. von Mangoldt vorgeschlagene143 Formel H. Hellers ausdrücklich auf das „soziale(n) Pathos der republikanischen Tadition144 zurückgeführt. Recht betrachtet, ist der soziale Rechtsstaat eine kongeniale „Fortschreibung“ des alten Rechtsstaatsbegriffs für das 20. und 21. Jahrhundert, und heute fragt sich, ob es nicht einer erneuten Fortschreibung bedarf im Blick auf den kooperativen Verfassungsstaat, der Verantwortung auch für künftige Generationen hat und insofern zum Umweltschutz verpflichtet ist („ökologischer Rechts- bzw. Verfassungsstaat“145). Jedenfalls ist heute der „soziale Rechtsstaat“ ein Wesenselement146 im Ganzen des Verfassungsstaates, und dessen Textstufenentwicklung gibt dazu vielfältige Hinweise. So finden sich Textbelege in den meisten neueren Verfassungen, sei es in den Reformstaaten Osteuropas (Art. 1 Abs. 1 Verf. Mazedonien von 1991: „social state“; Art. 2 Verf. Polen von 1997 („demokratischer Rechtsstaat, der die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit verwirklicht“), sei es in Art. 1 Verf. Ukraine von 1996 („social, law-based state“) oder in Afrika (Art. 1 Abs. 1 Verf. Äquatorial-Guinea von 1991: „sozialer und demokratischer Staat“; Art. 2 neue Verf. Angola von 2010: „Demokratischer Rechtsstaat“; Präambel Verf. Madagaskar von 1995: „Rechtsstaat“; ebenso Art. 8 Abs. 1 Verf. Niger von 1996: „Rechtsstaat“). Der „Rechtsstaat“ bzw. die „rule of law“ wird ein Stück „Weltrechtskultur“, auch im Völkerrecht. aus der Lit.: K. Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 882. H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, 1930, S. 11; dazu aus der Lit. W. Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, 1968; A. Dehnhard, Dimensionen staatlichen Handelns, 1996, S. 33 ff. 143  Vgl. K. Stern, a. a. O., S.  878. 144  Parl. Rat, Stenographischer Bericht S. 172; vgl. hierzu Stern, a. a. O., S.  880. 145  Vgl. R. Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998; aus der Kommentarlit.: H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl., 2006, Art. 20a. 146  Vom „Wesensgehalt“ spricht auch C. Schmid, ebd. 141  Dazu 142  Vgl.



VII. Der soziale Rechtsstaat423

Die Formulierungen variieren, doch sie meinen im Grundsatz dasselbe: den auf soziale Gerechtigkeit verpflichteten Verfassungsstaat (z. B. Art. 1 Abs. 1 Verf. Ecuador von 2008). Dies ist eine zugegeben sehr abstrakte und allgemeine Formel, sie ist vielfältiger (auch politischer) Ausgestaltung und Interpretation fähig und bedürftig. Doch ergeben sich im Rechtsvergleich weltweit gewisse „Teilprinzipien“, die allen Verfassungsstaaten gemeinsam sind. Dazu gehören nach der formalen Seite hin der „Vorrang der Verfassung“147, die Bindung an das Gesetz (u. a. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung), nach der materiellen Seite hin ein gemeineuropäischer Standard an Menschenrechten, die Gewaltenteilung, die Staatshaftung, der Rechtsschutz durch unabhängige Richter etc. Bringt das deutsche Grundgesetz schon in Art. 20 Abs. 3 die Spannung von „Gesetz und Recht“ zum Ausdruck, auch zwischen Positivität und Wertung, so bedeutet das Attribut „sozial“ erst recht einen unmittelbaren Durchgriff auf (vorstaatliche) Gerechtigkeitselemente wie sozialer Ausgleich, Hilfe für die und Schutz der Schwachen („soziale Sicherheit“). Hatte die Bismarck’sche-Sozialgesetzgebung von 1881 in der Praxis schon früh mit einem Sozialversicherungssystem begonnen, dessen „Umbau“ wohl heute bevorsteht, so war die Sozialstaatsklausel auch ein Weg zur Integration der Arbeiterschaft in den Verfassungsstaat bzw. das parlamentarische System. Was in der angloamerikanischen Welt als „welfare state“ diskutiert und in den USA wohl eher schwach ausgeprägt ist (man denke nur an die Kontroverse um Obamas Gesundheitsreform, 2011  /  12), ist in den europäischen Verfassungsstaaten heute Gemeingut (wobei der heutige Streit um eine „europäische Sozialcharta“ der EU die Differenzen erkennen lässt). So zeichnen sich die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges in Europa ergangenen Verfassungen alle durch mehr oder weniger ausgefeilte Klauseln aus, die im Grunde den „sozialen Rechtsstaat“ meinen, so etwa in Italien (Art. 35, 36, 38 Verf. von 1947), aber auch in Griechenland (Art. 21 bis 23 Verf. von 1975), Spanien und Verf. Portugal von 1976 (Art. 1: „freie, gerechte und solidarische Gesellschaft“; Art. 63 Abs. 1: „Alle haben das Recht auf soziale Sicherheit“). Auch die Schweizer Kantonsverfassungen enthalten eine reiche Palette an dem Sozialstaatsgedanken verpflichteten Normtexten, so etwa Verf. Kanton Aargau von 1980 (§ 25 Abs. 1: „Der Staat fördert die allgemeine Wohlfahrt und die soziale Sicherheit“), später Verf. Bern von 1993 (Art. 29: „Sozialrechte“; Art. 30: „Sozialziele“) sowie Verf. Graubünden von 2003 (Art. 7: „Grundrechte und Sozialziele“) und KV Basel-Stadt von 2005 (§§ 14 und 15: „Grundrechtsziele“, „Staatsziele und Staatsaufgaben“). 147  Vgl. R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat Bd. 20 (1981), S. 485 ff. – Verfassungstextmaterialien finden sich z. B. in Präambel Verf. Südafrika von 1996, Art. 2 Verf. Kenia von 2010, Art. 7 Verf. Bangladesh von 1973/2004.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Nur Verfassungen, die wie die Niederlande von 1983 insgesamt in ihrem Regelungsprogramm eher karg bzw. zurückhaltend sind, bleiben bei bloßen Andeutungen (z. B. Art. 20 Abs. 2: „Vorschriften über den Anspruch auf soziale Sicherheit werden durch Gesetze erlassen“). Ein Blick auf Süd- und Mittelamerika ist demgegenüber sehr ergiebig bis hin zu sozialstaatlichen Überanstrengungen etwa in der Verf. Brasilien (1988), zum Teil auch (alte) Verf. Peru (1985), zuletzt Verf. Venezuela (1999), Verf. Bolivien (2007), Verf. Ecuador (2008). Vieles an Sozialstaatlichkeit kann erst der politische Prozess auf dem Weg der einfachen Gesetzgebung schaffen. Dennoch bedarf er „anregender“ Verfassungstexte. Ein solches Regelungsoptimum (oder -minimum) an sozialer Gerechtigkeit gehört heute zum Standard des Typus humanitärer „Verfassungsstaat“, etwa durch einklagbare Ansprüche auf das wirtschaft­liche Existenzminimum, des Gesundheitsschutzes, den Schutz der Familie und die Garantie auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Der universale Konstitutionalismus gewinnt hier Konturen, bis ins Völkerrecht. Eine vergleichende, tendenziell „universale“ Verfassungslehre kann nur einige Linien der Gehalte des Prinzips „sozialer Rechtsstaat“ aufzeigen. Sie werden im Folgenden anhand der deutschen Literatur und Rechtsprechung angedeutet und bedürfen naturgemäß der Ergänzung durch Gelehrte anderer nationaler Rechtskulturen, etwa der italienischen und lateinamerikanischen. Auch müssten Divergenzen und Konvergenzen zwischen dem kontinental-europäischen „Rechtsstaat“ und der US-amerikanischen vielfach rezipierten „Rule of Law“ erarbeitet werden. Unter diesem Vorbehalt das Folgende: 2.  Die Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips im deutschen Grundgesetz setzt sich aus einer Vielzahl von Elementen zusammen, die über das ganze GG verteilt textlichen Niederschlag gefunden haben: Das reicht von den Grundrechten148 (Art. 1–19 GG) einschließlich des Vorbehalts des Gesetzes149, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit150 und der Garantie des Rechtsschutzes151 (Art. 19 Abs. 4 GG) über die Gewaltenteilung (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), den Primat des Rechts152, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und den Vorrang der Verfassung153 (Art. 20 Abs. 3 GG), die Staatshaf148  K.

Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995, S. 83. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 632 f. 150  BVerfGE 23, 127 (133) m. w. N.; vgl. P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 61 ff.; differenzierend zu dieser und anderen Herleitungen des Prinzips der Verhältnismäßigkeit L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 267 f. 151  Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig, zu Art. 19 IV GG, Rz. 15 f. 152  K. Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995, S. 86 ff. 153  K. Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995, S. 88; P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 375 f. – Art. II Sect. 1 Verf. Palau (1979). 149  P.



VII. Der soziale Rechtsstaat425

tung154 (Art. 34 GG) und das richterliche Prüfungsrecht155 (Art. 100 Abs. 1 GG) bis hin zu den justiziellen Garantien der Art. 101 ff. GG. Manche dieser Themen finden sich jetzt in der EU-Grundrechte-Charta (Art. 47 bis 50) sowie in Grundrechtskatalogen neuer nationaler Verfassungen (z. B. Art. 31, 33, 34, 54 Verf. Kosovo von 2008 und zuvor Art. 29 bis 36 Verf. Serbien von 2006). Das Rechtsstaatsprinzip ist aber nach der Rechtsprechung des BVerfG „in der Verfassung nur zum Teil näher ausgeformt“156. Der Begriff des Rechtsstaates wird im deutschen Verfassungsrecht deshalb auch aus seiner generalklauselartigen Verwendung in Art. 28 Abs. 1 GG entwickelt. Der so verwendete Topos Rechtsstaat „bedarf der Konkretisierung je nach sachlichen Gegebenheiten“157 und ist in der Lehre und Rechtsprechung vielfältig ausdifferenziert worden. Dies gilt auch in anderen Verfassungsstaaten. Im Mittelpunkt der Diskussion steht dabei immer wieder die Rechtssicherheit158. Unter diesen Begriff fallen folgende Unteraspekte: das Problem der Rückwirkung von Gesetzen159, die Frage der Bestimmtheit von Normen, der Bestandskraft von Verwaltungsakten und der Rechtskraft von Urteilen, der Selbstbindung der Verwaltung und Erfordernisse der Öffentlichkeit160. Gemeinsam ist diesen Aspekten die stabilisierende Funktion des Rechtsstaatsprinzips, als „Form der Herstellung von Kontinuität“161. Ursprung dieser verschiedenen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen ist der Gedanke des Vertrauensschutzes, ja letztlich die (universale) „Idee der Gerechtigkeit“162. Methodisch bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Rechtsstaatsprinzip mitunter zueinander gegenläufige Aspekte in sich vereint163, insbesondere im Widerstreit zwischen formaler und materialer Gerechtigkeit. Es wurde deshalb von einer „Janusköpfigkeit“164 des Prinzips gesprochen. 3. Das Sozialstaatsprinzip (vgl. bereits Art. 20 Abs. 1 GG) wird im Grundgesetztext in einem Atemzug mit dem Rechtsstaatsprinzip genannt (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG spricht von den Grundsätzen des „sozialen Rechts154  P.

Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 388 ff. Badura, Staatsrecht, a. a. O., S. 384. 156  BVerfGE 65, 283 (290). 157  Ebd. 158  Vgl. E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rd. Nr. 81 bis 86; P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 90 ff. 159  Vgl. hierzu BVerfGE 13, 261 (272), st. Rspr., zuletzt etwa E 88, 384 (403 f.) sowie E 114, 258; 127, 1, 61; 128, 90 (106 f.). 160  P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 394 f. 161  K. Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995, S. 85. 162  BVerfGE 33, 367 (383) m. w. N. 163  BVerfGE 65, 283 (290). 164  P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 378. 155  P.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

staates“). Das wirft die Frage nach dem Verhältnis beider Prinzipien zueinander auf. So wie das Rechtsstaatsprinzip in sich Antinomien vereint, so wurden auch das Rechts- und Sozialstaatsprinzip oft als Gegensatzpaar ­begriffen. Die Lehre hat jedoch die von E. Forsthoff165 behauptete Unvereinbarkeit Stück für Stück widerlegt bzw. abgemildert166. Dabei ist der Sozialstaatsgedanke jedoch zu einem denkbar unbestimmten Staatsziel („Blankettnorm“167) herausgebildet worden, bei dessen Ausgestaltung das BVerfG dem Gesetzgeber „einen weiten Raum zur freien Gestaltung“168 zugesteht. Immerhin ist mit dem Sozialstaatsprinzip i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG nach und nach eine verfassungsrechtliche Garantie des Existenzminimums begründet worden169. Darüber hinaus spielt das Sozialstaatsprinzip als Argumentationstopos im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes170, diverser Freiheitsrechte171 und sogar des Demokratieprinzips172 eine Rolle.

VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht: Das offene Kulturkonzept Einen ersten Zugang zum Verhältnis von Verfassung und Kultur gibt das Kulturverfassungsrecht als die Summe jener Verfassungsnormen, die die kulturellen Angelegenheiten im engeren Sinne (bundes- oder landes-)verfassungsrechtlich umfangen. In der Tiefe freilich erweist sich die weltoffene Verfassung im Ganzen als eine Errungenschaft „aus Kultur“ und „als Kultur“. Gleiches gilt für die Weltgesellschaft und die Teilverfassungen des Völkerrechts, wie sie in den UNO- bzw. UNESCO-Konventionen sichtbar werden. 1. Sachliche Teilgebiete in Deutschland Wie auch für das Kulturverwaltungsrecht sind danach zunächst jene drei bereits genannten sachlichen Hauptbereiche Bildung (Art. 12 i. V. m. Art. 3, 165  E. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), S. 8 ff., 33. Grundlegende Lit.: J. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999. 166  K. Hesse, Grundzüge, 20. Aufl. 1995, S. 95 spricht von der Rechtsstaatlichkeit als Grenze der Sozialstaatlichkeit. 167  K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 914. 168  BVerfGE 18, 257 (273); 82, 60 (79 f.). 169  Vgl. BVerfGE 1, 97 (104) einerseits, E 40, 121 (133) andererseits; zuletzt E 82, 60 (85); 120, 125; 122, 39; 125, 175. 170  H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, HStR Bd II, 3. Aufl. 2004, § 28 Rd. Nr. 34 bis 42; s. auch BVerfGE 94, 241 (262). 171  Ebd., § 28 Rd. Nr. 113 bis 115. 172  Ebd., § 28 Rd. Nr. 101 bis 108.



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht427

20 Abs. 1 GG, einschließlich Erwachsenenbildung, Art. 139 Verf. Bayern, und Privatschulfreiheit, Art. 30 Verf. Rheinland-Pfalz), Kunst und Wissenschaft gemeint (Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 18 Verf. Nordrhein-Westfalen). Konstituierende Gemeinsamkeiten dieser Kulturbereiche, die für die Zweckmäßigkeit des Begriffs „Kulturverfassung“ sprechen, sind das besondere Maß an Autonomie, Freiheit, Distanz zur Zwangsgewalt des Staates mit der Folge, dass das Selbstverständnis der am kulturellen Prozess Beteiligten für die Interpretation der Kulturverfassung eine besondere Bedeutung erlangt173; deshalb lässt sich auch das „Staatskirchenrecht“ (Art. 140 GG, Art. 132–150 Verf. Bayern, Art. 41–48 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 39–41 Verf. Thüringen) – besser: „Religionsverfassungsrecht“ – als „spezielles“ Kulturverfassungsrecht begreifen. Die Gemeinsamkeiten rühren daher, dass Kulturverfassungsrecht sich auf jenes skizzierte Alltagsverständnis von Kultur im engeren Sinne bezieht. (Das Völkerrecht wäre eigens zu behandeln.) 2. Rechtstechnische Erscheinungsformen a) Rechtstechnische Vielfalt der Kulturverfassungsnormen in den „alten“ Verfassungsstaaten Rechtstechnisch begegnen Kulturverfassungsnormen in den „alten“ Verfassungsstaaten in verschiedener Gestalt: aa)  in allgemeinen oder speziellen Kulturstaatsklauseln (z. B. Art. 3 Verf. Bayern: Bayern ist ein „Kulturstaat“; Art. 139 ebd.: Auftrag zur Erwachsenenbildung; Art. 1 S. 2 Verf. Sachsen von 1992: „der Kultur verpflichteter sozialer Rechtsstaat“; Art. 34 Abs. 2 S. 1 Verf. Brandenburg von 1992: „Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert“; s. auch Art. 29 Abs. 1 S. 2 GG: „kulturelle Zusammenhänge“); im europäischen Ausland zuletzt Art. 9 Verf. Kosovo von 2008: „Cultural and Religious Heritage“ – ein Stück „Religionsfreundlichkeit“; bb) in Erziehungs- bzw. Bildungszielen (z. B. Art. 56 Abs. 3, 4 Verf. Hessen: Toleranz) oder Art. 27 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt von 1992: „Verantwortung … gegenüber künftigen Generationen zu tragen“); im europäischen Ausland zuletzt Art. 71 Verf. Serbien von 2006: „Right to education“, ebenso Art. 47 Verf. Kosovo von 2008; cc) in Kompetenzkatalogen (Aufgabennormen) des Bundes (Art.  74 Ziff. 5, 7, 13, 75 Ziff. 1a a. F. GG) oder des Landes (Art. 141 Verf. Bayern; 173  Zur Relevanz des Selbstverständnisses vgl. BVerfGE 24, 236 (247  f.). – s. noch BVerfGE 54, 148 (155 f.), Fall Eppler. Allgemein M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Art. 30 Verf. Thüringen von 1993); im europäischen Ausland angedeutet in Art. 7 Verf. Kosovo von 2008: „Values“, Art. 58 ebd.: „promote a spirit of tolerance“; dd)  in Grundrechtsverbürgungen (Stichwort: kulturelle (Abwehr-)Freiheiten und ihre leistungsstaatliche Förderung – kulturverfassungsrechtliches Grundrechtsverständnis, z. B. Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 7 Verf. MecklenburgVorpommern); im europäischen Ausland Art. 48 Serbien von 2006: „Promotion of respect for (cultural) diversity“ (hier dürfte das UNESCO-Abkommen zur kulturellen Vielfalt von 2005 gewirkt haben); ee) in Präambeln sowie in Eidesklauseln und Feiertagsgarantien, z. B. Präambel Verf. Kosovo: „homeland to all of its citizens“, Art. 32 Verf. Hessen von 1946, Art. 3 Verf. Baden-Württenberg von 1953, Art. 14 Verf. Brandenburg von 1992; ff) im sog. „kommunalen Kulturverfassungsrecht“174 als Teil des kulturellen Trägerpluralismus (vgl. Art. 10 Abs. 4, 83 Abs. 1, 140 Verf. Bayern, Art. 36 Verf. Sachsen-Anhalt). Im Übrigen lässt sich das Kulturverfassungsrecht strukturieren durch die Unterscheidung zwischen individualrechtlichem Kulturverfassungsrecht (z. B. subjektive Freiheit des Künstlers und Wissenschaftlers: Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 10 Verf. Hessen; Recht auf Bildung: Art. 27 Verf. Bremen, Art. 29 Abs. 1 Verf. Brandenburg), objektiv-institutionellem Kulturverfassungsrecht (z. B. Einrichtungen der Volks- und Erwachsenenbildung: Art. 32 Verf. Saarland, Art. 17 Verf. Nordrhein-Westfalen; Feiertagsschutz: Art. 22 Verf. Berlin; Anstaltsseelsorge: Art. 54 Verf. Hessen; Kunstförderung: Art. 7 Verf. Schleswig-Holstein) und korporativem Kulturverfassungsrecht, etwa der Garantie des Wirkens von sozio-kulturellen Verbänden (z. B. Art. 37 Verf. Nordrhein-Westfalen), vor allem der Kirchen und Religionsgesellschaften (Art. 51 Verf. Hessen, Art. 137 WRV i. V. m. Art. 140 GG) sowie teilhaberechtlichem Kulturverfassungsrecht (z. B. Art. 11 Abs. 1 Verf. Sachsen: „Die Teilnahme an der Kultur in ihrer Vielfalt und am Sport ist dem gesamten Volk zu ermöglichen“). Naturgemäß gibt es hier viele Zwischen- und Mischformen bzw. Komplementärverhältnisse. b) Die „Entwicklungsländer“ auf dem Felde des Kulturverfassungsrechts Dieses Feld zeichnet sich durch besondere Dichte, hohe Differenziertheit, viel Phantasie und manche Neuschöpfung aus, ohne doch die Zugehörigkeit 174  Ausführlich P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979, S.  21 ff.



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zum (universalen) Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ zu verleugnen. Das kann nicht überraschen. Ist doch die Kultur der Bereich, in dem die Staaten in Übersee (vor allem in Lateinamerika) ihre nationale Identität finden und behaupten, bewahren und weiterentwickeln müssen. Ohne das Wirtschaftsverfassungsrecht als ökonomische, „materielle“ Grundlage für den Prozess der nationalen Entwicklung dieser Länder unterschätzen zu wollen: Angesichts des Ziels der ökonomischen „Angleichung“ der Staaten unter dem Stichwort „Wohlfahrtentwicklung“ kann das einzelne Land heute seine Individualität, sein Profil, seine Identität nur im Kulturellen und vom Kulturellen her finden – bei aller „interkontinentalen Ausgleichskultur“ unserer Tage (H.-G. Gadamer). Das Zugleich der Bewahrung und Entwicklung des Eigenen bei aller Öffnung zur Weltkultur (vorbildlich die Erziehungsziele in Art. 73 Verf. Guatemala) ist die sog. „Seinsfrage“ der „Entwicklungsländer“. Darum muss gerade das Kulturverfassungsrecht spezifische Textdifferenzierungsleistungen vollbringen. Die „Entwicklung“ kann ja von der einzelnen Na­tion und von ihren Bürgern nur „ausgehalten“ werden, wenn einerseits das kulturelle Erbe retrospektiv bewahrt wird, durch entsprechende Schutz- und Identitätsklauseln (z.  B. nationaler Kulturgüterschutz175), auch Sprachen-Artikel176, andererseits prospektiv an der (Weiter-) Entwicklung des Kulturellen gearbeitet wird: via Erziehungsziele, kulturelle Teilhabe- und Zugangsrechte, beginnend mit der Beseitigung des Analphabetentums und endend in einem pluralistischen Kulturkonzept. Der Versuch einer als „juristische Text- und Kulturwissenschaft“ antretenden vergleichenden Verfassungslehre kann und muss sich eben hier bewähren! – im Blick auf die ganze Welt bzw. alle Kontinente: universal. aa) Kulturelles-Erbe- und Identitätsklauseln allgemeiner und spezieller Textfassung Kulturelles-Erbe- bzw. Identitätsklauseln sind ein Charakteristikum der Entwicklungsländer. Sie müssen ausdrücklich schützen, was die Nationen der alten Verfassungsstaaten selbstverständlich, oft ungeschrieben als ihre Identität zugrundegelegt haben und was in Europa als „Verfassungskultur“ gelten kann bzw. im Rahmen der „Einheit der Rechtsordnung“ in vielen Spezialgebieten des einfachen Rechts rechtskulturell ausgeformt ist. Der Reichtum der Textvarianten ist groß und verdient unseren Respekt. Gewiss wirkte Art. 46 der Satzung der OAS von 1967 in seiner Bekenntnisnorm als 175  Dazu K. Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005; P. Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011. 176  Dazu mein Beitrag: Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten, FS Pedrazzini, 1990, S. 105 ff. – s. noch unten S. 431 f.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Stimulans: „Sie (sc. die Mitgliedstaaten) fühlen sich jeder für sich und gemeinsam verpflichtet, das kulturelle Erbe der amerikanischen Völker zu wahren und zu pflegen.“ (Alte) Verf. Peru formuliert (1979) schon in ihrer Präambel: „Getragen von dem Vorsatz, die historische Persönlichkeit des Vaterlandes, die sich aus den vornehmsten Werten vielerlei Ursprungs zusammensetzt und aus ihnen hervorgegangen ist, aufrechtzuerhalten und zu festigen, ihr kulturelles Erbe zu verteidigen und die Beherrschung und Bewahrung ihrer natürlichen Ressourcen zu sichern.“

Speziellere Schutzklauseln dienen den „Eingeborenenkulturen“, der na­ tionalen Folklore, Volkskunst und dem Kunsthandwerk (Art. 34), dem „Kulturbesitz der Nation“ (Art. 36). Hinzuzunehmen ist der Integrations-Artikel 100: „Peru fördert die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Integration der Völker Lateinamerikas“ (regionale Völkerrechtspolitik) und die Inpflichtnahme der gesellschaftlichen und privaten Kommunikationsmittel für „Bildung und Kultur“ (Art. 37). Verf. Guatemala (1985) geht diesen Weg weiter, sie erfindet überdies manche Variante, etwa in der Präambel: „Wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an“ und in Art. 58 zur „kulturellen Identität“: „Der Staat erkennt das Recht der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und Gebräuche an“ sowie in weiteren Normen zum Schutz der „nationalen Kultur“ (Art. 59), des „nationalen kulturellen Erbes“ (Art. 60, s. auch Art. 61), der Volkskunst und Folklore (Art. 62) und der „ethnischen Gruppen“ (Art. 66). Verf. Brasilien formuliert (1988) eine Schutzklausel in Bezug auf „die indianischen und afrobrasilianischen Volkskulturen sowie die Kulturen der übrigen Gruppen, die am zivilisatorischen Prozess der Nation teilhaben“ (Art. 215 § 1). Sehr detailliert wird der „brasilianische Kulturbesitz“ geschützt (§ 216): von den „Ausdrucksformen“ über die „Schöpfungs-, Werkund Darstellungsmethoden“ bis zu „sonstigen künstlerisch-kulturellen Ausdrucksbereichen“. Letzteres kann unschwer als allgemeiner Beitrag zur Kontroverse um den Kunst- und Kulturbegriff angesehen werden. Verf. Ecuador (2008) formuliert das Selbstverständnis mit den Worten „intercultural, plurinational“ (Art. 1), sie garantiert jedem seinen eigene „kulturelle Identität“ und Teilhabe (Art. 21) und verlangt vom Staat, den „interkulturellen Dialog“ zu fördern (Art. 28 Abs. 2). Auch die Verfassungen von Bolivien (2007) und zuvor Venezuela (1999) sind von Kulturklauseln geprägt (z. B. Präambel, Art. 9, 119 bis 122, 126 in Sachen „native Peoples“). In Afrika zeichnet sich Verf. Kenia (2010) durch reichhaltige Kulturartikel aus: mit vielen Dimensionen von der Kultur als Grund der Nation bis



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht431

zur Kulturförderung, dem kulturellem Erbe und dem Schutz der Eingeborenen. Auch an die kulturelle Teilhabe ist gedacht (Art. 44). Das UNESCOAbkommen zur kulturellen Vielfalt (2005), zur immateriellen Kultur (2003) dürfte überall viele Textelemente geliefert haben. bb) Sprachen-Artikel Die klassischen Nationalstaaten tun sich auch als Verfassungsstaaten mit der Sprachenfreiheit, etwa i. S. der vorbildlichen Schweizer Tradition und Gegenwart, schwer177. Umso größere Beachtung verdienen manche „Entwicklungsländer“. So sehr sie eine oder mehrere Staatssprachen festlegen, so sehr bleiben sie um andere Sprachen ihrer Bürger besorgt: wohl im Bewusstsein dessen, dass „Eingeborenensprachen“ ein wesentliches Element ihres „kulturellen“ bzw. „multikulturellen“ Erbes sind. Je stärker sie sich zu ihrem kulturellen Erbe bekennen, desto mehr müssen sie auf Bewahrung und Förderung der Sprachenvielfalt achten. Das lässt sich etwa am Beispiel Perus belegen. Art. 38 der (alten) Verf. Perus von 1979 lautet: „Der Staat fördert das Erlernen und die Kenntnis der Eingeborenensprachen. Er garantiert das Recht der Quechua-, Aymara- und übrigen Eingeborenensprachen, eine Grundbildung auch in ihrer eigenen Sprache oder Mundart zu erhalten.“

Eine ähnlich innere Entsprechung zwischen Kulturelles-Erbe-Klauseln und Sensibilität für Sprachenvielfalt gelingt der Verf. von Guatemala (1985). Ihre vorbildlich profilierte kulturelle Identitätsklausel in Art. 58 (Recht der „Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und ihrer Gebräuche“) findet ihre Fortsetzung in den Worten des Art. 66: „Der Staat anerkennt, respektiert und fördert ihre (sc. der verschiedenen ethnischen Gruppen) Lebensformen … sowie den Gebrauch von Idiomen und Dialekten“ sowie in Art. 76 Abs. 2: „In Schulen, die in Gebieten, in denen vorwiegend Eingeborene leben, liegen, wird eine zweisprachige Ausbildung stattfinden.“ Frankreich, das Land der Menschenrechte, könnte von den Entwicklungsländern z. B. für seine Sprachenpolitik im Elsaß viel lernen. Noch 1981 hatte F. Mitterrand als Präsidentschaftsbewerber in der Südbretagne gesagt: „Die Zeit ist gekommen für ein Statut der Sprachen und Kulturen in Frankreich, das diesen wirkliche Lebensfähigkeit gewährt. Es ist die Zeit gekommen, ihnen weit die Türen zu öffnen zu Schule, Radio und Fernsehen, auf dass sie den Raum finden im öffentlichen Leben, den sie brauchen und der ihnen zusteht“. Frankreich müsse „endlich damit aufhören, das letzte Land 177  Einzelheiten in meinem Beitrag: Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten, FS Pedrazzini, 1990, S. 105 ff.; W. Kahl, Sprache als Kultur-und Rechtsgut, VVDStRL 65 (2006), S. 368 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Europas zu sein, das seinen Völkern die elementaren kulturellen Rechte verweigert“. Bis heute blieb Frankreich in vielem jedoch bei seiner jakobinischen Tradition! (s. aber jetzt Art. 75-1 Verf. 1958 / 2008, der die Regionalsprachen zur Identität Frankreichs macht („patrimoine“)). In der Türkei müssen die Kurden mühsam um ihre eigenen Sprache ringen (etwa in Schulen, in den Medien und im Fernsehen). Der Respekt vor der kulturellen Identität der Bürger stände jedem Verfassungsstaat von heute gut an. Auch wenn er textlich noch auf der älteren Stufe des „egozentrischen“ Nationalstaates stehen geblieben ist, könnte er subkonstitutionell (etwa einfachgesetzlich und administrativ) nachholen, was bislang versäumt wurde. Die „Entwicklungsländer“ sind in ihrer Textstufenentwicklung hier deutlich „vorne“, und ihre vorbildlichen Verfassungen können den alteuropäischen Verfassungsstaaten manche „Entwicklungshilfe“ leisten. In Sachen kulturelle Freiheit und Identität der Bürger auf dem Felde der Sprachen sind diese „unterentwickelt“. Sie, die klassischen Verfassungsstaaten, müssten zu aktiven Rezipienten werden, die Entwicklungsländer haben höchst produktive „Vorgaben“ geschaffen. Inwieweit dem ihre eigene Verfassungswirklichkeit schon gerecht wird, kann hier offen bleiben. cc) Erziehungsziele „Leit-Artikel“ der späteren verfassungstextlichen Kodifizierungen von Erziehungszielen (wohl auch in den „Entwicklungsländern“) ist der bereits erwähnte Art. 148 WRV: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, dass die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden. Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung.“

Die westdeutschen Länderverfassungen haben die Textstufenentwicklung der innerverfassungsstaatlichen Erziehungsziele nach 1945 kräftig vorangetrieben, etwa in Sätzen wie: „Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde der Menschen“ (Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern), Vorbereitung zum „selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe“ (Art. 56 Abs. 4 Verf. Hessen) und vor allem durch Art. 26 Ziff. 4 Verf. Bremen: „Die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker“. Wie stark die Erziehungsziele in die Dynamik der Weiterentwicklung des Typus des Verfassungsstaates integriert sind, zeigt sich zuletzt darin, dass jüngst die



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(westdeutschen) Länderverfassungen die Änderungen in Sachen rechtlicher Umweltschutz aufnahmen (Art. 3 Abs. 2, 141 Verf. Bayern; Art. 11a Verf. Bremen), im „soft law“ der Erziehungsziele pädagogisch „gleichzogen“ (vgl. Art. 131 Abs. 2 n. F. Verf. Bayern: „Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt“ bzw. Art. 26 Ziff. 5 Verf. Bremen: „Die Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt“). Alle ostdeutschen Verfassungen haben 1992 / 93 „wahlverwandt“ getextet. Diese innere, doppelt, d. h. rechtlich und pädagogisch abgestützte Entwicklungslinie des kooperativen Verfassungsstaates besitzt ein Gegenstück: in Textelementen der internationalen Menschenrechtswerke, soweit sie die Erziehung zu den Menschenrechten thematisieren. Pionierhafter „Leit-Artikel“ ist insoweit Art. 26 Ziff. 2 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948: „Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und rassischen oder religiösen Gruppen fördern und die Tätigkeit der Vereinten Natio­ nen zur Aufrechterhaltung des Friedens begünstigen.“

Die UNESCO hat in Art. 1 Abs. 1 ihrer Satzung von 1945 ebenfalls eine Textbasis für Menschenrechtserziehung geschaffen und sie verfolgt dieses Ziel u. a. durch die Proklamation eines „Tages der Menschenrechte“. Es ist die spezifische Leistung der „Entwicklungsländer“, jüngst eine Textstufendifferenzierung geschaffen zu haben, die die konstitutionellen Erziehungsziele der beschriebenen Art mit den internationalen Menschenrechtstexten verschmilzt: im Sinne einer Erziehung zur Verfassung bzw. zu den Grund- und Menschenrechten. Die Hintergründe liegen auf der Hand: Entwicklungsländer müssen sich als kooperative Verfassungsstaaten nicht zuletzt über die kulturelle Sozialisation bzw. Erziehung fundieren, und der juristische Menschenrechtsschutz bedarf dringend der „Flankierung“ durch den pädagogischen. Generationenlange Lernprozesse, etwa in Frankreich seit 1789, müssen möglichst rasch erzieherisch nachgeholt werden. Verf. Peru (1979) gelingt all dies in den Textstellen: „Sie (sc. die Bildung) ist an den Grundsätzen der sozialen Demokratie ausgerichtet“ (Art. 21 Abs. 2 S. 2). „Sie fördert die nationale und lateinamerikanische Integration sowie die internationale Solidarität“ (Art. 22 Abs. 1 S. 2) und: „Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen und militärischen Bildungseinrichtungen und in allen Stufen obligatorisch“ (Abs. 3 ebd.). Ebenso prägnant ist Art. 72 Verf. Guatemala (1985): „Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Kultur. Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte.“

Verfassungsstaatliche Verfassungen sowie die Grund- und Menschenrechte als Erziehungsziele zu denken178, in der deutschen Lehre bislang unter dem Stichwort „Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele“ gewagt, besitzt nunmehr dank der „Entwicklungsländer“ eine verfassungstextliche Argumentationsbasis – hinzu kommt die Verpflichtung zur Förderung des Menschenrechtsgedankens nach Art. 25 der afrikanischen Banjul Charta von 1982 („verpflichtet, durch Unterricht, Ausbildung und Publikationen die Achtung gegenüber den in dieser Charta enthaltenen Rechten und Freiheiten zu fördern … und ferner dafür zu sorgen, dass die Freiheiten und Rechte sowie die ihnen korrespondierenden Pflichten verstanden werden“). Künftige Verfassungsänderungen bzw. Verfassunggebungen der „entwickelten“ Staaten sollten davon lernen. Man denke auch an neuere Verfassungen in Osteuropa, auf dem Balkan, (und seit 2011 in Arabien), die ihren wiederzugewinnenden Menschenrechtsstandard textlich doppelt absichern müssen: rechtlich durch juristischen Grundrechtsschutz und pädagogisch durch Verfassungstexte (mindestens aber einfache Gesetze) zu Grund- und Menschenrechten „als“ Erziehungszielen! Vielleicht darf man sogar das große Wort „Erziehung des Menschengeschlechts zum Verfassungsstaat“ wagen: als Dienst am universalen Konstitutionalismus, auch im Kontext des universalen Völkerrechts. dd) Kulturelle Grundrechte Die Fundierung der „Entwicklungsländer“ von ihrer Kultur her schließt auf der heutigen Lebensstufe des weltoffenen Verfassungsstaates kulturelle Grundrechte nicht aus sondern ein. Während etwa in Deutschland das Kulturverfassungsrecht in der Wissenschaft erst seit Ende der 70er Jahre systematisch „aufgeschlossen“ wurde, lassen sich aus den neueren Verfassungen der „Entwicklungsländer“ Textelemente nachweisen, die eine große Bereicherung im Rahmen einer Verfassungstheorie des Kulturverfassungsrechts sind. Zu unterscheiden sind thematisch neue bzw. fortentwickelte kulturelle Grundrechte und Verfeinerungen der Dimensionen kultureller Freiheiten (neben der abwehrrechtlichen die objektiv- und leistungsrechtliche). Hier einige weltweite Beispiele: Zunächst zu den Themen: Eine allgemeine Kulturstaatsklausel im Gewand eines subjektiven Grundrechts findet sich in Art. 21 Abs. 1 (alte) Verf. Peru (1979): „Das Recht auf Bildung und Kultur ist der menschlichen 178  Textbelege aus neuesten Verfassungen: Art.  79 Verf. Bolivien von 2007; Art. 27 Verf. Ecuador von 2008. Zum Ganzen schon oben S. 360 ff.



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Person inhärent“. Eine vorbildliche Präzisierung der Grundrechte auf Bildung leistet Abs. 2 ebd. in den Worten: „Die Bildung hat die vollständige Entwicklung der Persönlichkeit zum Ziel. Sie ist an den Grundsätzen der sozialen Demokratie ausgerichtet. Der Staat anerkennt und garantiert die Freiheit des Unterrichts.“

Die Bildungsinhalte in Art. 22 („Kenntnis und praktische Anwendung der Geisteswissenschaften, der Kunst, der Naturwissenschaften und der Technik“) könnten in einer europäischen Verfassung nicht treffender formuliert werden. Das „kongeniale“ Grundrecht auf kulturelle Identität nach Art. 58 Verf. Guatemala („Der Staat erkennt das Recht der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und ihrer Gebräuche an“) wurde bereits gewürdigt. Thematisch präzisierend ist auch Art. 2 Abs. 4 a. E. Verf. Peru: „Die Rechte auf Information und freie Meinung umfassen das Recht auf Gründung von Kommunikationsmitteln“. (Hinzu gehört die Musikpädagogik.) Ein Wort zu den verschiedenen Dimensionen kultureller Grundrechte. Die objektivrechtliche begegnete schon im Kontext der Analyse der (kulturellen) Staatsaufgaben, erwähnt sei Art. 63 Verf. Guatemala („Der Staat schützt den freien kreativen Ausdruck, er fördert die wissenschaftliche und intellektuelle sowie künstlerische Entwicklung und ihre berufsmäßige und wirtschaftliche Grundlage“) oder Art. 34 (alte) Verf. Peru („Der Staat schützt und gibt Anreize für die Hervorbringung der Eingeborenenkulturen …“; Art. 38: „Der Staat fördert die Leibeserziehung und den Sport …“), auch Art. 26 (alte) Verf. Peru („Beseitigung des Analphabetentums als vordringliche Aufgabe des Staates“). Die leistungsstaatliche Teihabe-Seite verdichtet sich in Art. 57 Verf. Guatemala zu einem Verfassungstext, der voll auf der Höhe der europäischen Dogmatik steht und sogar noch eine entwicklungsländer-typische Komponente enthält: „Jede Person hat das Recht, frei am kulturellen und künstlerischen Leben der Gemeinschaft teilzuhaben und in gleicher Weise am wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt der Nation beteiligt zu sein.“

Art. 215 Verf. Brasilien (1988) normiert: „Der Staat garantiert allen die volle Ausübung der kulturellen Rechte sowie den Zugang zu den Quellen der nationalen Kultur; er unterstützt und fördert den Wert der Kultur und die Verbreitung der Kultur in allen ihren Äußerungen.“

Es ist gewiss keine Minderung der Leistung der „Entwicklungsländer“179, wenn an Vorbildtexte internationaler Menschenrechtswerke erinnert wird; 179  Weitere ergiebige Textbeispiele: Art. 98 bis 111 Verf. Venezuela von 1999, Art. 77 bis 90 Verf. Bolivien von 2007, Art. 21 bis 29, 57, 377 bis 380 Verf. Ecuador von 2008, Art. 11, 44 Verf. Kenia von 2010.

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etwa an Art. 27 Ziff. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 („Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben“). Denn schon die juristische Positivierung und konsequente Integrierung in die Systematik und Formtypik der eigenen individuellen Verfassung ist eine Respekt erheischende Leistung, ganz abgesehen von den inhaltlichen Verfeinerungen und Adaptierungen an die historische Biographie der eigenen Nation. Schließlich ist daran zu erinnern, dass internationale und nationale Grundrechtsprinzi­ pien gemeinsam und gleichermaßen intensiv an den Entwicklungsstufen des Typus „Verfassungsstaat“ arbeiten. Der Verfassungsstaat wird – jedenfalls in einzelnen Textelementen – so zu einem wahrlich universalen Projekt der Völkergemeinschaft, und die Menschenrechte werden zur „universalen Zivilreligion“ unserer Zeit. Darum das Wagnis dieses Buches, Vorstudien zu einer „universalen Verfassungslehre“ in weltbürgerlicher Absicht zu liefern. ee) Kulturelle Pluralismus-Klauseln Schon die Normierung kultureller Freiheiten trägt das unverzichtbare Moment der Offenheit in das Kulturverfassungsrecht der „Entwicklungsländer“. Und die Feststellung der Verpflichtung auf das „kulturelle Erbe“ wäre eine unfruchtbare historisierende Status-quo-Garantie, würde nicht der Aspekt der Vielfalt des Kulturellen in Vergangenheit und Zukunft berücksichtigt. Die „Entwicklungsländer“ gehen hier verfassungstextlich den richtigen Weg zwischen Verarbeitung der eigenen Kulturgeschichte und Öffnung für Neues. Das Stichwort vom „offenen Kulturkonzept“180, vom „pluralistischen Kulturverständnis“ lässt sich auch für die „Entwicklungsländer“ belegen – obwohl sie so intensiv um ihre kulturelle Identität ringen müssen. Hier einige Textbelege: Kulturelle Vielfalt liegt schon in den Worten nach etwa Art. 34 (alte) Verf. Peru zugrunde (Schutz der „Eingeborenenkulturen“), wie überhaupt Kultur mehrfach im Plural auftritt. Die Pluralität der Erziehungsziele ist in Art. 72 Abs. 1 Verf. Guatemala am besten auf den Punkt gebracht („Die Erziehungsziele sind … die Kenntnis über die Welt und die nationale und internationale Kultur“). Bemerkenswert ist der kulturelle Trägerpluralismus, der sich in einzelnen Textstellen Bahn bricht, etwa in Art. 85 Verf. Guatemala (Anerkennung der Privatuniversitäten mit dem Ziel, zur „wissenschaftlichen Entwicklung, zur Verbreitung der Kultur sowie zum Studium und zur Lösung der nationalen Probleme“ beizutragen), oder in Gestalt des Verfas180  P. Häberle, erstmals in: ders., Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 22, 34 f.



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sungsauftrags zur Förderung der „Privatinitiative im Erziehungswesen“ (Art. 80 Verf. Costa Rica). Im Übrigen verbürgen allgemein PluralismusKlauseln, etwa nach der Art Perus (Präambel: „offene Gesellschaft“, ähnlich Präambel Brasiliens: „bürgerliche, pluralistische und vorurteilsfreie Gesellschaft“, s. auch Art. 1 Ziff. V, ebd.: „politischer Pluralismus“) Pluralismus auch im kulturellen Feld. Dies dürfte auch die häufige Verwendung des Begriffs „intercultural“ in Verf. Ecuador von 2008 meinen (Art. 1, 27, 28, 83 Ziff. 10, Art. 358). Ein „inspirierender“ Text darf in Art. 3 lit. k OAS-Satzung von 1967 erblickt werden: „Die geistige Einheit des Kontinents beruht auf der Achtung vor den kulturellen Werten der amerikanischen Länder und erfordert deren enge Zusammenarbeit für die hohen Ziele der Zivilisation.“

Und eine Kulturstaatsklausel eigener Art, die die Entwicklungsländer mit einschließt, aber auch die Individuen, sei zuletzt in Erinnerung gerufen. Art. 16 OAS-Satzung lautet: „Jeder Staat hat das Recht auf freie und natürliche Entfaltung seines kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebens. Er soll dabei die Rechte des Individuums und die Grundlagen allgemeiner Moral achten.“

c) Das offene Kulturkonzept als Grundlage Grundlage der erwähnten Gegenstandsbereiche des Kulturverfassungsrechts ist ungeachtet seines an sich engeren Begriffs von Kultur ein offenes Kulturkonzept, das – in Abkehr von einem (nur) „bildungsbürgerhaften“ Kulturverständnis – „Kultur für alle“ (H. Hoffmann)181 und „Kultur von allen“ als empirische Größe und als normative Leitlinie ernst nimmt. Der weite, vielfältige, offene Kulturbegriff umschließt die bürgerliche Traditions- und Bildungskultur ebenso wie „Populär-“ und Breitenkultur, wie Alternativ-, Sub- und „Gegenkulturen“. Kultur bzw. der hier vertretene Kulturbegriff wirken zudem in den beruflichen Alltag hinein wie aus dem beruflichen Alltag heraus, neben seiner herkömmlichen und beizubehaltenden Situierung im Freizeitbereich. Das Nebeneinander, der Austausch, auch die Konkurrenz von Hochkultur, Volkskultur und Subkultur, von Konsumund Aktivkultur ist eine Garantie für kulturelle Vielfalt. Diese lebt aus dem gerade „im“ Bundesstaat ausgebauten Kulturverfassungsrecht mit seinen Elementen der kulturellen Freiheit, des kulturellen Pluralismus, der kulturellen Gewaltenteilung: Dieses offene Kulturverständnis ist Konsequenz der 181  Hilmar Hoffmann, Kultur für alle, 1979, 2. Aufl. 1981; P. Häberle, Kultur­ politik in der Stadt, 1979.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

pluralistischen Struktur des politischen Gemeinwesens. Viele Verfassungen sprechen (ganz i. S. von Poppers Klassikertext) von „offener Gesellschaft“ (z. B. Präambel Verf. Südafrika von 1996, Art. 19 Verf. Serbien von 2006, Art. 55 Abs. 2 Kosovo von 2008, Art. 20 Abs. 4 lit. a Verf. Kenia von 2010), das stimmt mit dem offenen Kulturkonzept überein. In multiethnischen Ländern wie auf dem Balkan und plurinationalen (kooperativen) Verfassungsstaaten wie in Südamerika ist all dies unverzichtbar und es spiegelt sich, wie gezeigt, auch in den einschlägigen Verfassungstexten. Entscheidend bleibt der kultur-anthropologische Ansatz: Der Mensch hat verschiedene kulturelle Bedürfnisse, ihnen muss das Verfassungsrecht einen optimalen Rahmen geben. Das Recht, auch Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, ist insofern nur Instrument! Der Mensch lebt nicht von der Kultur allein, aber er lebt doch wesentlich auch auf Kultur hin und von der Kultur früherer und heutiger Generationen (i. S. eines kulturellen Generationenvertrages, der seinerseits eine kulturelle Leistung ist). Sie ist bzw. schafft die Möglichkeit und Wirklichkeit einer Sinngebung in einer als offen gedachten Geschichte. Mit A. Gehlen gesprochen: Der Mensch ist „von Natur ein Kulturwesen“. Die Objektivationen, „Ergebnisse“ seines generationenübergreifenden Wirkens rechtfertigen es, von Verfassung „aus Kultur“ zu sprechen: heute fast weltweit. Sogar das Wort „Weltrechtskultur“ darf in diesem Geiste gewagt werden, auch im Blick auf das Völkerrecht. d) Das Verhältnis zur Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Was das Kulturverfassungsrecht „normiert“, sind indessen nur Ausschnitte aus der Sache Kultur. Schon der nationale Verfassungstext nimmt sich ihrer direkt „unvermittelt“ an, soweit dies in diesem sensiblen Feld überhaupt möglich ist. Hier stehen die Ausschnitte von Kultur im engeren Sinne wie Wissenschaft und Kunst, Bildung und Ausbildung, auch Erziehungsziele, Feiertage, die Tetralogie von Nationalhymnen, Nationalflaggen, Elementen der Erinnerungskultur, offene Kulturpolitik und Sport etc. weltweit in denkbar engem Verhältnis zum Recht. Es kommt zu einer „Symbiose“ von Recht und Kultur, man spricht mit Grund von „Kulturrecht“182. Das Verhältnis von Verfassung und Kultur im weiteren Sinne ist demgegenüber vermittelter, indessen nicht weniger wichtig. Auch das Wirtschaftsverfassungsrecht, auch das politische Leben, die Werthaltungen eines Volkes, Gegenstand der Forschungen zu seiner „politischen Kultur“ sind „Kultur“. Während das Kulturverfassungsrecht sich auch im engeren Sinne juristisch 182  Aus der Lit. zuletzt: O. Scheytt, Kulturstaat Deutschland – Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik, 2008.



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht439

erfassen lässt, bedarf ein Verständnis der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft vieler Zwischenglieder und der Zuarbeit vieler Wissenschaftler, auch der Völkerrechtler, nicht zuletzt der Philosophen. Verfassungen leben aus dem, was Kunst, Kultur, Wissenschaft und Religion hervorbringen. Für die letztere ist dies verfassungstextlich bezeugt (z. B. Art. 4 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953 für die Kirchen, s. auch Art. 1 Abs. 1 S. 2 Verf. Vorarlberg von 1999; angedeutet auch in Art. 17 Abs. 3 AEUV von 2007 für die Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften). e) Insbesondere Musik und „Recht“ – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Einleitung183 „Prima la musica – poi le parole“ – diese berühmte These war im Wien von A. Salieri und W. A. Mozart sehr umstritten. Können wir heute die Frage wagen: „Prima la musica – poi il diritto?“ Der Zusammenhang von Musik und Staat war schon ein klassisches Thema bei Platon. Wir begegnen ihm heute fast täglich: so als im unabhängig gewordenen Kosovo Beethovens „Neunte“ als quasi europäische Nationalhymne zusammen mit dem Verfassungstext des Kosovo im dortigen Parlament gefeiert wurde, überhaupt beim Erklingen von Nationalhymnen aus feierlichen Anlässen in anderen Ländern. Literatur und Recht ist die andere Seite unseres Themas184. Beide Themen, Musik und Recht einerseits, Literatur und Recht andererseits, sind wie zwei Altarflügel eines großen „Altars“: Verfassung als Kultur. Erster Teil Ein Theorierahmen „Musik und Recht“ lässt sich nur auf dem Forum der 1982 konzipierten, 1998 fortgeschriebenen Verfassungslehre als Kulturwissenschaft behandeln und ist auch dort erörtert worden. Aus dem Grundsatzprogramm sei wiederholt185: Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es aber nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein 183  Eröffnungsvortrag, den der Verf. 2011 auf einer Tagung in Rom gehalten hat, vgl. JöR 60 (2012), S. 205 ff. 184  P. Häberle, Das Grundgesetz der Literaten, 1983. 185  Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 19  f.; 2. Aufl. 1998, S. 83 f.; zur Musik: ebd., S. 512 ff.

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Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten186. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. (Das Völkerrecht „als Kultur“ wäre analog zu denken.) Juristisch gesehen hat ein Volk eine Verfassung, erweitert kulturell betrachtet ist es in (mehr oder weniger guter) Verfassung! Die Akzeptanz einer Verfassung, ihre Verwurzelung im Bürgerethos und Gruppenleben, ihr Verwachsensein mit dem politischen Gemeinwesen – all dies hat zwar bestimmte rechtliche Normierungen zur Voraussetzung, aber darin liegt noch keine Garantie, dass ein Verfassungsstaat hic et nunc „wirklich“ ist. (Das Rechtliche ist nur ein Aspekt der Verfassung als Kultur.) Ob dies gelungen ist, zeigt sich nur in Fragestellungen wie: Besteht ein gelebter Verfassungskonsens? Hat der juristische Verfassungstext eine Entsprechung in der „politischen Kultur“ eines Volkes? Sind die spezifisch kulturverfassungsrechtlichen Teile einer Verfassung so in die Wirklichkeit umgesetzt, dass sich der Bürger mit ihnen identifizieren kann? M. a. W.: Die rechtliche Wirklichkeit des Verfassungsstaates ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit einer „lebenden Verfassung“, die – weit und tiefgreifend – kultureller Art ist. Verfassungstexte müssen buchstäblich zur Verfassung „kultiviert“ werden (Gregor d. Gr.: „scriptura … crescit“). Zweiter Teil Musik und „Recht“ – „Verfassungsstaat“ I. Musik – Ein Hohelied auf die Musik aus der Feder eines Dilettanten bzw. Staatsrechtslehrers – Sieben Perspektiven Fragen Sie mich nicht nach Begriff und Sache von „Musik“; sie ist nicht nur „tönend bewegte Form“ (E. Hanslick), doch lassen Sie mich hier vorläufig an die vielen Erscheinungsformen vom Lied (z. B. „Lieder ohne Worte“ von F. Mendelssohn) bis zu F. Schuberts „Forellen-Quintett“ oder der Filmmusik eines N. Rota erinnern, auch an die Kirchenmusiktradition vom Gregorianischen Choral über die „Notre Dame-Schule“ um 1200 bis zu M. Luther. Zur Vorbereitung der verfassungstheoretischen bzw. kulturwissenschaftlichen Einordnung vor allem der Nationalhymnen187 in den Typus Verfassungsstaat ist ein 186  Im nicht-juristischen, kulturanthropologisch bzw. ethnologisch gewendeten Sinne wird der Begriff „Verfassung“ nicht zufällig benutzt bei B. Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), 1975, S. 142. 187  Zu Wort- und Kulturgeschichte der „Hymne“: Meyers Großes Universallexikon, 1982, Art. „Hymne“; s. auch Art. Hymnologie, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil 4, 2. Aufl. 1996, Sp. 459 ff.; Art. Hymnus, ebd., Sp. 464 ff. mit vielen Notenbeispielen. Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Bd. 16, 9. Aufl. 1976, S. 780 sagt: „Zu Nationalhymnen wurden religiöse Kampflieder des MA, Königshymnen, Freiheits- und Revolutionshymnen, patriotische Volkslieder,



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht441

Wort zur Musik als Kunst des und für den Menschen unverzichtbar. Dies könnte professionell freilich nur ein Musikwissenschaftler bzw. Kritiker leisten, eine gerade in Deutschland von F. und J. A. P. Spitta bis E. Hanslick, von Alfred Einstein188 bis J. Kaiser blühende Disziplin189. Der Verf. kann auf diesem Felde nur dilettieren und sich als praktizierender Musikliebhaber zu erkennen geben. Freilich sagte W. v. Goethe: „Die Kunst gibt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit. Der Dilettantismus folgt der Neigung der Zeit.“ In einer späten Altersphase wie der seinigen, mag dies vielleicht erlaubt sein. Freilich kann sich der Verfasser gewiss nicht auf die vielen Komponisten berufen, die zunächst als Juristen begonnen haben: von R. Schumann190 bis I. Strawinsky191 oder P. I. Tschaikowsky192, oder auf solche, die Militärmärsche, Stücke aus Bühnenwerken oder Neukompositionen erklärt“. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 15 in 24 Bänden, 19. Aufl. 1991, S. 351 sagt zu Nationalhymnen in 5 Zeilen: „im Gefolge der Französischen Revolution seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts sich ausbreitende, patriotische Gesänge mit meist populärer Melodie, die als Ausdruck des nationalen Selbstverständnisses gelten und bei friedlichen politischen und sportlichen Anlässen gespielt und gesungen werden bzw. zum Protokoll gehören“. Aus der jüngsten Lit.: H. D. Schurdel, Nationalhymnen der Welt – Entstehung und Gehalt, 2006. Nur wenig ergiebig Art. Hymnen, Lexikon der Kunst, Bd. III, 2004, S. 372. Auffällig ist, dass viele andere Lexika das Thema auslassen: z. B. Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl. 1987, sowie Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 1956, oder Lexikon der Politikwissenschaft, hrsg. von D. Nohlen u. a., 2002, oder Politiklexikon von E. Holtmann, 3. Aufl., 2000. Unergiebig ist auch das EvStL (Neuausgabe 2006). Zum Folgenden schon P. Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007, S. 65 ff. (2. Aufl. i. V.). 188  Von ihm die Bearbeitung von „Das neue Musiklexikon“, 1926. 189  Die deutsche Musikwissenschaft hat bis heute hohes Ansehen: Man denke an T. Adorno oder heute an G.-S. Mahnhopf. Drei Zeitschriften sind höchst lebendig: „Musik-Konzepte“, „Musik-Texte“ und „Musik und Ästhetik“. 190  Ausführliche Nachweise und Angaben bei H. Weber, Recht, Literatur und Musik – Aspekte eines Themas, in: ders. (Hrsg.), Literatur, Recht und Musik, 2007, S. 1 ff. (S. 2 f. „Musikerjuristen“: insbes. über R. Schumann (S. 3, Fußnoten 5–9)). – R. Schumann, Schriften über Musik, Reclam (U-B Nr. 2472), 1982. Zur Aufnahme des Jura-Studiums in Leipzig 1818 und zur Fortsetzung der juristischen Studien in Heidelberg (bei Thibaut und Mittermaier) 1829; s. auch A. Boucourechlier, R. Schumann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1974, S. 24 ff. Zum Jurastudium in Leipzig und Heidelberg und zur Aufgabe des Jurastudiums sowie zur Aufnahme des Musikstudiums in Leipzig im Herbst 1830 s. auch: K. H. Wörner, R. Schumann, Tb.-Ausg. 1987, S. 29–45. 191  Beginn des Jurastudiums an der St. Petersburger Universität 1902 und 1905 Abschluss des juristischen Studiums, vgl. V. Scherliess, I. Strawinsky und seine Zeit, 2002, S. 14. 192  E. Helm, Tschaikowsky in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1983, S. 22 ff. (S. 22: Eintritt in die Petersburger Schule für Jurisprudenz 1850; Mai 1859 mit dem Rang eines Titularrats, Entlassung aus der Juristenschule und angestellt als Beamter des Justizministeriums (S. 25); S. 29: 1862 Eintritt in das Petersburger Konservatorium zur Aufnahme des Musikstudiums; in der Folgezeit scheidet er aus dem öffentlichen Dienst aus (1863)); s. auch: E. Garden, Tschaikowsky – Eine Bio-

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gar eine Doppelexistenz wagten, wie E. T. A. Hoffmann193. Die folgenden Zeilen können sich eher „naiv“ nur von der Liebe zur Musik tragen lassen. Sie hat keinen geringeren als L. v. Beethoven194 zu einem berühmten Klassiktertext angeregt: „Musik ist höhere Weisheit als alle Offenbarung und Philosophie“, und sie hat F. Schubert zu seinem Preislied auf die Musik als „holde Kunst“ inspiriert. Sieht man mit H. Prantl sogar in der Verfassung eine „Liebeserklärung an ein Land“195, so darf ein Verfassungsrechtler wenigstens insoweit um die Musik bemüht sein, als er seinerseits mit freilich professionellen Mitteln sich um die Verfassung (z. B. ihre Nationalhymne) bemüht. Man erinnere sich des Textes von W. Shakespeare: „Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist …“ Mit diesen wenigen Hinweisen sei der Boden aufbereitet, auf dessen Humus letztlich auch die Ergründung des Themas „Verfassungsstaat und Musik“ bzw. ihrer besonderen Gattung „Nationalhymne“ gedeihen kann. Im Einzelnen: (1) Die Musik196 dringt in allen ihren Erscheinungsformen vom Choral bis zum „Lied“, vom Streichquartett bis zur Oper, vom Oratorium bis zur Nationalhymne am unmittelbarsten zur Seele eines Menschen, seinen Gefühlen, vor. Sie berührt diese wie wohl keine andere Kunst (allenfalls die Lyrik eines Goethes – „Wanderers Sturmlied“197 – oder F. Hölderlin („Wie wenn am Feiertage“, „Friedensfeier“, „Patmos“) kann die Seele ähnlich intensiv berühren, vielleicht auch die Gesänge „Homers“). Musik ist primär nicht zu „denken“, sondern zu empfinden. Musik ergreift den Menschen buchstäblich als Ganzes: vom Kopf über das Herz und ggf. bis zum Fuß (etwa im Tanz). Bezieht man im Blick auf die Geschichte des Verfassungsstaates auch andere Lieder als die Nationalhymnen mit ein, etwa den Song des 2006 verstorbenen Popsängers J. Brown als Kampflied der schwarzen Bürgerbewegung in den USA198 oder die Kampfhymnen der deutschen Sozialdemokratie („Brüder, zur Sonne“) oder der Kommunisten, nimmt man die Vielfalt der bei katholischen (hymnisch bewegten) Prozessionen gesungenen Kirchenlieder hinzu, so wird zugleich erkennbar, dass Musik graphie, Insel-Taschenbuch 1998, S. 17 ff. (insbes. S. 21 zur Anstellung als Verwaltungssekretär im Justizministerium und S. 24 zum Ausscheiden aus dem Justizministerium). 193  Aus der neueren Literatur: K. Kastner, E. T. A. Hoffmann – Jurist, Dichter und Musiker, in: H. Weber (Hrsg.), Literatur, Recht und Musik, 2007, S. 72–88, sowie mit weiterführenden Nachweisen; H. Weber, Recht, Literatur und Musik – Aspekte eines Themas, in: ders. (Hrsg.), Literatur, Recht und Musik, 2007, S. 2 (vor allem: Fußnote 4); s. auch H. Steinecke, Die Kunst der Phantasie, 2004. 194  Dazu: B. Weck, „Euch werde Lohn in besseren Welten!“ – L. van Beethoven und die Entwicklung moderner Menschenrechts- und Verfassungsutopien, in: H. Weber (Hrsg.), Literatur, Recht und Musik, 2007, S. 48–71. 195  H. Prantl, Ein deutscher Liebesbrief, SZ Nr. 238 vom 16. Oktober 2006, S. 8. 196  Bald klassisch: H. Maier, Cäcilia, Essays zur Musik, 1998 / 2005. 197  Von ihm der Sammelband: „Goethes Gedanken über Musik“, hrsg. von H. Walwei-Wiegelmann, 1985. 198  Dazu SZ vom 27. Dezember 2006, S. 13: „Bei ihm wurde alles zum Rhythmus: Zum Tode von J. Brown, dem Paten des Soul.“



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht443 viele Tätigkeiten und Vorgänge, von einzelnen Menschen und ihre Vergesellschaftungsformen mit prägen kann (Stichwort „Marschmusik“199, wie in vielen Verfassungen). Musik hat also eine höchst persönliche, personale Seite bzw. Funktion und sie kann auch eine gemeinschaftsbildende, integrierende Funktion entfalten. Man denke an Jazz- und Rockkonzerte200 („Woodstock“) oder Fußballhymnen (wie 2006) oder die Chartshow „The Dome“, aber auch an die mindestens momentane, rein geistige Verzauberung „einer Menge Menschen“ durch Musik: etwa im Konzertsaal des Wiener Musikvereins oder in der Berliner Philharmonie201. Das „Requiem“ von W. A. Mozart bis G. Verdi hat Sterben und Tod zum Thema und besitzt seine eigene Prägung. Die Musik erweist sich so als kulturanthropologische Konstante, aber auch Variante des Menschen in seinen verschiedenen Kulturräumen. Der kooperative Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe gibt all dem Raum. Zuweilen stellt er die Musik direkt in seinen Dienst: eben in Gestalt der Nationalhymnen (in der Zeit des Absolutismus in Auftragswerken202 wie einer „Festoper“).

(2) Die („Macht“ der) Musik ist heute tendenziell / universal / abstrakt / immateriell und zugleich emotional / konkret. Diese fast „heilige“ Kombination von Gegensätzlichem kann nur unter einem Vorbehalt gewagt werden. Gewiss ist die abendländische Musik (mit ihren Anfängen in der Gregorianik sowie der Notenschrift eines G. von Arezzo) heute tendenziell von universaler Bedeutung: Sie wird in der Gestalt des Werkes eines L. van Beethoven in Japan ebenso verehrt wie in China. Das Umgekehrte gilt kaum: Einem Europäer fällt das Verständnis der chinesischen, arabischen oder tibetanischen Musik sehr schwer; leichteren Zugang hat er zu musikalischen Ausdrucksformen in Lateinamerika, insbesondere im Musikland Brasilien (C. A. Jobim, H. Villa-Lobos). Die chinesische Nationalhymne ist eher westlich. Schwer erträglich wirkt die „Peking-Oper“. (3) Bei aller grenzüberschreitenden Kraft der Musik geht es um Kontinente oder Nationen: Es gibt aber auch spezifisch nationale Einfärbungen, die die Musikgeschichte im Lauf der Zeit hervorgebracht hat. So konnte ein I. Strawinsky den zu seiner Zeit als „westlich“ geltenden und kritisierten P. I. Tschaikowsky wohl zu Recht als „besonders russisch“ qualifizieren. So gibt es eine „russische Schule“ von Scriabin (1872–1915) bis D. Schostakowitsch, die etwa durch ihre spezifi199  S. Giesbrecht, „Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein“ – Musik und Nationalismus im deutschen Kaiserreich, in: H. Lück / D. Senghaas (Hrsg.), Vom hörbaren Frieden, edition suhrkamp 2401, 2005, S. 413 ff. (S. 429 ff. zur „Omnipräsenz der Marschmusik“). – Sogar Mozart wird ein „Hang zu Marschmodellen“ nachgesagt (G. R. Koch, in FAZ vom 23. Juni 2006, S. 46). 200  Aus juristischer Sicht: Speziell zur „Musikrichtung“ des Rock & Roll s. die Untersuchung von M. Ronellenfitsch, Rock & Roll und Recht, 1998. 201  Treffend W. Schreiber, Ton der Nation, SZ vom 20. Februar 2007, S. 11: „Auch der Raum macht die Musik.“ 202  Ein besonderer Fund ist m. E. „Die Geburt der modernen Staatsmusik“, in: E. Buch, Beethovens Neunte – Eine Biographie, 2000, S. 19 ff. Es wird eine „erste Theorie einer vom Staat befohlenen Nationalhymne“ nachgezeichnet (S. 23); ebd.: Musikwerke als „Katalysator der nationalen Einheit“; s. auch S. 30 zur „Marseillaise“ und „God Save the King“ als Vorbilder aller modernen Nationalhymnen.

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schen Rhythmen und ihre eigene Instrumentalisierung charakterisiert ist. Die französische Musik von M. Ravel bis C. Debussy, auch E. Satie und F. Poulenc ist dem ebenfalls französischen Impressionismus in der Malerei kongenial. Und die Oper ist nicht zufällig in Italien entstanden (Monteverdi, 1607). G. Verdi hat im „Nabucco“203 fast eine italienische Nationaloper komponiert, nicht nur im „Gefangenenchor“, und als Beginn der deutschen Nationaloper gilt bekanntlich der „Freischütz“ von C. M. v. Weber204. Die Grenzüberschreitungen innerhalb der Werkgattungen könnten aber nicht kreativer sein: Ein Mozart komponierte „Türkische Märsche“, ein J. Brahms „Ungarische Tänze“, ein J. S. Bach selbst lernte von italienischen Meistern wie Palestrina und A. Vivaldi, ehe er „Englische Suiten“ komponierte. Nationale Ausprägungen von Musik (z. B. aus Andalusien) und ihre grenzüberschreitend bis in die ganze Welt ausgreifende Kraft schließen sich also nicht aus. Man denke an F. Smetanas „Moldau“ und J. Sibelius’ „Finlandia“, die die Sehnsucht nach Heimat bzw. nationaler Unabhängigkeit ausdrücken wollen (Sibelius begründete damit sein Ansehen als Nationalkomponist).

Das wird auch für das Verständnis von Nationalhymnen relevant. Sie können wie Beethovens „Neunte“ i. V. mit F. Schillers „Ode“ ganz Europa, ja die Welt faszinieren. Gleiches gilt für eine „Personalhymne“, das „Happy Birthday“ Amerikas, oder das Weihnachtslied (es gibt auch noch andere Weihnachtslieder): „Stille Nacht“. Nationalhymnen können anderwärts Respekt einfordern, auch wenn sie musikalisch nicht vergleichbar gelungen sind: weil sie Ausprägungen einer eigenen Nationalkultur bzw. Kulturnation sind – freilich auf dem immer noch hohen Niveau der der Musik eigenen Abstraktion, und weil sie von einem Volk verinnerlicht werden.

(4) Musik zeichnet sich durch ihren spezifischen Zeitbezug aus. Sie konstituiert sich (neben der Poesie) als einzige Kunst recht eigentlich erst und nur in der Zeit. Sie hat einen „tönenden Anfang“ (z. B. Ouvertüre, Präludium) und ein erkennbares Ende (z. B. „Finale“ oder „Coda“). Alle anderen Künste weisen, abgesehen von der Literatur, einen räumlichen Charakter auf: man denke an die zweidimensionale Malerei oder an die dreidimensionale Architektur und Skulpturenkunst (Plastik) – Lessing hat in seinem „Laokoon“ Malerei und Poesie voneinander abgegrenzt. Gewiss: Man ist versucht, Analogien zur „lebenden Verfassung“ zu ziehen. Sie wirkt ebenfalls auf der Zeitschiene und verarbeitet die Zeit 203  Zu Verdi / „Nabucco“ / Nationaloper: U. Bermbach, Opernsplitter – Aufsätze, Essays, 2005, S. 117 ff. („oh, mia patria si bella e perduta“ – Über Macht und Ohnmacht in Verdis Nabucco (insbes. S. 118: „Ziele … waren für Verdi: die nationale Unabhängigkeit Italiens, beste und stabile, wenn möglich republikanische Institutionen …“)); ders., Über Leichen geht der Weg zur Macht – Gesellschaftliche und politische Aspekte in Giuseppe Verdis Opern, in: ders., Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht – Politik und Gesellschaft in der Oper, 1997, S. 146  ff. Schließlich E. Schmierer, Kleine Geschichte der Oper, Reclam (U-B 18154), 2001, S. 150 ff. (S. 150: „Verdi verdankt seinen Ruhm nicht zuletzt der Tatsache, dass sein Leben und sein Opernschaffen eng mit dem Risorgimento, der Freiheits- und Einheitsbewegung in Italien verknüpft sind.“) 204  U. Bermbach, Freikugeln für die Freiheit – Zu Webers Der Freischütz, in: ders., Opernsplitter – Aufsätze, Essays, 2005, S. 109 ff.



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht445 entsprechend und höchst differenziert (von der „Totalrevision“ bis zum „feinen“ Sondervotum der Verfassungsgerichte, etwa in den USA, Spanien und Deutschland, leider noch nicht in Rom). Sie gliedern sich auch oft in Präambeln, kulturwissenschaftlich dem Präludium oder Prolog vergleichbar, und sie enden in „Übergangs- und Schlussvorschriften“ (Finale). Zeit und Verfassung205 ist ein kulturwissenschaftlich belegbares Verfassungsthema.



Indes tut die Zeit in der Musik doch ganz anders ihr Werk. Die „Sätze“ einer Sonate und Symphonie unterscheiden sich u. a. durch ihr Tempo (z. B. Lento, Adagio oder Allegro con brio sowie Presto), und vor allem ist der Rhythmus prägend, insbesondere die Taktform206. Mitunter gibt es bei den Nationalhymnen Streit um den Text der Strophen, so in Deutschland und in Chile207, auch in Bosnien-Herzegowina; Spanien kann sich nicht auf einen Text einigen.



All dies ist für Nationalhymnen nicht unerheblich. Ein Musikwissenschaftler müsste sie auf ihren Rhythmus, ihre Symbiose mit dem Text untersuchen (analog der Arie, dem Rezitativ oder dem Oratorium). Auch das kann hier nur eingefordert, nicht selbst geleistet werden. Das friedliche „Andante“ einer Nationalhymne hat im stürmischen aggressiven „Allegro“, im „Marsch“ oder gar Presto einer Nationalhymne nach Art der französichen „Marseillaise“ ihr Gegenstück. All dies wird hier angedeutet, um die Zugehörigkeit der Nationalhymne als Musik und als Text zur Musik im Ganzen zu dokumentieren (Für Mozart war in der Oper208 die Musik der Poesie „gehorsame Tochter“, in Wahrheit oft freilich deren Überhöhung und Vertiefung).

(5) Grundsätzlich konzentriert sich die Wahrnehmbarkeit der Musik auf ein einziges Sinnesorgan: das Ohr. Doch bedarf es der Korrektur dieser These: Es gibt Musikarten, die auch andere Sinnesorgane „ansprechen“ (sollen): etwa das manche „Pathosformeln“ nutzende Ballett (erfunden in Paris um 1700), den Tanz (vom Walzer bis zum Tango) oder die Oper: die Augen. Besonderes gilt für die Filmmusik (groß die eines E. Morricone, der endlich 2006 für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, oder eines N. Rota). Wird Musik spezifisch mit Texten verbunden wie im „Kanon“, in der katholischen Liturgie, im protestantischen Kirchenlied dank der von M. Luther geschaffenen deutschen Sprache (P. Gerhardt), so kommt es zu Symbiosen höchsten Glücks (z. B. „Befiehl du deine Wege“). Man denke auch an die „Winterreise“ von F. Schubert mit den Texten des oft unterschätzten W. Müller oder an R. Schumanns Liederzyklus „Dichterliebe“. Die Medizin kennt sogar das Fach „Musiktherapeutik“ (Musikpädagogik!), die die Wirkung der Musik auf Körperfunktionen zur Heilung einsetzt. 205  Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 1974, S. 111 ff. – Zu „Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlussbestimmungen“ von Verfassungen, mein Beitrag in FS Lendi, 1998, S. 137 ff. 206  Vereinzelt wurde eine alte Nationalhymne durch einen „friedlichen Wortlaut“ ersetzt, so geschehen in Chile, 1847, vgl. Reclam, Nationalhymnen, 11. Aufl. 2006, S. 38. 207  Dazu Reclam, a. a. O., S. 38. 208  Zur Oper als „Magie des Augenblicks“: M. Brug, Die Welt vom 24. Februar 2007, S. 28 mit der Frage: „Hat die Kunstgattung noch eine Zukunft?“

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Mit solchen Überlegungen „im Hinterkopf “ muss man sich letztlich auch der Verbindung von Text und Musik in Nationalhymnen nähern. In „vertonten Gedichten“ ereignet sich zwar die Musik auch nur in der Zeit, die Sprache kann aber neben der emotio auch die ratio ansprechen. In der protestantischen Gemeinde schafft das Kirchenlied eines M. Luthers „Gemeinde“. Kultische liturgische Handlungen sind in den katholischen Gottesdiensten von bestimmter ruhiger Musik begleitet („Kirchenmusik“ hat ihre eigenen Gesetze; H. Pfitzner vertonte sogar sehr schön ein Konzil (!))209. Insofern geht es wie bei diesen Handlungen nicht nur um das Ohr oder das Auge, auch das Wandeln und Gehen oder Schreiten, also der ganze Körper („Polonaise“), sind einbezogen. Die Musik hat ihrerseits Wirkungen auf Körperfunktionen (laut Bibel befreite Davids Harfenspiel König Saul von seiner Schwermut; Bachs Goldberg-Variationen sollten einen schlaflosen Auftraggeber „heilen“).



Auch all dies ist für die später speziell behandelten Nationalhymnen nicht ohne Belang. Sie werden oft im Stehen gesungen, in bestimmter „Haltung“, eröffnen bestimmte Vorgänge oder schließen sie ab, haben eine integrierende Funktion: auf das ganze Land bezogen, in der Bayernhymne210 auf ein besonderes Bundesland, im „Schweizer Psalm“ auf die ganze Nation. (Historisch ist an die „Krönungsmesse“ eines Mozart oder an seine als absolutistische Huldigungsoper kritisierte „La Clemenza di Tito“ zu erinnern. J. S. Bach komponierte wohl alles seinem „Gott in der Höhe“, auch die Brandenburgischen Konzerte.)

(6) Die Musik scheint (nur) auf den ersten Blick weniger dem Wandel zu unterliegen als etwa die Sprache. Sie grenzt sich aber auch durch den erwähnten Zeitfaktor von anderen Künsten ab: von der Architektur mit ihren „bleibenden“ Monumenten, Denkmälern, Bauten oder Brücken, von der Skulptur des „Laokoon“ oder dem Parthenon in Athen und dem Pantheon in Rom, von der Malerei des göttlichen Raffael oder der Sixtinischen Kapelle des Michelangelo in Rom. Und doch gibt es Wandel in dreifacher Hinsicht. Zum einen: Die Musikgeschichte zeigt enorme Entwicklungsvorgänge, auch „Revolutionen“ insgesamt: Man denke an die Entwicklung von Palestrina bis Pergolesi, von J.  S. Bach bis zur ersten und zweiten „Wiener Klassik“, an Strawinskys „Sacre du Printemps“. (An Busonis „Neue Ästhetik der Tonkunst“ sei erinnert.) Zum anderen: Die einzelnen Musikstücke werden zu verschiedenen Zeiten verschieden interpretiert: Stichwort: Wandel der Aufführungspraxis (der Rezeptionsgeschichte) bis hin zur heutigen Ideologie der „Werktreue“ oder zur unseligen „Dekonstruktion“ von einzelnen Opern wie etwa von „Othello“ (in Düsseldorf als Theaterstück im Oktober 2006). Der respektlose Eingriff in Klassiker – seit dem „Regietheater“ – ist eine Verletzung von deren Werken. Interpretation ist Dienst! Die Rückkehr zum sog. „Originalklang“ mit Originalinstrumenten (N. Harnoncourt) gehört – neben der Suche nach dem „Urtext“ – ebenfalls hierher, wie die Versuche, Bach in den Jazz zu transportieren (J. Loussier) oder für Ballettmusik zu „verwen209  Leider schrieb er auch eine Huldigungskomposition für H. Frank, den „Schlächter von Polen“: „Krakauer Begrüßung“ (FAZ vom 25. Januar 2007, S. 31). 210  Zur Entstehung und den mit ihrer verbundenen Intentionen: M. Treml, Die Geschichte des modernen Bayern – Königreich und Freistaat, 3. Aufl. 2006, S. 80, 131, 148.



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht447 den“. Auch „Transkriptionen“ und „Adapationen“ seien genannt, vor allem von F. Liszt in Bezug auf L. van Beethoven. Schließlich: Einzelne Komponisten erfahren eine „Renaissance“: G. Mahler in den 70er Jahren, die Barock-Oper von G. F. Händel heute. Manche Komponisten bleiben fast vergessen: so J. Halevy.



Im Vorgriff: Die Nationalhymnen dürften von solchen Entwicklungen nicht ganz unberührt bleiben, weder in ihrer Entstehungszeit, noch in ihrer späteren Aufführungspraxis. Dennoch bilden sie ein „relativ statisches“ Stück Musik auch im Wandel eines konkreten nationalen Verfassungsstaates.

(7) Damit sind wir bei der Rolle der Interpretation (und ihrer Geschichte). Jede Musik schafft, ja lebt von offenen Interpretationsspielräumen – ähnlich wie Werke der Dichtkunst. Man hat früh Parallelen zwischen der Interpretation von „Gesetz und Recht“ und der von Werken der Poesie gezogen211. Jüngst wurde der Richter im Verhältnis zum Gesetz mit einem Pianisten verglichen212. Große Solisten und Dirigenten zeichnen sich gerade durch die neue – schöpferische Interpretation – von Partituren aus. Das gilt auch für Chorwerke und Opern213. Es geht um relativ „offene“ Kunstwerke und Libretti, Texte, Handlungen, Regieanweisungen. Vielleicht darf man G. Radbruchs bekanntes Dictum umwandeln in: Das Kunstwerk, z. B. die Musik, ist „klüger als sein (bzw. ihr) Schöpfer“.

Das Besondere bei Nationalhymnen ist, dass sie nicht (nur) von „Professionellen“ gespielt bzw. gesungen werden, sondern tendenziell und gewollt von allen Menschen gleicher Nation. Die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ hat auch in der Nationalhymne ein Forum. Gewiss, Nationalhymnen müssen in ihrer Melodie oft kurz sein, wenngleich ihre mitunter verschiedenen Strophen eine „Verlängerung“ ermöglichen. Ihnen eigen ist in der Regel auch nicht die ganze musikalische Fülle und Dichte eines „Kunstliedes“, eines Hymnus, eines Chorals, eines „Agnus dei“ von W. A. Mozart oder eines Jubelsatzes wie im Weihnachtsoratorium von J. S. Bach. Dennoch bleiben sie als Musik untrennbar mit anderen Ausdruckformen von „Musik“ verknüpft: ästhetisch-ideell wie real. Sie sind ein Stück menschliche Kultur und Verfassung sowie „Verfassung als Kultur“ in einem Falle. (Archäologen fanden „Knochenflöten“, die ca. 35 000 Jahre alt sind. Das alte Ägypten kannte bereits Trommeln und Trompeten. Heute ist der Ruf „Rettet das Volkslied!“ [C. Tewinkel] nur zu berechtigt.)



Dabei sind Musik und Text gleichermaßen hochrangig. Speziell die Nationalhymne lebt jenseits der früher so umstrittenen Alternative „prima la musica poi le parole“. Doch ist sie auf eine Weise „Programmmusik“: Ihre Texte verarbeiten oft Geschichte und entwerfen Zukunft, oft sehr konkret wie die Präambeln! Oder sie geben der Liebe zur Heimat, zur Natur oder zu Gott Ausdruck214.

P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 22 f. den im FAZ-Feuilleton ausgetragenen Streit, z. B. FAZ vom 26. Oktober 2006 unter Beteiligung von C. Möllers, BGH-Präsidenten G. Hirsch, G. Rollecke, B. Rüthers, FAZ vom 30. Januar 2007, S. 34. 213  Dazu aufschlussreich B. Beyer (Hrsg.), Warum Oper?, Gespräche mit Opernregisseuren, 2006. – s. auch Pierre Boulez, FAZ vom 13. Mai 2006, S. 37: „Musik mit Bürgersinn, Laudatio auf D. Barenboim“. 214  Dazu P. Häberle, Nationalhymnen, a. a. O., S.  11 ff., 83 ff. 211  Dazu

212  Dazu

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5. Kap.: Einzelausprägungen II. „Recht“

Fragen Sie mich nicht nach dem Begriff „Recht“! Laut Ovid unterscheiden sich Mensch und Tier durch die Scham und das Recht, wir fügen hinzu: auch durch die Freiheit und die Möglichkeit zu Kunst, Wissenschaft und Religion. So wie wir seit Jahrtausenden um den Begriff der Gerechtigkeit als „Wahrheit des Rechts“ ringen, suchen wir – den Theologen bei der Gottesfrage ähnlich – nach dem Begriff „Recht“. Eine erste Hilfe ist die Unterscheidung unseres deutschen Grundgesetzes zwischen „Gesetz“ einerseits und „Recht“ andererseits (Art. 20 Abs. 3). „Recht“ indiziert einen Verweis auf die Gerechtigkeit (etwa Verteilungs-, Leistungs- und Chancengerechtigkeit), während das Gesetz das positive Recht meint. Das Spannungsverhältnis liegt auf der Hand, die Idee des Naturrechts wird sichtbar. Im Folgenden sei unter „Recht“ das positive Recht und das vorstaatliche Recht verstanden, vor allem der Menschenwürde-Grundsatz als kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates. Musik und Literatur sind nicht nur quasi parallel im Zusammenhang mit dem Recht zu sehen, sie stehen auch untereinander in vielfältigen Beziehungen. Ihnen wird im Folgenden nachzuspüren sein. III. Aspekte einer Musikgeschichte im Lichte der Entwicklung des „Verfassungsstaates“ Die Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates kann ohne die sie z. T. „begleitende“ Musikgeschichte nicht geschrieben werden215. Bei einer Betrachtung der Behandlung und Verarbeitung politischer, der Aufklärung verhafteter, revolutionär-republikanischer (staats-)philosophischer Ideen und der damit verbundenen – freilich erst in moderner Diktion so bezeichneten – staatsbzw. verfassungsrechtlichen Themenstellungen in der Musik, steht der „musikalische Jacobiner“ Ludwig van Beethoven (1770–1827) dominierend im Mittelpunkt der Musikgeschichte. Vor allem in Werken wie seiner 3. Symphonie (1804 / 1805 – „Eroica“), der Musik zu Goethes „Egmont“ (1810), der 9. Symphonie (1824; mit der „Ode an die Freude“ Friedrich Schillers als Schlusschor, die ursprünglich sogar „die Freiheit“ besungen haben soll) und ganz besonders in seiner einzigen Oper „Fidelio“ (3 Fassungen 1805 / 06, 1814; Text von Sonnleithner und Treitschke nach N. J. Bouilly) bezog er Stellung gegen Machtmissbrauch und Willkürherrschaft und beschwor ein humanistisches Freiheits- und Befreiungspathos, welches ganz im Bann des (spät-)aufgeklärten Zeitgeistes der postrevolutionären Epoche nach der französischen Revolution stand216. Zuvor hatte schon W. A. Mozart (1756–1791) in seiner Opera 215  Zum Folgenden schon P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 512 ff. 216  Zu Beethovens politischer Prägung durch den „Josephinismus“ und die reformerischen Gedanken der Aufklärung: S. Kross, Beethoven und die rheinisch-katholische Aufklärung, in: ders. (Hrsg.), Beethoven – Mensch seiner Zeit, 1980, S. 9–36; zur Wirkung: D. B. Dennis, Beethoven in German Politics, 1870–1989, 1996; zur Eroica: M. Geck / P. Schleuning, „Geschrieben auf Bonaparte“ – Beethovens „Eroica“: Revolution, Reaktion, Rezeption, 1989; P. Schleuning, Frieden durch Krieg – Beethovens „Sinfonia eroica“, in: H. Lück  /  D. Senghaas (Hrsg.), Vom hörbaren



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht449

buffa „Le nozze di Figaro“ (Libretto: Lorenzo da Ponte nach Beaumarchais) die freche Kritik des Autors der Komödie „Le mariage de Figaro“ an verkrusteten feudalen Gesellschaftsstrukturen aufgegriffen und mit dem Deutschen Singspiel „Die Zauberflöte“ (Libretto: E. Schikaneder) die in den Dienst der Humanität gestellten Ideale der Freimaurer mit tiefer Anteilnahme verwendet und überhöht217. In diesem Kontext ist zu unterstreichen, dass zahlreiche Geheimbünde (Illuminatenorden etc.) die zeitgenössische Dramatik des ausgehenden 18. Jahrhunderts und auch zumindest indirekt Komponisten wie Beethoven218 durch ihren aufklärerisch-humanistischen Ansatz beeinflusst haben. (Es ist besonders erwähnenswert, dass Beethoven 1790 zwei Kantaten auf den Tod des Kaisers Joseph II. und auf die Erhebung Leopolds zur Kaiserwürde komponierte, deren Texte (Severin Anton Averdonk) nachhaltig diesen Geist atmeten.) Die politisch-sozialen Umwälzungen während des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts führten auch zu einer „ästhetischen Revolution“ der Dramaturgie der Oper219, die neue „Subgattungen“ hervorbrachte: Schreckens- und Rettungsopern220, die mit den Namen von Komponisten wie Luigi Cherubini (1760–1842), E. N. Méhul (1763–1817) und F. Paer (1771–1839) verbunden sind (auch Beethovens „Fidelio“, möglicherweise von Paers „Leonora“ (1804) angeregt, zählt zu diesem Genre). He­ roi­ sches und leidenschaftliches Freiheitspathos findet sich eine Generation später auch in G. Verdis (1813–1901) Oper „Nabucco“, die die Befreiung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft schildert und die bis heute die „geheime Nationalhymne“ Italiens bildet221. R. Wagner sei nur als Merkposten genannt222. Frieden, 2005; zur Ode an die Freude: D. Hildebrandt, Die Neunte – Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolgs, 2005; zu Fidelio: E. Poettgen, Fidelio und die Menschenrechte. Eine sehr persönliche Annäherung an ein zentrales Werk der Musikgeschichte, in: P. Csobádi u. a. (Hrsg.), Fidelio / Leonore – Vorträge und Materialien des Salzburger Symposions, 1996, 1998, S. 257 ff.; zur Josephs-Kantate: K. Küster, Beethoven, 1994, S. 29 ff.; B. Weck, in: Verfassung im Diskurs der Welt, Liber amicorum Peter Häberle, 2004, S. 856 f. m. w. N. 217  Die freimaurerischen („illuminatischen“) Hintergründe und die aufklärerischen Gehalte behandeln eindrucksvoll: J. Assmann, Die Zauberflöte – Oper und Mysterium, 2005; H. Perl, Der Fall „Zauberflöte“. Mozarts Oper im Brennpunkt der Geschichte, 2000; Herbert Lachmeyer (Hrsg.), Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts – Essayband zur Mozart Ausstellung des Da Ponte Instituts Wien (Albertina Wien), 2006; s. auch G. Falke, Mozart oder über das Schöne, 2006. 218  Vgl. S. Kross, a. a. O. 219  W. Oehlmann, Oper in vier Jahrhunderten, 1984, S. 321 ff. (321). 220  W. Oehlmann, a. a. O., S. 322 ff. u. 330. 221  U. Bermbach, Zwischen Inquisition und Freiheit – zum Kernkonflikt in Verdis Don Carlos, in: ders, Opernsplitter – Aufsätze, Essays, 2005; zu: Frieden / Krieg / Friedenssehnsucht: M. Geck, Musik dringt höher, tiefer und weiter als die Fanfare von Krieg und Frieden, in: H. Lück / D. Senghaas (Hrsg.), vom hörbaren Frieden, 2005. 222  Aus der Lit.: U. Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks – Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, 1994; ders., Blühendes Leid – Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen, 2003.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Satire und Spott über, Kritik an den politischen Zuständen, vor allem im Blick auf das Regime Napoleons III. in Frankreich223, übte die sich in dieser Zeit entwickelnde Operette, die damals besonders unter dem Einfluss von Jaques Offenbach stehend, ein freches kritisches Genre war und mit dem die heutige Aufführungspraxis (nicht zuletzt wegen der grundlegend gewandelten politischen Rahmenbedingungen) nichts mehr gemein hat. Von den zeitgenössischen Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts haben einige der berühmtesten entschiedene Bekenntnisse gegen den Krieg und die Missachtung elementarster Menschenwürde-Grundsätze, gegen Gewaltstaat und Gewaltherrschaft abgelegt: Arnold Schönberg (1874–1951) schrieb im Jahr 1949 die Kantate „Ein Überlebender aus Warschau“ über das dortige Ghetto; schon während des 2. Weltkrieges hatte Karl Amadeus Hartmann (1905–1963) in höchst expressiven Instrumentalwerken seine Verzweiflung über die Friedlosigkeit seiner Zeit zum Ausdruck gebracht (Violinkonzert „Musik der Trauer“, 1939 (Uraufführung 1940 in St. Gallen); „Symphonia Tragica“, 1941 (UA 1989 (!) in München)). Auch Arthur Honegger (1892–1955) setzte sich in seiner 3. Symphonie (1946) „Liturgique“ (Dreisätzig: „Dies irae“, „De profundis clamavi“ und „Dona nobis pacem“) mit den Schrecknissen des Krieges und der Friedenssehnsucht der Menschen auseinander. Der 1933 geborene polnische Komponist Krysztof Penderecki schließlich schuf 1959 / 61 „Threnos“ in Angedenken der „Opfer von Hiroshima“ (1945). Ein ergänzender Hinweis auf Ernst Bloch (1880–1959), „Shelomo“ (1917), und Gustav Holst, „Mars“ in der Orchestersuite „Die Planeten“ (1914 (!)), muss genügen. In der Zeitspanne nach dem ersten Weltkrieg bis hin in unsere Tage waren es von den modernen Tonsetzern in erster Linie osteuropäische Komponisten, die in ihren Werken Spannungen zwischen dem Individuum und „kollektiven Instanzen“ (i. S. von Staat und Gesellschaft) spiegelten. Große Bedeutung kommt hier Dimitri Schostakowitsch (1906–1975) zu, der nach Maßregelungen durch die stalinistische Kulturbürokratie im Jahre 1936 (Der Vorwurf „Chaos statt Musik“ wurde wegen der Oper „Lady Macbeth des Mzinsker Kreises“ (nach N. Leskow) erhoben) in eine Art „innere Emigration“ ging und in seinen Tonschöpfungen fortan verschlüsselt das Aufeinanderprallen kollektiver Anforderungen und der Interessen der einzelnen Menschen behandelte (vor allem 5. Symphonie (1937)224). Um die Konfrontation zwischen Volk und Macht geht es auch in Schostakowitschs 11. Symphonie „Das Jahr 1905“, die er unter dem Eindruck des ungarischen Aufstands von 1956 begonnen hat (Uraufführung 1957) und die „thematisch dem niedergeschlagenen Volksaufstand gegen den Zaren von 1905 gewidmet“ ist225. Großen Mut bewies 223  Vgl. V. Klotz, Bürgerliches Lachtheater, 1983. – Allgemein aufschlussreich: K. Kastner, Die Kunst der Kritik – in der Literatur, auf der Bühne und in der Musik, NJW 1995, S. 822 ff. – Eine Trouvaille ist: M. Stolleis, Komponierende Staatsrechtslehrer, in: K. Reichert u. a. (Hrsg.), „Recht, Geist und Kunst“, 1996, S. 373 ff. Gleiches gilt für den Aufsatz von B.-R. Kern, Rossini und Metternich, in: M. Kilian (Hrsg.), Jenseits von Bologna – Jurisprudentia literarisch, 2006, S. 61 ff. Heute steht m. E. das Thema an: „Verfassungsrecht im Vergleich – musikalisch“. 224  Zum in diesem Zusammenhang erhobenen „Formalismus“-Vorwurf s. vor allem: Zeugenaussage – Die Memoiren des Dimitri Schostakowitsch, aufgezeichnet und herausgegeben von Solomon Volkow, 1979 (TB-Ausgabe 1981, S. 35 und 356); S. Wolkow, Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der Künstler, 2004. 225  Vgl. D. Gojowy, Dimitri Schostakowitsch, TB 1983, S. 92.



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht451

dieser große Symphoniker unseres Jahrhunderts auch in seiner 13. Symphonie „Babij Jar“ (1962), in der Texte des verfemten Dichters Jewgenij Jewtuschenko (geb. 1932) vertont wurden, die an die „Massenmorde an ukrainischen Juden zur Zeit der deutschen Besatzung“ erinnern, zugleich aber auch eine Abrechnung mit dem russischen Antisemitismus enthalten226. Der nach Auffassung S. Volkows in der Tradition des in Russland bekannten religiösen Phänomens des „Gottesnarrentums“ zurückgezogen lebende Schostakowitsch227 schuf zunehmend zergrübelte Werke, die die Ausweglosigkeit der menschlichen Situation umkreisen (z. B. 8. Streichquartett op. 110 (1960) und eine Vielzahl der späteren noch folgenden Streichquartette 9–15). Die plakative Bezeichung „gefeierter Vasall“228 wird ihm insgesamt betrachtet nicht gerecht229. Stockhausens „Weltparlament“ bzw. Musik unserer Tage kann vom Verf. noch nicht beurteilt werden, des kürzlich verstorbenen H. W. Henzes Kritik-Arsenal („Reiselieder“, 1996)230 schon eher. Des griechischen Komponisten M. Theodorakis „Kosmische Harmonie“ bzw. „Weltallmusik“ mit dem „Gesang von Walen und Elefanten“231 war dem Verf. noch nicht zugänglich. Vieles lässt sich ablesen an den, meist nur auf Europa bezogenen, Nationalhymnen „als Zitat“ (B. Glaner, Art. Nationalhymne, MGG, Sachteil 7 / 1997, Sp. 16 (23 ff.)). Dritter Teil Referenzgebiete, Ausdrucksformen I. Nationalhymnen 1. Ein Kanon von Fragen Nationalhymnen sind „kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“. Sie bilden rationale und emotionale Konsensquellen für ein politisches Gemeinwesen. An anderer Stelle wurden vor mehreren Jahren in einer kleinen Monographie etwa 80 Nationalhymnen unter sprachlichen, musikalischen und juristischen Aspekten untersucht232. Hier einige Hinweise: Vorweg sei unterschieden zwischen der verfassungsrechtlichen Fixierung von Musik (Komponist) und Text (Dichter) einer bestimmten Nationalhymne oder der bloßen Festlegung auf das eine oder das andere. 226  D.

Gojiwy, a. a. O., S.  97. S. Volkow, a. a. O., S. 23, 35, 38. 228  Nachruf in „Die Zeit“ vom September 1975. 229  Der absolute deutsche „Tiefpunkt“ im Nationalsozialismus sei hier nur Merkposten: die „entartete Kunst“, die „verbotene Musik“ (z. B. A. Schönberg) bzw. E. Noldes „ungemalte Bilder“. Zu diesem vielbehandelten Thema unter einem neuen Aspekt: S. A. Reich / H. J. Fischer, Wem gehören die als „entartete Kunst“ verfemten, von den Nationalsozialisten beschlagnahmten Werke?, NJW 1993, S. 1417 ff.; F. K. Prieburg, Musik im NS-Staat, Neuausgabe 2000. 230  Bewegend waren die Gespräche bzw. der Film zu dem Gedankenaustausch zwischen Henze und I. Bachmann (bei 3sat am 9. September 2006 um 21.45 Uhr). 231  Dazu sein Interview in der SZ vom 10. März 2006. 232  Nationalhymnen, a. a. O., S.  83 ff. 227  Vgl.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Eine musikwissenschaftliche Untersuchung der „Kongenialität“ von Musik (Melodie) und Text (Sprache) ist nicht einmal tendenziell möglich. Nur besondere Auffälligkeiten seien beim Namen genannt: etwa die Aggressivität der „Marseillaise“ in Text und Melodie oder ein etwaiger „Marsch“ (z. B. Philippinen, Indonesien, Albanien, Monaco, Senegal, Sri Lanka, Libyen, Libanon, Kuba, Kolumbien, Algerien, Türkei, Spanien, freilich mit Unterschieden). Doch erlaubt sich der Verfasser letztlich kein Urteil über die künstlerische Qualität der einzelnen Nationalhymnen. Man darf allenfalls sagen, die eine oder andere Hymne sei in Sachen Musik besonders „schön“, etwa dank J. Haydn für Deutschland („Langsam“), Bulgarien hat ein „Andante Maestoso“; ein „Allegro“ haben Belgien, Saudi-Arabien, Uruguay und Venezuela; ein „Adagio“ spielt Japan, ein „Moderato“ Liberia; die Niederlande haben ein „Allegro risoluto“; beliebt ist das „Maestoso“: z. B. USA, Ungarn, Ukraine, Serbien und Montenegro, Malta, Malaysia, Großbritannien, Griechenland, Schweden, Litauen, Lettland. Portugal leistet sich ein „Grandioso“, der Vatikan kokettiert mit einem „Allegretto maestoso“. Manche Hymne ist etwas weniger ansprechend. Alle TempiAngaben sind charakteristischerweise in italienischer Sprache fixiert – ein Kompliment an das Land Italien. Reizvoll ist auch, welche (Verfassungs-)Geschichte zu einer „offiziellen“ Nationalhymne geführt hat, wer sie zu einer solchen „gemacht“ hat, welcher Autor bzw. Komponist etwa (von wem?, z. B. einem Verfassunggeber, Gesetzgeber oder einem Verfassungsorgan wie dem Staatspräsidenten, so in Süd­ afrika) beauftragt worden ist, eine Nationalhymne zu schreiben bzw. zu komponieren? Waren Wettbewerbe erfolgreich? (z. B. Mexiko, Iran, Libanon, nicht in Spa­ nien). Die Frage der Ausführungspraxis im Alltag oder an Festtagen bleibe ein Merkposten. Im Folgenden sei das riesige Verfassungsmaterial unter folgenden Gesichtspunkten aufgeschlüsselt: (1) An welche Stelle einer geschriebenen Verfassung wird die Nationalhymne platziert: Dazu gehört auch die Frage nach dem „Kontext“233. Wird die Nationalhymne in die Nähe der anderen Symbol-Artikel wie Siegel, Flagge, Wappen, Feiertage, Hauptstädte als kulturelle Identitätselemente gelegt oder an anderer Stelle „für sich“? (2) Welches sind die Beispielsformen für konstitutionell festgelegte Nationalhymnen, gibt es Grundmuster, Varianten oder Typen? Sind – neben den Texten (Strophen) – auch (welche?) Tonarten und Tempi festgeschrieben? (so zumeist) – das einfache C-Dur herrscht vor (z. B. Estland, Australien, Belgien, Bolivien, Bulgarien, Chile, Estland, Indien, Japan, Kenia, Kolumbien, Luxemburg, Mexiko, Norwegen (Nationalhymne), Portugal, Russland, Schweden (Königshymne), Senegal, Thailand (Nationalhymne). Welche Themen behandeln die Texte? etwa Vaterland, Heimat, Ruhm, Kampf, „Recht und Freiheit“, die Natur, Gott, König, Märtyrer, Afrika. (3) Gibt es „Fehlanzeigen“, d. h. viele oder nur einzelne Verfassungen, in denen das Thema „Nationalhymne“ bewusst oder versehentlich nicht geregelt ist. Oder wird wenigstens auf Ausführungsgesetze (Delegation, auch „Schedules“) ver233  Zur Kontext-These: P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S.  44 ff. u. ö.



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht453 wiesen? Gibt es auch hier Unterschiede in Raum und Zeit: nach den historischen Epochen (Monarchien, Republiken, Demokratien), klassischen Nationalstaaten hier, modernen Entwicklungsländern dort, Unterschiede auch nach Kontinenten? Und Verfassungskulturen? Wo und wann sind Nationalhymnen Kontinuitätselemente? (so in Polen, Litauen und Lettland, auch Weißrussland).

(4) Reizvoll ist auch, welche (Verfassungs-)Geschichte zu einer „offiziellen“ Nationalhymne geführt hat, wer sie zu einer solchen „gemacht“ hat, welcher Autor bzw. Komponist etwa (von wem?), z. B. einem Verfassunggeber, Gesetzgeber oder einem Verfassungsorgan wie dem Staatspräsidenten (so in Südafrika) beauftragt worden ist, eine Nationalhymne zu schreiben bzw. zu komponieren? Waren Wettbewerbe erfolgreich? (z. B. Mexiko, Iran, Libanon). 2. Aspekte einer musikalischen Analyse der Melodien von Nationalhymnen Im Folgenden sei keine musikwissenschaftliche Behandlung von Nationalhymnen gewagt, dazu fehlt dem Verfasser jede Kompetenz; doch seien Fragestellungen aus der Sicht eines musikliebenden Verfassungsjuristen in weltweit vergleichender Sicht formuliert. Drei Grundsatzfragen stellen sich im Blick auf die Melodien bzw. die Musik von Nationalhymnen: (1) Welches sind ihre Tempi: „flotte Märsche“, dynamisch aggressiv, i. S. eines Allegro, besinnlich-langsame „Andantes“ etc. oder gar „Lenti“? (2) In welcher Taktart sind sie komponiert? die Frage nach dem Rhythmus: Dreivierteltakt, Vier-Viertel-Takt? (3) Für welche Tonart hat sich der Komponist einer Nationalhymne entschieden, jedenfalls im „Urklang“ oder die gängige Praxis. Denn hier kann es große Unterschiede in der „Stimmung“ einer Nationalhymne geben: etwa das strahlende C-Dur, das weiche d-Moll eines Mozart, das freudige A-Dur eines Beethoven. Zu vermuten ist, dass der Komponist für Nationalhymnen möglichst „einfache“ Tonarten wählt, damit die Bürger nicht überfordert sind. Die Tonarten haben in der Musik ihre je „eigene Färbung“, „Stimmung“, auch „Botschaft“. Auch die in der jeweiligen Nation bevorzugte Praxis der Orchestrierung bzw. Instrumentierung sei ein Merkposten. Eine Dorfkapelle wird die Nationalhymne in anderer „Besetzung“ spielen als ein Symphonieorchester aus „präsidialem“ Anlass, eine Militärkapelle anders als das Rundfunkorchester bei Sendeschluss um Mitternacht. Wenn anhand von kompetenten (älteren) Stimmen bzw. Autoren die Tonarten charakterisiert werden, so muss der Vorbehalt von R. Schumann erwähnt werden. Er relativiert deren Aussagekraft bzw. Kennzeichnung (Neue Zeitschrift für Musik, Leipzig, 3. Februar 1835, S. 43 f.). Die Empfindungen des Verf. beim Hören der Musik können freilich auch durch Art und Qualität der jeweiligen Einspielung beeinflusst sein234. Denkbar ist auch, dass die Tonarten im Wandel der Zeit dank 234  Die folgenden Zitate zu den Tonarten sind entnommen: A. Bartolus, Musica Mathematica, Das ist: Das Fundament der allerliebsten Kunst der Musicae, wie

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5. Kap.: Einzelausprägungen

neuer Kompositionen heute gewandelt empfunden werden (F. Schuberts G-DurSonate!). Die Rechtsordnung fixiert in vielen Verfassungen sowohl den musikalischen als auch den sprachlichen Text von Nationalhymnen. Darüberhinaus regeln viele Verfassungen den rechtlichen Schutz von Nationalhymnen – ähnlich den anderen kulturellen Identitätselementen, nämlich Feiertagen und Nationalflaggen. Nur wenige offizielle Nationalhymnen begeistern durch hohe Musik: Deutschlands Hymne von Haydn oder auch die Hymne des Vatikan (C. Gounod) seien als Ausnahme höchster Qualität erwähnt. 3. Die ideale Textstufe einer verfassungsstaatlichen Nationalhymne – der „verfassungsimmanente“ Hymnen-Artikel – „Verfassungshymnen“ (1) Drei Beispiele für Verfassungshymnen: von der Nationalhymne zur nationalen Verfassungshymne

Dem Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe ist in drei Ländern eine Textstufe in Sachen Nationalhymne geglückt, die besonders gewürdigt sei. Die Verfassungen der Philippinen (1986 / 87), der Mongolei (1992) und Äthiopiens (1994) haben sie geschaffen. So wie Präambeln und „Geist-Klauseln“ ein Konzentrat der Verfassung bilden, können Nationalhymnen im Idealfall analog „orchestriert“ sein. Sie sollten auf die Grundwerte der Verfassung abgestimmt sein, ihren „Geist“ bewusst machen und zugleich an die Verfassungsgeschichte eines Volkes anknüpfen sowie seine Zukunftshoffnungen skizzieren. Im Idealfall könnte dies in der Melodie und im Text bzw. den einzelnen Strophen der Hymne gelingen. Freilich dürfte es schwer sein, dieses Ideal auch praktisch umzusetzen: Man bräuchte einen Montesquieu oder F. Hölderlin (für 1848) oder einen G. Leopardi plus G. Verdi (für Italien), einen Rousseau plus H. Berlioz (für Frankreich), einen Shakespeare plus Bird oder Elgar (für Großbritannien)235. Es

nemlich dieselbe in der natur stecke, vnd ihre gewisse proportiones, das ist, gewicht vnd mass habe, vnd wie dieselben in der Mathematica, Fürnemlich aber in der Geometria vnd Astronomia beschrieben sind, Leipzig 1614; L. H. Berlioz, Grand Traté d’Instrumentation et d’Orchestration modernes, Paris 2 / 1856. – M.-A. Charpentier, Règles de composition, Paris 1692; A. E. M. Grétry, Memoires, ou Essais sur la Musique, Bd. 2, Paris 1797; J. J. W. Heinse, Hildegard von Hohenthal. 1. Bd., Berlin 1795, S. 55; J.-P. Rameau, Traité de l’harmonie réduite à ses principes naturels, Paris 1722; J. J. H. Ribock, Ueber Musik, an Floetenliebhaber insonderheit; in: Magazin der Musik, hrsg. von Carl Friedrich Cramer, Jg. 1, Hamburg 1783; J.-J. Rousseau, Méthode claire, certaine et facile pour apprendre à chanter la Musique, Paris 1691; C. F. D. Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806; R. Schumann, Neue Zeitschrift für Musik, Leipzig, 3. Feb.1835, S. 43; G. J. Vogler, Système de Simplification pour les Orgues. [Ms. Mannheim 1798]. – Aufschlussreich zur allgemeinen Fragestellung W. Auhagen, Studien zur Tonartencharakteristik in theoretischen Schriften und Kompositionen vom späten 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt / Main 1983. 235  Vereinzelt hat ein Land das Glück, einen Dichter-Präsidenten als Autor der Texte zu haben: so der Senegal in Gestalt von L. S. Senghor, seit 1960: vgl. Reclam,



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht455 ginge darum, die Grundwerte einer nationalen Verfassung wie Bürgerfreiheit und Demokratie, verfassungsgeschichtliche Höhepunkte wie die deutsche Wiedervereinigung (1990) oder in Polen die Ideen der ersten Maiverfassung von 1791 (in den Klängen F. Chopins) erlebbar zu machen: in Partitur, (Melodie), Rhythmus, Tempo, Takt, Klangfarbe236.

(2) Zwei Arten: präkonstitutionelle und postkonstitutionelle Nationalhymnen

Zwei Arten von Nationalhymnen zeichnen sich ab: die von der konkreten (neuen) Verfassung in ihrem „Geist“ geschaffene und die vorverfassungsrechtlich (präkonstitutionelle): Letztere ist etwa bei aller musikalischen Schönheit im Blick auf das GG und die WRV das Deutschland-Lied von J. Haydn bzw. Hoffmann von Fallersleben. Auch die französische „Marseillaise“ ist eher vorverfassungsrechtlich-revolutionär; immerhin kann sie in Anspruch nehmen, durch die Revolution von 1789 den Weg für den französischen Verfassungsstaat freigemacht zu haben. Aufgabe wäre es, alle hier systematisierten bzw. aufgelisteten Nationalhymnen in Melodie und Texten auf die zugehörige Verfassung bzw. ihre Grundwerte und ihre Verfassungsgeschichte hin wissenschaftlich zu untersuchen. Das ist aus vielen Gründen nicht möglich.



Genauso schwer ist es, Dichter und Komponisten zu finden, die zur „gesamten Hand“ die „kongeniale“ Nationalhymne aus dem Geist ihrer Verfassung erarbeiten. Der Verfasser kann nicht beurteilen, ob dies in den Philippinen, Äthiopien und in der Mongolei geglückt ist. Doch wäre der Versuch einer genaueren Analyse dort gewiss lohnend.

(3) Der verfassungstheoretische Ertrag

Entscheidend bleibt der verfassungstheoretische Ertrag: die innere Nähe guter Nationalhymnen zu den Präambeln, Kulturelles Erbe- und Geist-Klauseln, auch Flaggen und Eide, im Ganzen zu den Grundwerten einer Verfassung, auch zu ihren „Geschichten“ und ihrer Geschichte. Dass die Verfassungsgebung in den drei genannten Ländern solch reife Textstufen erarbeitet hat, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die Verfassungstheorie kommt wieder einmal „zu spät“. Immerhin kann sich die Verfassungsvergleichung als Kulturwissenschaft dank der Textstufenanalyse einmal mehr bewähren und ein neues Anwendungsfeld eröffnen. Freilich: So wie die Demokratie es schwer hat, ein guter „Bauherr“ zu sein, so wird sie sich schwer tun, die für eine konkrete Nation „beste Nationalhymne“ musikalisch und textlich auch tatsächlich zu schaffen bzw. zu finden. Absolutistische Staaten taten sich mit ihren vielen Formen der Selbstdarstellung in Dichtkunst, Baukunst, Malerei und Musik, auch Plastik leichter. Man denke nur an das Frankreich Ludwig XIV. (Molière / Lully, Ballett), auch an den Preußenkönig Friedrich II. (J. S. Bachs „Musikalisches Opfer“ war seinerzeit

Nationalhymnen, 11. Aufl. 2006, S. 173 (Melodie in C-Dur, Alle marcia, Vier-Viertel-Takt), und so in Liberia, wo der Ministerpräsident den Text schrieb, Hymne seit 1847, vgl. Reclam, a. a. O., S. 103. 236  Der seltene Fall eines Dichter-Komponisten findet sich in Indien. Seine Nationalhymne stammt in Text und Melodie von Rabindranath Tagore (1861–1941). 1950 von der verfassunggebende Versammlung angenommen, vgl. Reclam, a. a. O., S. 62. Die Melodie ist in C-Dur, das Tempo: „Maestoso“.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

freilich zunächst „umsonst“) oder auch den Hohenstaufen-Kaiser Friedrich II. nicht nur in Sizilien (seine Burgen und Schlösser, etwa Castel del Monte). Unsere Zeit dürfte in Sachen verfassungsimmanenter Melodien und Textstrophen eher überfordert sein, was nicht heißen kann, dass die Idee der „idealen Nationalhymne“ eines konkreten weltoffenen Verfassungsstaates falsch wäre. Am Anspruch ist festzuhalten – so wie am Anspruch an Feiertage und ihre Wirklichkeit. Neue Länder und junge Staaten mit neuen Verfassungen könnten sich daran orientieren. Man denke an den unabhängig gewordenen Kosovo. II. Präambeln von Verfassungen Präambeln von Verfassungen237 gleichen, kulturwissenschaftlich betrachtet, Präludien, Ouvertüren und Prologen. Bürgernah und in besonders feierlicher Sprache verarbeiten sie Geschichte, fassen sie als „Verfassung in der Verfassung“ das Konzentrat der folgenden Texte zusammen und entwerfen ein (mitunter konkret-utopisches) Zukunftsprogramm. Sprachlich klingen sie oft sehr feierlich, damit leisten sie einen Beitrag zum Thema „Literatur und Recht“238. Vorbildlich sind die Präambeln der US-Bundesverfassung sowie des deutschen Grundgesetzes, auch die der Verfassung von Andorra (1993), Südafrika (1996), Polen (1997) und Albanien (1998), zuletzt Kosovo (2008) sowie Kenia (2010). Leider missbraucht die Präambel der neuen Verfassung Ungarns von 2012 die Kunstform der Präambel, die in der Hand anderer Verfassunggeber oft ein „Textereignis“ geworden ist. Das zeigt sich im Ungarn von 2012: negativ in der einseitigen, überzogen nationalistischen Ausgestaltung der Präambel, ihrer Nähe zu einem bloßen Parteimanifest und in der nicht alle Schichten und Perioden der ungarischen Staats- und Verfassungsgeschichte umfassenden Auswahl der Themen und Beteiligten. Festgehalten sei an der These von der Musikalität, dem sprachlichen Glanz der Präambeln, die eine besondere Erscheinungsform des Verhältnisses von Musik und Verfassungsrecht darstellen. III. Verfassungsinterpretation – Interpretation von Rechtstexten Dieser Zusammenhang ist insbesondere von italienischer Seite prominent be­ handelt worden – von G. Resta239. An dieser Stelle muss Folgendes genügen: Manche juristischen Interpretationsmethoden – Klassiker ist über Italien hinaus 237  Dazu P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S.  920 ff. 238  Aus der überreichen Literatur: K. Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Recht in Literatur, Theater und Film, 2004. Zum Thema „Literatur und Verfassungstaat“: P. Häberle, Verfassungslehre, a. a. O., 2. Aufl. 1998, S. 504 ff.; ders., Das Grundgesetz der Literaten, 1983. 239  Vgl. G. Resta, Variazioni Comparatistiche Sul Tema: „Diritto e Musica“, in: www.comparazionedirittocivile.it., S. 1 ff. – Bemerkenswert aus Deutschland: M. T. Fögen, Das Lied vom Gesetz, 2007.



VIII. Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht457

E. Betti240, neuerdings lernen wir von den Arbeiten zur Verfassungsinterpretation von A. Cervati und P. Ridola241 – finden ihre Entsprechung in der Interpretation musikalischer Werke. Besonders auffällig geschieht dies bei der historischen Auslegung („Werktreue“), man denke an die umstrittene historische, sogenannte „authentische“ Aufführungspraxis eines N. Harnoncourt – ihr entspricht die entstehungsgeschichtliche Wortlautauslegung. So wie sich die Interpretation von Rechtstexten im Laufe der Zeit wandelt, so verlebendigt sich in der jeweiligen Zeit aber auch in einer unterschiedlichen Aufführung von Sinfonien, Opern und Konzerten. Der Zeitgeist tut hier sein – vielleicht nur dem Weltgeist offenbares – Werk. Die teleologische Interpretation findet eine Entsprechung in der Programmmusik z. B. eines Richard Strauss oder P. Tchaikowsky, man denke auch an dessen Ballette. Das Verständnis von Musik wird ebenso von unterschiedlichen nationalen Kontexten in Raum und Zeit geprägt (Ungarische Tänze von J. Brahms, Werke von B. Bartok), wie derselbe Rechtstext einen unterschiedlichen Inhalt annehmen kann. Man spricht in Bezug auf Musikwerke und Orchester auch von ganz bestimmten „Schulen“ (etwa der Leipziger oder Berliner Schule bzw. der deutschen im Gegensatz zur französischen), ähnlich den Schulen in der Jurisprudenz (etwa von H. Kelsen oder R. Smend). Dem Dirigenten kommt in der Musik eine Leitfunktion zu, die wir in der Jurisprudenz aus meiner Sicht nicht praktizieren (sollten): denn in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten hat nicht einmal das deutsche Bundesverfassungsgericht das „letzte Wort“, wie es sich leider erst vor kurzem in dem z. T. missglückten Lissabon-Urteil anmaßt (E 123, 385)242. Es besteht eher ein Zusammenhang zwischen „Dirigieren und Regieren“, bei Orchesterproben lässt sich dies beobachten (wir denken an F. Fellini). Bei Streichquartetten oder Klaviertrios sind alle Musiker gleichberechtigt. IV. Sprache und Musik – ihr Zusammenhang im „Recht“ Schon bei den Verfassungspräambeln sowie Nationalhymnen wurde dargetan, dass Sprache, Musik und Recht in einem kulturwissenschaftlichen Ansatz zusammenzuführen sind. Bei Oratorien (J. Haydn / G.  F. Händel) und Opernlibretti (da Ponte / Mozart: Cosí fan tutte), auch bei den Passionen und Kantaten eines J. S. Bach erkennen wir einen engen Zusammenhang zwischen musikalischer Partitur und Text, auch bei Volks- und Kirchenliedern kommt es zu engen Symbiosen. Wichtig ist nun an die Inhalte zu erinnern, die in manchen musikalischen Werken auch sprachlich ins Recht verweisen. Man denke an Rechtsfälle in der Musik, z. B. in der Oper „Freischütz“ von C. M. von Weber, oder an die massive Ansammlung von Kriminalfällen in den Opern von R. Wagner (Mord und Totschlag, Inzest und Verrat). Es gibt Literatur zu diesen Themen von juristischer Seite aus. R. Wagner ist vor allem für das Strafrecht ungemein interessant243. Eigens erwähnt seien auch die großen Rechtsbegriffe, die G. Resta, a. a. O., S.  8 ff. Cervati, Per uno studio comparativo del diritto costituzionale, 2007; P. Ridola, Diritto Comparato e Diritto Costituzionale Europeo, 2010. 242  Dazu meine Kritik: Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 729 ff. 243  Vgl. E. von Pidde, Richard Wagners „Ring der Nibelungen“ im Lichte des deutschen Strafrechts, 2003. 240  Dazu

241  A. A.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

sich in den Texten von Nationalhymnen finden (etwa Freiheit, Vaterland, Heimat, Recht, Einheit, Natur, Gott und Volk etc.). V. „Musikerjuristen“ Nicht zu unterschätzen ist die auffallende Tatsache, dass viele Komponisten zunächst als Juristen begonnen haben. Ich nenne erneut R. Schumann, P. Tschaikowsky, I. Strawinsky. So wie es viele „Dichterjuristen“ gibt (an erster Stelle J. W. von Goethe, auch E. T. A. Hoffmann)244, ein in der deutschen Literatur oft behandeltes Thema, so gibt es auch nicht wenige „Musikerjuristen“. Es lohnte eigens zu erforschen, ob Zusammenhänge zwischen dem rechtswissenschaftlichen Beginn einer Biographie und ihrer Wendung in die Kompositionskunst nachweisbar wären, etwa im Satzbau, Rhythmus und Stil. Der biographische Wechsel großer Schöpferpersönlichkeiten in die Musik sollte freilich kein Argument gegen den Zusammenhang von Musik und Recht sein. VI. Urheberrechtsfragen Eine besonders heikle Frage des Verhältnisses von Musik und Recht stellt sich in Gestalt der Frage, ob und wie die Rechtsordnung mit den Urhebern, d. h. den Schöpfern und Interpreten von musikalischen Werken in der Informationsgesellschaft von heute umgeht. Angesichts der vielen Raubkopien und der unbegrenzten Möglichkeiten des Internets von heute, kommt es zu dramatischen Fragen. Wird der Autor von „Musik“ aller Gattungen noch genügend und genügend lang geschützt? – Konsequenz seines Persönlichkeitsrechts. Auch hier kann das Problem nur als Merkposten behandelt werden. Das „geistige Eigentum“ an der Musik (vgl. Art. 14 GG, dazu BVerfGE 31, 229; 36, 281)245 sollte jedenfalls rechtlich genügend geschützt werden – eine rechtspolitische Aufgabe, besonders angesichts der aktuellen Vorgänge im Internet. Erwähnt sei auch der mögliche Konflikt zwischen der Kunstfreiheit des Urhebers gegenüber der Kunstfreiheit des Interpreten246. VII. Sonstige Ausdrucksformen des Zusammenhangs von „Musik und Recht“ Eigens erwähnt sei das Problem Musik im Kirchenrecht bzw. in der Kirche. Zu diesem Thema gibt es sogar eine Oper: „Palästrina“ von H. Pfitzner. Bekannt ist 244  Aus der klassischen Literatur: H. Fehr, Das Recht in der Dichtung, 1931; Erik Wolf, Das Wesen des Rechts in deutscher Dichtung, 1946; P. Schneider, „ein einig Volk von Brüdern“, 1987; weitere Nachweise in P. Häberle, Das Grundgesetz der Literaten, 1983, passim, bes. S. 9 ff.; s. aber auch R. Posner, Law and literature, A Miss understood Relation, 1988. 245  Aus der Lit.: F. Fechner, Geistiges Eigentum und Verfassung, 1999; E. Wadle, Beiträge zur Geschichte des Urheberrechts, 2012. – Bemerkenswertes konstitu­ tionelles Textmaterial zum „geistigen Eigentum“ jetzt in Art. 42 neue Verf. Angola von 2010. 246  Dazu F. Hufen, Staatsrecht II, 3. Aufl. 2011, S. 560.



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben459

der Streit auf so manchem Konzil im Mittelalter zur Frage, ob und welche Musik in den katholischen Kirchen aufgeführt werden darf: z. B. in Vienne, 1311 / 12, und vor allem in Trient, 1545. Der CIC von 1983 regelt unser Thema (z. B. Can. 1173: „in Gesang und Gebet“), zuvor erging eine Enzyklika von Papst Pius XII. (1955): „Musicae Sacrae Disciplina“. Auch das weltliche Feiertagsrecht beschäftigt sich mit der Frage der erlaubten oder nicht erlaubten Musik (gemeindeutsches Feiertagsrecht in Sachen „Stille Feiertage“, vgl. Art. 3 BayFeiertagsG mit Tanz- und Musikverbot, etwa am Karfreitag). Ausblick Diese Skizze ähnelt eher einem „Spaziergang“ durch unser Thema. Er entspricht insofern dem genius loci von Rom. Manche von Ihnen kennen das schöne Dictum eines römischen Gelehrten: Es gibt kein römisches Recht, sondern: Das Recht ist römisch; A. D’Atena hat uns dieses Bonmot vermittelt (das Verfassungsrecht freilich ist gegenüber „Rom“ etwas Neues). Die Musik indes ist wohl das universalste Geschenk, das wir den Göttern verdanken. Das alte Griechenland soll dem Vernehmen nach die eigene Musik (uns heute leider unbekannt) als höchste Schöpfung seiner Kultur bewundert haben. Wir verehren das römische Recht als Geschenk Roms an Europa, ja die Welt. Das Verfassungsrecht freilich ist eine besondere Hervorbringung der Neuzeit, d. h. das Verfassungsrecht des Verfassungsstaates. Mag dieser seine frühen Klassikertexte bei Platon und Aristoteles, auch Cicero gefunden haben (in Sachen Gerechtigkeit bzw. salus publica): Der Verfassungsstaat ist eine kulturelle Errungenschaft vieler, vor allem neuer Zeiten, Räume und Personen: bis ins Universale. Genannt seien nur Montesquieu, Rousseau, die Federalist Papers der werdenden USA sowie I. Kant (Menschenwürde) und aus England T. Hobbes und J. Locke. Die „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ kann auf den Schultern solcher Riesen zwergenhaft manche Verbindungslinien zwischen Musik und Recht erkennbar werden lassen, wenngleich hier und heute – selbst in Rom – nur im Ansatz.

IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben (der materielle und prozessuale Ansatz) 1. „Gemeinwohl“ und seine Teil- und Nachbarbegriffe im kulturellen Verfassungsvergleich Einleitung Parteien sind Gruppen, die ihr „Machtstreben am Gemeinwohl zu legitimieren suchen“ – dieses Wort von W. Grewe aus der Festschrift für E. Kaufmann (1950) ist ein – bestreitbarer – „Klassikertext“. Im Folgenden247 sei verfassungsvergleichendnational-europäisch-regional und z. T. weltweit ein eigener Weg gesucht. Dabei soll 247  Zum Nachstehenden schon – jetzt überarbeitet – gleichnamig mein Beitrag in: M. Morlok u. a. (Hrsg.), Gemeinwohl und politische Parteien, 2008, S. 95 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

eine typologisch strukturierte Bestandsaufnahme im längeren Ersten Teil gewagt werden, der kurze Zweite Teil gilt dem Theorierahmen im Umriss. Vorweg jedoch einige Grundsatzüberlegungen. Das Gemeinwohl und synonym die „öffentlichen Interessen“ erleben derzeit in vielen Wissenschaften und Literaturgattungen eine „Renaissance“: in Festschriften, Kolloquiumsbänden, großen AkademieHandbüchern, aber auch in Monographien und Aufsätzen widmen sich ihnen die Rechtswissenschaften gerade in unseren Tagen248. Das war nicht immer so bzw. vor einer Generation etwas anders. Wohl im Gefolge der sonst recht fragwürdigen „68er Generation“ kam es um 1969 / 70 zu größeren Habilitationsschriften zum Thema, z. T. im Kontext mit der Öffentlichkeit, die J. Habermas (1965), nach R. Smend (1955), ihre Wiederentdeckung verdankt. Gerungen wurde 1970 um das „Öffentliche Interesse als juristisches Problem“249 aus dem positiven konkreten Rechtsstoff der Gesetze und Urteile, nicht primär aus der Tiefe der Geistes- und Begriffsgeschichte. Ein Ertrag dürfte der betont kompetenzielle, pluralistische, prozessuale Ansatz sein („salus publica ex processu“). Von den Politikwissenschaften her wirkte E. Fraenkel für das pluralistische Gemeinwohlverständnis als Wegbereiter. Die Offenheit und Öffnung war ein Leitmotiv, so wie auch auf anderen Feldern: Man denke etwa an „Alternativ-Entwürfe“ im Strafrecht oder an die verfassungstheoretische Erarbeitung der „Opposition“ im Parlamentsrecht, auch an die Entdeckung des Demonstrationsrechts in der Praxis und im Recht des Verfassungsstaates (Art. 8 lit. g Verf. Kanton Jura von 1977). Das Thema hatte, wenn in der wahrheitsverpflichteten Wissenschaft solches zu sagen erlaubt ist, „Konjunktur“. Nur der „Weltgeist“ weiss, warum all dies gerade hier und jetzt. Blickt man auf die Gegenwart, so glaubt man einen neuen „Gang“ im „Konjunkturzyklus“ des Themas erkennen zu können. Nach „Gemeinwohl“ wird heute wohl gefragt, um national Halt zu gewinnen, sich bestimmter Grundwerte des politischen Gemeinwesens in der globalisierten Welt zu versichern. Man sucht nach „Grund und Gründen“. Darum wohl auch der grenzüberschreitende Erfolg des sog. „kulturwissenschaftlichen Ansatzes“, wobei freilich schon 1983 ein „Kulturgespräch“ über das Gemeinwohl gefordert worden war250. Die offene Gesellschaft Poppers – in manchen neueren Verfassungen Text geworden – bedarf der kulturellen Grundierung, heute könnte das Gemeinwohl bzw. seine Teil- und Nachbarbegriffe wie „Staatsaufgaben“ (etwa des Umweltschutzes, „nachhaltige Entwicklung“, Altenschutz) oder „Grundwerte“ (Frieden, Toleranz) dazu dienen. Im Folgenden kann das interdisziplinäre Gespräch allenfalls eröffnet, nicht selbst geführt werden. Das übersteigt die Möglichkeiten. „Gemeinwohl“ gehört zu „Schlüsselbegriffen“ wie (soziale) Gerechtigkeit, Solidarität, Würde des Menschen, sog. 248  Nachweise in P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem (1970), 2. Aufl. 2006, S. 768 ff. 249  Nach 1970 erschienene Lit. zum Gemeinwohl etwa: R. Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999; M. Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, 2006; R. Viotto, Das öffentliche Interesse, 2009; D. Riedel, Eigentum, Enteignung und das Wohl der Allgemeinheit, 2012. 250  P. Häberle, Die Gemeinwohlproblematik in rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 257 ff.; aus der Sicht des Verfassungshistorikers jetzt M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4. Bd., 1945–1990, 2012, S.  327 f.



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben461

„Wahlsprüche“ vor allem in afrikanischen Verfassungen (z. B. Art. 4 Verf. Äquatorial Guinea von 1991: „Einheit – Friede – Gerechtigkeit“; Art. 1 Verf. Benin von 1990: „Brüderlichkeit – Gerechtigkeit – Arbeit“; Art. 34 Verf. Burkina Faso von 1991 / 1997: „Einheit-Fortschritt-Gerechtigkeit“). Es gehört in den Kontext des Ensembles von „Grundwerten“, hat eine Jahrtausende alte (Vor-)Geschichte („Herkunft“) und gewiss eine Zukunft im kooperativen „Typus Verfassungsstaat“ der heutigen Entwicklungsstufe – so wie dieser selbst vielleicht weltweit Zukunft hat. Da von einem deutschen Autor gewiss auch Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“ (J. Esser) verlangt wird, die Methoden jedenfalls bewusst gemacht werden müssen, hier noch einige Worte dazu. Im Folgenden wird im Geiste des „Textstufenparadigmas“ gearbeitet. 1989 entwickelt, meint es Folgendes: Die neuen Verfassungen greifen oft Themen, Problemfelder und Begriffe auf, die sich in bisheriger Verfassungswirklichkeit entwickelt haben: im eigenen Land oder im Nachbarland, mitunter sogar auf anderen Kontinenten. Verfassungstexte werden, um ein Schweizer Wort für die Bundesverfassung von 1999 zu gebrauchen, „nachgeführt“. Hinzu kommt der weltweite Produktions- und aktive Rezeptionzusammenhang mit vielen Akteuren in Sachen Verfassungsstaat. Dabei geht es um die Trias von Texten, Theorien (Wissenschaft) und Praxis (vor allem der Judikatur). So haben z. B. viele neuere Verfassungen die Judikatur des BVerfG in dessen „Fernseh-Urteilen“ seit 1961 (Stichworte: Unabhängigkeit vom Staat, Pluralismus der Medien, Repräsentanz) auf Verfassungstextbegriffe gebracht. So knüpfen manche Verfassungstexte an die Rechtsprechung zu den politischen Parteien an, etwa an das Sendezeiten-Urteil des BVerfG (Art. 39 Verf. Portugal von 1976 / 92). So übernehmen die im Ganzen höchst innovativen Schweizer Kantonsverfassungen seit 1968 folgende manche deutschen Begriffe und Theorien, auch wenn die Schweizer dies nicht so gerne hören wollen: etwa in Sachen Wesensgehaltschutz der Grundrechte (Verbindung „absoluter“ mit sog. relativen Elementen, vorbildlich Art. 28 Verf. Bern von 1993; § 13 KV Basel-Stadt von 2005; Art. 38 KV Fribourg von 2004). Die Beispielsliste könnte fortgeführt werden, muss hier aber genügen. Da der Verfasser nicht diese Verfassungswirklichkeit vieler Länder oder gar weltweit aller Länder studieren kann, muss im Folgenden der Blick auf den Verfassungsvergleich der Texte beschränkt werden, freilich im Wissen darum, dass in ihnen, wie gezeigt, oft auch ältere Vorgänge und Themen, Judikatur und Praxis benachbarter oder sogar eigene Wirklichkeit „eingeflossen“, „geronnen“ sind. Zu fragen wäre, wie das Gemeinwohl in einzelnen Ländern verschieden, arbeitsteilig durch unterschiedliche Akteure (in der Schweiz auch direkt durch das Volk) erarbeitet wird: durch politische Parteien, durch wissenschaftlichen Sachverstand, welche Rolle das „Selbstverständnis“ dabei spielt, welche Rolle die Verbände spielen, aber auch – nicht zu vergessen – auch die Bürger – via Grundrechtsausübung und politische Beteiligung. Bei all dem wären die Klassiker des Parteienrechts zu befragen: von G. Leibholz über K. Hesse und W. Henke bis zu D. Tsatsos. Auch wechselseitige Verständnisse und Missverständnisse zwischen Politikwissenschaft und Verfassungsrechtslehre wären beim Namen zu nennen. Wer könnte all dies leisten? Etwa auch Fragen des Mehrheitsprinzips beantworten, anders als F. Schiller: „Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe …“ Das Thema lautet: „Die Rechtskultur der Gemeinwohlbestimmung im internationalen Vergleich“, vielleicht ein „Altersthema“. Während ein „Kulturgespräch über

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5. Kap.: Einzelausprägungen

das Gemeinwohl“ schon 1983 geführt ist251, wurde, soweit ersichtlich, bislang „Rechtskultur“ und „Gemeinwohl“ noch nicht genügend zusammengedacht. Darum zunächst ein Wort in Sachen „Rechtskultur“, sodann Fragen des Zusammenhangs von „Rechtskultur“ und „Gemeinwohl“. Heute ein zunehmend verwendeter Begriff252, 1994 im Blick auf die „europäische Rechtskultur“ konkretisiert, ist „Rechtskultur“ ein „Synthesebegriff “: ihn zu umschreiben ist nicht leicht. Gegenüber seinen Einzelelementen meint er wohl etwas Neues, Übergreifendes. Er verbindet die umschriebene „Kultur“ mit dem erwähnten „Recht“. Ohne weiteres spürbar ist der immanente Verweis auf etwas Gewachsenes, auch auf tiefere „Geltung“. Grundwerte sind angesprochen, die Nähe zur „Gerechtigkeit“ liegt auf der Hand. Ehe wir um eine Theorie der Rechtskultur ringen, vielleicht einige konkrete Beispiele: Im Blick auf die europäische Rechtskultur lassen sich mindestens 6 Elemente ausmachen: weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des (religionsfreundlichen) Staates, Wissenschaftlichkeit des Rechtes, neben dem Partikularen auch Horizonte des Universalen (Menschenwürde sowie Menschenrechte), Rechtsstaatlichkeit (vor allem Unabhängigkeit der Rechtssprechung) und pluralistische Demokratie, rechtskulturelle Vielfalt und Einheit253. Manches gewinnt jetzt in der Verfassung Serbiens (2006) und des Kosovo (2008) Textgestalt. Ein Brückenschlag, etwa zu ganz Asien, ganz Afrika oder ganz Lateinamerika ist hier nicht möglich. Erwähnt sei nur die Theorie des „Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts“ (2001), parallel zum gemeineuropäischen Verfassungsrecht von 1991 entwickelt (darauf später Bezug nehmend der Terminus „Gemeinislamisches Verfassungsrecht“ (E. Mikunda)254. In Afrika deutet die vorbildliche Verfassung Südafrikas von 1997 auf eine werdende Rechtskultur moderner Verfassungsstaatlichkeit (Gleiches gilt für die Verf. Kenias von 2010, mit großen Innovationen in ihrer „Bill of rights“), und aus Lateinamerika seien Stichworte für Peru und Mexiko genannt. (Beispiele sind: Ombudsmann, Schutz der Eingeborenenkulturen, Kampf gegen Analphabetismus); für dasselbe Lateinamerika sind die Verfassungen von Bolivien (2007) und von Ecuador (2008) richtungsweisend (Stichworte bilden die großen Themen „Kultur“, „Erziehung“, „Plurinationalität“ und „Reform der Verfassung“). Das Völkerrecht (als Kultur) lebt ebenfalls aus „Rechtskultur“: Man denke an seine „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ (rezipiert in Art. 2 Abs. 5 Verf. Kenia von 2010) und die Menschenrechte. Freilich sind die Gefährdungen und Defizite besonders groß, weil das Machtmoment einzigartig hinzu kommt. Ein Staat kann das feine Netz der Rechtskultur des allgemeinen Völkerrechts jäh zerreißen. Überdies ist die Staatenwelt so vielfältig, dass rechtskulturelle Bindeglieder noch schwieriger zu „entwickeln“ sind. Abgesehen davon gibt es das sog. „Entwicklungsvölkerrecht“. 251  Dazu P. Häberle, Die Gemeinwohlproblematik in rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 257 ff. 252  Vgl. zuletzt H. Hofmann, Recht und Kultur, 2009; C. Starck, Errungenschaften durch Rechtskultur, 2011; I. v. Münch, Rechtspolitik und Rechtskultur, 2011. 253  P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994. 254  Gleichnamig ders., in: JöR 51 (2003), S. 21 ff.



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben463

„Rechtskultur“ sollte nicht nur auf Europa oder Amerika beschränkt werden. Auch islamische, afrikanische, pazifische, asiatische Staaten haben Anspruch darauf, in die Horizonte rechtskulturellen Denkens einbezogen werden. Gewiss können wir von der europäischen Rechtskultur für den Vergleich mit Ländern in Übersee viel lernen, doch zeigt sich auch Fremdes, ganz Anderes. Vielleicht ist sogar das Wort „Weltrechtskultur“ erlaubt: für Beispiele wie Menschenwürde, Religionsfreiheit, Religionsfreundlichkeit des Staates, Rechtsstaat, Rechtsschutz, Pluralismus. Ein Wort zu den islamischen Staaten. Wir stehen heute vor der Frage, ob und inwieweit sie „demokratiefähig“ und -willig sind, ob sie Toleranz – bis zu welchen Grenzen? – lernen können (in den Ländern des „Arabischen Frühlings“ seit 2011 gilt dies besonders). Wir, unsere europäische Rechtskultur muss sich die Frage gefallen lassen, ob wir wissen, wie wir mit diesen Ländern umgehen sollen. Nimmt man die Verfassungstexte islamischer Staaten als ersten Zugangsweg, auch Entwürfe wie etwa für den Sudan (1998) sowie geltende Texte wie – neu – Afghanistan und den Irak, so lässt sich kaum bezweifeln, dass sie „Rechtskultur“ dokumentieren: die Anrufung Gottes, des „Barmherzigen“, also die „invocatio dei“ (z. B. Präambel Verf. Afghanistan von 2004, Präambel Verf. Irak von 2005), die Regeln für das gute Zusammenleben, die von ihnen legitimierten Gremien, die Tendenz zu Rechtsprechung – all das kann das Prädikat „Rechtskultur“ in Anspruch nehmen, legt man die soeben genannten Kriterien zugrunde. All dies ist „gereift“, aus einer Offenbarung des Islam entstanden. Freilich: Wir haben Mühe mit der Anordnung, dass die „Scharia“ oberste Rechtsquelle sein soll oder jedenfalls kein Gesetz ihr widersprechen darf (vgl. Art. 3 Verf. Afghanistan, Art. 2 Abs. 1 Verf. Irak), so unterschiedlich dieser Begriff ausgelegt werden mag. Hier steht dann „Verfassung“ in unserem Verständnis gegen das „Gottesgesetz“. Ein sehr charakteristisches Moment verfassungsstaatlicher Verfassungen, der „Vorrang“ der (weltlichen – säkularen) Verfassung gilt insoweit nicht. Hatten die Azteken eine „Rechtskultur“? Gewiss! Bekanntlich hat sie ein Deutscher erforscht (J. Kohler). Fragen über Fragen, die hier nur angedeutet seien. Verträgt sich die türkische mit der europäischen Rechtskultur255. Neu ist die Frage, ob und wie das Gemeinwohl, die Pluralität seiner Inhalte und Verfahren, die Vielfalt seiner nationalen Erscheinungsformen und Funktionen, Bestandteil der Rechtskultur sind. Ausweislich der Geschichte und des positiven Rechts auf Verfassungs- und Gesetzesstufe kann dies sicherlich für die europäische Rechtskultur bejaht werden. Indes wäre zu fragen, ob es nationale Rechtskulturen gibt, die ganz oder teilweise auf das „Gemeinwohl“ (z. B. in Verfassungstexten) verzichten (können), oder solche, die es abundant (warum?) verwenden. Da das Gemeinwohl meist Teil der „Verfassungskultur“ (ein Begriff aus dem Jahre 1982) ist, heute aber von „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ gesprochen wird256, ist zu vermuten, dass das Gemeinwohl bzw. seine Parallel- und Ersatzbegriffe auch im Völkerrecht und zuvor im Europarecht auftauchen. Diese Fragen wurden schon vor geraumer Zeit erörtert257, neu ist die Dimension des Universalen. der Lit.: H. Goerlich, in JöR 61 (2013), S. 651 ff.; H. Yildiz, ebd. S. 669 ff. „Konstitutionalisierung der Staatengemeinschaft“ m. w. N.: I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl., 2006, Art. 25 Rn. 5. 257  Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 1.  Aufl. 2001  /  2002, S.  369 ff.; ders., Öffentliches Interesse, a. a. O., 2. Aufl. 2006, S. 777 ff. 255  Aus 256  Zur

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5. Kap.: Einzelausprägungen Erster Teil Bestandsaufnahme – Gemeinwohltypologie im heutigen Konstitutionalismus Vorbemerkung

Im Folgenden seien zwei Wege zur Erforschung der neueren Gemeinwohlklauseln in verfassungsstaatlichen Verfassungen begangen. Zum einen seien besonders profilierte Länder bzw. Verfassungen ausgewählt, die es verdienen im Ganzen dargestellt zu werden und die aus sehr verschiedenen Himmelsrichtungen stammen: nämlich Thailand, als Beispiel aus Asien, Niger aus Afrika sowie als Beispiele für einen islamischen Staat Afghanistan oder der Irak und ein Entwurf aus Somalia und dem Sudan. In Form eines „Inkurses“ seien die drei deutschsprachigen Länder Österreich, die Schweiz und Deutschland auf Gemeinwohlklauseln hin abgesucht. Die gemeinsame Sprache könnte auf eine gemeinsame Rechtskultur in Sachen Gemeinwohl deuten. Angesichts der seit 1989 intensivierten wechselseitigen Produktionsund Rezeptionsprozesse in Sachen Verfassung, ihrer Texte, Theorien und ihrer Praxis kann es freilich sein, dass es viele Parallelen, Analogien und Annäherungen beim textlichen Einsatz des Gemeinwohls bzw. öffentlichen Interesses und seiner Ersatzbzw. Nachbarbegriffe gibt. So darf dem zweiten Ansatz besondere Aussagekraft zukommen. Er ringt um eine, vielen Verfassungen gemeinsame Gemeinwohltypologie (Stichwort: Gemeinwohl als Staatsaufgabe, als Grenze von Grundrechten, als Direktive für Eide von Amtsträgern, als Titel für den Staatsnotstand und ausnahmsweise Gemeinwohl als allgemeine Pflicht für den Bürger (Grundpflicht), aber auch als Legitimation für einzelne seiner Grundrechte (so bei der Freiheit der Massenmedien in Paraguay)). Werden die Araber seit 2011 daran anknüpfen? Der Ehrgeiz besteht (nur) in der Erarbeitung einer Typologie des Auftretens des Gemeinwohls in neueren Verfassungstexten. Die „Gemeinwohljudikatur“ des BVerfG aus 60 Jahren wurde erst jüngst wieder nachgezeichnet. Wegen der älteren Analyse darf auf frühere Untersuchungen verwiesen werden258. Erlaubt sei das hier und heute einzige Hegel-Zitat, Philosophie sei ihre „Zeit in Gedanken gefasst“. Darum darf man sich als Verfassungsjurist freuen: Das Gemeinwohl und seine Teil- und Nachbarbegriffe beflügeln, inspirieren oder beeindrucken auch die neuen Verfassunggeber: in der Schweiz ebenso wie in Lateinamerika, in Afrika ebenso wie in Osteuropa. Unser „Verfassungszeitalter“ seit dem „annus mirabilis“ 1989 (und seit 2011 erneut) lässt vermuten, dass die Verfassunggeber ohne diesen Leitbegriff nicht auskommen. Wie sie arbeiten und ob auch das Gemeinwohl im Parteienrecht „auftaucht“, sei im Folgenden dargestellt. Dass Letzteres hoffentlich wohl eher nicht der Fall ist, liegt nahe, weil die politischen Parteien ja gerade um das Gemeinwohl „ringen“, es nach ihrer Art, ihrem eigenen „Selbstverständnis“ definieren wollen, es im „Kräfteparallelogramm“ der Auseinandersetzungen und im Austausch der Argumente suchen, finden, auch verfehlen und ggf. kompromisshaft umschreiben wollen. 258  P. Häberle, Öffentliches Interesse, 2. Aufl. 2006, S. 774 ff. bzw. ders., „Gemeinwohljudikatur“ …, AöR 95 (1970), S. 86 ff., 260 ff. – Zuletzt etwa BVerfGE 102, 1 (15); 118, 79 (110 f.); 118, 168 (195 f.); 119, 59 (83); 120, 82 (113); 121, 317 (365); 124, 235 (247); 125, 260 (316); 126, 112 (139); 127, 61 (77); 130, 318 (359).



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben465

Vorweg sei gesagt, dass – dem ähnlich – das Gemeinwohl auch im Kontext der Freiheit fragwürdig sein könnte – weil Freiheit des Einzelnen und der Gruppen gerade nicht als vorgefasstes, „vorgegebenes“ Gemeinwohl determiniert sein kann – allenfalls als Grenze mag es selbst im Rechtsstaat auftauchen (besonders bei der Grenze der Grundrechte). Die Europäisierung des Gemeinwohls bleibe ein Merkposten. Dass das Gemeinwohl im Völkerrecht erscheint, sei vorausgeschickt – dies ist naheliegend angesichts der Teil-„Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ in unserer Zeit. Im Strafrecht dürfte es wegen des Satzes „nulla poena sine lege“ selten vorkommen, im Zivilrecht nur als Grenze z. B. der Privatautonomie („ordre public“). Dass es im Europäischen Verfassungsrecht auftaucht, sei schon vorweg vermutet. Denn dieses „neue“ Gebiet, das auf eine „europäische Republik“ der Vielfalt hin tendenziert259, ist ja schon eine „Verfassungsgemeinschaft“ eigener Art. Und alles, was mit „Verfassung“ zu tun hat, führt an einer oder mehrerer „Stelle“ auch zum Quellgebiet des Begriffs bzw. der Sache „Gemeinwohl“. Es dürfte ein Strukturelement einer völkerrechtsoffenen „universalen Verfassungslehre“ sein, so vielfältig die Textvariationen sind. I. Ein „Querschnitt“ – weltweit Im Ersten Teil sei der Versuch unternommen, den mannigfachen „typischen“ Erscheinungsformen von Gemeinwohlklauseln in weltweit möglichst vielen Verfassungen nachzuspüren. Dabei sollen absichtlich sehr heterogene Länder verglichen werden, denn es wäre ein erstaunliches Ergebnis, wenn trotz der vier Himmelsrichtungen Nord und Süd, West und Ost über Kontinente260 hinweg das Gemeinwohl bzw. öffentliches Interesse und deren Nachbar-, Parallel- oder Ersatzbegriffe an bzw. in vergleichbaren Problemfeldern aufträten und gemeinsame „Nenner“ hätten. Damit wäre ungeachtet der in Raum und Zeit unterschiedlich bleibenden Konkretisierung durch (nationale) Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung („Gemeinwohljudikatur“) der Beweis erbracht, dass das Gemeinwohl, bei allen Varianten, integrierender, unverzichtbarer Bestandteil des heutigen (universalen) Konstitutionalismus ist: so wie etwa der „Vorrang der Verfassung“ oder die Gewaltenteilung, vielleicht auch der Ombudsmann und eines Tages die „Wahrheitskommission“ (soeben, 2012, in Zimbabwe geplant). Ein alteuropäischer Topos seit der Antike offenbarte einen klassischen und neueren Stellenwert. Dabei kann freilich der sog. „freie“ – nicht an Texte gebundene – Einsatz des öffentlichen Interesses261 vor allem durch die Judikatur hier und heute nicht erarbeitet werden: das überforderte die Leistungskraft eines einzelnen Wissenschaftlers, sogar die des „Google“ – sofern ihn nicht ein neuer Aristoteles programmiert hätte. 259  Dazu der Verf. schon in der 1. Aufl. seiner Europäischen Verfassungslehre, 2001 / 02, S.  34. 260  Die lateinamerikanischen Verfassungen sind zit. nach L. Lopez Guerra /  L. Aguira (coord.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1998; die osteuropäischen nach H. Roggemann (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999; die „Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas“ nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), 1997. 261  Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1.  Aufl. 1970, S. 328 ff. (2. Aufl. 2006).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Vorweg: Bemerkenswert ist, dass auch die Verfassungen der neuen Bundesländer in Deutschland alte und neue Texte in Sachen öffentliches Interesse bzw. Gemeinwohl oft verwenden (z. B. als Vorbehaltsschranke beim Recht auf Akteneinsicht nach Art. 21 Abs. 4 Verf. Brandenburg von 1992, s. auch Art. 6 Abs. 2 Verf. MecklenburgVorpommern von 1993, Art. 34 Verf. Sachsen von 1992 in Sachen Umweltdaten, Art. 6 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt von 1992), sodann bei der Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums (Art. 41 Abs. 2 Verf. Brandenburg), bei kommunalen Gebietsänderungen (ebd. Art. 98 Abs. 1 sowie Art. 92 Abs. 1 Verf. Thüringen von 1993), bei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (z. B. Art. 34 Abs. 1 Verf. MecklenburgVorpommern), bei der Verpflichtung der Verwaltung auf das „Wohl der Allgemeinheit“ (Art. 82 Abs. 1 Verf. Sachsen), beim Amtseid der Mitglieder der Landesregierung (Art. 66 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt), bei der Enteignung (Art. 34 Abs. 3 Verf. Thüringen). Die Präambel Verf. Brandenburg postuliert das „Wohl aller zu fördern“. Schon die alten Bundesländer nach 1945 hatten das Gemeinwohl „beschworen“ (z. B. Art. 3 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern von 1946, Art. 1 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947, Art. 43 Abs. 1 Verf. Saarland von 1947). Der Begriff war offenbar nicht dauerhaft diskreditiert: weder durch den Missbrauch in der NS-Zeit („Gemeinnutz geht vor Eigennutz“), noch durch den seitens der SED-Diktatur in Ostdeutschland. Die in den Reformverfassungen Osteuropas und auf dem Balkan weit verbreiteten Klauseln zum politischen Pluralismus (z. B. Art. 11 Abs. 1 Verf. Bulgarien (1991), Art. 3 Verf. Albanien (1998)) dürften auch auf das Gemeinwohlverständnis ausstrahlen: i. S. einer „Verfassung des Pluralismus“ und eines pluralistischen Gemeinwohls. In Lateinamerika bekennen sich neuere Verfassungen ebenfalls zum „politischen Pluralismus“ (z. B. Art. 2 Verf. Venezuela von 1999, Art. 1 Verf. Bolivien von 2007). 1. Eidesklauseln In diesem Problembereich treten Gemeinwohlklauseln herkömmlich262 und aktuell besonders häufig auf, sei es bezüglich hoher Amtsträger, sei es im Blick auf andere Personen, die in die Pflicht genommen werden. Offenbar genügt die bloße Verpflichtung auf Verfassung, Recht und Gesetz, auch Gerechtigkeit nicht, da sich der gesamte Amtsauftrag (man denke an Präsidenten, Regierungsmitglieder und Parlamentarier) nicht gänzlich verrechtlichen lässt. Das Gemeinwohl erinnert hier an Gestaltungsspielräume („Ermessen“) meist politischer Art. Beispiele sind neben den Eidesklauseln im deutschen GG: Art. 103 Verf. Türkei (1982): „im Geiste der Wohlfahrt der Nation“263, Art. 53 Verf. Benin (1990): „allgemeines Interesse“, „Sicherung und Förderung des Gemeinwohls“ seitens des Präsidenten (ähnlich Art. 68 Verf. Burundi von 1992: „oberste Interessen der Nation“), Art. 12 Abs. 8 Verf. Irland von 262  Ein Beispiel aus der Geschichte: Art. 20 Verfassung Albanien (1925), zit. nach JöR a. F. 14 (1926), S. 487 ff.; im Blick auf den Abgeordneteneid: („allgemeines Wohl“); Art. 58 Verf. Jugoslawien (1921), zit. nach JöR a. F. 11 (1922), S. 200 ff.: Königseid („Wohl der Nation“). – Ein Beispiel aus der deutschen Verfassungsgeschichte: § 25 Verf. Bayern (1818) für die Mitglieder der Ständeversammlung, zit. nach E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961, S. 153. Ebenso § 69 Verf. Baden (1818), a. a. O. S. 167. 263  Zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff.



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben467

1937, s. auch Art. 12 Verf. Gabun (1991 / 94), Art. 37 Verf. Mali (1992), Art. 64 Verf. Togo (1992), Art. 88 Abs. 3 Verf. Albanien (1998): Präsidenteneid: „Interesse der Allgemeinheit“, s. auch Art. 76 Abs. 2 Verf. Bulgarien (1991): „Interessen des Volkes“, Art. 71 Verf. Georgien (1995): „Wohl der Bürger“, Art. 40 Verf. Lettland (1921  /  1998): „Wohlergehen des Staates Lettland und seiner Einwohner“, Art. 33 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975), Art. 114 Abs. 4 Verf. Serbien (2006): „welfare of all citizens“. Art. 38 Verf. Bremen verlangt den Eid der Mitglieder des Senats auf das Wohl der Freien und Hansestadt. Art. 60 Verf. Indien (1949) richtet den Eid auf: „Well-being of the people“ (ebenso Schedule 2 Verf. Südafrika von 1996). Eine jüngste Verfassung auf dem Balkan nimmt in den Eid des Staatspräsidenten ebenfalls den Gemeinwohlanspruch auf (Art. 114 Abs. 3 Verf. Serbien von 2006). 2. Grundrechtsschranken Bei der Begrenzung grundrechtlicher Freiheit figuriert das Gemeinwohl bzw. öffentliche Interesse querbeet als traditionsreicher Titel; das zeigt sich schon klassisch beim Eigentum bzw. der Enteignung seit 1789264 (Art. 42 Abs. 3 Verf. Italien, Art. 33 Abs. 3 Verf. Spanien, Art. 35 Verf. Liechtenstein, Art. 17 Abs. 2 Verf. Griechenland, Art. 29 Abs. 3 und Art. 76 lit. b Verf. Äquatorial-Guinea von 1991)265, aber auch bei anderen Grundrechten266. Beispiele finden sich in Art. 56 Verf. Kongo (1992): Einschränkungen im Interesse des „allgemeinen Wohlergehens in einer demokratischen Gesellschaft“, Art. 34 Abs. 2 Verf. Angola (1992): Einschränkungen des Streikrechts in bestimmten Bereichen „im Interesse der unaufschiebbaren Bedürfnisse der Gesellschaft“, Art. 52 Abs. 1 Verf. Angola: Grundrechtseinschränkungen u. a. „im Interesse der Allgemeinheit“, Art. 38 Verf. Burundi (1992): Einschränkungen „im Interesse des allgemeinen Wohlergehens in einer demokratischen Gesellschaft“, ebenso Art. 56 Verf. Republik Kongo (1992). Art. 13 Abs. 1 Verf. Türkei (1982) nennt unter den grundrechtsbeschränkenden Gütern u. a. das „öffentliche 264  Ein Beispiel aus der Geschichte: Art. 99 Abs. 1 Verf. Polen (1921), zit. nach JöR a. F. 12 (1923 / 24), S. 300 ff. – Ein Beispiel aus der Geschichte des deutschen Frühkonstitutionalismus: § 14 Verf. Baden (1818), zit. nach E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente, a. a. O., Bd. 1 (1961), S. 158; § 164 Verf. Paulskirche (1849); Art. 9 Preußische revidierte Verf. (1850), zit. nach E. R. Huber (Hrsg.), a. a. O., S. 402. 265  s. auch Art. 16 Abs. 2 Verf. Namibia (1990), zit. nach JöR 40 (1991  / 92), S. 691 ff.; Art. 17 Verf. Argentinien (1995); Art. 22 Abs. 2 alte Verf. Bolivien (1967 / 95); Art. 58 Verf. Kolumbien (1991); Art. 19 Nr. 24 Verf. Chile (1989 / 97); Art. 106 Verf. El Salvador (1983 / 91); Art. 29 Abs. 3 Verf. Ruanda (2003); Art. 106 Verf. Honduras (1981 / 95); Art. 8 Nr. 13 Verf. Dominikanische Republik (1962 / 66); Art.  32 Verf. Uruguay (1967 / 96); Art.  101 Verf. Venezuela (1961 / 83); Art.  22 Verf. Taiwan (1991), zit. nach JöR 41 (1995), S. 672 ff.; Art. 5 XXIV Verf. Brasilien (1988); Art. 36-1 und 3 Verf. Haiti (1987), zit. nach JöR 42 (1994), S. 638 ff. Zuletzt Art. 115 Verf. Venezuela (1999); Art. 15 Verf. Senegal (2001); Art. 58 Abs. 2 Verf. Serbien (2006); Art. 57 Verf. Bolivien (2007); Art. 46 Abs. 3 Verf. Kosovo (2008); Art. 40 Abs. 3 lit. b Verf. Kenia (2010); allgemein: Art. 3 Verf. Botswana (1966/2002). 266  Ein Beispiel aus der Verfassungsgeschichte: Art. 24 Abs. 1 Verf. Griechenland (1968), zit. nach JöR 18 (1969), S. 307 ff.; Art. 10 Verf. Königreich Irak (1925), zit. nach JöR a. F. 18 (1930), S. 358 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Wohl“. Art. 17 Abs. 1 Verf. Albanien erlaubt die Beschränkungen der Rechte und Freiheiten „wegen eines öffentlichen Interesses“. Schließlich verordnet § 32 Abs. 3 Verf. Estland (1992) eine Begrenzung des Eigentums auf estnische Staatsbürger im Allgemeininteresse. Besonders intensiv und weitgehend normiert schon Art. 151 Abs. 1 Verf. Bayern (1946): „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“ (s. auch Abs. 2 Satz 3: „sittliche Forderungen des Gemeinwohls“). Art. 34 Abs. 1 Verf. Taiwan (1991)267 erlaubt die Einschränkung der Freiheiten und Rechte u. a., wenn dies wegen des „öffentlichen Wohls“ geboten ist. Art. 30 Verf. KwaZulu Natal (1996)268 verlangt für Grundrechtseinschränkungen ähnlich „Gründe öffentlichen Interesses“. 3. Das Gemeinwohl als grundrechtslegitimierender Titel Hier ist die Ausbeute geringer: Grundrechtliche Freiheit wird selten mit dem Gemeinwohl textlich in eine innere, positive Verbindung gebracht, so offenkundig es ist, dass ihre Ausübung letztlich um „guter Ergebnisse“ willen auch im öffent­ lichen Interesse liegt. Bei der Meinungs- und Pressefreiheit ist dies für eine offene Gesellschaft evident. Immerhin hat die Verfassung Paraguay von 1992 dies in Art. 27 Abs. 1 für die Massenmedien zum Ausdruck gebracht: „The operation of mass communications media organisations is of public interest“. Freilich verfügt dieselbe sonst geglückte Verfassung einen fragwürdigen generellen Vorrang allgemeiner Interessen gegenüber den Privaten (Art. 128: „In no case will the interests of individuals prevail over general interests“). Insgesamt kommt es so zu einem „Insichkonflikt öffentlicher Interessen“269: Auf beiden Seiten der Abwägung von Grundrechten und ihren Grenzen machen sich Gemeinwohlaspekte geltend. Die Verantwortung der Adressaten nimmt entsprechend zu. Vorausgegangen war Art. 35 Abs. 4 Verf. Guatemala von 1985: „Die Tätigkeit der Massenkommunikationsmittel erfolgt im öffentlichen Interesse und darf aus keinem Grund beschränkt werden“. Art. 6 Verf. Liberia (1983)270 stellt einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Bürgern und dem Wohlergehen Liberias her und garantiert darum die Gleichheit der Bildungschancen. Art. 28 Abs. 1 Verf. Ecuador (2008) stellt die Erziehung in den Dienst des öffent­ lichen Interesses (was auch ambivalent sein kann). 4. Grundpflichten und Gemeinwohl Die Grundpflichten stehen nicht selten ausdrücklich im Kontext der Grundrechte, bereits textlich. In Deutschland wird gern von einer „Asymmetrie“ zwischen Grundrechten und Grundpflichten gesprochen271, sie kann aus der Textstufenanalyse all267  Zit.

nach JöR 41 (1993), S. 672 ff. nach JöR 47 (1999), S. 514 ff.; s. auch Präambel und Art. 3 Verf. Nauru (1968); Art. 11 Verf. Zimbabwe (2007). 269  Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1.  Aufl. 1970, S. 420 ff., 2. Aufl. 2006, S. 783 f. 270  Zit. nach JöR 35 (1986), S. 663 ff. 271  H. Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), S. 42 (68 ff.) sowie S. 123 (Aussprache); weitere Lit.: ders., HStR, Bd. VI, 268  Zit.



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben469

gemein, d. h. im Verfassungsvergleich kaum belegt werden (zumal seit der EUGrundrechte-Charta nicht: Kap. IV: „Solidarität“), im Gegenteil: Neuerdings finden sich in Osteuropa, aber auch in Afrika größere Grundpflichtenkataloge (z. B. §§ 53, 54 Verf. Estland von 1992, Art. 82 bis 86 Verf. Polen, Art. 55 bis 59 Verf. Moldau von 1994, Art. 32 bis 37 Verf. Benin von 1990). Fragwürdig wird es nur dort, wo eine allgemeine Grundpflicht zu gemeinwohlkonformem Handeln („Arbeiten“) allen Bürgern auferlegt ist (so Art. 30 Verf. Niger von 1992: „Chaque citoyen a le devoir de travailler pour le bien comun“). Zu erwähnen sind ferner: Art. 16 Abs. 1 Verf. Äquatorial-Guinea (1991): Pflicht jeden Bürgers, u. a. „die nationalen Interessen zu schützen“; Art. 33 Verf. Benin (1990): Pflicht jeden Bürgers, „für das Gemeinwohl zu arbeiten“ (ähnlich Art. 48 Abs. 2 und 52 Verf. Burundi (1992)); Art. 23 Abs. 1 Verf. Mali (1992): „Jeder Bürger muss für das Gemeinwohl tätig werden“. Immerhin sagt schon Art. 117 Verf. Bayern (1946): „Alle haben die Verfassung zu achten und ihre körperlichen und geistigen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert“. Präambel Verf. Hamburg (1952) spricht von: „sittlicher Pflicht von jedermann, für das Wohl des Ganzen zu wirken“ (s. auch Art. 20 Verf. RheinlandPfalz (1947): Pflicht, die „Kräfte so zu betätigen, wie es dem Gemeinwohl entspricht“). Diese Normen sind heute im allgemeinen Bewusstsein verblasst. Sanfter bestimmt Art. 12 Verf. Japan (1946): „and shall allways be responsible for utilizing them (sc. the freedoms and rights) for the public welfare“. In Lateinamerika figurieren Gemeinwohl und allgemeine Interessen zur Rechtfertigung von Grundpflichten (z. B. Art. 83 Abs. 7 Verf. Ecuador von 2008). 5. Das Gemeinwohl als Direktive für letztlich bürgerbezogene Staatsaufgaben bzw. als normaler Kompetenztitel für Staatshandeln („Staatsziele“, „Grundwerte“) Eine besonders häufige Erscheinungsform des Gemeinwohls bildet der Staatsaufgabenkatalog neuerer Verfassungen. Hier wird heute schon auf Verfassungsstufe viel ausdifferenziert, oft abundant vorgegeben, was früher ebenso allgemein wie unbestimmt als Gemeinwohl oder in der Schweiz als „Zweck des Bundes“ – „gemeinsame Wohlfahrt“ (vgl. Art. 2 alte BV Schweiz von 1874) normiert war. Beispiele finden sich viele272 (vgl. Art. 3 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern: „Er (sc. Bayern als Rechts-, Kultur- und Sozialstaat) dient dem Gemeinwohl“; s. auch Art. 1 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz), wobei neue Themen wie Umweltschutz, Generationenschutz, Tierschutz, Gesundheitsschutz, Kinderfreundlichkeit, Bildung, Behindertenschutz die heutige Richtung andeuten. Als Adressaten dürfen alle Staatsfunktionen gelten. Die Literatur hat diesen Zusammenhang zwischen Staatsaufgaben und Gemeinwohlzielen früh thematisiert273, aber später nicht im Geiste des Textstufenparadigmas fort§ 144, 3. Aufl., 1997; O. Luchterhandt, Grundpflichten als Verfassungsproblem in Deutschland, 1988; K. Stern, Staatsrecht III / 2, 1994, § 88 (S. 1053 ff.). 272  Vgl. etwa Art. 4 Verf. Nicaragua (1987  / 95); Art. 25 Verf. Nepal (1990), zit. nach JöR 41 (1993), S. 566 ff.: „main objective of the state to promote conditions of public welfare“; Art. 1 Abs. 1 Verf. Kasachstan (1995), zit. nach JöR 47 (1999), S. 643 ff.; Art. 38 Verf. Indien (1949), zit. nach JöR 4 (1955), S. 183 ff. 273  P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

geschrieben. Dies sei hier unternommen. Beispiele sind Art. 68 Abs. 1 Verf. Para­ guay (1992): „Health Rights in the best interests of the community“; Art. 12 Abs. 1 Verf. Angola (1992): Erhaltung der „natürlichen Ressourcen“ „zum Wohle der ganzen Gesellschaft“; Art. 112 lit f, ebd.: Verwaltung und Regierung im Dienste der „Befriedigung der Bedürfnisse der Gemeinschaft“. Apodiktisch sagt Art. 21 Abs. 1 Verf. Republik Guinea (1990): „Der Staat muss das Wohlergehen der Bürger fördern“ (s. auch Art. 6 lit. c Verf. Mosambik (1990)). Art. 59 Verf. Albanien nennt als „Soziale Ziele“ u. a. Bildung, Umweltschutz, Schutz der künftigen Generationen, nationales Kulturerbe. Unter dem Stichwort „Grundwerte“ figurieren auch Gemeinwohlaspekte (z. B. Art. 8 Verf. Mazedonien von 1991: „Humanisierung des Raumes“). Art. 56 Abs. 1 Verf. Mazedonien dekretisiert: „Alle natürlichen Reichtümer als Güter von allgemeinem Interesse“. Hier erfolgt sozusagen eine „Erhebung“ zum Gemeinwohl. Art. 1 Verf. Guatemala (1985) postuliert als „oberstes Ziel des Staates“ „die Verwirklichung des Gemeinwohls“. Art. 14 Verf. Liechtenstein (1921) lautet: „Die oberste Aufgabe des Staates ist die Förderung der gesamten Volkswohlfahrt“274. Ein funktionales Äquivalent dürfte die Verpflichtung auf das Prinzip der „bonne governance“ sein (Präambel Verf. Senegal von 2001, ebenso Präambel Verf. Komoren von 2001). Neu ist die Textstufe in Art. 119 Ziff. 5 Verf. Kosovo (2008). Danach muss die Republik den Markt regulieren, wenn er nicht genügend das öffentliche Interesse schützt (im Europa der EU ist dieser Gedanke 2012 besonders aktuell). 6. Das Gemeinwohl als Ausnahmetitel vor allem im Staatsnotstand sowie im staatlichen Sonn- und Feiertagsschutz Diese verfassungstextliche Erscheinungsform des Gemeinwohls ist ein traditioneller Bestandteil älterer Verfassungen bzw. Gesetze275, sie findet sich aber auch in neueren. Gerade im Ausnahmefall gibt es (funktionellrechtliche) Grenzen der Verrechtlichung. Darum taucht das Gemeinwohl der Sache nach als legitimierender Titel auf (z. B. Art. 68 Verf. Benin; Art. 26 Verf. Gabun). In Sachen Sonn- und Feiertagsschutz sehen deutsche Verfassungen mitunter Ausnahmen von der Sonnund Feiertagsruhe im Interesse des Gemeinwohls vor (Art. 55 Abs. 4 Verf. Bremen; s. auch Art. 31 Satz 2 Verf. Hessen)276. 7. Das Gemeinwohl als Kompetenztitel für beratende Gremien Diese Kategorie ist eine neue Erscheinungsform von Gemeinwohlklauseln in ­ frika. Sie findet sich im Kontext von Wirtschafts- und Sozialräten wie in Art. 87 A Verf. Guinea (1990). Der dortige Rat hat die Aufgabe, die „Aufmerksamkeit des Präsidenten und der Nationalversammlung auf Reformen ökonomischen und sozia274  Zit.

nach JöR 38 (1989), S. 409 ff. in P. Häberle, Öffentliches Interesse, a. a. O., S. 172 ff. – Neues (wenngleich nicht so prägnantes) Textmaterial: Art. 337 bis 339 Verf. Venezuela (1999); Art. 200 Verf. Serbien (2006); Art. 131 Verf. Kosovo (2008); Art. 238 Verf. Kenia (2010). 276  Dazu P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 16 f., 101 f. Jetzt BVerfGE 125, 39. 275  Nachweise



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben471

len Charakters zu richten, die ihm dem allgemeinen Interesse zu entsprechen oder zu widersprechen scheinen“. Reformaufgaben werden hier mit dem Gemeinwohl verknüpft – eine bemerkenswerte Textstufe, die theoretisch auszuwerten ist. Die institutionalisierten Ämter und Gremien bedürfen eines solchen Rates als Konsultativorgan, gerade im Blick auf Reform- bzw. Gemeinwohlaufgaben. Hier kann der westliche Verfassungsstaat von sog. „Entwicklungsländern“ lernen. Verfassungsvergleichung ist keine Einbahnstraße, wie uns der beliebte Eurozentrismus oft glauben machen möchte. In Art. 164 Abs. 3 Verf. Burundi (1992) findet sich eine analoge Regelung (ebenso Art. 139 Abs. 4 Verf. Benin, s. auch Art. 104 Verf. Gabun: „Erfordernisse der Zivilgesellschaft“ (ähnlich Art. 106 und 107 Verf. Mali)). Mit der Verwendung des Begriffs „Zivilgesellschaft“ ist eine neue Textstufe gelungen. 8. Sonstige Gemeinwohlklauseln und Zwischenbilanz In diesem letzten „Korb“ seien Klauseln bewusst „bunt“ zusammengestellt, die sich in der bisherigen Typologie nicht systematisieren lassen, da sie untereinander zu heterogen sind. Ein Beispiel ist Art. 23 Verf. Guinea (1990): Der öffentliche Amtsträger darf sein Amt „zu keinem anderen Zweck als dem allgemeinen Interesse“ nutzen. Immerhin zeigt sich hier in den folgenden Texten, dass das Gemeinwohl vom Verfassunggeber „gebraucht“ wird. Ob, wann es wie im Text „notwendig“ ist, hängt wohl von der jeweiligen Rechtskultur ab, indes auch von der „Natur der Sache“ des Konstitutionalismus (wenn diese These erlaubt ist). Nach Art. 121 Abs. 1 alte Verf. Angola (1992) ist der Rechtsprechungsauftrag gerichtet auf den „Schutz der Rechte und legitimen Interessen der Bürger und der Institutionen“. Art. 8 Verf. Malaŵi (1994) verpflichtet die Legislative auf die „Interessen aller und die Verfassungswerte“. Die Präambel Verf. Brandenburg (1992) bekennt hoch- und vorrangig zu der Wendung „von dem Willen beseelt …, das Wohl aller zu fördern …“ Art. 80 Verf. Nordrhein-Westfalen verpflichtet die Beamten als „Diener des ganzen Volkes“. Im Kontext des Umweltschutzes erscheint zunehmend eine auf „öffentliche und private Belange“ bezogene Ausgleichsklausel (z. B. Art. 59a Verf. Saarland; Art. 29a Abs. 2 Verf. NRW). Art. 18 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt (1992) erstreckt die Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums auch auf den „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“. Art. 99 Verf. Bayern stellt sogar die „Verfassung“ selbst in den Dienst des Schutzes des „geistigen und leiblichen Wohls aller Einwohner“. Art. 41 Abs. 1 Verf. Mexiko (1917 / 97) ist buchstäblich: W. Grewe redivivus: „Los partidos políticos son entidades de interés público“. Im Ganzen277 ergibt sich schon ausweislich der Verfassungstexte, deren konkrete Umsetzung in die Verfassungswirklichkeit sich freilich nicht nachzeichnen lässt, dass das „Gemeinwohl“ bzw. „öffentliche Interesse“ ein charakteristisches Element278 des Konstitutionalismus der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates ist und bleibt – es ist ein Baustein dieser Vorstudien zu einer „universalen 277  Ein Beispiel aus der Verfassungsgeschichte: § 21 Verf. Estland (1920), zit. nach JöR a. F. 16 (1928), S. 213 ff.: Autonomie für völkische Minderheiten, „soweit diese nicht dem Staatsinteresse widersprechen“. 278  Häufig auch in Verf. Japan (1946): Art. 12, 22, 25 Abs. 2, Art. 29 Abs. 1 und 2, zit. nach JöR 5 (1956), S. 321 ff. – Art. 43 Verf. Panama (1983 / 94) verbietet die Rückwirkung von Gesetzen, ausgenommen „aus Gründen der öffentlichen Ordnung

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Verfassungslehre“. Es kann mehr oder weniger häufig „getextet“ werden, es wird auch gewiss nach „Kontext“ funktionellrechtlich verschieden konkretisiert bzw. interpretiert. Den Adressaten, d. h. den Staatsorganen bis hin zu gesellschaftlichen Gruppen und den Bürgern bleibt viel Spielraum, auch Verantwortung. Doch verfügt das Gemeinwohl „konstitutionell“ auch heute noch über eine legitimierende Kraft, so sehr es in offenen Gesellschaften zunächst unbestimmt erscheint oder ist. Es ist alles andere als eine „Leerformel“, zugleich offen, z. B. wie gezeigt für den Umweltschutz. Seine Kraftlinien bzw. sein Konkretisierungsmaterial gewinnt es aus dem Ganzen der Verfassung bzw. Rechtsordnung. Sogar die Erziehungsziele279 führen zu ihm hin (vgl. Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern, Art. 22 Verf. Thüringen, Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, Art. 72 Verf. Guatemala, Art. 3 II c Verf. Mexiko). Das gewiss nicht justiziable „öffentliche Interesse“ speziell als Voraussetzung für die Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen verlangt z. B. Art. 27 Abs. 1 Verf. Niedersachsen von 1993: Vorbildlich ist hier der Zusammenhang von Öffentlichkeit und öffentlichen Interessen erkennbar (s. auch Art. 40 Abs. 6 Verf. Irland: öffentliche Meinung, allgemeines Wohl). Die Deklarierung des Schutzes der Alten und Behinderten als „Verpflichtung der Gemeinschaft“ (Art. 7 Abs. 2 Verf. Sachsen) beweist die Wandelbarkeit der bürgerbezogenen Gemeinwohlaufgaben (s. auch die im „öffentlichen Interesse“ liegenden gemeinnützigen Einrichtungen nach Art. 110 Verf. Sachsen). Die hochrangige Platzierung der Gemeinwohlklausel schon in Präambeln280 (z. B. Präambel Verf. Irland von 1937, Präambel Verf. Chile von 1988 / 97, Präambel Verf. Honduras 1982 / 95, Präambel Verf. Panama (1972 / 94), Präambel Verf. Bosnien-Herzegowina: „general welfare“ (1996281)) sei eigens erwähnt (vgl. auch Präambel Verf. Spanien von 1978 und Präambel Verf. SachsenAnhalt von 1992). Eine große Neuerung ist der Einbau einer Gemeinwohlklausel in Medien-Artikeln: Art. 40 Abs. 6 1. lit. a Verf. Irland („In Anbetracht der großen Bedeutung jedoch, die die Ausbildung der öffentlichen Meinung für das allgemeine Wohl erlangt …“). Neu ist auch die gemeinwohlbezogene Grundrechtsklausel in Art. 44 Abs. 2 Verf. Spanien („Die öffentliche Gewalt fördert die Wissenschaft sowie die wissenschaftliche und technische Forschung zum Wohl der Allgemeinheit“). Als Frage bleibt, wie sich das Gemeinwohl zur Gerechtigkeit verhält. Lässt sich von „Gemeinwohlgerechtigkeit“ sprechen (so der Verf.)282 oder besteht eine begrenzte Substituierbarkeit, weil z. B. manche Verfassungen bei ihren Eidesklauseln ohne das Gemeinwohl auskommen und nur die „Gerechtigkeit“ erwähnen (z. B. oder sozialer Interessen“ – die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG liegt nahe (z. B. E 72, 175 (196); 103, 392 (403); 105, 17; 105, 48; 109, 133; 127, 1). 279  Zu ihrer Verfassungstheorie meine Schrift: Erziehungsziele und Orientierungswerte, 1981. 280  Ein Beispiel aus der Verfassungsgeschichte: Präambel Verf. Litauen (1922), zit. nach JöR a. F. 16 (1928), S. 315 ff.: „Wohl aller Bürger zu sichern“; s. auch Präambel Verf. Argentinien (1860), zit. nach JöR a. F. 19 (1931), S. 462 ff.: „allgemeines Wohlergehen“. – Ein Beispiel aus der deutschen Verfassungsgeschichte: Präambel Verf. Bayern (1818), zit. nach E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (1961), S. 141. 281  Zit. nach W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000, S. 122. 282  P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7.  Aufl., 2011, S. 376 (seit der Erstauflage, 2001/2) sowie BVerfGE 105, 185 (193).



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben473

Art. 44 Verf. Burkina Faso von 1991  /  97, s. auch Art. 89 Abs. 1 Verf. Saarland, Art. VII Sec. 5 Verf. Philippinnen von 1986, Art. 142 Abs. 1 alte Verf. Angola von 1992 speziell für den Ombudsmann für das Rechtswesen nur: „Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit“, weiter gefasst jetzt Art. 192 neue Verf. Angola von 2010). Art. 73 Abs. 3 Verf. Senegal von 2001 bezieht sich vor allem auf die Verfassung, die na­ tionale Unabhängigkeit und die afrikanische Einheit. Gibt es eine (begrenzte?) funktionale Äquivalenz zwischen Gemeinwohl und Gerechtigkeit? Gute Verfassungspolitik in Bezug auf verfassungsstaatliche Gemeinwohlklauseln wäre ein eigenes Thema (ein zentraler Platz gebührt ihnen in einer Präambel). Mitunter ist schöpferisch von „kulturellem Wohlstand“ die Rede (Präambel Verf. Kroatien von 1990). Auch hier zeigt sich, wie die Verfassungstexte der kommentierenden Wissenschaft oft voraus sind (Stichwort: Verfassungstexte als kommentierte und kommentierende Verfassungsrechtswissenschaft und Judikatur). Einmal in der Welt, können solche Gemeinwohltexte mittelfristig doch „normative Kraft“ entfalten. Doch bedürfen diese Texte auch der „aufschließenden Kraft“ der Judikatur und Literatur. II. Das Gemeinwohl als Textelement in drei ausgewählten „besonderen“ nationalen Rechtskulturen 1. Thailand Die Verfassung von 1997, im September 2006 durch den unblutigen Putsch suspendiert, besticht schon durch manche „westliche“ Bestandteile, etwa die Normierung des „Vorrangs der Verfassung“ (Art. 6), eine grundrechtliche Wesensgehaltsklausel (Art. 29) und die Möglichkeit zur Publikation verfassungsrichterlicher Sondervoten (Art. 267) sowie die Einrichtung eines Ombudsmannes (Art. 196 bis 198). Wie setzt sie das „öffentliche Interesse“ ein? – vergleichbar den Punkten, an denen der westliche Verfassungsstaat diesen Topos braucht, weil Recht und Gesetz bzw. Gerechtigkeit als Leitmaxime nicht ausreichen? Schon Art. 21 arbeitet bei der Formulierung des Eides für den Regenten (Stellenvertreter des Königs) mit den Worten „Interessen des Landes und des Volkes“ (s. auch Art. 15). Art. 45 stellt die Vereinigungsfreiheit unter den Vorbehalt von Gesetzen zum Schutz des „common interest of the public“. Der Enteignungs-Artikel 49 arbeitet mit „public utilities“ und „public interests“. Art. 50 (Unternehmensfreiheit) stellt im Gesetzes- bzw. Schrankenvorbehalt sogar den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und „öffentlichem Interesse“ her, um den ich seit 42 Jahren literarisch kämpfe („protecting the public in regard to public utilities“). Art. 70 will als Regierungs- und Verwaltungshandeln auf den Schutz der „public interests“ ausgerichtet sehen. Auch im Abschnitt zu den „State Policies“ figurieren die „nationalen Interessen“ (Art. 72) und ähnliche Begriffe (Art. 87: „common interest“, „public utilities“). Sehr bekannt klingt für westliche Ohren schließlich Art. 149, der die Mitglieder beider Kammern auf die „duties for the common interest of the Thai people“ verpflichtet. Auch sonst tauchen gemeinwohlähnliche Begriffe im Text der Verfassung immer wieder auf: etwa bei der feierlichen Erklärung (Gelöbnis) der Minister gegenüber dem König283 (Art. 205), im 283  Er geriet kürzlich in die Mitte der Politik Thailands: vgl. NZZ vom 4. April 2006, S. 3: „Thailand braucht politische Integrität“; s. auch SZ vom 3. April 2006,

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Notstandsfall (Art. 218). Bedenkt man, dass Thailand eine konstitutionelle Monarchie mit einem buddhistischen König ist (Art. 9), so dürfte das Ergebnis kaum überraschen: Auch in einem sehr anderen Kulturkreis tritt das Gemeinwohl und seine Ersatzbegriffe an den Problem- bzw. Nahtstellen eines Verfassungsstaates auf, die auch sonst bekannt sind. Offenbar kann der tendenziell weltweit ausgeformte Konstitutionalismus der heutigen Entwicklungsstufe auf diesen Begriff und seine über Gesetz und Recht hinausgehenden Funktionen nicht (ganz) verzichten. Er ist freilich so allgemein, dass spezifische nationale „Vorverständnisse“ und „Kontexte“ in die Konkretisierung im Einzelfall einfließen mögen. Doch ändert dies nicht den grundsätzlichen Befund. 2. Niger Die Verfassung des Niger (1992) sei als zweites Beispiel ausgewählt. Sie bildet eine Art „Kontrastprogramm“. In der knappen, präzisen Sprache der französichen Rechtskultur geschrieben, enthält sie sehr wenige Aussagen zum Gemeinwohl, vielleicht ein Erbe der französischen Verfassungsgeschichte, insbesondere von 1789. Es taucht bezeichnenderweise im Grundrechtskatalog an zwei Stellen auf: durchaus traditionell bei der Garantie des Privateigentums (Art. 22: Enteignung nur aus Gründen der „utilité publique“) und – höchst problematisch – bei der Grundpflicht jeden Bürgers zur Arbeit (Art. 31: „devoir de travailler pour le bien commun“). Diese Verpflichtung des Bürgers auf das Gemeinwohl findet sich auch in anderen afrikanischen Verfassungen (z. B. Art. 23 Abs. 1 Verf. Mali von 1992: „Jeder Bürger muss für das Gemeinwohl tätig werden“). Im Typus Verfassungsstaat ist sie fragwürdig, weil in hohem Maße missbrauchsgefährdet. Immerhin verlangt dann Art. 33 vom Staat Niger, im Ausland die „legitimen Interessen“ der eigenen Bürger zu schützen. Kurz: Offenbar ist „Konstitutionalismus“ auch möglich ohne allzu viele Gemeinwohlklauseln. Die blankettartige Verwendung bei der allgemeinen Grundpflicht, für das Gemeinwohl zu arbeiten, ist freilich selbst dann abzulehnen, wenn die Rechtskultur des Niger durch Fallrecht zurückhaltend und verfassungspolitisch bürgerschonend arbeiten sollte. 3. Uganda Jetzt ein Blick auf Uganda, später auf islamische Staaten: Die Verfassung Ugandas (1995) nennt „political objectives“, „general social and economic objectives“ sowie „cultural objectives“, mit einer großen Vielfalt von Grundrechten und Grundpflichten, gerichtet u. a. auf das „common good“ und „well being“. Das „öffentliche Interesse“ erscheint allgemein als Titel zur Grundrechtsbeschränkung, wird aber auch negativ eingegrenzt (Art. 43) und damit präzisiert. S. 8: „Thailand steht vor einer Verfassungskrise“; FAZ vom 11. April 2006, S. 12: „Ein Sieg der Demokratie?“. Zuletzt FAZ vom 6. April 2006, S. 6: „König Bhumibols Wirrwarr-Land“. „Die Welt“ vom 9. Mai 2006, S. 7: „Thailands Verfassungsgericht annulliert die Wahl“; FAZ vom 9. Juni 2006, S. 8: „Thailand im BhumibolFieber“; FR vom 22. Juli 2006, S. 6: „Neuwahlen sollen die politische Krise in Thailand beeenden“.



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Sollte das Gemeinwohl in neuen islamischen Verfassungen auftauchen, so ist höchste Vorsicht geboten. Denn die Gemeinwohlbestimmung erfolgt dort aus einem ganz anderen kulturellen Kontext als im Westen (Scharia!). Gleichwohl verdienen die Gemeinwohlklauseln doch die Aufmerksamkeit des Rechtsvergleichers. Die These vom „Leerformelcharakter“ des Gemeinwohls bestätigt sich nicht. III. Insbesondere: Neuere Textstufen in deutschsprachigen Verfassungen Österreichs, der Schweiz und Deutschlands (vor allem in den neuen Bundesländern) sowie im „werdenden“ EU-Verfassungsrecht Im Folgenden seien deutschsprachige Verfassungen auf ihre direkten Gemeinwohlaussagen hin untersucht. Da bei aller (nationalstaatlichen) Trennung doch Züge einer schon sprachlich bedingten gemeinsamen Rechtskultur in diesem Raum erkennbar sind und überdies nicht erst jüngst vor allem auf Länder- bzw. Kantonsebene bemerkenswerte Textstufenentwicklungen stattfinden, könnte eine gemeinsame Analyse ergiebig sein. 1. Die gliedstaatlichen Verfassungen Österreichs Hier ist eine fruchtbare Dynamik erkennbar, wissenschaftlich wurde sie erst jüngst näher im Gesamtzusammenhang ausgearbeitet284. Speziell in Sachen Gemeinwohl lässt sich folgende Typologie gewinnen: a) Besonders häufig deuten die ausdifferenzierten Staatszielbestimmungen auf Gemeinwohlaspekte. So heißt es in Art. 4 Landesverfassung Niederösterreich (1979) unter dem Stichwort „Subsidarität“: „Das Land Niederösterreich hat unter Wahrung des Gemeinwohls die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen zu sichern, die Selbsthilfe der Landesbürger … zu fördern“. Das Gemeinwohl scheint hier eine Begrenzungsfunktion für die individuelle Freiheit zu haben. Verkannt ist, dass es um einen „Insich-Konflikt“ von Gemeinwohlinteressen geht. In den ausführlichen folgenden Sätzen finden sich viele Teilaspekte, etwa die „kulturellen Bedürfnisse“ und die „Interessen der älteren Generation“. Sehr ähnlich geht Verf. Tirol (1988 / 89) vor. Ihr Art. 7 lautet: „Das Land Tirol hat unter Wahrung des Gemeinwohls die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen zu sichern“. Fast wörtlich kehren die „sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse der Landesbewohner“ wieder, ebd. Abs. 2 (Schutz und Pflege der Umwelt) kommen sie ebenfalls in das Textbild. Fast gleichlautend arbeitet Art. 9 Verf. Oberösterreich (1993) unter dem Stichwort „Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns“. Wieder tritt das Textstück „unter Wahrung des Gemeinwohls“ zu Tage, auch von der „geordneten Gesamtentwicklung des Landes“ ist die Rede, ein neuer Ausdruck bzw. eine neue Anreicherung des Gemeinwohlbegriffs; die „Verantwortung für künftige Generationen“ erscheint ebenfalls („Generationenverfassungsrecht“ auch hier!). Die LV Salzburg (1999) enthält in Art. 9 einen besonders reichen Katalog von „Aufgaben und Grundsätzen“, die nichts anderes als Teilaspekte des „alten“ 284  P. Häberle, Textstufen in gliedstaatlichen Verfassungen Österreichs, JöR 54 (2006), S. 267 ff.; zuvor schon ders., in: JöR 34 (1985), S. 303 (410 ff.).

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Gemeinwohls sind. Hier nur Stichworte: „Geordnete Gesamtentwicklung des Landes“, „Bedürfnisse“ seiner Bevölkerung, insbesondere „leistungsfähige Wirtschaft“, „Landwirtschaft“, „Pflege der Kulturlandschaft“, „Umweltschutz“, Achtung der „Tiere als Mitgeschöpfe“, „Weiterentwicklung von Wissenschaft, Bildung und Kultur“, „kinderfreundliche Gesellschaft“. Staatsaufgaben-Artikel dieser Art, oft aus vielen Spiegelstrichen bestehend, sind nichts anderes als eine Ausdifferenzierung des Gemeinwohls. Die vergleichende Verfassungslehre muss sie als solche zur Kenntnis nehmen. Nicht mehr mit einem umfassenden unbestimmten Gemeinwohlbegriff wird mit Vorliebe gearbeitet (er findet sich noch punktuell), vielmehr bemühen sich die Verfassunggeber um Konkretisierungen, die es den Adressaten leichter machen, das Gemeinwohl zu bestimmen. b) Aus der Fülle von Verfassungstexten seien nur noch wenige sonstige Beispiele herausgegriffen. So macht Art. 10 Abs. 3 Verf. Salzburg das Vorliegen eines öffentlichen Interesses zur Voraussetzung der Enteignung, so spricht Art. 60 Verf. Niederösterreich von den „allgemeinen Gemeindeinteressen“, so normiert Verf. Burgenland (1989) die „Pflicht zur Amtsverschwiegenheit“ mit Hilfe aufgeschlüsselter Gemeinwohlaspekte (Art. 62 Abs. 1), so gibt ihr Art. 65 Abs. 5 dem Landeshauptmann in bestimmten Fällen eine Notkompetenz zur „Abwehr eines Schadens für die Allgemeinheit“, so begründet Art. 54 Abs. 1 Verf. Tirol die Amtsverschwiegenheit von Mitgliedern der Landesregierung ebenfalls mit Gemeinwohlaspekten – hier kehrt der alte Zusammenhang von Gemeinwohl und Nichtöffentlichkeit wieder285. Bemerkenswert ist das Fehlen des Gemeinwohls bei der Eidesklausel (z. B. Art. 54 Abs. 1 Verf. Burgenland). 2. Neuere Kantonsverfassungen der Schweiz: Gemeinwohl-Klauseln in der Schweiz Im Folgenden ein Blick auf neuere Kantonsverfassungen der Schweiz. Diese bewährt sich seit Jahrzehnten als eine „Werkstatt“ mit vielen Neuerungen. Man darf gespannt sein, wie ihre Kantonsverfassungen mit dem Gemeinwohlproblem textlich umgehen. In wenigen anderen Ländern arbeiten die Verfassunggeber so kreativ, intensiv und differenziert an und mit Gemeinwohl-Klauseln wie in der Schweiz. Auch hier erweist sich diese als „Verfassungswerkstatt“. Sie belegt, dass der heutige Konstitutionalismus mit dem Gemeinwohl und seinen Nachbarbegriffen aussagekräftig arbeiten kann. Das mittlerweile fast mehr als vier Jahrzehnte währende Reformzeitalter der Schweiz, auf Kantonsebene Ende der 60er Jahre in Obwalden begonnen, auf der Bundesebene in der nBV Schweiz (1999) kulminierend und auf Kantonsebene zuletzt in Zürich erfolgreich (2005), hat viele textliche Innovationen hervorgebracht. Zu ihren besten gehören die Gemeinwohl-Klauseln. Sie finden sich oft bereits auf Präambelebene, setzen sich bei den Staatsaufgaben- und Staatsziele-Artikeln fort und haben auch im Kontext der Begrenzung grundrechtlicher Freiheiten ihren hohen Stellenwert: allgemein bei grundrechtlichen Wesensgehaltsklauseln sowie im Zusammenhang mit Son285  Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1.  Aufl. 1970, S. 102 ff., 2. Aufl. 2006, S. 102 ff., 782.



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derstatusverhältnissen, speziell vor allem beim Eigentum. Auch die Kategorie „Sonstiges“ hat vielfältige Beispielstexte. Da zwischen den Verfassungsentwürfen der verschiedenen Kantone zahlreiche Produktions- und aktive Rezeptionsprozesse stattfinden, mit Ausstrahlungen auch auf die Bundesebene (mitunter auch beeinflusst von Privatentwürfen wie Kölz / Müller, 1984 / 95), sei im Folgenden innerhalb der Kategorien grundsätzlich eine historische Darstellungsform gewählt. Im Einzelnen: a) Präambeln Sie, eine vornehme Kunst-, Text- und Literaturgattung des Verfassungsstaates, kulturwissenschaftlich den Prologen und Ouvertüren vergleichbar, werden in der Schweiz dank ihrer sprachlichen Bürgernähe und ihres konzentrierten Gehaltes sehr ernst genommen. Der Bundesverfassungsentwurf aus dem Jahre 1977286 hat dabei dank der Feder von A. Muschg eine neue Gemeinwohl-Klausel geschaffen, die fortan manche Verfassungen schmückt: „Dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohle der Schwachen“. Nur ein Dichter kann eine solche Wendung erschaffen; damit liegt die kühnste, glücklichste Modifizierung der alten, im Vergleich fast monolithischen Gemeinwohl-Klausel vor. Der Dichtertext findet sich später in Präambel Verf. Basel-Landschaft (1984)287, auch in der nBV Schweiz (1999); er kann klassischen Rang beanspruchen und sollte europa- und weltweit beachtet werden. Im Übrigen figurieren Gemeinwohlaufträge präambelhaft in folgenden Kantonsverfassungen: Aargau von 1980: „die Wohlfahrt aller zu fördern“, ebenso KV Uri von 1984, auch KV Solothurn von 1984. Präambel KV Appenzell A.Rh. von 1995 sagt: „im Bewusstsein, dass das Wohl der Gemeinschaft und das Wohl der Einzelnen untrennbar miteinander verbunden sind“ (eine neue Konkordanzformel!). Präambel KV Graubünden von 2003 nennt das Bestreben, u. a. „Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit zu fördern“. Präambel KV St. Gallen von 2001 formuliert den Willen: „uns für das Wohl der Einzelnen und der Gemeinschaft in Solidarität und Toleranz einzusetzen“. Präambel KV Fribourg (2004) lautet: „im Bestreben, an einer offenen, dem Wohlergehen und der Solidarität verpflichteten Gesellschaft zu bauen“. Ähnlich spricht KV Tessin (1997) von: „einer demokratischen Gesellschaft von Bürgern, die nach dem Gemeinwohl streben“: ein geglücktes Textstück. b)  Staatszwecke, Staatsziele, Staatsaufgaben, Sozialziele u. ä. Ihre Kataloge haben sich auch in der Schweiz sehr angereichert (z. B. um Umwelt- und Behindertenschutz, um Erziehung und Bildung, Sport und Kultur). Doch ist nicht selten der Satz voran gestellt: „Der Staat fördert die allgemeine Wohlfahrt und die soziale Sicherheit“ (so § 25 Abs. 1 KV Aargau von 1980). § 62 KV Thurgau von 1987 – „Staatszweck“ – lautet eindrucksvoll: „Der Staat schützt die Freiheit und fördert das Wohlergehen des Volkes, der Familie und des Einzelnen“ – eine differenzierte Trias. §§ 14 und 15 KV Basel-Stadt von 2005 normieren: „Grundrechtsziele, 286  Zit.

nach JöR 34 (1985), S. 536 ff. zit. nach der Dokumentation von P. Häberle, in: JöR 34 (1985), S. 424 ff., sowie in JöR 47 (1999), S. 171 ff., zuletzt JöR 56 (2008), S. 279 ff. 287  Texte

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Staatsziele und Staatsaufgaben“. Art. 19 KV Zürich von 2004 spricht von: „Sozialzielen“, Art. 7 KV Graubünden von 2003 formuliert vorbildlich „Sozialziele“. c)  Grenzen grundrechtlicher Freiheiten im Gemeinwohlinteresse Auf diesem Felde begeht die Schweiz viel Neuland, z. T. unter Verarbeitung auch ausländischer (vor allem deutscher) Judikatur und Literatur. Hier ist mittlerweile fast ein Stück „gemeineidgenössisches Verfassungsrecht“ entstanden288. Repräsentativ ist früh KV Basel-Landschaft (1984) in § 15 Abs. 1: „Die Grundrechte dürfen nur eingeschränkt werden, wenn und soweit ein überwiegendes öffentliches Interesse es rechtfertigt“. Ähnliche Klauseln finden sich in § 8 Abs. KV Thurgau (1987) sowie in Art. 2 Abs. 4 KV Glarus (1988), Art. 28 Abs. 2 KV Bern (1993), Art. 23 Abs. 2 KV Appenzell A.Rh. (1995), Art. 38 Abs. 2 KV Waadt (2003), Art. 21 Abs. 1 KV Schaffhausen (2002), Art. 33 Abs. 1 KV Neuenburg (2000), Art. 5 KV St. Gallen (2001), Art. 42 Abs. 2 KV Fribourg (2005), § 13 Abs. 2 KV Basel-Stadt (2005), Art. 38 Abs. 1 KV Waadt (2003) sowie Art. 36 Abs. 3 nBV Schweiz (1999). Die zweite Errungenschaft ist die Textierung der Grundrechtsgrenzen in Sonderstatusverhältnissen289. Dies gelingt § 15 Abs. 3 KV Basel-Landschaft (1984) in den Worten: „Grundrechte von Personen, die in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Staat stehen, dürfen zusätzlich nur insoweit eingeschränkt werden, als es das besondere öffentliche Interesse erfordert, das diesem Verhältnis zugrunde liegt“ (so zuvor pionierhaft schon § 8 Abs. 2 KV Aargau, 1980). Dieser Passus könnte auch in einem deutschen Lehrbuch stehen! Im Übrigen hat er in der Schweiz Schule gemacht: Analoge Klauseln finden sich in Art. 14 Abs. 3 KV Uri (1984) und in Art. 21 Abs. 3 KV Solothurn (1986). Schließlich erscheint das „öffentliche Interesse“ oft ausdrücklich als Voraussetzung der Enteignung (z. B. Art 12 Abs. 3 KV Jura von 1977, § 21 m Abs. 2 KV Aargau von 1980). d)  Sonstige Gemeinwohl-Klauseln In dieser Kategorie finden sich manche Texte wieder, die in der deutschsprachigen Rechtskultur allgemein geläufig sind: So normiert Art. 55 KV Solothurn (1986) den Grundsatz der Öffentlichkeit der Beratungen des Kantons- und Regierungsrats unter dem Vorbehalt „schützenswerter privater oder öffentlicher Interessen“. So gibt § 14 Abs. 2 KV Thurgau (1987) „jedermann Anspruch auf Akteneinsicht, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegen stehen“ (ähnlich Art. 18 KV Neuenburg von 2000). So verlangt Art. 5 Abs. 2 KV Entwurf Solothurn von 1984: „Die Handlungen staatlicher Organe müssen im öffentlichen Interesse 288  Zu dieser Kategorie: P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, …, JöR 34 (1985), S. 303 (340 ff.). 289  Dazu schon klassisch: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 144 ff.



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben479

liegen und ihren Zielen angemessen sein“. Ähnlich sagt Art. 5 Abs. 1 KV Solothurn 1986: „Wer öffentliche Aufgaben wahrnimmt, ist an Verfassung und Gesetz gebunden. Er handelt ausschließlich im öffentlichen Interesse und achtet in allen Bereichen die Grundsätze der Rechtsgleichheit und der Verhältnismäßigkeit“ (s. auch Art. 5 Abs. 2 KV Graubünden von 2004: „Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismäßig sein“; ähnlich schon Art. 5 Abs. 2 nBV Schweiz von 1999, Art. 8 Abs. 1 KV St. Gallen von 2001 sowie Art. 7 Abs. 2 KV Waadt von 2003 und später Art. 2 Abs. 2 KV Zürich von 2005, Art. 4 Abs. 1 KV Fribourg von 2005). All dies ist vorbildlich. Art. 94 Abs. 2 nBV Schweiz lautet: „Sie (sc. Bund und Kantone) wahren die Interessen der schweizerischen Gesamtwirtschaft und tragen mit der privaten Wirtschaft zum Wohle der Bevölkerung bei“. Eine Variante gelingt (sprachlich etwas schwerfällig) auch Art. 25 Abs. 1 KV St. Gallen (2001): „Der Staat erfüllt nach Gesetz Aufgaben, die im öffentlichen Interesse erfüllt werden müssen, soweit Private sie nicht angemessen erfüllen“. Dies ist eine Neufassung des Prinzips der Subsidiarität (ähnlich Art. 5 Abs. 3 KV Zürich von 2005). Eindruckvoll formuliert Art. 3b KV Fribourg von 2005: „Staatsziele“ sind: „die Förderung des Gemeinwohls und des kantonalen Zusammenhalts“. Von „Zusammenhalt“ ist jetzt oft die Rede. Apodiktisch sagt Art. 4 KV Fribourg: „Jedes staatlichen Handeln beruht auf dem Recht, liegt im öffentlichen Interesse und ist verhältnismäßig.“ Dieses Prinzip ist vorbildlich, wohl weltweit. Im Ganzen ergibt sich ein eindruckvolles konstitutionelles Gemeinwohlmaterial mit vielen Verfeinerungen und neuen Textstufen. Die Schweiz hat auf Kantons- wie Bundesebene einen „Vorrat“ an Verfassungstexten geschaffen, der auf andere Länder und Kontinente ausstrahlen kann und ausstrahlen sollte: weltweit. Sie hat ihrerseits manches (schöpferisch) rezipiert: aus der Trias anderer Texte, fremder oder eigener Verfassungspraxis sowie der Judikatur und der Literatur. 3. Gemeinwohltexte im „werdenden“ EU-Verfassungsrecht 2001 wurde die Frage gestellt: „Gibt es ein europäisches Gemeinwohl?“290 In einer „Europäischen Verfassungslehre“ wurde 2001 / 2002 eine vorläufige Antwort versucht, darauf sei verwiesen291. Bestätigt hat sich, dass das Gemeinwohl im EUVerfassungsrecht fast analog an den „Nahtstellen“ auftritt, die aus dem nationalen Verfassungsrecht und seinem Gesetzesrecht bekannt sind. Die EU-Kommission ist laut Text ausdrücklich (vgl. jetzt Art. 17 Abs. 1 EUV) aufs Gemeinwohl verpflichtet. Es gibt also schon ein europäisches Gemeinwohl, worüber auch die beiden europäi­ schen Verfassungsgerichte längst judizieren. Im Folgenden sei nur ein kurzer Blick auf die Texte geworfen, die die vorläufig gescheiterten Konventsentwürfe begleitet haben, also die EU-Grundrechte-Charta und die vielen Verfassungsentwürfe von 2002 bis 2003. Dabei sei die alte These aus dem Jahre 1983 bekräftigt, dass auch bloße Entwürfe wissenschaftliches Interesse verdienen, unabhängig, ob und wann sie vor290  P.

Häberle, in FS Schiedermair, 2001, S. 1153 ff. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl., 2001 / 02, S. 377 ff., fortgeschrieben in: ders., 7. Aufl. 2011, S. 377 ff. 291  P.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

läufig oder endgültig gescheitert oder in Kraft getreten sind292. Eine kleine Auswahl von in diesem Sinne (seinerzeit) „werdenden“ Verfassungstexten sei vorgestellt293. Schon der frühe Entwurf Badinter (Sept. 2002) „braucht“ das Gemeinwohl in Art. 40 Abs. 1 zur Umschreibung der Aufgaben der Kommission („dans l’intérêt générale de l’Union“). Der „Grüne“ Entwurf vom Sept. 2002 spricht im Prinzipien-Paragraph 1 Abs. 1 von den „interests of its Citizens in mind“ an. Der Entwurf Paciotti (Oktober 2002) wiederholt für die Kommission die Verpflichtung auf das „allgemeine Interesse der Union“ (Art. 81 Abs. 2). Ähnlich formuliert der Vorentwurf von Giscard d’Estaing (Okt. 2002) bei den Zielen der Union (Art. 3) präambelhaft: „Wahrung der gemeinsamen Werte, der Interessen und der Unabhängigkeit der Union“. Der Entwurf Voggenhubers (Jan. 2003) spricht in der Präambel u. a. von „Wohlstand und Sicherheit“. Unter V. zählt er viele Teilaspekte auf: nachhaltige Entwicklung, gesunde Umwelt, Naturerbe, Tierschutz und gesunde Nahrungsmittel – all dies will er als „Verfassungsziele“ verstanden wissen. Der Entwurf des Konventspräsidiums (Februar 2003) spricht in Art. 3 Abs. 1 vom Ziel der Union, ihre „Werte und das Wohlergehen der Völker zu fördern“. Nach und nach treten „Werte“ an die Stelle des (oder ergänzend zum „alten“) Gemeinwohls. Der Giscard-Entwurf vom Juni 2003 formuliert ähnlich (Art. I-3) und gibt der Kommission die Aufgabe, die „allgemeinen europäischen Interessen“ zu fördern (Art. I-25). In der Präambel wird das „Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten“ beschworen: die Europäisierung des Gemeinwohls. Nimmt man die EU-Grundrechte-Charta (2000 / 7) hinzu, etwa die Klausel zur Voraussetzung der Enteignung („aus Gründen des öffentlichen Interesses“) in Art. 17 oder Art. 38 („Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“), auch die allgemeine Schrankenklausel in Art. 52 Abs. 1 („von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“), so ergibt sich: Auch die EU-Verfassungstexte, im Entwurfstadium, bedienen sich des Problemlösungspoten­ tials, das in den Gemeinwohltexten „stecken“ kann. Sowohl die Präambel des EUV von 2007 als auch die verschiedenen Politiken (Tit. V) umschreiben letztlich Gemeinwohlziele der EU (vgl. auch Präambel AEUV und Tit. II, ebd.). Exkurs: Gemeinwohl-Klauseln in islamischen Staaten Als „Exkurs“ sei ein Blick auf die Verfassungen islamischer Staaten geworfen und gestaltet294. Denn sie entsprechen nicht dem Idealtypus verfassungsstaatlicher Verfassungen, obwohl sie textlich einige Elemente mit ihnen gemeinsam haben. Die Vorordnung der Scharia als oberster Rechtsquelle, die Durchsetzung des Islam als „Staatsreligion“ ohne wirkliche Religionsfreiheit für alle (man denke an den Fall des christlichen Afghanen Rahman, der wegen seiner Abwendung vom Islam im Frühjahr 2006 in Kabul zum Tode verurteilt werden sollte), das Fehlen von Menschenrechten295 und von freien Parlamenten, oft auch von realem Parteienpluralismus – all 292  Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, … JöR 34 (1985), S. 303 (355 ff., 414 f.). 293  Texte zit. nach der Dokumentation des Verf. in JöR 53 (2005), S. 515 ff. 294  Zit. nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995.



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dies hält die islamische Welt von der „Welt des Verfassungsstaates“ fern. Gleichwohl erstaunt, dass sich manche Verfassungstexte finden, die westlichem Denken analog in den schon bekannten Problemzonen auftreten, die das Gemeinwohl im Verfassungsstaat fast durchgängig ausfüllt: vor allem in Eidesklauseln, bei einigen Staatsziele-Katalogen, im Zusammenhang mit dem Auftrag der Verwaltung und bei Grundrechtsgrenzen, insbesondere beim Eigentum. So gewiss manche der im Folgenden zitierten Verfassungstexte im „Arabischen Frühling“ (seit 2011) außer Kraft getreten sind, sie seien gleichwohl ausgewertet, da sie mindestens historisch als „Gemeinwohlmaterial“ aufschlussreich bleiben. 295

Im Einzelnen: Die Verfassung der Komoren (1992) verlangt vom Präsidenten der Republik einen Eid (Art. 25), der sich „nur auf das allgemeine Interesse“ und die „Achtung der Verfassung“ bezieht (s. auch Art. 37 ebd. für Regierungsmitglieder). Ähnlich hatte schon Art. 60 und Art. 91 Verf. Kuweit (1962 / 1980) den Emir und die Mitglieder der Nationalversammlung eidlich u. a. auf die „Freiheiten, Interessen und das Eigentum des Volkes“ verpflichtet. Auch die Verf. Syriens (1972) formuliert den „Verfassungseid“ u. a. mit den Worten: „die Interessen des Volkes und die Sicherheit des Vaterlandes zu schützen“. Art. 42 (überholte) Verf. Tunesien (1959 / 1988) verlangt vom Präsidenten den Eid, „strikt über die Interessen der Nation zu wachen“. Staatziele sind oft in Präambeln vorformuliert, so etwa in der erwähnten Verf. von Kuweit („Schutz der Interessen der Gemeinschaft“, s. auch Präambel alte Verf. Tunesien von 1988: „Nutzung der nationalen Reichtümer zum Wohl des Volkes“); sie können sich aber auch wie in Afrika zu einem „Konsultativrat“ verbinden (so in einem Erlass des Sultans von Oman (1991): Vorschläge, die er (sc. der Rat) „im Interesse der Wahrung der Grundwerte und -prinzipien der Gesellschaft für notwendig erachtet“. Das Provisorische Grundgesetz von Qatar von 1970 / 1975 spricht im Kontext der „Grundprinzipien der Staatspolitik“ von der Wahrung der „edelsten Interessen des Landes“ (Art. 5 lit. d): eine sonst nirgends gewagte Idealisierung! Präambel Verf. Bahrain (1973) bezieht sich sogar auf das „Wohlergehen der Menschheit“. Art. 10 Konstitutionelle Akte Saudi-Arabiens von 1992 verlangt in Art. 10 die Wahrung „der arabischen und islamischen Werte“. Besonders auffällig ist das Auftreten des Gemeinwohls im Kontext der Grundfreiheiten, deren wirkliche Bedeutung freilich gering sein dürfte. Hier ist indes der Verf. Algerien von 1976 / 89 in Art. 31 eine Wendung geglückt, die fast einzigartig ist: „Die Grundfreiheiten und die Menschen- und Bürgerrechte werden garantiert. Sie stellen ein gemeinsames Gut aller Algerier und Algerierinnen dar, das sie von Generation zu Generation zu übermitteln verpflichtet sind, um es in seiner Ganzheit und seiner Unverletzlichkeit zu erhalten“. Was in der wissenschaftlichen Literatur erst 1979 gewagt wurde: ein „generationenorientiertes“ Grundrechtsverständnis296 ist hier in einen wegweisenden Verfassungstext geronnen. 295  Zum „Menschenrechtsverständnis islamischer Staaten“: E. Mikunda, JöR 44 (1996), S. 205 ff. Aus dem aktuellen Zeitgeschehen noch: FAZ vom 1. April 2006, S. 7: „Todesurteile, Übergriffe, Ächtung, Christliche Konvertiten in der muslimischen Welt“; s. aber auch FAZ vom 15. April 2006, S. 10: „Kerzen der Hoffnung, Die Reformen in der arabischen Welt machen Fortschritte“. Zum Ganzen noch unten Exkurs III. 296  P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff.

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Im Übrigen erscheint das „öffentliche Interesse“ – seit 1789 schon klassisch – auch in Arabien als Voraussetzung der Enteignung (z. B. Art. 9 lit. c Verf Bahrain von 1973297, Art. 12 Verf. Djibouti von 1992, Art. 7 lit. c Verf. Jemen von 1994, Art. 11 Verf. Jordanien von 1952 / 1984, Art. 18 Verf. Kuweit von 1962 / 1980). Mitunter eröffnen sich auch neue und gewagte Perspektiven, etwa in Art. 63 Verf. Algerien: „Jeder Bürger hat die Pflicht, das öffentliche Eigentum und die Interessen der nationalen Gemeinschaft zu schützen und das Eigentum anderer zu achten“. Diese Überladung mit einer exzessiven Grundpflicht wurde schon andernorts kritisiert. Beachtung verdient schließlich die Verpflichtung der Beamten auf den Dienst an dem „öffentlichen Interesse“ (Art. 26 Verf. Kuweit). Auch die Regierungsfunktion wird vereinzelt textlich auf das „Interesse des Landes“ ausgerichtet (z. B. Art. 10 des erwähnten Erlasses zum Konsultativrat im Oman). Gewiss, auch hier gilt, dass Verfassungstexte maßgeblich von der Rechtkultur des Landes und diese insgesamt von dessen Kultur her geprägt und „gelebt“ werden (Stichwort: kontextuelles Verständnis, kulturelle Prägung). Indes ist schon bemerkenswert, wo und wie Gemeinwohl-Klauseln textlich selbst im islamischen Kontext auftauchen. Sie als bloß „semantisch“ abzutun, wäre nicht gerechtfertigt. Anhang: Neueste islamische Verfassungen Nur als „Anhang“ jetzt ein Blick auf die etwaige Verwendung von gemeinwohlartigen Begriffen in jüngsten Verfassungen der islamischen Welt: Die Verf. der islamischen Republik Afghanistan298 (Januar 2004) redet in ihrem Vorspruch gleich eingangs fast beschwörend vom „Wohl des edlen und friedliebenden Volkes Afghanistans“. Auch verwendet sie erstaunlicherweise den neueren Begriff von der „Zivilgesellschaft“299 (nach V. Havels Definition als „Macht der Ohnmächtigen“ zu verstehen) und den älteren vom „wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Wohlstand“. In der Präambel findet sich die Wendung von der „Sicherung von Wohlstand und gesunder Umwelt für alle Bewohner“. Die Freiheit, in Art. 24 als „natürliches Recht des Menschen“ qualifiziert, wird u. a. unter dem Vorbehalt des „Interesses der Allgemeinheit“ gestellt, die Enteignung (Art. 40 Abs. 3) wird u. a. an das „Wohl der Allgemeinheit“ geknüpft und der Eid des Staatspräsidenten (Art. 63) ist u. a. auf die „Rechte und Interessen der Bürger“ bezogen. Gewiss, diese Gemeinwohltexte stehen ebenso unter dem im Einzelnen umstritten Vorrang der Scharia, die sie vermutlich textlich und kontextlich stark einfärbt. Doch ist bemerkenswert, dass selbst die Verf. Afghanistans Gemeinwohltexte kennt. 297  Die „National Action Charter of Bahrain“ (2001) ist abgedruckt in JöR 50 (2002), S. 609 ff. Ihr Kap. 3 Nr. 2 sieht die Enteignung zum „öffentlichen Nutzen“ vor. 298  Aus der allgemeinen Literatur: H. J. Vergau, Manifest der Hoffnung, VRÜ 37 (2004), S. 465 ff. 299  Laut FAZ vom 29. März 2006, S. 46 wurde der Begriff „Zivilgesellschaft“ in die arabische Gesetzgebung eingeführt. NGOs, gemeinnützige Nichtregierungs­ organisationen seien fester Bestandteil des Nahen Ostens geworden.



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Gleiches gilt für den Verfassungsentwurf (1998) des Sudan, der das Eigentum unter den Enteignungsvorbehalt des öffentlichen Interesses stellt (Art. 28), den Bürger auf das „öffentliche Interesse der Gesellschaft“ verpflichtet (Art. 35) und beim Präsidenten sogar eine neue Formel erfindet (Art. 40: „to respect the Constitution, law and consensus of public opinion“). Beim „Rechtsquellen-Artikel“ 65 findet sich zuletzt wiederum ein Hinweis auf „the nation’s public opinion“. Ein Verfassungsdokument von Somalia300 wagt nicht nur ein Grundrecht auf die Gründung politischer Parteien (Art. 21: „open for all citizens“ und „be guided by General Principles of Democracy“), es stellt auch die Erziehung in den Dienst des Interesses des Volkes und ganzen Landes. Art. 24 Abs. 4 nennt wohl weltweit erstmals die NGOs (Art. 26), bezeichnenderweise im Artikel „Social welfare“ und gebraucht auch beim Eid des Präsidenten die Wendung vom „Interesse des Volkes“. Ein Blick auf die neue Verfassung des Irak: Nach einer höchst eindrucksvollen, die kulturwissenschaftliche Präambeltheorie bestätigenden Präambel sowie angesichts einer erstaunlichen Wesensgehaltsgarantie für die Freiheitsrechte (Art. 45) ergibt die Suche nach Gemeinwohl-Klauseln relativ wenig: Sie finden sich als Voraussetzung der Enteignung in Art. 23 sowie im Wortlaut des von jedem Parlamentarier zu leistenden Eides (Art. 49), der gleichlautend auch vom Präsidenten der Republik verlangt wird („to look after the interests of its people“). Zweiter Teil Ein Theorierahmen (Skizze) Die Arbeit am positivrechtlichen, durch Vergleich tendenziell weltweit erschlossenen Verfassungsmaterial ermutigt zur Skizze eines Theorierahmens301. Gewiss, die Typologie wurde bereits mit „Augen der Theorie“ herausgeschält, anders lässt sich nicht arbeiten (Goethes „Wär nicht das Auge sonnenhaft …“); doch seien einige Stichworte jetzt klarer formuliert. 1. Das Gemeinwohl bzw. seine Teil- und Nachbarbegriffe sind auch heute ein selbstverständliches und grundsätzlich unverzichtbares Element im „Instrumentenkasten“ der Verfassunggeber, auch der Rechtsetzer im Europa- und Völkerrecht. Daraus hat die weltweit vergleichende Verfassungslehre Konsequenzen zu ziehen, zumal wenn sie – begrenzt – auch Anleitungen zur Verfassungspolitik formulieren möchte. Das Gemeinwohl ist im tendenziell universalen Konstitutionalismus von heute ebenso normal wie normativ. Das Gemeinwohl hat eine prozessuale Seite, 1970 auf den Begriff gebracht, und z. T. eben doch eine materielle Seite, etwa in Sachen Generationenschutz und Umweltschutz. Dies gilt auch für die EU. 2.  Das Gemeinwohl ist ein kontextabhängiger Begriff – „Kontext“ hier begriffen als Auslegen bzw. Verstehen „durch Hinzudenken“ (so mein Vorschlag aus dem 300  Zit.

nach JöR 53 (2005), S. 711 ff. Folgende ist das Konzentrat der einschlägigen Arbeiten des Verf. seit 1970: Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970 (2. Aufl. 2006); „Gemein­ wohljudikatur“ und Bundesverfassungsgericht, AöR 95 (1970), S. 86 ff., S. 260 ff.; Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 308 ff. 301  Das

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Jahre 2001). Dies gilt vor allem für die Verfassungsebene. In den 27 EU-Mitgliedsstaaten bzw. den 56 OSZE-Nationen hat das nationale Gemeinwohl potentiell und aktuell durchaus schon eine europäische Dimension. Im Kontext damit gibt es auch Aspekte des europäischen Gemeinwohls und eine zugehörige Gemeinwohljudikatur der beiden europäischen Verfassungsgerichte in Straßburg bzw. Luxemburg. 3.  Theoriegeschichte und Theoriediskussion – in Klassikertexten ebenso greifbar wie im politischen Alltag – schwanken zwischen der kritiklosen Hypostasierung des Gemeinwohls zum „höchsten“, nicht hinterfragten, sondern „geglaubten“, „ontologischen“ Begriff („bonum commune“, „Staatsräson“, „Arkanmaxime“), in dessen Namen private Interessen beseitigt, ja wie in „geschlossenen Gesellschaften“ unterdrückt werden („Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ u. ä.) einerseits und der Degradierung zur bloßen „Leerformel“ oder „Entzauberung“ zum bloßen ideologisch verbrämten Machtinstrument andererseits. Demgegenüber erweist sich in offenen Gesellschaften (i. S. Sir Poppers) das Gemeinwohl als eine das menschliche Zusammenleben (mit-)konstituierende Formel. Seine geschichtlich wandelbaren Inhalte verweisen auf letzte oder doch vorletzte Legitimationszusammenhänge wie Staatsverständnis und Herrschaftsform („Republik“, „Demokratie“), Sozialethik und Gerechtigkeit und es muss im konkreten Einzelfall des positiven Rechts in die Praxis umgesetzt werden – unbeschadet aller Spannung zwischen Gemeinwohl als idealem Postulat und als (nicht selten defizienter) Wirklichkeit, auch in der EU. 4. Als Wert- und Grundlagenbegriff, als „Schlüsselwort“ ist das Gemeinwohl in vielen Gebieten einsetzbar, es darf aber nicht inflationär verwendet werden, weil es sich sonst selbst entwertete. Dies gilt auf Verfassungsebene wie auf Gesetzesebene. 5. Im demokratischen Verfassungsstaat westlicher Prägung (mit der Menschenwürde als Prämisse, mit demokratischer Legitimation, Grundrechten und Gewaltenteilung, pluralistischer Öffentlichkeit und den „Staatszielen“ des sozialen Rechts-, Umwelt- und Kulturstaates) wird eine juristische Gemeinwohltheorie möglich und notwendig. Verfassung, verstanden als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, gibt inhaltliche Direktiven für das Gemeinwohl, sie eröffnet aber auch eine Vielfalt von Verfahren zu seiner Konkretisierung und Revidierung. 6.  Stichworte sind (seit 1970) „salus publica ex constitutione“, „salus publica ex processu“. Das – republikanische – Gemeinwohl ist im Rahmen des GG weniger vorgegeben als je konkret aufgegeben. Es ist Ergebnis von komplexen Prozessen im vielgliedrigen Zusammenspiel staatlicher Funktionen und öffentlicher Vorgänge. 7.  Trotz oder gerade wegen seiner juristischen Ausprägungen bedarf das Gemeinwohl interdisziplinärer Forschung. Seit der Antike eine Kategorie des Menschen, der über seine res publica nachdenkt und in ihr und für sie handelt, steht das Gemeinwohl in einem je konkreten Kulturzusammenhang. Juristische Grundlagenbegriffe wie das Gemeinwohl leben nicht aus sich selbst, sie erwachsen aus zahlreichen Integrationsleistungen der Kultur eines Volkes. Ein Katalysator ist das je konkret zu bestimmende und insofern „relative“, aber auch mit klassischen Inhalten und Verfahren begabte „Gemeinwohl“. Dies gilt auch für die EU und darüber hinaus. 8.  Die „Verfassung des Pluralismus“ beruht auf letztlich nur kulturwissenschaftlich zu erschließenden Zusammenhängen, die der Jurist nicht allein erarbeiten kann (s. etwa auch die Erziehungsziele). Ihr Minimal- bzw. Grundkonsens (z. B. auf Respektierung der Gemeinwohl-)Verfahren, auf Minderheitenschutz, Gewaltverbot und



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Toleranz) wurzelt in diesen Bezirken. Hier ist das heutige Gemeinwohlverständnis angesichts besonderer Krisen und Gefahren auf die Probe gestellt. Man denke nur an die Übermacht der Finanzmärkte im Verhältnis zur Realwirtschaft und den staatlichen Organen. Es kann nicht sein, dass, wie 2012, die Märkte die Regierungen und Parlamente europaweit „vor sich hertreiben“. Aus Gemeinwohlgründen bedarf es schärferer Regulierungen für die „demokratiekonformen Märkte“. Die Politik des Verfassungsstaats darf nicht in die Abhängigkeit von Finanzmärkten geraten (wie 2012 in Europa). Die fast weltweite Krise des Kapitalismus ist durch eine Wiederbesinnung auf die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft zu bewältigen. 9. Das Gemeinwohl ist ein „Bindemittel“ in der pluralistischen Gesellschaft. In der Verfassung des Pluralismus bedarf es seiner. Es hat viele Dimensionen, eine teils inhaltliche, teils prozessuale. Dies gilt auch im Europäischen Verfassungsrecht. 10.  Oft muss es von der Praxis anhand von Beispielen angereichert werden, etwa im Enteignungsrecht bzw. beim Eigentumsgebrauch in der Bindung an das Gemeinwohl. Hier kommt heute besonders der Umweltschutz („Nachhaltigkeit“) ins Blickfeld. Die Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums ist in unseren Tagen auch als „umweltverpflichtet“ zu lesen bzw. zu texten, auch in der EU. 11. Vielfältige Gemeinwohl-Impulse kommen im kooperativen Verfassungsstaat aus der ebenso offenen wie verfassten Gesellschaft. Pluralgruppen aller Art formulieren aggressiv oder defensiv punktuell oder sektoral Gemeinwohlaspekte, die sie in die staatliche Gemeinwohlbestimmung einbringen wollen. 12.  Im Bereich des Gesellschaftlich-Öffentlichen formulieren Parteien und andere Pluralgruppen – etwa die Tarifpartner – öffentliche Interessen, die in der pluralistischen Demokratie ihre Staatsbezogenheit und Vorgegebenheit (jenseits der Verfassungsdirektiven) verloren haben. Demokratie, Pluralismus und Offenheit, aber auch die Grundrechte verleihen dem Gemeinwohl inhaltlich und prozessual Profil; es ist im Rahmen rechtlicher Einrichtungen – etwa auch der Verbandsklage (z. B. von Umweltschutz- bzw. Tierschutzverbänden) – auch in die Verantwortung des Juristen gestellt. Die Europäisierung des Gemeinwohls sei nicht vergessen. 13.  Beteiligt an der Auslegung sind viele, tendenziell alle: nicht nur der „zunftmäßige“ Jurist, gemäß dem Bild von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. Hilfreich ist ein differenzierter funktionellrechtlicher Ansatz: Das „öffentliche Interesse“ als Voraussetzung für die Einberufung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Beispiel ist nicht justiziabel, sehr wohl aber als Voraussetzung der Enteignung (wohl weltweit). 14. Es handelt sich oft um eine „Generalklausel“, die alle Vor- und Nachteile dieser Kategorie teilt. 15. Im Typus völkerrechtsoffener Verfassungsstaat hat es einen allgemein typischen Bedeutungsinhalt und einen speziellen, je nach Kulturgeschichte des konkreten Verfassungsstaates als Beispielsnation. Auch in der EU gibt es ein pluralistisches „Gemeinwohl“. 16.  Während das verfassungsstaatliche Gemeinwohlverständnis immer neu Instrumente und Verfahren erarbeiten muss, um Gemeinwohldefizite zu verhindern (Konsumenten, Steuerzahler, Minderheiten der Minderheiten, Verbandsklage?), hat sich die interdisziplinäre Gemeinwohldiskussion auf gewaltige Herausforderungen ideel-

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ler und materieller Art gefasst zu machen (z. B. in Sachen „nachhaltige Entwicklung“). Das offene Gemeinwohlverständnis steht und fällt mit der Verfassung des Pluralismus und mit der Fruchtbarkeit des Dialogs unter den Einzeldisziplinen. 17.  Gesetzgeber, Regierung, Verwaltungsbeamte und Richter haben mit dem Gemeinwohlbegriff tagtäglich zu arbeiten; ein Ausweichen in die gängige „Leerformelthese“ ist daher nicht möglich. In der pluralistischen Demokratie ist das – mit dem „öffentlichen Interesse“ identische – Gemeinwohl unverzichtbar, so differenziert es zu ermitteln bleibt. Der Teilbeitrag der Jurisprudenz als praktischer Wissenschaft ist Vorarbeit für ein interdisziplinäres Gesprächsforum: auch im Zeichen eines universalen Konstitutionalismus, mit Impulsen aus dem Völkerrecht, z. B. den UN. 18. Auf allen Ebenen der Normenhierarchie und in allen Rechtsbereichen, aber auch im Kontext aller Staatsfunktionen, findet sich das Gemeinwohl als Rechtsprinzip, Rechtssatz, Rechtstopos oder Programmsatz. Aus dem zunächst diffus erscheinenden Rechtsmaterial lassen sich auf Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsebene bestimmte Typologien, d. h. Konstellationen erarbeiten, in denen das öffentliche Interesse bestimmte Funktionen erfüllt. Zu ihnen gehört z. B. das Gemeinwohl als Kompetenzbegründung und grundrechtsbeschränkender, pflichtenbegründender Titel, als Ausnahmeklausel und Titel für staatliche Geheimhaltung (Nichtöffentlichkeit). Zunehmend zeichnen sich aber auch Differenzierungen und Verklammerungen ab: Das Gemeinwohl bestimmt sich auch aus privaten Interessen, es kollidiert mit anderen (pluralen) öffentlichen Interessen („Insichkonflikte“); grundrechtliche Freiheit wird zum konstituierenden Bestandteil des öffentlichen Interesses: So geben Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit den Weg frei für „Öffentlichkeitsaktualisierung und Gemeinwohlkonkretisierung“ in der res publica. Die dritte Gewalt wird dank ihrer subtilen prätorischen Techniken bei der Konkretisierung der öffentlichen Interessen zur „Gemeinwohljudikatur“. Für Verwaltung und Gesetzgebung ist das Gemeinwohl seinerseits entwicklungsoffener Leitbegriff, auch in der EU.

2. Staatsaufgaben Im Folgenden seien Umrisse einer Verfassungstheorie der Staatsaufgaben angedeutet302. Zum Teil überschneidet sie sich mit der Gemeinwohlfrage, auch wenn die neuen Verfassungstexte heute etwas seltener von „Gemeinwohl“ zu sprechen scheinen. Während die „Staatsaufgaben“ direkt staatsbezogen sind, greift das Gemeinwohl weiter aus, z. B. auf den Bürger und die Gruppen, auch die politischen Parteien sowie die pluralistische Öffentlichkeit (auf die erwähnten konstitutionellen Textstufen sei verwiesen). 302  Zum Folgenden im Ansatz schon – jetzt überarbeitet – P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff.; s. auch: J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, HStR, Bd. III (1988), S. 3 ff. (Neuauflage, Bd. IV, 2006, §§ 71, 73); M. W. Hebeisen, Staatszwecke, Staatsziele, Staatsaufgaben, 1996. Der Begriff „public interest“ kommt in Osteuropa verstärkt vor: z. B. Art. 20 Abs. 2 S. 1 Verf. Slowakei (1992), Art. 59 Abs. 3 Verf. Polen (1997), sie verwendet die Gemeinwohlidee prominent in Art. 1 (Republik Polen als „gemeinsames Gut aller Staatsbürger“).



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben487

a) Eine verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre sollte von vornherein interdisziplinär ansetzen: Die Philosophie, die Politikwissenschaft, die Nationalökonomie, Soziologie und sogar die Theologie sind gefordert, die (begrenzten und zu begrenzenden) Beiträge zur Sprache zu bringen, die sie z. T. seit langem in Sachen „Staatsaufgaben“ leisten. Die vergleichende Verfassungslehre hat sie zu integrieren, so wie sie auch sonst Forum für Einzelwissenschaften ist. So sind Klassikertexte der Staatsphilosophie ebenso einzuschmelzen wie solche der Nationalökonomie303 oder der katholischen Soziallehre, die alte Tradition der Staatszwecklehre304, Geschichte und Gegenwart der Gemeinwohldiskussionen ebenso wie ihre Perversion etwa im NSReich305 als Beispielsform für den totalitären Staat, die als Lehrmaterial vom Negativen her dem weltoffenen Typus „Verfassungsstaat“ dienlich ist. b)  „Staatsaufgaben“ sind von vornherein vom Typus des Verfassungsstaates her zu denken, d. h. vom allein durch die Verfassung konstituierten politischen Gemeinwesen her. Er ist im historischen und kontemporären Verfassungstextvergleich zu erarbeiten, auch in seinem Wandel. Das bedeutet konkret den „Abschied“ von allen offenen oder verdeckten „Anleihen“ an den Staat der „Allgemeinen Staatslehre“. Vor allem sollten weder der Begriff der „geborenen“ „Kern-“ oder „Primäraufgaben“ übernommen werden, noch der des „regelungsintensiven Industriestaates“ (R. Zippelius). Dieser ist abzulehnen, da er die grundsätzliche Differenz zwischen dem totalitären Staatstypus und dem Verfassungsstaat überdeckt. Von „geborenen“ oder „Primäraufgaben“ sollte deshalb nicht gesprochen werden, weil dadurch neuere, den Verfassungsstaat in seiner heutigen Entwicklungs- bzw. Textstufe mit legitimierende Aufgaben (wie sie in der Sozial- oder Kulturstaatsklausel sowie in Umweltartikeln zum Ausdruck kommen) ungebührlich abgewertet erscheinen. Auch die „klassischen“ Staatsaufgaben sind Ergebnis einer historischen Entwicklung; auch die neueren sind – in der jüngeren Entwicklungsphase – „geboren“ und in der weiteren Entwicklung wandelbar. Man tradiert (unbeabsichtigt) Kategorien der an den (absoluten) „Staat“ anknüpfenden Allgemeinen Staatslehre, wenn man diese Unterschiede einführt. Vor allem macht man mit der Einsicht, dass der Verfassungsstaat in allem, auch in den Aufgaben, durch die Verfassung konstituiert wird, letztlich doch nicht ernst. Der Verfassungsstaat unterscheidet sich vom „absoluten Staat“ ebenso wie vom totalitären auch in der Konzeption der Staatsaufgaben. In der Tat ist primär aus der „Warte der Verfassung und nicht des Staates“ (K. Stern) zu arbeiten, gegen ihn ist dieser Ansatz 303  Dazu

1985.

treffend J. Starbatty, Die englischen Klassiker der Nationalökonomie,

304  Dazu K. Hespe, Zur Entwicklung der Staatszwecklehre in der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, 1964. 305  Dazu M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

auch bei der „Einteilung“ der Staatsaufgaben zu Ende zu führen. Auch die klassischen Staatsaufgaben legitimieren sich heute verfassungsstaatlich, nicht „staatlich“. Der völkerrechtsoffene Verfassungsstaat gliedert sich nicht in eine staatliche „Geburt“ bzw. „Natur“ (bzw. „geborene“ Staatsaufgaben) und verfassungsrechtliche Geschichte bzw. Kultur („situationsbedingte Aufgaben“). Er ist im heutigen Verständnis „Zwischenergebnis“ bzw. Respekt erheischende Entwicklungsstufe kultureller Prozesse. Insbesondere wird durch spezifisches „Notwendigkeitsdenken“ zu erarbeiten sein, welche Staatsaufgaben „notwendig“ und „möglich“ sind. Dabei ist sowohl vom Typus Verfassungsstaat aus wie vom einzelnen nationalen Beispiel aus zu argumentieren. Der Streit um das „Mehr oder Weniger“ an Staat bzw. die Privatisierung und Deregulierung in den letzten Jahren bleibe ein Merkposten (vor allem für die Finanzkrise im Europa von 2012); dies gilt auch für die EU („Politiken“). c) Inhalte, Einteilungen und Grenzen der verfassungsstaatlichen Staatsaufgaben erschließen sich zum einen durch den Vergleich der Textstufen älterer und neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen. Zum anderen werden empirische Bestandsaufnahmen des tatsächlich Geleisteten erforderlich. Was den Verfassungstextvergleich angeht, so zeigen sich bemerkenswerte Entwicklungen. Die neueren Verfassungen in der Schweiz, in Portugal (1976 / 92)306 und Spanien (1978), aber auch in manchen Lateinamerikanischen Ländern (etwa Venezuela, Bolivien und Ecuador) neigen dazu, ausdrücklich eine Vielzahl von einzelnen „Staatszielen“, „Staatszwecken“ etc. zu normieren – man misstraut offenbar der „(nach)absolutistischen“ „General- und Blankovollmacht“ i. S. H. Krügers. M. a. W., es zeigen sich intensive Wachstumsvorgänge in Sachen Staatsaufgaben – da sie in den Verfassungstexten fest- bzw. fortgeschrieben sind, handelt es sich zugleich um einen Normativierungs- oder Konstitutionalisierungsvorgang des Themas „Staatsaufgaben“: wohl weltweit, besonders aber analog in der EU. d) Staatsaufgabenkataloge wachsen textlich wie wissenschaftlich in die Grundrechtsteile hinüber307 bzw. umgekehrt diese in jene. M. a. W.: ein star306  Vgl. Art. 9 Verf. Portugal: „Wesentliche Aufgaben des Staates sind: a) die nationale Unabhängigkeit zu gewährleisten und die zu ihrer Förderung erforder­ lichen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen zu schaffen; b) die Grundrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten … c) die politische Demokratie zu verteidigen … d) das Wohlbefinden und die Lebensqualität des Volkes, die tatsächliche Gleichheit zwischen den Portugiesen und die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu fördern … e) das Kulturgut des portugiesischen Volkes zu verteidigen und zu mehren, die Umwelt und die Natur zu schützen und die natürlichen Ressourcen zu erhalten.“ Ein Aufgabenkatalog: Art. 5 Verf. Äquatorial-Guinea (1991). 307  Z. B. Art. 19 Verf. Niederlande von 1983. Abs. 1: „Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates …“ – Abs. 3 ebd.: „Das



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben489

rer Dualismus zwischen Staatsaufgaben einerseits und Grundrechten andererseits lässt sich nicht mehr vertreten. So finden sich in den Staatsaufgabenkatalogen typische Grundrechtsthemen (z. B. Art. 2 Abs. 2 VE Schweiz von 1977: „Der Staat schützt die Rechte und Freiheiten der Menschen und schafft die erforderlichen Grundlagen für ihre Verwirklichung“); so gibt es „allgemeine Grundrechtslehren“, die die Grundrechte nicht nur als „Grenze“ des kooperativen Verfassungsstaates begreifen (das bleiben sie auch), sondern auch als Aufgaben308, d. h. Staatsaufgaben und Grundrechte sind sich „näher“ gekommen als im älteren („nur liberalen“) Staatstypus309. Dogmatisch wird sowohl ein „Schrankendenken“ als auch „Aufgabendenken“ erforderlich: Grundrechte normieren nach wie vor Grenzen des Verfassungsstaates, auch für seine „Staatsaufgaben“; sie umschreiben aber auch positiv Aufgaben für ihn („grundrechtsorientiertes Kompetenzdenken“). e)  Einteilungen der verfassungsstaatlichen Staatsaufgaben empfehlen sich nach der thematischen Seite hin: etwa innere und äußere Sicherheit310, „Wirtschaft“311, „Kultur“312, „Natur“ bzw. „Umwelt“313, „Gesundheit“ und Sport314, humanitäre Hilfe für das Ausland (besonders in der Schweiz). Da viele dieser Themen auch Grundrechtsbereiche betreffen, ergeben sich manRecht jedes Niederländers auf freie Wahl der Arbeit wird anerkannt …“ Weiteres konstitutionelles Textmaterial S.  494 ff. 308  Zu den so verstandenen „Grundrechtsaufgaben“ im Leistungsstaat mein Regensburger Koreferat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (103 ff.). 309  Besonders prägnant ist die Verklammerung in Verf. Schweden (1974  /  76): „Grundlagen der Staatsform“, § 2: „Die öffentliche Gewalt soll mit Respekt für den gleichen Wert aller Menschen und für die Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen ausgeübt werden. – Die persönliche, ökonomische und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen soll grundsätzlich den Zweck der öffentlichen Wirksamkeit bestimmen. Es obliegt besonders dem Gemeinwesen, das Recht auf Arbeit, Wohnung und Ausbildung zu sichern und für soziale Fürsorge und Sicherheit und für einen guten Lebensstandard zu sorgen …“ 310  Z. B. Art. 2 alte BV Schweiz: „Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen außen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Inneren, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt.“ 311  Z. B. Art. 40 Abs. 1 Verf. Spanien. 312  Z. B. Art. 44 Abs. 1 Verf. Spanien: „Die Staatsgewalten fördern und schützen den Zugang zur Kultur, auf die alle Anspruch haben“ oder Art. 7 Abs. 1 Verf. Schleswig-Holstein (1949): „Das Land fördert und schützt Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre.“ 313  Z. B. Art. 24 Verf. Griechenland. – Vgl. auch 8. Abschnitt Verf. Brandenburg (1992): „Natur und Umwelt“ (ebenso 4. Abschnitt Verf. Thüringen von 1993). 314  Z. B. Art. 22 Abs. 1 Verf. Niederlande; Art. 43 Verf. Spanien; Art. 68 Verf. Polen (1997). – Art. 30 Abs. 3 Verf. Thüringen (1993): „Der Sport genießt Schutz und Förderung durch das Land und seine Gebietskörperschaften.“

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5. Kap.: Einzelausprägungen

che Überschneidungen (z. B. Kulturauftrag des Staates bzw. kulturelle Freiheiten der Bürger und Gruppen315). Dabei liegen Zielkonflikte auf der Hand: z. B. zwischen Ökologie und Ökonomie316, dies auch in der EU (S. 507 ff.). f) Zu unterscheiden ist zwischen Staatsaufgaben, öffentlichen Aufgaben und privaten Aufgaben – entsprechend der „republikanischen Bereichstrias“. Staatliche Aufgaben werden kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung vom Staat erfüllt, „öffentliche Aufgaben“ von nichtstaatlichen Gruppen, Einrichtungen oder Einzelnen (z. B. von der Presse, von den Tarifvertragsparteien, von den Kirchen317). Inwieweit öffentliche oder gar private Aufgaben „verstaatlicht“ werden dürfen, entscheidet die Verfassung (begrenzend z. B. via Grundrechte), in ihrem Rahmen der politische Prozess (z. B. Art. 14 Abs. 3 GG). Eine verfassungsstaatliche Theorie des Privaten hätte Einzelfragen zu klären (zum Privatheitsschutz vgl. oben S. 42 ff. sowie prägnant jetzt Art. 32 neue Verf. Angola von 2010). g) In der pluralistischen Demokratie trifft die Verfassung materiell- und verfahrensrechtliche Aussagen zu den Staatsaufgaben: materiellrechtliche, indem sie inhaltliche Aufgaben nennt (allgemein z. B. in der Sozialstaatsklausel oder speziell318). Viele Staatsaufgaben werden als solche bzw. zu solchen erst via Verfahren (d. h. im politischen Prozess): weil das – pluralistische – Gemeinwohl offen ist. Hier herrscht der unentbehrliche Spielraum für ein Mehr oder Weniger an „Staat“ oder „privat“, „Staat“ oder „mehr Markt“ bzw. Verstaatlichung (Regulierung) oder Privatisierung (die neueren Beispiele in England und Frankreich, auch in ihrem „Hin und Her“, halten sich innerhalb einer verfassungsstaatlichen Staatsaufgabenlehre; die seinerzeitige Privatisierungseuphorie in Deutschland könnte indes an eine sozialstaatliche und kulturstaatliche Grenze geraten). Gegenüber einem etwaigen „Zuviel“ an Staatsaufgaben ist an die Schrankenfunktion der Grundrechte zu erinnern, gegenüber einem „Zuwenig“ an Staatsaufgaben an ihre kompetenzbegründende Kraft („Freiheit durch den Verfassungsstaat“). 315  Z. B.

Art. 73 und 79 Verf. Portugal. Harmonisierungs-Maxime findet sich in § 112 KV Basel-Landschaft (1984), Abs. 1: „Kanton und Gemeinden streben ein auf die Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen den Naturkräften und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits, sowie ihrer Beanspruchung durch den Menschen andererseits an.“ 317  Auch hier sind neuere Verfassungstexte ergiebig, z. B. Art. 15 Verf. Griechenland, Abs. 2 a. E.: „Dabei haben sie (sc. Hörfunk und Fernsehen) in ihren Sendungen einen ihrer sozialen Aufgabe entsprechenden Qualitätsstand zu wahren, um die kulturelle Entwicklung des Landes zu fördern.“ Art. 46 Abs. 1 Verf. Bern (1993): „Der Kanton unterstützt die Unabhängigkeit und Vielfalt der Informationen.“ 318  Z.  B. Art. 9 Verf. Italien, Abs. 1: „Die Republik fördert die kulturelle Entwicklung sowie die wissenschaftliche und technische Forschung.“ – Art. 108 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992): „Die Erwachsenenbildung ist zu fördern.“ (Ähnlich Art. 29 Verf. Thüringen von 1993.) 316  Eine



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben491

­ rientierungsmaxime ist (historisch wandelbar) das Subsidiaritätsprinzip. O Im Rahmen der verfassungsstaatlichen Verfassung lässt sich von einer begrenzten Offenheit der Staatsaufgaben sprechen – Grenzen ziehen neben den Grundrechten die mehr oder weniger „bestimmten“ verfassungsrechtlich verwendeten Allgemein- oder Einzelbegriffe von Staatsaufgaben. h)  Im geschichtlichen und kontemporären Vergleich ist den Prozessen der Expandierung, Intensivierung und Differenzierung nachzugehen, die die Staatsaufgaben des Typus „Verfassungsstaat“ wachsend kennzeichnet319. Vor allem ist herauszuarbeiten, in welchem textlichen Gewand Staatsaufgaben im Verfassungsstaat normiert sein können. Dabei zeigt sich eine große Variationsbreite. Sie reicht von ausdrücklichen Staatsaufgabennormen über „bloße“ Kompetenzen320 bis hin zu Grundrechten321. Besonders in ihnen verbergen sich heute – von der Lehre und Rechtsprechung unterstützt – „Staatsaufgaben“: erinnert sei an die Konzeption von „Grundrechtsauf­ ga­ ben“322. Grundrechte und Staatsaufgaben stehen in einem ambivalenten Verhältnis: Einerseits können in Grundrechten Verfassungsaufträge zur Erfüllung von Staatsaufgaben „verborgen“ sein – aktiviert in dem Wort von der „leistungsstaatlichen Seite“ der Grundrechte –, andererseits ist immer wieder an die die Staatsaufgaben begrenzende Funktion der Grundrechte zu erinnern. Die Wissenschaft hat die Aufgabe, diese beiden Seiten bewusst zu machen. In dem Maß, wie die Grundrechtsdogmatik die klassische staatsabwehrende Dimension ergänzt hat durch die objektiv-rechtliche, leistungsstaatliche, schutzrechtliche und prozessuale, haben sich die Staatsaufgaben intensiviert und differenziert. Der Verfassungstextgeber zieht entsprechend nach. Dies ist ein Grund für die „Vermehrung“ der in Verfassungstexte gefassten Staatsaufgaben. Dies gilt analog für die EU („Politiken“). i) Für den Verfassungsstaat ist eine Lehre zu entwickeln, die dartut, in welchen Prozessen sich in der „Verfassung des Pluralismus“ Staatsaufgaben zu solchen entwickeln. Das „prozessuale, pluralistische Gemeinwohlverständ­ nis“323 stellt ein Theorieangebot dar. Die weltweit vergleichende Verfassungslehre kann durchaus verallgemeinernde inhaltliche Maßstäbe und vor 319  Dazu mit Vergleichsmaterial für die Schweiz: P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 (311 ff., 370 ff.). 320  Z. B. Art. 10 B-VerfG Österreich (1920): „Bundessache ist …“ 321  Z. B. Art. 6 Abs. 5 GG. 322  P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S.  43 (103 ff.). 323  Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 716 ff. und passim (2. Aufl., 2006). Aus der späteren Lit.: R. Viotto, Das öffentliche Interesse, 2009; M. Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, 2006; H. Münkler u. a. (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, Bd. III, 2002.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

allem differenzierte Verfahren nennen, in denen Gemeinwohlaufgaben in der Form von Staatsaufgaben entworfen und dann im Einzelnen erfüllt werden. Die neuen „State-Policy“-Klauseln im südlichen Afrika bleiben bemerkenswert (Verfassung Südafrikas von 1996; s. auch Art. 21 neue Verf. Angola von 2010 mit einem Hinweis auf die „Zivilgesellschaft“ (lit. p)). j) Eine verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, die sich am Typus „Verfassungsstaat“, wie er vor allem im Spiegel seiner Texte greifbar wird, orientiert, sollte auch Direktiven für „gute“ Verfassungspolitik entwerfen – so wie dies die vergleichende Verfassungslehre für andere Themen versucht. k) Im Ganzen: Das Thema „Staatsaufgaben“ kann heute weder von der vergleichenden Verfassungslehre noch von Verfassungstextgebern ausgeblendet werden. Es ist so „wichtig“, dass es den Rang materiellen Verfassungsrechts verdient und damit eine – variable – Normgestalt in der Verfassungsurkunde (mit neuen Themen wie Gesundheit, Umwelt, Medienpolitik, Verbraucherschutz324, Behinderte, Altenschutz, Kinderschutz etc.). Es gibt viele Regelungsvarianten: Nicht wenig spricht für eine „Grundlegung“ schon in der Präambel oder in Eingangsartikeln (so in Präambel Verf. Sachsen-Anhalt von 1992 oder Präambel Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993: u. a. Schutz der „Schwachen“). Dies gilt analog für die EU. Doch sollte den Grundrechten auch äußerlich textlich der „Vorrang“ gelassen werden: Zuerst ist die kulturanthropologische „Prämisse“ der Menschenwürde zu „setzen“. Manches spricht für einen eigenständigen Abschnitt „Staatsaufgaben“ – nach einem „klassischen“ Grundrechtsteil. Denkbar ist aber auch, die Grundrechte mit Staatsaufgaben gezielt anzureichern, in diesem Fall könnte auf eigene Staatsaufgabenabschnitte verzichtet werden. Insgesamt ist aber vor einer Überwucherung der Gesamtverfassung mit einem „Strauß“ zu detaillierter Staatsaufgaben zu warnen. Die vergleichende Verfassungslehre darf in solchen verfassungspolitischen Maximen ohnedies nicht zu konkret werden: sie kann und soll die Innovation des politischen Prozesses nicht zu stark präjudizieren und mit der Schweizer Textalternati324  In neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen wird der Verbraucherschutz vielgestaltig zum Thema: Verf. Spanien (1978) im Kapitel: „Die Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik“: Art. 51: 1. „Die Staatsgewalten garantieren den Schutz der Verbraucher und Benutzer, indem sie deren Sicherheit, Gesundheit und legitime wirtschaftliche Interessen durch wirksame Maßnahmen schützen.“ – 2. „Die Staatsgewalten fördern die Information und Bildung der Verbraucher und Benutzer sowie deren Organisationen und hören diese in sie betreffenden Fragen, nach Maßgabe des Gesetzes.“ – 3. „Im Rahmen des durch die vorstehenden Absätze Festgelegten regelt das Gesetz den Binnenhandel und die Zulassungsordnung für kommerzielle Produkte.“ Kantonsverfassung Jura (1977): „III. Les Tâches de L’etat 1. … 10. La protection des consommateurs“; Art. 52: „L’Etat considère les interêts des consommateurs.“



IX. Gemeinwohl und Staatsaufgaben493

ventechnik arbeiten. Es ist gerade ein Kennzeichen der Offenheit der Verfassung, hier ein Sowohl-als-auch zu empfehlen: einerseits „anregende“, aber auch begrenzende Verfassungstexte zum Thema „Staatsaufgaben“, andererseits aber auch Zurückhaltung statt „Reglementierungs-“ und „Normierungswut“. Die erwähnten neueren Verfassungen bieten viel Belegmaterial für gelungene Lösungen, aber auch manche Übertreibung und Anlass zu Kritik. Sie spiegeln hier nur die Dringlichkeit einer weiter zu entwickelnden verfassungsstaatlichen Staatsaufgabenlehre. Die Erarbeitung des Grundrechtsbezugs der Staatsaufgaben, aber auch des Staatsaufgabenbezugs der Grundrechte bleibt ein Desiderat der Forschung (analog in der EU). Beide Aspekte leisten ein wesentliches Stück Legitimation des Verfassungsstaates als (universaler) Typus wie seiner konkreten (nationalen) Gestalt. Staatsaufgaben sind ein unverzichtbares Element des „Staatsbildes“ (­genauer: des Verfassungsstaatsbildes) eines politischen Gemeinwesens325. Dieses „Bild“ baut auf dem „Menschenbild“ des Verfassungsstaates als Typus auf. Staatsaufgaben sind dabei wie die Verfassung insgesamt in kulturellen Entwicklungsprozessen und entsprechenden „Textstufen“ zu sehen (auch in eine offene Zukunft hinein). Der Reichtum der Formen, Verfahren und Inhalte ist groß, der Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ gibt viel Gestaltungsspielraum, er normiert aber auch Grenzen: sie sind letztlich in der Würde, Freiheit und Gleichheit der Bürger zu suchen. Insofern führt alles Denken und Handeln über Staatsaufgaben doch wieder zur kulturanthropologischen Prämisse des Verfassungsstaates zurück: zur Menschenwürde. Die jüngst häufiger werdenden beliebten State-policy-Klauseln sollten im Verfassungsbild der europäischen Verfassungsstaaten nicht rezipiert werden. Anderes mag für Afrika und Asien gelten. Und: Wie werden die Länder des Arabischen Frühlings seit 2011 mit den Staatsaufgaben textlich umgehen? Das Völkerrecht müsste eigens auf Aufgabenklauseln hin untersucht werden. Die teilverfasste EU kennt sie (Stichwort: Europäisierung der Staatsaufgaben in der Verfassungsgemeinschaft der EU). Es gibt viele neue Staatsaufgaben mit Auslandsbezügen (Internationalisierung!).

325  Zu Fragen des „Staatsbildes“: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 363 ff. – Art. 3 Verf. Ukraine (1996) verbindet Staats- und Menschenbild. – Aus der Lit.: P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988; 4. Aufl., 2008. Aus der Judikatur zuletzt: BVerfGE 128, 326 (376).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

X. Arbeit und Eigentum, soziale und ökologische Marktwirtschaft 1. Theorieelemente einer „Verfassungslehre der Arbeit“ Die historische und kontemporäre Rechtsvergleichung, weit über das „Recht der Arbeit“326 hinaus, führt im Verfassungsstaat von heute zu folgenden theoretischen Stichworten327 (auch für Arabien 2011?): 326  Zum Folgenden, jetzt überarbeitet: P. Häberle, Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit, AöR 109 (1984), S. 630 ff.; ders., Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 ff.; hier auch weitere Nachweise zur Literatur. 327  Konstitutionelles Verfassungstextmaterial zur Verfassungslehre der Arbeit findet sich in vielen Normen aus vielen Zeiten und Räumen. Hier nur einige Beispiele: Der wohl bedeutendste Text steht in Art. 1 Verf. Italien (1947): „Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit begründete Republik.“ Diesem Text kongenial ist der große Satz des BVerfG (E 7, 377 (397)) aus dem Jahre 1958: „die Arbeit als ‚Beruf‘ hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde“. Einmal mehr zeigt sich, wie ein Satz aus einem Grundsatzurteil einer Norm aus einer Verfassung in der Aussagekraft gleichrangig sein kann – eine Grundthese des Paradigmas von den Textstufen! Alldem entspricht die Wahlspruchtradition in afrikanischen Verfassungen zur Arbeit (z. B. Art. 1 Verf. Benin von 1990, Art. 7 Verf. Burundi von 1992, Art. 1 Abs. 7 Verf. Niger von 1996). Im Übrigen folg. (west-)deutsche Verfassungen: Art. 147 Verf. Bayern (1946) schützt die Sonntage als „Tage der seelischen Erhebung und der Arbeitsruhe“ (vgl. auch Art. 41 Verf. Saarland von 1947); dieselbe Verfassung normiert einen Hauptteil „Wirtschaft und Arbeit“ und räumt Jedermann ein Recht ein, sich durch Arbeit eine auskömmliche Existenz zu schaffen (Art. 166 Abs. 2). Art. 167 schützt die mensch­ liche Arbeitskraft als „wertvollstes wirtschaftliches Gut“. Die Verfassung Hessen (1946) nimmt sich in mehreren Artikeln der Arbeit an (Schutz der menschlichen Arbeitskraft, Arbeitslosenversicherung, würdige Arbeitsbedingungen, Anspruch auf Urlaub etc.). Auch die Verfassungen der neuen Bundesländer sind ergiebig, etwa Art. 48 Verf. Brandenburg (1992), Verpflichtung des Landes für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit zu sorgen sowie Art. 51 (Koalitionsfreiheit und Streikrecht). Sodann Art. 17 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993 („Arbeit, Wirtschaft und Soziales“), ferner Art. 34–38 Verf. Thüringen (1993): „Eigentum, Wirtschaft und Arbeit“. Art. 36 normiert ein „Staatsziel Arbeit“. Hier noch einige Beispiele aus Verfassungen westlicher Länder: Art. 23 Verf. Belgien (1994) garantiert ein Recht auf Arbeit. § 75 Abs. 1 Verf. Dänemark (1953) normiert vorbildlich: „Zwecks Förderung des Gemeinwohls ist anzustreben, dass jeder arbeitsfähige Bürger die Möglichkeit hat, unter Bedingungen zu arbeiten, die sein Dasein sichern.“ Art. 22 Abs. 1 Verf. Griechenland (1975) bestimmt: „Die Arbeit ist ein Recht und steht unter dem Schutz des Staates … “. Verf. Portugal (1976 / 92) verwendet Art. 53–57 für das Thema „Freiheit und Garantien der Arbeiter“. Verf. Spanien (1978) nimmt sich des Themas der „sozia­ len Sicherheit für alle Bürger“ an (Art. 41) und denkt an den Schutz der wirtschaft­ lichen und sozialen Rechte der spanischen Arbeitnehmer im Ausland (Art. 42). Art. 19 Abs. 1 Verf. Niederlande (1983 / 95) überantwortet die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen der Sorge des Staates. In den neuen osteuropäischen Verfassungen wird man in den unterschiedlichsten Zusammenhängen fündig, wobei auffällt, dass die Arbeit textlich nicht mehr den expansiven Stellenwert wie in den alten sozialistischen



X. Arbeit und Eigentum, soziale und ökologische Marktwirtschaft495

a) Arbeit und Eigentum stehen im inneren und äußeren, sachlichen und funktionellen Zusammenhang, so gegensätzlich sie sich in der Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte oft darstellen. Kulturell gehören beide in einen großen Kontext, teils in Rivalität, teils in Konkurrenz, teils in Komplementarität. Die Kulturgeschichte variiert dieses Verhältnis ständig neu. Das materielle Verfassungsrecht von heute, mit dem einfachen Recht zusammengesehen, spiegelt wichtige Aspekte dieses Zusammenhangs. b)  In einem Verfassungsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland intensiviert sich dieser Zusammenhang. Eigentum „im Sinne der Verfassung“ (BVerfG) und Arbeit „im Sinne der Verfassung“ konstituieren sich wechselseitig mit. Die Gegensätze und „Konkurrenzverhältnisse“ zwischen Eigentum und Arbeit werden abgebaut. Beide wachsen schon textlich zusammen. Verschränkungen werden sichtbar in Gestalt von „neuem“ oder „QuasiEigentum“ einerseits, dem besonderen Verfassungsschutz „erarbeiteten“ ­Eigentums andererseits. Die Sozialbindungen des Eigentums verstärken sich im Interesse von Arbeitnehmern, zugleich kommt es zu Formen von „mehr Eigentum für alle“ aus Arbeit. Verfassungsstaatliche Verfassungen bringen diesen Zusammenhang von Arbeit und Eigentum zunehmend dadurch zum Ausdruck, dass sie beides im selben Abschnitt regeln, wobei mitunter der Eigentumsartikel aus dem klassischen Grundrechtskatalog zum ArbeitsVerfassungsrecht „wandert“. Zum Teil figuriert die Sache Arbeit, dann hier sogar „aufgewertet“, vor dem Eigentum. Das „Verfassungsrecht der Arbeit“ „wächst“, ohne jedoch wie in sozialistischen Verfassungen (bis 1989) „allgegenwärtig“ zu werden – und werden zu dürfen: Es sprengte sonst die „Verfassung des Pluralismus“ (1980). Dies gilt analog für die EU. c) Nicht nur Eigentum, auch und gerade die „Arbeit“ ist mit „mensch­ lichen Wesensbestimmungen“ in Verbindung zu bringen. Beide, Eigentum Verfassungen besitzt. Immerhin erstrebt der Staat nach Art. 59 Abs. 1 Verf. Albanien (1998) „eine Beschäftigung weiter unter angemessenen Bedingungen für alle arbeitsfähigen Personen“. Art. 48 Abs. 1 Verf. Bulgarien (1991) normiert: „Die Bürger haben ein Recht auf Arbeit. Der Staat bemüht sich um die Schaffung von Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Rechts.“ Art. 30 Verf. Georgien (1995) normiert: „Die Arbeit ist frei.“ Für den Schutz der Arbeitsrechte wird auf das Gesetz verwiesen. Art. 54 Verf. Kroatien (1990) bestimmt prägnant: „Jeder hat das Recht auf und die Freiheit zur Arbeit.“ Die folgenden Normen decken große Felder ab, etwa den Gesundheitsschutz, das Streikrecht, die Gründung von Interessenverbänden etc. Art. 43 Verf. Moldau (1994) normiert das Recht auf Arbeit und den Arbeitsschutz, Art. 44 das Verbot der Zwangsarbeit, Art. 45 das Streikrecht. Art. 66 Verf. Polen (1997) gibt jedem ein „Recht auf sichere und hygienische Arbeitsbedingungen“; Art. 49 Verf. Slowenien (1991) formuliert vorbildlich den Satz: „Die Freiheit der Arbeit wird gewährleistet“; Art. 52–55 Verf. Montenegro (1992) nimmt sich der ganzen Palette des Rechts der Arbeit und der Rechte der Arbeitnehmer bis hin zum Streikrecht und zur Sozialversicherung an.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

und Arbeit, gehören zur „conditio humana“, zur personalen Freiheit und Menschenrechtswürde (Freiheit zu arbeiten als „Persönlichkeitsentfaltung“); darum ist für beide nach einer „möglichen Einheit“ als Menschenrecht zu fragen. Der kulturanthropologische Ansatz ist heute letztlich auf der Ebene einer als Kulturwissenschaft entwickelten (aber ideal- und realtypisch von sozialistischen und fundamentalistisch islamischen Verfassungen unterschiedenen) vergleichende Verfassungslehre zu erfüllen. Die wechselvolle „Verfassungsgeschichte der Arbeit und des Eigentums“ allein sozialwissenschaftlich „nachzuschreiben“, wäre zu eng: zu wenig Gewicht hätten dabei die folgenreichen religiösen und theologischen Berufsauffassungen, zu eindimensional würde die „idealistisch-ganzheitliche Berufsauffassung“ „erklärt“, die die „gesamte Bildungsschicht der deutschen Gesellschaft“ beeinflusst und bis heute fortwirkt. Dies gilt für viele Verfassungsstaaten. d)  Ist Arbeit – zusammen mit dem Eigentum – in dieser Weise im Zentrum der Identität des heutigen Menschen und Bürgers und seiner Freiheit angelegt, so hat dies im Verfassungsstaat Konsequenzen für viele Teilbereiche der Verfassungstexte und für die Verfassung im Ganzen. Es ist also nicht nur punktuell nach der Normierung eines Rechts auf Arbeit zu fragen, sondern ganzheitlich (entsprechend variationenreich sollten die Normierungstechniken und -inhalte gestaltet sein): Arbeit – von vornherein im kulturellen Zusammenhang bzw. „Kon-Text“ mit Menschenwürde, Freiheit und Eigentum zu sehen – hat einen Platz im Rahmen der Erziehungsziele und der Staatsaufgaben, d. h. kompetentiell einerseits, grundrechtlich in Gestalt eines (viel-dimensionalen) Grundrechts der Arbeit mit „Konnexgarantien“ wie Gesundheitsschutz, gerechte Arbeitsbedingungen, soziale Sicherungen etc. andererseits. Die Konzeption eines komplex strukturierten „Grundrechts der Arbeit“ relativiert die (vermeintlich „klassische“) Dichotomie von Freiheitsrechten und sozialen Grundrechten, so wie Aspekte der Staatsaufgabe „Arbeit“ und „Arbeitsschutz“ in grundrechtliche Dimensionen hinüber reichen. Dieses Verständnis des Grundrechts der Arbeit und der Staatsaufgabe Arbeit als „Etappen“ oder „Stadien“ auf einer ganzen Skala von Normierungsinhalten und -techniken ermöglicht letztlich auch eine differenzierte Zusammenschau der Sache Arbeit mit anderen „Themen“ verfassungsstaatlicher Verfassungen (in Sonderheit mit Menschenwürde, Freiheit und Eigentum) sowie des Arbeiters als Menschen mit seinen und seiner Mitmenschen „Parallel-Grundrechten“ (z. B. denen des Eigentümers). Dieser „Verbund“ ist letztlich (und erstlich!) in dem auf Freiheit, Eigentum und Arbeit gerichteten Gesellschaftsvertrag aller mit allen hergestellt und immer neu zu schaffen. Sozialethisch wird die viel berufene „Solidarität“ so eingelöst: ebenso „praktisch“ wie „theoretisch“ (auch in Europa). e) So hoch die Sache Arbeit und die Person des Arbeitnehmers damit verfassungstheoretisch platziert wird und so hochrangig alle über die einzel-



X. Arbeit und Eigentum, soziale und ökologische Marktwirtschaft497

nen Verfassungstextstellen verteilten Aspekte des Verfassungsrechts der Arbeit heute entwickelt sind (von den Präambeln über Erziehungsziele – sie enthalten ein „Ethos der Arbeitsgesellschaft“ –, über Grundrechtskataloge, Staatsaufgabennormen und Abschnitte zu Wirtschaft und Kultur (dies beim heute durch das Internet so bedrohten „geistigen Eigentum“ bzw. bei geistiger Arbeit!)) – die auf Eigentum und Arbeit bezogene Leistung im verfassungsstaatlichen Alltag wird vor allem vom einfachen Recht und seinen Interpreten erbracht: „Konkretisierungen des Rechts auf Arbeit“ finden sich so im Arbeitsrecht höchst vielfältig, aber auch im sonstigen einfachen Recht, z. B. im Sozialrecht, Steuerrecht, Urheberrecht. Beteiligt hieran sind alle in der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. Erforderlich wird ein Kulturgespräch vieler Einzelwissenschaften über die Sache „Arbeit“ und die Person des arbeitenden Menschen sein – nicht zuletzt um zu erkennen, was Arbeitslosigkeit existenziell bedeutet, vor allem für die Jugend (2012). Ob dieses Kulturgespräch (beginnend mit Klassikern, wie J. Locke und bis zu H. Arendt reichend: „Vita activa“) dazu führt, einen Weg zu finden aus der im 17. Jahrhundert begonnenen theoretischen Verherrlichung, ja Verabsolutierung der Arbeit, die jetzt als „Krise der Arbeitsgesellschaft“ an ihre Grenzen stößt328, bleibe hier offen. Sicherlich muss das Bewusstsein dafür wachsen, dass es auch „höhere“ und „sinnvolle“ Tätigkeit jenseits bezahlter Arbeit gibt (z. B. das Ehrenamt). Der tendenziell universale Verfassungsstaat steht hier vor noch kaum erkennbaren Herausforderungen, aber auch Chancen. Eine kulturell bedingte Wandlung des Arbeitsbegriffs könnte so just in dem Augenblick akut werden, da die kulturwissenschaft­ liche Verfassungslehre Arbeit als Teilproblem formuliert hat. f) Arbeit ist ein Aspekt kulturwissenschaftlicher Aktualisierung des Gesellschafts- bzw. Verfassungsvertrags: Zur Trias von „Freiheit, Eigentum und Arbeit“ als Element des Konstitutionalismus nun Folgendes: „Arbeit“ nimmt heute sowohl in der Sicht des Einzelnen (besonders des jungen) Bürgers als auch in der Gemeinschaft von Freien und Gleichen einen so hohen Rang ein, dass es nötig wird, sie in der theoretischen Rekonstruktion des Verfassungsstaates bzw. -vertrags entsprechend fundamental zu platzieren. Geschehen kann dies dadurch, dass die berühmte Formel von „Freiheit und Eigentum“ erweitert wird um die Dimension der Arbeit. Nur so wird ernst gemacht mit der philosophischen Einsicht, dass „Arbeit eine existenzielle Grundkategorie der Praxis des vergesellschafteten Menschen ist“, dass „unveräußerlich individuelle menschliche Arbeit“ zugleich der Faktor der Konstituierung von Gesellschaft ist. Das Verständnis der Verfassung als prozesshaftes immer neues Sich-Vertragen und Sich-Ertragen 328  Dazu

H. Arendt, Vita activa, 1960, bes. S. 11 f.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

aller legt die Fortschreibung des klassischen Vertragsmodells nahe: Schutz von Freiheit, Eigentum und Arbeit als „Grundnorm und Aufgabe“, als immer neu zu aktualisierender Basiskonsens der offenen Gesellschaft eines Verfassungsstaates. Dieser bedarf der über bloße Verfahren hinausreichenden kulturellen Grundierung durch Inhalte. „Freiheit, Eigentum und Arbeit“ sind heute solche miteinander aufs engste verknüpfte legitimierenden Sachgehalte. Das zeigt sich an Formeln wie „Eigentum und Arbeit als geronnene Freiheit“, „Eigentum durch Arbeit“, „Eigentum ist Freiheit“ (G. Dürig), an N. Blüms auf K. Marx hin geprägte Wendung „Mensch durch Arbeit“, an A. Baruzzis „Menschenrecht auf Arbeit als Realisierung der Freiheit“329 sowie an der Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und -nehmern i. S. der katholischen Soziallehre. Der Arbeiter wird im weltoffenen Verfassungsstaat zum Mitbürger, so wie er in einem tieferen Sinn Mit-Eigentümer ist. Solche – letztlich kulturellen – Leitbilder können freilich nicht von der Rechtsordnung, auch nicht von der „positiven“ Verfassungsordnung juristisch plötzlich erzwungen werden. Sie müssen von allen langfristig gelebt und täglich neu hart erarbeitet werden – auch in der universalen Genera­ tionenperspektive. Der sozialethische Solidaritätspakt, der „Freiheit, Eigentum und Arbeit“ – wie skizziert – auf neue Weise „zusammenstimmt“ und „Arbeit als Kultur“ konstituiert, kann Denkmodell und wissenschaftlicher Orientierungsrahmen sein: nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nicht nur Eigentum (wie im 19. und auch im 20. Jahrhundert), auch Arbeit macht den Bürger (heute) zum Aktivbürger. Wie das 19. Jahrhundert das Problem der Selbstverwirklichung des Menschen über und durch Eigentum lösen musste und zu lösen versuchte, so muss dies im 21. Jahrhundert für die Arbeit geschehen: Die Arbeit ist auf dieser Zeitachse das soziale Äquivalent des Eigentums. Eine wissenschaftlich ausgewiesene und politisch glaubwürdige vergleichende Verfassungslehre ist heute ohne die skizzierte Integration der „Arbeit“ nicht denkbar. Es gibt keine im Zusammenhang gedachten Menschenwürde-Konzepte und Grundrechtstheorien, keine Demokratie-, Staatszweck- (bzw. Gemeinwohl-) und Demokratielehren, auch keine Eigentumstheorie mehr ohne „Arbeit als Verfassungsproblem“. Den Arbeiter als Mitbürger und „Mit-Eigentümer“ verfassungstheoretisch ernst zu nehmen, kann umso eher gelingen, als das Arbeitsrecht (vor allem dank der Arbeitsrechtsprechung und -wissenschaft) scheinbar von unten her, in der Sache aber schon als „werdendes Verfassungsrecht“ das Thema Arbeit in einer dem sozialen Rechts- und Kulturstaat gemäßen Weise aufbereitet hat. Verfassungsstaatliche Verfassungen sichern so ein Stück ihrer eigenen Zukunft, nicht zuletzt dank eines „Verbundes“ zwischen Arbeitsrechtsund Verfassungsrechtswissenschaft. Und nur so kann die „Verfassung des 329  A.

Baruzzi, Recht auf Arbeit und Beruf?, 1983.



X. Arbeit und Eigentum, soziale und ökologische Marktwirtschaft499

Pluralismus“ ein Maß des Menschen sein und bleiben: des Menschen als Bürgers und Arbeiters. (Dies gilt auch für die EU und darüberhinaus.) Damit wird aber auch offenkundig, was Massenarbeitslosigkeit im Verfassungsstaat von heute (auch die Jugendarbeitslosigkeit wie in Spanien: 2011  /  2012) heißt: sie trifft ihn im Kern und macht ihn unglaubwürdig, wenn er sie nicht abzubauen weiß. Sie ist eine Infragestellung des dem sozialen Zusammenhalt dienenden Gesellschaftsvertrags – ähnlich einer Massenauswanderung. Zugleich muss aber auch daran erinnert werden, dass der Mensch nicht nur ein „Faktor Arbeit“, ein „Wirtschaftsfaktor“, „Humankapital“ oder eine Größe im „Wirtschaftsstandort Deutschland“ ist – so unverzichtbar ist es, jetzt die Wirtschaft in das Koordinatensystem dieser vergleichenden Verfassungslehre „in weltbürgerlicher Absicht“ einzuordnen. 2. Soziale und ökologische Marktwirtschaft a) Die „soziale Marktwirtschaft“ (gelegentlich ergänzt um die „ökologische“, vgl. Art. 38 Verf. Thüringen von 1993) ist mittlerweile ein zentrales Element des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe: ungeschrieben oder geschrieben. Darum ist es hohe Zeit für die weltweit vergleichende Verfassungslehre, den „Markt“ in das Koordinatensystem staats- und rechtsphilosophischen sowie europarechtlichen Grundsatzdenkens einzubauen. Dabei wird die klassische Diskussion um Gesellschaftsvertrag und Menschenbild ebenso relevant wie die Deutung des Marktes in kulturwissenschaftlicher Sicht. Das Jahr 1989 hat die „Weltstunde“ des Verfassungsstaates eingeläutet: Das fast globale Scheitern des Marxismus-Leninismus hat viele seiner Strukturelemente, vor allem die Menschenrechte, die Demokratie, den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung und auch die (soziale) Marktwirtschaft weltweit positiv ins Bewusstsein gerückt und als große Reformziele in Osteuropa legitimiert. Nicht zuletzt die Erfolgsgeschichte der „Marktwirtschaft“ übt eine Faszination aus, die von den einzelnen Wissenschaften erst noch analysiert und erklärt werden muss, auch und gerade nach 1989, wobei sich in Osteuropa drastisch zeigt, wie schwer die Umstellung von der Kommandowirtschaft auf die soziale Marktwirtschaft praktisch ist: personell, institutionell und rechtlich, aber auch psychologisch-mental und „moralisch“. Dasselbe gilt angesichts der heutigen fast weltweiten Wirtschaftskrise. Das Entstehen eines riesigen einzigen Weltmarktes über alle Staatsgrenzen hinweg liefert einen weiteren Grund, nach dem Markt, einem trotz aller Popularität recht „unbekannten Wesen“, in der Breite vieler Teildisziplinen und der Tiefe jeder einzelnen sehr prinzipiell zu fragen. Die vergleichende Verfassungslehre ist hier umso mehr gefordert als im Westen ein neuer Ökonomis-

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5. Kap.: Einzelausprägungen

mus bzw. Materialismus um sich greift (Vermarktung fast aller Lebensbereiche), Ökologie330 und Ökonomie verknüpft werden müssen und verfassungspolitisch in den heutigen Prozessen der Verfassunggebung (z. B. in Osteuropa, in Ostdeutschland und in arabischen Ländern) zu entscheiden ist, was in Sachen Markt und Marktwirtschaft wie und auf welche Verfassungstexte gebracht werden soll. Der EU-Binnenmarkt stellt eigene Probleme. b)  Markt und Marktwirtschaft bilden heute ein zentrales, „inneres“ Verfassungsproblem (weltweit). Klassikertexte von A. Smith bis Sir Popper, hier als Verfassungstexte im weiteren Sinne verstanden331, und die Entwicklungsstufen der (mit ihnen oft verknüpften) geschriebenen Verfassungstexte im engeren Sinne liefern mehr als bloße Problemhinweise. Sie zeigen – ganzheitlich betrachtet –, dass es im Wirtschaftsleben um ein Stück verfasster Freiheit und Verantwortung, einen Ausschnitt der kulturellen Freiheit, um Gemeinwohl und Gerechtigkeit geht, und beweisen, dass der Verfassungsstaat nicht „natürliche“ Räume umhegt, sondern kulturelle Bereiche konstituiert. Anders gesagt: Die pluralistische Gesellschaft verfasst sich auch in der Weise immer neu, dass sie für das Wirtschaften Rahmenordnungen und rechtliche Institute schafft, mit dem rechtsethischen Konsens (der auch ein Stück indirekter „Wirtschaftsethik“ ist) vor allem im einfachen Recht Ernst macht und das Sozialstaatsprinzip (z. B. im Sozial- und Arbeitsrecht) so verwirklicht, dass die Marktwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft als Gemeinwohlaspekt wird. Markt und Wettbewerb bedeuten für die offene Gesellschaft viel, wenngleich nicht alles. Der „homo oeconomicus“ ist nur eine Teilwahrheit. Die viel berufene Offenheit des Verfahrens der demokratischen Willensbildung darf nicht durch ökonomische Vermachtungsprozesse verfälscht werden (Stichwort: Finanzmärkte, Ratingagenturen), denn die offene Gesellschaft ist kein „ökonomisches Gewinnspiel“. Gewaltenteilende Strukturen, vom Staat auf die Wirtschaft übertragen (z. B. Kartellgesetze, auch in der EU, Pressefusionsgesetze bzw. Höchstgrenzen im Bereich privater Fernsehfusionen!), müssen dem vorbeugen. Wettbewerbspolitik ist insofern „Demokratiepolitik“, zugleich Dienst an der sozialen Marktwirtschaft. Eine Verfassungstheorie des Marktes steht heute vor neuen Herausforderungen, so vieles bisher erreicht ist: Die Ökologie muss zur Ökonomie in ein Verhältnis „praktischer Konkordanz“ (K. Hesse) wachsen, wie dies manche Staatsziele programmatisch fordern (zuletzt vorbildlich Verfassung Thüringen vom Oktober 1993, Art. 38: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens 330  Aus der deutschen Lit.: W. Berg, Über den Umweltstaat, FS Stern, 1997, S.  421 ff.; M. Kloepfer, Umweltschutz als Verfassungsrecht: Zum neuen Art. 20a GG, DVBl. 1996, S. 73 ff.; ders., Aspekte der Umweltgerechtigkeit, JöR 56 (2008), S.  1 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S. 367 ff. – Zu konstitutionellen Texten in Sachen Umweltschutz unten S. 522 ff. 331  Dazu P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981.



Inkurs VIII: Eine Verfassung für künftige Generationen501

hat den Grundsätzen einer sozialen und der Ökologie verpflichteten Marktwirtschaft zu entsprechen“). Und: Die pluralistische Demokratie überlebt nur dann, wenn sie sich in einer Verantwortungsbereitschaft mit den „werdenden“ und jetzt gewordenen Verfassungsstaaten Osteuropas weiß und die dortigen Transformationsprozesse unterstützt, ebenso wie im „Arabischen Frühling“ 2011. Die Verfassungstheorie des sozial abgefederten und dem Umweltschutz verpflichteten Marktes (auch in der EU) sollte weltweit zur gelebten Verfassungspraxis werden. Der gemeineuropäisch / atlantische Verfassungsstaat hätte dann einmal mehr bewiesen, dass er die Menschenwürde zur kulturanthropologischen Basis hat, die pluralistische Demokratie als deren Konsequenz begreift und am Ziel des „Wohlstands der Nationen“ gerechtigkeits- und gemeinwohlorientiert arbeitet, ohne (auch in der EU) einem „Ökonomismus“ anheimzufallen. Dieser verbietet sich schon wegen der (relativen) Moralität und Idealität, die das republikanische Zusammenleben der Bürger in einem Verfassungsstaat sowie in der EU und dank des Verfassungsstaates und der EU auszeichnet. Und er missachtete auch, was die Menschen in Osteuropa in meist friedlichen Revolutionen 1989 gewagt haben und seit 2011 in arabischen Ländern wagen: vielleicht sogar schon in „weltbürgerlicher Absicht“; jedenfalls mit weltbürgerlichen Konsequenzen. Bei all dem gilt es aber immer zu bedenken: Ein Pfeiler des verfassungsstaatlich eingebundenen „Marktes“ ist (auch in der EU) das Privateigentum – entwicklungsgeschichtlich wie heute. – Jetzt zu einem konkreten Anwendungsbeispiel des immer wieder zitierten „Gesellschaftsvertrags“:

Inkurs VIII: Eine Verfassung für künftige Generationen – die „andere“ Form des Gesellschaftsvertrages: Der Generationenvertrag Problem und Aktualität des Themas Die Kernfrage332 nach dem Generationenvertrag als „anderer Form“ des Gesellschaftsvertrages stellt sich in der Tiefe der Verfassungstheorie und der Weite des Problems der „Zeit“ in vielen Lebenswelten. Staatsverschuldung und Entsorgung des Atommülls wurden schon 1983 im Horizont der Generationen als Problembereiche von „Zeit und Verfassungskultur“ ausgemacht333. In der Schweiz folgte der über332  Überarbeitete Fassung meines gleichnamigen Beitrags in: FS Zacher, 1998, S.  215 ff. 333  P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: A. Peisl  / A. Mohler (Hrsg.), Die Zeit 1983, S. 289 (333 ff.) (Neuauflage 1989, hrsg. von H. Gumin/H. Meier); ders., Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 382 ff.: „Die generationenorientierte Dimension von Grundrechten“. Schon früh: H. Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, 1981, S. 258 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

greifende Entwurf von P. Saladin und A. Zenger: „Rechte künftiger Generationen“ (1988), und seitdem hat das Thema auf vielen Feldern Aktualität gewonnen334. 1989 erschien ein Aufsatz über „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“335. Später gab es in Frankreich in der Regierung A. Juppé (1995)336 eine Ministerin für „Solidarität zwischen den Generationen“, im gleichen Jahr erscheint ein Buch über „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“337. Wir lesen aber auch: „Droht ein Krieg der Generationen?“338. Man erinnere sich ferner der Diskussion in den USA um ein (gescheitertes) amendment zur Begrenzung der Staatsschulden (1995) und die Forderung nach Schuldenbremsen in ganz Europa (2012) oder an die globale Umweltkontroverse. Der Streit um die demographische Zukunft des „deutschen Volkes“ hat sich verschärft339, ebenso die Frage, ob die Renten nur für die heutige Rentnergeneration „sicher“ seien und das Artenschutzabkommen greift. 334  P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 271 ff.: „Die Idee von Eigenrechten der Natur und der künftigen Generationen“; s. auch den eigenen Abschnitt „Die Rechtsstellung künftiger Generationen“, in: G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 249 bis 252, oder einen Kommentar wie in FAZ vom 13. April 1996, S. 1: „Die Renten-Lüge: Vor bald vierzig Jahren ist der Generationenvertrag in Geltung gesetzt worden“ … „Nach kaum mehr als der Zeitspanne einer Generation steht dieser Vertrag zur Disposition.“ Auch das BVerfG arbeitet mit dem Generationenvertrag, vgl. E 51, 1 (27) für die Rentenversicherung; E 82, 60 (80), im Blick auf das Alterssicherungssystem; s. auch BVerfGE 88, 129 (136 f.): „… daß der Staat zur Pflege der freien Wissenschaft und ihrer Vermittlung an die nachfolgende Generation …“ (s. schon E 35, 79 [114 ff.]). In der Lit. ist der „Generationenvertrag“ ein oft gebrauchter Topos, z. B. bei O. Depenheuer, Wie sicher ist verfassungsrechtlich die Rente? …, AöR 120 (1995), S. 417 (429); H. Lecheler, Schutz von Ehe und Familie, HStR, Bd. VI (1989), S. 211 (258 f.); W. Zeidler, Ehe und Familie, HdBVerfR 1. Aufl. 1983, S. 555 (589, 603); H. Schüller, Die Alterslüge. Für einen neuen Generationenvertrag, 1996. 335  H. Kleger, in: P. P. Müller-Schmid (Hrsg.), Begründung der Menschenrechte, 1986, S. 147 ff.; s. auch W. Buchholz, Intergenerationale Ressourcen und erschöpfbare Ressourcen, 1984. 336  Vgl. FAZ vom 20. Mai 1995, S. 2. 337  M. Brumlik, 1995; s. auch C. Lawrence, Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung, 1989. 338  So der Aufsatz von C. Stephan, in: Die Zeit Nr. 41 vom 6. Oktober 1995, S. 56. 339  Vgl. z. B. M. Wingen, Was ist dem Menschen aufgegeben bei der Weitergabe des Lebens? Demographische Information und Bildung als Aufgabe, FAZ vom 21. Sept. 1995, S. 14; J. Schmid, Denken und forschen für übermorgen, Was Bevölkerungswissenschaft ist, kann und muss, FAZ vom 19. Dez. 1994, S. 8; K. Adam, Standort Seniorenheim, Mehrheit oder Zukunft: Worum es im Rentenstreit geht, FAZ vom 11. März 1996, S. 35; ders., Die alternde Gesellschaft ist keine Lustpartie, FAZ vom 3. Juni 1995 (Bilder und Zeiten); FAZ vom 21. Juni 1995, S. 15: „Alternde Gesellschaften belasten die Staatshaushalte, Die OECD empfiehlt Sicherung der Rente“; H. Birg, Bevölkerungsschrumpfung und Zuwanderung werden Deutschland bald vor gewaltige Schwierigkeiten stellen, FAZ vom 10. Mai 1996, S. 9; M. Spieker, Solidarität oder Rentenfrondienst, FAZ vom 31. Mai 1996, S. 11: „… aber das Prinzip der Lebensstandardisierung kann nicht unantastbar sein, wenn es einen Ren-



Inkurs VIII: Eine Verfassung für künftige Generationen503 Erster Teil Elemente einer Bestandsaufnahme

Die Frage nach einem Verfassungsrecht für künftige Generationen kann in einem ersten Schritt aus den Verfassungstexten beantwortet werden. Eine weltweit vergleichende Textstufenanalyse vermag offenes oder verstecktes spezifisches Problemlösungsmaterial zu erarbeiten, vor allem Entwicklungslinien erkennbar zu machen, weil die Texte in einzigartiger „Anstrengung des Begriffs“ einen in der Flut der Literatur und der Fülle sonstigen Materials besonders hohen „Verdichtungsgrad“ aufweisen340. Dabei sei über Kontinente hinweg gearbeitet, tendenziell universal. I. Ausdrücklicher Generationenschutz in neueren Verfassungen und Verfassungsentwürfen Die Verfassunggeber reagieren und agieren in ihren neuen Texten auf wichtige Grundfragen der Zeit. Das zeigt sich am Generationenschutz höchst augenfällig. Die einschlägigen Beispieltexte nehmen zu und sie treten systematisch an verschiedenen „Fundstellen“ auf: von den Präambeln über das Umweltschutzverfassungsrecht bis hin zu anderen „Stellen“, z. B. den Erziehungszielen. Eine relativ frühe Aussage findet sich in dem 1984 geänderten Art. 141 Abs. 1 Verf. Bayern: „Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist, auch eingedenk der Verantwortung für die kommenden Generationen, der besonderen Fürsorge jedes einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft anvertraut.“ Vorausgegangen war schon die Urform der Präambel-Fassung des bayerischen Verfassunggebers von 1946: „… in dem festen Entschluß, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechts dauernd zu sichern …“ Der neue Art. 20a GG aus dem Jahre 1994 verschreibt sich dem Generationenschutz in Gestalt des neuen Staatsziels „Umweltschutz“: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen …“341. Wieder einmal zeigt sich, dass und wie in der „Werkstatt Bundesstaat“ Innovationen auf Länderebene später auf der Bundesebene aktiv rezipiert werden. tenfrondienst der nachwachsenden Generation und eine Plünderung der Familien mit Kindern zur Folge hat.“ Zuletzt die FAZ-Initiative: Dreißig Jahre nach zwölf, Visa, Pisa und Demographie: Ein Grundkurs für Staatsbürger, F. Schirrmacher, FAZ vom 21. Februar 2005, S. 35; H. Birg, Demographische Konflikte, FAZ vom 2. März 2005, S. 30: „Der demographisch bedingte Lastenanstieg der erwerbstätigen Generationen lässt sich durch Kapitalexport nur international anders verteilen, aber nicht aus der Welt schaffen. Die Ungleichheit nimmt demographisch bedingt weltweit zu.“ 340  Zur Methode meine Arbeiten in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, passim, bes. S. 3 ff., 105 ff. 341  Aus der Lit.: D. Murswiek, Staatsziel Umweltschutz (Art. 20 a GG), NVwZ 1996, S.  222 ff.; H. H. Rupp, Ergänzung des Grundgesetzes um eine Vorschrift über den Umweltschutz?, DVBl. 1985, S. 990 ff.; M. Kloepfer, Umweltschutz als Verfassungsrecht: Zum neuen Art. 20a GG, DVBl. 1996, S. 79 ff.; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 20 a (2. Aufl., 2006).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

In der Schweiz finden sich zwar seit den schöpferischen Aufbruchphasen der Kantonsverfassungen in den 80er Jahren Umweltschutzklauseln z. B. schon in den Präambeln342. Doch erst der Privatentwurf für eine neue Bundesverfassung von A. Kölz / J.  P. Müller (1984)343, 3. Aufl. 1995, wagte den Präambel-Passus: „… im Bewusstsein der Verantwortung für die Bewahrung einer gesunden und lebenswerten Umwelt auch für die kommenden Generationen“. Dies hat Schule gemacht344: vgl. jetzt Präambel nBV Schweiz (1999): „Verantwortung gegenüber der Schöpfung“, „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“. Die „nächsten Generationen“ sind mittlerweile fast universal zu einem häufigen Verfassungsthema, auch textlich, geworden. Eine neue Wachstums- bzw. Textstufe des Generationenschutzes begegnet in den Verfassungen der neuen deutschen Bundesländer. So findet sich in Art. 39 Abs. 1 Verf. Brandenburg (1992) der Satz: „Der Schutz der Natur, der Umwelt und der gewachsenen Kulturlandschaft als Grundlage gegenwärtigen und künftigen Lebens ist Pflicht des Landes und aller Menschen“345. Ist damit die neue „Lebens“-Formel statt des Begriffs der „Generation“ geschaffen, so verwendet Art. 40 ebd. den alten Generationenschutz in neuem Kontext: „Die Nutzung des Bodens und der Gewässer ist in besonderem Maße den Interessen der Allgemeinheit und künftigen Generationen verpflichtet“. Art. 10 Abs. 1 S. 1 Verf. Sachsen (1992) normiert: „Der Schutz der Umwelt als Lebensgrundlage ist, auch in Verantwortung für kommende Generatio342  Z.  B. Präambel KV Aargau (1980): „Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt wahrzunehmen“. Ebenso Präambel KV BaselLandschaft (1984), zit. nach JöR 34 (1985), S. 437 bzw. S. 451; s. auch Präambel KV Tessin (1997): „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“. 343  Zit. nach JöR 35 (1985), S. 551. 344  Vgl. Art. 31 Abs. 1 S. l KV Bern (1993): „Die natürliche Umwelt ist für die gegenwärtigen und künftigen Generationen gesund zu erhalten.“ Ebenso Art. 29 Abs. 1 S. 1 KV Appenzell A. Rh. (1995). – Generationenverantwortung klingt an in dem am 9. Juni 1996 dem Schweizer Volk zur Beurteilung vorgelegten neuen Art. 31 octies der Bundesverfassung, wonach der Bund dafür sorgen soll, dass die Landwirtschaft durch eine „nachhaltige und auf den Markt ausgerichtete Produktion einen wesentlichen Beitrag zur sicheren Versorgung der Bevölkerung leistet, zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Pflege der Kulturlandschaft beiträgt …“ Identisch jetzt Art. 104 Abs. 1 nBV (1998). – Die jüngsten Schweizer Kantonsverfassungen verschreiben sich durchweg dem Generationenschutz: Präambel Verf. Schaffhausen (2002): „In Verantwortung vor Gott für Mensch und Natur“ sowie Art. 81 („dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“); Präambel KV Graubünden (2003): „… eine gesunde Umwelt für die künftigen Generationen zu erhalten“; Präambel KV Waadt (2002): „Création comme berceau des générations à venir“; Präambel KV Neuenburg (2001): „Générations futures“; Art. 6 Abs. 2 KV Zürich (2005): „kommende Generation“; Entwurf KV Fribourg (2004): „für die jetzigen und künftigen Generationen an einer pluralistischen und offenen … Gesellschaft zu bauen, welche die Grundrechte garantiert und die Umwelt achtet“; Präambel KV Basel-Stadt (2005): „In Verantwortung gegenüber der Schöpfung.“ 345  Die vielleicht tiefste Lebensschutz- bzw. Naturschutz- und Generationenschutzklausel prägt die Präambel Verfassungsentwurf Mecklenburg-Vorpommern von 1990 (zit. nach JöR 39 (1990), S. 399): „… erkennend, daß Menschen die Natur nie beherrschen können, vielmehr Teil des Lebens erhaltenden Kreislaufs sind und es bleiben, wenn sie ihn nicht zerstören, sondern achten.“



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nen, Pflicht des Landes und Verpflichtung aller im Land“. Demgegenüber kehrt die Verf. Sachsen-Anhalt (1992) zur Formel vom Schutz der „natürlichen Grundlagen derzeitigen und künftigen Lebens“ zurück (Art. 35). Die ökologische Lebensklausel findet sich im Gegensatz zu der anthropologischen Generationenformel auch in Art. 12 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993). Hingegen spricht die Verf. Thüringen von 1993 schon in der Präambel von der „Verantwortung für zukünftige Genera­ tionen“. Zuletzt formuliert Präambel Verf. Polen (1997) vorbildlich direkt: „Obliged to bequeath to future generations all that is valuable from our over one thousand years’ heritage.“ Und Art. 59 Abs. 1 lit. e Verf. Albanien (1998) normiert das Staatsziel „eine gesunde und ökologisch angemessene Umwelt für die heutigen und die zukünftigen Generationen“ (s. auch Art. 37 Abs. 4 Verf. Georgien (1995): „Interessen der jetzigen und kommenden Generationen“); zuvor Präambel Verf. Estland (1992): „gesellschaftlicher Erfolg und gemeinsamer Nutzen zukünftiger Generationen“; Präambel Verf. Moldau (1994): „Verantwortlichkeit … vor den vorausgegangenen, gegenwärtigen und künftigen Geschlechter“; Präambel Verf. Ukraine (1996): „Verantwortung vor Gott, dem eigenen Gewissen, den früheren, heutigen und künftigen Generationen“; Präambel Verf. Russland (1993) „Verantwortung für unsere Heimat vor der heutigen Generation und den kommenden Generationen“. Solche Klauseln nehmen die Gegenwart in Verantwortung (dies wird weltweit erforderlich). Figuriert der Generationenschutz allgemein in Präambeln, spezieller im Umweltverfassungsrecht, so beginnt er sich auch im Verfassungsrecht der Erziehungsziele einen neuen Platz zu erobern. Das ist nur konsequent: Denn in den Schulen muss für die Kinder pädagogisch beginnen, was der mündige Bürger rechtlich zu verantworten hat346. Als Beispiel sei aus Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg-Vorpommern das Erziehungsziel „Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen“ genannt (ebenso Art. 2 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt). Verf. Sachsen verordnet in Art. 101 Abs. 1 das Erziehungsziel „Ehrfurcht vor allem Lebendigen“: eine bemerkenswerte Rezeption des Klassikertextes von A. Schweitzer. Zuletzt sei der vorbildliche Art. 24 lit. b Verf. Südafrika (1996) erwähnt: „to have the environment protected, for the benefit of present and future generations …“347 Ergiebig sind neue Verfassungen bzw. Verfassungsänderungen der Gliedstaaten in Österreich: z. B. Art. 9 Abs. 1 Verf. Oberösterreich (1991 / 2003): „… auch in Wahrung der Verantwortung für künftige Generationen“; Art. 7 a Verf. Kärnten (1996): Sicherung der „Lebensbedingungen für die gegenwärtige und die künftige Genera­ tion“. 346  Zu diesen Zusammenhängen etwa P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, bes. S. 65 ff.; ders., Erwartungen an die Pädagogik, in: A. Gruschka (Hrsg.), Wozu Pädagogik?, 1996, S. 142 ff. (2. Aufl., 2005). 347  Die Verfassungen Afrikas sind im Übrigen etwas weniger ergiebig, vgl. immerhin: Präambel Verf. Burkina Faso: „absolute Notwendigkeit, die Umwelt zu schützen“, sowie Präambel Verf. Burundi (1992): „Verantwortung vor der Geschichte und vor den künftigen Generationen“; Art. 10 lit. d Verf. Sâo Tomé und Princípe (1990): „das harmonische Gleichgewicht von Natur und Umwelt zu schützen“. Ergiebig jetzt ein Präambelelement sowie Art. 11 Abs. 1, Art. 39, 87 neue Verf. Angola von 2010.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Die Verfassung des Großherzogtums Luxemburg (1868 / 2009) denkt in einer Verfassungsrevision von 2007 an die „Bedürfnisse der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen“ (Art. 11a). In Lateinamerika wagt Verf. Ecuador (2008) in der Präambel den Text: „tiefer Kompromiss zwischen Gegenwart und Zukunft“ sowie reiche Umweltschutz-Artikel (Art. 14 bis 15). II. „Immanente“ Generationenschutzklauseln Im Folgenden seien Verfassungstexte systematisiert, die erst im Lichte der Interpretation die Generationenperspektive erkennen lassen. Gemeint sind Normen zum Natur- und Kulturschutz, insbesondere kulturelles-Erbe-Klauseln. Für diese Kategorie, in der vergleichenden Verfassungslehre seit vielen Jahren zum Thema gemacht348, seien einige Beispiele aufgeführt: Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien (1947) lautet: „Sie (sc. Die Republik) schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation.“ Art. 66 Abs. 2 lit. d Verf. Portugal (1976) verlangt im Kontext des Umweltschutzes „die Erhaltung der Natur und die Wahrung kultureller Werte von historischem oder künstlerischem Interesse zu gewährleisten“. In Osteuropa und auf dem Balkan nach 1989 entwickelt die Idee vom Schutz des kulturellen Erbes neue Textformen. So heißt es in Art. 5 Verf. Slowenien (1991)349: Der Staat „sorgt für die Erhaltung der Naturgüter und des kulturellen Erbes“, und Art. 73 bekräftigt dies in den Worten: „Jedermann hat die Pflicht, in Einklang mit dem Gesetz Naturdenkmäler und -raritäten sowie Kulturdenkmäler zu schützen“. „Der Staat und die lokalen Gemeinschaften sorgen für die Erhaltung des Naturund Kulturerbes.“ Die Zeit- bzw. Generationendimension wird schon in der Präambel der Verf. Estland (1992) in den Worten berührt: „a State which shall guarantee the preservation of the Estonian nation and its culture throughout the ages“350. Die Verf. der Tschechischen Republik (1992) gelobt bereits in der Präambel: „getreu allen guten Traditionen der historischen Staatlichkeit der Länder der Böhmischen Krone …“351 348  Vgl. meine Beiträge von 1987 bzw. 1983 und 1990, jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 241 f., 633 f., 836 ff. 349  Zit. nach JöR 42 (1994), S. 88 ff. 350  Zit. nach JöR 43 (1995), S. 306. 351  Zit. nach JöR 44 (1996), S. 458. – Eine traditionsorientierte, generationenübergreifende Klausel findet sich schon in der Präambel Verf. Baden (1947): „das badische Volk, als Treuhänder der alten badischen Überlieferung …“ (zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, II. Bd. 1948, S. 123); s. auch Präambel Verf. Guatemala (1985), zit. nach JöR 36 (1987), S. 555: „… wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an“. – Vgl. noch die Präambel der UN-Charta (1945): „… determined to save succeeding generations from the scourge of war“. – In der lateinamerikanischen Verfassungswelt gibt es, soweit ersichtlich, noch keinen Europa ganz vergleichbar intensiven Schutz der Generationen, jetzt aber das Bekenntnis zur Sicherung der „Desarrollo sostenible“ in VE Peru (2002): Präambel.



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Die Verfassung der Slowakischen Republik (1992) nimmt sich des Themas an zwei Stellen an: in der Präambel („eingedenk des politischen und kulturellen Erbes unserer Vorfahren“) und im Kontext des Umweltschutzes (Art. 44 Abs. 2: „Jeder ist verpflichtet, die Umwelt und das kulturelle Erbe zu schützen und zu fördern.“). Auf weitere Beispiele vor allem in lateinamerikanischen Verfassungen sei verwiesen352. Die neueren verfassungsstaatlichen kulturelles Erbe- und NaturschutzKlauseln dürften wachsende Impulse aus den Textensembles erfahren haben, welche die beiden internationalen Konventionen von 1954 bzw. 1972 („Schutz des Kulturund Naturerbes der Welt“) geschaffen haben („Schädigung von Kulturgut“ als Schädigung des „kulturellen Erbes der ganzen Menschheit“, Schutz des „Kultur- und Naturerbes“). Es entsteht universales Kulturrecht. Die erwähnten Klauseln erweisen sich bei näherem Zusehen als immanenter Generationenschutz. Zwar scheinen sie zunächst nur retrospektiv oder auf das nichtmenschliche „Erbe“ an Natur zu zielen. Im Ergebnis sichern sie jedoch damit auch Substrate für die jetzt lebenden und die künftigen „Generationen“. Die Natur- / ErbesKlauseln greifen inhaltlich weiter als die Generationenschutz-Klauseln. Denn sie beziehen sich auf alles Leben. Bei „Generationen“ ist herkömmlich nur an menschliche Generationen gedacht353. Insofern erweitert sich die Fragestellung dieses Abschnitts: auch der mittelbare, durch Kultur und Natur geleistete Generationenschutz ist mitzudenken. Die Generationen der Menschen sind ohne den Schutz der sie umgebenden „Natur“ und der von ihnen geschaffenen „Kultur“ nicht denkbar; beide, Natur wie Kultur, konstituieren ihre „Lebenswelt“. Generationenschutz ist immer auch Natur- und Kulturschutz – er bedingt das Weiterleben der Menschheit. Und: die viel zitierten „natürlichen Lebensgrundlagen“ verweisen immanent auf die kulturellen: weil der Mensch natur- wie kulturbedingt ist. Dies gilt weltweit. III. Insbesondere: Generationendimension und Umweltschutz im werdenden Europäischen Verfassungsrecht – Textstufen Die schrittweise Intensivierung und Expandierung der beiden Themen, ihre „Europäisierung“, seien eigens mit dem Instrument der Textstufenanalyse dargestellt. Die jüngeren Europatexte bringen die Entwicklungen in der Verfassungswirklichkeit auf – neue – Begriffe und Texte; so können auch subkonstitutionelle Rechtsakte sowie Judikate vor allem des EuGH langfristig sogar die Entwicklung der späteren 352  Nachweise in meinem Beitrag: National-verfassungsstaatlicher und universaler Kulturgüterschutz – ein Textstufenvergleich, in: F. Fechner u. a. (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes, 1996, S. 91 (95 ff.) sowie in der Schrift „Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat“, 2011. Aussagekräftig ist die Parallelität der Schutzklauseln in der Verf. von Guatemala (1985). Unter dem Titel „Kultur“ wird das „kulturelle Erbe“ (Art. 60 bis 62) ebenso geschützt wie das „natürliche Erbe“ (Art. 64). – Art. 73 Verf. Slowenien (1991) spricht später in einem Atemzug von „Erhaltung des Natur- und Kulturerbes“. Ähnlich die Grundpflicht für jeden in Art. 44 Abs. 2 Verf. Slowakei (1992). 353  Generationenschutz verbirgt sich auch im Schutz des ungeborenen Lebens (z. B. Art. 3 Verf. Guatemala von 1985) und in der Garantie des Rechts „aller Personen, frei die Zahl der Kinder zu bestimmen“ (Art. 47 ebd.).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Verfassungstexte beeinflussen. Dieses Textstufenparadigma354 lässt sich auch im Europäischen Verfassungsrecht mit Nutzen anwenden bzw. illustrieren. Dabei dürften auch Entwicklungen bzw. Verfassungstexte der nationalen Mitgliedstaaten ihren Niederschlag finden, so wie umgekehrt Verfassungstexte der EU die Textentwicklungen in den (nicht nur 10 neuen) Mitgliedsländern beeinflussen (Stichwort: wechselseitige Produktions- und aktive Rezeptionsprozesse, Kulturtransfer). In den Verträgen von Maastricht (1992) und Amsterdem (1997) ist das große Thema der „Generationen“ noch nicht zu einem Verfassungstext geronnen. Wohl aber finden sich Aussagen zum Umweltschutz: so in Art. 2 EUV („nachhaltige Entwicklung“), so in Art. 2 EGV („hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität“) und im Titel XIX „Umwelt“ mit einem detaillierten Zielekatalog (z. B. „umsichtige Verwendung der natürlichen Ressourcen“); es geht um Aufgaben. Fast einem „Quantensprung“ kommen die späteren EU-Texte gleich. Das beginnt mit der zu Recht viel gerühmten Grundrechtecharta des EU-Konvents von 1999 / 2000 („Nizza“). Schon in der Präambel heisst es im vorletzten Absatz: „Verantwortlichkeiten und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen“. In Art. 37 figuriert der Umweltschutz („nachhaltige Entwicklung“). Diesen Textimpuls nimmt der Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa vom Juni / Oktober 2004 auf seine Weise auf, wobei er in Teil II die EU-Grundrechte-Charta übernimmt: Bereits in der Präambel, die nur z. T. ein „Textereignis“ klassischer Präambelkunst ist, heisst es: „im Bewusstsein ihrer Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde“. In Teil I Art. 3 Abs. 3 ist als Ziel der Union u. a. ein „hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität“ genannt. In Teil III Art. 129 ist die Umweltpolitik der Union großflächig skizziert, und weitere Aussagen finden sich ebd. in Art. 193 Abs. 2 lit. d und f. Der EUV (2007) spricht in Art. 3 Abs. 3 von der „Solidarität zwischen den Generationen“. Art. 191 AEUV skizziert viele Details zum Umweltschutz (s. auch Art. 3 Abs. 3 EUV) und damit auch Aufgaben der EU. Dieser Textvergleich bliebe wissenschaftlich unvollständig, würden nicht auch manche Entwürfe im Vorfeld der EU-Verfassung bzw. des Lissabon-Vertrags einbezogen. Sie sind mehr als bloße „Materialien“. Ihr historisches Nacheinander (nach „Nizza“ und vor „Brüssel“) bzw. ihre gelegentliche Gleichzeitigkeit lässt sich hier nicht im Einzelnen rekonstruieren, doch: Sind solche Verfassungstexte einmal in der Welt, wirken sie sich unter- oder hintergründig aus, sie bilden einen Teil des „Humus“, auf dem der offizielle Text des seinerzeitigen Verfassungskonvents der EU gedeihen konnte und sie sind mehr als bloße „Werkstücke“ in der Werkstatt der Prozesse der Verfassunggebung in Europa und darüberhinaus. Einige prägnante Texte seien herausgegriffen355. Der frühe Text des Konventsmitglieds J. Leinen (Oktober 2002) postuliert die „nachhaltige Entwicklung“ schon in der Präambel. Weitere einschlägige Textstellen finden sich in Art. 37, 54 und 65 354  Dazu P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S. 555 ff., später ausgearbeitet in Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., 1998, S. 653 ff. u. ö. sowie in: Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011, bes. S. 145 ff. u. ö. 355  Z. T. abgedruckt in JöR 53 (2005), S. 517 ff.



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Abs. 1. Der „Grundriss“ von J. Voggenhuber (Januar 2003) formuliert in der Präambel: „verantwortlich vor der Welt und den künftigen Generationen“. Auch spricht er (unter V) von „Europa als Raum der nachhaltigen Entwicklung“. Der spätere Entwurf des Konventspräsidiums (Februar 2003) verlangt in Art. 3 Abs. 2 S. 3: „Sie (sc. die Union) fördert die Solidarität zwischen den Generationen“. Der sog. „GiscardEntwurf “ (Juni 2003) spricht in der Präambel von „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde“ (Globalisierung), auch benennt er in Art. I 3 Abs. 3 das Ziel des „hohen Maßes an Umweltschutz und Verbesserung der Lebensqualität“. Auch der Verfassungsentwurf von R. Badinter (September 2002) dachte schon an den Umweltschutz (Präambel). Gleiches gilt für den Schäuble-BockletEntwurf (November 2001), unter Ziff. 1 f. Alle Texte normieren Aufgaben der EU. Es ist zu hoffen, dass diese Texte auf Verfassunggebung und Verfassungsänderung weltweit ausstrahlen. Auf etwaige schöpferische Fortschreibungen des GenerationenThemas in der gemeineuropäischen Zukunft darf man gespannt sein. Auch wird zu beobachten sein, in welchem Kontext der Generationenschutz steht, auf welche Grundwerte er bezogen ist: auf Heimat, auf eine offene und solidarische Gesellschaft, auf den Schutz der Umwelt und Natur, auf die Grundrechte etc. Schließlich ist zu unterscheiden, auf welchem Forum die Verantwortung (wem gegenüber) eingelöst werden soll: vor Gott, Natur, Geschichte oder eben der früheren, jetzigen oder künftigen Generation (dies auch weltweit). IV. Bindungen oder Freistellungen künftiger Generationen Die verfassungsstaatlichen Generationen- bzw. Natur- und Kulturschutzklauseln sind Bindungen auf Verfassungsstufe, gerichtet an alle drei Staatsfunktionen. Es gibt indes noch Verschärfungen. Gemeint sind „Ewigkeitsklauseln“ bzw. Identitätsgarantien, die den Kern der Verfassung bzw. bestimmte Grundprinzipien auch gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber sichern. Historisch wohl von der Verf. Norwegen (1814) „erfunden“ (§ 112 Abs. 1, S. 3), haben sie nicht zuletzt über das GG von 1949 (Art. 79 Abs. 3 GG) weltweit Karriere gemacht356. Verfassungstheoretisch stellt sich das Problem, ob eine heutige Generation in dieser Weise eine spätere überhaupt binden kann. Der Pioniertext der verfassungsstaatlichen Entwicklung, der das Generationenproblem beim Namen nennt und die künftigen Generationen freistellt, stammt aus Frankreich. Art. 28 Verf. von 1793 lautet: „Un peuple a toujours le droit de revoir, de réformer et de changer sa Constitution. Une génération ne peut pas assujettir a ses lois les générations futures“357. 356  Eine Systematisierung in meinem Beitrag Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien (1986); jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 597 (599 ff.). Ein neueres Beispiel: Art. 157 Verf. Ukraine (1996); Art. 159 Verf. Angola (1997). Weitere Beispiele vgl. oben S. 259 ff. 357  Zit nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1798, 1979, S. 82. Vorausgegangen war die Bill of Rights von Virginia (1776). Die Generationenperspektive klingt an in dem Passus von Art. I: „… gewisse angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachungen berauben oder zwingen können, sich

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Man mag diese Freistellung künftiger Generationen von den ihnen von ihren Vorgängern auferlegten Bindungen aus der grundrechtlichen Freiheit des Einzelnen oder  /  und aus dem Demokratieprinzip rechtfertigen, auch aus dem Wandel alles Menschlichen: Sicher ist, dass mit Art. 28 von 1793 ein Klassikertext geschaffen wurde, der eine Aporie menschlicher verfassungsstaatlicher und universal menschheitlicher Existenz auf den Punkt bringt. Als „Gegenklassiker“ zu allen Formen von „Ewigkeitsklauseln“ nach dem Muster von Art. 79 Abs. 3 GG hat man den Ausweg in einem Sowohl-als-auch zu suchen: Freiheit und Bindung der Generationen. Die Bestandsaufnahme sei hier abgeschlossen, so fragmentarisch sie bleiben muss358. Die Textensembles neuerer und älterer Verfassungen und das in ihnen „versteckte“ Problemlösungsmaterial sind jedenfalls so weit aufbereitet, dass sich ein Theorierahmen versuchen lässt, der ins Universale reicht. Zweiter Teil Der Theorie-Rahmen I. Ein „natur“- bzw. „kulturwissenschaftlicher“ Ansatz zum konstitutionellen Generationenschutz („Generationengerechtigkeit“) Der Begriff „Generation“ ist anthropologisch zu verstehen und von den Verfassunggebern auch so gemeint. Er bezieht sich auf Menschen, die Menschheit (nicht nur auf die eigenen „Staatsbürger“). Wo der Verfassunggeber tierisches oder sonstiihrer zu begeben …“ – s. auch die in der Präambel der Verf. USA (1787) anklingende Generationenverantwortung: „… and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity …“ 358  Auch die Programme der politischen Parteien in Deutschland sind ergiebig: So heißt es im Grundsatzprogramm der CSU (1976), zit. nach R. Kunz / H. Maier /  T. Stammen (Hrsg.), Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland 1, 3. Aufl.1979, S. 263: „Natur und Umwelt sind nicht nur Besitz der heutigen Generation. Es ist daher ein Gebot der Vernunft, mit den Schätzen der Natur so umzugehen, daß den kommenden Generationen nicht die Lebensgrundlage entzogen wird.“ Im Wahlprogramm der CDU / CSU (1980), zit. nach H. Heppel /  G. Hirscher / R. Kunz / T. Stammen (Hrsg.), Programme der politischen Parteien, 1983, S. 55 findet sich der Satz: „Die Union will den Generationenvertrag durch wachstums- und umweltfreundliche Wirtschaftspolitik, eine neue und bessere Familienpolitik und eine verläßliche Rentenpolitik sichern.“ Ebd. S. 113 findet sich aus dem SPD-Wahlprogramm (1983) der Satz: „Den alten Menschen geben wir unser Wort: sie können sich darauf verlassen, daß wir den Vertrag der Generationen einhalten und weiter ausgestalten.“ Im Bundesprogramm der „Grünen“ (1980) ist unter IV 1. (ebd., S. 162) vom „menschenwürdigen Überleben unserer zukünftigen Generationen“ die Rede. Im Programm der „Grünen“ zur Bundestagswahl 94 heißt es sogar in der Präambel: „Wir wollen an der Gestaltung eines neuen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages mitwirken.“ Vgl. auch den sog. „Karlsruher Entwurf “ der FDP zum 47. ord. Bundesparteitag 1996. Teil IV lautet „Das Prinzip Verantwortung für die nächsten Generationen“ und enthält den Unterabschnitt: „Der neue Generationenvertrag“, wobei vor allem an die „verläßliche Alterssicherung der jungen Generation“ gedacht wird.



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ges Leben schützen will, bedient er sich anderer Termini, z. B.: „Tiere und Pflanzen werden als Lebewesen geachtet. Art und artgerechter Lebensraum sind zu erhalten und zu schützen“ (so Art. 39 Abs. 3 Verf. Brandenburg). Wenn Art. 32 Abs. 1 S. 1 Verf. Thüringen sagt: „Tiere werden als Lebewesen und Mitgeschöpfe geachtet“, so ist damit eine bemerkenswerte Brücke zum Menschen geschlagen359. Auch Art. 11 Abs. 2 Verf. Luxemburg (1868 / 2007) denkt an den „Schutz und das Wohlergehen der Tiere“ (wohl nicht nur national). Eine kontextsensible vergleichende Verfassungsinterpretation kann dartun, dass die Verfassunggeber den Generationenschutz meist von vorneherein im Kontext des Natur- und Kulturschutzes konzipiert haben360: weil das „Menschengeschlecht“ von vorneherein nur dank der „natürlichen Lebensgrundlagen“ überleben kann und jede Generation erst kraft des „kulturellen Erbes“ zum „aufrechten Gang“ findet, d. h. Mensch wird. Dieses „natur“- bzw. kulturwissenschaftliche Generationenverständnis sei kurz erläutert. Man kann fragen (und wohl bejahen), ob die Natur auch ohne den Menschen bzw. seine Generationen bestehen kann; sicher ist aber, dass der Mensch nur als Teil der lebenden und unbelebten Natur existieren kann, und dass er „Mensch“ ist via der von ihm selbst in generationenlanger Anstrengung geschaffenen (nationalen und Welt-)Kultur. Insofern ist Rousseaus „Zurück zur Natur“ mit dem ihm widersprechenden A. Gehlen „Zurück zur Kultur“ zu verbinden361. Zwei Texte von „Gegenklassikern“ finden sich hier zur Synthese zusammen. In den Unterscheidungen der Wissenschaftsdisziplinen gesagt: Die Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften sind heute im Generationenschutz auf dasselbe Ziel verpflichtet. Goethes Diktum: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden“, formuliert dichterisch eine Weisheit vor, die der Verfassungsstaat heute beglaubigen kann und muss. Die übergreifende Einheit von Mensch, Kultur und Natur wird zudem nur global begründbar. So wie sich eine „Weltgemeinschaft der Kulturstaaten“ im nationalen und internationalen Kulturgüterschutz abzeichnet362, so besteht längst eine Solidargemeinschaft aller Menschen und Staaten in Sachen Naturschutz, so brüchig sie in der Realität noch sein mag. Die innerstaatlichen Schutzklauseln denken (noch) den Schutz der „natürlichen Lebensgrundlagen“ oft menschenbezogen (z. B. Art. 31 Abs. 1 Verf. Thüringen) und sie rücken den Menschen deutlich in den Kontext der Natur bzw. Umwelt (vgl. z. B. Art. 10 Verf. Sachsen); mitunter ist aber auch schon allgemeiner von „Leben“ die Rede (so Art. 12 Verf. Mecklenburg- Vorpommern: „die natürlichen Grundlagen 359  Aus der Lit.: E. von Loeper, Tierschutz ins Grundgesetz, ZRP 1996, S. 143 ff.; U. M. Händel, Chancen und Risiken einer Novellierung des Tierschutzgesetzes, ZRP 1996, S.  137 ff.; M. Kloepfer / M. Rossi, Tierschutz in das GG?, JZ 1998, S. 369 ff. Aus der Kommentar-Lit.: H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 20a, Rd. Nr. 55–86. 360  Z. B. Art. 10 Verf. Sachsen: Umweltschutz; Art. 11 ebd.: Kultur- und Kulturgüterschutz; Art. 35 Verf. Sachsen-Anhalt: Schutz der natürlichen Grundlagen jetzigen und künftigen Lebens; Art. 36 ebd.: Schutz und Pflege von Kunst, Kultur sowie Sport. 361  Zum Programm einer „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ meine gleichnamige Studie von 1982 (2. Aufl. 1998). 362  Dazu mein Beitrag, in: Fechner u. a. (Hrsg.), a. a. O., S. 106 ff., sowie die Monographie: Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011.

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jetzigen und künftigen Lebens“). Das UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und (!) Naturerbes der Welt von 1972 nennt beides nicht zufällig im selben Atemzug. Ist der Begriff „Kulturstaat“ jedenfalls in Deutschland seit langem eingeführt, so kämpfen die Begriffe „Umweltstaat“ bzw. „Naturstaat“363 erst noch um ihre Anerkennung. Sicher scheint, dass der Schutz künftiger Generationen nur von einem Kultur wie Natur schützenden Verfassungsstaat geleistet werden kann. Kurz: Die lebensweltliche „Kontextualität von Kultur und Natur“ ist eine anthropologische Konstante in vielen Varianten und sie bildet ein Stück Schutz künftiger „Generationen“. Auch das belegt die verfassungstheoretische Unverzichtbarkeit des Paradigmas des Generationen-Begriffs: als Mosaikstein eines universalen Konstitutionalismus. Die Herausforderung aber liegt in der globalen Ethik eines H. Jonas bzw. in seinem neuen Imperativ: „Handle so, dass die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d. h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben“364. Er wendet bekanntlich den Kategorischen Imperativ von I. Kant in die Zeitdimension und ist wie dieser letztlich der „Goldenen Regel“ verpflichtet. Derartige Klassikertexte von Philosophen dirigieren heute in der Tiefe weltweit die verfassungsrechtlichen Texte zum Thema „Generationenschutz“. Die wissenschaftliche Erschließung des verfassungsrechtlichen Begriffs der „Ge­ neration(en)“ ist, soweit ersichtlich, bisher kaum begonnen worden365. Klassiker­ 363  Aus der Lit.: M. Kloepfer, Umweltstaat, 1989; M. Serres, Der Naturvertrag, 1994; s. auch R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995; W. Berg, Über den Umweltstaat, FS Stern, 1997, S. 421 ff.; R. Zippelius / T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, S. 136 ff. 364  H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979; ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, 1992, S. 128: Zukunftsethik als „jetzige Ethik, die sich um die Zukunft kümmert, sie für unsere Nachkommen vor Folgen unseres jetzigen Handelns schützen will.“ 365  Immerhin berührt H. Krüger in seiner Allgemeinen Staatslehre von 1964 das Generationenproblem, z. B. in Gestalt der Darstellung der Lehren, wonach die gegenwärtige Generation die vergangene und zukünftige in sich enthält (S. 170) oder in Form der These, die frühere Generation könne die spätere nicht aus ihrer Rolle als Verfassunggeber verdrängen (S. 702 Anm. 136). – Ein fast vergessener Klassikertext findet sich bei Adam Müller, Vom Geiste der Gemeinschaft, Elemente der Staatskunst, Theorie des Geldes, 1809, wo unter dem Stichwort „Staat als Generationenfolge“ der Passus steht (S. 42): „Die Lehre von der Verbindung aufeinander folgender Genera­ tionen ist ein leeres Blatt in allen unseren Staatstheorien; und darin liegt ihr großes Gebrechen, darin liegt es, daß sie ihre Staaten wie für einen Moment zu erbauen scheinen und daß sie die erhabenen Gründe der Dauer des Staates und seine vorzüglichsten Bindungsmittel … nicht kennen … während wir unsere Sozialkontrakte bloß von den Zeitgenossen schließen lassen, die Sozialkontrakte zwischen den vorangegangenen und nachfolgenden Geschlechtern hingegen nicht begreifen, nicht anerkennen, wohl gar zerreißen.“ – s. aber auch E. Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution (1790), hrsg. von U. Frank-Planitz, S. 85: „Es ist merkwürdig, daß es von der Magna Charta bis auf die Deklaration der Rechte die beständige Maxime in unserer Konstitution gewesen ist, unsere Freiheiten als ein großes Fideikomiss anzusehen, welches von unseren Vorfahren auf uns gekommen ist und welches wir wieder auf unsere Nachkommen fortpflanzen sollen …“



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texte finden sich bei T. Jefferson366 und bei T. Paine (1791)367. Ein H. Ehmke hat 1953 z. T. daran angeknüpft und im Verfassungsstaat eine Grenze gezogen, über die hinaus die Belastung der künftigen Generationen ebenso eine Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung sein würde, wie eine Aufopferung der lebenden Generationen für das ‚Glück aller, die nach ihnen kommen“‘. Es sei „Sinn“ der Verfassung, auch den kommenden Generationen ein freies politisches Leben zu gewährleisten368. Die Zeit ist reif, die verfassungstheoretische Tiefendimension des Begriffs „Generation“ auszuleuchten. Die Chance, dem kooperativen Verfassungsstaat vom Verfassungsbegriff „Generation(en)“ aus universal neue Sinnschichten zu erschließen, sollte genutzt werden. Dies gilt auch für die weltweiten Horizonte sowie für die EU. Auf zwei Feldern hat sich im Sprachgebrauch ein spezieller Inhalt entwickelt: im Blick auf die „Generationenfolge innerhalb der Familie“369 mit besonderer Anwendung auf „Ausländer der ersten oder zweiten Generation“ sowie im politisch-juristischen Begriff der (Grund-)Rechte der „Dritten Generation“, z. B. das Recht auf Entwicklung370, auch universal. Erst ein kulturwissenschaftliches Vorgehen kann zum reichen Sinnpotential des Verfassungsbegriffs „Generation(en)“ führen. Einschlägig werden die Pionierarbeiten von W. Dilthey (1924) und K. Mannheim (1928)371. In ihrem Verständnis gehört zu den Merkmalen von Generation, dass sie aus einer Gruppe etwa altersgleicher Perso366  Zit. nach H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 129: „Funding I consider as limited, rightfully, to a redemption of the debt within the lives of a majority of the generation contracting it.“ Ferner: „Let us not“ weakly believe that one generation is not as capable as another of taking care of itself, and of ordering its own affairs“ (zit. nach Saladin / Zenger, a. a. O., S.  61 Anm. 49). 367  T. Paine, Die Rechte des Menschen, zit. nach der Ausgabe 1973 (Suhrkamp), S. 79: „Vermöge eben der Regel, nach welcher jedes einzelne Wesen mit seinen Zeitgenossen gleiche Rechte hat, steht jedes Geschlecht den vorhergegangenen Geschlechtern an Rechten gleich.“ Die Gegenwarts- / Zukunftsperspektive findet sich auch anderwärts (z. B. ebd., S. 87 f.). 368  A. a. O., S.  129 f., 137. 369  Dazu M. Wingen, Staatslexikon, Art. Generation, Bd. 2, 7. Aufl. 1986 / 95, Sp. 866 (867  f.); s. auch Art. Generation, Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl., Bd. 8, 1989, S. 286: „1) Bevölkerungswissenschaft: alle in einem bestimmten Jahr (Jahrfünft, -zehnt) Geborenen …; 4) Soziologie: Gesamtheit der innerhalb eines bestimmten zeitl. Spielraums geborenen Gesellschafts-Mitgl., die durch ähnliche kulturelle Orientierungen, soziale Einstellungen und Verhaltensweisen geprägt sind.“ – Art. Generationenvertrag, ebd., S. 287: „Bez. für die u. a. der Rentenversicherung zugrunde liegende ‚Solidarität zwischen den Generationen‘, durch die – an Stelle der früheren Solidarität in der Großfamilie – die ältere, nicht mehr erwerbstätige Generation heute am Sozialprodukt teilhat, und zwar dadurch, daß vom Einkommen der erwerbstätigen Bevölkerung entsprechende Beiträge abgezogen werden.“ 370  Dazu E. H. Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986, S. 210  ff., unter Hinweis auf eine Begriffsschöpfung von K. Vasak (1977). 371  Dazu und zum Folgenden M. Wingen, a.  a. O., Sp. 866 f. – Jüngst ringt L. Kühnhardt, Rhythmen der Politik, FAZ vom 14. Mai 1996, S. 12 um generationenorientiertes Denken: Unter Hinweis auf Klassikertexte von A. de Tocqueville (jede Generation sei wie ein neues Volk) und Ortega y Gasset (jede Generation sei

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nen besteht, die dadurch verbunden ist, dass sie in einzelnen Lebensphasen bzw. besonders in der Kindheits- und Jugendzeit gemeinsame sie prägende Wandlungsvorgänge durchlebt haben und eine gemeinsame Mentalität und Identität besitzen. Die neuere sozialwissenschaftliche Diskussion unterscheidet nach M. Wingen den Aspekt der „Altersgleichheit“, „Verhaltens- und Bewusstseinsidentität“ (z. B. die sog. „68er Generation“), die „Schicksalsgemeinschaft“372 (z. B. die „Kriegsgeneration“) und auf der Mikroebene die Generationenfolge innerhalb der Familie. Die Theorie des sozialen Wandels373 rezipiert die Idee Mannheims, wonach in der Abfolge der Generationen, in der altes Wissen „abstirbt“ und neues Wissen sich nach dem Maße der die jungen Generationen prägenden historischen Erfahrungen durchsetzt, ein entscheidender Mechanismus des sozialen Wandels liegt. Damit sind Stichworte genannt, die die Verfassungstheorie in interdisziplinärer Funktionenteilung verarbeiten kann – und muss –, um den relativ neuen Begriff „Generation(en)“ aufzuschließen. (Die ältere „schöne“ Literatur sprach wohl eher von „Geschlechtern“.) Dazu einige Gesichtspunkte: Der Begriff „Generation(en)“ verweist auf die Zeitdimension, wie dies das sog. Staatselement „Volk“ bislang nicht zu leisten vermochte (Generation im Plural, Vorgang des sozialen (Generationen-)Wandels). Überdies versammelt er in sich Elemente, die die weltweit vergleichende Verfassungslehre über den Begriff Kultur als „viertes“ Staatselement374 in den Verfassungsstaat einzubringen sucht. Neben der „Altersgleichheit“ ist die Verhaltens- und Bewusstseinsidentität relevant bzw. die sie schaffenden Vorgänge wie Erfahrungen und Erlebnisse kultureller Sozialisation in einem bestimmten Zeitabschnitt. „Generation“ meint das in bestimmter Zeit und in bestimmtem Raum, eben das kulturell geprägte „Volk“. Angesichts der höheren Lebenserwartung in der modernen „Gesellschaft des langen Lebens“ dürfte sich auch der Generationenbegriff inhaltlich verändern (zeitlich 15 bzw. 30 oder mehr Jahre). Auch leben immer mehr Generationen gleichzeitig: im Volk wie in der Familie, was zu mehr Gerechtigkeitsproblemen führt (die multiethnischen Länder stellen ganz neue Fragen, ebenso die EU und die UN). Was die sog. Staatselementenlehre von G. Jellinek „naturalistisch“375, die Inte­ grationslehre von R. Smend „geisteswissenschaftlich“376 und die Staatslehre von eine neue Integrationsform des Sozialkörpers) meint er, der Begriff der Generation müsse „fast metaphorisch“ verstanden werden. 372  Vgl. als Beispiel H.-J. Beyer, Die Generation der Vereinigung, Jugendliche in den neuen Bundesländern über die Plan- und Marktwirtschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 19 / 96 vom 3. Mai 1996, S. 30 ff. – Das sensible Umweltbewusstsein, das die Generation der heutigen Heranwachsenden intensiv prägt, war der älteren Generation vor dem US-amerikanischen Buch „The silent spring“ unbekannt. 373  Dazu W. Zapf, Art.  Sozialer Wandel, in: Staatslexikon, 4. Bd., 7.  Aufl. 1988 / 1995, Sp. 1262 (1266). – Die Katholische Soziallehre beschäftigt sich betont mit dem „Generationenkonflikt“, z. B. in „Gaudium et spes“ (1965) in Nr. 8, in „Populorum progressio“ (1967) in Nr.l0 sowie in „Octogesima adveniens“ (1971) in Nr.13, zit. nach Texte zur Katholischen Soziallehre, 5. Aufl. 1982 374  Dazu mit Blick auf G. Dürig: mein Beitrag Europäische Verfassungsstaatlichkeit, in: KritV 1995, S. 296 (302 f.); s. noch oben S. 46 f. 375  G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 6. Neudruck, 1959, S. 394 ff. 376  R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010, S. 119 (167 ff.).



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H. Heller „wirklichkeitswissenschaftlich“377 zum Staatsverständnis beigesteuert hat, kann jetzt dank des Begriffs Generationenfolge kulturwissenschaftlich beim Namen genannt, auf Begriffe gebracht und für die vergleichende Lehre vom Verfassungsstaat aufbereitet werden. Die kulturwissenschaftliche Ausdeutung des Begriffs „Generationen“378 sollte indes nicht auf die direkten Kontexte der verfassungsrechtlichen Verwendung dieses Begriffs z. B. im Umweltverfassungsrecht bzw. bei den Erziehungszielen beschränkt bleiben. Sie muss verallgemeinert, d. h. zur Grundlage eines gewandelten Verständnisses von Verfassung, Staat, Gesellschaft, Volk und Völker gemacht werden. Dieser kulturwissenschaftliche Ansatz integriert sich auch den normativen Aspekt der „Verantwortung“, wie die Verfassungstexte sagen, und er eröffnet den künftigen Generationen jenen Freiheitsraum, den die wissenschaftlichen Texte von T. Jefferson über T. Paine bis H. Ehmke sichern wollen. Freiheit(en) und Bindung(en) werden auf das Volk in der Zeitschiene auf der Makroebene, eben die Generationen, verteilt, und darum ist es auch gerechtfertigt, von Gerechtigkeit bzw. Solidarität, „Fairness“ und Verantwortung zwischen den Generationen zu sprechen. Dass auf der Mikroebene die „Familie“ in der Generationenfolge gesehen wird („Elterngeneration“), erleichtert es, auch das verfassungsstaatlich konstituierte Volk in des „Daseins unendlicher Kette“ (Goethe) zu verorten. Denn viele Klassikertexte haben seit der Antike immer wieder Analogien zwischen beiden Einheiten gezogen379. Die Einbeziehung der ganzen Menschheit steht noch aus. II. Zeit und Verfassungskultur – eine Dimension der Generationenfolge von Bürgern im Verfassungsstaat Im Begriff der „Generation(en)“ ist die Dimension „Zeit“ im Grunde bereits angelegt bzw. mitgedacht. Nachdem diese unter I. von vorneherein aus der Kultur verstanden werden, sei die „Zeit“ jetzt im Blick auf den Verfassungsstaat, d. h. die „Verfassungskultur“ präzisiert. Dabei können Stichworte genügen, da das Thema „Zeit und Verfassungskultur“ an anderer Stelle bereits 1983 systematisch aufbereitet wurde380. Die Entwicklungsvorgänge der Verfassungskultur eines Volkes sind durch gröbere und feinere Instrumente und Verfahren auf der Zeitschiene „verortet“ bzw. „gegliedert“. Der Bogen reicht von der Total- und Teilrevision einer Verfassung über die Gesetzesnovellierung und Experimentierklauseln bis zur fortbildenden richterlichen Konkretisierung von Generalklauseln bzw. unbestimmten Rechtsbegriffen sowie zum verfassungsrichterlichen Sondervotum, das „im Laufe der Zeit“ normierende Kraft gewinnt, etwa indem es zur Mehrheit wird (Beispiel: Sondervotum W. Rupp-von Brünneck E 32, 129 (142) bzw. BVerfGE 53, 257 (289 ff.)). Bei all diesen Zeit-Vorgängen bzw. Zeit-Abschnitten ist nicht nur das in der höchst punktu377  H.

Heller, Staatslehre, 1934, S. 37 ff., 142 ff. lohnte einmal, das „Generationen-Bild“ in der Kunstgeschichte zu verfolgen. Ein Beispiel in einer Chromolithographie um 1880: „Die Treppe der Lebensalter – bestimmt dazu, eine Brücke der Generationen zu sein“, Bild und Text in: FAZ vom 10. Okt. 1995 S. L 32. 379  Nachweise in: P. Häberle, Verfassungsschutz der Familie …, 1984, S. 9 ff. 380  P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: A. Peisl  / A. Mohler (Hrsg.), Die Zeit, 1. Aufl. 1983, S. 289 ff. (3. Ausgabe 1991); s. schon oben S. 91 ff. 378  Es

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ellen Gegenwart lebende Volk beteiligt, vielmehr ist das „Volk“ von vornherein als „Summe von Generationen“ begriffen – Gegenwart und Vergangenheit integrierend. M. a. W.: Das je nationale Volk ist (durch Kultur gestiftet) die in Generationen gegliederte Größe, die sich im Verfassungsstaat konstituiert hat, und sie „wiederholt“ und sie erneuert diesen Konstituierungsvorgang immer wieder auf verschiedenen Wegen und in unterschiedlicher Intensität. So wird eine Verfassung in der Regel dem Anspruch nach nicht nur für die heute lebende, sondern auch für künftige Generationen entworfen bzw. in Kraft gesetzt. Damit aber das Volk bzw. seine Repräsentanten „immer wieder“ auch in der kleineren Zeiteinheit als 15 oder 30 (künftig wohl mehr) Jahre (= eine Generation) mitwirken können und der „soziale Wandel“ verarbeitet werden kann, hat der Typus kooperativer Verfassungsstaat entsprechende Verfahren entwickelt bzw. ausdifferenziert: z. B. in den 70er Jahren in Deutschland das Experimentiergesetz381 oder von den USA ausgehend das verfassungsrichterliche Sondervotum. Der hochkomplexe Begriff „Verfassungskultur“382 ist also von vorne herein generationen-ergreifend und -übergreifend konzipiert bzw. diese wird so „gelebt“: i. S. von Goethe / Hellers Metapher von der „geprägten Form, die lebend sich entwickelt“. M. a. W.: „Zeit und Verfassungskultur“ ist eine andere Umschreibung für den Generationen-Zusammenhang (und -unterschied) eines Volkes. Ihre Bürger bilden als sog. „Grundrechtsträger“ relativ kurzlebig, punktuell-aktuell das Volk (nur) in der Gegenwart. Das im Verfassungsstaat auf Dauer konstituierte Volk ist aber das erst in der Generationenfolge zu einem solchen gewordene und „gereifte“, mitunter auch gefährdete und sich erneuernde Volk. Damit es sich auf der Zeitschiene entwickeln kann, bedarf es der erwähnten die Zeit gliedernden bzw. einteilenden, die Verfassungskultur wachsen lassenden Verfahren und Instrumente. III. Die – kulturwissenschaftlich greifbare – Konstituierung des Volkes durch den „Generationenvertrag“ Was die Staatslehre klassisch und die politische Praxis 1989 aktuell in der Gestalt des „Runden Tisches“ in Walesas Polen sowie in der Ukraine (2004 / 05) bzw. in der Argumentationsfigur des „Grundkonsenses“ in den 70er Jahren in Deutschland behandelt hat und auch in der heutigen Tagespolitik in wechselnden Namen immer wiederkehrt („Solidarpakt“, „Bündnis für Arbeit“, „Pakt mit Amerika“, „Pakt für Deutschland“ u. ä.) – nämlich der „Gesellschaftsvertrag“ –, stellt sich in der Zeitdimension als „Generationenvertrag“ dar. Gewiss, die Idee des Generationenvertrages ist bislang im Begründungsaufwand mit „Thema und Variationen“ in Sachen Gesellschaftsvertrag noch nicht entfernt vergleichbar, man denke jüngst an J. Rawls383. 381  Dazu mein Beitrag: Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 ff.; auch in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (3. Aufl. 1998), S. 59 (85 ff.); H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989. 382  Dazu der Band: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 449, sowie der Beitrag Zeit und Verfassungskultur, a. a. O., S. 325; s. auch ders., „Verfassungskultur“ als Kategorie und Forschungsfeld der Verfassungswissenschaften, in: ders., Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 28 ff. 383  J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975. Aus der Staatsrechtslehre fast gleichzeitig danach P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 (372 ff.); P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtspre-



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Indes können einige Stichworte dieser Diskussion auch für den Generationenvertrag verwendet werden. Er ist i. S. von I. Kants Vertragsphilosophie teils fiktiv zu denken („Probierstein der Vernunft“), teils liegen ihm durchaus reale Vorgänge (nicht nur in der Schweizer „Eidgenossenschaft“ seit 1291) zugrunde („Grundkonsens“, „bargaining“, „Renten-Konsens“). Das „deutsche Volk“ ist per se ein Mit-, Neben- und Nacheinander mehrerer Generationen. Der nationale, auch multiethnische Verfassungsstaat bildet das „Gehäuse“ für das im Zeithorizont zu sehende „Volk“, und Millionen von kleinen und größeren Vertragsabschlüssen im Gesellschaftlich-Privaten wie im Öffentlich-Politischen schaffen in der Makroebene ein Stück realer Basis für „generationelles“ bzw. „intergenerationelles“ sich „vertragendes“ Verhalten (greifbar auch auf der Mikroebene: in der Familie). Die „Grundrechte des Deutschen Volkes“ – in der Sprache des Idealismus der Paulskirche von 1848 / 49 formuliert – sind gewiss auch die Grundrechte der einzelnen Deutschen, aber die Individuen werden prinzipiell nur in der Gegenwart geschützt (mit relativ geringen Vor- und Nachwirkungen), während die „dem deutschen Volk“ gewährleisteten Grundrechte (vgl. § 130 Paulskirchenverfassung) von vornherein das in der Zeitdimension gedachte, aus Generationen lebende „Volk“ meinen kann. Einen Hinweis auf das Zeit- bzw. Generationendenken geben – neben dem Schutz des „Erbrechts“ (Art. 14 Abs. 1 GG)384 – schon die im Laufe der Verfassungsstaatsgeschichte sich immer mehr verdichtenden Jugendschutz-Klauseln einerseits385, die jüngst entstehenden Verfassungs-Themen des „alten Menschen“ andererseits386. Das Sowohl-als-auch des Schutzes von „jung und alt“ in derselben Verfassung ist ein Belegtext für die ideell verbundenen Generationen. (Die Internationalisierung des Problems bleibt Aufgabe.) Das Volk387, das als in der Zeit den Generationenvertrag „fortschreibende“ und lebende Größe gedacht wird, ist seinerseits von vornherein weniger eine biologische, denn eine kulturelle Größe. Vor allem ist es nicht einfach „Staatselement“ i. S. des chung, 1979, S. 438 ff. (dort schon erste Überlegungen zum „Generationenvertrag“: S. 17, 87, 436 ff.); s. auch H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 213 ff.; W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994. – Aus der Tagespublizistik: G. Hofmann, Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag, in: Die Zeit vom 18. April 1996, S. 1. – Das Folgende wurde schon in dem (jetzt überarbeiteten) Beitrag des Verf.: „Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen. Die „andere“ Form des Gesellschaftsvertrages: der Generationenvertrag“, FS Zacher, 1998, S. 215 ff. präsentiert. 384  Vgl. W. Leisner, Erbrecht, in: HStR, Bd. VI, 1989, S. 1099 (1113): „mit der Erbfreiheit denkt der Verfassunggeber auch einmal an die heute vielbeschworenen künftigen Generationen.“ – Die in Deutschland für 1997 erfolgte Abschaffung der Vermögenssteuer und die damals als „Kompensation“ geplante Erhöhung der Erbschaftssteuer enthält ein Generationenproblem. Der „Erbengeneration“ wird wohl zuviel aufgebürdet (auch angesichts der heute (2012) diskutierten Reformen). 385  Aus der Lit. das Lehrbuch von T. Ramm, Jugendrecht, 1990, passim z.  B. S. 137 ff. zur „Jugendverfassung als Teilverfassung“. 386  Dazu mein Beitrag: Altern und Alter des Menschen als Verfassungsproblem, FS Lerche, 1993, S. 189 ff. 387  Die Gretchen-Frage: „Wer ist – wie wird – das Volk?“ spitzte sich im Streit um die (deutsche) „Staatsangehörigkeit“ besonders zu. Dies kann hier nur „Merkposten“ sein. Fragwürdig ist schon der Begriff „Staatsangehöriger“: der Bürger ge-

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Verständnisses eines G. Jellinek388 oder biologische Summe von „Staatsangehörigen“. Es wird in Identität und Vielfalt durch kulturelle Bezüge zusammengehalten und aufgegliedert, es ist das Ergebnis von Prozessen kultureller Sozialisation oft über Generationen hin. Wenn die Kultur als „viertes“ Staatselement, wenn nicht sogar als „erstes“ gedeutet wird389, so ist dieses kulturwissenschaftliche Verständnis auch und intensiv auf das Volk zu beziehen – so wie sich die Freiheit des Einzelnen nicht als „natürliche“ sondern erst als kulturelle erfüllt, nachdem die Genforschung zeigt, dass wir keineswegs „Sklaven der Gene“ sind (Freiheit aus Kultur, insbesondere Bildung!). Gewiss, die Tendenzen zur „multikulturellen Gesellschaft“390, die Zulassung doppelter Staatsangehörigkeit in mehreren Ländern Europas, die Verstärkung der (kollektiven) Minderheitenschutzrechte und das Plädoyer für einen „offenen“ Kulturbegriff391 werfen Grundsatzprobleme auf, die sich hier nicht behandeln lassen. Dennoch sei gesagt, dass das „Volk“ neben der biologischen eine höchst kulturelle Daseinsweise auszeichnet. Der Sprache kommt dabei grundlegende Bedeutung zu. Zu Recht konnte Goethe sagen: „Die Deutschen sind ein Volk erst durch Luther geworden“. Ähnliches gilt für Italien dank Dante. Sprache ist hier zum „kulturellen Gen“ geworden, sie ist lebendige Kultur. Die Sache „Kultur“ trägt den Generationenbezug schon in sich. Denn ihr ist sowohl der traditionale als auch der zukunftsorientierte, innovative Aspekt eigen392. Der traditionale wurde früh durch den geglückten Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ (M. Halbwachs) eingefangen. Juristisch ist er im ausgebauten, höchst differenziert sich entwickelnden nationalen / internationalen Kulturgüterschutz präsent393. Kultur ist immer das Werk von Generationen394, so groß die Innovation eines einzelnen Genies sein mag und sein muss. Oder anders gesagt: Wo von Kultur, hört doch nicht dem Staat! – Aus der gängigen Kommentarlit.: J. Kokott, in: Sachs, Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 16 (5. Aufl., 2009). 388  G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, a.  a. O., S. 183, 406 ff. Demgegenüber treffend: H. Heller, a. a. O., S. 158 ff.: „Das Volk als Kulturbildung“. Aufschlussreich H. Kuriki, Die Funktion des Volksgedankens in der Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, FS Scupin, 1983, S. 233 ff. 389  Dazu mein Ansatz (unter Hinweis auf G. Dürig) in dem Beitrag: Europäische Verfassungsstaatlichkeit, KritV 1995, S. 298 (302 f.) sowie in Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011, S. 126 ff. 390  Dazu H. Schulze-Fielitz, Verfassungsrecht und neue Minderheiten, in: T. Fleiner-Gerster (Hrsg.), Die multikulturelle und multiethnische Gesellschaft, 1995, S.  134 ff. 391  P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 34 f. und seitdem. 392  Dazu P. Häberle, Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 (30 ff.). 393  Dazu der Bd.: F. Fechner  / T. Oppermann / L. V. Prott (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes, 1996, mit verfassungstheoretisch-kulturwissenschaftlichen Überlegungen des Verf., S. 91 ff.; dazu monographisch K. Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005. 394  Greifbar ist dies bei der (zeitlichen) Begrenzung des Schutzes des immate­ riellen Eigentums, dazu BVerfGE 31, 229 (242 f., 244 ff.); 31, 248 (253 f.). Vgl.



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Kulturschutz, von kulturellem Erbe die Rede ist395, ist der Generationenzusammenhang stets mitgedacht. Der kulturelle Generationenvertrag wird nicht nur an Universitäten, Kindergärten und in Künstlerschulen gelebt, er macht das Volk insgesamt aus. So wird Verfassung „aus Kultur“ und „als Kultur“ lebendig. Das „regulative Prinzip“ des Generationenvertrages als dynamisierter Gesellschaftsvertrag ist zugegebenermaßen zunächst recht abstrakt. Konkretisierungen nach verfassungsstaatlichen Lebensbereichen sind unverzichtbar. So steht in Deutschland in den 90er Jahren und jetzt 2012 die Rente als Alterssicherung im Mittelpunkt des Streits. Des damaligen Bundeskanzlers H. Kohls Einschränkung: „Die Rente ist sicher – für die jetzige Generation“396 benennt das Problem: Die heute aktive Generation darf weder überlastet („Rentenfrondienst“), noch aus der Pflicht entlassen werden (sie war „nehmend“ beteiligt via Erziehungs- und Ausbildungskosten); gerungen werden muss um einen fairen Ausgleich in der „3-Generationenkette“. M. a. W.: Die Frage des Beteiligtenkreises397 sowie die Rechte- und Pflichtenverteilung ist im Lichte der klassischen und neueren Gerechtigkeitslehren von Aristoteles bis Rawls398 zu lösen – angesichts der Alters-„Pyramide“ bzw. der bald überlasteten, weil zahlenmäßig schrumpfenden aktiven Generation wird kluge Einwanderungspolitik in Deutschland zu einem Thema des Gesellschaftsvertrags bzw. der „Generationenvertragspolitik“. Ein weiterer Problemkreis, der durch den um die Gerechtigkeitslehren angereicherten Generationenvertrag zu lösen ist, begegnet uns in Sachen Natur (Stichwort: Endlagerung von Atommüll399, allgemeiner: Umweltschutz), im Grunde aber auch in Gestalt der Weitergabe erbgenetisch nicht manipulierten Lebens400. In der Wirtschaft markiert der Generationenvertrag Grenzen der Staatsverschuldung401 (neues Stichwort: „Schuldenbremse“) und er BVerfGE 31, 275 (287): „Die Verfassung verpflichtet den Gesetzgeber nicht, „ewige“ Urheber- oder Leistungsschutzrechte einzuräumen“; s. auch P. Kirchhof, Verfassungsrechtlicher Schutz des geistigen Eigentums, FS Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1638 (1659 ff.): „Die Verflüchtigung des geistigen Individualeigentums zum Allgemeingut.“ 395  Zu kulturelles Erbe-Klauseln meine Belege in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 241 f., 633 f., 836 ff. Zuletzt Beispiele im EUVerfassungsentwurf (2004): I-Art. 3 Abs. 3, III-Art. 181 Abs. 1 und 2 sowie in Art. 3 Abs. 3 letzter Satz EUV sowie Art. 167 Abs. 1 und 2 AEUV. 396  Zit. nach: Der Spiegel Nr. 19 / 1996, S. 29. 397  Bei den Renten: Beitragszahler, Rentner und die Allgemeinheit der Steuerzahler bzw. in Deutschland der Bund. 398  J. Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, 1992, S. 61 ff.: Gerechtigkeit bzw. Fairness zwischen den Generationen. – G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 323 (unter dem Stichwort „Umverteilung zwischen den Generationen in der Rentenversicherung“): Sicherstellung der „gegenseitigen Ausgewogenheit“ der Leistungen der Generationen. 399  Dazu im Raster der „Verfassung als Generationenvertrag“ mein Beitrag: Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit, a. a. O., 1983, S. 289 (335 ff.). 400  Dazu H. Hofmann, Biotechnik, Gentherapie … (1985), jetzt in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 386 ff. 401  Vgl. meinen Beitrag von 1983, a. a. O., S. 339 ff.; P. Henseler, Verfassungsrechtliche Aspekte zukunftsbelastender Parlamentsentscheidungen, AöR 108 (1983),

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verlangt Bündnisse für Arbeit, an denen neben den Gewerkschaften bzw. Arbeitnehmern, den Arbeitgebern sowie dem Staat als Repräsentanten aller Bürger eben auch die Arbeitslosen (fiktiv) beteiligt sind; auch die Integration von „Ausländern der Zweiten Generation“ gehört hierher402. In der Kultur schließlich ist der Generationenvertrag in Form von Millionen „kleiner Bündnisse“ in der Familiensukzession, in den „Zukunftsinvestitionen für Bildung und Ausbildung“ bzw. in den „Schulen“ der Nation (Erziehungsziele) sowie der Wissenschaften und Künste („kultureller Generationenvertrag“, z. B. im Handwerk oder sonst im Lehr- und Lernprozess zwischen „Meistern und Schülern“) lebendig403. Das Generationenvertragsdenken hat dabei – lebensweltlich differenziert – alle Staatsfunktionen zu Adressaten: vom verfassungsändernden Gesetzgeber über den Gesetzgeber bis hin zur Rechtsprechung. Vor allem das BVerfG ist immer wieder gefordert, sich am generationenorientierten Denken auszurichten404 – verfehlt z. B. im AntikruzifixBeschluss von 1995 (E 93,1). Aber auch im Verhältnis der gesellschaftlichen Gruppen untereinander wird das Paradigma des Generationenvertrages aktuell: etwa zwischen den Tarifparteien (mehr Teilzeitarbeit für die ältere Generation im Interesse der jüngeren Arbeitslosen-Generation). Besonders aktuell ist das Denken in Sachen Generationenvertrag in der Frage nach den Grenzen der Staatsverschuldung geworden (Stichwort: Schuldenbremse)405. Es gibt eine bis jetzt meist ungeschriebene Ewigkeitsgarantie gegen ein Übermaß an Staatsverschuldung im Dienste der Generationengerechtigkeit. Die universale Verfassungslehre muss dies erarbeiten, auch die EU als Verfassungsgemeinschaft. Verfassungspolitischer Ausblick Die kulturwissenschaftliche Ausdeutung des Verfassungsrechts der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Typus „Verfassungsstaat“ hat zur Erkenntnis von vielen offenkundigen und nicht wenigen verdeckten Erscheinungsformen von „Generationenverfassungsrecht“ geführt: von den auf den Generationenschutz verweisenden Präambeln über die Erziehungsziele und Umweltschutzklauseln bis zu Natur- und Kulturgüterschutz-Texten bzw. kulturellen Erbes sowie Alten- und JugendschutzKlauseln. Ein dosiertes Maß an differenziertem „Generationenverfassungsrecht“ erS.  489 (497 ff.); G. F. Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht …, AöR 120 (1995), S. 32 (47); R. Wendt / M. Elicker, Staatsverschuldung und intertemporäre Lastengerechtigkeit, DVBl. 2001, S. 497 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S.  864 ff. 402  Zur Arbeit als „kulturwissenschaftlicher Aktualisierung“ des Gesellschaftsbzw. Verfassungsvertrags: mein Beitrag: Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 (354 ff.). Dazu schon oben S. 494 ff. 403  Dazu P. Häberle, Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen, 2010, S. 24 ff. (spanische Übersetzung 2013). 404  Dazu schon meine Überlegungen in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff. 405  Aus der Lit. zur Schuldenbremse: S. Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht …, JZ 2009, S. 729 ff.; H. Tappe, Die neue „Schuldenbremse“ im GG …, DÖV 2009, S. 881 ff.; D. Buscher, Der Bundesstaat in Zeiten der Finanzkrise, 2010.



Inkurs VIII: Eine Verfassung für künftige Generationen521

weist sich als normaler Ausdruck der Wachstumsphase des kooperativen Verfassungsstaates von heute, das damit einen mittleren Weg zwischen Freiheit der heutigen und Bindung im Interesse der künftigen Generation(en) sucht. „Generationenschutz“ stellt sich als ein wahrhaft materielles Verfassungsproblem dar – auch für den, der nicht zum fiktiv  /  realen Generationenvertrag als in die Zeit erstreckten Gesellschaftsvertrag greifen möchte. Die Entstehung, Bewahrung, Weitergabe und Fortentwicklung von Kultur ist stets ein Generationenproblem und gelingt – wenn es nicht (etwa durch Kultur-Revolutionen: extrem seinerzeit in China) zum Bruch kommt – in immer wieder erneuerten vertragsähnlichen Vorgängen, auch in der EU. Verfassungspolitisch ergibt sich das Postulat, den Generationenaspekt in den Text­ ensembles maßvoll einzusetzen: Anzustreben ist der Mittelweg zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel – den „Grundton“ sollte aber durchaus schon die Präambel anstimmen. Ein Zuviel liefe Gefahr, die Gestaltungsfreiheit der Bürgergesellschaft von heute einzuschränken, ihre Freiheiten sollen sich ja in der Gegenwart erfüllen. Ein Zuwenig an „Generationenverfassungsrecht“ drohte, die Gegenwart auf Kosten der Zukunft zu verabsolutieren und die Verantwortung für die junge bzw. ungeborene Generation zu missachten. Bei aller Vielfalt denkbarer Ausgestaltung des Generationenverfassungsrechts je nach Tradition, Mentalität und Temperament der einzelnen nationalen Verfassungsstaaten sollte aber verfassungstheoretisch das Generationenproblem als eine Schicht der Verfassung als rechtlicher „Grundordnung“ von Staat und Gesellschaft bewusst bleiben, tendenziell universal. Im Übrigen darf es über Europa hinaus zu einem fruchtbaren verfassungspolitischen Wettbewerb um das relativ beste Generationen-Verfassungsrecht kommen. Ob die übergreifende, hier skizzierte Zeitperspektive durch eine ausgreifende Raumperspektive über die einzelnen weltoffenen Verfassungsstaaten hinaus ergänzt werden sollte – etwa i. S. eines zunächst „nur“ gedachten, dann aber auch Stück für Stück ins Werk gesetzten“ Weltgenerationenvertrages“ zwischen allen Völkern und Bürgern dieses einen „blauen Planeten“ –, muss offen bleiben. Die Erfordernisse weltweiten Umwelt-, Natur- und Kulturgüterschutzes und so manches völkerrechtliche Vertragsdokument deuten indes darauf hin406. Damit würde zugleich der Generationenzusammenhang der Menschheit sichtbar. Kants „weltbürgerliche Absicht“ gewönne eine Tiefendimension in der Zeit, „parallel“ zu der im Raum. Der universale Konstitutionalismus ist gefordert, auch im Völkerrecht mit seinen Teilverfassungen, z. B. den UN und seinen Schutzabkommen, dem Weltraumrecht etc. Spezieller, weil nur auf Europa gerichtet, arbeitet der folgende Inkurs IX.

406  Einige Aspekte in meinem Beitrag: Das Weltbild des Verfassungsstaates, FS M. Kriele 1997, S. 1277 ff., sowie in: K. Weber  /  I. Rath-Kathrein (Hrsg.), Neue Wege der Allgemeinen Staatslehre. Symposium zum 60. Geburtstag von P. Pernthaler, 1996, S. 92 f. (Aussprache); P. Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011, S. 123 ff. Ein 40jähriges Beispiel ist das Washingtoner Artenschutzabkommen, ein Beispiel guter „Völkerrechtspolitik“.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht – eine Textstufenanalyse Einleitung Die Aktualität beider im Titel dieses Abschnitts enthaltenen Begriffe könnte nicht größer sein407. Tagespolitik und Wissenschaft haben sich ihrer ebenso angenommen408. Recht früh war ein Beitrag des Verf. für die FS Zacher in Sachen Generationenvertrag erschienen409. Heute sind Generationengerechtigkeit bzw. Nachhaltigkeit fast ein Schlagwort. Es gibt eigene Zeitschriften410, Kommentare, Sammelbände411, Festschriftenbeiträge412 und Jahrbücher; es gibt Dissertationen fast ohne Zahl413, und der Umweltschutz hat sich als eigenes Großthema in der Zunft fest etabliert414. Wenn ein Begriff oder Prinzip wie die Nachhaltigkeit eine solche Karriere415 macht und sogar zur Literaturgattung des Handbuchs aufrückt, so hat dies Vor- und Nachteile. Vorteil kann es sein, dass viele hochkarätige Autoren um dasselbe Thema von verschiedenen Seiten aus ringen.

407  Dazu das von W. Kahl herausgegebene Handbuch: Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2006; dort auch (S. 186 ff.) der hier überarbeitete Beitrag des Verf. 408  Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S.  9 (16 f., 25 f.) bzw. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. 409  Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen – die „andere Form“ des Gesellschaftsvertrages: der Generationenvertrag, in: FS Zacher, 1998, S. 215 ff., aktualisiert in englischer Sprache jetzt in: J. Tremmel (ed.), Handbook of Intergenerational Justice, 2006, S. 215 ff. Zum „generationenorientierten Grundrechtsverständnis“: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S.  382 ff. 410  Generationengerechtigkeit, hrsg. von der Stiftung für die Rechte künftiger Generationen; s. auch das Handbuch „Generationengerechtigkeit“, 2. Aufl. 2003. Aus der juristischen Zeitschriftenliteratur etwa A. Lenze, Gleichheitssatz und Generationengerechtigkeit, in: Der Staat 46 (2007), S. 89 ff. 411  Z. B. K. Lange (Hrsg.), Nachhaltigkeit im Recht, 2003. 412  Z. B. R. Schmidt, Institutionen und Instrumente zur Sicherung der Nachhaltigkeit, FS Wildhaber, 2007, S. 1085 ff. 413  Herausragend aber die Bayreuther Dissertation von A. Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie“, 2006; s. auch F. Shirvani, Das Kooperationsprinzip im deutschen und europäischen Umweltrecht, 2005; F. Nolte, Lokale Agenda 21 zwischen Wandel und Wirklichkeit, 2006; G. Hardach, Der Generationenvertrag, 2006. 414  Z. B. das große Lehrbuch von M. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004; als Kommentierung: D. Murswiek, Art. 20 a, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 5. Aufl. 2009. 415  Sogar die IAA 2007 entdeckt die Nachhaltigkeit: „Neues und Nachhaltiges auf der größten Automesse der Welt“ (FAZ vom 11. September 2007, S. 17).



Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht523 Erster Teil Bestandsaufnahme konstitutioneller Texte in Europa Vorbemerkung

Die folgende Bestandsaufnahme spürt in einiger Systematik den typologisch neuen konstitutionellen Texten nach, die ausdrücklich oder der Sache nach die „Nachhaltigkeit“ zum Thema haben. Dabei können auch Kontexte bzw. Nachbarbegriffe ins Βlickfeld kommen, die der Sache nach der „Nachhaltigkeit“ zuzuordnen sind, etwa: der „schonende Umgang“, das „ökologische Gleichgewicht“. Die Kontextfrage, erstmals 2001 zum Grundsatzthema erhoben416, und seitdem oft nachgeahmt417, spielt nicht nur wie sonst disziplinerweiternd, sondern auch in Gestalt der Suche von Nachbar- oder Parallel- und Unterbegriffen auf Verfassungsebene eine Rolle. Bei all dem wird das Textstufenparadigma, erstmals 1989 entwickelt418, hilfreich. Gemeint ist Folgendes: In den Entwicklungsperioden des Verfassungsstaates zeigt sich, dass der eine später auf Verfassungstextbegriffe bringt, was im benachbarten Verfassungsstaat oder im eigenen via Verfassungsjudikatur, Verfassungspraxis oder -theorie nach und nach herangewachsen ist. Verfassungswirklichkeit wird auf (neue) Begriffe gebracht. Die heute (weltweit) allseitige Rezeption und Produktion in Sachen Strukturelemente des Verfassungsstaates in Bezug auf die Trias von Texten, Theorien und Praxis lässt sich freilich nur durch sensible Verfassungsvergleichung erkennen. Diese Methode wurde als „kulturelle Verfassungsvergleichung“ bzw. „Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung“419 seit 1982 / 83 Schritt für Schritt ausgebaut420. Dies sei auch im Folgenden für die Nachhaltigkeit als Verfassungsprinzip fruchtbar gemacht. Grundsätzlich beschränkt sich der schmale Abschnitt nur auf Europa. Nur in einem Exkurs seien andere Verfassungsstaaten und ihre Innovationen in Sachen „Nachhaltigkeit“ behandelt: um die weltweite Aktualität des Themas zu bekräftigen und ggf. Anregungen für die europäische „Nachhaltigkeit“ zu gewinnen. I. Deutschsprachige Verfassungen 1. Österreichs gliedstaatliche Verfassungen Die Bundesländer Österreichs haben in den letzten Jahren Schritt für Schritt ihre „Verfassungsautonomie“ ernst genommen und in neuen Textstufen eigene Themen416  P. Häberle, „Die Verfassung im Kontext“, Handbuch des Schweizerischen Verfassungsrechts, 2001; weiter konkretisiert in: ders., Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl. 2001 / 2002, S. 10 ff., 7. Aufl. 2011 S. 10 ff. 417  Z. B. von U. Haltern, Europarecht, Dogmatik im Kontext, 2005. – Ein Kontext-Artikel findet sich in Art. 15 Verf. Nauru (1968). 418  P. Häberle, FS Partsch: Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, 1989, S. 555 ff. 419  P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2, 3. Aufl. 1983, S. 407 ff. 420  Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 33 ff., 2. Aufl. 1998, S. 312 ff. u. ö.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

felder „besetzt“. Das zeigt sich bei den Staatszielen ebenso wie bei den Grundrechten sowie in Sachen Europa421. Man darf gespannt sein, ob und wie sich die einzelnen Länder des Themas der „Nachhaltigkeit“ direkt oder indirekt textlich annehmen. Man wird nicht enttäuscht. In Art. 4 Verf. Niederösterreich (1979  /  2004) heißt es in Sachen „Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns“ am Ende von Ziff. 3: „Dabei kommt … dem Schutz, der Pflege von Umwelt, Natur, Landschaft und Ortsbild besondere Bedeutung zu; Wasser ist als Lebensgrundlage nachhaltig zu sichern“. Die besonders in der Präambel innovative Verf. von Tirol (1988 / 2003) sagt in ihrem Ziele-Artikel 7 Abs. 2 S. 2: „Das Land Tirol hat für den Schutz und die Pflege der Umwelt, besonders die Bewahrung der Natur und der Landschaft vor nachteiligen Veränderungen zu sorgen“. Die Verf. von Oberösterreich (1991 / 2001) hat mit ihren Revisionen von 2001 in Art. 9 und 10 „Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns“ den Anschluss an die heutige Textstufenentwicklung in Sachen Generationen- und Umweltschutz gesucht und gefunden. Hier findet sich der Textpassus: „auch in Wahrung der Verantwortung für künftige Generationen“ und: „Das Land Oberösterreich schützt Umwelt und Natur als Lebensgrundlagen des Menschen vor schädlichen Einwirkungen“. Auch ist allen Organen des Landes und der Gemeinden zur Aufgabe gemacht, „ihre Tätigkeit zum umfassenden Schutz der Umwelt so auszurichten, dass insbesondere die Natur … möglichst wenig beeinträchtigt“ (wird). In Art. 11 Abs. 1 ist sogar ausdrücklich vom Dienst durch Maßnahmen „zur Stärkung und Entfaltung einer leistungsfähigen, nachhaltigen und sozialen Marktwirtschaft“ die Rede. Die Verf. Kärnten (1996 / 2003) zeichnet sich durch einen besonders differenzierten Generationen- und Umweltschutz-Artikel aus. Präzise werden in acht Ziffern des Art. 7 a umweltpolitische Ziele von Land und Gemeinden aufgezählt. Dabei ist in Abs. 1 an die „gegenwärtigen und künftigen Generationen in Kärnten“ gedacht. Die Nachhaltigkeit wird etwa in folgenden Textpassagen beschworen: „Die natürlichen Lebensgrundlagen Boden, Wasser und Luft sind zu schützen; sie dürfen nur sparsam und pfleglich genutzt werden“, „Grund und Boden sind sparsam und schonend zu nutzen“, „Abfälle und Abwässer sind umweltschonend zu verwerten und zu beseitigen“. Eine ganz neue Textstufe findet sich in Art. 7 a Abs. 2 Ziff. 8: „Das Umweltbewusstsein der Bewohner und Besucher Kärntens (!) und der sparsame Umgang mit Rohstoffen und Energie sind zu fördern“. Dies sind vortreffliche Texte. Was in deutschen Länderverfassungen als Bildungs- und Erziehungsziel figuriert, ist hier verallgemeinert zum „Umweltbewusstsein“ der Bewohner und Besucher, als Orientierungswert. Diese neue Textstufe kann gar nicht ernst genug genommen werden. Denn sie bestätigt, dass den Menschen, gerade auch den Erwachsenen, ein Bewusstseinswandel in Bezug auf den Schutz der Umwelt gelingen soll und muss. Im Übrigen ist die mehrfache Verwendung des Adjektivs „schonend“ (ein Element der Nachhaltigkeit!) bemerkenswert. Die Verf. Salzburg (1999 / 2003) denkt in ihrem Aufgaben-Artikel 9 ebenfalls an die „künftigen Generationen“. Sie wagt das schöne Wort von der „Kulturlandschaft“, sie will die natürliche Umwelt vor nachteiligen Veränderungen schützen und wertet 421  Kommentar

und Texte in JöR 54 (2006), S. 267 ff.



Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht525

die Tiere zu „Mitgeschöpfen des Menschen“ aus seiner „Verantwortung gegenüber den Lebewesen“ auf: ein kühner Text. Eher traditionell bleibt die Verf. Vorarlberg (1999 / 2004) in Art. 7 Abs. 6: „Das Land erlässt Vorschriften und fördert Maßnahmen zum Schutz der Umwelt, insbesondere zum Schutz der Natur, der Landschaft und des Ortsbildes sowie der Luft, des Bodens und des Wassers“. Im Ganzen: Österreichs gliedstaatliche Verfassungen nehmen sich des Themas in sehr geglückten, z. T. neuen Textstufen an. Erkennbar wird Gemeinsames in Sachen Nachhaltigkeit, was sich kurz- und mittelfristig zu einem Gemeineuropäischen Verfassungsprinzip verdichten lässt, nimmt man die Materialien aus den übrigen Ländern Europas hinzu. Bemerkenswert bleibt, dass die „Werkstatt Österreich“ auf gliedstaatlicher Ebene gelingt, während sie auf Bundesebene bislang gescheitert ist (als Österreich-Konvent). Der Experimentiercharakter im Bundesstaat422 wird einmal mehr greifbar. 2. Schweizer Kantonsverfassungen und die nBV Seit den in der 2. Hälfte der 60er Jahre begonnenen „Totalrevisionen“ der Kantonsverfassungen ist die Schweiz eine „Werkstatt“ auf dem Gebiet fast aller Verfassungsthemen. Pionierleistungen erbrachte parallel der Verfassungsentwurf Kölz / Müller (1. Aufl. 1984, 3. Aufl 1995423). Die schließlich 1999 „nachgeführte“ neue BV ist Ausdruck höchst lebendiger Verfassungskultur und hoher Kunst der Textgestaltung neuer Problembereiche. Im Laufe der Jahre von 1965 bis heute lassen sich lebhafte „Wellenbewegungen“, ein Geben und Nehmen aller Verfassunggeber in der Schweiz beobachten. Manche Themen machten und machen noch heute eine besondere „Karriere“. Das gilt vor allem für Umwelt- und Generationenschutz, für „Nachhaltigkeit“ zumal. Da die nBV (1999) von einer Bayreuther Dissertation i. S. der Textstufenanalyse auch dogmatisch bereits aufgearbeitet ist424, sei im Folgenden eine typisierende Systematik der neuen Verfassungstexte zum Thema dieser Zeilen unternommen. Dabei wird sich zeigen, wie differenziert sich die Schweizer Kantone den Problemen stellen – sie können als Vorbild für viele Verfassunggeber im Ausland gelten und entwickelten die dichtesten und ausgefeiltesten Materialien für die „Nachhaltigkeit als Gemeineuropäisches Verfassungsprinzip“. Im Einzelnen: (1) Die Ergiebigkeit der Präambeln. Die meisten neuen Kantonsverfassungen thematisieren das Problem bereits in der Präambel, also hochkarätig, mit weitreichender normativer Kraft in allen nachstehenden Artikeln, zugleich bekenntnis- und erkenntnishaft. 422  Dazu P. Häberle, Die Entwicklung des Föderalismus in Deutschland, in: J. Kramer (Hrsg.), Föderalismus zwischen Integration und Sezession, 1993, S. 201 ff. (201, 206, 236 f.); s. auch L. Michael, Der experimentelle Bundesstaat, JZ 2006, S.  884 ff.; ders., Abweichungsgesetzgebung als experimentelles Element in einer gemischten Bundesstaatslehre, JöR 59 (2011), S. 321 ff. 423  Abgedruckt in JöR 34 (1985), S. 551 ff.; s. auch meinen Kommentar in ZSR 104 I (1985), S. 353 ff. 424  A. Glaser, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, 2006, S. 74 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Präambel KV Solothurn (1986)425 lautet: „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft und Umwelt“. Die besonders einflussreich gewordene KV Bern (1993) spricht in ihrer Präambel von einem Gemeinwesen, „in dem alle in der Verantwortung vor der Schöpfung zusammenleben“. Die KV Appenzell A. Rh. (1995) bekennt in der Präambel: „… wollen wir … die Schöpfung in ihrer Vielfalt achten“. Auch KV St. Gallen (2000) sagt schon in ihrer Präambel: „Im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott für die menschliche Gemeinschaft und die gesamte Schöpfung …“ Der Präambel KV Tessin (1997) gelingt die außerordentliche Textpassage: „im Bewusstsein, dass die Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen einen nachhaltigen menschlichen Umgang mit der Natur … verlangt“. Damit ist die Nachhaltigkeit wohl erstmals zum Präambelprinzip erhoben. Eine etwas schwächere Variante normiert Präambel KV Graubünden (2001): „im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott sowie gegenüber den Mitmenschen und der Natur“; auch das Bestreben, „eine gesunde Umwelt zu erhalten“ ist präambelkräftig formuliert. KV Neuenburg (2001) spricht in ihrer Präambel von „conscient de ses résponsabilités à l’egard … de l’environnement naturel et des générations futures“; Präambel KV Schaffhausen (2002) redet von „Verantwortung vor Gott für Mensch und Natur“ – eine leichte Variante, KV Vaud (2003) definiert das schöne Sprachenbild: „respecte la Création comme berceau des générationns á venir …“ Die Verfassungsentwürfe KV Fribourg (2003) leben Varianten in Sachen Präambel vor: „im Bewusstsein unserer Verantwortung gegenüber der Schöpfung“ sowie: achtet die „Umwelt“ bzw.: „Verantwortung vor Gott, der Schöpfung und den zukünftigen Generationen“. In der Präambel KV Fribourg (2004) bleibt es bei der „Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen und der Achtung der Umwelt“. Präambel KV Zürich (2005) spricht von der „Verantwortung gegenüber der Schöpfung“. KV Basel-Stadt (2005) textet fast wortgleich. Beides zeigt Demut. Aus dieser Präambelanalyse zeigt sich, wie ernst es den kantonalen Verfassunggebern mit dem Thema ist. Das bestätigt sich auch an den anderen einschlägigen Textensembles. (2)  Staatsziele / öffentliche Aufgaben: Hier finden sich in Art. 22 KV Glarus (1988) der Umweltschutz, auch der Schutz der Natur und Kulturdenkmäler. Vorweg ist in Satz 1 sogar eine Erscheinungsform der Nachhaltigkeit in Worte gekleidet: „Jedermann ist verpflichtet, die Umwelt zu schützen“. KV Bern (1993) glänzt mit einem besonders sorgfältig redigierten Umweltschutz-Artikel 31, der seinerzeit in der Schweiz intensiv diskutiert worden ist. In Abs. 2 heißt es: „Die natürlichen Lebensgrundlagen dürfen nur soweit beansprucht werden, als ihre Erneuerungsfähigkeit und die Verfügbarkeit gewährleistet bleiben“. Auch die Regel des Verursacherprinzips (Abs. 5) ist erwähnt. KV Appenzell A. Rh. (1995) ist in Art. 29 noch umfangreicher. Der Generationenschutz wird thematisiert, auch die „so wenig wie möglich“ zu haltende Belastung der Umwelt; die Rede ist von den „Lebensräumen der Tiere und Pflanzenwelt“, auch ihrer Vielfalt, ebenso von der gebotenen Erneuerungsfähigkeit und Verfügbarkeit natürlicher Lebensgrundlagen, diese sollen „geschont“ werden; Organisationen der „Selbstverantwortung“ sollen gefördert werden, das Verursacherprinzip ist als Regel fixiert. 425  Zit. nach JöR 47 (1990), S. 171 ff., dort und in JöR 56 (2008), S. 305 ff., auch alle folgenden Zitate.



Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht527

KV St. Gallen (2000) spricht bei den Staatszielen in Art. 16 ebenfalls von der Erhaltung der „Erneuerungsfähigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen“. Nach Art. 20 setzt sich der Staat zum Ziel, „dass eine nachhaltig produzierende Land- und Waldwirtschaft betrieben wird“. Damit ist die Nachhaltigkeit in einem neuen Kontext getextet. KV Tessin (1997) spricht in einem Ziele-Katalog in Art. 14 Abs. 1 lit. i davon, dass sich der Kanton dafür einsetzt, dass „die natürliche Umwelt vor schädlichen und belasteten Einwirkungen geschützt und für die künftigen Generationen erhalten wird“. KV Graubünden (2001) thematisiert den Umweltschutz sowie Naturund Klimaschutz in Art. 81, u. a. in Gestalt des Textes (Abs. 2): „Kanton und Gemeinden sorgen für die Erhaltung und den Schutz der Tier- und Pflanzenwelt sowie von deren Lebensräumen“. KV Neuenburg (2001) formuliert in ihrem Aufgaben-Artikel 5 lit. 1: „la géstion parcimonieuse des ressources non renouvables“. Die kühnste Textstufe aber findet sich in KV Schaffhausen (2002). Hier steigt die Nachhaltigkeit ausdrücklich zu den „Allgemeinen Grundsätzen“ auf. Art. 6 (Überschrift: „Nachhaltigkeit“) lautet: „Staatliches Handeln hat sich auf eine ökologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung auszurichten, welche die Bedürfnisse heutiger, wie auch zukünftiger Generationen berücksichtigt“. Im Text vom Stand von 2003 ist dies Art. 9. Damit ist m. E. erstmals eine konstitutionelle Legaldefinition der „Nachhaltigkeit“ geglückt. KV Vaud (2003) integriert den Umweltschutz in ein gemeinsames Kapitel „Patrimoine et environnement, culture et sport“ (Art. 52). Vorentwürfe zur KV Fribourg (2002) sprechen bei den „Allgemeinen Bestimmungen“ in bzw. den Staatszielen in Art. 3 Abs. 1 lit. h von „nachhaltiger Entwicklung“ (ebenso KV Fribourg (2004): Art. 3 Abs. 1 lit. h). Die KV Zürich (2005) steht offenbar unter dem Einfluss der erwähnten älteren Texte anderer Kantonsverfassungen. Ihr Art. 8 („Nachhaltigkeit“) lautet bei den Grundlagenbestimmungen: „(1) Kanton und Gemeinden sorgen für die Erhaltung der Lebensgrundlagen. (2)  In Verantwortung für die kommenden Generationen sind sie einer ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltigen Entwicklung verpflichtet“. Die leichte Variante verdient Beachtung. KV Basel-Stadt (2005) normiert in § 15 Abs. 2 als „Leitlinie staatlichen Handelns“: „Er (sc. der Staat) wirkt auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und auf eine nachhaltigen Entwicklung hin“. Dieser Satz ist im innerschweizerischen Vergleich neu. Im Übrigen zeigt sich im Rückblick, wie um die Textstufen allseits gerungen wird. Führt man sich die älteren Kantonsverfassungen vor Augen, etwa KV Aargau (1980), auch Basel-Land (1984426), so zeigt sich, wie weit es die Schweiz mit ihren Textstufen inzwischen gebracht hat, auch wenn die Präambeln beider Verfassungen schon an die „Umwelt“ denken und Umweltschutzklauseln kennen (§ 42 bzw. § 112: „ausgewogenes Verhältnis zwischen den Naturkräften und ihrer Erneuerungsfähigkeit sowie ihrer Beanspruchung durch die Menschen“, KV Jura (1977) und KV Uri (1984: Raumplanung) standen noch ganz am Anfang des Themas. (3)  Grundrechte und Grundpflichten: Nur kurz zu diesem Themenbereich: Prima facie wäre zu vermuten, dass die Schweiz hier zurückhaltend bleibt – zu liberal ist ihr klassisches Freiheitsverständnis. Bemerkenswert ist der frühe Entwurf einer sog. 426  Zit.

nach JöR 34 (1985), S. 437 ff. bzw. 451 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

„Grünen Verfassung“ für den Kanton Zürich (1994)427. Er beginnt mit dem 1. Teil „Grundrechte für Mensch und Umwelt“ und wagt unter D. sogar den Satz: „Rechte der Natur“ mit Texten zur eigenständigen Rechtspersönlichkeit von Tieren und Pflanzen (Art. 22 Abs. 4), die von Natur- und Umweltorganisationen wahrgenommen werden können. Diesen wird sogar ein „Beschwerderecht“ eingeräumt (Art. 23). Dies ist der bislang kühnste Vorstoß in der Schweiz. Immerhin ist in Art. 12 KV Tessin (1997) gesagt: „Jedermann ist gehalten, die Rechte der anderen zu respektieren und das Recht der künftigen Generationen auf Selbstbestimmung zu achten“. Damit ist der „Kategorische Imperativ“ (I. Kants) auf die Nachwelt erstreckt, es wird im Grund der Klassikertext von H. Jonas rezipiert: als Baustein des universalen Konstitutionalismus und einer „Weltrechtskultur“ (Umweltvölkerrecht!). Art. 6 KV Graubünden (2001) denkt ähnlich: „Jede Person trägt Verantwortung für sich selbst sowie Mitverantwortung für die Gemeinschaft und für die Erhaltung der Lebensgrundlagen“. Hier wird der berühmte Art. 6 nBV Schweiz428 erweitert und intensiviert. Der ähnliche Gedanke findet sich in Art. 6 Abs. 2 KV Schaffhausen (2002): Jede Person „trägt Mitverantwortung für die Gemeinschaft und die Umwelt“. Ähnlich arbeitet KV Vaud (2003) in Art. 8. Demgegenüber geht KV Zürich (2005) den genannten anderen Weg, Nachhaltigkeit nur Kanton und Gemeinden zu verordnen (Art. 6). KV Basel-Stadt (2005) sagt wieder bündig in § 6 Abs. 2: „Jede Person trägt Verantwortung für sich selbst sowie gegenüber den Mitmenschen und der Umwelt“. Die Einbeziehung der künftigen Generationen in die Verantwortungsethik des Umweltschutzes kann gar nicht überschätzt werden. Sie zeigt sich in der Schweiz in den analysierten Präambeln und in den Verantwortungs-Artikeln. Dies ist einander kongenial. Im Übrigen sei daran erinnert, wie differenziert und eingehend die analysierten Kantonsverfassungen und die Schweiz im Ganzen sich des Themas annehmen. Ihr ist die bis heute beste Textstufenvielfalt in Europa geglückt. Nur das Erziehungsziel „Umweltbewusstsein“ steht noch aus. Eigens erwähnt sei die ­ ­„Schuldenbremse“ in § 120 Abs. 1 KV Basel-Stadt: „Die nachhaltige Entwicklung des Finanzhaushaltes ist dabei zu gewährleisten“. Sie hat Schule gemacht. 3. Deutsche Länderverfassungen So einschlägig Art. 20 a GG bzw. die zu ihm entwickelte Dogmatik429 und Judikatur in Sachen Nachhaltigkeit sind, im Folgenden sei nur ein vergleichender Blick auf die Textstufen in den deutschen Landesverfassungen geworfen. Auch hier geht es nicht um eine umfassende Darstellung, sondern nur um einen Vergleich i. S. des Textstufenparadigmas: innerdeutsche Verfassungsvergleichung. Damit sollen typologisch Materialien gewonnen werden, die einen Vergleich mit anderen Ländern, 427  Zit.

nach JöR 47 (1999), S. 268 ff. meine Kommentierung im St. Galler Kommentar, 1. Aufl. 2002, 2. Aufl.

428  Dazu

2008.

429  Dazu etwa H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 a Rdnr. 35, 80 zum „Nachweltschutz“; Rdnr. 40, ebd., zum „Prinzip der Nachhaltigkeit“.



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etwa in Osteuropa oder mit den Regionalstatuten in Italien und Spanien eröffnen: als Vorbereitung dafür, aus dem Ensemble von Teilelementen bzw. Kontextbegriffen der „Nachhaltigkeit“ Materialien für den tendenziell universalen Theorierahmen zu gewinnen. Systematisch lassen sich in Sachen Umwelt einschließlich des Generationenschutzes folgende Textgruppen unterscheiden, die stets indirekt, oft aber auch direkt im Dienste der „Nachhaltigkeit“ stehen: –– die Hochzonung des Umwelt- bzw. Generationenschutzes zum Element der Präambel (so in Verf. Brandenburg, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, SachsenAnhalt, Thüringen, Hamburg); –– die Integrierung des Themas in den Staatsziele-Katalog allgemein (z. B. Art. 3 Abs. 2 Verf. Bayern, Art. 12 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, Art. 1 Verf. Niedersachsen, Art. 35 Verf. Sachsen-Anhalt); –– oder gar in Gestalt eines eigenen Abschnitts (z. B. 8. Abschnitt Verf. Brandenburg: „Natur und Umwelt“; VII. Abschnitt Verf. Rheinland-Pfalz; Vierter Abschnitt Verf. Thüringen); –– die Ausbildung eines grundrechtsähnlichen Rechts, z.Β. auf Auskunft in Sachen Umweltdaten (z. B. Art. 6 Abs. 3 Verf. Mecklenburg-Vorpommern; Art. 33 Verf. Thüringen); –– die Normierung von pflichtähnlichen Obliegenheiten der Menschen und Bürger (z. B. Art. 35 Verf. Sachsen-Anhalt: „Jedermann ist verpflichtet, hierzu mit seinen Kräften beizutragen“); –– die Anreicherung der Bildungs- und Erziehungsziele um das Verantwortungsbewusstsein für den Schutz von Umwelt und Natur (z. B. Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern; s. auch Art. 7 Abs. 2 Verf. NRW); –– die genauere Normierung von Sparsamkeit, Sorgfalt im Umgang mit den „Naturgütern“ (z. B. Art. 69 Abs. 3 Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 141 Abs. 1 Verf. Bayern); –– die Verstärkung des Tierschutzes (z. B. Art. 31 Abs. 2 Verf. Berlin) bis hin zur Erhebung der Tiere zu „Mitgeschöpfen“ (Art. 3 b Verf. Baden-Württemberg; Art. 70 Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 32 Verf. Thüringen), wenngleich sie nicht mit eigenen Rechten ausgestattet werden wie in Regionalstatuten Italiens; –– sonstige Textensembles (z. B. Art. 38 Verf. Thüringen: „der Ökologie verpflichtete Marktwirtschaft“). Insgesamt kann sich die innerdeutsche Ausbeute „sehen“ lassen. Man wird bei der „Suche mit der Wünschelrute“ in Sachen „Nachhaltigkeit“ schon bei den Verfassungstexten fündig. Wellenförmig hat sich das Thema zum Verfassungsthema entwickelt. Die deutschen Länder haben dabei nicht selten voneinander „abgeschrieben“, aber auch Neues gewagt – Beweis der These von aktiver Rezeption und Produktion von Texten, Theorien und Judikaten. Unter den europäischen Bundesstaaten kann neben der Schweiz nur noch Österreich dank der gliedstaatlichen Verfassungen mithalten.

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5. Kap.: Einzelausprägungen II. Andere westeuropäische Verfassungen, insbesondere die Regionalstatute in Italien und Spanien 1. „Alte“ Verfassungen

Die Verfassungstexte der anderen „alten“ westeuropäischen Länder befinden sich zumeist auf einer älteren Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Von Italien (1947 / 2003) über Frankreich (1958 / 2004), Dänemark (1953), Griechenland (1975), Schweden (1975 / 2003), Portugal (1976) und Spanien (1978) über die Niederlande (1983) und Belgien (1994) bis hin zu Finnland (1999) nahmen sich ihre Verfassunggeber des Umwelt- und Generationenschutzes bzw. der Nachhaltigkeit und ihrer Instrumente recht wenig an. Erst recht nicht die wohl älteste geltende Verfassung von Luxemburg (1868 / 2004), die jetzt 2007 eine bemerkenswerte Textstufe in Sachen Generationen- und Tierschutz wagt (Art. 11 a). „Alt“ ist auch die Verfassung der Republik Irland (1937 / 2004). Zu vermuten ist aber, dass manche punktuelle Verfassungsrevisionen im Sinne des Themas zeitgeistgemäß erfolgten, dass das Übrige aber von der Judikatur und wissenschaftlichen Dogmatik vor Ort geleistet werden musste und muss, auch von der gesetzgeberischen Praxis. Im Folgenden seien die Verfassungen dieser Länder gleichwohl auf ihr Umweltverfassungs- und Nachhaltigkeitsrecht hin untersucht – zumal sie alle Mitglieder der EU sind. Auch offenkundige Defizite seien beim Namen genannt. Sie werden um so klarer, wenn man die jüngere Entwicklungsstufe des Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ in den anderen Beispielsnationen wie die Schweiz, Österreich mit dessen gliedstaatlichen Verfassungen mit manchen osteuropäischen Reformstaaten und in den Regionalstatuten Italiens und Spaniens vergleicht. Im Einzelnen: a) Präambeln Soweit ersichtlich, „denkt“ keine Verfassung der eben erwähnten Länder schon in der Präambel an unser Thema – ganz im Gegensatz zur Schweiz (auf Bundes- wie Kantonsebene) und zu den italienischen und spanischen Regionalstatuten. Präambeln, vom Verf. an anderer Stelle als „Konzentrat der Verfassung“ qualifiziert und als „Verfassung der Verfassung“ mit voller normativer Kraft ausgewiesen, kulturwissenschaftlich Ouvertüren und Prologen vergleichbar430, wären heute eigentlich ein unverzichtbarer Ort, um das Thema für die nachfolgenden Verfassungsartikel zu „intonieren“. Das geschieht in vielen in jüngster Zeit ergangenen, hier und jetzt untersuchten Verfassungen. b) Staatsziele Recht häufig ist unser Thema zu den Feldern der Staatsziele aufgerückt: so in Art. 20 a GG, zuvor in Art. 24 Verf. Griechenland (1975 / 2001) – in Verf. Italien 430  Dazu die Bayreuther Antrittsvorlesung von P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Βroermann, 1982, S. 211 ff., später ausgebaut in Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 920 ff.; s. auch ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 274 ff.



Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht531

heißt es noch eher „altmodisch“ in Art. 9 Abs. 2: „Sie (sc. die Republik) schützt die Landschaft …“ Die Verf. Portugal (1976 / 2004) definiert als „Grundsatzaufgaben des Staates“ (Art. 9) u. a. die „Verwirklichung der ökologischen Rechte“ (lit. d), die „Verteidigung der Natur und Umwelt, die Erhaltung der natürlichen Ressourcen“ (lit. e). Im Abschnitt über „Soziale Rechte und Pflichten“ finden sich in Art. 66 Abs. 1 nach der Normierung eines Jedermann-Rechts auf „eine menschenwürdige, gesunde und ökologisch ausgewogene Umwelt“ (mit korrespondierender Pflicht) als Konsequenz in Abs. 2 die Fixierung der „Aufgabe des Staates, zur Gewährleistung des Rechts auf den Schutz der Umwelt im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung durch geeignete Organe“ – danach folgt eine Fülle von Detailanordnungen (lit. a bis h) bis hin zur „Erziehung zu umweltgerechten Verhalten und zur Sicherstellung der Abstimmung der wirtschaftlichen Entwicklung auf den Schutz der Umwelt und der Lebensqualität“. Portugal hat sich hier in Gestalt einer seiner jüngeren Verfassungsrevisionen modernisiert und sich in einem Zug auf die heutige Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates und des „Zeitgeistes“ gehoben. Auch Schweden hat mit seiner in den letzten Jahren geänderten Verfassung (1975 / 2003) „aufgeholt“, indem es in den „Grundlagenbestimmungen der Staatsform“ gleich vorweg in § 2 Abs. 3 bestimmt: „Das Gemeinwesen fördert eine nachhaltige Entwicklung, die zu einer guten Umwelt für heutige und künftige Genera­ tionen führt“. Dies ist eine überaus gelungene, sehr prägnante neue Textstufe! Die Verf. Spanien (1978 / 92) wagt in Art. 45 Abs. 1 ein Recht aller, „eine der Entfaltung der Persönlichkeit förderliche Umwelt zu genießen sowie die Pflicht sie zu erhalten“. In Abs. 2 folgt das konsequente Staatsziel: „Die öffentliche Gewalt wacht über die vernünftige Nutzung aller Naturreichtümer mit dem Ziel, die Lebensqualität zu schützen und zu verbessern und die Umwelt zu erhalten und wiederherzustellen“. Dabei stützt sie sich auf die „unerlässliche Solidarität der Gemeinschaft“. Vor allem der letzte Satz liefert ein neues Stichwort. Art. 21 Verf. Niederlande sagt: „Die Sorge des Staates gilt dem Schutz und der Verbesserung der Umwelt“. c) Grundrechte Einige Beispiele (aus Portugal und Spanien) wurden soeben genannt. Die Verf. Belgien (1994 / 2002) normiert in dem wohl überarbeiteten Art. 23 Abs. 2 als Ziff. 4 „das Recht auf den Schutz einer gesunden Umwelt“. d) Grundpflichten Auch für sie wurden bereits einige Beispiele erwähnt. Im Ganzen erweist sich der Blick auf die Behandlung des Themas in den älteren westeuropäischen Verfassungen nur teilweise als ergiebig. Immerhin finden sich manche neue Textvarianten. Die jeweiligen nationalen Gerichte und Wissenschaftlergemeinschaften stehen vor entsprechend großen Aufgaben. Ein gewisser „Nachholbedarf “ in Sachen Nachhaltigkeit ist verfassungstextlich für manche der analysierten Länder nicht zu leugnen. Dies kann von ganz Europa her gelingen.

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5. Kap.: Einzelausprägungen 2. Insbesondere: Die neuen Regionalstatute in Italien und Spanien a) Italien

Als erstes sei Italien behandelt, auch deshalb, weil seine neuen Regionalstatute im übrigen Europa ebenso unbekannt wie ergiebig sind. Dies nicht nur im Blick auf ihre ideenreiche Präambeln, bemerkenswerte Grundrechts-, Europa-Artikel und Ziele-Klauseln, sondern auch in Sachen „Nachhaltigkeit“. Dabei nehmen manche Statute sogar Verfassungscharakter für sich in Anspruch (z. B. Ligurien). Sie können als lebendige „Werkstatt“ gelten, wie in Europa derzeit nur noch die Schweiz. Das Statut von Apulien (2004) denkt in Art. 2 Ziff. 1 an den Schutz künftiger Generationen und verteilt Einzelheiten zum Umweltschutz über mehrere Artikel (z. B. Art. 2 Ziff. 2). Herausragend aber ist Art. 11 Ziff. 1, in dem es ausdrücklich heißt: „La Regione incentiva lo sviluppo sostenibile dell’èconomia pugliese, nel rispetto dell’ambiente …“ Dieser Text hat auch in anderen Regionen „Karriere“ gemacht. Das Statut von Kalabrien (2004) wagt eine neue Textstufe in Art. 2 lit. v unter den „Principi e finalità“: „la tutela del patrimonio faunistico e florista regionale‚ il rispetto ed il riconoscimento dei diritti degli animali“. Tierrechte dieser Art sind eine kleine Sensation. Dieser Text findet sich ähnlich auch in Art. 9 Ziff. 1 Regionalstatut Latium (2004). Das Statut der Toscana (2005) nennt in seinem Hauptziel in Art. 4 lit. n ausdrücklich die „sostenibilità dell ambiente“. Das Statut des Piemont (2005) verankert den Umweltschutz schon in der Präambel einschließlich der Anerkennung der „Rechte der Tiere“ und schafft eine neue Textstufe zum Umweltschutz in Gestalt des hoch differenzierten Art. 6 („Patrimonio naturale“). Auch das Textstück von der „coretta convivenza con l’uomo“ (mit den Tieren) findet sich. Besonders ergiebig wirkt das Statut der Emilia Romagna (2005). Der künftigen Generationen gedenkt schon die Präambel, und Art. 3 lit. h spricht ausdrücklich von „sviluppo sostenibile“. Neues wagt das Statut des „grünen“ Umbrien (2005). Im Identitäts- und WerteArtikel 2 wird an die zukünftigen Generationen gedacht sowie an die Qualität der eigenen Umwelt. Art. 11 Ziff. 1 spricht von „uno sviluppo equilibrato e sostenibile“. Auch das konstitutionelle Statut von Ligurien (2005: „Costituzione della Regione“) nennt unter den Prinzipien von Art. 2 lit. i die „svilippo sostenibile“. Das Regionalstatut der Marken (2005) verschreibt sich schon in der Präambel der „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“. Ein ausführliches Umweltschutzprogramm findet sich in Art. 5 Ziff. 2. Das Statut der Abruzzen (2007) zählt in Art. 9 detalliert Elemente des Umweltschutzes vor Ort auf. Im Ganzen: In Bezug auf den Generationenschutz und die Nachhaltigkeit kann bereits heute von einem werdenden „Gemeinitalienischen Verfassungsrecht“ von unten her gesprochen werden. Während die Verf. Italien (1947) noch ganz traditionell textet (Art. 9 Abs. 2), ist im Kleinen in vielen Regionen Neues entstanden. „Nachhaltigkeit“ wächst von unten her zu einem Stück Gemeineuropäischen Verfassungsrecht heran. Das lässt sich modellhaft an diesen Textstufen ablesen.



Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht533 b)  Spanien (Katalonien und Andalusien)

In Spanien431 sehen wir uns heute vitalen Konstitutionalisierungsbewegungen „von unten her“ gegenüber. Die besonderen „Autonomen Gebietskörperschaften“ wie Katalonien, Andalusien, Galicien und – den Rahmen der Verfassung Spaniens von 1978 mitunter überschreitend – das Baskenland wagen es, ihre Regionalstatute mit neuen Verfassungsthemen auszugestalten – ähnlich der Entwicklung in Italien. Wir können insoweit das Werden von Gemeineuropäischem Regionalismusrecht beobachten. Ergangen sind u. a. die neuen Regionalstatute von Katalonien (2006) und Andalusien (2006). Sie zeichnen sich durch erstaunliche Aufgaben- bzw. Gemeinwohl-Artikel aus, auch durch grundrechtliches Leistungsrecht, und regeln eher zu viel als zu wenig. Im Folgenden seien nur etwaige Aussagen zum Thema „Nachhaltigkeit“ belegt. Katalonien bestimmt in Art. 4 Ziff. 3: „Die öffentlichen Gewalten Kataloniens haben die Werte der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Vielfalt, des Friedens, der Gerechtigkeit, des sozialen Zusammenhalts, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der nachhaltigen Entwicklung zu fördern“. Da dies im „Einleitenden Teil“ steht, kommt der „Nachhaltigkeit“ ein hoher Stellenwert zu. Im Grundrechtsteil überrascht die inhaltliche Vielfalt von Art. 27: „Rechte und Pflichten im Umweltschutz“. Hier ist dem Einzelnen u. a. ein Recht gegeben, „in einer sich im Gleichgewicht befindlichen, nachhaltigen und die Gesundheit nicht beeinträchtigenden Umwelt zu leben“. Auch eine Pflicht ist formuliert. Gesprochen wird von einer Bewahrung der „Umwelt für die kommenden Generationen“. Überdies wird das Recht des Einzelnen auf Zugang zu Umweltdaten verankert, höchst aktuell. Von der Seite der Ziele („Leitende Grundsätze“) her befasst sich dann Art. 46 umfänglich mit „Umwelt, nachhaltiger Entwicklung und territorialem Gleichgewicht“. Dabei ist von „gemeinsamer Solidarität zwischen den Generationen“ ebenso die Rede wie von differenzierten „Umweltschutzpolitiken“ (z. B. Ökosteuer, „Sonderpolitiken“, „Erziehung zur Βewahrung und Verbesserung der Umwelt als gemeinsames Erbe“): eine vortreffliche Textstufe. Andalusien hat wenige Monate später, ebenfalls 2006, das Thema auf seine Weise aufgegriffen. Auch diese Autonome Gebietskörperschaft konstituiert sich als „europäische“, umfasst eher zu viele Artikel (250) und nimmt sich fast aller Themen an, die sonst ein Bundesland auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates hat. Nicht nur der Symbol-Artikel 3 ist reich, auch der Grundrechte- und Pflichtenkatalog sowie der Ziele-Artikel ist höchst detailliert. In Art. 28 Ziff. 1 stehen die Worte vom Recht aller Personen in einer „medio ambiente equilibrato“, „sostenibile y saludable“ zu leben; im Prinzipien-Artikel 37 finden sich in Ziff. 19 ähnliche Begriffe wieder. Art. 57 beschäftigt sich detailliert mit „medio ambiente, espacios protegidos y sonstenibildad“. 431  Aus der Lit.: F. Balaguer (Coord.), El nuevo estatuto de Andalucía, 2007; spezieller: P. Häberle, Juristische Kultur in Katalonien, JöR 56 ( 2008), S. 503 ff.; H. L. Bofill, Das Statut von Katalonien vor dem spanischen Verfassungsgericht, JöR 60 (2012), S. 533 ff. – Die Regionalstatute Italiens sind zit. nach JöR 58 (2010), S.  443 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen III. Osteuropäische Reformverfassungen

Die Darstellung der Textstufen osteuropäischer Reformverfassungen sei zweigeteilt: zuerst gehe es um die Länder, die bereits Mitglied der EU sind, denn ihre Texte können unmittelbar zur „Nachhaltigkeit“ als deren Gemeineuropäischem Verfassungsprinzip beitragen; sodann erfolge eine Aufschlüsselung der übrigen Reformverfassungen, die langfristig ausstrahlen können. 1. Osteuropäische Reformverfassungen innerhalb der EU Gemäß der bisherigen Systematisierungstechnik seien zuerst die osteuropäischen Länder untersucht, die inzwischen Mitglieder der EU geworden sind. Denn sie bringen in spezifischer Weise auch ihre neueren Verfassungstexte in die „Verfassungsgemeinschaft“ der EU ein und können Grund und Gründe liefern für einen allgemeinen Ausbau und Aufbau des „Gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ der Nachhaltigkeit. a) Präambeln In die „hohe Welt“ der Präambel ist unser Thema, soweit ersichtlich, bislang in keinem osteuropäischen Land gerückt. b) Staatsziele Eine Kombination von Staatsziel und Grundrecht findet sich in Art. 115 Verf. Lettland (1922 / 2003): „Der Staat schützt das Recht eines jeden, in einer intakten Umwelt zu leben, indem er Informationen über den Zustand der Umwelt bereitstellt und die Erhaltung und Verbesserung der Umwelt fördert“. Ein klassisches Staatsziel in Sachen Umweltschutz findet sich in Art. 54 Verf. Litauen (1992 / 2003). Die Verf. der Slowakischen Republik (1992 / 2002) widmet dem „Recht auf Umweltschutz und Schutz des kulturellen Erbes“ einen eigenen Abschnitt (Art. 44 f.). Dabei verknüpfen sich das Jedermann-Recht und die Jedermann-Pflicht, wird der Staat auf eine „schonende Nutzung der Naturschätze“, auf ein „ökologisches Gleichgewicht und eine effektive Umweltpolitik“ festgelegt. Auch an das Recht auf Information über den „Zustand der Umwelt, über Ursachen und Folgen“ ist gedacht. Art. 7 Verf. Tschechische Republik (1992 / 2002) sagt: „Der Staat achtet auf die rücksichtsvolle Nutzung der natürlichen Ressourcen und auf den Schutz der Naturschätze“. Art. 74 Verf. Polen (1997) bestimmt: „Die öffentliche Gewalt verfolgt eine Politik, die der gegenwärtigen und der kommenden Generation ökologische Sicherheit gewährleistet“. Umweltschutz wird zur „Pflicht der öffentlichen Gewalt“ erklärt. Ein Informationsrecht dient diesem: eine gute Programmatik! c) Grundrechte Sie wurden bereits im Kontext von Staatsaufgaben vorgeführt. Eigens erwähnt sei Art. 72 Abs. 1 Verf. Slowenien (1991): „Jedermann hat in Einklang mit dem Gesetz ein Recht auf gesunde Umwelt“. Es folgt das entsprechende Staatsziel, ein Hinweis auf die Verursacherhaftung und den Tierschutz. All dies ist konsequent.



Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht535

Art. 18 (alte) Verf. Ungarn (1949 / 2003) regelt schon am Ende der „Allgemeinen Bestimmungen“: „Die Republik Ungarn erkennt das Recht eines jeden auf eine gesunde Umwelt an und bringt es zur Geltung“. Die neue Verf. (2012) sagt in Artikel O Abs. 1: „Ungarn schützt und erhält die gesunde Umwelt“. In Abs. 2 ist an die „Bewahrung des gemeinsamen Erbes für die zukünftigen Generationen“ gedacht. d) Grundpflichten Sie finden sich zum Βeispiel in § 53 Verf. Estland (1992 / 2003). Im Vergleich zu den schon analysierten Verfassungstexten vor allem in der Schweiz, regional in Italien und Spanien, aber auch sonst, ragen die neuen EUMitgliedsländerverfassungen nicht über den gemeineuropäischen Standard hinaus, mitunter verfehlen sie ihn. Sie wagen keine kühnen Neuregelungen, fügen sich aber gut in den „Geist“ der bisherigen Materialien ein. 2. Osteuropäische Verfassungen (noch) außerhalb der EU Hier lässt sich eine Systematik erarbeiten: (1) Das Thema als Präambelelement. So heißt es in Verf. Russland (1993) schon in der Präambel „von der Verantwortung für unsere Heimat vor der heutigen Generation und den kommenden Generationen“ – damit wird der Umweltschutz sehr „russisch“ an der „Heimat“ festgemacht: „Umweltpatriotismus“ ließe sich sagen. Auch Präambel Verf. Moldau (1994) spricht von der „Verantwortlichkeit und den Pflichten vor den vorangegangenen, gegenwärtigen und künftigen Generationen“. (2) Umwelt- bzw. Generationenschutz als Staatsziel. Hier wird man überaus fündig: die jüngste Verfassung auf dem Balkan (neben der neuen von Serbien, 2006, und des Kosovo, 2008) ist die Albaniens (1998). Sie fordert in Art. 59 einen rechtlichen Zielekatalog; u. a. sind genannt: „eine gesunde und ökologisch angemessene Umwelt für die heutige und die zukünftigen Generationen“ (lit. e) sowie: „die rationelle Nutzung der Wälder, Gewässer … und anderen natürlichen Ressourcen auf der Grundlage des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung“ – diese Textpassage könnte sich „europäisieren“ lassen (!). Art. 37 Verf. Georgien (1995) spricht in Abs. 4 von den „Interessen der jetzigen und kommenden Generationen und dem Schutz der Umwelt und der rationellen Nutzung der Natur“ – Abs. 3 hatte zuvor ein Jedermann-Recht in Bezug auf die Nutzung der „natürlichen und kulturellen Umwelt“ normiert (man beachte die Kombination) und zugleich die „symmetrische Jedermann-Pflicht, die Natur und die kulturelle Umwelt zu bewahren“. All dies ist eine gute Textstufe.

Die Verf. Makedonien (1991), eines Landes mit dem Status des EU-Beitrittskandidaten, normiert im Grundwerte-Artikel 8 u. a. die „Ordnung und Humanisierung des Raumes und Schutz und Förderung der Umwelt und der Natur“. Während die Verf. Montenegro (1992) eher blass den Umweltschutz postuliert (Art. 65) und die Wirtschaftsfreiheit zum Schutz der Umwelt begrenzt sieht, sagt Verf. Slowenien, jetzt EU-Mitglied, in Art. 73 apodiktisch: „Der Staat und die lokalen Gemeinschaften sorgen für die Erhaltung des Natur- und Kulturerbes“.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

(3) Grundrechte auf Umweltschutz finden sich vereinzelt: vgl. etwa Art. 55 Verf. Bulgarien (1991), das EU-Mitglied ist: „Recht auf gesunde Umwelt“, gekoppelt mit einer entsprechenden Grundpflicht. Art. 37 Abs. 3 Verf. Georgien und sein Jedermannrecht wurde schon erwähnt. Art. 74 Abs. 1 Verf. Serbien (2006) gibt jedem ein Recht auf eine gesunde Umwelt und ein Umweltinformationsrecht (zurückhaltender: Art. 52 Abs. 2 Verf. Kosovo von 2008). (4) Grundpflichten kamen z.  T. bereits zur Sprache. Ergänzend seien genannt: Art. 59 Verf. Moldau: „Der Schutz der Umwelt und die Erhaltung und der Schutz der historischen und kulturellen Denkmäler sind Pflichten jeden Bürgers“ – bemerkenswert ist der Kontext von Natur und Kultur! Art. 74 Abs. 3 Verf. Serbien verpflichtet jedermann zur Bewahrung und Verbesserung der Umwelt (ähnlich Art. 52 Abs. 1 Verf. Kosovo von 2008). (5) Sonstige Textensembles. Eigenen Rang kann der „Tschernobyl-Artikel“ der Verf. Ukraine (1996) beanspruchen. Die damalige nationale Katastrophe spiegelt sich in Art. 16 wider: „Die Gewährleistung der ökologischen Sicherheit und die Wahrung des ökologischen Gleichgewichts auf dem Territorium der Ukraine, die Überwindung der Folgen der Katastrophe von Tschernobyl – eine Katastrophe weltweiten Ausmaßes – und die Bewahrung des Erbguts des ukrainischen Volkes sind Pflicht des Staates“. Schon diese kleine Auswahl lässt erkennen, dass auch in den übrigen osteuropäi­ schen Verfassungen einschließlich der Balkanstaaten einfallsreiche Textstufen und Themen nachweisbar sind. Alle west- und osteuropäischen Verfassungen können voneinander lernen und sie haben bereits nachhaltig voneinander gelernt. Man darf durchaus die These formulieren, dass auch außerhalb des EU-Europas genügend Textmaterialien vorliegen, die zu „Gemeineuropäischem Verfassungsrecht“ heranreifen können. IV. EU-Verfassungstexte einschließlich von Verfassungsentwürfen Im Vorfeld und als „Begleitprogramm“ zum EU-Verfassungskonvent mit seinem Entwurf von 2004, der freilich später gescheitert ist (Brüsseler Gipfel von 2007), entstanden viele Texte, die, obwohl Entwürfe, die Aufmerksamkeit der Wissenschaft beanspruchen dürfen432. Der Verf. hat sie in anderem Zusammenhang etwa in Sachen Kultur433 immer wieder herangezogen. Texte können, einmal in der Welt, mittelfristig doch ausstrahlen, ihr Potential kann von der Latenz zur Aktualität umschlagen. Speziell in Sachen Umwelt- und Generationenschutz bzw. Nachhaltigkeit können sie als „Fundgrube“ für Materialien dienen, aus denen Gemeineuropäisches Verfassungsrecht „wird“. Diese Themen werden „europäisiert“ und universal. Nur eine Auswahl sei präsentiert434. Die CDU / CSU-Vorschläge Schäuble / Bocklet (2001) befassen sich unter Ziff. 12 mit „Umweltpolitik“. Sie versuchen sich beispiel432  Zu diesem Ansatz P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff. 433  Dazu P. Häberle, Altes und Neues zum Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, JöR 57 (2009), S. 641 ff. 434  Zit. nach JöR 53 (2005), S. 515 ff.



Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht537

haft am Begriff der „umweltspezifischen Bereiche“ (vom Klimaschutz bis zur Gentechnik), sprechen der EU-Kompetenz zu, wenn „Umweltbelange“, insbesondere wegen der grenzüberschreitenden Wirkungen von einzelnen Mitgliedstaaten nicht bilateral oder mehrseitig gelöst werden können. Von den erwähnten Instrumenten seien genannt: „unverzichtbare gemeinschaftliche Standards“ und der Erlass von „Rahmen-Verfahrensregeln“. Der Verfassungsentwurf von R. Badinter (2002) spricht in der Präambel von „environnement protégé“ und nennt unter den „geteilten Kompetenzen“ im Annexe A II ausdrücklich die „Coopération au dévelopment durable dans le Monde“. Der Verfassungsentwurf aus der Feder einer „Gruppe Grüner“ hebt das Thema schon in die Höhe der Präambel. Im vorletzten Spiegelstrich ist die Rede von „struggle for global justice, democracy and sustainable development“. Selten findet sich die Nachhaltigkeit in ähnlich hohem Dreiklang von Gerechtigkeit und Demokratie. Die „shared competences“ enthalten wie im Text von Badinter die „environmental protection“ (unter III Abs. 1). Auch in der Präambel ist „Respect for the environment we live in“ gefordert (s. auch § 2: („Objectives“): „to strive for a high level of environmental protection in all its policies“). Der Verfassungsentwurf von E. Paciotti (2002), der in vielerlei Hinsicht Interesse verdient, spricht in der Präambel Abs. 4 von „principio dello svilupo sostenibile nel contesto della realizzazione del mercato interno“. Damit sind in einem Verfassungsentwurf die „Nachhaltigkeit“ und der Begriff „Kontext“ direkt genannt! Konsequent ist in dem Ziele-Artikel 57 lit. b der Umweltschutz hoch platziert. Lit. a spricht erneut von „sviluppo equilibrato e sostenibile“. Der Verfassungsentwurf von J. Leinen (2002) formuliert schon in der Präambel (Absatz 4) den Satz: „Die Union fördert eine ausgewogene, gerechte und nachhaltige Entwicklung in ihrem Inneren und durch ihre Außenbeziehungen“. Noch deutlicher sagt Art. 54 zu den Zielen der Union: „ein Raum der ökologischen Nachhaltigkeit und der fairen Partnerschaft mit den Staaten und Völkern der Welt“. Die kreative Textstufe vom „Raum der Nachhaltigkeit“ kann gar nicht hoch genug gerühmt werden. Denn damit wird im Textreservoir der EU die Nachhaltigkeit den anderen „Räumen“, etwa der „Freiheit, Sicherheit und des Rechts“, gleichgestellt. Zugleich wird ein Theorieelement der Nachhaltigkeit erkennbar: der Raum (in der ganzen Welt, universal). Bei den geteilten Kompetenzen figuriert in Art. 65 Abs. 1 auch die „Umweltpolitik“. Der Vorentwurf von G. d’Estaing (2002) nennt unter den Zielen der Union (Art. 3) u. a. ein „hohes Maß an Umweltschutz“. Der „Grundriss“ von J. Voggenhuber (2003) normiert in der Präambel die „Verantwortung vor den künftigen Generationen“ und spricht unter V. von Europa „als Raum des Wohlstandes und der nachhaltigen Entwicklung“. Im Text ist dann u. a. von der „nachhaltigen Entwicklung“ als „Verfassungsziel“ der EU die Rede; an anderer Stelle heisst es: „Die Durchsetzung globaler ökologischer und sozialer Mindeststandards ist ein Ziel der Politik der Union“ (eine „Europäisierung“). Im Artikel-Entwurf des Konventspräsidiums (2003) heisst es zu den Zielen der Union in Art. 3 Abs. 2: „Sie fördert die Solidarität zwischen den Generationen“. Bei Art. 12 zu den geteilten Zuständigkeiten wird in Abs. 4 der Hauptbereich der „Umwelt“ genannt. Sichtbar wird eine „Europäisierung“ der Generationen.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Im Verfassungsentwurf von G. d’Estaing (2003) ist die Rede von „Verantwortung“ (sc. der Union) gegenüber den künftigen Generationen und der Erde (!). Im Ziele-Artikel I-3 Abs. 3 steht der große Satz: „Die Union strebt ein Europa der nachhaltigen Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums an“. Auch ist ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität“ gefordert. Bei der Fixierung der Bereiche mit geteilter Zuständigkeit (Art. I-13 Abs. 2) erscheint dann auch die Umwelt, ohne nähere Kennzeichnung. Im Ganzen: Die „privaten“ oder offiziellen Entwürfe zu einer EU-Verfassung sind der „Nachhaltigkeit“ auf der Spur. Die Entwürfe lassen das Nachhaltigkeitsproblem geradezu als „Wachstumsthema“ erkennen, sie schreiben im guten Sinne voneinander ab und schaffen neue Textensembles wie „Raum der Nachhaltigkeit“ bis hin ins Globale (!). Diese Textstufen dürfen im wissenschaftlichen Diskurs nicht verloren gehen. Da die Textgeber zur besonderen Konzentration ihrer Gedanken gezwungen sind, erweisen sie sich oft ergiebiger als lange Kommentare und Abhandlungen. Erinnert sei im Übrigen an den 8. Erwägungsgrund „Umweltschutz“ und „Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung“ in der Präambel des späteren EU-Vertrags und an Art. 2 EGV („ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens“, s. auch Art. 6 ebd.). Die Verfassungsverträge von Lissabon (2007) haben sich dem Umweltschutz sehr verpflichtet: schon in der Präambel EUV, in Art. 3 Abs. 2 ebd. („Nachhaltige Entwicklung Europas“) sowie in Art. 11 AEUV (s. auch Art. 191 bis 193 AEUV). Exkurs: Verfassungen in Übersee (Auswahl) Ein kurzer Blick nach „Übersee“ kann zwar nicht direkt etwas aussagen zur „Nachhaltigkeit als Gemeineuropäisches Verfassungsprinzip“. Doch ist er indirekt für Vielfalt und Gemeinsamkeiten im Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ ergiebig und für den universalen und europäischen Konstitutionalismus aufschlussreich. 1. In Lateinamerika435 zeichnet sich etwa die neuere Verf. Brasiliens (1988)436 durch ein eigenes Kapitel VI „Do meio Ambiente“ aus. Sein Art. 225 enthält geläufige Stichworte wie „Bewahrung der Umwelt für die gegenwärtigen und künftigen Generationen“, „ökologisches Gleichgewicht“, „Erziehung zum Bewusstsein für Umweltschutz“. Die überaus progressive Verf. Kolumbiens (1991) normiert ein eigenes Kapitel 3 „De los derechos colectivos y del ambiente“. Hier findet sich u. a. die Anregung, mit anderen Nationen in Sachen Schutz der Ökosysteme zusammenzuarbeiten (Art. 80 Abs. 3). Die (alte) Verf. Ecuador (1978 / 98) regelt das Thema „Del medio ambiente“ in einem eigenen Abschnitt mit 6 Artikeln und garantiert in Art. 86 Abs. 1 „un desarollo sustenable“. Die neue Verf. Ecuador (2008) schafft besonders viel konstitutionelles Umweltschutzrecht (Präambel, Art. 3 Ziff. 5, 7, Art. 14). Auch die Verf. Bolivien (2007) nimmt sich des Themas an (z. B. Art. 33 und 34, Art. 109 Ziff. 15). Verf. Guatemala (1985 / 97)437 schützt demgegenüber das „Patriomonio natural“ nur in einem einzigen Artikel 64. nach LL. Guerra / L. Aguiar (ed.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1998. auch nach JöR 38 (1989), S. 462 ff. 437  Zit. auch nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. 435  Zit.

436  Zit.



Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht539

Die Verf. Paraguay (1992) nimmt sich in einem eigenen Abschnitt in Gestalt von zwei detaillierten Artikeln des Themas an (Art. 7 bis 8): „De la vida y del ambiente“. Hier wird auch an Entschädigungsfragen gedacht. 2. In Afrika denkt Verf. Sao Tomé und Principe (1990) bei den „Hauptzielen des Staates“ (Art. 10) zuletzt an das „harmonische Gleichgewicht von Natur und Umwelt“. Art. 39 Verf. Uganda (1995) postuliert kühn: „Every Ugandan has a right to a clean and healthy environment“. In der Verf. Südafrika (1997) heißt es nur in Art. 152 Abs. 1 lit. d: „to promote a safe and healthy environment“. Doch ist in lit. b in anderem Kontext von „sustainable manner“ die Rede („services to communities“). Die Verfassung von Kenia (2010) bekennt sich zum Umwelt- und Generationenschutz schon in der Präambel („Environment, which ist our heritage and determined to sustain it for the benefit of future generations“) sowie im Grundrechtsteil (Art. 142). Präambel Verf. Angola von 2010 sieht sich dem „Erbe für die künftigen Generationen“ verpflichtet (s. auch Art. 39: Recht auf Umwelt). 3. In Asien spricht Verf. Philippinen (1986) in Art. II Sect. 16: „The State shall protect and advance the right of the people to a balanced and healthful ecology in accord with the rhythm and harmony of nature“. Die Verf. Thailand (2007) nennt als „basic policy“ in Art. 84 Ziff. 1 das „principle of sustainability“. V. Zwischenergebnis der Bestandsaufnahme So fragmentarisch die Bestandsaufnahme sein mag: einige Zwischenergebnisse lassen sich formulieren. „Nachhaltigkeit“ begegnet verfassungstextlich in großer Vielfalt und in beeindruckender Formenfülle. Gewiss, es handelt sich um relativ neue Verfassungstexte, denn es dauert meist längere Zeit, bis ein Verfassunggeber ein neues Thema fort- bzw. festschreibt. Auch zeigen sich prägnante Unterschiede je nach nationaler Rechtskultur. Auffallend ist, dass sich die schon älteren Verfassungsstaaten wie Italien und Spanien auf der Ebene ihrer gesamtstaatlichen Verfassung des Themas „Nachhaltigkeit“ noch nicht „angenommen“ haben, während sie in ihren Regionalstatuten bereits auf dem Stand der heutigen Entwicklungsstufe des kooperativen Verfassungsstaates sind. Nur die Schweiz ist auf Kantons- wie Βundesebene gleichermaßen auf der Höhe der Zeit – einmal mehr zeigt sich ihr vom Verf. viel beschworener „Werkstattcharakter“. Die europaverfassungsrechtlichen Texte sind vor allem in Gestalt der seinerzeitigen Entwürfe zu einer EU-Verfassung (2002 / 2004) auffallend ergiebig, z. B. der Entwurf J. Leinen: „Raum der Nachhaltigkeit“. Auch wenn der Verfassungsprozess im EU-Europa seit 2007 andere Wege gegangen ist: Da diese Texte nun einmal in der Welt sind, können sie mittelfristig und mittelbar verdeckt gleichwohl normierende Kraft entfalten und Ausstrahlungswirkung zeitigen. Das ist auch für die analysierten Entwürfe zu hoffen. Diese erleichtern es als „platonische Materialien“ auch, die Nachhaltigkeit bzw. ihre Textstufen als werdendes Gemeineuropäisches Verfassungsprinzip auszuweisen. An den Umweltschutz im Vertrag von Lissabon von 2007 (Präambel, Art. 3 Abs. 3 EUV sowie Art. 191 AEUV) sei erinnert.

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5. Kap.: Einzelausprägungen Zweiter Teil Ein Theorierahmen Vorbemerkung

Das ebenso vielfältige wie ertragreiche Material bzw. Textreservoir in Sachen „Nachhaltigkeit“ sei im Folgenden in einen Theorierahmen gestellt. Er mag (wie alle Wissenschaft) vergänglicher sein als die konzentrierten Verfassungstexte, doch ist er um der wissenschaftlich unverzichtbaren Systematisierung willen notwenig. I. Nachhaltigkeit als „werdendes Strukturelement des Verfassungsstaates“ „Nachhaltigkeit“ hat sich in vielen konstitutionellen Texten bzw. Formen nachweisen lassen. Die Zeit ist reif, es als Strukturelement des Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ auf dessen heutiger Entwicklungsstufe zu kennzeichnen. „Nachhaltigkeit“ ist in vielen Beispielsnationen schon selbstständiger Bestandteil der Verfassung, des Selbstverständnisses des jeweiligen politischen Gemeinwesens. Er bringt eine Zeitdimension zum Ausdruck, die der Rechtsstaat nicht kennt, der „nachhaltige Sozialstaat“ (M. Kotzur)438 hat sie längst gewonnen. Die Generationenkette, für die der nationale Verfassungsstaat ein Rahmen ist, ist im Prinzip Nachhaltigkeit in ganz eigener Weise zum Thema gemacht. Nachhaltigkeit steuert die drei Staatsfunktionen, sie wächst aber auch in den ethischen Pflichten-Kanon des einzelnen Βürgers hinein (Stichwort: Erziehungsziel, „Umweltbewusstsein“). Das entwicklungswissenschaft­ liche Verständnis des Verfassungsstaates439 hat im „Prinzip Nachhaltigkeit“ ein reiches neues Anwendungsfeld. Blicken „kulturelles-Erbeklauseln“ nach zurück, so fängt das Prinzip Nachhaltigkeit alle drei Zeiträume ein: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Verfassungsstaat hat als Thema ein neues Aufgabenfeld gewonnen und auch neue Legitimation erreicht, wohl universal. Speziell in Europa und darüber hinaus ist „Nachhaltigkeit“ letztlich eine Gemeinschaftsaufgabe, sie lässt sich nicht nationstaatlich introvertiert lösen. Insofern ist das Prinzip Nachhaltigkeit auch raumgreifend. Beide Dimensionen, Zeit und Raum verbinden sich hier in fast einzigartiger Weise440 – global; die universale Verfassungslehre bleibt gefordert, auch im Völkerrecht. (Arg.: „Erde“). So lässt sich die Nachhaltigkeit gewiss schon heute als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates einordnen. Gewiss, noch keineswegs alle nationalen Verfassungen haben einschlägige Texte. Vermutlich wächst erst nach und nach in der (Verfassungs-)Wirklichkeit heran, was andernwärts schon Text ist. Solche Entwick438  M.

Kotzur, Der nachhaltige Sozialstaat, BayVBl. 2007, S. 257 ff. vom Verf. P. Häberle, Das „Weltbild“ des Verfassungsstaates – eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und „letztem“ Geltungsgrund des Völkerrechts, FS Kriele, 1997, S. 1277 ff. 440  Zu einer kulturwissenschaftlich angereicherten Raum-Theorie: P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 38 ff., 43 ff.; s. auch die Würzburger Festschrift „Raum und Recht“ (2000) und hierzu meine Rezension in AöR 130 (2005), S. 319 ff. 439  Dazu



Inkurs IX: Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht541

lungen sind nicht neu. Viele Verfassungsthemen sind erst nach und nach herangereift, in der Schweiz z. B. als prätorisches Richterrecht des Bundesgerichts so manches „ungeschriebene Grundrecht“ wie etwa die Wissenschaftsfreiheit, heute in der nBV Schweiz, 1999, kodifiziert. Insofern darf man sicherlich schon heute von der „Nachhaltigkeit“ als „werdendes“ oder schon „gewordenem“ Verfassungsprinzip sprechen. An seiner Ausbildung sind letztlich alle in der „offenen Gesellschaft der Verfassunggeber und Verfassungsinterpreten“ beteiligt, auch in Europa. II. Umrisse einer gemeineuropäischen Nachhaltigkeit Hier kann sich der Verf. kurz fassen. Es geht nur darum, die Kriterien des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts (1983 / 1991) in Erinnerung zu rufen und sie für das Prinzip der Nachhaltigkeit fruchtbar zu machen. Dass dabei die Schweiz als alteuropäisches Kernland einbezogen bleibt, liegt auf der Hand. Sie ist ja Mitglied des Europarats im weiteren Sinne der EMRK und der OSZE und hat sich im Übrigen als Pionier in Sachen konstitutionelle Texte zur „Nachhaltigkeit“ erwiesen. Stichworte einer Theorie des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts sind: „Gemeinrecht“ als rechtswissenschaftliche Kategorie, die „Prinzipien-Struktur des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts, die Erarbeitung eines Vorrats an verallgemeinerungsfähigen Verfassungsprinzipien, die zwei Wege der Rechtsgewinnung (der rechtspolitische und der interpretatorische). Bei all dem sind Textelemente bzw. Textbausteine mit Erkenntnissen der Dogmatik (einschließlich der Judikatur) in einer ganzheitlichen Sicht miteinander zu verbinden. Solche Textelemente wurden in der Bestandsaufnahme in großer Zahl zur Sprache gebracht. Als besonders prägnant erweist sich Art. 73 nBV Schweiz (1999): „Nachhaltigkeit Bund und Kantone streben ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits an“. Erinnert sei auch an die Texte zum Generationenschutz. An Erkenntnissen der Dogmatik werden etwa das „Drei-Säulen-Konzept“ im Blick auf Ökologie, Ökonomie und Soziales einschlägig441, ebenso die Ressourcenschonung, die vorausschauende Planung, Pflege und Bewirtschaftung und das Gebot, dass die Abbaurate erneuerbarer Ressourcen nicht die Regenerationsrate übersteigt u. ä.442. Die „Schuldenbremse“, in welcher Form auch immer, ist ebenfalls verfassungspolitisch auf dem Weg, ein Gemeineuropäisches Verfassungsprinzip zu werden. In der Schweiz geboren, heute in das deutsche Grundgesetz übernommen, ist sie auf dem Weg, in manchen deutschen Länderverfassungen und im positiven europäischen Verfassungsrecht rezipiert zu werden (der Fiskalpakt von 2012). Ausblick Der Ausblick muss knapp sein, er lässt sich in Stichworten formulieren. Gerade die Textstufenanalyse, erst recht der hier entworfene Theorierahmen, zeigt, wie unverzichtbar der interdisziplinäre Ansatz ist. Die „Kontextarbeit“, 2001 breit entfalA. Glaser, a. a. O., S.  336 ff. all dem H. Schulze-Fielitz, a. a. O.; R. Schmidt, a. a. O., S.  1086 f.

441  Dazu 442  Zu

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5. Kap.: Einzelausprägungen

tet443, hat sich auch schon bei der Suche nach den der „Nachhaltigkeit“ nahe stehenden Prinzipien als unverzichtbar erwiesen. „Nachhaltigkeit“ begegnet in vielerlei Textgestalt. Die 2000 vom Verf. in seiner Denkschrift für die deutsch-ungarische Universität in Budapest in Angriff genommene Europawissenschaft444 muss sich besonders beim gemeineuropäischen Prinzip der Nachhaltigkeit bewähren. Dabei ist sie als zeitlich und räumlich spezifisch offene Wissenschaft zu konstituieren („offener Verfassungsstaat“, „offene Verfassung“, „offene Verfassungsinterpretation“). M. a. W.: der Blick muss auch in die „Umwelt“ Europas, also nach Asien, Afrika und nach Übersee, vor allem Lateinamerika reichen. „Nachhaltigkeit“ betrifft heute den ganzen Globus. Im Rahmen der Konstitutionalisierung des Völkerrechts und des Konzepts des Völkerrechts als „konstitutionellem Menschheitsrecht“ und „konstitutionellem Grundwert“ des Verfassungsstaates wird „Nachhaltigkeit“ zu einem Schlüsselbegriff. Hier ist die UNO ebenso gefragt wie Staatenverbünde und werdende Verfassungsgemeinschaften auf anderen Kontinenten. So kommen die Horizonte eines Weltverfassungsrechts in Sachen Nachhaltigkeit ins Blickfeld. Dabei hat Nachhaltigkeit als Erziehungsziel in den Schulen zu beginnen, die Schüler müssen sie verinnerlichen, nicht nur um der Utopie ihres Weltbürgertums Tribut zu zollen, sondern um den Alltag zu erreichen und hier zu bestehen: auf der ganzen „Erde“. Gute Verfassungspolitik in Sachen Nachhaltigkeit wäre ein eigenes Thema445. So sehr sie zu jeder Wissenschaft vom Verfassungsstaat und der EU als Verfassungsgemeinschaft mit ihren zahlreichen Teilverfassungen gehört, sie kann hier nur angedeutet werden. Aufgabe wäre es, die Maximen zu entwerfen, die für die relativ beste Textgestalt der Sache „Nachhaltigkeit“ auf den verschiedenen Stufen gelten: auf der kommunalen, regionalen, national-verfassungsstaatlichen, EU- und Weltebene („Umweltvölkerrecht“) zu entwickeln wären. Die Schweiz hat besonders viele gute Vorbilder für konstitutionelle Nachhaltigkeitstexte geschaffen, manche österreichische Bundesländer ebenso. Zu diskutieren wäre auch, an welcher systematischen Stelle und mit welcher normativen Kraft das Problem „Nachhaltigkeit“ zu texten ist: in Präambeln als Direktive und als Erziehungsziel, in Abwägungsklauseln, als 443  Die Verfassung im Kontext, in: D. Thürer u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 17 ff. Material in Art. 113 Verf. Zimbabwe (1979/2007). 444  Vgl. den Abdruck dieser Denkschrift in FS Druey, 2002, S. 115 ff. sowie in JöR 53 (2005), S. 345 ff.; später das Sammelwerk Europawissenschaft, hrsg. von G. F. Schuppert / I. Pernice/U. Haltern, 2005. 445  Viel Beifall verdient der interfraktionelle Gruppenantrag im Deutschen Bundestag: „Generationengerechtigkeit im GG“. An seinen Vorarbeiten in der letzten Wahlperiode des Bundestages war der Verf. auf Bitten von Frau MdB A. Lührmann beteiligt. In der laufenden Wahlperiode (seit 2005) kam es zu folgendem Vorschlag: Art. 20b: „Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künftiger Generationen zu schützen.“ – Neufassung von Art. 109 Abs. 2: „Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, dem Prinzip der Nachhaltigkeit sowie den Interessen der künftigen Generationen Rechnung zu tragen.“ – In Baden-Württemberg plante schon Ministerpräsident G. Oettinger, ein „Verschuldungsverbot in die Verfassung“ aufzunehmen (FAZ vom 18. Juli 2007, S. 4). Konstitutionelles Beispielsmaterial: Art. M Abs. I Verf. Ungarn (2012): „nachhaltige Haushaltswirtschaft“.



XI. Föderalismus und Regionalismus543

Staatsziel, als Grundrecht und als eigener Abschnitt im Umweltschutz in eigenen Kapiteln einer nationalen und europäischen Verfassung. All dies brächte zum Ausdruck, dass von der Theorie her das Denken in den Horizonten des Gemeineuropäi­ schen Verfassungsrechts weiter trägt. Nachhaltigkeit als Menschheitsfrage müsste ihren J. Locke oder Montesquieu noch suchen. Von der Philosophie her hat H. Jonas frühe Klassikertexte geschrieben. Warten wir auf neue Klassikertexte zum Thema. Schon jetzt erweist sich die Nachhaltigkeit als Baustein einer künftigen „universalen Verfassungslehre“ (völkerrechtlich im Anschluss an „Rio +20“ von 2012).

XI. Föderalismus und Regionalismus als territorialer Pluralismus und kulturelle Gewaltenteilung 1. Föderalismus: Der „kulturelle Bundesstaat“ – das kulturwissenschaftliche Bundesstaatsverständnis – die „gemischte“ Bundesstaatslehre – Grundlegung Neben einzelnen „kulturellen“ Grundrechten, neben Erziehungszielen und objektiven Sachbereichsgarantien bzw. speziellen Kulturauftragsklauseln sowie neben dem kommunalen Kulturverfassungsrecht gibt es eine Verfassungsstruktur, die oft als bloßes „Staatsorganisationsprinzip“ verstanden wird, die heute aber ein wesentliches materielles Prinzip der Kulturverfassung bildet: die Bundesstaatlichkeit. Die „gemischte Bundesstaatstheorie“ kann hier nur für die Bundesrepublik Deutschland, seit 1990 für das vereinte Deutschland skizziert werden. Sie ist m. E. auch für die übrigen Bundesstaaten der Welt einschlägig, doch setzt die Beweisführung für diese These eine umfassende Verarbeitung der ausländischen Textstufenvorgänge und -inhalte voraus, die hier nicht einmal im Ansatz möglich ist446. Immerhin hat sich schon bisher zeigen lassen, dass die weltweite „Werkstatt“ in Sachen Bundesstaat bzw. die in ihr ablaufenden Produktions- und Rezeptionsprozesse von den klassischen „Federalist Papers“ („seperative federalism“) bis zum „cooperative federalism“ immer nur Teile, Ausschnitte, Mosaiksteine eines Ganzen betreffen: nie wird das Ganze einer Theorie, eines Modells rezipiert bzw. zu einer wider446  Speziell rechtsvergleichend: C. Starck (Hrsg.), Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, 1988. Einen neuen eigenen Akzent auf vergleichender Basis setzt D. Schindler, Differenzierter Föderalismus, FS Häfelin, 1989, S. 371 ff.; s. noch P. L. Münch, Die Entwicklung des australischen Föderalismus, Der Staat 35 (1996), S. 284 ff.; G. Craven (ed.), Australian Federation, 1992; J. Bröhmer, Grundlegende Entwicklungen des australischen Bundesverfassungsrechts, JöR 60 (2012), S. 689 ff.; P. Pernthaler, Der differenzierte Bundesstaat, 1992; J. Annaheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat, 1992. P. Pernthaler (Hrsg.), Bundesstaatsreform als Instrument der Verwaltungsreform und des europäischen Föderalismus, 1997; F. Palermo, Germania ed Austria: Modelli Federale, 1997.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

spruchsfreien Einheit zusammengefügt, zu vielgestaltig und vielfältig bedingt sind die Austauschverfahren und die einzelnen Nationen. „Reine“ Lehren bilden auch hier weder die ganze Wirklichkeit ab, noch steuern sie diese; aus „einem“ Gedanken gebildete Erklärungsmuster des Föderalismus bringen keinen Erkenntnisgewinn. Aus dieser (vermeintlichen) „Not“, dem Fehlen einer einzig richtigen Bundesstaatstheorie, ist eine „Tugend“ zu machen: die gemischte Bundesstaatslehre. Sie erlaubt Flexibilität und schafft Offenheit für Fortentwicklungen, sie ermöglicht eine pragmatische Integration von Theorieelementen und läuft nicht Gefahr, im Interesse einer Theorie die Wirklichkeit zu vergewaltigen und wissenschaftliche Wahrheitsansprüche durchzusetzen. Sie integriert die Vielfalt des Ringens vieler um den „guten“ Bundesstaat und kann sich vielleicht sogar noch auf das Argumentationspotential der klassischen Lehre von der „gemischten Verfassung“ berufen447. Man mag als „Synkretismus“ schelten, was hier als „gemischte“ Bundesstaatstheorie vorgeschlagen wird. Doch dieser angebliche oder wirkliche Synkretismus ist ins Positive gewendet nur eine Konsequenz der „Verfassung des Pluralismus“. K. Sterns „Pluralität der politischen Leitungsgewalt“ im Bundesstaat vermag eben auch wissenschaftstheoretisch nur durch ein Pluralismus-Modell eingefangen zu werden: die gemischte Bundesstaatslehre kann ein solches sein. Schließlich ist die hier umrissene gemischte Bundesstaatslehre flexibel und offen genug, um Wandlungen in Raum und Zeit einzufangen: im Raum, insofern die verschiedenen nationalen Bundesstaaten die einzelnen Theorieelemente variabel und je ganz individuell kombinieren; in der Zeit, insofern die Verfassungsentwicklung bzw. Textstufengeschichte der einzelnen Bundesstaaten Phasen kennt, in denen bald das eine, bald das andere Theorieelement in den Vordergrund rückt bzw. zurücktritt. Dass die so skizzierte „gemischte“ Bundesstaatslehre dem Gedanken des offenen Kulturkonzeptes entspricht, sei nur angemerkt (1979 / 85). Die Bundesstaatsstruktur ist – im vereinten Deutschland ganz besonders – integraler Bestandteil unseres Verfassungsstaates. Im Rahmen einer vergleichenden Verfassungslehre als juristischer Text- und Kulturwissenschaft liegt es daher nahe, auch bei der Erfassung des Bundesstaates den Akzent auf das Kulturelle zu legen, so wichtig das Wirtschaftliche als Substrat bleibt und so sehr andere Theoriemodelle ihr relatives Recht behalten. Dabei ist sowohl der engere (Erziehung und Bildung, Wissenschaft und Kunst, Denkmalpflege und Medien) als auch der weitere Kulturbegriff (z. B. Volkskunst und Sport) einschlägig448. Und gerade das eminent PragK. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 735 ff. P. Häberle, Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 (20 ff.); s. auch 447  Dazu 448  Dazu



XI. Föderalismus und Regionalismus545

matische jeder Bundesstaatsentwicklung legt theoretisch das Mischmodell nahe. Der Begriff „Kulturföderalismus“ ist ein geglücktes Wort, das für Deutschland historisch wie aktuell treffend die Verknüpfung von Bundesstaat und Kultur schon im Ansatz widerspiegelt. Das „offene Kulturkonzept“, der „kulturelle Trägerpluralismus“449 ist die juristische Verallgemeinerung dieses Gedankens. In sieben prägnanten Stichworten lässt sich mit K. Stern450 die positive Ausprägung des bundesstaatlichen Prinzips im deutschen Grundgesetz kennzeichnen, wobei diese Reihe von „Verfassungsnormen, Grundsätzen und Institutionen“ auf eine „irgendwie geartete Pluralität der politischen Leitungsgewalt“ („two centres of government“) rückführbar ist: (1) Die jeweilige Staatlichkeit von Bund und Ländern, die ihnen einen „eigenen politischen Gestaltungsspielraum“ lässt (vgl. BVerfGE 1, 14 (34); 36, 342 (360 f.)), wobei die Verfassungsräume des Bundes und der Länder einander selbständig gegenüberstehen (BVerfGE 4, 178 (189); 36, 342 (360 f.); vgl. zuletzt E 108, 169 (181 f.); 119, 331 (364 ff.)). (2) Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern als „wichtige Ausformung des bundesstaatlichen Prinzips … und zugleich als ein Element zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung. Sie verteilt politische Macht und setzt ihrer Ausübung einen verfassungsrechtlichen Rahmen“ (BVerfGE 55, 274 (318 f.)). Den Ländern ist nach dem deutschen GG noch verblieben: die Organisation ihres staatlichen Bereichs, das Kommunalwesen, das Polizei- und Ordnungswesen, der kulturelle Bereich (vor allem Schul- und Hochschulwesen) und der Bereich der Planung der eigenen Aufgaben. (3) Als „ungeschriebener Verfassungsgrundsatz“ das bundesfreundliche Verhalten des Bundes gegenüber den Gliedstaaten und der Gliedstaaten gegenüber dem Bund (BVerfGE 1, 299 (315); 8, 122 (138); 12, 205 (254); 31, 314 (354); 34, 9 (20); 43, 291 (348); 61, 149 ( 205); 81, 310 (337); 103, 81; 104, 238), das im Zuge der deutschen Einigung jetzt auch spezifisch zwischen den westdeutschen Ländern und dem Bund gegenüber den ostdeutschen Ländern gelten sollte („fiduziarischer Föderalismus“), unterstützt durch die Garantie der „verfassungsmäßigen U. Steiner, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 7 (8 ff.); D. Grimm, ebd., S. 46 (60 f.). 449  Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt, a. a. O., S. 34 f., 37; ders., Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 14 f. und passim; jetzt umfassend K. Stern, in: ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV / 2, 2011, S. 329 ff. 450  K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S.  667 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Ordnung“ durch den Bund nach Art. 28 Abs. 3 GG (s. auch das „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost“, zuletzt: BVerfGE 92, 203 (230 f.)). (4) Das Homogenitätsprinzip (vgl. Art. 28 Abs. 1 und 3 GG), verstanden als „mittlerer Standard“ an Übereinstimmung sowohl der Glieder untereinander wie der Glieder und des Bundes. Es wird durch Pluralität im Übrigen balanciert und ermöglicht im Grunde erst, den Bundesstaat als ein Stück pluralistischer Gewaltenteilung zu begreifen. (Dass sich in Art. 23 Abs. 1 S. 1 n. F. GG „Struktursicherungsklausel“ eine Art europäisches Homogenitätsprinzip findet, sei angemerkt.) (5) Die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf die Länder (z. B. als Bundesaufsicht oder Bundeszwang), die freilich durch die Einwirkungen der Länder auf den Bund (vgl. den Bundesrat nach Art. 50 GG) ausgeglichen werden. (6) Der Vorrang des (verfassungsmäßigen) Bundesrechts vor Landesrecht (Art. 31 GG). (7) Die Mitwirkung der Länder bei der Bundeswillensbildung451, des Bundesrates als „föderativen Verfassungsorgans“. Diese sieben Elemente sind für den Bundesstaat ganz allgemein typusbestimmend, doch bleiben die nationalen Beispiele höchst variantenreich. Auf gewisse Analogiemöglichkeiten beim „kleineren Bruder“, dem Regionalismus, sei verwiesen. Speziell in Deutschland findet sich eine offene Mischung vom „Separative Federalism“ (Wettbewerbsförderalismus), von „unitarischem Föderalismus“, von „kooperativem Föderalismus“ und von „fiduziarischem Föderalismus“ (im Blick auf Ostdeutschland). Der eigene Theorierahmen des Verf. sei nur noch in Stichworten skizziert, weil wiederholt: Kulturhoheit als „Seele des Föderalismus“452, „gemischte Bundesstaatstheorie“453. Das heißt, es gibt keine einzige richtige, „reine“ Bundesstaatstheorie, vielmehr müssen Elemente vieler föderaler Entwicklungen flexibel zusammengedacht und praktisch zusammengebaut werden: das Element der Trennung (dual federalism, separative federalism, „Wettbewerbsföderalismus“), jetzt wieder in Deutschland, dank der Föderalismusreform von 2006 im Aufwind (z. B. Abschaffung der Rahmengesetzgebung), nachdem der „kooperative Föderalismus“ 1968 seinen Höhepunkt in Deutschland gefunden hatte (Stichwort: Gemeinschaftsaufgaben, Verflechtungen zwischen Bund und Ländern), sodann unitarischer Föderalismus454, K. Stern, a. a. O., Bd.  I, S.  726 ff. auch den Beitrag des Verf.: „Kulturhoheit im Bundesstaat“, AöR 124 (1999), S. 549 ff., Seeon-Tagung zum 50jährigen Jubiläum des Bundesrates. 453  Dazu vom Verf.: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. 1998, S.  776 ff. 451  Vgl. 452  s.



XI. Föderalismus und Regionalismus547

der wohl bis heute in Österreich im Vordergrund steht, in der Schweiz undenkbar ist, und schließlich der „fiduziarische Föderalismus“, d. h. die gesteigerte Solidaritätspflicht von Bund und Ländern auf Zeit (so nach der Vereinigung von 1990 von West nach Ost im Blick auf die Hilfen aller Art für die fünf neuen Bundesländer)455. Aus dieser gemischten, flexiblen Zusammenschau einzelner Elemente war es z. B. töricht, in das GG im Rahmen der Föderalismusreform von 2006 ein generelles Verbot des Kooperationsprinzips verankern zu wollen (etwa für den Hochschul- und Bildungsbereich). Solche „reinen“ Lösungen hätten das subtile Gleichgewicht zwischen verschiedenen Elementen bzw. Dimensionen gestört (zu Recht hatte die SPD widersprochen). Bundesstaatlichkeit ist auch eine „Solidargemeinschaft“ (vgl. nur BVerfGE 101, 158 (221 f.)). Die Veränderung der bisherigen „Gemeinschaftsaufgaben“ (VIIIa) ist tendentiell eine Abkehr vom kooperativen Föderalismus und auf eine Weise eine Rückkehr zum „separative federalism“ (s. aber die Möglichkeit der „Vereinbarungen“ in Art. 91b nF GG). Auch der Streit um die Neugliederung (die der Verf. seit langem ablehnt456), gehört in diesen Zusammenhang457. 454

454  K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 96 ff. – Aus der Lit. jetzt: B. Fassbender, Der offene Bundesstaat, 2007. In der Kommentarliteratur herausragend: H. Bauer, Art. 20 (Bundesstaat), in: H. Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. II., 2. Aufl., 2006, Rd. Nr. 17 bis 45. 455  Zu diesem terminologischen Vorschlag: P. Häberle, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 ff.; ders., Verfassungslehre, a. a. O., S. 790, 796. 456  Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. 1998, S. 797 ff. Zur (zum Glück gescheiterten) Neugliederung Berlin-Brandenburg gleichnamig U. Keunecke, 2001. 457  Aus der grundsätzlichen Bundesstaatsliteratur: vor allem H. Bauer, Bundesstaatstheorie und Grundgesetz, in: Verfassung im Diskurs der Welt, liber amicorum P. Häberle, 2004, S. 645 ff.; aus der älteren Föderalismus-Literatur die Münchner Tagung mit Beiträgen von H. Maier und J. Isensee, AöR 115 (1990), S. 213 ff. bzw. 248 ff.; P. Häberle, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 ff.; ders., Kulturföderalismus in Deutschland, Kulturregionalismus in Europa, FS Fleiner, 2003, S. 61 ff.; S. Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaat, 1998; aus der Handbuchliteratur: M. Jestaedt, Bundesstaat als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 29; J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im GG, HStR, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 126; F. Wittreck, Die Bundestreue, Hdb Föderalismus I, 2011, § 18; aus der Festschriftenliteratur: P. Badura, Die „Kunst der föderalen Form“, in: FS Lerche, 1993, S. 374 ff.; J. Isensee, Der Bundesstaat – Bestand und Entwicklung, FS 50 Jahre BVerfG, 2. Bd., 2001, S. 710 ff.; R. Hrbek, Der deutsche Bundesstaat in der EU, FS Zuleeg, 2005, S. 256 ff. Eine vorzügliche Monographie ist: J. Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002. Aus der Kommentarliteratur: H. Bauer, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Bundesstaat); aus der Dissertationsliteratur: G. Mulert, Die Funktionen zweiter Kammern im Bundesstaat, 2006.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

2. Insbesondere: Altes und Neues zum Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat (1980 / 2012) Vorbemerkung Wenn es einem älteren Autor vergönnt ist458, auf seine alten Thesen zurückzukommen, so gibt es zwei Möglichkeiten: Er kann die 1. Auflage seines Buches vollkommen „neu bearbeiten“, in Text und Fußnoten, er kann sich mit einem „Nachtrag“ bzw. einer neuen „Einleitung“ oder einer Art „Fortschreibung“ in Aufsatzform begnügen. M. E. hat sich „Nachtragsliteratur“ schon mehrfach bewährt, denn sie ermöglicht die etwaigen Pionierleistungen der Erstauflage aus größerer zeitlicher Distanz zu erkennen und bewusst zu machen. Zu „großen“ Themen gibt es ja später meist viel Sekundär-, ja Tertiärliteratur, die die Originalität des ersten Versuches fast „zudecken“. Gewiss darf sich ein Autor nicht selbst überschätzen: er arbeitet in einem vielgliedrigen und vielseitigen großen wissenschaftlichen Generationenvertrag innerhalb des Textstufenparadigmas. Doch muss es auch erlaubt sein, auf die „Urfassung“ eines wissenschaftlichen Werkes zurückzublicken und später einen bloßen „Nachtrag“ zu schreiben, der wo nötig, durchaus selbstkritisch sein darf. Der Verf. entscheidet sich hier für einen Abschnitt als Fortschreibung (2012). „Nachtragsliteratur“ bzw. „Einleitungsliteratur“ kennt in jüngerer Zeit von Seiten älterer Autoren überzeugende Beispiele. So hat P. Lerche sein Grundlagenwerk „Übermaß und Verfassungsrecht“ (1. Aufl. 1961) Jahrzehnte später um einen „Nachtrag“ erweitert (2. Aufl. 1999). So hat H. Hofmann mehrere seiner Monographien in späteren Auflagen (nur) ergänzt459. Auch der Verf. dieser Zeilen wagte mehrfach, eigene Bücher in Nachfolge-Auflagen durch Nachträge „fortzusetzen“. Das gilt etwa für das Buch „Verfassung als öffentlicher Prozess“ (1. Aufl. 1978, 2. Aufl. 1996, 3. Aufl. 1998), die „Kommentierte Verfassungsrechtsprechung“ von 1979, einen Sammelband, in dem fast alle Beiträge durch Nachträge ergänzt wurden, und es gilt für die späteren Arbeiten: „Das Menschenbild im Verfassungsstaat“ (1. Aufl. 1988, 2. Aufl. 2001, 3. Aufl. 2005, 4. Aufl. 2008), die Freiburger Habilitationsschrift „Öffentliches Interesse als juristisches Problem“ (1. Aufl. 1970, 2. Aufl. 2006) und zuletzt die Studie „Der Sonntag als Verfassungsprinzip“ (1. Aufl. 1988, 2. Aufl. 2006) sowie die Monographie: „Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“ (2007), in spanischer Fassung 2012. Im Kleinen kann in solcher „Nachtragsliteratur“ ein Stück Entwicklungs- bzw. Wissenschafts- und Literaturgeschichte (als Inspirationsquelle für konstitutionelle Textstufen) sichtbar werden, wobei das eigene Werk eines Verf. durchaus im Mittelpunkt stehen darf, sofern es am Anfang einen wissenschaftlich schöpferischen Beitrag geleistet haben sollte. Im Ganzen bleibt auch es wohl immer bestenfalls ein Mosaikstein, hier für das große Mosaik der Entwicklungsgeschichte des völkerrechtsoffenen Typus „Verfassungsstaat“ und seiner Textstufen aus Theorien und Praxis. 458  Zum Folgenden, jetzt überarbeitet, gleichnamig: P. Häberle, JöR 57 (2009), S.  301 ff. 459  Vgl. die Schrift Repräsentation, 1. Aufl. 1974, 4. Aufl. 2003 mit einer „neuen Einleitung“ oder sein Buch Legitimität gegen Legalität, 1. Aufl. 1964, 4. Aufl. 2004 mit einer „neuen Einleitung“.



XI. Föderalismus und Regionalismus549

Im Rückblick stellt die Schrift von 1980 den energischen Beginn eines verfassungsvergleichenden Ansatzes dar, der durch Stichworte wie „Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung“ (P. Häberle, „Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 3 GG“, 3. Aufl. 1983, S. 407 ff.), „Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode“ (1989) gekennzeichnet ist460. Diese Fortschreibung von 2012 ringt um den Anschluss an das Thema von 1980, auch wissenschaftsgeschichtlich, was hier punktuell unternommen wird. Erster Teil Rezensions- und Rezeptionsliteratur zum Buch von 1980 I. Rezensionen Die erste Etappe eines wissenschaftlichen Rezeptionsprozesses liegt in aufmerksamen Rezensionen. „Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft“ – so der Titel eines vom Verf. herausgegebenen Buches (1982) – ist für den wissenschaftlichen Diskurs unentbehrlich, so oft es verschlungene Wege, Verzögerungen, Fehlurteile, auch Ungerechtigkeiten oder sonstige Defizite im „Rezensionsgeschäft“ geben mag. Mitunter braucht es einen „langen Atem“. Der Verf. hat Glück gehabt. Seine Studie von 1980 wurde im deutschsprachigen Schrifttum der wissenschaftlichen Zeitschriften sogleich beachtet und fair beurteilt, oft durch namhafte Rezensenten461. Gewiss, die Rezensionsphase ist nur eine erste Etappe, es bedarf der Rezeption durch das spätere Schrifttum möglichst aller Literaturgattungen, damit ein Buch „wirken“ kann. Doch ist sie ein Vehikel im beginnenden Rezeptionsprozess, der oft verschlungene Wege geht, Verzögerungen kennt oder einen langen Atem braucht. II. „Rezeptionen“ Sie können hier nur punktuell nachgezeichnet werden, sie sollen und wollen nur skizzieren, dass und wie das Buch gewirkt hat. Dabei wäre zwischen offenen (erklärten) Rezeptionen und „verdeckten“ (nicht offen gelegten Rezeptionen) zu unterscheiden. Vieles gebührt auch dem sog. „Zeitgeist“: Ein Thema liegt gleichsam „in der Luft“, und spätere Autoren, die sich seiner annehmen, müssen nicht immer „plagiiert“ haben. Das Entweder / Oder von „Post“ oder „Propter“ lässt sich im wissenschaftlichen Prozess (ebensowenig wie in der Kunst) nicht gänzlich klären. Oft herrscht allseitiges Geben und Nehmen, auch wenn man jedem Autor gönnen muss, dass er über einen wissenschaftlichen „Fund“, ein neues eigenes Paradigma zu Recht 460  P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode, JZ 1989, S. 913 ff. (dazu jetzt auch K.-H. Ladeur, Verfassungsfragen der Rundfunkfreiheit im Kleinstaat, LJZ 2006, S. 41 (43)). Vgl. auch den Sammelband des Verf.: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. 461  Vgl. etwa T. Maunz: BayVBl. 1981, S. 157 f.; E. Pappermann, Verwaltungsrundschau 1981, S. 288; H. E. Theis, MDR 1981, S. 702; B.-O. Bryde, AöR 107 (1982), S.  324 f.; H. Stolzlechner, ZÖR 39 (1988), Nr. 2.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

stolz ist – als kleiner Ausgleich für viel Arbeit, Mühe und Verzicht, die dem oft vorausgegangen sind. Hier einige Nachweise: Schon im Vorwort zu „Föderalistische Kulturpolitik“ (1987, S. 7) verweist P. Pernthaler auf den „grundlegenden Beitrag“ des Verf. von 1980 (s. auch ders., ebd. S. 15). H. Stolzlechner spricht in seiner Rezension von 1988 von einer „bahnbrechenden Schrift“462. U. Steiner463 spricht u. a. in Bezug auf die Erstauflage des Buches von 1980 von den Arbeiten P. Häberles, die das Kulturstaatsprinzip dem Interesse der Staatsrechtslehre in den 80er Jahren zuführen sollten. Eine freundliche Würdigung dieses Buches und der langjährigen Bemühungen des Verf. um das Kulturthema ist jetzt K. Stern zu verdanken464. III. Weitere Entwicklungen in Wissenschaft und Politik 1. Die Wissenschaft auf der Suche nach dem Kulturthema Abgesehen von den einschlägigen Versuchen des Verf. seit 1979 / 80 bzw. 1982 und 1998, auch der Sammelband „Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht“ (1982) sei erwähnt, wird in der Erstauflage des Innsbrucker Vortrags 1980 erstmals eine Kulturstaatsklausel für das GG vorgeschlagen (S. 59). Die deutsche Staatsrechtslehre hat sich auf zwei Tagungen auf die „Suche“ begeben: zum einen auf der Kölner Tagung von 1983 mit den Referaten von U. Steiner und D. Grimm (VVDStRL 42 (1984), S. 7 ff.) und jüngst auf der Frankfurter Tagung mit insgesamt 8 Referenten unter dem Oberbegriff „Kultur und Wissenschaft“ (VVDStRL 65 (2006)). Daran sei erinnert und darauf ist vereinzelt zurückzukommen. Die Themenkarriere „Verfassung und Kultur“ ist höchst differenziert, nach und nach haben sich mehrere Autoren in unterschiedlicher Weise daran beteiligt, und der Verf. nimmt dankbar die Wendung von W. Brugger auf, P. Häberle habe die „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ unter dem GG „prominent“ gemacht465. In diesen Kontext darf auch die Monographie von O. Scheytt „Kommunales Kulturrecht“ (2005) gerückt werden, zumal sie allenthalb auf den Arbeiten des Verf. aufbaut und diese weiter entwickelt. Aus Österreich kam in den Jahren nach 1980 viel Unterstützung und Fortführung. Eigens erwähnt sei die Tagung des Innsbrucker Instituts zum Thema „Föderalistische 462  s. auch die nachdrückliche, z. T. ironische Bezugnahme von U. Steiner, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 1 (12 f.). Aus der Sekundärliteratur: M. Naucke, Der Kulturbegriff in der Rechtsprechung des BVerfG, 2000; C. Lewke, Der verfassungsrechtliche Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2007. Aus der Handbuchliteratur: W. Maihofer, Kulturelle Aufgaben des modernen Staates in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 1204 ff. (1204, 1219, 1226, 1235 u. ö.); M. Herdegen, Institute des Verfassungsrecht der Länder, HStR IV, 1990, § 97, S. 507 Anm. 239; E. Denninger, Freiheit der Kunst, HStR VI, 1989, § 146, S. 865 Anm. 85. – Aus der Lexikonliteratur jetzt L. Michael, Art. „Kultur“ in: EvStl. Neuausgabe 2006, Sp. 1353 ff. 463  Kulturpflege, HStR III, 1988, § 86, S. 1237 Anm. 10. 464  K. Stern, Vorbemerkungen, in: ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV / 2, 2012, S. 332, 352. 465  So in AöR 126 (2001), S. 271.



XI. Föderalismus und Regionalismus551

Kulturpolitik“, 1988 als Band 45 im selben Verlag erschienen wie die Erstauflage des Werkes von 1980 (der Verf. selbst hatte eine Teilnahme als Referent seinerzeit leider absagen müssen). Die sog. „Innsbrucker Schule“, verkörpert in den Namen H. R. Klecatsky, P. Pernthaler466, S. Morscher und jetzt P. Bußjäger, hat viel für den österreichischen Föderalismus geleistet, mit Ausstrahlung nach ganz Europa. Dass dabei das Thema „Kultur“ eine zentrale Rolle gewann, liegt auf der Hand. Die Liste der österreichischen Stimmen zu verdankenden Themen in Sachen Föderalismus und Regionalismus ist ebenso reich wie tiefgründig und erfolgreich. Hier eine Auswahl: F. Ermacora kennzeichnet 1976 den Österreichischen Föderalismus mit den Worten „Vom patrimonialen zum kooperativen Bundesstaat“ (Bd. 3 der Innsbrucker Schriftenreihe). Dem folgt das schon klassische Pionierwerk von F. Esterbauer (Hrsg.), „Regionalismus“, von 1978. 1991 verbünden sich P. Pernthaler und F. Esterbauer zu dem Werk „Europäischer Regionalismus am Wendepunkt“, eine rechtsvergleichend angelegte Studie. 1992 sucht P. Pernthaler (Hrsg.), „Neue Wege der Föderalismusreform“ mit österreichischen Autoren; 1990 lässt er ebenfalls mit österreichischen Autoren die „Auswirkungen des EU-Rechts auf die Länder“ untersuchen. 1992 hatte derselbe P. Pernthaler die These vom „differenzierten Bundesstaat“ gewagt (ebenfalls in der Innsbrucker Reihe) – der Verf. argumentierte immer wieder gegen sie, übernahm sie aber für den Regionalismus („differenzierter Regionalismus“)467. In den letzten Jahren seien die Anstöße vermerkt, die P. Bußjäger als Mitherausgeber zu verdanken sind: „Ökonomische Aspekte des Föderalismus“, zusammen mit P. Pern­ thaler, 2001, „Subsidiarität anwenden: Regionen, Staaten Europäischer Union“, 2006 (zusammen mit A. Gamper), sowie „Grundlagen und Entwicklungen der bundesstaatlichen Instrumente in Österreich“ (zusammen mit D. Larch, 2005). P. Bußjäger wagte auch 2005 die Schrift „Klippen einer Föderalismusreform – Die Inszenierung Österreich-Konvent zwischen Innovationsresistenz und Neojosephinismus“; 2006 erschien, herausgegeben von ihm u. a.: „Kooperativer Föderalismus im Kontext der Europäischen Integration“ sowie „Homogenität und Differenz“. 2. Die (deutsche) Politik auf dem Weg zur Kultur als Verfassungsthema Hier sind mehrere, von der Wissenschaft tatkräftig begleitete oder gar angestossene Vorgänge zu nennen. Zum einen die sog. „Denninger-Kommission“ von 1983, die sich mit der Frage beschäftigte, wie die Kultur ins GG aufgenommen werden sollte468. Zum anderen die immer wieder diskutierte Frage, ob und in welcher Gestalt 466  Vgl. die Festschriften für manche „Innsbrucker“: H. R. Klecatsky (1990, 2010), P. Pernthaler (2005). Höchst föderlich war das Passauer Staatsrechtslehrerreferat von B.-C. Funk, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1986), S. 57 ff. 467  Zuletzt P. Häberle, Föderalismus  / Regionalismus …, JöR 54 (2006), S. 569 (570 f.). 468  Dazu der Bericht dieser Sachverständigen-Kommission („Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge“; s. auch den Beitrag von T. Oppermann, Ergänzung des GG um eine Kultur(staats)klausel?, in FS Bachof, 1984, S. 3 ff., vorausgegangen war sein Pionierwerk „Kulturverwaltungsrecht“ von 1969. Aus der Lit. zuletzt: M. Kloepfer, Staatsziel Kultur?, FS Mußgnug, 2005, S. 3 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

eine Kulturstaatsklausel doch in das GG aufgenommen werden sollte (dazu der erwähnte Vorschlag des Verf. in der Erstauflage 1980, S. 59), zuletzt unter der rot-grünen Koalition in Berlin bis 2005 aus der Mitte des Deutschen Bundestages, verbunden mit einer Anhörung von Sachverständigen (z. B. M.-E. Geis, F. Hufen u. a.), an der der Verf. dieser Zeilen schriftlich teilnahm, abgedruckt in BT K Drs. 15 / 165 (2004). Das allgemeine Pro und Kontra sei hier nicht wiederholt, vielmehr sei der damalige Beitrag des Verf., hier nur in den Fußnoten aktualisiert, wie folgt integriert: a)  Votiert sei für eine Verankerung von Kultur als „Staatsziel“ im GG, weil damit zum einen der allgemeine theoretische Zusammenhang von Verfassung und Kultur bzw. Recht und Kultur positivrechtlich zum Ausdruck käme469, zum anderen, weil eine weitere Etappe auf dem langen Weg der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema zurückgelegt würde (von dem Vorschlag von 1980: P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, S. 59, bis zur sog. „Staatszielekommission“ von 1983, Bericht, S. 104 ff.) und schließlich weil eine verfassungsvergleichende Umschau ergibt, dass sich viele neuere Verfassungen des Kulturthemas intensiv und extensiv annehmen (z. B. Schweizer Bundesverfassung von 1999: Art. 2 Abs. 2, 69; Verf. Polen von 1997: Art. 6; zuletzt Verfassungsentwurf Peru von 2002: Vortitel III, VIII und Art. 7 und 8). Der Vorschlag des Verf. zu Art. 28 GG (Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 59) lautete: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne der Bundesverfassung und dem Kulturstaatsprinzip entsprechen.“ Die Staatszielekommission (1983, S. 106), schlug folgende Variante vor: „Art. 20 Abs. 1: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Sie schützt und pflegt die Kultur und die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen.“ „Art. 28 Abs. 1 Satz 1: Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes und der Verantwortung des Staates für Kultur und natürliche Umwelt entsprechen.“ Zuletzt hat Bundespräsident J. Rau kurz vor dem Ende seiner Amtszeit im Frühjahr 2004 für eine Verankerung von Kultur als einer Pflichtaufgabe auf allen staatlichen Ebenen gestritten. b)  Folgende Argumente sprechen für eine „Kulturstaatsklausel“ (besser: kulturverfassungsrechtliche Norm oder „Kulturklausel“) im GG: aa) der Gegenakzent, der damit gegen die alle Lebensbereiche durchdringende zeitgeistkonforme Ökonomisierung und die Verabsolutierung des „Marktes“ (bis in die Universitäten hinein) gesetzt würde, obwohl dieser doch nur instrumentale (!) 469  s. auch die 1979 bzw. 1982 vom Verf. vorgeschlagenen Begriffe „Grundrechtskultur“ bzw. „Verfassungskultur“: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 88 ff. bzw. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, S. 20 ff. Im Übrigen: P. Häberle, Verfassung als Kultur, JöR 49 (2001), S. 125 ff.



XI. Föderalismus und Regionalismus553

Bedeutung besitzt, eine dadurch eröffnete Balancierung gegenüber der allgegenwärtigen „Globalisierung“ („Weltmarkt“), da der Mensch und Bürger buchstäblich ins Bodenlose stürzt, könnte er nicht in der kulturellen Heimat „vor Ort“ im Kleinen (kommunal, regional, national, europäisch) ein Stück eigener Identität aus Kultur gewinnen, die Bewusstmachung des Brückenschlags zur Europäisierung, da im Europäischen Verfassungsrecht zum einen ein Kulturartikel normiert ist (vgl. z. B. Art. 151 EGV bzw. Art. III-181 Brüsseler EU-Verfassungsentwurf 2004: „kulturelles Erbe“, s. auch Präambel, ebd., Art. II-22: „Vielfalt der Kultur“), zum anderen das Bewusstsein für die mehrfach geschützte nationale Identität – aus Kultur – wächst (Stichwort: „Echo“ im GG auf das Europäische Kulturverfassungsrecht, dank einer Kulturklausel!). bb) Gegenargumente bzw. Gefahren sind beim Namen zu nennen: Entstehen könnte ein „zentralistischer Sog“, der das sensible, labile bundesstaatliche Gefüge aus der Balance bringt und vergessen lässt, dass „deutsche Freiheit föderative Freiheit“ ist (trotz „Hauptstadtkultur“, trotz des „Kulturstaatsministers“ des Bundes, trotz Kulturstiftung des Bundes, trotz „Blauer Liste“ müssen die Kompetenzen des Bundes in Sachen Kultur punktueller Natur bleiben470). Offene und schleichende Erosionen der Kulturhoheit der Bundesländer, die eben nicht bloße „Verfassungsfolklore“ ist, wie ein früherer (irrender) Kulturbeauftragter entgegen dem Grundwissen von Jurastudenten bereits des ersten Semesters verkündete471, sondern zur „Seele“ des deutschen Bundesstaates gehört. Letztes Gegenargument: Die Verfassung darf nicht mit zu vielen Staatszielen überfrachtet werden: die Staatsorgane verlören Gestaltungsfreiheit, die Verfassungstexte verlören Lesbarkeit und „Bürgernähe“. (Darum muss die Kulturklausel sprachlich prägnant sein.) c) Die systematische Platzierung einer kulturverfassungsrechtlichen Norm im GG bzw. einer Kulturstaatsklausel könnte auch gemäß älteren Vorschlägen im Kontext des Art. 20 bzw. 20 a als neuer 20 b erfolgen oder nur im Kontext der Homogenitätsklausel des Art. 28 GG. Zu erwägen wäre folgende neue Textfassung: „Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich nach Maßgabe der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung zu ihrem kulturellen Erbe und ihrer Verantwortung für eine vielgestaltige kulturelle Zukunft (sc. auch auf der Ebene der Kommunen“). Damit wäre (altmodisch gesprochen) die „Kulturnation Deutschland“ – als gegliederte – erkennbar und erfahrbar. d) Die gedankliche Einordnung einer Kulturverfassungsnorm im GG hätte Folgendes zu erwägen: aa) Historisch könnte ein Entwicklungsprozess abgerundet werden, der durch die Wissenschaft seit 27 Jahren vorgezeichnet wurde. Erinnert sei auch an die ausdrucksstarke Kulturklausel im Einigungsvertrag von 1990, die damit auf eine Weise „fortgeschrieben“ würde472: 470  Dazu P. Häberle, Kulturhoheit im Bundesstaat – Entwicklungen und Perspektiven, AöR 124 (1999), S. 545 ff. 471  s. schon meine Kritik in FAZ vom 31. August 2002, S. 36: „Provinziell ist nur der Bundeskulturminister.“ Zuletzt ders., Die deutsche Universität darf nicht sterben, JZ 2007, S. 183 f. 472  Dazu auch JöR 40 (1991 / 1992), S. 291 (317 ff.).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Art. 35 Einigungsvertrag 1990 lautet: „Art. 35: Kultur: (1) In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab …“ bb) Systematisch könnte die neue Verfassungsnorm Folgendes leisten: –– Die Menschenwürde als oberster Grundwert des GG und Basisnorm der meisten Grundrechte würde von der Kultur her „kontextualisiert“: „Würde“ findet der Mensch und Bürger aus Kultur, auch wenn er sie „von Natur“ aus besitzt (A. Gehlens „Zurück zur Kultur“). H. Hoffmanns „Kultur für alle“ und J. Beuys’ „Jeder Mensch ein Künstler“ (freilich ist nicht jeder ein Beuys!) bleiben provozierende Klassikertexte. –– Im Verhältnis zu den Grundrechten würde auf der abstrakten Ebene bewusst, dass alle grundrechtliche Freiheit im tiefsten kulturelle Freiheit ist473; sie lebt aus kulturellen Kontexten, die für den jungen Menschen im gemeindeutschen Kanon der Erziehungsziele von Art. 28 Verf. Brandenburg bis Art. 131 Verf. Bayern angedeutet sind (und zu der bald die „Generationengerechtigkeit“ hinzutreten sollte). Auf der konkreten Ebene könnte eine Kulturklausel eine Legitimierung und Verstärkung von Grundrechten bewirken, etwa im Bildungs- und Ausbildungsbereich (Teilhabedimension kultureller Grundrechte); auch könnte der Brückenschlag zu europäischen kulturellen Grundrechten etwa in der EU-Grundrechtecharta gelingen (vgl. Art. 25: kulturelles Teilhaberecht älterer Menschen; Art. 14: Recht auf Bildung). –– Das Verhältnis zur Kompetenzverteilung Bund  /  Länder bleibt – wie immer im Bundesstaat – prekär, sensibel und heikel; nur die bisher als „ungeschrieben“ gedachten punktuellen Kompetenzen des Bundes würden jetzt „geschrieben“ bzw. abgedeckt, eine Kompetenzverschiebung darf durch die neue Klausel auf keinen Fall eingeleitet werden. –– Im Verhältnis zu den Gemeinden ist an ihr „kommunales Kulturverfassungsrecht“474 zu erinnern. Sie wurde auch in Verfassungsnormen der neuen Bundesländer be473  P. Häberle, Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982 (S. 34  ff., 42 ff. u. ö.); s. auch D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 46 (64, 67). – Aus der allgemeinen Literatur: U. Steiner, Kulturpflege, HStR, Bd. III, 1988, § 86; E. Denninger, Freiheit der Kunst, HStR, Bd. VI, 1989, § 146, S. 869: „Kulturföderalismus als Verfassungsgebot“; U. Volkmann, Kultur im Verfassungsstaat, DVBl. 2005, S. 1061 ff.; K.-P. Sommermann, Kultur im Verfassungsstaat, VVDStRL 65 (2006), S. 7 ff.; A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004; M. Haag, Kulturgüterschutz, JöR 54 (2006), S. 95 ff.; K. Stern, a. a. O.; U. Steiner, Neue Entwicklungen des Kulturverfassungsrechts, FS Starck, 2007, S. 449 ff.; C. Beissel, Deutscher Kulturföderalismus, …, 2012. 474  P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 21 ff., im Blick auf Art. 83 Abs. 1 Verf. Bayern („örtliche Kulturpflege“).



XI. Föderalismus und Regionalismus555 kräftigt (vgl. etwa Art. 16 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, Art. 29, 30, i. V. m. Art. 91 Verf. Thüringen). Kommunen leben nicht zuletzt aus ihrem kulturellen Selbstverständnis. Eine Verankerung der Kulturklausel bei Art. 28 GG könnte dies unterstreichen. Erinnert sei an die europäische Dimension, etwa den Klassikertext von A. Gasser: Gemeindefreiheit in Europa (1946), die Charta zur kommunalen Selbstverwaltung des Europarates (1985) und die These von den Kommunen als alteuropäischer „Verfassungsform“. Der Kulturabbau gerade in den Gemeinden vor Ort, mit dem neuen Konnexitätsprinzip bzw. dem kommunalen Finanzausgleich (z. B. in Bayern: Art. 83 Abs. 3 Verf Bayern) nur unzureichend eingedämmt, muss ein Ende haben. Die „Selbstdefinition“ besonders des Kulturauftrags der Gemeinden sollte auch dadurch gestärkt werden, dass man die etwaige Kulturklausel entsprechend fasst („auch auf der Ebene der Kommunen“).

–– Im Rahmen der Gewaltenteilung ist zu bedenken, dass keine Gewaltenverschiebung zum Nachteil des autonomen Kulturauftrags von Ländern und Kommunen eintritt, dabei hilft die Erinnerung an den „kulturellen Trägerpluralismus“475, wie er in Verf. Baden-Württemberg von 1953 angedeutet ist (Art. 12 Abs. 2), theoretisch hilft die Vergegenwärtigung der Lehre vom „pluralen“ und „offenen“ Kulturkonzept (des Verf.). –– Das Verhältnis zu Landesverfassungen und Landesgesetzen ist nach Maßgabe des GG zu bewahren. cc)  Es sei erlaubt, noch einen Punkt zu ergänzen: Bei allen „neuen“ Normen, die für eine nationalstaatliche Verfassung heute erwogen werden, ist (auch systematisch) von vornherein die verfassungsvergleichende und europäische Dimension mitzubedenken – Stichwort von 1989: Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode (seit den vier von F. C. von Savigny 1840 auf den Punkt gebrachten) bzw. die schöpferische Kraft der Rechtsvergleichung als Motor der Verfassungspolitik. Auf dem heutigen Entwicklungsstand verfassungsstaatlicher Verfassungen sind eine allgemeine oder mehrere spezielle Kulturklauseln im Vordringen (vgl. schon oben und Art. 73 bis 79 Verf. Portugal, Kap. 1 § 2 Abs. 2 und 4 Verf. Schweden, Kap. 2 Nr. 29 bis 31 Verf. Südafrika). Gerade in der „Werkstatt Bundesstaat“ lassen sich regional und universal weitgehende Produktions- und aktive Rezeptionsprozesse in Sachen Verfassungstexte, Theorien und Rechtsprechung beobachten und weiterführen. Das GG gewönne Anschluss an „kongeniale“ Entwicklungen in anderen Verfassungsstaaten und schlösse zum Kulturverfassungsrecht der EU als Europa im engeren Sinne (dazu meine Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 489 ff.) und zum Europa im weiteren Sinne (im Blick auf Europarat, auf Europäische Kulturabkommen von 1954, Art. 2 EMRK-Zusatzprotokoll von 1952, Recht auf Bildung) auf. e) „Kulturpflege“ muss teils freiwillige, teils verpflichtende Aufgabe sein bzw. bleiben: diese z. B. in Gestalt der Aufträge in Sachen Schule nach Art. 7 GG, jene etwa in Form der Kulturstiftungen des Bundes und der Länder. Der Gedanke der (kulturellen) „Grundversorgung“ stammt vom BVerfG; er wurde für das öffentlichrechtliche Fernsehen und den Rundfunk entwickelt und geht auf den damaligen Berichterstatter K. Hesse zurück (E 73, 118 (157 f.)). „Kulturelle Grundversorgung“ sollte als Rechtsfigur verallgemeinert und in den Aufgabenbereich von Bund und 475  P.

Häberle, Kulturpolitik, a. a. O., S. 22, 34 f.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Ländern differenziert übertragen werden. Sie wäre gerade eine Folge einer neuen Kulturklausel im GG. Kritisch sei angemerkt, dass die viel zitierte „Selbst-Kommerzialisierung“ der öffentlichrechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten ein leider wahres Stichwort ist, das von den eingangs erwähnten Gefahren aus Kommerz, Markt und manchen Medien her droht und durch eine Kultur(bewahrungs- und -förderungs)klausel fragwürdig gemacht bzw. konterkariert werden könnte. „Offen sein“ für Kultur (vgl. Präambel Verfassungsentwurf der EU von 2004) ist auch eine Devise für die Bundesrepublik Deutschland im „Inneren“. f) Einige rechtliche Wirkungen einer Kulturklausel wurden bereits angedeutet. Ergänzend sei auf die dirigierende Kraft einer solchen Klausel im Blick auf die Räume der Gestaltungsfreiheit von Gesetzgeber und Verwaltung (Ermessensbereich!), aber auch in Abwägungsprozessen der Judikative verwiesen. Eine begrenzte Parallele zu Art. 20 a GG liegt nahe. Auch nur programmatische Wirkungen, die man sich von einer Kulturklausel versprechen dürfte, sollten nicht gering geschätzt werden. Rechtspolitisch könnte sich m. E. die Vorbildwirkung der „kulturellen Ausnahme“ i. S. Frankreichs (soeben auch von der UNO gut geheißen476: FAZ vom 22. Juli 2004, S. 34) verstärken. Vor allem aber ist an mögliche „pädagogische“, symbolische Wirkungen zu erinnern: Das allgemeine Bewusstsein für die Hochwertigkeit der Sache Kultur in Deutschland könnte bei allen an der Fortentwicklung des GG Beteiligten verstärkt werden: von den Staats- bzw. Verfassungsorganen über die Medien bis zu den Bürgern. „Volkspädagogik“ ist auch im freiheitlichen Verfassungsstaat erlaubt, ja geboten (evident in der Präambel). Eine Kulturklausel könnte ihr dienen, zumal im Kontext der Europäischen Rechts- und Verfassungskultur. Die „nationale Identität“ Deutschlands i. S. von Art. 6 Abs. 3 EUV bzw. der neuen Normen des Brüsseler EU-Verfassungsentwurfs (vgl. Art. I-5 Abs. 1 EU-Verfassungsentwurf vom Juni 2004) würde als das begriffen, was sie letzlich ist – und sein kann: als kulturelle Identität477. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ hat in ihrem „Zwischenbericht“ vom 1. Juni 2005 (BT-Drs. 15 / 5560, 15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages) folgende Klausel (Art. 20 b GG) vorgeschlagen: „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ (ebd., S. 2, 12). Das ist m. E. zu wenig und zu undifferenziert.

476  Zur „kulturellen Ausnahme“: K.-P. Sommermann, Kultur im Verfassungsstaat, VVDStRL 65 (2006), S. 7 (31 ff.). 477  In den Verfassungsverträgen von Lissabon (2007) taucht die „Sache Kultur“ vielfältig auf: in der Präambel EUV („kulturelles Erbe Europas“), in Art. 3 ebd., sowie in Art. 167 AEUV („Kultur“).



XI. Föderalismus und Regionalismus557 Zweiter Teil Neues Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat Schweiz I. Die Kantonsebene 1. „Werkstatt Schweiz“

Das Wort „Werkstatt Schweiz“ in Sachen Verfassungsstaat478 hat sich von den 60er Jahren an bis heute bewahrheitet. Es waren und sind vor allem Impulse von den Totalrevisionen der Kantone her, die Neues wagen und sich gegenseitig, aber auch die Bundesebene befruchten. Das gilt für viele Verfassungsthemen unserer Zeit, etwa im Grundrechtsbereich, für Ausprägungen der Subsidiarität, in den Staatszielekatalogen und beim Umweltschutz, auch Tierschutz bis hin zum Generationenschutz. (Vor allem die Präambeln sind höchst innovativ.) Besonders vielfältig und einfallsreich sind die Schweizer Verfassunggeber aber vor allem bei den Normenensembles und Themengruppen, die die „Sache Kultur“ betreffen. Fast ist man versucht, von einer reichen „verfassungstextlichen Kulturlandschaft“ zu sprechen. 2. Kulturverfassungsrecht Arbeitet man, wenn auch nur in Auswahl, die kulturverfassungsrechtlichen Themen und Artikel neuerer Schweizer Kantonsverfassungen systematisch auf, so wird man an vielen „Stellen“ einer verfassungsstaatlichen Verfassung als Typus fündig: wobei mit den ersten totalrevisierten Verfassungen Ende der 60er Jahre bis hin zu den jüngsten (u. a. Zürich, Basel-Stadt, Appenzell-A.Rh., St. Gallen, Fribourg, Graubünden und dem Luzerner Entwurf von 2005) gearbeitet sei. Die Sache Kultur zeigt sich: –– Oft schon bei den Präambeln (z. B. VE Luzern von 2005: „Verantwortung vor Gott“); KV Graubünden von 2003: Förderung der „Dreisprachigkeit und der kulturellen Vielfalt“; KV Zürich von 2005: „weltoffener, wirtschaftlicher, kulturell und sozial starker Gliedstaat“; KV Fribourg von 2005: „kulturelle Vielfalt“; KV Aargau von 1980: „Die Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft 478  Vgl. P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 313  ff.; ders., „Werkstatt Schweiz“, Verfassungspolitik im Blick auf das künftige Gesamteuropa, JöR 40 (1991 / 92), S. 167 ff.; ders., Die Kunst der kantonalen Verfassunggebung, JöR 47 (1999), S. 149 ff. (jeweils mit Textanhängen). Aus der Schweizer Lit.: R. Rhinow, Die Bundesverfassung 2000, 2000; B. Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Die Schweizer Bundesverfassung, Kommentar, 2000 (2. Aufl. 2007); R. J. Schweizer, Die Schweizer Kantone vor den europäischen Herausforderungen, JöR 40 (1991 / 92), S. 66 ff.; U. Häfelin / W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 6. Aufl. 2005, S. 265 ff.; G. Biaggini, Föderalismus im Wandel: das Beispiel des schweizerischen Bundesstaates, ZÖR 57 (2002), S. 359 ff. Die jüngsten Kantonsverfassungen sind dokumentiert in JöR 56 (2008), S. 305 ff.; R. Rhinow / M. Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 35, 123. Aus deutscher Sicht zuletzt: A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 381 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

und Umwelt“; KV Tessin von 1997: historische Verpflichtung, „in der Schweizerischen Eidgenossenschaft die italienische Kultur zu vertreten“; KV Waadt: „Création comme berceau des générations à venir“; KV Neuenburg von 2000: „respectueux de la diversité des cultures et des régions“. –– Bei den Staatszielen und Staatsaufgaben (z. B. § 10 VE Luzern: Bildung, Kultur; § 17 KV Basel-Stadt von 2005: „Grundsätze der Bildung und Erziehung“, § 21 f.: Berufs- und Erwachsenenbildung, § 35 Abs. 1 (Kultur): „Der Staat fördert das kulturelle Schaffen, die kulturelle Vermittlung und den kulturellen Austausch“; Art. 89–91 KV Graubünden: Bildung, Kultur, Freizeitgestaltung und Sport; Art. 88–92 KV Schaffhausen von 2002: Bildung, Kultur, Heimatschutz, Freizeit; Art. 119 bis 121 KV Zürich: Förderung von Hochschulen, Berufsbildung, Erwachsenenbildung, Kultur, Kunst und Sport; Art. 87 KV Fribourg: Kultur; § 32 KV Aargau von 1980: „Kulturpflege“). All dies ist vorbildlich. –– Bei den Grundrechtsgarantien (z. B. § 11 KV Basel-Stadt von 2005: „Recht auf Bildung“, Freiheit der Kunst und Wissenschaft; § 15 KV Aargau von 1980: Wissenschafts- und Kunstfreiheit; Art. 12 KV Schaffhausen von 2002: Freiheit von Unterricht, Forschung sowie im künstlerischen Bereich; Art. 14 und 15 KV Zürich: Recht auf Bildung, Schulfreiheit; Art. 156 Abs. 1 KV Fribourg: Anerkennung der „gesellschaftlichen Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften“; Art. 12 KV Tessin von 1997: Pflicht von Jedermann, „das Recht der künftigen Generationen auf Selbstbestimmung zu schützen“; Art. 24 KV Neuenburg: Grundrecht der Sprachenfreiheit; Art. 21 und 22 KV Bern von 1993: Unterrichts-, Forschungs- sowie „Freiheit des künstlerischen Ausdrucks“ (ähnlich Art. 13 und 14 KV Appenzell-A. Rh. von 1995). All dies ist hochdifferenziertes Kulturrecht. –– Bei Erziehungs- und Bildungszielen (z. B. Art. 36 KV Appenzell-A.Rh. von 1995; § 13 Verf. Basel-Stadt). –– Schließlich in sonstigen Themenfeldern (z. B. Art. 36 Abs. 1 KV Fribourg von 2004: Zweisprachigkeit als „wesentlicher Bestandteil der Identität des Kantons und seiner Hauptstadt“; Art. 47 KV Bern (Sonntagsruhe), Art. 48 Abs. 4 ebd.: „kulturelle Vielfalt des Kantons“). Schon diese Texte zeigen, wie sehr die Schweiz ihren Föderalismus als Kulturföderalismus lebt, d. h. aus der kulturell begründeten Eigenständigkeit ihrer Länder gedeihen lässt. Eine kulturelle Bundesstaatstheorie, wie sie der Verf. seit Jahren unternimmt479, legitimiert sich besonders gut aus der Schweiz. Nimmt man die sog. „Privatentwürfe“ hinzu (auf Kantonsebene etwa T. Jaag / A. Kölz, 1993480, auf Bundesebene den schon klassischen von A. Kölz / Müller (1. Aufl. 1984, 3. Aufl. 1995)481), so ergibt sich ein ungemein reiches Gesamtbild in Sachen Kulturverfassungsrecht. Es bedarf der Ergänzung durch einen Blick auf die Bundesebene. 479  Vgl. vom Verf.: Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; sowie ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1.  Aufl. 1982, S. 68  f., 2.  Aufl. 1998, S.  776 ff. 480  Vgl. JöR 47 (1999), S. 239 ff. 481  JöR 47 (1999), S.  323  ff.; P. Häberle, Der „private“ Verfassungsentwurf A. Kölz / J. P. Müller (1984), ZSR 104 I (1985), S. 353 ff.



XI. Föderalismus und Regionalismus559 II. Die Bundesebene

1. Hier ist zum einen der Entwurf einer Totalrevision aus dem Jahre 1977 zu erwähnen482, er hat manche Kulturklauselbezüge483, zum anderen die neue Bundesverfassung von 1999. Sie ergibt folgendes Bild: Art. 69 Abs. 1 nBV sagt lapidar: „Für den Bereich der Kultur sind die Kantone zuständig“. Abs. 2 ebd. erlaubt dem Bund die Förderung „kultureller Bestrebungen von gesamtschweizerischem Interesse“. Art. 41 Abs. 1 lit. g nBV erlaubt Bund und Kantonen, Kinder und Jugendliche „in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Integration“ zu unterstützen. Auf einzelne punktuelle Kulturkompetenzen des Bundes (Art. 71 Abs. 1: „Filmkultur“, Art. 64 Abs. 1 Förderung der wissenschaftlichen Forschung), sei verwiesen (s. auch Art. 68 Abs. 1: Förderung des Sports). 2. Im Ganzen sind die kulturverfassungsrechtlichen Artikel auf Bundesebene so redigiert, dass für die Kulturhoheit der Kantone genügend Raum bleibt. Nur sehr punktuell nimmt sich der Bund der Sache Kultur an. Das entspricht auch dem Schweizer Selbstverständnis und zeigt einmal mehr, dass im Vergleich nicht nur der deutschsprachigen Länder die Schweiz ihren Föderalismus wohl am stärksten von den Kantonen bzw. Ländern her lebt und weltweit modellhaft ist. Dritter Teil Neues Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat Deutschland Entwicklungen vor 1989, die nur punktueller Natur sind, und solche die nach der deutschen Einigung 1990 geglückt sind (d. h. jene vor allem vor der Entstehung der fünf neuen Bundesländer), müssen unterschieden werden. I. Neues Kulturverfassungsrecht auf Länderebene vor 1989 Eine erste Stelle gebührt der neuen Fassung der Kulturstaatsklausel in Art. 3 Verf. Bayern von 1984. Abs. 2 lautet: „Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung“. Die Bayerische Verfassungsrevisionen haben auch den Katalog der Erziehungsziele484 angereichert (Art. 131 Abs. 2: „Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt“). Die Verfassung von Schleswig-Holstein vom 13. Juni 1990 enthält neues Kulturverfassungsrecht z. B. in Art. 5 Abs. 2 („kulturelle Eigenständigkeit nationaler Minderheiten und Volksgruppen“).

482  Abgedruckt

in JöR 34 (1985), S. 536 ff. Präambel, Art. 2 Abs. 7, Art. 14, Art. 36, Art 51 Abs. 1 lit. d (Hauptverantwortung der Kantone für Schule und Bildung), Art. 52 (Kulturförderung). 484  Allgemein dazu: P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 483  Z. B.:

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5. Kap.: Einzelausprägungen II. Neues Kulturverfassungsrecht auf Bundesebene im Zuge der deutschen Wiedervereinigung (1990)

Dem Einigungsvertrag (vom 31. August 1990) ist hier ein vorzüglicher Artikel als Kulturstaatsklausel geglückt. Er sei hier bewusst wiederholt und lautet: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab. Vorrangiges Ziel der Auswärtigen Kulturpolitik ist der Kulturaustausch auf der Grundlage partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Die kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genanten Gebiet darf keinen Schaden nehmen. Die Erfüllung der kulturellen Aufgaben einschließlich ihrer Finanzierung ist zu sichern, wobei Schutz und Förderung von Kultur und Kunst den neuen Ländern und Kommunen entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes obliegen.“ III. Neues Kulturverfassungsrecht in den fünf neuen Bundesländern Da schon vor der Schaffung neuer Länder deren Identität unmittelbar nach dem Fall der Mauer (1989) wieder zu erwachen begann – die Thüringer, Sachsen, Brandenburger etc. entdeckten ihre wiedergewonnene Identität aus ihrer Kulturgeschichte (z. B. konnte man auf Reisen schon 1990 Landesflaggen sehen)485 –, war zu erwarten, dass auch die fünf Verfassunggeber der (eigenen) Kultur einen hohen Rang in den vielen Verfassungsentwürfen und endgültigen Verfassungen einräumen würden. Nur vereinzelt sei der Reichtum der kulturbezogenen Textentwürfe in die folgende Systematisierung einbezogen. Genügen muss im Folgenden die typologische Aufbereitung des ostdeutschen neuen positiven Kulturverfassungsrechts. Wir finden die „Sache Kultur“ in folgenden Normenensembles und Textgruppen: –– in Präambeln (z. B. Sachsen von 1992: „Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte“; Sachsen-Anhalt von 1992: „Verantwortung vor Gott“ (ebenso Verf. Thüringen von 1993); Mecklenburg-Vorpommern von 1993: „Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen“); 485  Zu diesen Entwicklungen: P. Häberle, Das Problem des Kulturstaates im Prozess der deutschen Einigung – Defizite, Versäumnisse, Chancen, Aufgaben, in: JöR 40 (1991 / 1992), S. 291 ff.; ders., Die Verfassungsbewegung in den fünf neuen Bundesländern, JöR 41 (1993), S. 69 ff.; ders., Die Schlussphase der Verfassungsbewegung in den neuen Bundesländern (1992 / 93), JöR 43 (1995), S. 355 ff. – Zu Art. 35 Einigungsvertrag auch H. Schulze-Fielitz, Art. 35 Einigungsvertrag – Freibrief für eine Bundeskulturpolitik?, NJW 1991, S. 2456 ff.



XI. Föderalismus und Regionalismus561

–– bei den Staatszielen und Staatsaufgaben (z. B. Art. 2 Abs. 1 Verf. Brandenburg: „der Kultur verpflichtetes demokratisches Land“, Art. 25 Abs. 1 ebd.: Förderung der „kulturellen Eigenständigkeit der Sorben“, Art. 1 S. 2 Verf. Sachsen von 1992: „der Kultur verpflichteter sozialer Rechtsstaat. Art. 20 Abs. 2 Verf. Berlin von 1995: „Das Land schützt und fördert das kulturelle Leben“); –– bei den Grundrechten (z. B. Art. 11 Abs. 2 Verf. Sachsen: Teilnahmerecht „an der Kultur in ihrer Vielfalt“), Art. 20 Abs. 1 S. 1 Verf. Berlin „Recht auf Bildung“; –– bei den kulturelles Erbe-Klauseln (z. B. Art. 34 Abs. 2 Verf. Brandenburg); –– bei den Erziehungszielen (z. B. Art. 28 Verf. Brandenburg, Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen „Friedfertigkeit und Solidiarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker“; Art. 27 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt: „Geist der Toleranz“); –– schließlich an sonstigen Stellen bzw. Textfeldern (z. B. Identitätsklauseln: Art. 5 Abs. 2 Verf. Sachsen in Bezug auf Minderheiten, ähnlich in Bezug auf ethnische Minderheiten Art. 37 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt; s. auch Baudenkmale der Kirchen und Religionsgemeinschaften als „Kulturgut der Allgemeinheit“ (Art. 112 Abs. 2 Verf. Sachsen). Im Ganzen: Das Kulturverfassungsrecht der (ost)deutschen Länder intensiviert sich, reichert sich an, ist innovativ, es „wächst“. Dies gilt auch für die „alten“ Bundesländer (kleine Verfassungsrevisionen z. B. in Art. 9 Verf. Schleswig-Holstein, Art. 11b Verf. Bremen, Art. 7 Abs. 2 Verf. NRW, Art. 17 Abs. 3 Verf. RheinlandPfalz). Im Übrigen ist ein Blick auf die Verfassung Niedersachsen (Mai 1993) zu werfen. Hier ist durch Verfassungsrevision ein Gottesbezug in die Präambel gekommen (1994). Schon in der Verfassung von 1993 finden sich die „Staatssymbole“ (Art. 1). Art. 6 b von 1997 normiert den Tierschutz: er ist ein Stück Kultur. Die „Parallelisierung“ zur Schweiz ist hier absichtlich hergestellt, sie wird sich auch – soweit möglich – für Österreich herausarbeiten lassen. Wie notwendig eine solche Suche nach Kultuverfassungsrecht in den Ländern ist, zeigte sich spätestens auf dem Forum der deutschen Staatsrechtslehrertagung, d. h. der Tagung von 2005 in Frankfurt / M. Denn hier war es der Diskussion vorbehalten, die eklatante Vernachlässigung des Kulturverfassungsrechts der deutschen Länder seitens eines der Referenten beim Namen zu nennen und die Defizite auszugleichen486. Die kulturverfassungsrechtlichen Wachstumsprozesse in Ostdeutschland können gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Die zu Tage tretenden Textstufen, das wechselseitige Geben und Nehmen dank innerbundesstaatlichen Verfassungstextvergleichs lehrt einmal mehr, dass das Thema „Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat“ auf der Tagungsordnung der Wissenschaft und Politik bleibt und hoffentlich auch von der Judikatur erfasst wird.

486  Vgl. die auch insoweit kritischen Diskussionsbeiträge zu dem Referat von S. Huster (VVDStRL 65 (2006), S. 51 ff.) von P. Häberle (S. 88 (89)) und M. Möstl (S.  99 f.).

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5. Kap.: Einzelausprägungen IV. Die deutsche „Föderalismusreform“ zwischen Scheitern und Gelingen (2004 bis 2006)

Eher als „Merkposten“ sei die Föderalismusreform erwähnt487. Sie war 2004 zunächst vorläufig gescheitert488 und wurde dann 2006 von Seiten der „großen Koalition“ doch noch „durchgebracht“. Da die Länder nicht wenige „Kompetenzen“ zurück erhielten, z. B. im Bildungs- und Universitätsbereich (s. die Möglichkeit zu Abweichungen für die Länder nach Art. 72 Abs. 3 Ziff. 2 und Ziff. 6 GG sowie die Neufassung von Art. 23 Abs. 6 S. 1 in Sachen Europa), wurde deren Identität gestärkt (s. auch die Neufassung von Art. 91 b GG: „Vereinbarungen“). Die kulturverfassungsrechtlichen Revisionen sind im Übrigen nur punktuell erkennbar: so in Gestalt der Schaffung eines (neuen) „Hauptstadt489-Artikels“ (Art. 22 GG), denn damit ist auch „Hauptstadtkultur“ garantiert. Er lautet in seinem neuen Abs. 1 S. 1 und 2: „Die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist Berlin. Die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes.“ Nach Art. 73 Abs. 1 Ziff. 5a GG hat jetzt der Bund die ausschließliche Kompetenz zum „Schutz des deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland“. Hier gewinnt er ein Stück Kulturkompetenz. Eine Zusammenfassung Föderalismus und Kultur gehören in Deutschland so intensiv zusammen, dass sich der plastische Begriff „Kulturföderalismus“ eingebürgert hat. Der Bundesstaat bildet jedenfalls nicht erst seit dem GG, aber besonders unter und „in“ ihm, neu akzentuiert seit dem Hinzukommen der 5 neuen Länder, das nahezu ideale „Gehäuse“ für die Vielfalt der Kultur. Das Wort, deutsche Freiheit sei föderative Freiheit, will und kann zum Ausdruck bringen, dass in Deutschland an der Wurzel der Freiheit das Föderative liegt – ähnlich wie heute in Spanien das Regionale. Schon hier zeigt sich, 487  Aus der Lit.: P. Häberle, Föderalismus / Regionalismus – eine Modellstruktur des Verfassungsstaates …, JöR 54 (2006), S. 569 (574 ff.); B. Merk, Zu den Problemen der Föderalismusreform, BayVBl. 2006, S. 398 ff.; R. Peffekoven, Klare Verantwortlichkeiten, FAZ vom 19. August 2006, S. 11; J. J. Hesse, Das Scheitern der Föderalismuskommission, ZSE 2005, S. 109 ff.; H.-G. Henneke, Die Kommunen in der Föderalismusreform, 2005; R. Hrbek, Ein neuer Anlauf zur Föderalismus-Reform, in: Jahrbuch des Föderalismus, 2006, S. 139 ff.; P. Bußjäger / R. Hrbek (Hrsg.), Projekte der Föderalismusreform – Österreich-Konvent und Föderalismuskommis­ sion im Vergleich, 2005. – Deutscher Bundestag, Bundesrat, Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Zur Sache 1 / 2005. Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Berlin, 2005; s. auch W. Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007; U. Häde, Zur Föderalismusreform in Deutschland, JZ 2006, S. 930 ff.; P. Selmer, Die Föderalismusreform …, JuS 2006, S.  1052 ff.; G. Mulert, Der Bundesrat im Lichte der Föderalismusreform, DÖV 2007, S.  25 ff.; C. Starck, Föderalismusreform 2006, 2007; I. Härtel, Föderalismusreform I, JZ 2008, S. 437 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, S. 57 ff., 649 ff. 488  Aus der Lit. P. Häberle, a. a. O., S.  569 (574 ff.). 489  Dazu P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S.  989 ff.



XI. Föderalismus und Regionalismus563

dass das Föderalismusrecht nicht nur äußere Technik ist, sondern Freiheit in Deutschland recht eigentlich erst begründet. Dieses „radikale“ Zusammendenken von Freiheit und Föderalismus und später: von Freiheit und Kultur erfordert, dass wir uns das deutsche Bundesstaatsverständnis kurz vergegenwärtigen. 1. Die – sieben – Legitimationsgründe des deutschen Föderalismus Zu unterscheiden sind schlagwortartig: (1) die grundrechtstheoretische Legitimation (einschließlich der aus den kulturellen Freiheiten gewonnenen Freiheit „vor Ort“, „im Kleinen“); (2) die demokratietheoretische Legitimation (einschließlich der ethnischen Aspekte, Stichwort Minderheitenschutz); (3) die vertikal gewaltenteilende Legitimation (Kontroll-Argument); (4) die wirtschaftliche, entwicklungspolitische Legitimation (einschließlich des Konkurrenz-Arguments); (5) die Integrationsfunktion als Föderalismus-Argument (Balance von Homogenität und Pluralität, von Differenz und Einheit); (6) die aufgabenteilende, dezentralisierende Dimension (das Subsidiaritäts-Argument); (7) speziell in Europa das europapolitische Argument (Stichwort: Deutschlands bzw. Europas „Kultur als Vielfalt und Ganzheit“). 2. Das kulturwissenschaftliche Bundesstaatsverständnis – eine „Erinnerung“ M. E. bleibt das den Hintergrund bildende kulturwissenschaftliche Bundesstaatsverständnis490 gefordert – das den Rahmen für alle wechselvollen, offenen „Mischungen“ bildet (Werkstatt- und Experimentierchance des (Kultur-)Föderalismus). Föderalismus legitimiert sich in Deutschland erstlich und letztlich aus der kulturellen Vielfalt. Darum verbietet sich z. B. die unbegreifliche, auch von Bayern leider immer wieder geforderte Neugliederung des Bundesgebietes aus primär finanziellen bzw. ökonomischen Gründen491. Darum gehört der Verf. zu den wenigen deutschen Staatsrechtslehrern, die dankbar, ja glücklich waren, dass das Volk von Brandenburg 1997 gegen die von Berlin vorwiegend mit ökonomischen, Effizienz- und Raumgründen propagierte Fusion beider Länder gestimmt hat. Die Eigenständigkeit P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980. meinen Festvortrag, Die Zukunft der Landesverfassung der Freien und Hansestadt Bremen, JZ 1998, S. 57 (62); weitere Nachweise in ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 1996, S. 233. Zuletzt wieder das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft, Bonn: „Aus sechzehn Bundesländern sollen sieben werden“ (FAZ vom 28. März 1998, S. 14), als Band erschienen: „Föderaler Wettbewerb statt Verteilungsstreit“, 1998; A. Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsverbund, JöR 59 (2011), S.  215 ff. 490  Dazu 491  Vgl.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

der Verfassungskultur Brandenburgs, in wenigen Jahren seit 1992 gewachsen und „erwachsen“ geworden, blieb erhalten. Sie ist ein bemerkenswerter Farbtupfer im „gemeinsamen Haus Deutschland“, dessen 16 „Zimmer“ in Dissonanz und Konsonanz ein „föderalistisches Hauskonzert“ bilden, in dem jeder Teil eine unentbehr­ liche „Stimme“ der Gesamtpartitur darstellt. So ist doch das Wiedererstehen der 5 neuen Länder fast über Nacht 1989 / 90 ein Beleg für den kulturwissenschaftlichen Ansatz: trotz der Betondecke des Staatssozialismus der DDR blieb im kollektiven Gedächtnis der Ostdeutschen eine Erinnerung an die Vielgliedrigkeit in Ostdeutschland erhalten492. Grund und Konturen können und konnten nur die Vielfalt der Kultur sein: T. Fontanes „Wanderungen“ durch die Mark Brandenburg, J.  S. Bachs Leipzig in Sachsen oder Goethe / Schillers Weimar in Thüringen waren und sind bis heute Kristallisationspunkte, um die sich „eigenständige Länder“ wieder bilden konnten und entwickelten. M. a. W.: Die „Kulturlandschaften“ sind der Wurzelboden für das rasche Wiedererstehen von Ländern in Deutschland-Ost. Überdies war die Wiedervereinigung eine im Ganzen geglückte Bewährungsprobe für den Föderalismus in Deutschland. Die fünf neuen Länder sind – auch in Sachen unterschiedlicher Verfassungspolitik – eine Bereicherung für den ganzen Bundesstaat. Er bewies sich auf Verfassungs- wie Gesetzesstufe als große „Werkstatt“ in Sachen kooperativer Verfassungsstaat. Er gab Raum für experimentelle Verfassunggebung – man vergleiche nur den unterschiedlichen „Geist“ und Buchstaben der wagemutigen Verfassung von Brandenburg (1992) dort und den eher restriktiven Text der Verfassung Sachsen-Anhalt (1992) hier. 3. Europa und der Föderalismus Wesentlich ist die Frage, ob und wie „Europa“ unser Thema verändert bzw. neue Perspektiven eröffnet. Das Konzept des „Europas der Regionen“ bzw. des „Europas der Bürger“493 stellt sich für den deutschen Föderalismus als Stärkung dar: die 16 deutschen Länder werden europaunmittelbar („offener Bundesstaat“). Sie sind als Länder von vornherein in Deutschland und Europa platziert. Sie werden in Europa über den Text von Maastricht bzw. Amsterdam bzw. den „Ausschuss der Regionen“ (Art. 198 a bis c bzw. 263–265, jetzt Art. 305 ff. AEUV) hinaus auf neue Weise legitimiert. Das sieht man in Italien nicht nur in Südtirol494, sondern auch für die dortigen Regionen so. Der europäische Kulturartikel (151 EGV bzw. seit 2007 Art. 167 AEUV), ist auch als Ermutigung für die Kulturhoheit der deutschen Länder zu lesen (Arg. „regionale Vielfalt“). Im „gemeinsamen kulturellen Erbe“ steckt auch das, was gerade die Länder spezifisch einbringen. Die Rechtfertigung des Föderalismus aus Kultur erfährt jedenfalls von „Maastricht“ bis „Amsterdam“ und „Lissabon“ her eine neue zusätzliche Legitimationsstufe – sofern sich die deutschen Länder beherzt darauf einlassen und fleißig sind. Gerade in der Welt der Globalisierung ist 492  Dazu mein Beitrag: Das Problem des Kulturstaates im Prozess der deutschen Einigung – Defizite, Versäumnisse, Chancen, Aufgaben, JöR 40 (1991 / 92), S. 291 ff. 493  Aus der Lit.: M. Hilf / T. Stein, Europäische Union …, VVDStRL 53 (1994), S.  8 ff. bzw. S.  27 ff.; I. Pernice, Deutschland in der Europäischen Union, HStR, Bd. VIII (1995), S. 225 ff. 494  Aus der Lit.: P. Pernthaler / S.  Ortino (Hrsg.), Europaregion Tirol, 1997.



XI. Föderalismus und Regionalismus565

die Welt der „Provinz“, des „Kleinen“ eine Heimat, die Halt gibt. Der Bürger stürzte buchstäblich ins Bodenlose – ohne diese, seine Kultur! Das kulturelle – auch kollektive – Gedächtnis gibt ihm Halt495. Diese Einsicht hat gerade eine dem Völkerrecht verpflichtete universale Verfassungslehre zu berücksichtigen, die zugleich das Partikulare achtet. (Bundes-)Staatstheoretisch ist mit „Europa“ ernst zu machen. Das beginnt erst. Eindrucksvoll hat man am 1. April 1998, d. h. zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Schengener Abkommens für Österreich und Italien, gesagt, Tirol sei „wiedervereinigt“. Überdies ist daran zu erinnern, dass im Europa der EU die Bürger der Mitgliedsländer einander nicht mehr „Ausländer“ sind. Die Franzosen, die für und von uns nur zu gerne einen Bundeskulturminister anmahnen (z. B. J. Lang)496, sind jetzt im EU-Europa für uns „Inländer“, sie bleiben natürlich Franzosen. Alle Erscheinungsformen des „Europa der Regionen“, gerade auch auf kulturellem Gebiet, etwa die grenzüberschreitende Euroregion zwischen Teilen Burgunds und des Saarlandes oder – über das Europarecht im engeren Sinne hinausgreifend – die „Euregio Basilensis“497 oder „Egrensis“ dürfen auch als Potenzen für eine Veränderung der „Kulturhoheit“ der Länder gewertet werden – sie wird transnational-europäisch. Die Neufassung des Art. 24 Abs. 1 a GG und ein neues Verständnis der Art. 29 und 32 tun ein Übriges498: Kultur wird auch, soweit sie nach dem GG grundsätzlich den Ländern zuzuordnen ist, „europäisiert“: eine Möglichkeit, sie zur „gesamten Hand“ zu pflegen. Diese Entwicklungen bzw. Entwicklungsmöglichkeiten sind für alle staatlichen, d. h. Bundes-, Länder- und kommunalen Kulturträger ins Auge zu fassen (Europäisierung der Kultur und Rechtskultur). Sie erfassen aber auch die anderen Kulturträger, die im Bereich der Gesellschaft arbeiten, mithin das gesamte Spektrum des „kulturellen Trägerpluralismus“ bis hin zu NGO’s wie den „Grünhelmen“ und den karitativen Einrichtungen der Kirchen und Kulturvereine. 495  Die identitätsstiftende Bedeutung des Begriffs „Kulturerbe“ („patrimoine“) kann gar nicht überschätzt werden: Ob die „Entwicklungsländer“, die osteuropäischen Reformstaaten, ob Israel oder Südafrika und Ländern in Lateinamerika (z. B. Art. 9 Verf. Venezuela von 1999, Art. 3 Ziff. 5 Verf. Ecuador von 2008) – überall wird um das breite Spektrum des damit Gemeinten gerungen. Alle Kulturwissenschaften sind dabei gefordert. Parallelbegriffe wie „kollektives Gedächtnis“ gehören hierher. 496  Vgl. J. Lang, Bitte etwas lauter, Europa vermisst einen Bundeskulturminister, FAZ vom 19. Mai 1998, S. 45, mit dem zusätzlichen Vorschlag, in Brüssel ein weiteres, für die europäische Kultur zuständiges Kommissionsmitglied zu ernennen. 497  Dazu aus der Lit.: B. Speiser, Der grenzüberschreitende Regionalismus am Beispiel der oberrheinischen Kooperation, 1993. – Zum „Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates und als europarechtspolitische Maxime“ gleichnamig mein Beitrag in: AöR 118 (1993), S. 1 ff. 498  Dazu mein Beitrag: Ein Zwischenruf zur föderalen Neugliederungsdiskussion in Deutschland, in: FS Gitter, 1995, S. 315 (329); J. Schwarze, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen i. S. d. Art. 24 I a GG, FS Benda, 1995, S. 311 ff.; M. Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 2004. Zur Neugliederung zuletzt: P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, ­ S.  401 ff.; speziell: U. Keunecke, Die gescheiterte Neugliederung Berlin-Brandenburg, 2001. Zuletzt C. Podehl, Neugliederung des Bundesgebietes oder Kooperation der Bundesländer? (Bericht). DÖV 2012, S. 154 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen Vierter Teil Neues Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat Österreich I. Die Länderebene

Mit ihr sei bewusst begonnen: Denn so „unitarisch“ Österreich in Sachen Föderalismus im Vergleich zu Schweiz und Deutschland (auch Belgien) ist, so auffällig wirkt, dass sich im Laufe der letzten Jahren in manchen Verfassungsrevisionen der österreichischen Bundesländer beachtliche „Wachstumsringe“ der eigenen Verfassungsthematik gebildet haben. Das gilt auch, wenngleich nicht nur, für das Thema „Kultur“. Eine durchgehaltene Systematisierung kann hier folgende „Kulturartikel“ bzw. zu Texten geronnene Kulturelemente beobachten499: –– Präambeln (z. B. Verf. Tirol von 1988: „Treue … zum geschichtlichen Erbe, die geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes … zu wahren“). –– Staatsziele und Staatsaufgaben (z. B. Art. 4 Ziff. 5 Verf. Niederösterreich von 1979 / 2004: Förderung von „Kunst und Kultur“, „Wissenschaft, Bildung und Heimatpflege“ unter „Wahrung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit“; Art. 10 Verf. Tirol von 1988: Förderung von „Wissenschaft, Kunst und Heimatpflege“; Art. 14 Verf. Oberösterreich von 1993: Bekenntnis zur „Pflege von Wissenschaft, Bildung, Kunst, Sport sowie seine kulturelle Entwicklung und Identität einschließlich der Sprache“; Art. 7 a Abs. 2 Ziff. 4 Verf. Kärnten von 1996: Bewahrung der „Naturdenkmale und Kulturgüter“; Art. 9 Verf. Salzburg von 1999: „Weiterentwicklung von Wissenschaft, Kunst und Kultur“, Bewahrung „erhaltenswerter Kulturwerte“; Art. 9 Verf. Vorarlberg von 1999: Bekenntnis zur „Pflege von Wissenschaft, Bildung und Kunst“ sowie zur Heimatpflege) – ein differenziertes Kulturbild. –– Grundrechte (z. B. Art. 10 Abs. 2 Verf. Tirol: Achtung der „Freiheit des kulturellen Lebens“ und Förderung von „dessen Vielfalt“; Art. 14 Abs. 1 Verf. Oberösterreich: Förderung der „Teilnahme und Mitwirkung eines jeden am kulturellen Leben“; ähnlich Art. 9 Satz 2 Verf. Vorarlberg von 1999). –– Sonstige Normensembles (z. B. die „Landessymbole“ in Art. 7 Verf. Niederösterreich von 1979 / 2004; ebenso Art. 8 Verf. Burgenland von 1981; Art. 9 a. E.Verf. Salzburg: Sonntagsgarantie; Art. 1 Abs. 1 Verf. Vorarlberg von 1999: Anerkennung der „Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens“; Sprachenartikel (z. B. § 5 Verf. Kärnten von 1960 / 2004; § 5 Verf. Steiermark von 1960 / 2004 – unter Vorbehalt des bundesgesetzlichen Schutzes sprachlicher Minderheiten; Art. 14 Abs. 1 Verf. Oberösterreich: Bekenntnis zu seiner „kulturellen Entwicklung und Identität einschließlich der Sprache“) – insgesamt eine reiche „Kulturkammer“. 499  Zit. nach der Dokumentation des Verf. in: JöR 54 (2006), S. 384 ff. Hier ist auch eine Kommentierung unternommen. Der Verf. hat als Herausgeber des JöR 1983 H.-U. Evers den Beitrag anvertraut: Kulturverfassungsrecht in Österreich, JöR 33 (1984), S. 189 ff.



XI. Föderalismus und Regionalismus567

Im Ganzen beginnt sich eine neue Wachstumsphase von Verfassungsautonomie aus Kultur herauszubilden. Das dürfte für den österreichischen Föderalismus im Ganzen auf Dauer nicht ohne Wirkung sein. An dieser Stelle kann der österreichische Föderalismus500 nicht insgesamt dargestellt werden, doch sei wenigstens als Merkposten ein kurzer Blick auf die Bundesebene geworfen. Auch sei festgehalten, dass die einzelnen österreichischen Länder bei ihren neuen Kultur-Artikeln offene oder verdeckte Blicke auf die Kantone bzw. Länder der beiden anderen deutschsprachigen Verfassungsstaaten geworfen haben. Parallelen und Analogien sind zu offensichtlich. II. Die Bundesebene Zuletzt ein Blick auf die geltenden Bundesverfassungsgesetze, deren „Renovierung“ im sog. „Österreich-Konvent“501 gescheitert ist. Nötig wäre ein Blick auf die dem Verf. nicht zugänglichen Vorschläge der Reformkommission502. In Österreich ist nach Art. 8 Abs. 1 B-VG Deutsch die „Staatssprache“ der Republik. Doch formuliert Abs. 2 ein Bekenntnis der „Republik zu ihrer gewachsenen sprachlichen und kulturellen Vielfalt“. Art. 14 Abs. 1 macht Schulwesen und Erziehungwesen zur „Bundessache“. Nach dem österreichischen StGG von 1867 sind Wissenschaft und 500  Aus der Lit.: P. Pernthaler, Österreichisches Bundesstaatsrecht, 2004; A. Gamper, Die Regionen mit Gesetzgebungshoheit, 2004, S. 359 ff.; H. Schambeck, Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich, in: D. Merten (Hrsg.), Die Stellung der Landesparlamente aus deutscher, österreichischer und spanischer Sicht, 1997, S.  16 ff.; B.-C. Funk, Reform der Gesetzunggebungskompetenzen im Bundesstaat, FS Pernthaler, 2005, S. 127 ff.; A. Gamper, „Arithmetische“ und „geometrische“ Gleichheit im Bundesstaat, ebd., S. 143 ff.; K. Weber, Zwei- oder dreigliedriger Bundesstaat?, ebd., S. 413 ff. Schon klassisch: F. Koja, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer, 1967, 2. Aufl. 1988; ferner T. Öhlinger, Der Bundesstaat zwischen Reiner Rechtslehre und Verfassungsrealität, 1976; A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 377 ff. 501  Aus der Lit.: P. Bußjäger / R. Hrbek (Hrsg.), Projekte der Föderalismusreform – Österreich-Konvent und Föderalismuskommission im Vergleich, 2005; P. Bußjäger, Klippen  …, a. a. O., S.  11 ff., 21 ff.; P. Bußjäger / D. Larch (Hrsg.), Die Neugestaltung des föderalen Systems vor dem Hintergrund des Österreich-Konvents, 2004; W. Berka / H. Schäffer / H. Stolzlechner / F. Wiederin (Hrsg.), Verfassungsreform 2004; B.-C. Funk, Der Österreich-Konvent in der Halbzeit, JRP 2004, S. 1 ff.; T. Öhlinger, Das Völkerrecht und das Europarecht im Österreich-Konvent, FS Schäffer, 2006, S.  555 ff. 502  Nach einer Zwischenbilanz (Informationsblatt des Instituts für Föderalismus, Sonderausgabe 1. April 2004) erweist sich die Ausgestaltung des föderalen Systems als die wohl umstrittenste Frage der gesamten Konventsarbeit. Es zeichnet sich ein in der Diskussion so bezeichnetes „Drei-Säulen-Modell“ einer Kompetenzverteilung ab, das auf jeweils exklusiven Zuständigkeiten von Bund und Ländern sowie einer „dritten Säule“ gemeinsamer oder geteilter Kompetenzen beruht. Laut Zwischenbericht ist die konkrete Zuordnung bestimmter Gesetzgebungsmaterien zu einer dieser Säulen ebenso umstritten, wie der Rechtsetzungsmechanismus in der dritten Säule. Diskutiert wird auch eine an Art. 72 GG orientierte Erforderlichkeitsklausel. Vorschläge nach einer Einführung einer Ziel- und Rahmengesetzgebung in der dritten Säule konnten sich bisher nicht durchsetzen.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

ihre Lehre frei (Art. 17 Abs. 1). Art. 17 a von 1982 lautet: „Das künstlerische Schaffen, die Vermittlung von Kunst sowie deren Lehre sind frei“.503, 504 (s. schon das Buch des Verf. Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 43 f.). Der Bundesstaat Belgien – immer wieder durch den Sprachenstreit beunruhigt – figuriere wenigstens als Merkposten505. Es zeigt sich, dass Regionalstaaten zu Bundesstaaten werden können. Daraus rechtfertigt sich der folgende Exkurs. Fünfter Teil Exkurs: Kulturverfassungsrecht in Regionalstaaten Europas (Auswahl) I. Spanien Spaniens „Erfindung“ der „Autonomen Gebietskörperschaften“ (1978) kann trotz der heutigen Verfassungskrise vor allem im Blick auf die „Freistaatspläne“ des Baskenlandes und die Beanspruchung größerer Autonomie seitens Kataloniens auch im Vergleich gar nicht hoch genug geschätzt werden. Dies um so mehr, als man schon 1983506 im spanischen System eine „Vorform“ eines möglichen Baskenlandes erkennen zu können glaubte. Dennoch bleibt der vergleichenden Verfassungslehre die Aufgabe, Föderalismus und seinen „kleineren Bruder“ Regionalismus voneinander klar zu unterscheiden507. Darum ist im Rahmen dieser Studien das Thema „Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat“ Spanien (noch?) nur als „Exkurs“ zu behandeln. 503  Zit.

2005.

nach H.  R. Klecatsky / S.  Morscher / B. Ohms (Hrsg.), B-VG, 11. Aufl.

504  Zum (sprachlichen) Gruppenschutz in Österreich W. Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, VVDStRL 65 (2006), S. 386 (401). Zur Kulturpolitik in den Ländern Österreichs: R. Bernhard, in: P. Pernthaler (Hrsg.), Föderalistische Kulturpolitik, 1988, S. 67 ff. 505  Belgien, 1994 zum Bundesstaat geworden, hat eine Reihe von kulturspezifischen Normen geschaffen: Art. 4 (Sprachgebiete), Art. 23 Abs. 2 Ziff. 5 („Recht auf kulturelle und soziale Entfaltung“), Art. 130 § 1 Ziff. 1 (Regelungen der kulturellen Angelegenheiten durch den „Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft“, analog der Französischen und Flämischen Gemeinschaft gemäß Art. 127 § 1 Ziff. 1. Die Kompetenz im Unterrichtswesen ist geteilt (vgl. Art. 127 § 1 Ziff. 2, Art. 130 § 1 Ziff. 3). – Aus der Lit.: A. Gamper, Die Regionen mit Gesetzgebungshoheit, 2004, S. 197 ff.; A. Alen, Der Föderalstaat Belgien, 1995; R. Mörsdorf, Das belgische Bundesstaatsmodell im Vergleich zum deutschen Bundesstaat des GG, 1995, S. 272 ff. 506  P. Häberle, Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 (12 Anm. 18); später ders., Die Vorbildlichkeit der spanischen Verfassung von 1978 aus gemeineuropäischer Sicht, JöR 51 (2003), S. 587 ff.; ders., Föderalismus / Regionalismus – eine Modellstruktur des Verfassungsstaates – Deutsche Erfahrungen und Vorhaben – Memorandum für ein spanisches Projekt, JöR 54 (2006), S. 569 (580 ff.); K. Wendland, Spanien auf dem Weg zum Bundesstaat?, 1998. 507  Dazu P. Häberle, Der Regionalismus als werdendes Strukturelement des Verfassungsstaates, AöR 118 (1993), S. 1  ff. (mit rechtsvergleichendem Material); M. Kotzur, Föderalisierung, Regionalisierung und Kommunalisierung als Strukturprinzipien des europäischen Verfassungsraums, JöR 50 (2002), S. 257 ff.



XI. Föderalismus und Regionalismus569

Gleiches gilt für Italien (dazu sogleich). Immerhin sei der „Exkurs“ gewagt. Denn zum einen findet sich auf der gesamtstaatlichen Ebene Spaniens, eben seiner Verfassung von 1978 mit einigen wenigen Revisionen, viel ideenreiches Kulturverfassungsrecht, zum anderen lassen sich im Blick auf einige, dem Verf. zugängliche Statute (Andalusiens und des Baskenlandes508) – sie sind „kleine Verfassungen“ – kulturverfassungsrechtliche Spuren entdecken. Im Einzelnen: –– Die spanische Verfassung nimmt sich der „Sache Kultur“ in folgenden Bereichen an: Präambel (Pflege der Kultur und Traditionen aller Spanier und Völker Spa­ niens), Art. 3 (Sprachenartikel, der Reichtum der unterschiedlichen sprachlichen Gegebenheiten als „Kulturgut“), Art. 27 Abs. 1 (Recht auf Erziehung), Art. 20 Abs. 1 lit. b: Garantie des Rechts auf literarische, künstlerische und wissenschaftliche Produktion und Schöpfung, Art. 9 Abs. 2 („Teilnahme aller Bürger“ am „kulturellen Leben“), Art. 50 (Berücksichtigung der Kulturprobleme der Bürger im Ruhestand), Art. 46 (kulturelles Erbe-Klausel). –– Das Baskenland hat in seinem Statut von 1979 ebenfalls an die Sache Kultur gedacht: In Art. 9 Abs. 2 lit. e: Förderung der „Beteiligung aller Bürger am … kulturellen und sozialen Leben des Baskenlandes …“; Art. 10 Abs. 17: „kulturelle Angelegenheiten“, s. auch Ziff. 19: „Kulturgüter“. –– Andalusien nimmt sich in seinem (alten) Statut von 1981 der Kultur in folgenden Artikeln an: Art. 12 Abs. 1: Förderung der Beteiligung am „kulturellen Leben“, Abs. 73 Ziff. 2 ebd.: „andalusische Identität“, „kulturelle und sprachliche Werte des andalusischen Volkes“, Art. 13 Ziff. 26: Förderung der „Kultur in allen ihren Erscheinungen und Ausdrucksformen“, Ziff. 27 ebd., „wissenschaftliches Erbe“, Ziff. 28: „Museen“ etc. Desiderat wäre eine vergleichende Regionalismuslehre in Sachen konstitutionellen Kulturrechts („regionalist papers“)509. –– Das neue Statut Andalusiens (2006) enthält viele Aspekte in Sachen Kultur: in seiner überreichen Präambel, im Symbol-Artikel 3 (Flagge, Hymne, AndalusienTag) sowie in seinem Ziele-Artikel 10, bes. Ziff. 1, 17. Auch der ErziehungszielArtikel 21 sowie Art. 33 (Rechte von jedermann auf Zugang zur Kultur) sind einschlägig. Im Ganzen: „offener Regionalismus“. II. Italien Italien hat in seiner Verfassung von 1947 manche kulturbezogene Texte. Da es sich seit vielen Jahren auf den Weg eines „nuovo regionalismo“ bewegt510 und das eine 508  JöR

47 (1999), S. 131 ff. bzw. 43 (1995), S. 558 ff. der Lit.: F. Balaguer (coord.), El Nuevo Estatuto Andalucía, 2007. – Zu Frankreich: M. Fromont, Les progrès de la décentralisation en France, JöR 54 (2006), S. 307 ff.; zu Schottland: R. Sturm, Integration – Devolution – Unabhängigkeit?, JöR 48 (2000), S. 351 ff.; zum Vereinigten Königreich: A. Gamper, Die Re­ gionen, a. a. O., S.  111 ff.; A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S.  354 ff.; M. Mey, Regionalismus in Großbritannien – kulturwissenschaftlich betrachtet, 2002. All diese Materialien müssten verarbeitet werden. 510  Dazu: A. D’Atena, L’Italia verso il federalismo, 2002; ders., L’Europa della autonomie, 2003; ders., Le Regioni dopo il Big Bang, 2005; ders., Die Verfassungsreform des italienischen Regionalismus, JöR 51 (2003), S. 531 ff.; A. Gamper, Die 509  Aus

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5. Kap.: Einzelausprägungen

oder andere Statut (z. B. der Toscana) für kulturverfassungsrechtliche „Spurensuche“ ergiebig erweist, kann Italien nicht „ausgelassen“ werden. Dies umso weniger, als eine verstärkt präföderale Struktur bzw. Verfassungsreform schon auf dem Weg war, bis ihr das Volk 2006 in einem Referendum eine deutliche Absage erteilte. Zunächst ein Blick in die gesamtstaatliche Verfassung und etwaige Kulturklauseln in Art. 9 Abs. 1: Förderung der kulturellen Entwicklung, Art. 6: Schutz sprachlicher Minderheiten, Art. 117 Abs. 1 lit g: Schutz von Kulturgütern, s. auch die Erwähnung der Förderung kultureller Tätigkeit in Art. 117 Abs. 2 Verf. Italien; sodann ist eine Textanalyse des Status der Toscana (2005)511 in den Stichworten ergiebig: Ziel des „Zugangs zur Kultur als individuelles Bedürfnis und kollektiver Wert“ (Art. 4 lit. b), Förderung der „Kultur des Respekts gegenüber den Tieren“ (lit. l). Auch andere neue Regional-Statute sind reich an Kultur-Texten: vgl. Statut Apulien von 2004 (Art. 12: Kulturförderung), Statut Kalabrien von 2004 (Art. 2 Abs. 2 lit. d und f), ebenso Art. 5 Ziff. 3 Statut Marken von 2005. Ein regelrechter KulturArtikel findet sich in Art. 8 Statut Abruzzen von 2007, zuvor in Art. 11 Statut Umbrien von 2005. Das Statut Piemont von 2005 reichert seine Präambel an um den Begriff „multikulturelle Geschichte“ sowie „kulturelle Identität“ (s. auch „Patrimonio culturale“). Ähnlich formuliert Art. 9 Statut Lazio von 2004. Sehr reich an kulturellen Aspekten ist auch das Statut Emilia Romagna von 2005 (Präambel, Art. 2 lit. c und e). Im Ganzen: reiches regionales Kulturrecht. III. Osteuropäische Reformstaaten sowie Balkanländer Sie seien hier nicht im Einzelnen untersucht512. Denn ihre Regionalstrukturen sind meist recht schwach. Doch ist zu vermerken, dass auf der hohen Ebene der nationalen Verfassungen viel neues Kulturverfassungsrecht herangewachsen ist: –– schon in den Präambeln (z. B. Verf. Polen von 1997: „für die im christlichen Erbe des Volkes und in allgemeinen menschlichen Werten verwurzelte Kultur“; Verf. Albanien von 1998: „der Kultur und der sozialen Solidiarität verpflichtet“; –– in Form von Identitätsklauseln (z. B. Präambel Albanien, Art. 6 Abs. 1 Verf. ­Polen); –– im Schutz kultureller Freiheiten (z. B. Art. 54 Verf. Bulgarien von 1991: „Freiheit der Kultur“); –– im Schutz des „nationalen Kulturerbes“ (z. B. Art. 8 Abs. 3 Verf. Albanien, ähnlich Art. 23 Abs. 1 Verf. Bulgarien von 1991; Art. 44 Abs. 2 Verf. Slowakische Republik von 1992); Regionen  …, a. a. O., S.  259 ff.; J. Woelk, Konfliktregelung und Kooperation im italienischen und deutschen Verfassungsrecht, 1999 – „offener Regionalismus!“ 511  Z. T. zitiert nach JöR 54 (2006), S. 582. 512  Zit. nach H. Roggemann (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999 und Die Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, 6. Aufl. 2005 (Einführung von A. Kimmel). Fortlaufende Dokumentation der Texte in: JöR 43 (1995), 44 (1996), 45 (1997) und 46 (1998).



XI. Föderalismus und Regionalismus571

–– Kulturelles Erbe-Klauseln (z. B. Art. 34 Abs. 2 Verf. Georgien, zuletzt Art. 9 Verf. Kosovo von 2008: „Cultural and Religious Heritage“); –– im Schutz kultureller Minderheiten (z. B. § 50 Verf. Estland von 1992 – „Volkskultur“, „Kulturautonomie“, Art. 48 Verf. Mazedonien von 1991 – kulturelle „Identität der Nationalitäten“; s. auch Art. 11 Verf. Ukraine von 1996 sowie Art. 95 lit. (1)  Verf. Kosovo von 2008); –– oder an sonstigen Textstellen (z. B. Feiertagsgarantie nach Art. 14 Abs. 5 Verf. Albanien von 1998; Art. 70 Abs. 5 Verf. Polen: Schutz der „Autonomie der Hochschule“; „Staatssymbole“ (z. B. Art. 14 Verf. Tschechien von 1992), Art. 6 Verf. Kosovo von 2008: „multiethnic character“. Ein besonderes Wort zu den Nationalhymnen, die – analog den Feiertagen und den Flaggen – spezifische kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates sind (z. B. Art. 28 Abs. 5 Verf. Polen; Art. 14 Abs. 4 Verf. Albanien; Art. 11 Abs. 4 Verf. Kroatien; Art. 16 Verf. Litauen von 1992; Art. 5 Verf. Mazedonien von 1991; Art. 12 Abs. 5 Verf. Moldauische Republik von 1994; Art. 6 Verf. Montenegro von 1997; Art. 12 Abs. 3 Verf. Rumänien von 1991; Art. 9 Abs. 4 Verf. Slowakische Republik von 1992; Art. 6 Abs. 2 Satz 6 Verf. Slowenien von 1991; Art. 20 Abs. 4 Verf. Ukraine von 1996; § 75 (alte) Verf. Ungarn von 1949 / 97; zuletzt Art. 7 Abs. 4 Verf. Serbien von 2006; Art. 1 Abs. 3 Verf. Ungarn von 2012). Diese Vielzahl von Na­ tionalhymnen in osteuropäischen Reformstaaten überrascht nicht, gerade sie können besonders intensive Integrationsprozesse von der Kultur her leisten (dabei ist der Text ebenso wichtig wie die Musik, auch der Vorgang der Schaffung bzw. Konkretisierung: durch (Parlaments-)Gesetz, die Verfassung oder ein Verfassungsgesetz sowie in sonstiger Form)513. Sechster Teil Europäisches Kulturverfassungsrecht Dieses eigene Thema514 sei hier nur als Merkposten registriert. Denn es ist Gegenstand eines eigenen Abschnitts der „Europäischen Verfassungslehre“ (1. Aufl. 2001 / 2, 2. Aufl. 2004, 3. Aufl. 2005, 7. Aufl. 2011). Immerhin gehört das Kulturverfassungsrecht von Europa im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne von Europarat und OSZE in das Gesamtbild dieses Abschnitts. Allenthalben finden sich originelle kulturverfassungsrechtliche Texte und kongeniale Judikatur. In dem Maß, in dem mindes513  Die „Bayernhymne“ ist zu einer solchen „offiziellen“ Hymne nur durch eine Bekanntmachung des Bayerischen Ministerpräsidenten von 1964 / 80 gemacht worden. Zuletzt wurde sie beim Papstbesuch am 9. Sept. 2006 am Flughafen in München nach der Vatikanhymne und dem Deutschlandlied gespielt. – Zu „Nationalhymnen als kulturellen Identitätselementen des Verfassungsstaates“ gleichnamig: P. Häberle, 2007 (span. Übersetzung 2013); ders., Nationalflaggen …, a. a. O., 2008. 514  Ein früher Versuch: P. Häberle, Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 ff. Spätere Lit.: M. Nettesheim, Das Kulturverfassungsrecht der EU, JZ 2002, S. 157 ff.; s. auch H.-J. Blanke, Europa auf dem Weg zu einer Bildungs- und Kulturgemeinschaft, 1994; M. Niedobitek, Kultur und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1992.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

tens in der EU „präföderale“ Strukturen ausgemacht werden können, wächst auch die europäische Ebene in das Thema „Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat“ hinein. Die EU als „Noch-nicht Bundesstaat“, als bloßer „Staaten-“ bzw. „Verfassungsverbund“ bzw. präföderaler „Verfassungsgemeinschaft“ hat sehr wohl neue Texte in Sachen Kultur geschaffen, die in diesem Gesamtzusammenhang gehören. Hier nur einige Beispiele aus dem Verfassungsentwurf von 2004, die zeigen, wie kulturelle Vielfalt und kulturelle Identität desselben Europa zusammengehören: kulturelles Erbes-Klauseln in der Präambel, Offenheit für Kultur und Wissenschaft, Symbolartikel (I-8); ergiebig ist die EU-Grundrechte-Charta von 2000515: gemäß der Präambel „Achtung der Vielfalt der Kulturen“ sowie der „nationalen Identität“, Freiheit von Kunst und Forschung (Art. II-73), Recht auf Bildung (Art. II-74), Achtung der „Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“ (Art. II-82), Kultur-Klausel (Art. III-280) mit Stichworten wie: „gemeinsames kulturelles Erbe“, „Vielfalt“. All diese Texte entsprechen weitgehend den Vorgängertexten von Maastricht, Amsterdam bzw. Nizza. Auch der Vertrag von Lissabon (2007) behält diese Texte als Grundwerte bei: Art. 3 Abs. 3 S. 4 EUV, Art. 165, 167 AEUV. Siebter Teil Kulturverfassungsrecht in Föderalstaaten in Übersee (Auswahl) Dieses Thema verdiente eine eigene Monographie. Denn Bundesstaaten wie die USA (samt ihren einzelstaatlichen Verfassungen), Australien, Brasilien, Mexiko, Argentinien müssten auf der nationalen wie einzelstaatlichen Ebene ebenso in den Blick genommen werden wie Kanada, Indien oder Südafrika. Das ist hier nicht möglich516. Darum seien im Folgenden nur wenige Beispiele in die Textstufenanalyse einbezogen. Dem Verf. sind dabei meist nur die Verfassungen auf Bundesebene zugänglich. Ihr zum Teil sehr prägnantes Kulturverfassungsrecht sei stichwortartig dargestellt, auch wenn das Bild nur dann vollständig wäre, wenn die einzelnen Bundesländer ebenfalls in den Blick genommen werden könnten. Möglich ist dies für manche der 50 US-Bundesländer und einige „Provinzen“ Südafrikas (KwaZulu Natal und das Western Cape)517. Die Verfassung Kanadas von 1981518 verkündet vorweg „the supremacy of God“ und gestaltet verfassungsrechtlich sehr differenziert einige Kulturklauseln (z.  B. Art. 16 zur offiziellen Sprache Kanadas sowie ebd. Art. 23: „Minority Language Educational Rights“). 515  Dazu

2011.

aus der Lit.: J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl.

516  Texte zit. nach JöR 37 (1988), S. 597 ff. (Kanada); JöR 50 (2002), S. 537 ff. (Brasilien); JöR 47 (1999), S. 467 ff. (Südafrika). – Zu Indien: M.  P. Singh / S.  Deva: The Constitution of Indien: Symbol of Unity in Diversity, JöR 53 (2005), S. 649 ff. – Zu Mexiko: H. R. Horn: Generationen von Grundrechten im kooperativen Verfassungsstaat, JöR 51 (2003), S. 667 ff.; zu Mexiko auch das Spezialheft Mexiko, APuZ 61, 40–42 / 2011 vom 4.10.11. 517  Zit. nach JöR 47 (1999), S. 503 ff., JöR 49 (2001), S. 498 ff. 518  Zit. nach JöR 32 (1983), S. 632 ff.



XI. Föderalismus und Regionalismus573

In den USA findet sich in mancher einzelstaatlicher Verfassung bemerkenswertes Kulturrecht, etwa in Verf. Massachusetts (1780): „The encouragement of literature“ (Kap. V sec. II), mit Verweis auf „the principles of humanity and general benevolence, public and private charity, industry and frugality, honesty and punctuality in their dealing; sincerity, good humor, and all social affections, and generous sentiments among the people“, in Art. 3 Abs. 3 sec. 24 a Verf. Texas von 1876 die Einrichtung von „Ethics Commission“, Art. 7 ebd. enthält umfangreiche Bestimmungen zum Erziehungs- und Unterrichtswesen. Auch die Verf. von Delaware (1897 / 1995) enthält in ihrer „Bill of Rights“ das klassische Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. I § 1), aber auch einen Artikel zur „Education“ (Art. X). Die Verfassung von Florida (1968) regelt in Art. IX detailliert die „Erziehung“, ihre Präambel normiert den fast schon gemeinamerikanischen Gottesbezug. Die Verfassung Illinois von 1970 schreibt in die Präambel den klassischen Gottesbezug und umreißt in Art. X sec. I das Bildungsziel: „educational development of all persons to the limits of their capacities“. In der Verf. von Südafrika (1996)519 ist ein Gottesbezug in der Präambel gewagt, die staatlichen Nationalsymbole sind in Art. 4 bis 5 geregelt, ein Sprachenartikel verbietet die Diskriminierung aus kulturellen Gründen, Art. 9 Abs. 3 gewährt die Religionsfreiheit (Art. 15), das Recht auf Erziehung bzw. Bildung findet sich ebenfalls (Art. 29). Vieles ist der „Human Rights Commission“ überantwortet, etwa die Aufgabe (Art. 184 Abs. 1 lit. a) „to promote … a culture of human rights“ – eine zuvor nur in der deutschen Literatur gewagte Formel520. Im Kompetenzteil, d. h. der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Nation und Provinzen finden sich (Schedule 4 Part A) die „cultural matters“ im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, die „provincial cultural matters“ sind den Provinzen zugeteilt (Schedule 5 Part A). Die Verf. von KwaZulu Natal (1996) wendet sich in Kapitel I Art. 1 Abs. 4 dem Schutz aller kulturellen Aktivitäten zu, sie normiert einen differenzierten Sprachenartikel (Kap. 2 Art. 4), befasst sich mit Sprache und Kultur (Kap. 2, Art. 27) und wagt die neue Institution „Cultural Councils“ (Kap. 9, Art. 14). Die Verf. von Western Cape (1997) zeichnet sich schon in der Präambel durch drei Gottesbezüge aus, sie verlangt in Art. 5 eine besondere Sprachenpolitik, sieht „Provincial symbols“ vor (Art. 6) und richtet ebenfalls „Cultural Councils“ ein (Art. 70), mit Stichworten wie „kulturelles Erbe“. In Argentinien ist die Verfassung von Buenos Aires (1996) besonders reich an Kulturbezügen (vgl. den Gottesbezug in der Präambel sowie Art. 20, 23, 32). Ausblick Beobachten lässt sich der politische und wissenschaftliche „Aufwind“ für Regionalismus und Föderalismus bzw. Kulturregionalismus und Kulturföderalismus, der 519  Aus der Lit.: J. Lücke, Die Entstehung der neuen südafrikanischen Verfassung …, JöR 47 (1999), S. 467 ff. – Zu Buenos Aires: R. G. Ferreyra, La Constitución de la Cuidad Autónoma de Buenos Aires, 1997. 520  P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 88 ff.: „Grund­ rechtskultur“.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

ein Stück weit auch diesen Versuch aus dem Jahre 2012 trägt. Föderalismus bzw. Regionalismus521 sind neben der Verfassungsgerichtsbarkeit vielleicht das Kennzeichen der heutigen Entwicklungsstufe des kooperativen Verfassungsstaates als Typus. Wir beobachten ein Ringen um Identität aus Kultur gerade in einer globalisierten Welt522. Die gewaltenteilenden Strukturen von Kulturregionalismus und Kulturföderalismus haben m. E. eine große Zukunft vor sich, und man darf neugierig sein, welche Textstufen das „Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat“ weltweit in der Zukunft hervorbringt. Dass dabei auch die Verfassungsgerichtsbarkeit große gesamthänderische Verantwortung hat, sei erwähnt. Die Wissenschaft kann nur einen kleinen Beitrag leisten: als „Wissenschaftliche Vorratspolitik in Sachen Kultur“ oder in „nachholender“ Verarbeitung dessen, was die nationalen und regionalen (kantonalen) Verfassunggeber an neuem Kulturverfassungsrecht hervorbringen. Im Übrigen liefert die Tagespolitik fast jede Woche Stichworte zum Thema „Kultur“: z. B. in der Kontroverse um das „Weltkulturerbe“ (ein Ja zu Regensburg 2006, ein Nein zu Dresden), in der Krise in Sachen Auswärtige Kulturarbeit der Goethe-Institute523, in Gestalt einer Tischrede eines Mitgliedes des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste524. Weltweit hat die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt (2005) (und zur immateriellen Kultur, 2003) viel Aufmerksamkeit gefunden525. Sie ist als völkerrechtliche Teilverfassung und als in den Unterzeichnerstaaten rezipierte nationale Teilverfassung ein Stück „Weltkulturrecht“ (zuvor „Völkerrechtspolitik“). Kultur und Verfassung bzw. Verfassung als Kultur bleiben für den Bundesstaat, aber auch darüber hinaus gerade in ihrer Offenheit ein großes Thema, universal. Im Folgenden Inkurs sei das Thema Föderalismus spezifisch von „unten“ und „innen“ her ausgeleuchtet: von Österreichs lebendigen Landesverfassungen aus.

Inkurs X: Textstufen in österreichischen Landesverfassungen – ein Vergleich Einleitung Der Föderalismus526 gehört zu den verfassungsstaatlichen Strukturprinzipien, die, bei allen Unterschieden, der Schweiz, Deutschland und Österreich in glücklicher 521  Bemerkenswert ist das „Modell“ Bosnien-Herzegowina, dazu W. Graf Vitz­ thum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000; J. Woelk, Föderalismus als Mittel permanenter Konfliktregelung: der Fall Bosnien-Herzegowina, FS Pernthaler, 2005, S.  267 ff. 522  Dazu P. Häberle, Menschenrechte und Globalisierung, JöR 55 (2007), S. 397 ff. Zum Identitätsdenken grundsätzlich W. Kahl, a. a. O., S.  393 ff. 523  Dazu das SZ-Gespräch mit Frau Präsidentin J. Limbach, SZ vom 11. April 2006, S. 15. 524  H. M. Enzensberger, Kulturpolitik, FAZ vom 31. August 2006, S. 33. 525  Z. B. FAZ vom 24. Oktober 2005, S. 39. 526  Zum Folgenden – jetzt überarbeitet – der Beitrag des Verf. in JöR 54 (2006), S.  367 ff.



Inkurs X: Textstufen in österreichischen Landesverfassungen575

Weise gemeinsam sind. Die Schweiz hat sich dabei auf Bundes- wie Kantonsebene in vielen Jahren fruchtbar als „Werkstatt“ qualifiziert. Ihr Föderalismus ist, was die Qualität der Länder bzw. Kantone angeht, auch der stärkste und lebendigste. Deutschland kann sich mit seinem Föderalismus und den ideenreichen Landesverfassungen zwar ebenfalls „sehen“ lassen, doch sind unitarische Tendenzen unübersehbar: „Berlin“ geriert sich seit 1998 immer zentralistischer. Mittelfristig bedarf der deutsche Bundesstaat einer „Modernisierung“527, die freilich nicht einseitig auf Kosten der Länderkompetenzen gehen darf. Die Föderalismusreformen I und II (2006 bzw. 2008) sind nur zum Teil geglückt528. „Deutsche Freiheit“ ist föderative Freiheit! Die dem Föderalismus zu verdankende vertikale Gewaltenteilung und die ihn belebende kulturelle Vielfalt der 16 Länder gehört zum Besten, was Verfassungspolitik und Verfassungsrecht nach 1945 bzw. 1990 in Deutschland hervorgebracht haben. So wichtig es ist, den Streit zwischen den einzelnen Föderalismus-Theorien529 auszutragen, in Stichworten: wie viel „Wettbewerbsföderalismus“?, wie viel „kooperativer Föderalismus“?, wie viel „Solidarität“?, welche Balance zwischen einem Optimum an Pluralität und einem Minimum an Homogenität? – all dies sind Fragen, die wissenschaftlich diskutiert und praktisch politisch ausgefochten werden müssen. Angebracht ist m. E. eine kulturelle, „gemischte“ Bundesstaatstheorie, bei aller Relevanz der ökonomischen Aspekte530. Der Föderalismus darf nicht zum „Markt“ für nur ökonomische Konkurrenzen bis hin zum sog. „Steuerwettbewerb“ verkürzt werden. Die Vielfalt der Kultur ist der „Humus“ für einen lebendigen „offenen“ Bundesstaat. Im Vergleich mit der Schweiz und Deutschland ist Österreich wohl der am meisten „unitarische Bundesstaat“, um die 1962 von K. Hesse für das GG geprägte Formel aufzugreifen, die freilich den Wachstumsschub des deutschen Föderalismus dank der Wiedervereinigung bzw. der schöpferischen Werkstätten in den neuen Bundesländern nicht berücksichtigen konnte531. Gleichwohl hat sich Österreich in Gestalt seines „Österreich-Konvents“532 auf den Weg gemacht (letztlich erfolglos), 527  Aus der Lit.: H. Bauer, Bundesstaatstheorie und Grundgesetz, in: Liber Amicorum P. Häberle, 2004, S. 645 ff.; P. Badura, Der Bundesstaat und die Frage seiner „Modernisierung“, FS Ress, 2005, S. 1123 ff. 528  Aus der Lit.: P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S. 57 ff. 529  Aus der Lit. in Österreich: F. Ermacora, Österreichischer Föderalismus, 1976; P. Pernthaler, Der differenzierte Bundesstaat, 1992; T. Öhlinger, Der Bundesstaat zwischen reiner Rechtslehre und Verfassungsrealität, 1996. Schon „klassisch“: P. Pernthaler, Das Forderungsprogramm der österreichischen Bundesländer, 1980; später W. Burtscher, EG-Beitritt und Föderalismus, 1990; G. Thurner, Der Bun­ desstaat in der neueren Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, 1994; s. noch H.  Schäffer / H. Stolzlechner (Hrsg.), Reformbestrebungen im Österreichischen Bundesstaatssystem, 1993; s. auch die „Bibliographie zum österreichischen Bundesstaat und Föderalismus“ (hrsg. von P. Pernthaler u. a.), 1998. 530  Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1. Aufl. 1982), 2. Aufl. 1998, S. 776 ff. 531  Dazu JöR mit Texten und Kommentaren: JöR 42 (1992), S.  149  ff.; 43 (1992 / 93), S. 355 ff.; s. auch C. Starck, Die Verfassungen der neuen deutschen Länder, 1994. 532  Dazu W. Berka / H. Schäffer / H. Stolzlechner / E. Wiederin (Hrsg.), Verfassungsreform, Überlegungen zur Arbeit des Österreich-Konvents, 2004; P. Bußjäger,

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5. Kap.: Einzelausprägungen

auch das Verhältnis von Bund und Ländern neu durchzudenken und praktisch zu reformieren. Treffend spricht Art. 1 Abs. 2 Verf. Salzburg (1999  /  2003) vom Bekenntnis zu einer „zeitgemäßen föderalen Ordnung“. Bei all dem sei aber nicht übersehen, was in vielen Jahren vor allem seit den 80er Jahren in den Verfassungen der (neun) österreichischen Länder an konstitutioneller Substanz herangewachsen ist. So wie in Deutschland der Eigenwert der Länderverfassungen im Vergleich erst relativ spät erkannt wurde533, so wie die Konturen eines innerschweizer Kantonsverfassungsvergleichs ebenfalls erst anfangs der 80er Jahre im allgemeinen Vergleich deutlich herausgearbeitet worden sind534, so sind die Wachstumsprozesse der österreichischen Gliedverfassungen bislang wohl viel zu wenig nachgezeichnet worden535. Vehikel war dabei das Stichwort von der „relativen Verfassungsautonomie“ der Länder (F. Koja). Das Folgende ist ein Mosaikstein einer erst noch zu entwerfenden vergleichenden Föderalismuslehre, die z. B. auch die USA und Kanada, Indien, Mexiko und Brasilien einzubeziehen hätte536. Der Lehre von den „Textstufen“ (1989)537 kommt dabei ebenso Bedeutung zu wie den sog. „Rezeptionsmittlern“ im europa-, ja weltweiten Vergleich der geschriebenen Verfassungen und ihrer Fortentwicklung. Spe­ ziell für Österreich bzw. seine Länder ist zu vermuten, dass aktive Rezeptionsvorgänge nachweisbar sind, die noch anhalten und sich im Zuge der Europäisierung verstärken. Die benachbarten Länder Schweiz und Deutschland (vor allem Bayern und Baden-Württemberg) strahlen auf Verfassunggebung und Verfassungsänderungen in den österreichischen Gliedstaaten aus (z. B. in Vorarlberg). Die österreichischen Gliedstaaten bereichern sich ihrerseits untereinander, gleichsam in „Wellenbewegungen“, ähnlich den Totalrevisionen Ende der 60er Jahre in der Schweiz538. Die Neugestaltung des föderalen Systems vor dem Hintergrund des ÖsterreichKonvents, 2004; ders., Der Österreich-Konvent als Chance oder Inszenierung?, Jahrbuch des Föderalismus, 2004, S. 248 ff.; Institut für Föderalismus Innsbruck, 28. Bericht über den Föderalismus Österreichs (2003 / 2004). 533  Dazu aus der Lit.: P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; zuletzt besonders die Arbeit von J. Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002. Aus der spezifisch österreichischen Lit.: F. Koja, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer, 2. Aufl. 1988. 534  P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsentwürfe in der Schweiz, JöR 34 (1983), S. 303 ff.; s. auch ders., Die Kunst der kantonalen Verfassunggebung, JöR 47 (1997), S. 149 ff. 535  Eine Zwischenbilanz aber bei B.-C. Funk, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1984), S. 57 ff., der einerseits die (damalige) Schwäche des (österreichischen) Landesverfassungsrecht sieht, andererseits einen bescheidenen, aber doch recht deutlichen Zugewinn an Verfassungs­ autonomie erkennt (S. 71). 536  Ein früher vergleichender Ansatz bei: T. Fleiner, VVDStRL 46 (1988), S. 123 ff.; s. auch den Bd.: Federalism in a changing world, edited by R. Bindschedler/Arnold Koller, 2002. 537  P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege der Verfassungsstaaten, FS Partsch, 1989, S. 555 ff. 538  Dazu vom Verfasser: Neuere Verfassungen in der Schweiz …, JöR 34 (1985), S. 303 (bes. S. 354 ff.).



Inkurs X: Textstufen in österreichischen Landesverfassungen577

Im Nachstehenden kann freilich nicht das ganze Tableau verfassungsstaatlicher Verfassungen bzw. ihrer Prinzipien und Strukturen im Blick auf Österreichs Bundesländer dargestellt werden. Nur einzelne, besonders wichtige und typische Inhalte und Stilelemente seien miteinander verglichen, vor allem auf dem Forum anderer deutschsprachiger Verfassungen der Schweiz und Deutschlands. Ein wesentliches Ergebnis sei vorweggenommen: In Österreich ist das Konzept von der Verfassung als bloßem „Grundbuch“ bzw. „Organisationsstatut“ (wie in der „Kelsen-Verfassung“ von 1920) nicht mehr das vorherrschende. Lediglich Wien (als Hauptstadt) bleibt ihm trotz oder wegen seiner vielen technischen Regelungen verwandt539. In allen anderen Bundesländern sind den Verfassungen materiale Inhalte und Prinzipien, kulturelle Identitätelemente zugewachsen, etwa in den Symbol-, Bekenntnis- und Staatsaufgaben-Artikeln sowie in den Grundrechtsnormen und Grundwerte-Klauseln, auch in den Sonn- und Feiertagsgarantien sowie in den Europa-Klauseln. Auch finden sich manche für den bundesdeutschen Beobachter überraschende Innovationen (etwa im Blick auf die Aktivierung bzw. Berücksichtigung des Volkes). Im Stillen wachsen einzelne Elemente des Kulturverfassungsrechts der Länder heran, obwohl der Bund auch hier dominiert. All das geschieht sehr schrittweise und punktuell, zusammen betrachtet aber ergibt es ein Ganzes, das das Wort vom Eigenwert und Eigengewicht des österreichischen Landesverfassungsrechts erlaubt. Mag es noch lange nicht so facettenreich sein, wie die deutschen und schweizerischen Landesverfassungsrechte, insgesamt ist auch in den österreichischen Gliedstaaten das materielle Verfassungskonzept im Vordringen (Stichworte: Verfassung als Konzentrat von Grundwerten und Garantie von Grundrechten, von individueller Kultur, von eigener Identität, von effektiver Beschränkung und Konstitutionalisierung von Macht, von „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner)). Diese materiellen Wachstumsprozesse „von unten her“ sollte die heutige Diskussion um die Reform des Föderalismus im Ganzen nicht übersehen. Auch alle einschlägigen Reformbemühungen etwa in Italien oder Spanien (Verstärkung des Re­ gionalismus in Richtung auf einen „neuen“ Föderalismus) können vielleicht etwas vom folgenden „Österreich-Bericht“ lernen. Im Ganzen ist dabei freilich jene Sympathie für die Alpenrepublik wegleitend, die das übrige Europa in der „Causa Österreich“ so schmerzlich vermissen ließ (ebenso wie eine innerösterreichische Literaturtradition von T. Bernhard bis E. Jelinek). An die unverfrorene Verletzung des Europäischen Verfassungsrechts durch die 14 Mitglieder der alten EU540 muss immer wieder erinnert werden. Sie war ein „Sündenfall“, angestiftet von den sog. „Großen“ (Deutschland, Frankreich) in Europa. Dieses Europa lebt aber auch und gerade von den sog. „Kleinen“ und seit der Osterweiterung der EU von den in der Mitte gelegenen Ländern: wie Österreich. Dessen konstitutionelle Entwicklungen, auch auf der Ebene seiner Gliedstaaten, sollten da539  Darum ist die (sehr umfangreiche) Verfassung von Wien im Anhang (JöR 54 (2006)) nicht abgedruckt. B.-C. Funk, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1988), S. 57 (74), spricht 1987 von der „schmucklosen Nüchternheit der Verfassung der Bundeshauptstadt Wien.“ 540  Dazu P. Häberle, VVDStRL 60 (2001), S. 404 f.; G. Winkler, in: C. P. Wieland (Hrsg.), Österreich in Europa, 2001, S. 61 ff. Weitere Lit. bei P. Häberle, Der europäische Jurist, JöR 50 (2002), S. 123 (194 f.).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

her von sich seinerseits verfassenden Europa her intensiv beobachtet und begleitet, ggf. auch unterstützt werden. Dem dient der folgende Versuch. I. Präambeln Präambeln sind eine seit langem schon „klassische“ Kategorie des Verfassungsstaates, auch wenn dieser als Typus nicht zwingend eine Präambel vorausschicken muss (vgl. z. B. Griechenland, 1975, mit seiner bloßen invocatio dei, und die Niederlande, 1983). Viele ältere und neuere Beispiele variieren die Präambelform, auf der Ebene von Länderverfassungen jüngst etwa KV Bern (1994), besonders eindrucksvoll aus schon älterer Zeit die Verfassung Bayern (1946) und Baden-Württemberg (1953). Zwar können die Funktionen der Präambel auch von Grundwerte- und Grundrechts-Artikeln z. T. mit übernommen werden, auch dafür gibt es Beispiele (ohne Präambel: Verf. Luxemburg von 1868  /  2009), indes empfiehlt sich verfassungspolitisch und „verfassungspädagogisch“ die „Eröffnung“ des Verfassungstextes durch eine ausdrückliche Präambel. Sprachlich bürgernah und prägnant, inhaltlich Geschichte verarbeitend und Zukunft entwerfend, umschreiben Präambeln meist das Konzentrat der (nachstehenden) Verfassung. Zu Recht wird ihnen von den Verfassungsgerichten z. B. Deutschland und Frankreich oder ausdrücklich textlich (so in Afrika: Präambel Verf. Tschad von 1996) normative Kraft beigelegt541. Sie sind nicht bloßes „Ornament“, sondern Essenz, sie können dies jedenfalls sein. Mitunter werden sie sprachlich zum „Textereignis“ (z. B. in Palau 1973, Gambia 1997, in Albanien, 1998, und in Ecuador, 2008). Auf europäischer Ebene bedienen sich sowohl die EU-Grundrechtecharta (2000) als auch der Verfassungsentwurf des EUKonvents (2004) der Kunst- und Sprachform der Präambel, ebenso die Verfassungsverträge von Lissabon (EUV, AEUV, 2007) sowie völkerrechtliche Verträge. Von den neun österreichischen Gliedverfassungen zeichnet sich nur eine, nämlich die von Tirol (1989) durch eine aussagekräftige Präambel aus. Das dürfte kein Zufall sein: Der Positivismus eines H. Kelsen konnte sich für Verfassungspräambeln kaum „erwärmen“; weder die Bundesverfassung von 1920, noch Wien (1968) oder eine andere Verfassung (außer Tirol) kennt die Präambel, auch wenn manche Eingangsartikel grundwertehaft präambelähnlich sind (dazu sogleich: z. B. Art. 4 Niederösterreich). Die Präambel Tirols ist ebenso inhaltsreich wie formal geglückt. Sie wagt einen neuartigen Gottesbezug („Treue zu Gott“), sie bekennt sich zu „geschichtlichem Erbe“, sie beruft sich auf die „geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes“ (ein Element von Kulturverfassungsrecht) und sie normiert ein Konzentrat von Grundrechtsartikeln in den Worten „die Freiheit und Würde des Menschen, die geordnete Familie als Grundzelle von Volk und Staat“ (sc. zu wahren und zu schützen). Bemerkenswert ist auch der Verweis auf die „geistigen, politischen und sozialen Grundlagen Tirols“. Mit dieser Präambel hat sich das Land Tirol zu einem materialen Verfassungsverständnis bekannt, vielleicht unter dem Einfluss der „Innsbrucker Schule“ von H. R. 541  Zum Ganzen P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff., später fortgeschrieben in ders., Verfassungslehre, a. a. O., 2. Aufl. 1998, S. 920 ff. Jetzt A. Khol, Die österreichische Diskussion um eine Verfassungspräambel, FS Ress, 2005, S. 1183 ff.



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Klecatsky und P. Pernthaler542 und dem Eindruck ausländischer Beispiele. Zugleich hat es sich in die große Zahl deutschsprachiger Länder eingereiht, die ebenfalls ideenreiche und vielgestaltige Präambeln geschaffen haben (später ragt unter den fünf neuen deutschen Bundesländern etwa Verf. Brandenburg von 1992 durch seine Präambelkunst heraus)543. Dem Land Tirol ist eine Textstufe geglückt, die für Föderalstaaten vorbildlich ist: fast universal. II. Symbol-Artikel in Sachen Sprache, Hymne, Wappen, Hauptstadt, Feiertage, Kirchen Unter dem Begriff „Symbolartikel“ seien Verfassungstexte gebündelt, die besonders klar die durch Symbole begründete Tiefenschicht von verfassungsstaatlichen Verfassungen zum Ausdruck bringen. Sie schaffen ein Stück kultureller Identität für das jeweilige Land und sind auf der „höheren“ Ebene einer bundesstaatlichen oder sogar einheitsstaatlichen Verfassung ebenfalls mit dieser Funktion und in diesem Kontext anzutreffen (vgl. Art. 8, 8a Österreichisches B-VG, Art. 5, 6, 11 Verf. Portugal). Dass sich fast alle österreichischen Länder der Aussagekraft von Symbolartikeln bedienen, spricht für sich. Sie werten damit sich selbst via geschriebenes Verfassungsrecht auf und vergewissern sich ihres Eigenwertes und Eigengewichts sowie ihrer Eigenständigkeit als Gliedstaat im Bundesstaat Österreich. Im Folgenden einige Beispiele: Die Verfassung der Steiermark beginnt mit § 4 (Landeshauptstadt), fährt mit einer Aussage zur deutschen Sprache („unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten bundesgesetzlich eingeräumten Rechte“) fort (§ 5), um dann in § 6 Farben und Wappen des Landes festzulegen. Formal und inhaltlich ähnlich geht Verf. Burgenland (1981) vor. Art. 4 bis 7 beschäftigen sich mit Landesgebiet, Landesbürger, Landessprache und Landeshauptstadt. In Art. 8 werden ausdrücklich mit diesem Begriff die „Landessymbole“ festgelegt (Farben, Wappen, Hymne544). Die Verf. Kärnten (1996) überschreibt ihren ersten Abschnitt „Hoheitsgebiet und Symbole“ und befasst sich mit diesen Themen insgesamt in 9 Artikeln, wobei sich in Art. 7 a ein eindrucksvoller überreicher Staatsaufgabenartikel findet – das ist systematisch durchaus vertretbar: Staatsaufgaben wie der Umweltschutz und der Schutz der Kulturgüter haben auch eine symbolische Komponente. Wenn 542  H. R. Klecatsky, greifbar z. B. in den ihm gewidmeten Festschriften, 1980, 1990 sowie von 2010; P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996; ders., Der Verfassungskern, 1998; ders., Verfassungsentwicklung und Verfassungsreform in Österreich, in: B. Wieser / A. Stolz (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 2000, S. 67 ff. – B.-C. Funk spricht 1987 ganz allgemein denkbar glücklich von „Leistungen und Leistungsreserven des Landesverfassungsrechts in einzelnen Bereichen, a.  a.  O., S.  73 ff. 543  Texte abgedruckt in JöR 42 (1994), S. 149 ff. und 43 (1995), S. 355 ff. 544  Aus der Lit.: P. Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; ders., Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaat, 2007 (2. Aufl. i. V.); ders., Nationalflaggen – Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008; ders., Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat, 2011.

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der „nachgeschobene“ Art. 7 b sogar eine Sonntags- und Feiertagsgarantie bekenntnishaft umschreibt, so passt auch dies in das kulturelle Bild bzw. den Kontext von Symbolartikeln. Nicht minder eindrucksvoll sind die „Allgemeinen Bestimmungen“ der Verf. Vorarlberg (1999), sie führen noch vor den üblichen Landessymbolen (Hauptstadt, Sprachen, Landessymbole) ein Bekenntnis zu den Grundsätzen der freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung auf und anerkennen die „Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens“ (Art. 1 Abs. 1). Manche Klauseln finden sich auch sonst (im älteren Art. 4 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953). Die Verf. Niederösterreich (1979) schließlich widmet sich in den „Allgemeinen Bestimmungen“ neben vielen Staatsaufgaben von der Wirtschaft bis zur Kultur und, besonders innovativ, dem „Zugang des Bürgers zum Recht“ (Art. 4 Ziff. 7), im Kontext von Landeshauptstadt und Landessprache, in Art. 7 den Landessymbolen und dem „Landesfeiertag“ (ebd. Abs. 6). Durch solche landesverfassungsrechtliche Aussagen kann sich das kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis bestätigt fühlen. Die österreichischen Gliedstaaten wagen neue materiale Textstufen und schließen zu anderen Ländern bzw. Kantonen in Deutschland bzw. der Schweiz auf. Die naheliegenden Rezeptionsprozesse werden freilich kaum je in concreto nachweisbar sein. Doch ist zu vermuten, dass man auch in Österreich Verfassungsvergleichung praktiziert. Das Vorhandensein von „Wahlverwandtschaft (Koinzidenz oder Kausalität?) ist kaum zu klären. Jeder Verfassunggeber bzw. verfassungsändernder Gesetzgeber hat seinen eigenen Stolz. III. Grundrechte Die deutschen Landesverfassungen und die Schweizer Kantonsverfassungen zeichnen sich durch reichhaltige, im Vergleich zu der jeweiligen Bundesverfassung sogar oft sehr innovative Grundrechtskataloge aus. Verwiesen sei auf Verf. Bayern (Art. 98 bis 123), Verf. Hessen (Art. 1 bis 26), aus Ostdeutschland auf Verf. Thüringen (Art. 1 bis 43) bzw. Sachsen (Art. 14 bis 38). In der Schweiz sei der kreative Grundrechtskatalog der Verf. Bern (Art. 9 bis 30) und Appenzell A.Rh. (Art. 4 bis 26) erwähnt. Gewiss, es kann zur „Parallelgeltung“ bzw. zu Kollisionen kommen, und Normen wie Art. 142 GG lösen nur einen Teil der durch die „doppelten Grundrechtsgarantien“ entstehenden Probleme (Fall Honecker). Dennoch können landes- bzw. kantonseigene Grundrechte dem Eigenwert der gliedstaatlichen Verfassung dienen, sie können sogar innerföderal grundrechtspolititsche Wettbewerbsprozesse in die Zukunft hinein um die „besten“ Grundrechte auslösen. Sie sind Ausdruck der in den drei hier verglichenen deutschsprachigen Ländern Schweiz, Deutschland und Österreich unterschiedlich starken Verfassungsautonomie der Kantone bzw. Länder, und verfassungspolitisch ist diesen anzuraten, ihren Gestaltungsspielraum bis an die Grenzen auszunutzen, ja zu „testen“. Der Bürger kann sich vor Ort gerade dank der privaten und öffentlichen Freiheiten mit der Verfassung bzw. seinem Land identifizieren. Die totalrevidierten Schweizer Kantonsverfassungen von heute sind hier schlechthin vorbildlich, zumal wenn man sie um die Staatsziele- und Staatsaufgaben-Artikel ergänzt sieht (besonders eindrucksvoll KV Schaffhausen von 2002, Art. 22, zuvor Art. 31 bis 54 KV Bern von 1993, zuletzt §§ 14 bis 38 KV Basel-Stadt von 2005).



Inkurs X: Textstufen in österreichischen Landesverfassungen581

Im Vergleich mit der Schweiz und Deutschland geben sich die österreichischen Landesverfassungen bisher denkbar bescheiden. Zu stark wirkt die Grenze der Grundrechtsgarantien vom Bund her. Es ist indes zu vermuten, dass inskünftig vor allem die überstaatlichen Menschenrechtsgarantien ihr Werk tun, d. h. auf die gliedstaatlichen Verfassungen ausstrahlen. Das gilt vor allem für UN-Garantien (z. B. die Kinderrechtskonvention), aber auch für die europäischen Menschenrechtsgarantien, vor allem die EMRK, zumal diese im Bund (Schweiz, Österreich) auf Verfassungsstufe gilt, und für die EU-Grundrechte bzw. die EU-Grundrechte-Charta von 2000 / 07. Vergleicht mann die bis jetzt textlich in den einzelnen österreichischen Landesverfassungen garantierten, z. T. profilbildenden Grundrechtsgarantien, so findet man ein im Entstehen begriffenes Normenensemble um die Themen „Freiheit und Menschenwürde“, Gleichheit, kulturelle Teilhabe und – fast sensationell – „Zugang zum Recht“ (jetzt auf EU-Ebene rezipiert: Art. 47 EUV von 2007). Im Einzelnen: Verf. Niederösterreich „versteckt“ in seinem reichhaltigen Artikel 4 „Ziele und Grundsätze staatlichen Handelns“ u. a. die Aufgabe von „Altern in Würde“ und die Förderung der „Anliegen der Kinder und Jugendlichen“. Unter dem Stichwort: „Bürgernähe und Deregulierung“ (Art. 4 Ziff. 7) schafft Niederösterreich das in dieser Form neue Grundrecht „Zugang der Bürger zum Recht“. Art. 1 Abs. 2 Verf. Burgenland (1981) gründet dieses auf „Freiheit und Würde des Menschen“, in Abs. 1 ist das Selbstverständnis als „demokratischer und sozialer Rechtsstaat“ normiert, also Universales. Tirol beruft sich in seiner schon analysierten vorbildlichen Präambel auf die „Freiheit und Würde der Menschen“. Es verlangt auch die „Achtung der Freiheit des kulturellen Lebens“ (Art. 10 Abs. 2), garantiert den Schutz des Eigentums (Art. 11) samt Auftrag zur Förderung der „Eigentumsbildung“, garantiert das Petitionsrecht (Art. 12) und normiert ein „Recht auf Sozialhilfe und auf Rehabilitationsmaßnahmen“ (Art. 13), als Maßgabegrundrecht. Die Verf. von Oberösterreich normiert die „Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns“ in einem neuen „Hauptstück 1 a“. Darin sind in Art. 9 in Gestalt von Staatsaufgaben u. a. unter „Wahrung des Gemeinwohls“ die „freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen“ erwähnt – eine Bestätigung der Lehre von den Grundrechten als Staatsaufgaben545. Abs. 3 normiert: „Jedes staatliche Handelns des Landes hat auf der Grundlage der Grundrechte die Würde des Menschen, die Selbstgestaltung seines Lebens und die Verhältnismäßigkeit der angewandten Mittel wie den Grundsatz von Treu und Glauben zu achten“. Letzterer ist neues gemeinschweizerisches Verfassungsrecht (vgl. Art. 5 nBV, § 2 Verf. Aargau von 1980, Art. 10 KV Fribourg von 2004). Art. 9 Abs. 4 befreit sich ebenfalls von der traditionellen „Schüchternheit“ mancher älterer innerösterreichischer Textstufen, indem es auf die EMRK Bezug nimmt und sehr allgemein auf die Grundrechte verweist (damit sind auch die Menschenrechtspakte angesprochen). Er lautet: „Das Land Oberösterreich bekennt sich zur Gleichbehandlung und Gleichstellung aller Menschen im Sinne der Grundrechte, insbesondere zum Verbot jeglicher Diskriminierung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention“. Auch werden Maßnahmen zur Förderung der „faktischen Gleichbehandlung und Gleichstellung“ etc. für zulässig erklärt. Abs. 5 spricht von den Verwaltungsaufgaben 545  Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (103 ff.). – Speziell für Österreich: H. Schreiner, Grundrechte und Landesverfassungen, ZÖR 54 (1999), S. 89 (95 f.).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

„Dienst am Menschen“. Art. 14 schließlich wagt einen reichen Kultur-Artikel (Pflege von Wissenschaft, Bildung, Kunst und Sport, Achtung der Freiheit, Unabhängigkeit und Vielfalt des kulturellen Lebens u. Förderung der „Teilnahme und Mitwirkung eines jeden am kulturellen Leben“), Abs. 1 Abs. 2 garantiert die Förderung eines „umfassenden Bildungsangebots für die Bürger Oberösterreichs. Art. 15 Abs. 1 spricht von „Hebung der Lebensqualität“ dieser Bürger, „buon vivir“ in Ecuador! Die Verfassung von Salzburg normiert in seinem großen Aufgaben-Artikel 9 eine Vielfalt von Staatsaufgaben mit Grundrechtsbezügen – einem Trend vieler neuerer Verfassungen folgend (z. B. Art. 31, 42 Verf. Bern). So ist von der Ermöglichung der „Teilhabe aller Interessierten an Bildung und am kulturellen Leben“ die Rede, von der Sicherstellung der „Grundlagen für die Führung eines menschenwürdigen Lebens“, von der Unterstützung „alter und behinderter Menschen“, der Anerkennung der Familie, vom Ziel der Erreichung einer „kinderfreundlichen Gesellschaft“, von der Schaffung von „Chancengleichheit und Gleichberechtigung aller Landesbürger“, insbesondere der Frauen. Art. 10 verlangt Respekt von der „Freiheit und Würde des Menschen“ (Abs. 2), Abs. 3 ebd. gewährt die Eigentumsgarantie. All diese Texte sind Bausteine für die vergleichende Verfassungslehre und sogar den universalen Konstitutionalismus und sie belegen die Offenheit des Föderalismusmodells. Zuletzt ein Blick auf Vorarlberg, das als „Grenzland“ im Verhältnis zur Schweiz und zu Deutschland gewiss verfassungspolitischen Einflüssen dieser Länder ausgesetzt ist. Dementsprechend reich ist die in einen Staatsaufgaben-Artikel gekleidete Aussage zu Grundrechten. In Art. 7 findet sich im Kontext von „Subsidarität“ und „Solidarität“ der Satz (Abs. 2): „Jedes staatliche Handeln des Landes hat die Würde des Menschen, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Verhältnismäßigkeit der angewandten Mittel und die Grundsätze von Treu und Glauben zu achten“. Die Rede ist von der Unterstützung betagter Menschen und Menschen mit Behinderung (Abs. 3), neu von der „Achtung der Würde des Menschen im Sterben“ (Abs. 4). In Art. 8, einem sehr modernen Familien- bzw. Kinder-Artikel, ist von der „Vorrangigkeit des natürlichen Erziehungsrechts der Eltern“ die Rede (Abs. 2), auch wird auf die Kindrechtskonvention der UN bekenntnishaft Bezug genommen. Art. 9 spricht von der Achtung des Rechts eines jeden, am kulturellen Leben teilzunehmen (kulturelle Teilhabe!), Art. 10 garantiert das Petitionsrecht, Art. 11 den Schutz des Eigentums. Im Ganzen: In Sachen Grundrechte wächst Schritt für Schritt ein „von außen“ beeinflusstes Normenensemble heran, das den einzelnen Gliedstaaten Österreichs nach und nach ein eigenes Profil verleiht. Die die Länder bzw. Kantone erfassende „Europäisierung und Internationalisierung“ wirkt sich in ihrem eigenen Verfassungsrecht aus (EMRK, UN-Kindrechtskonvention: Art. 13 Abs. 2 Verf. Oberösterreich). Vieles ist in die scheinbar schwächere Form von Staatsaufgaben eingekleidet, die Staatsaufgaben und Schutzpflichtendimension stärkt aber letztlich auch die subjektiven Grundrechte der Einzelnen. Vielleicht wagen die österreichischen Landesverfassungen auf diesem Weg eine allmähliche Annäherung an die Grundrechtsstandards der „Schwesterländer“ Schweiz und Deutschland. Sie sind auf diesem Wege von der Wissenschaft zu ermutigen546 (universaler Konstitutionalismus). 546  Aus der österreichischen Literatur: R. Rack (Hrsg.), Grundrechtsreform, 1985; K. Korinek, Entwicklungstendenzen in der Grundrechtsjudikatur des Verfas-



Inkurs X: Textstufen in österreichischen Landesverfassungen583 IV. Staatsaufgaben auf sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gebieten – Subsidarität und Solidarität

Der vergleichenden Verfassungslehre entspräche es zwar, auf die Grundrechte systematisch die Demokratienormen folgen zu lassen, denn diese sind eine organisatorische Konsequenz jener, vor allem der Menschenwürde547. Da die Grundrechtsgarantien in den österreichischen Landesverfassungen indes bislang erst allmählich heranwachsen und besonders oft in Staatsaufgaben-Artikel „verpackt“ sind, seien jetzt die Verfassungsnormen dargestellt, die sich den Staatsaufgaben auf den verschiedenen Feldern widmen. In einigen Länderverfassungen präsentieren sich die StaatsaufgabenArtikel besonders reichhaltig und differenziert, im Vergleich mit anderen neueren Verfassungen sogar höchst modern. Es finden sich große umfangreiche Kataloge. Offenbar wagen die österreichischen Länder sich gerade auf diesem Feld in neue Gebiete vor, z. T. wieder inspiriert durch ausländisches und europäisches Verfassungsrecht. Da sich der kooperative Verfassungsstaat wesentlich durch seine Aufgaben legitimiert548, kommt die Normierung von Staatsaufgaben dem Selbststand und dem „Selbstbewusstsein“ der österreichischen Bundesländer zugute, auch schafft sie Bürgernähe. Überdies bilden diese expandierenden und sich immer weiter aus differenzierenden Aufgaben-Kataloge ein Stück der sich europäisch, ja weltweit entwickelnden Verfassungswirklichkeit ab. So schreiben österreichische Verfassungen teils die Wirklichkeit fort, teils wagen sie sich in neue normative Felder vor. Der Vergleich mit den Schweizer Kantonsverfassungen (Art. 31 bis 53 KV Bern, §§ 90 bis 128 KV Basel-Land) und deutschen Länderverfassungen (z. B. Art. 11 bis 19 Verf. MecklenburgVorpommern von 1993, Art. 11 bis 13 Verf. Sachsen von 1992) ist auch hier ergiebig. Im Einzelnen: Die Verf. Niederösterreich normiert einen höchst umfangreichen Art. 4: „Ziele und Grundsätze staatlichen Handelns“ mit nicht weniger als 7 Unterziffern bzw. Stichworten: „Subsidarität“, „Lebensbedingungen“, „Wirtschaft“, „Jugend“, „Familie“ und „ältere Generation“, „Kultur“549, „Wissenschaft“ und „Bildung“, sungsgerichtshofes, 1992; W. Berka, Lehrbuch Grundrechte, 2000. Früh: R. Novak u. a. (Hrsg.), Der Föderalismus und die Zukunft der Grundrechte, 1982; zuletzt: M. Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997; G. Holzinger, Grundrechtsform in Österreich, JöR 38 (1989), S. 325 ff.; M. Holoubek, Überblick über einige Grundpositionen des Grundrechtsschutzes, JöR 43 (1995), S. 573 ff.; s. auch das Schwerpunktheft 51 / 1, 1999 der ZÖR: Grundrechte in Österreich sowie T. Oehlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl., 2009, S. 298 ff.; D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Bd. VII / 1, Grundrechte in Österreich, 2009. 547  Dazu mein Beitrag: Menschenwürde und pluralistische Demokratie, FS Ress, 2005, S. 1163 ff.; jetzt BVerfG 123, 267 (341). 548  Aus der Lit.: P. Häberle für die Schweiz: Neuere Verfassungen, a. a. O., JöR 34 (1983), S. 303 (371 ff.). Aus der Schweizer Lit.: P. Richli, Staatsziele, Staatsaufgaben, …, ZBJV 140 (2004), S. 801 ff.; M. Hebeisen, Staatszwecke, Staatsziele, Staatsaufgaben, 1996. Aus der allgemeinen Lit. die Typologie in: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 31 ff.; s. auch K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997; J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben, HStR, Bd. III, 1988, S. 3 ff. (jetzt HStR Bd. IV, 2006, § 71 und § 73). 549  Zum Kulturverfassungsrecht in Österreich: P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; H.-U. Evers, Kulturverfassungsrecht und Kulturverwal-

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„Grundsätze der Verwaltungsführung“, „Bürgernähe und Deregulierung“. In Ziff. 2 geht es um die „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse“, um die Erhaltung des „Sonntags als Tag der Arbeitsruhe“ (!), um „Gesundheits- und Umweltschutz“. Ziff. 5 verlangt die Förderung von „Kunst und Kultur, Wissenschaft, Bildung und Heimatpflege“, Ziff. 7 unter dem neuen Stichwort „Zugang der Bürger zum Recht“, die „Verständlichkeit der Gesetzes- und Behördensprache“ und die „Bürgerfreundlichkeit der Verwaltung“. All dies liest sich wie manche Abschnitte in guten Lehr­büchern und Kommentaren. Die Verfassung von Tirol wagt schon in der bereits analysierten Präambel den Auftrag an den Landtag, die „geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes“, die „Freiheit und Würde des Menschen“, die „geistigen, politischen und sozialen Grundlagen“ zu schützen, und Art. 7 präzisiert dies mit Stichworten wie „Sicherung der freien Entfaltung der Persönlichkeit“, der Selbsthilfe, des „Zusammenhalts aller gesellschaftlicher Gruppen“, Sorge für die „wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse der Landesbewohner“, Schutz und Pflege der Umwelt, Förderung der „freien Entfaltung der Wirtschaft unter Wahrung der Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft“. Art. 10 sagt kurz und bündig: „(1) Das Land Tirol hat Wirtschaft, Kunst und Heimatpflege sowie das Erwerben von Bildung zu fördern. (2) Das Land Tirol hat die Freiheit des kulturellen Lebens zu achten und dessen Vielfalt zu fördern.“ Die Verf. Oberösterreichs gestaltet ihren Art. 9 „Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns“ ähnlich aus. Typische Stichworte sind: „auch in Wahrung der Verantwortung für künftige Generationen“ (eine „Erinnerung“ an Art. 31 Verf. Bern), sodann das Bekenntnis zum Subsidaritätsprinzip, das ja vor allem im Europäischen Verfassungsrecht garantiert ist (Art. III, 9 Abs. 3 VerfE. 2004, s. auch Art. 23 Abs. 1 GG). Die Staatsaufgabe faktische Gleichstellung (Diskriminierungsverbot) wurde schon erwähnt. Art. 11 spricht vom Ziel der „Vollbeschäftigung“, von „nachhaltiger und sozialer Marktwirtschaft“ – alles Stichworte für eine vergleichende Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht. Von ähnlichem Geist ist die Verf. Kärnten geprägt. Ihr (neuer) Art. 7 verlangt Schutz und Pflege der Umwelt, denkt auch an die „künftigen Generationen“, an die Bewahrung der Kulturgüter Kärntens und wagt sogar einen verfassungspädagogischen Auftrag (Art. 7 a Ziff. 8: „das Umweltbewusstsein der Bewohner und Besucher Kärntens … zu fördern“ (Art. 7 b mit seinem Sonn- und Feiertagsschutz bleibe Merkposten). Verf. Vorarlberg variiert die hier behandelten Themen, insofern sie in Art. 8 die Förderung von Ehe und Familie postuliert, in Art. 9 sagt: „Das Land bekennt sich zur Pflege von Wissenschaft, Bildung und Kunst sowie zur Heimatpflege. Es achtet die Freiheit, Unabhängigkeit und Vielfalt des kulturellen Lebens und das Recht eines jeden am kulturellen Leben teilzunehmen“. Dieses kulturelle Teilhaberecht steht in „Wahlverwandtschaft“ zu analogen Normen in anderen älteren und neueren Verfastungsrecht in Österreich, JöR 33 (1984), S. 189 ff.; P. Pernthaler (Hrsg.), Föderalistische Kulturpolitik, 1988; ebd., S. 67 ff.: R. Bernhard, Kulturpolitik in den Ländern Österreichs. Zu „Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule“: W. Mantl, VVDStRL 54 (1995), S. 75 ff.



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sungen (z. B. Art. 40 Abs. 3 S. 2 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947, Art. 26 Ziff. 4 Verf. Bremen von 1947). Sie verdient alle Aufmerksamkeit: der Politik, Wissenschaft und der Judikatur über Europa hinaus. Einen nahezu „kompletten“ Staatsaufgabenkatalog entwirft Verf. Salzburg in Art. 9 und 10. Sie lesen sich fast wie ein wissenschaftliches und verfassungspolitisches „Anleitungsbuch“ in Sachen Staatsaufgaben. An vieles, wenn nicht alles ist gedacht: an wirtschaftliche, soziale, gesundheitliche und kulturelle Bedürfnisse auch der künftigen Generationen, an die Vorsorge für eine „hochwertige Infrastruktur“, an den Schutz der „Kulturlandschaft“, an den „Schutz der Tiere als Mitgeschöpfe des Menschen aus seiner Verantwortung gegenüber den Lebewesen“ – eine auch besonders sprachlich geglückte Wendung wohl nach Schweizer Vorbilder. Die Rede ist von „bewahrens- und erhaltenswerten Kulturwerten“, Ermöglichung der „Teilhabe aller Interessierten an Bildung und am kulturellen Leben“, sodann von der Sicherstellung der zur „Führung eines menschenwürdigen Lebens notwendigen Grundlagen“, von der Unterstützung alter und behinderter Menschen, von der Schaffung von Chancengleichheit (insbesondere für Frauen), von der Anerkennung des Sonntags. In Art. 10 findet sich ein Kanon von allseits bekannten Verfassungsprinzipien wie der „Freiheit und Würde des Menschen“, die Gleichheit, die „Verhältnismäßigkeit“ sowie „Sparksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit“. Das Ganze ist vom Geist sowohl der Solidarität als auch der Subsidarität durchdrungen (vgl. etwa: Verantwortung aller für die „Notwendigkeiten der Gemeinschaft“, „soziale Gerechtigkeit“, „Unterstützung der Eigenverantwortung des Einzelnen im Sinne von Eigeninitiative oder Selbsthilfe“). Die Ziele für die Verwaltung von der Zweckmäßigkeit bis zur Wirtschaftlichkeit sind nicht vergessen. Im Ganzen: Die analysierten Normen in Sachen Staatsziele und Grundsätze staatlichen Handelns verleihen dem österreichischen Landesverfassungsrecht Farbe, Gestalt und einen beachtlichen Bedeutungszuwachs. Die einschlägigen Artikel stehen in einem aktiven Rezeptions- und Produktionszusammenhang mit ähnlichen Normen anderer Verfassungsstaaten, auch wenn er kaum direkt belegbar sein mag. V. Direktdemokratische Elemente Die Schweiz ist auf Bundes- wie Kantonsebene durch ihre erfolgreiche „halbdirekte Demokratie“ gekennzeichnet. Auch die jüngsten totalrevidierten Kantonsverfassungen halten an ihnen fest („Politische Rechte“, „Volksrechte“) und bauen sie sogar aus (z. B. §§ 59 bis 67 KV Aargau; Art. 55 bis 63 KV Bern; Art. 9 bis 19 Graubünden; Art. 50 bis 60 KV Appenzell / A. Rh.). Demgegenüber bietet Deutschland ein anders Bild. Das GG kennt nur punktuell Elemente unmittelbarer Demokratie (vgl. Art. 29, 146), immer wieder beginnt zwar eine Diskussion über die grundsätzliche Einführung plebiszitärer Elemente, z. B. aus Anlass des Streits um eine Volksabstimmung über eine neue EU-Verfassung und eine Aufnahme der Türkei in die EU oder bei Großvorhaben (zuletzt Stuttgart 21, 2011, sowie Franz-Josef-Strauss Flughafen, München, Startbahn III, 2012), doch scheinen politisch die Gegner solcher Pläne die Oberhand zu behalten. Ganz anders ist das Bild auf Länderebene. Hier haben sehr früh Länder wie Bayern und Hessen direktdemokratische Elemente ohne Scheu vor „Weimar“ gewagt (1946) und seitdem auch praktiziert (vor allem bei Verfassungsänderungen). Die fünf neuen Bundesländer im Osten haben durch-

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5. Kap.: Einzelausprägungen

weg Formen unmittelbarer Demokratie etabliert, z.  T. auch neue Verfahren wie Volksinitiative (z. B. Art. 80 Verf. Sachsen-Anhalt von 1992) riskiert. Das mag seine Gründe auch im Erfolg der friedlichen Oktoberrevolution 1989 unter dem Motto „Wir sind das Volk“ haben, könnte aber auch jene ermutigen, die der Auffassung sind, jedenfalls in „kleinen Verhältnissen“ könne man das Volk unmittelbar beteiligen bzw. „mehr Demokratie wagen“. Ein Blick auf die österreichischen Landesverfassungen macht neugierig550. Kennt schon die Bundesverfassung mannigfache Formen unmittelbarer Demokratie (z. B. die Volkswahl des Bundespräsidenten und Volksbegehren, Art. 60 B-VG, Art. 41 Abs. 2 B-VG), so erweist sich eine genaue Analyse der Einzelregelungen als höchst ergiebig. Es finden sich nicht nur die klassischen Formen wie Volksbegehren und Volksentscheid, sondern auch eigenwillige wie die Einschaltung des Volkes beim Erlass von Rechtsverordnungen sowie neue wie sog. Begutachtungen und gewisse Informationspflichten gegenüber dem Volk. Man mag auch die Konstitutionalisierung der politischen Parteien (z. B. Art. 3 Verf. Burgenland, Art. 8 Tirol) und den Volksanwalt (z. B. Art.  59 Verf. Tirol) hinzunehmen – als Einrichtungen, die sich sozusagen zwischen der unmittelbaren und der mittelbaren Demokratie befinden. Diese Akzente direktdemokratischer Verfassungsentwicklung mit vorbildlichen institutionellen Anreicherungen verdienen die Aufmerksamkeit der Wissenschaft, zumal der Verfassungsvergleichung im Blick auf alle Bundesstaaten (bekanntlich wagen auch Einzelstaaten in den USA, etwa Kalifornien, direktdemokratische Verfahren, die sogar höchst lebendig sind). Denkbar ist auch, dass die deutschen Bundesländer künftig von den neuartigen Einrichtungen der österreichischen Gliedverfassungen „lernen“. Die Wissenschaft sollte jedenfalls i. S. „wissenschaftlicher Vorratspolitik“ nicht müde werden, zu ergründen, wie sich neue und alte direktdemokratische Elemente auch verfeinern lassen und ob sie sich in der Praxis bewähren. Dabei sollte sich der Blick auch auf Verfassungen in Übersee richten. Im Einzelnen: Verf. Steiermark regelt in §§ 38, 39 und 41 nicht nur die Voraussetzungen von Volksbegehren und Volksabstimmung, es schafft in § 40 auch eine bemerkenswerte Innovation. Danach kann durch gleichlautende Gemeineratsbeschlüsse von mindestens 80 der Gemeinden der Steiermark der Erlass, die Änderung oder Aufhebung von Landesgesetzen auch von Landesverfassungsgesetzen (!) verlangt werden. Die Kommunen sind auf diese Weise enorm aufgewertet und am Gesetzgebungsverfahren Beteiligte. Das sollte in anderen Bundesstaaten vor allem in Deutschland Schule machen. In § 37 ist für Verordnungen der Landesregierung von „grundsätzlicher Bedeutung“ im selbstständigen Wirkungskreis des Landes ein allgemeines Begutachtungsverfahren geschaffen. Danach können Landesbürger, Gemeinden, Interessenvertreter und sonstige betroffene Personen eine schriftliche 550  Zur Entwicklung des „demokratisch-parlamentarischen Prinzips“ auf Bundesebene: F. Ermacora, Österreichische Verfassungsentwicklung von 1978–1990, JöR 40 (1991 / 92), S. 539 (544 ff.). Zur „politischen Grundrechten“ gleichnamig M. Nowak, 1988. – B.-C. Funk, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1988), S. 57 (79 ff.) beobachtet schon 1987 das besonders wichtige „Vordringen von Einrichtungen der direkten Demokratie“ in den Ländern. Zum Demokratiebegriff der Bundesverfassung: T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl., 2009, S. 159 ff.; ebd. (zu den Ländern), S. 206 ff.



Inkurs X: Textstufen in österreichischen Landesverfassungen587

Stellungnahme abgeben, effektiviert durch ein Recht von jedermann, in die eingelangten Stellungnahmen „Einsicht zu nehmen“. Dies ist ein Stück Demokratisierung des Verordnungsrechts und umschreibt überdies eine neue Dimension des Status politicus des Bürgers. § 43 schafft ein Initiativrecht für Landesbürger, § 44 regelt die Volksbefragung. Verf. Niederösterreich richtet in Art. 25 ein Begutachtungsverfahren in Bezug auf Gesetzesvorschläge der Landesregierung ein, wobei ebenso Interessenvertretungen der Gemeinden wie Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen (z. B. Jugendrat, Jugendkommission, Seniorenbeirat) genannt werden. Auch ist das Recht für jedermann (Bürgerbegutachtung „gegen Kostenersatz“) begründet. Auf das „Initiativrecht der Landesbürger und der Gemeinden“ nach Art. 26 sei verwiesen. Art. 30, 31 und 33 Verf. Burgenland sieht Volksbegehren und Volksabstimmungen vor, Art. 36 Verf. Tirol normiert die Begutachtung von Gesetzesentwürfen (mit Anhörungsrechten für Interessenvertretungen der Gemeinden und beruflicher Vertretungen, Art. 37 widmet sich den Volksbegehren. Besonders eingehend regelt Verf. Oberösterreich das Thema. Das 5. Hauptstück lautet: „Bürgerinnen- und Bürgerrecht in Gesetzgebung und Vollziehung“. Alle Details für Bürgerinitiativen sind in Art. 59 normiert, solche für das Bürgerbegutachtungsverfahren in Art. 58. Nach Art. 61 können auch Verordnungen der Landesregierung einem Begutachtungsverfahren seitens der Bürger unterzogen werden. Art. 57 Verf. Vorarlberg ermöglicht sogar ein Volksbegehren in „Angelegenheiten der Verwaltung“, Art. 58 eine Volksbefragung. Eine eigene Variante schafft Verf. Kärnten. Nach Art. 43 kann die Landesregierung „zur Erforschung des Willens der Landesbürger über Gegenstände aus dem selbstständigen Wirkungsbereich des Landes, die von besonderer Bedeutung sind, eine Volksbefragung anordnen“. Ähnliches findet sich in § 44 Verf. Steiermark. Die Landesverfassung Vorarlberg sieht in Art. 34 die Begutachtung von Gesetzesentwürfen der Landesregierung durch die Bürger vor, er nennt auch Anhörungsrechte für berufliche Vertretungen und für den Vorarlberger Gemeindeverband. Auch Art. 21, 24 Verf. Salzburg kennt das Verfahren der Volksabstimmung, ebenso Art. 39 Verf. Tirol; Art. 60 a Verf. Tirol verlangt die „Information der Bevölkerung“ in Angelegenheiten von besonders politischer, wirtschaftlicher und finanzieller Bedeutung. Im Ganzen: Die gelegentliche Einbeziehung der Kommunen in das Gesetzgebungsverfahren (sogar in die Verordnungspraxis) verdient ebenso wie die sog. „Begutachtung durch Bürger und Interessenvertretungen“ große Aufmerksamkeit. Hier kommen bürgerschaftliche und vielleicht auch korporativistische Momente ins Blickfeld. Der Europäische Ausschuss für Regionen und Kommunen (auch die „Cosac“) sollte ebenso wie der europäische Wirtschafts- und Sozialrat diese Regelungen wahrnehmen. Vielleicht sind auch manche Verfahren für das Innere der deutschen Bundesländer vorbildlich, da diese keine Schweizer „Vernehmlassung“ kennen551. 551  Zur „Volksanwaltschaft“ österreichischer Prägung: F. Ermacora, Die Entwicklung österreichischen Bundesverfassungsrechts …, JöR 26 (1977), S. 183 (189 ff.).; s. auch A. Beckmann, 20 Jahre Volksanwaltschaft in der Republik Österreich, Die Verwaltung 31 (1998), S. 167 ff.; T. Öhlinger, a. a. O. S.  292 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen VI. Europa-Artikel

Europa-Artikel sind naturgemäß erst seit einiger Zeit formal und materiell zu nationalem Verfassungsrecht „geronnen“. Zwar findet sich schon im deutschen GG von 1949 ein eindrucksvolles allgemeines Bekenntnis zu Europa (in der Präambel), doch bildet sich erst in jüngster Zeit eine Fülle von Europaklauseln heraus und zwar in dem Maße, wie sich das Europa im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne von Europarat (derzeit 47 Mitglieder) und OSZE (56 Mitglieder) konstitu­ tionalisiert. Es entsteht ein reich differenziertes „nationales Europaverfassungsrecht“, eine 1995 vorgeschlagene Kategorie552. Ein Gesamtbild dieser Verfassungsentwicklung kann hier nicht nachgezeichnet werden, genannt seien nur einzelne Kategorien wie allgemeine Bekenntnisklauseln, Aufträge zur europäischen Einigung, Bezugnahmen auf die „europäischen Regionen“ und Verweis auf die europäischen Grundrechte wie die EMRK553 (der die EU beitreten will) (Parallelen finden sich in Lateinamerika in Sachen lateinamerikanischer Integration bzw. in Afrika, zuletzt Präambel Verf. Angola von 2010 („beste Lehren der afrikanischen Tradition“)). In der Schweiz wagte zwar die neue BV nach heftigem Streit keinen EuropaArtikel, wohl aber nehmen einzelne totalrevidierte Kantonsverfassungen wie Bern (Art. 54 Abs. 1) auf Europäisches Bezug („Regionen Europas“). Auch sonst gibt es in den neuen Kantonsverfassungen mehr oder weniger zaghafte Verweise auf Europa bzw. das benachbarte Ausland (z. B. Art. 1 Abs. 2 KV Appenzell A.Rh.: Zusammenarbeit mit dem „benachbarten Ausland“; ähnlich Art. 5 Abs. 1 KV Vaud von 2003). Ganz anders ist das Bild in den deutschen Bundesländern. Hier hatte die Verf. des Saarlandes schon 1992 eine Vorreiterrolle übernommen (Art. 60 Abs. 2); andere Länder folgten (Art. 65 Abs. 2 Verf. Bremen). Selbst Bayern leistete sich, freilich recht spät, einen Europa-Artikel (Art. 3 a). Eine besonders intensive und extensive schon textliche „Europäisierung“ findet sich in allen ostdeutschen Landesverfassungen. Sie binden sich auf eine Weise dezidiert an Europa (z. B. Präambel und Art. 3 Abs. 3 Brandenburg, Art. 11 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, Art. 12 Verf. Sachsen). Anders gesagt, „Europa“ strahlt durch den Bund hindurch (vgl. Art. 23 nF GG) ins Innere der Länder aus, diese werden auf eine Weise „europaunmittelbar“; auch in Sachen „grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ innerhalb Europas. Bundesstaatstheoretisch sind diese Entwicklungen nach wie vor nicht aufgearbeitet, doch sollen sie größte Aufmerksamkeit beanspruchen. Es könnte sein, dass sich weltweit überall dort, so sich staatenübergreifend regionale „Staatenverbünde“ bilden, analoge Entwicklungen zeigen und sich in entsprechenden Klauseln verdichten (etwa in Lateinamerika und den Gliedstaaten dortiger Bundesstaaten im Blick auf den Andenpakt oder Mercosour), vielleicht später auch in Asien. Mit Spannung sollte man in den gliedstaatlichen Verfassungen Österreichs nach Europa-Artikel suchen und man wird fündig. Es finden sich teils Bekenntnisse zur europäischen Integration, teil Einrichtung sog. „Europaausschüsse“, teils EMRK552  P. Häberle, Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsent­würfe – der Ausbau von nationalem Europaverfassungsrecht, FS Everling I, 1995, S. 355 ff. 553  Dazu aus der (österreichischen) Lit.: C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2003 (4. Aufl., 2009). Aus Sicht der Schweiz: P. Sutter /  U. Zelger (Hrsg.), 30 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz, 2005.



Inkurs X: Textstufen in österreichischen Landesverfassungen589

Verweise. All dies ist „Material“ für die europäische Verfassungslehre als Teilstück der universalen Verfassungslehre im Kontext des Internationalen Rechts. Im Einzelnen:554 Eine besonders eindrucksvolle Textstufe findet sich in Art. 1 Abs. 3 Verf. Salzburg. Fast präambelhaft lautet er: „Das Land Salzburg nimmt als Region an der europäischen Integration und an der grenzüberschreitenden und interregionalen Zusammenarbeit teil“. Die Vorbilder in der Schweiz und in deutschen Landesverfassungen (z. B. Art. 54 Abs. 1 Verf. Bern von 1993 und Art. 60 Abs. 2 Verf. Saarland von 1991) sind unverkennbar, nehmen aber dem Text nichts an Bedeutung. Die Verf. von Oberösterreich hat, schon äußerlich als solche erkennbar, in „nachholender“ Verfassungsänderung eine ebenfalls sehr eindrucksvolle Textstufe geschaffen, die Vorbilder im deutschsprachigen „Ausland“ haben mag. Sie sei hier als Ganzes zitiert, weil sie in Österreich wohl derzeit der prägnanteste Europa-Artikel ist. Art. 1 lautet: „Das Land Oberösterreich bekennt sich zu einem geeinten Europa, das demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und bundesstaatlichen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidarität verpflichtet ist, die Eigenständigkeit der Regionen wahrt und deren Mitwirkung an europäischen Entscheidungen sichert. Oberösterreich sieht seine Stellung in diesem Europa als eigenständige, zukunftsorientierte und selbstbewusste Region und wirkt an der Weiterentwicklung eines solchen geeinten Europas mit“. Dieser Artikel ist derzeit wohl die beste Textstufe in deutschsprachigen Landesverfassungen. Er verknüpft das Europabekenntnis mit den Strukturnormen, ordnet sich in die „europäischen Regionen“ ein und verpflichtet sich auf die „Weiterentwicklung“ dieses geeinten Europas. Er ist teils aktive Rezeption von Bekanntem, teils Innovation und belegt die Offenheit des föderativen Modells. Eine Reihe von Verfassungen widmet sich der Sache Europa dezidiert im Organisationsrecht ihrer Landtage. So richtet Verf. Burgenland in Art. 42 b, der schon äußerlich als spätere Verfassungsänderung erkennbar ist, einen „Ausschus für europäische Integration und grenzüberschreitende Zusammenarbeit“555 ein, wobei Art. 83 die Mitwirkung des Landtages „in Angelegenheiten der europäischen Integration“ festlegt. Man kann von einem Stück „Parlamentarisierung“ sprechen. Die Landesregierung hat Mitteilungspflichten dem Parlament gegenüber und dieses kann seinen Standpunkt in europäischen Angelegenheiten der Landesregierung gegenüber zum Ausdruck bringen, die unter bestimmten Voraussetzungen aus „zwingenden landes- oder integrationspolitischen Gründen abweichen darf “. Damit hat der Lan554  Aus der österreichischen Literatur zu Europa und Österreich: M. Schweitzer, Europäische Union …, VVDStRL 53 (1994), S. 48 ff., bes. S. 62 ff.; M. Morass, Regionale Interessen und Wege in die EU, 1994; S. Griller, Grundzüge des Rechts der Europäischen Union, 1996; B.-C. Funk, Österreich und die EU, 1996; J. Unterlechner, Die Mitwirkung der Länder am EU-Willensbildungsprozess, 1997; F. Esterbauer / P. Pernthaler (Hrsg.), Europäischer Regionalismus an Wendepunkt, 1991; S. Mayer, Regionale Europapolitik, 2002; T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl., 2009, S.  89 ff.; A. Gamper, Staat und Verfassung: Einführung in die Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 2010, S. 51 f., 158 f. 555  Dazu aus der Lit.: M. Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 2004.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

desverfassunggeber, soweit ersichtlich zum ersten Mal, die Textwendung „integra­ tionspolitisch“ gebraucht. Art. 55 Verf. Vorarlberg schließlich hat einen ähnlichen Text zur „Mitwirkung des Landtages in Angelegenheiten der europäischen Integra­ tion“ geschaffen. Diese ist als solche zum Verfassungstext „geronnen“. § 18 Abs. 8 Verf. Steiermark sieht ebenfalls die Wahl eines Ausschusses „für Europäische Integration“ vor. An den Verweis auf die EMRK sei erinnert, die Inkompatibilität im Blick auf das Europäische Parlament erwähnt (Art. 38 Abs. 2 Verf. Niederösterreich, Art. 52 Verf. Burgenland). Es ist bemerkenswert, dass die Landesverfassungen in wohl keinem Fall alle Europa-Themen gleichzeitig normieren: etwa Europabekenntnisse und organisationsrechtliche Konsequenzen im Parlamentsrecht, Bezugnahmen auf die EMRK und Bekenntnisse zu dem Programm des „Europas der Regionen“. Das verfassungspolitische Vorgehen bleibt punktuell, was vermutlich politischer Kunst zur Kompromissbildung geschuldet ist. Der „nachführende“ Wissenschaftler freilich darf und soll den Gesamtzusammenhang sehen: hier die Möglichkeit, das sich vereinende Europa im Spiegel auch der gliedstaatlichen Verfassungen Österreichs in vielgestaltigen Texten im Ganzen zu erkennen. Der „europäische Jurist“ ist gefordert. VII. Sonstige eigengeartete Verfassungsthemen Zum Schluss sei unter einem „Sammeltitel“ einiges von dem aufgelistet, was die österreichischen Landesverfassungen über die bisher dargestellten Themen hinaus zu eigenständigen (Voll-)Verfassungen macht, die europaweit mit Föderal- und Regionalstaaten zu vergleichen, lohnt. Mag es sich auch um ein heterogenes „Sammelsummerium“ handeln, eine ganzheitliche Betrachtung lässt die Konturen einer eigenen österreichischen Verfassungssubstanz auf gliedstaatlicher Ebene erkennen. Dabei finden sich teils traditionelle Institute wie die kommunale Selbstverwaltung (z. B. Art. 84 bis 86 Verf. Tirol), teils besonders detailliert ausgebaute wie der Rechnungshof (hier mag auch einmal „Wien“ zu Wort kommen, § 73 a, sodann Art. 51, 53 Verf. Niederösterreich, Art. 74 Verf. Burgenland556), teils typisch Österreichisches wie der „Volksanwalt“ (z. B. Art. 70 Verf. Burgenland), teils Bekanntes wie die Selbstauflösung des Parlaments (Art. 10 Abs. 2 Verf. Steiermark, Art. 13 Verf. Burgenland), teils Elemente des Kulturverfassungsrechts, die in der Wissenschaft viel zu wenig bekannt sind, z. B. die Feiertage (etwa Art. 6 Abs. 2 Verf. Niederösterreich), teils die Sonntagsgarantie (z. B. Art. 4 Ziff. 2 Verf. Niederösterreich, Art. 7 Abs. 5 Verf. Vorarlberg), die Herausstellung der Kirchen und Religionsgesellschaften (Art. 1 Abs. 1 Verf. Vorarlberg), die Institutionalisierung der Interessenvertretungen von Gemeinden (z. B. Art. 60 Verf. Niederösterreich), die Enqueten (Art. 47 Verf. Burgenland): durchweg gute Verfassungspolitik. Auf manche andere Kultur-Artikel (kulturelle Teilhabe, Kulturaufträge in Sachen Wissenschaft, Kunst, Bildung und Heimatpflege) sei verwiesen (z. B. Art. 47 Verf. Niederösterreich, Art. 20 Verf. Tirol, Art. 7 a Ziff. 2 Verf. Kärnten). 556  Aus der Lit.: H. Schulze-Fielitz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), S. 231 ff. Ebd. S. 278 ff. auch der „Länderbericht Österreich“ von H. Schäffer.



Inkurs X: Textstufen in österreichischen Landesverfassungen591 Ausblick

Das schrittweise Heranwachsen von eigenstrukturiertem Landesverfassungsrecht in Österreich verdient viel Aufmerksamkeit der vergleichenden, ins Universale blickenden Verfassungslehre. Die gern als wenig ergiebig belächelten oder sogar ignorierten Landesverfassungen der Alpenrepublik557 gewinnen im Laufe der Zeit nach und nach textstufenhaft eigene Konturen. Es gelingen ihnen z. T. sogar kühne Neuerungen (wie in Art. 4 Ziff. 7 Verf. Niederösterreich „Zugang zum Recht“ durch bürgernahe Sprache), sie schaffen Vorbildliches wie die „Begutachtung“ von Gesetzesentwürfen, der „Vernehmlassung“ in der Schweiz kongenial (Art. 64 Verf. Bern), sie geben Stich­ worte zu guter Verwaltung wie Bürgernähe („Einfachheit“, „Sparsamkeit“) und sie schließen da und dort zu den „Schwesterverfassungen“ der Schweizer Kantone und deutschen Länder auf (etwa in Sachen Europa sowie bei den Staatsaufgaben) und zurückhaltender bei den Grundrechten). Insofern werden die Umrisse einer „Textgemeinschaft“ erkennbar. Im „Europa der Regionen und Kommunen“ sollten dies Verfassungsentwicklungen sensibel verfolgt und von der Wissenschaft ermutigt werden558. Das Schattendasein, in dem sich, soweit ersichtlich, die österreichischen gliedstaatlichen Verfassungen bis heute sowohl in „Wien“ als auch in der Schweiz und Deutschland wissenschaftlich befinden, sollte überwunden werden. Das wäre mittelbar sogar ein Dienst am – offenen – Bundesstaat Österreich insgesamt, aber auch ein Dienst am Föderalismus bzw. Regionalismus als hoher Entwicklungsstufe des Typus Verfassungsstaat von heute, zumal in Europa, aber vielleicht auch darüberhinaus. Von kleinen, d. h. gliedstaatlichen Verfassungen ausgehend, sei jetzt ein Blick auf eine große föderale Beispielsnation gewagt: auf Brasilien „aus Kultur und als Kultur“. Der brasilianische Konstitutionalismus ist in Lateinamerika führend. Die universale Verfassungslehre hat hier eine „Werkstatt“. Einmal mehr zeigt sich, dass 557  Ein eindrucksvolles Selbstzeugnis ist: FS 75 Jahre Bundesverfassung, 1995; auch Bände wie H. Schambeck (Hrsg.), Österreichischer Parlamentarismus, 1986, und ders. (Hrsg.), Das österreichische Bundesverfassungsgesetz und seine Entwicklung, 1980. 558  Zur Verfassungsinterpretation (in Österreich): H. Schäffer, Verfassungsinterpretation in Österreich, 1971; K. Korinek, Zur Interpretation von Verfassungsrecht, FS Walter, 1991, S. 363 ff.; T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl., 2009, S. 31 ff., 35 ff. – Zur Verfassungspolitik früh: C. Brünner / W. Mantl / D. Pauger / R. Rack, Verfassungspolitik, 1985. – Die Festschriftenliteratur ist ebenso hochstehend wie zahlreich, zuletzt etwa: FS Pernthaler (2005); FS Walter, 1991; FS Schambeck, 1994; FS Winkler, 1988, 1997; FS L. Adamovich, 1992; FS Klecatsky, 2010; ein Unikat ist das Kolloquium für H. Spanner: Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle“ (1979), Gesamtredaktion K. Vogel, weil es österreichische und deutsche Staatsrechtslehrer fast „paritätisch“ zusammenführt (in der Diskussion, S. 51 ff.). – Zur Entwicklung der Wissenschaft vom öffentlichen Recht in Österreich: F. Ermacora, a. a. O., JöR 40 (1991 / 92), S. 537 (575 ff.). – Die Wiener Klassiker (A. Merkl und H. Kelsen) leuchten auch heute noch: vgl. etwa H. Dreier, Rechtslehrer, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Kelsen, 2. Aufl. 1990; O. van Ooyen, Der Staat der Moderne, 2003. – Eine klassische Kulturleistung Österreichs für den universalen Verfassungsstaat bleibt die Verfassungsgerichtsbarkeit, dazu nur K. Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 7 ff. Zum Beitrag Österreichs zur europäischen Rechtskultur gleichnamig: H. Schäffer, JöR 52 (2004), S. 51 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

sie nicht „europäisch-universal“, sondern amerikanisch-universal, afrikanisch-universal und asiatisch-universal konzipiert werden muss: noch eine Utopie!

Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“ – ein wissenschaftliches Projekt für den Bundesstaat Brasilien (2008) Einleitung Verfassung „aus Kultur“ und „als Kultur“ zu dokumentieren, ist ein vielleicht zu großes Programm559. Es ergibt sich letztlich aus dem Konzept der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982). Im Folgenden sei es aus einer neuen Perspektive erschlossen. Begonnen sei im Kleinen mit dem Verfassungstag: „Verfassungstage“ sind Tage, an denen jährlich wiederkehrend festlich der geltenden Verfassung, ihrer Vorgeschichte, ihrer Inkraftsetzung und ihrer erhofften künftigen Entwicklung staatlich-politisch, gesellschaftlich-sozial und mitunter auch privat (z.  B. in der Schweiz) in vielerlei Weise gedacht wird560. Als Elemente einer höchst fragmentarischen Bestandsaufnahme seien vorweg einige weltweite Beispiele dargestellt. Es gibt Verfassungstage, die als Feiertage figurieren, z. B. der Tag der nationalen Unabhängigkeit oder Revolution wie der 4. Juli in den USA oder der 14. Juli in Frankreich sowie der 25. April in Italien (Tag der Befreiung vom Faschismus), der 25. Mai in Argentinien (Tag der Unabhängigkeit). Sie sind genau gesehen Tage vor der Verfassung, präkonstitutionell, und gehören gleichwohl geschrieben oder ungeschrieben zum Fundament des Selbstverständnisses eines politischen Gemeinwesens. Sie bilden eine Art Verfassung vor der Verfassung. Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass Verfassungstage nur der Sache nach bzw. gesetzlich, nicht aber verfassungstextlich der Erinnerung an das Inkrafttreten einer Verfassung dienen und mehr oder weniger offiziell (z. B. durch Beflaggung öffentlicher Gebäude) begangen werden. Dies gilt etwa in Deutschland für den 23. Mai in Sachen Grundgesetz von 1949. Auf der EU-Ebene hat sich vor einigen Jahren Bemerkenswertes, im Grunde Törichtes ereignet. Hatte der Verfassungsvertrag von 2004 in seinem Symbol-Artikel 4 noch einen „Europatag“ vorgesehen (9. Mai), so wurde dieser im sogenannten Reformvertrag von Lissabon 2007 bewusst gestrichen. Gleichwohl ist zu sehen, dass der Europatag ebenso wie die Europahymne und die Europaflagge materiell als Verfassungswirklichkeit weiterleben werden. Nach dem Nein Irlands am 13. Juni 2008 werden diese Symbole zum Überleben und Erleben Europas noch wichtiger. Am 14. Juli 2008 wehte in Paris an vielen Orten auch die Europaflagge; auch in den folgenden Jahren geschah dies. Eine Textstufenanalyse kann belegen, dass weltweit eine Reihe von Verfassungen verfassungsbezogene oder an die Unabhängigkeit erinnernde Feiertage „anordnen“, 559  Zum

Folgenden – jetzt aktualisiert – mein Beitrag in JöR 60 (2012), S. 585 ff. der Lit.: R. Gröschner u. a. (Hrsg.), Tage der Revolution – Feste der Nation, 2010; P. Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987 (brasilianisch: 2006). 560  Aus



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“593

z. B. Art. 14 Abs. 5 Verf. Albanien (1998), auch als Tag der „Flagge“ bezeichnet, Art. 4 Abs. 5 Verf. Äquatorial-Guinea (1991), Art. 2 Abs. 10 Verf. Gabun (1994), Art. 9 Abs. 3 bis 5 Verf. Kenia (2010). Erinnert sei aber auch an den festlich begangenen Reichsgründungsfeiertag (18. Januar 1871) in Deutschland, an dem etwa kein Geringerer als R. Smend in den letzten Tagen der Weimarer Republik einen großen Festvortrag hielt, dessen Stichworte noch bis heute ausstrahlen: „Bürger und Bourgeois“561. Im Folgenden sei von Portugal (bereits oben in anderem Kontext behandelt) nach Übersee ausgegriffen: nach Brasilien – ein Schritt, der in Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre konsequent ist. Erster Teil Das Beispiel Portugal I. Verfassungswirklichkeit am 25. April 2006 in Lissabon Aus der Verfassungswirklichkeit sei ein Beispiel aus Lissabon herausgegriffen. Der Verf. hat im Jahre 2006 (25. April) fast zufällig die politisch-soziale Wirklichkeit des in Lissabon gefeierten Verfassungstages Portugals erlebt. Gewiss, er war damals als Redner zu einer Festveranstaltung des portugiesischen Verfassungsgerichts und der juristischen Fakultät der alten Universität eingeladen, doch zuvor mischte er sich unter das Publikum, genauer die nationale Öffentlichkeit, die in ihrer Weise auf der Prachtstraße der Stadt, der Av. de Liberdade, die Verfassung von 1976 feierte. Man erlebte fast ein Volksfest, eine Art „Verfassung als öffent­ licher Prozess“ und Kultur mit vielen Bürgern und Gruppen als aktiven Interpreten. Im Einzelnen: Parteipolitische Gruppierungen, gesellschaftliche Verbände, Dorf­ abordnungen und Stadtteilvertretungen, aber auch Berufsgruppen aller Art zogen in einer Art Parade den großen Boulevard zum Meer hinunter. Alle Beteiligten und fast alle Zuschauer trugen symbolisch die seit 1974 berühmte rote Nelke („Nelkenrevolu­ tion“). Auf Transparenten, teils von den Menschen getragen, teils auf Fahrzeugen gezeigt, wurde ausdrücklich auf bestimmte Verfassungs-Artikel verwiesen, etwa in Sachen Arbeit, Familie oder Umwelt, auch Frieden. Teils wurden verfassungspolitische oder allgemein politische Forderungen vorgebracht und auf schmuck dekorierten Wagen illustriert. Spürbar war eine republikanische Stimmung, eine Artikulierung des Selbstverständnisses als verfasste Nation, bei allen Defiziten, die etwa in Sachen Arbeitslosigkeit angeprangert wurden. Als „teilnehmender Beobachter“ erlebte man ein in die Tat umgesetztes „constitutional law in public action“. Dem Verf. bleibt all dies unvergesslich; es war ihm auch im eher akademischen Milieu der eindrucksvollen wissenschaftlichen Tagung in der Gulbenkian-Stiftung stets gegenwärtig562.

561  Bürger und Bourgeois im Deutschen Staatsrecht (1933), jetzt in: R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010, S. 309 ff. 562  Der Vortrag ist veröffentlicht in EuGRZ 2006, S. 533 ff.: Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus.

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5. Kap.: Einzelausprägungen II. Eine kulturgeschichtliche Deutung der Verfassung von 1976

Aus der Tiefe der Kulturgeschichte Portugals und ihrem „Humus“ seien in Anlehnung an den schon erwähnten Band aus Rom (oben S. 168 ff.) jetzt weitergreifend folgende Bezüge zu Verfassungsbestimmungen von 1976 im Blick auf Vorkommnisse, Ereignisse, große Werke der Kunst und Kultur hergestellt: –– das „Goldene Zeitalter“ (16. Jahrhundert), mit seinen großen Werken (dazu bei Art. 42); –– die nationale Katastrophe des Erdbebens von 1755563; –– die Loslösung Brasiliens 1822; –– zur inhaltsreichen Präambel: Erzählung der jüngsten Geschichte in Sachen portugiesischer Verfassungsstaat: 25. April 1974: Befreiung von der Diktatur und vom Kolonialismus, Wahrnehmung der Grundrechte, Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und „brüderlichem Lande“; Bilder von den Straßenfesten während der „Nelkenrevolution“, Dokumente der Verkündung der Verfassung durch die Verfassunggebende Versammlung (2. April 1976); –– zu Art. 7 (Internationale Beziehungen): völkerrechtliche Dokumente, insbesondere zu den „freundschaftlichen Beziehungen mit den Ländern des portugiesischen Sprachraums“ (Portugiesisch gilt als Muttersprache für 120 Millionen); ein Bild vom internationalen Strafgerichtshof in Den Haag; zum Friedensgebot als Gegendokument z. B. die Schlacht bei Aljubarrota564; –– zu Art. 11 (nationale Symbole), insbesondere die Flagge: Die Flagge Portugals liest sich wie ein Geschichtsbuch; sie setzt die Staats- und Verfassungsgeschichte buchstäblich ins Bildliche um: die fünf blauen Schilde in Form eines Kreuzes repräsentieren die fünf maurischen Könige, die 1139 in einer Schlacht besiegt wurden; grün als Zeichen der Hoffnung war die Farbe Heinrich des Seefahrers565 (1394 bis 1460); das Wappen mit der Armillasphäre, einem alten Navigationsinstrument, spiegelt die große Rolle wider, die Portugal bei der Entdeckung der Welt außerhalb Europas spielte (überall trifft man auf Spuren der Weltentdecker: in Sagres, Porto, Batalha oder sogar in Lagos: Vasco da Gama entdeckte 1497 den Seeweg nach Indien); sodann das goldene Rad mit dem goldenen Bogen in der Flagge wurde im 13. Jahrhundert von König Alfons III. auf dem Schild hinzugefügt; die fünf weißen Punkte auf jedem Schild stehen für die Wunden Christi; das rote Feld wurde als Symbol der Revolution übernommen566; die Rezeption des Symbols aus der Revolution vom 5. Oktober 1910 wäre durch ein Dokument dieser Tage zu illustrieren. Verfassungstheoretisch zeigt sich, dass die Präambel eine kurze Phase der Entstehung des Verfassungsstaates Portugal beschreibt, wäh563  Abbildung

von Lissabon in: Portugal, DuMont, 1987, S. 84. in Portugal, DuMont, 1987, S. 40. 565  Sein Denkmal: abgebildet in: Portugal, Walter-Reiseführer 1986, S. 39; ebenfalls abgebildet in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, 1. Umschlagseite. 566  Abbildung zit. nach B. J. Barker, Weltatlas der Flaggen, 2005, S. 51. Allgemein zur Symbolfunktion von Nationalflaggen: P. Häberle, Nationalflaggen: kulturelle Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 564  Abgebildet



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“595 rend die Nationalflagge die jahrhundertelange Entwicklung des Landes graphisch und farblich nachzeichnet;

–– zu Art. 12 f. (Grundrechte und Grundpflichten): große Judikate des Verfassungsgerichts in Lissabon und ihre Kommentierung durch die Wissenschaft; –– zu Art. 15 (Ausländer, europäische Bürger): Heraushebung der Staatsbürger aus Ländern des portugiesischen Staatsraums; Dokumente der Länder wie Mosambik, Kap Verde, Angola, Guinea-Bissau; –– zu Art. 41 (Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung): Dokumente aus der Geschichte der Kirche einschließlich der Inquisition567; das Wunder von Fátima; „Land der Burgen und Abteien“568; –– zu Art. 42 (Freiheit der kulturellen Entfaltung): Abbildungen aus der portugiesischen Kunst und Kultur, z. B. Manuelische Säulen im Kloster von Belém569, portugiesische Kachelkunst, Hieronymus-Kloster in Lissabon; aus der Lit.: L. de Camões (1524–1580, Epos „Die Lusiaden“); F. Pessoa (1888–1935); der Nobelpreisträger J. Saramago „Hoffnung in Altentejo“; aus der Musik: der Fado („Saudade“). – Zur wissenschaftlichen Entfaltung: die Universitätsstadt Coimbra (Alte Universität, insbesondere die Universitätsbibliothek, von 1716–1732 errichtet570); die Gulbenkian-Stiftung in Lissabon; Tanzdarbietungen in Tracht571; erste Staatsrechtslehrer zur Verfassung von 1976 mit großen Lehrbüchern sind G. Canotilho und J. Miranda; als große Richter bzw. Präsidenten sind zu nennen: M. Cardoso da Costa; –– zu Art. 66 (Umwelt- und Lebensqualität): Kulturlandschaften wie die Algarve, Albufeira und der Nationalpark von Buçaco, Costa do Sole, der Weinanbau im Douro-Tal, s. aber auch die „Afrikanischen Akzente“572; –– zu Art. 78 (kulturelles Schaffen): Abbildungen von Objekten des nationalen Kulturgüterschutzes, z. B. der kunstvollen Fliesen („Azulejos“), des Emanuelstils (1490–1540); Unesco-Weltkulturerbe573: Porto, Tomár, Évora, Sintra; –– zu Art. 79 (Körperkultur und Sport): als Kultur im weiteren Sinne zu verstehen: wohl auch der portugiesische Stierkampf; –– zu Art. 150 (Versammlung der Republik): Parlamentsgebäude Saõ Bento574; –– zu Art. 278–283 (Verfassungsgericht): Abbildung des Palastes, einer Plenarsitzung und Darstellung großer Judikate, insbesondere zu den Grundrechten. 567  Abbildung der Verbrennung von Inquisitionsopfern, in: Portugal, DuMont, 1987, S. 46. 568  Abbildungen in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 84 ff. 569  Abgebildet in: Portugal, DuMont, 1987, S. 63. Die weiteren Beispiele auf S.  67 ff. 570  Abbildung in G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 75. 571  Abbildung in G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 48. 572  Dokumentiert in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 142 ff. 573  Abbildungen in UNESCO-Weltkulturerbe, 2003, S. 214–223. 574  Abgebildet in: Portugal, DuMont, a. a. O., S. 96.

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5. Kap.: Einzelausprägungen Zweiter Teil Verfassung „als Kultur“ (theoretisch) – eine Reprise im jetzigen Kontext I. „Verfassung“ (positivrechtliche Bestandsaufnahme)

Nähern wir uns der „Sache Verfassung“ zunächst im Sinne einer Bestandsaufnahme an, um dann nach dem Sinn, den „Funktionen“ fragen zu können und Theorieelemente zu erarbeiten. Geschriebene Verfassungsurkunden (sie dienen auch der Rechtssicherheit) haben im Laufe der Zeit in formaler Hinsicht gewisse typische Strukturelemente entwickelt: Sie beginnen oft mit (z. T. durch Gottesklauseln eröffneten) Präambeln, die im feierlichen Sprachstil, kulturwissenschaftlichen Ouvertüren und Präludien ähnlich, in das Werk „einstimmen“ und wesentliche Prinzipien vorformulieren575, um Identität zu begründen (z. B. Symbol-Artikel). Es folgen meist zwei Teile – Grundrechtsgarantien und der organisatorische Teil –; schließlich runden Schluss- und Übergangsvorschriften, oft ein buntes, aber nicht unwichtiges Sammelsurium, das Ganze ab. Herkömmlich ist Verfassung auf den Staat bezogen, wir sprechen auch von „Verfassungsstaat“, der durch die Verfassung konstituiert wird. Erst neuerdings „expandiert“ der Verfassungsbegriff, z. B. auf Europa oder gar das Völkerrecht hin („Teilverfassungen“). Um beim eher Formalen zu bleiben: Im organisatorischen Teil, in dem Organe wie Parlament, Regierung, Verwaltung und Gerichte konstituiert werden (Organisationsfunktion der Verfassung), finden sich auch Verfahren zur Änderung der Verfassung (in reichen Varianten) und selten (wie in der Schweiz vorbildlich: „Totalrevision“) Verfahren zu neuer Verfassunggebung (mit oder ohne Beteiligung des Volkes) – im Ganzen der Versuch von Verfassungen, die „Zeit“ differenziert zu verarbeiten. All dies sei hier nur kurz wiederholt: in weltbürgerlicher Absicht. Kommen wir zu den Inhalten: Der „Typus Verfassungsstaat“, eine kulturelle Errungenschaft vieler Jahrhunderte und Ensemble von Klassikertexten576 von Aristoteles über Montesquieu und Rousseau, die Federalist Papers (1787) und H. Jonas „Prinzip Verantwortung“ im Umweltrecht, begegnet in vielen (nationalen) Varianten, doch lässt er sich auch „idealtypisch“ darstellen: in seinen Fundamenten und Elementen wie die in den Themen und den Dimensionen immer weiter ausdifferenzierten Menschenrechten, der (pluralistischen) Parteiendemokratie, der Gewaltenteilung, Identität (so Artikel zu den Staatssymbolen), den Staatszielen wie Rechtsstaat, Sozialstaat, Kulturstaat und neuerdings Umweltstaat, häufig auch als vertikale Gewaltengliederung (dem Föderalismus und Regionalismus). Typisch sind für den modernen Verfassungsstaat Verfassungsorgane wie die Verfassungsgerichtsbarkeit, die 1803 in den USA begonnen hat, für Europa um 1920 in Österreich etabliert wurde und in den Dekaden nach 1945 und nach 1989 fast weltweit einen Siegeszug ohnegleichen angetreten hat. Neue Themen (Minderheitenschutz, Ombudsmann, Subsidaritätsklauseln, Identitäts- und Pluralismus-Artikel, auch Toleranzklauseln) sind nach und nach 575  P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff. – Zum Folgenden auch, jetzt überarbeitet, ders., Der Sinn von Verfassungen in kulturwissenschaftlicher Sicht, AöR 131 (2006), S. 681 ff. 576  P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981.



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“597

hinzugekommen: z. B. sog. „Europa-Artikel“ (wie Art. 23 GG und Art. 7 Abs. 5 Verf. Portugal, die ein Stück „nationales Europaverfassungsrecht“ normiert haben und in Afrika sowie in Lateinamerika ein Pendant haben) oder Ausprägungen des „kooperativen Verfassungsstaates“ (Art. 24 GG): Völkerrechtsoffenheit („Völkerrechtsfreundlichkeit“, z. B. Einsatz für die Menschenrechte, für internationale Sicherheit, für Konfliktlösungen, Gerechtigkeit, vgl. Art. 7 Verf. Portugal von 1976, zuvor Art. 11 Verf. Italien, humanitäre Hilfe in der Schweiz), zuletzt: Wahrheitskommissionen577 (jüngst etwa in Kanada, der Elfenbeinküste und Brasilien sowie Zimbabwe). Neu sind auch Interpretationsmaximen in Bezug auf die Menschenrechte (etwa im Kosovo, in Kenia sowie in Ecuador): eine universale Tendenz. II. Verständnis von Verfassungen aus deutscher Sicht (Theorieelemente) Deutschland zeichnet sich seit langem durch ein besonders intensives Ringen darüber aus, was „Verfassung“ sei, und die folgenden Stichworte können vielleicht eine erste Orientierung vermitteln. Lag für F. v. Lassalle (1862) das Wesen der Verfassung in den „tatsächlichen Machtverhältnissen“, so schreibt G. Jellinek in seiner großen Allgemeinen Staatslehre (1900), die Verfassung sei nur ein „Gesetz mit erhöhter formeller Geltungskraft“. Schon hier sehen wir, wie die einzelnen Versuche, der Sache Verfassung näher zu kommen, oft nur Teilwahrheiten formulieren: Verfassung ist sicher auch ein Gesetz mit erhöhter formeller Geltungskraft, insofern sie nur mit qualifizierter Mehrheit in besonderen Verfahren der Verfassungsänderung abgeändert werden kann (z.  B. Art. 79 Abs. 1 und Abs. 2 GG, Art. 138 Verf. Italien)578, aber diese bloß formale Betrachtung reicht nicht aus: Vom Gegenstand und ihren Funktionen her ist „Verfassung“ weit mehr579. „Auf den Schultern von Riesen“ – dieses Wort gilt m. E. besonders für das Verhältnis der deutschen Staatsrechtslehre im Grundgesetz von 1949 bis heute zu „Weimar“. So wie die berühmten 20er Jahre in Berlin eine bis heute viel bewunderte „Blüte“ in Kunst und Wissenschaft hervorgebracht haben, so haben die Weimarer Staatsrechtslehrer in ihren Kontroversen Fragen gestellt und Antworten gegeben, die bis heute „klassisch“ sind und denen gegenüber wir Nachgeborenen allenfalls „Zwerge auf den Schultern“ von Riesen sind, was nicht ausschließt, dass wir, weil wir auf den Schultern stehen, gelegentlich sogar weiter sehen als diese Riesen! Das BVerfG wagte kürzlich die Formel von der Verfassung als „teleologisches Sinngebilde“ (E vom 01. Dez. 2009: E 125, 39 (83)): ein guter Teilaspekt. 577  Dazu mein von U. Carvelli übersetzter erg. Band: Os Problemas da Verdade no Estado Constitucional, 2008, sowie die Fortschreibung durch den Verf. in FS Hol­lerbach, 2001, S. 15 ff. 578  Zum Ganzen: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S.  267 ff. 579  Zum Verfassungsbegriff: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 342 ff. und passim; von einem präkonstitutionellen Staatsbegriff ausgehend demgegenüber J. Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR, Bd. IV, 2. Aufl. 1995, S. 591 ff.; gute Übersicht bei A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S.  13 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Unter diesem Vorbehalt jetzt einige Positionen im „Weimarer Richtungsstreit“, der z. B. in Italien so genau verfolgt worden ist (z. B. durch F. Lanchester)580. Einflussreich wurde das Werk „Verfassung und Verfassungsrecht“ von R. Smend (1928); es ist als „Integrationslehre“ auch in Italien bekannt und hier sogar übersetzt. Smend begreift den Staat als Prozess immer neuer Integration, wobei etwa Fahnen, Flaggen, Hymnen eine Rolle spielen. Diese Sicht ist im Rückblick auch als Versuch zu sehen, der unglücklichen Polarisierung der politischen Kräfte in Weimar entgegenzuwirken. Ganz anders C. Schmitt. Seine Verfassungslehre (1928) bleibt zwar ein großer Wurf, doch hat er in anderen Schriften Stichworte gegeben, die dem Verfassungsstaat gerade nicht dienlich sind. Genannt sei die dezisionistische Lehre, wonach politische Entscheidungen „normativ aus dem Nichts“ kommen – dies lässt sich schon am rechtsvergleichenden Material widerlegen: man vergegenwärtige sich den Pluralismus der Ideen und Interessen, die etwa zur vorbildlichen Verfassung Portugals von 1976 und Spaniens von 1978 sowie Brasiliens von 1988 und Polens von 1997 geführt haben. Zum anderen muss an das unselige Wort erinnert werden, wonach sich das Politische durch ein „Freund / Feind“-Denken definiere. In der Verfassung des Pluralismus, in der offenen Gesellschaft, gibt es m. E. grundsätzlich „Konkurrenten“, „Gegner“, aber nicht prinzipielle „Feinde“. Die – im Blick auf Europa heute freilich neu zu fassende – damals national ausgerichtete Integrationslehre (von R. Smend) erinnert an die unverzichtbaren Gemeinschaftsbildungen, an die Friedensfunktion der Verfassung, an den (modern gesprochen) „Grundkonsens“, der alle Bürger einschließt und z. B. erst das Funktionieren des Mehrheitsprinzips mit abgestuftem Minderheitenschutz ermöglicht. H. Heller erinnert (1934) an den Aspekt des „bewußten, planmäßig organisierten Zusammenwirkens“, doch denkt er in seiner, bis heute Epoche machenden, „Staatslehre“ gezielt an den Staat, nicht aber – wie heute geboten – an die Verfassung. Es gibt aber im Verfassungsstaat nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert (R. Smend / A. Arndt). Mit C. Schmitt kann man weder die Schweiz erklären noch Europa bauen! Im Blick auf das deutsche Grundgesetz entwickelte sich ein weiteres „Verfassungsgespräch“ mit z. T. prominenter Besetzung. So hatte vorweg der Schweizer W. Kägi 1945 das Stichwort von der Verfassung „als rechtlicher Grundordnung des Staates“ formuliert. Damit hatte er eine Richtung angedeutet, die später kräftig ausgezogen wurde: Zitiert sei H. Ehmke (Verfassung als „Beschränkung und Rationalisierung der Macht und Gewährleistung eines freien politischen Lebensprozesses“)581 und K. Hesse („Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“582). M. E. ist ein gemischtes Verfassungsverständnis erforderlich, in das die verschiedenen Funktionen differenziert eingebracht werden. Verfassung ist z. B. bei den Staatszielen und der Gewaltenteilung „Anregung und Schranke“ (R. Smend), sie ist auch 580  F. Lanchester, Momenti e Figure nel Diritto Costituzionale in Italia e in Germania, 1997. – Aus der deutschen Literatur: M. Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 320 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Bd. 1914–1945, 1999, bes. S. 153 ff., zuletzt Vierter Bd. 1945–1990, 2012. 581  H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953. 582  K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), S. 10.



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“599

„Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner), z. B. beim Rechtsstaatsprinzip (z. B. Vorrang der Verfassung gemäß Art. 2 Abs. 1 Verf. Angola von 2010) und der Fixierung anderer Grundwerte. Sie hat ganz bestimmte Funktionen: Sie beschränkt und kontrolliert nicht nur Macht (etwa durch die dritte Gewalt), sie fundiert und legitimiert sie auch (durch Wahlen). Sie konstituiert Verfahren zur Konfliktaustragung (etwa im Parlament), sie organisiert Kompetenzen und Institutionen zur Festlegung und Konkretisierung von bestimmten Aufgaben (entlang den drei Staatsfunktionen). Sie etabliert den (welt)offenen Staat als „kooperativen Verfassungsstaat“583 (Art. 24 GG, Art. 11 Verf. Italien, Art. 49a Verf. Luxemburg, Art. 88-I bis V Verf. Frankreich von 1958 / 1997 / 2008) sowie die „verfasste Gesellschaft“ z. B. bei der „Drittwirkung der Grundrechte“, beim Sozialstaat, und sie schafft Identifizierungsmöglichkeiten für Bürger und Gruppen bei der Verpflichtung auf Gesetz und Recht bzw. bei der Na­ tionalhymne und den Staatsfarben (emotionale bzw. rationale „Konsensquellen“). Im Kulturverfassungsrecht (z. B. über die Erziehungsziele in den Schulen) gibt sie auch Werte vor, die die offene Gesellschaft kulturell grundieren (ein Kanon universeller Werte, etwa Toleranz, Achtung der Würde der Mitmenschen, Wahrheitsliebe, demokratische Gesinnung, Völkerversöhnung, Umweltbewusstsein). In der Zeitachse gesehen ist Verfassung (auch) öffentlicher Prozess, so wie wir im Heute eine „republikanische Bereichstrias“ unterscheiden dürfen: den Bereich des Staatlich-Organisatorischen (der Staatsorgane, z. B. Öffentliche Hearings), des Gesellschaftlich-Öffentlichen (etwa der Gewerkschaften, Kirchen, Medien: „Zivilgesellschaft“) und den des Höchstpersönlich-Privaten (z. B. Gewissensfreiheit). Öffentlichkeit ist ein „Quellgebiet der Demokratie“ (Martin Walser), auch wenn wir seit Hegel wissen, dass in der öffentlichen Meinung „alles Wahre und Falsche“ zugleich ist (Dies gilt auch weltweit). Vor allem aber ist Verfassung Kultur – dazu sogleich. III. „Kultur“ Nach der Annäherung an die „Verfassung“ steht jetzt die vorläufig noch gesonderte Erarbeitung der ihr zuzuordnenden „Kultur“ an, die in diesem Buch schon mehrfach umschrieben wurde und hier bekräftigt sei. 1. Stichworte zur Sache „Kultur“ Stichworte zur „Sache Kultur“ müssen mit Cicero beginnen, der wohl der größte Jurist der römischen Antike war584. Im Folgenden können nicht alle begriffsgeschichtlichen Wirkungen dieses großen Anfangs verfolgt werden, dies wäre ein eigenes Thema. Doch seien Werke wie die des Schweizer J. Burckhardt „Kultur der Renaissance“ (1919) ebenso in Erinnerung gerufen wie die Kultursoziologie eines A. Gehlen. Es gibt viele Klassikertexte zum Kulturbegriff, wohl in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Und erinnert sei auch an den offenen Streit, ob etwa die Mathematik Natur- oder Kulturwissenschaft sei. In Deutschland verläuft eine Linie 583  Dazu mein von M. A. Maliska betreuter Bd.: Estado Constitucional Cooperativo, 2007, eine Fortschreibung der gleichnamigen Studie von 1978. 584  Aus der Lit.: J. Niedermann, Kultur, Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, 1941.

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des Denkens über Kultur zu Max Weber. Speziell in der deutschen Staatsrechtslehre wird man in der Weimarer Klassik mit ihren „Riesen“, hier R. Smend und H. Heller (1934), fündig. Stichworte von jenem: „Grundrechte als Kultursystem“ (1928). H. Heller verdanken wir die These von der Staatslehre als Kulturwissenschaft585. Erst Ende der 70er Jahre und verstärkt in den 80er Jahren wurde an diese Vorarbeiten angeknüpft586. Heute ist der Kulturbegriff fast abundant: er wird für nahezu alles verwendet („Esskultur“, „Kultur der Wirtschaft“, Boxsport als „Kultur“, sogar – negativ „Kultur des Todes“ i. S. von Papst Johannes Paul II.). Kultur gerät zum Modeund Allerweltsbegriff und droht wissenschaftlich unergiebig zu werden. Dem kann nur eine gerade dem Juristen mögliche Strukturierung und Präzisierung abhelfen. 2. Erste Unterscheidungen Eine erste grobe Annäherung kann von den Gegenbegriffen her gelingen. Kultur steht gegen „Natur“. Diese ist „Schöpfung“ bzw. Ergebnis der Evolution. Kultur ist das vom Menschen Geschaffene, sit venia verbo: eine „zweite Schöpfung“. Dabei gibt es freilich Grenzprobleme: So steht der Jurist des Kulturgüterschutzes etwa vor der Frage, ob religiös „besetzt“ gedachte Naturstücke wie Bäume deshalb Kultur sind, weil bestimmte sog. Naturvölker ihre religiösen Vorstellungen damit verbinden („Baumgeister“)? M. E. ist die Frage zu bejahen, so wie wir ja auch von „Naturdenkmälern“ sprechen (vgl. Art. 40 Abs. 4 S. 3 Verf. Brandenburg von 1992). Am grundsätzlichen Unterschied von Natur und Kultur sollte man indes festhalten, auch wenn wir Goethes wunderbares Dictum vor Augen haben: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden …“ Der Typus Verfassungsstaat bzw. die an und in ihm weltweit arbeitende vergleichende Wissenschaft kann auf dem Hintergrund des sog. „offenen Kulturkonzepts“ einige Handreichungen liefern, teils sogar dank positiver Verfassungstexte in Europa. So bietet sich die Unterscheidung in „Hochkultur“ i. S. des „Wahren, Guten und Schönen“ der antiken Tradition, des italienischen Humanismus und des deutschen Idealismus an, es findet sich in manchen Erziehungszielen deutscher Länderverfassungen (vgl. Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern von 1946). Die „Volkskultur“ (vgl. Art. 100 Verf. Venezuela von 1999), in den „Entwicklungsländern“ als „Eingebore585  H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 32  ff. Aus der Sekundärliteratur: A. Dehnhardt, Dimensionen staatlichen Handelns, 1996. Aus anderen Disziplinen s. etwa das Projekt „Kulturthema Toleranz“. Zur Grundlegung einer interdisziplinären und interkulturellen Toleranzforschung, hrsg. von A. Wierlacher, 1996; C. Enders u. a. (Hrsg.), Diversität und Toleranz, 2010. 586  P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979; ders., Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982 (2. Aufl. 1998); U. Steiner / D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 7 ff. bzw. 46 ff.; K. Stern, Kulturstaatlichkeit – ein verfassungsrechtliches Ziel, in: FS H.-P. Schneider, 2008, S. 111 ff.; ders., Vorbemerkung, in: ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  IV / 2, 2011, S.  329 ff.; U. Steiner, HStR, Bd. IV, Kultur, 3. Aufl., 2006, § 86; K.-P. Sommermann, Kultur im Verfassungsstaat, VVDStRL 65 (2006), S. 7 ff. In diesem Buch noch S. 548 ff.



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“601

nen-Kultur“ bewahrt (vgl. Art. 66 Verf. Guatemala von 1985, s. auch Art. 30, Art. 31 Verf. Bolivien von 2007), ist eine zweite Kategorie. Der weltoffene Verfassungsstaat achtet sie nicht gering und er tut gut daran: Demokratie lebt auch aus dieser Art von Kultur, man denke an den Föderalismus bzw. Regionalismus, der das Kleine, die Heimat vor Ort schützt. Alternativ- bzw. Subkulturen sind eine dritte Kategorie. Sie können sogar ein Nährboden für Hochkultur sein: Die Beatles sind heute klassisch geworden. „Gegenkulturen“ etwa der frühen Arbeiterbewegung, der heutigen Arbeitslosen wären zu nennen. Die Öffnung des Begriffs „Kunst“ im Rahmen der Freiheit der Kunst (Stichwort offener Kunstbegriff)587 zeigt, dass gerade auch Alternativkultur ihre Chance haben muss – bis zur Grenze der Pornographie. In einer „Verfassung des Pluralismus“ ist das offene, pluralistische Kulturkonzept nur konsequent. Der Jurist hat sich, nach einem Bonmot, oft genug mit Definitionen „blamiert“, nicht nur im Strafrecht, wenn er voreilig neuen Werken das Prädikat „Kunst“ oder „Kultur“ absprach. 3. Verfassung als Kultur a) Ausgangsthesen Nach dem Bisherigen erweist sich die These von der „Verfassung als Kultur“ (1982) konsequent. Nicht nach Verfassung und Kultur wird gefragt, vielmehr nach Verfassung als Kultur. Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives Regel-Werk, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung eines Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament neuer Hoffnungen. Lebende Verfassungen sind ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft, sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen „kulturellen“ Informationen, Erfahrungen, Erlebnissen, ja auch Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Sie ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“ – eine weltweit gültige Metapher. Die entwicklungsgeschichtlichen Etappen des „Typus Verfassungsstaat“, das immer neue Facetten ins Spiel bringende Leben ihrer als Verfassungstexte im weiteren Sinne verstandenen Klassikertexte von Aristoteles bis H. Jonas, die oft wörtlich zu Verfassungstexten im engeren Sinne „geronnen“ sind (etwa Montesquieus Gewaltenteilung), aber auch ihre „Gegenklassiker“ provozieren, etwa B. Brechts Frage: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?“, das Ringen um ein relativ 587  Vgl. aus der Lit. m.  w. N. I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, 1996, Art. 5 III (Kunst), Rn. 16 ff. (2. Aufl. 2004); F. Hufen, Staatsrecht II, 3. Aufl., 2011, S. 534 f.; L. Michael / M. Morlok, Grundrechte, 3. Aufl., 2012, § 9 Rd.-Nr. 234; P. Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 (602 ff.).

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„richtiges“ Verfassungsverständnis, schließlich die Freilegung von allgemeinem und speziellem Kulturverfassungsrecht, all diese Elemente zeigen in Verbindung mit der zugleich komparatistischen und kulturwissenschaftlichen Öffnung der Verfassungslehre: Verfassung ist Kultur, mit vielen Schichten und Differenzierungen. In sie gehen kulturelle Erfahrungen der Völker ein, von ihrem Boden aus werden kulturelle Hoffnungen bis hin zu konkreten Utopien wie im Fall der deutschen Wiedervereinigung genährt. Das einzelne Verfassungsprinzip lebt aus den Tiefenschichten des kulturellen Kontextes, etwa das (unterschiedliche) Verständnis des Regionalismus, der jetzt in Großbritannien seinen Durchbruch erlebt (Schottland, Wales, Nordirland) oder des Föderalismus ( als „Kulturföderalismus“ wie in Deutschland). Auch und gerade das sich konstitutionell in Form bringende Europa grundiert sich letztlich aus den 6 – gewachsenen – Elementen seiner Rechtskultur (Geschichtlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit der Rechtsprechung, Religionsfreiheit samt „Reli­ gionsfreundlichkeit“ des Staates, Vielfalt und Einheit, Partikularität und Universalität. Europas Identität erschließt sich aus dem kulturwissenschaftlichen Ansatz; die in den Verträgen von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997), Nizza (2000) sowie Lissabon (2007) geschützte nationale Identität der Mitgliedstaaten ist Ausdruck von Europas konstitutioneller Pluralität, die ihrerseits letztlich und erstlich eine kulturelle ist. Das gilt auch für die seinerzeit gescheiterte EU-Verfassung von 2004. b)  Der Erkenntnisgewinn Der Erkenntnisgewinn des Paradigmas „Verfassung als Kultur“ sei stichwortartig angedeutet: Die weltweit vergleichende Verfassungsrechtslehre wird in den Kreis der anderen Kulturwissenschaften, etwa der Literatur- und Musikwissenschaften (zurück-)geführt. Wie diese arbeitet sie einerseits an und mit Texten (Verfassungslehre als „juristische Text- und Kulturwissenschaft“), es besteht durchaus eine Nähe zwischen geschriebenen Verfassungen und den drei Weltreligionen als „Buchreligionen“. So kommt sogar die Theologie ins Blickfeld, soweit sie hermeneutisch arbeitet (seit Schleiermacher); doch ist der Text oft nur ein Hinweis auf den kulturellen Kontext. Wie nahe sich Verfassungstext und Literatur bzw. Musik sind588, lässt sich am besten an den Präambeln studieren. Sie sollen die Bürger in feiertäglicher Hochsprache auf das nachstehende Werk buchstäblich „einstimmen“: Prologen, Ouvertüren oder Präludien vergleichbar. In der Schweiz bediente man sich 1977 der Hilfe eines Dichters (A. Muschg), der „Runde Tisch“ in Ostberlin 1989 rief die Literatin Christa Wolf herbei. Auf die in vielen Verfassungen definierte „Nationalhymne“ sei verwiesen (etwa in Art. 28 Abs. 3 Verf. Polen von 1997, Art. 1 Abs. 5 Verf. Niger von 1992, Art. 8 Verf. Angola von 2010 (Annex III), Art. 7 Abs. 4 Verf. Serbien von 2006). Nationalhymnen gehören zur Kategorie der „emotionalen Konsensquellen“ eines politischen Gemeinwesens. Sind sie kontrovers, so zeigt sich von der negativen Seite her, wie tief bzw. hoch ihr Stellenwert anthropologisch ist. An G. Verdis „Nabucco“ (Gefangenenchor) als „geheimer Nationalhymne“ Italiens und seine bewährte Kraft gegen den Sezessionismus von U. Bossis „Padanien“ (Vorfall in Mailand) braucht nicht erinnert zu werden (1995). Spanien leidet darunter, dass seine Nationalhymne bis heute leider keinen Text hat. 588  Dazu

schon oben: „Musik und Recht“, S. 439 ff.



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“603

Das Verständnis von Verfassung als Kultur kann auch den Wandel der Bedeutung von Verfassungsnorm ohne Textänderung besser erklären. R. Smends Klassikertext aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts lautet: „Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, meinen sie nicht dasselbe“ – das gilt auch heute, trotz der weltweiten Produktions- und aktiven Rezeptionsprozesse, in denen sich der Typus kooperativer Verfassungsstaat „in“ seiner nationalen Beispielsvielfalt entwickelt. Überdies werden Begriffe wie „Grundrechtskultur“, „Verfassungskultur“, in Deutschland 1979 bzw. 1982 vorgeschlagen589, erst im Gesamtrahmen dieses skizzierten kulturwissenschaftlichen Verfassungsverständnisses möglich. Zwei weitere Erkenntnisgewinne seien zuletzt angemerkt: –– Der Verfassungsbegriff wird in Deutschland klassisch auf den Staat bezogen, der seit G. Jellinek in Gestalt von dessen Dreielementenlehre („Volk, Gebiet, Gewalt“)590 die Kultur vergessen hatte. Heute muss, soweit man am weltoffenen Verfassungsstaat arbeitet, die Kultur, wenn nicht als „erstes“, so als viertes Staatselement inkorporiert werden591. Im Übrigen aber ist der Verfassungsbegriff von seiner Fixierung auf den Staat zu befreien. Die Völkerrechtswissenschaft bzw. A. Verdross haben das schon 1926 getan („Die Verfassung der Völkergemeinschaft“), und heute kann im Blick auf die Verfassungsperspektiven der EG / EU gerade nicht mehr mit dem Staatsbezug gearbeitet werden592. Es kommt zu Teilverfassungen bzw. den Texten von EU / AEUV, auch der UN. –– Der andere Erkenntnisgewinn dürfte in der Tatsache liegen, dass Verfassungs­lehre als Kulturwissenschaft besser als die Sozialwissenschaften die „vertikale“, „ideelle“, wenn man will „platonische“ Dimension zum Ausdruck bringt. Die Menschenwürde ist die kulturanthropologische Prämisse – sie verschafft dem Bürger den „aufrechten Gang“, in zahlreichen kulturellen Sozialisationsprozessen erarbeitet, daher spricht Hegel anschaulich von Erziehung als „zweiter Geburt“ des Menschen, verlangt A. Gehlen ein „Zurück zur Kultur“, ist Kultur die „zweite Schöpfung“ – die Demokratie ist die organisatorische Konsequenz der Menschenwürde, die wir i. S. I. Kants verstehen. Der normative Anspruchscharakter, den die Verfassungsprinzipien haben, ihre auch bestehende Grenzziehungsfunktion gegenüber (macht-)politischem Geschehen und wirtschaftlicher Übermacht, ihre „dirigierende Kraft“ etwa in Staatszielen greifbar, ihre oft unterbelichtet bleibenden Gerechtigkeitspostulate – all dies kann nur die das Normative ernst nehmende Kulturwissenschaft erfassen. Rechtswissenschaft ist eben gerade nicht „Sozialwissenschaft“, wie die 68er Revolution propagierte. Verfassung ist nicht identisch mit den „tatsächlichen Machtverhältnissen“ (so aber F. von Lassalle, 1862). Die 589  P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S.  88  f., 90; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, S. 20 ff. 590  Zum Verfassungsbegriff: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 19 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S.  12 ff.; F. Rimoli, L’idea di costituzione, 2011. 591  Ein früher, nicht weiter verfolgter Vorschlag von G. Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 13 (1955), S. 27 (37 ff.). 592  Dazu meine Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999 passim, bes. S. 15 ff. m. w. N. sowie Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 349 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Steuerungkraft und der Steuerungswillen, die „normative Kraft der Verfassung“ (K. Hesse) wirkt über Kultur: Leitbilder, Erziehungsziele, aber auch Rechtsschutz für den Bürger dank der Grundrechte und dank unabhängiger Gerichtsbarkeit, Erziehungszielen, kulturellen Erbesklauseln, Pluralismus- und Toleranz-Artikeln. c)  Vorbehalte und Grenzen Damit kommen aber auch einige Vorbehalte und manche Grenzen dieses Ansatzes ins Blickfeld. Zu „erinnern“ ist an die spezifische Normativität der verfassungsstaatlichen Verfassung. Sie unterscheidet sich von der „Geltung“ von Thora, Bibeltexten und Koranversen, zumal es ja die offene Gesellschaft (K. Popper), die „Verfassung des Pluralismus“ ist, die den weltoffenen Verfassungsstaat ausweist. Zu erinnern ist auch an das spezifische „Handwerkszeug“ des Juristen, an seine nicht nur formalen Kunstregeln, mit denen er arbeitet, etwa eine Verfassung oder eine andere Norm auslegt: mit den seit F. C. von Savigny (1840) kanonisierten (schon im klassischen Rom z. B. bei Celsus im Ansatz praktizierten) vier Auslegungsmethoden (Wortlaut, Geschichte, Systematik, Telos), heute ergänzt um die rechtsvergleichende Methode als „fünfte“593, jetzt vom Verfassungsgericht Liechtenstein rezipiert. So offen das Zusammenspiel der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden im Einzelfall ist, so intensiv der Durchgriff auf Gerechtigkeitspostulate den Pluralismus der Auslegungsmethoden ergebnisorientiert steuern muss: diese Kunstregeln sind unverzichtbar. Der Jurist, auch und gerade der „europäische Jurist“, gewinnt dadurch „Selbststand“ gegenüber anderen Wissenschaften, auch im Rahmen der Kulturwissenschaften. Die relative Autonomie des juristischen Umgangs mit Rechtstexten und kulturellen Kontexten bleibt bestehen – bei allen hermeneutischen Analogien oder werkinterpretatorischen Betrachtungen (etwa dem Verständnis eines Bildes von Rembrandt), bei allen rezeptionstheoretischen Gemeinsamkeiten (etwa im Sinne der Konstanzer Schule von H. R. Jaus in Sachen Literatur). Auch der Jurist hat seine Vorverständnisse und Paradigmen (etwa den „Runden Tisch“ als neuen Gesellschaftsvertrag), kennt ihren Wechsel und Wandel (in der Zeitprojektion etwa den „Generationenvertrag“), mitunter den „Sturz“ von Paradigmen (z. B. die Abschaffung der Todesstrafe als „wiederherstellende“ Vergeltung im Strafrecht); aber seine Paradigmen wirken im Medium „seiner“ Wissenschaft, auch wenn sie Kulturwissenschaft ist. Mit all dem ist der „Humus“ bereitet für den brasilianischen Konstitutionalismus als Fallbeispiel für die universale Verfassungslehre und den offenen Föderalismus – im Kontext des zwingenden und konsentierten Völkerrechts (von New York bis Den Haag, von Genf bis Wien, von Rom bis Ottawa und Washington, von Kyoto bis Rio).

593  P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff. Zu methodischen Konsequenzen des Rechtsvergleichs allgemein: E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 190 ff. (2. Aufl. 2005); für die europäische Dimension vgl. H. Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaft, NJW 1990, S. 937  ff.; A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010; B. Wieser, Vergleichendes Verfassungrecht, 2005.



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“605 Dritter Teil Ein Projekt für Brasilien (1500–2008) I. Allgemeines zur Verfassungsgeschichte in Dokumenten und Verfassungstexten: Ein Bildband aus Brasilien

Obschon der Bild- und Textband aus Rom für Italien594 und darüber hinaus einzigartig ist (2006), gibt es für Brasilien bereits wenig später einen eindrucksvollen Band aus dem Jahre 2007, der es einem Freund Brasiliens etwas leichter macht, das kulturelle Verfassungspotential dieses großen Landes zur Sprache zu bringen bzw. bildkräftig zu machen: ich meine den u. a. vom Supreme Court in Brasilien herausgegebenen Band zur Verfassungsgeschichte Brasiliens, der viel Bildmaterial vergegenwärtigt595: As Constituições Brasileiras, Fundação Armando Alvares Penteado, 2007. Im Einzelnen: –– die Konstituierende Versammlung von 1823 mit Dokumenten (S. 49–53); –– die Verfassung von 1824 (S. 33 f.); –– Münzen mit der Miniatur der Verfassung von 1824 (S. 56 f.); –– Gemälde der Akklamation von Kaiser Pedro I. von 1839 (S. 42); –– Zeremonie der Sagração von Kaiser Pedro I. von 1839 (S. 43); –– die Verfassung von 1891 (S. 75 ff.); –– die Proklamation der Republik von 1889 (Sturz des Kaisers Pedro II.), Allegorie (S. 86), Verfassunggebende Versammlung (S. 92, 97); –– die Verfassung der Republik Brasilien von 1891 (Autograph S. 107); –– die Hymne auf die Verfassung (S. 138); –– G. Vargas: Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung von 1933, Photographien der Beteiligten und Texte (S. 142–148); –– Verfassung von 1937 (S. 175 ff.) (Photographische Dokumente); –– Verfassung von 1946 (S. 221 f.) unter E. C. Dutra; –– Verfassung von 1967 (S. 249 f.), zuvor Staatsstreich von 1964 (S. 251 ff.); –– Plenarsitzung der verfassunggebenden Versammlung von 1988 (S. 305), Zeitungsausschnitte und Photos von Politikern, auch Karikaturen (S. 290 ff.). II. Ergänzend: Landeskundliche Vorgeschichte und Dokumente Über den analysierten Band hinaus bedarf es noch einiger Stichworte und zusätzlicher Bilddokumente: 594  Dazu

oben S. 167 ff. nichtjuristisches Bildmaterial in dem deutschen Werk Meyers Großes Länderlexikon, 2005, S. 90 bis 97. 595  Einiges

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5. Kap.: Einzelausprägungen

–– Entdeckung Brasiliens (1500); –– Brasilienkarte aus dem „Atlas Miller“, um 1519596; –– Tupi-Indianerin, Darstellung von A. Eckhout, 17. Jh.597; –– Abschaffung der Sklaverei (1888); –– Demonstration landloser Bauern in Salvador (Ende des 20. Jh.)598; –– Karneval (in Rio)599; –– Amtsantritt des neuen Staatspräsidenten L. I. Lula da Silva (2003); Die Liste bleibt offen. III. Die Verfassung von 1988600 Im weltweiten Vergleich betrachtet, gibt es zwei Normbereiche, in denen verfassungsstaatlich die nationale Staats- und Verfassungsgeschichte hoch konzentriert verarbeitet wird: die Präambel und den Artikel zur Nationalflagge. Eindrucksvoll bewahrheitet sich dies, wie gezeigt, etwa in Portugal. Seine Präambel skizziert als „Verfassung in der Verfassung“ den Sieg über Diktatur und Kolonialismus und das Ensemble der neuen Verfassungsprinzipien. Die Nationalflagge aber lässt sich in ihrer praktischen Ausführung (nicht im Verfassungstext selbst: Art. 11) als „Erzählung“ des jahrhundertelange Werdens dieses in Europa ersten Nationalstaates Portugal „lesen“. Brasilien hat in seiner Verfassung von 1988 leider keinen eigenen Flaggen-Artikel geschaffen. Er gehörte eigentlich zu den „Grundprinzipien“ in Titel I. Die überall im Lande präsente, einheitsstiftende Flagge ist in ihren Teilen wie als Ganzes eine ungemein „sprechende“ Nationalflagge, sie ist in ihren Farben und ihrer Graphik bzw. Geometrie besonders suggestiv. Nimmt man das Motto („Ordnung und Fortschritt“) als Grundwert und den Nachthimmel über Rio am Tage der Unabhängigkeit (15. Januar 1889: 27 Sterne) hinzu, so gehört Brasiliens Flagge zu den schönsten nicht nur Lateinamerikas. Sie wirkt ein Stück weit wie als „Erziehungsziel“ und Grundwert und wird gewiss so in den Schulen vermittelt und sie prägt sich als internationales Erkennungssymbol sehr ein. Man ist überrascht, dass sich die doch sehr umfangreiche, mitunter vielleicht sogar zu sehr ins Einzelne gehende, im Ganzen aber geglückte Verfassung von 1988 die Chance entgehen ließ, die Nationalflagge textlich zu skizzieren – wie dies etwa in Afrika nicht wenige Länder vorbildlich tun. Wie dem auch sei: die innere Nähe, ja Zusammengehörigkeit von Verfassungspräambeln und gelebten Nationalflaggen bleibt eine wichtige wissenschaftliche Erkenntnis für den Verfassungsstaat als universalen Typus und seine nationalen Beispiele. 1.  Jetzt zur Präambel Brasiliens von 1988. Sie umreißt überaus dicht das Selbstverständnis von Brasilien: Gewährleistung der „Ausübung der sozialen und individuin: H. Taubald, Brasilien, 4. Aufl. 2003, S. 30. in: H. Taubald, a. a. O., S.  33. 598  Abbildung in: H. Taubald, a. a. O., S.  48. 599  Abbildungen in: H. Taubald, a. a. O., S.  66 ff. 600  Zum Folgenden schon, jetzt überarbeitet, P. Häberle, Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“, JöR 60 (2012), S. 585 ff. 596  Abgebildet 597  Abgebildet



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“607

ellen Grundrechte“, von „Freiheit, Sicherheit, Wohlstand, Entwicklung, Gleichheit und Gerechtigkeit“; sie definiert als „höchste Werte“ eine brüderliche, pluralistische und vorteilsfreie Gesellschaft, die auf sozialer Harmonie und auf der Verpflichtung zur friedlichen Lösung von Streitfragen in den inneren und internationalen Verhältnissen aufbaut. Die so und im Folgenden verkündete Verfassung wird von der Verfassunggebenden Versammlung „unter den Schutz Gottes“ gestellt. Die Präambel ist rundum geglückt: Sprachlich bürgernah, das Wesentliche der nachstehenden Texte zusammenfassend, beeindruckt sie. Allenfalls fehlt die sonst typischen Zeitdimen­sion: die Verarbeitung von Geschichte (z. B. das Militärregime: 1964 bis 1985). Die Zukunft freilich wird in den ihr auferlegten konstitutionellen Gestaltungsprinzipien erkennbar. Der wie selbstverständlich ausgesprochene Gottesbezug, in dem Verfassungsvertrag der EU weder 2004 noch 2007 gewagt, lässt den religiösen Wurzelgrund der Kultur des Landes bewusst werden („Gott ist ein Brasilianer“), bei aller Pluralität von Religionen und Konfessionen, auch Stammeskulturen. Bildlich illustriert ist etwa an die großen Kirchen des Landes (z. B. in Olinda) und in Rio an die überwältigende Christusstatue („Zuckerhut“) zu denken. 2.  Zu den Grundrechten der Verfassung von 1988: in einem eigenen Titel II garantiert, gliedern sie sich in „Individuelle und kollektive Rechte“, in die „sozialen Rechte“ und die „staatsbürgerlichen Rechte“. Im Stile des erwähnten römischen Bild- und Textbandes (oben S. 167 ff.) seien sie im Folgenden, bildlich unterstützt, „illustriert“: –– Art. 5: Gleichheit der Menschen; als Kontrast Bilder aus der Zeit der Sklaverei601, auch der unmenschlichen Behandlung (vgl. III), Denkmalschutz für die „ehemaligen Siedlungen von entflohenen Sklaven“ nach Art. 216 V § 5; –– die Garantie der freien Ausübung religiöser Kulte sowie der Schutz von „Kultstätten und Liturgien“ (VI): Bilder nichtchristlicher indogener Kulturrituale werden hier einschlägig (z. B. des Macumba-Kultes); –– die „Freiheit der künstlerischen, wissenschaftlichen und kommunikativen Tätigkeit“ (IX) – dokumentiert in ihren Hervorbringungen in Gestalt der Musik (z. B. H. Villalobos und T. Jobim, auch des „Samba“), der Architektur (O. Niemeyer), Gemälde von I. Nery, L. Segall, C. Portinari, A. Volpi, C. Tozzi, G. De Barros u. a. in: As Constituições Brasileiras, Fundação Armando Alvares Penteado, 2007, S. 208 ff. bzw. 282 ff., und nicht zuletzt der Rechtswissenschaften, insbesondere der höchst vitalen Verfassungsrechtslehre in ihren vielen Literaturgattungen: vom Lehrbuch bis zur Festschrift (etwa für P. Bonavides und G. Mendes), vom Jahrbuch (herausgegeben von jenem) bis zur Monographie und zum Kommentar; bemerkenswert ist das Goethe-Denkmal in Porto Alegre; –– zum Schutz des „kleinen landwirtschaftlichen Eigentums“ (XXVI): eine im Vergleich vorbildliche Differenzierung des Privateigentums schon auf Verfassungsstufe (s. auch Art. 185 I) – Bildmaterial zu kleinen bäuerlichen Betrieben als ­Illustrierung hätte hier seinen Platz, auch zur „Landlosenbewegung“; –– Popularklage (vgl. Art. 14 III) zum Schutz der „Moral in der Verwaltung“, der „Umwelt“ und des „geschichtlichen und kulturellen Erbes“ (LXXIV): diese gera601  Abbildung der Darstellung von J. B. Debret, 1822: „Von Sklaven betriebene Zuckermühle“, zit. nach H. Taubald, Brasilien, 4. Aufl. 2003, S. 42.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

dezu sensationelle Textstufe wäre zu dokumentieren durch Photos eines konkreten Verfahrens und zu illustrieren durch bildliche Wiedergabe der großen Natur- und Kulturschätze Brasiliens – erwähnt sei der Amazonas (dazu Art. 225 VII § 4) und die Regenwälder602, Inseln wie Florianopolis603, aus dem geschichtlichen und kulturellen Erbe große Kirchen wie die Kathedrale in Olinda sowie in Duro Prêto; –– Aus dem großen Tableau der „sozialen Rechte“ (Art. 6 bis 11): die Gegenwirklichkeit der Slums („Favelas“) als Herausforderung für die versprochene Obdachlosenhilfe in Art. 6 (s. auch die „Sozialhilfe“ in Art. 203 f.) sowie die Arbeitslosigkeit trotz der großen Postulate in Art. 7 („Armut als Normalität“)604; hinzunehmen ist gemäß einem positiven Kompetenzverständnis die „gemeinsame Zuständigkeit“ zur „Bekämpfung der Ursachen der Armut und der Faktoren der Marginalisierung“ in Art. 23 X (s. auch Art. 3 III) sowie die eindrucksvollen Grundsätze im Teil „Wirtschafts- und Finanzordnung“ (Art. 170–181), insbesondere der an Italien erinnernde Satz: „Die Wirtschaftsordnung beruht auf der Förderung der menschlichen Arbeit“ (s. auch Art. 193: „Primat der Arbeit“; Art. 1 IV: „die sozialen Werte der Arbeit“). 3.  Kulturelle Identitätselemente in der Verfassung von 1988 wie Sprache, Hymne, Nationalflagge, Multiethnien, lateinamerikanische Nationalitätengemeinschaft, Sport (insbesondere Fußball): Die einheitsbildende Kraft der brasilianischen Sprache wird oft erwähnt, auch ihre gewissen Abweichungen von der portugiesischen Muttersprache. Aus der Trilogie von Nationalfeiertag, Nationalhymne und Nationalflagge605 hat die Verfassung Brasiliens textlich nichts thematisiert, doch sind die drei Themen der Verfassungswirklichkeit sehr präsent; ein kräftiges kulturelles Identitätselement formuliert Art. 4 (einziger Paragraph): Streben nach „ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Integration der Völker Lateinamerikas“ „mit dem Ziel der Bildung einer lateinamerikanischen Nationengemeinschaft“. Dieser auf Lateinamerika bezogene Integrations-Artikel besitzt viele Parallelen in anderen, benachbarten Verfassungen (z. B. Präambel Verfassung Kolumbien von 1991; Art. 6 Verf. Uruguay von 1967 / 96), er könnte die textliche Basis für die Entwicklung des von mir seit Jahren geforderten „gemeinlateinamerikanischen Verfassungsrechts“ sein, er öffnet aber auch den Weg zu Mercosur606. Die in Kap. VIII Art. 231 normierten Garantien für die „Indios“ gehören in diesen Kontext. Was ein Verfassunggeber textlich leisten kann, ist hier geschehen. Eine andere Frage bleibt die nach der politischen Umsetzung dieser Verfassungsnorm in 20 Jahren: Bildmaterial zur Urbevölkerung der Indios in Brasilien. 602  Tier- und Pflanzenbilder, auch aus dem Nationalpark das Emas finden sich in dem Bildband von F. Colombini, Brasilia e Goiás, 2004. S. 66 ff. 603  Dazu der Bildband Santa Catarina, 2004. 604  Vgl. die Abbildung unter dem Stichwort „Reichtum und Armut“, in: H. Taubald, Brasilien, 4. Aufl. 2003, S. 52. 605  Dazu die Monographien des Verf.: Feiertage als kulturelle Identitätsgarantien des Verfassungsstaates, 1987 (brasilianisch 2006); Nationalhymnen als kulturelle Identitätelemente des Verfassungsstaates, 2007; Nationalflaggen: Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 606  Dazu M. A. Maliska, Die Supranationalität in Mercosur, in JöR 56 (2008), S.  639 ff.; F. Fuders, Die Wirtschaftsverfassung des Mercosur, 2008.



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“609

Pluralität und Homogenität der Kultur(en) Brasiliens als „Vielvölkerstaat“ (bis hin zum Karneval in Rio607) spiegelt sich in Art. 215 der Verfassung (s. auch Art. 23 IV). Er ist geradezu der Idealtypus eines (universalen) verfassungsstaatlichen Kultur-Artikels, Stichworte lauten: die Jedermann-Zugangsrechte zu den „Quellen der nationalen Kultur“, deren Pluralität (indianische und afrobrasilianische Volkskulturen, kultureller Pluralismus), kulturelle Teilhaberechte, Festlegung der „Gedenkdaten“ für die einzelnen ethnischen Schichten der Nation, Umschreibung des brasilianischen Kulturbesitzes nach ihren „Ausdrucksformen“, ihren Methoden und Schöpfungen sowie Ausdruckbereichen, Vielfalt der staatlichen Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung des brasilianischen Kulturbesitzes bis hin zu den ehemaligen Siedlungen von entflohenen Sklaven (1888: Verbot der Sklaverei!) nach Art. 216 V. § 5 (s. auch Art. 231: Schutz der Indios, ihrer „kulturellen Reproduktion“). Man darf vermuten, dass gerade die Garantie der Pluralität der Kulturen und Ethnien in Brasilien eine grundlegende Garantie für die Einheit dieses riesigen Landes ist. Man vermisst allenfalls einen Text zum kulturellen Trägerpluralismus von Staat, Kommunen, Gewerkschaften (Ansätze in Art. 227). Bilddokumente sind: Manaus, Rio (nach S. Zweig, die schönste Stadt der Welt), Brasilia608, Indianergebiet am Amazonas. 4. Schutz der Umwelt (Art. 5 LXXIII), Art. 225 Verf. Brasilien: Stichworte und z. T. neue Textstufen sind: „Recht auf eine ökologisch intakte Umwelt“, „Gemeingut des Volkes“, eine konkrete (?) Utopie, Generationenperspektive, „Integrität des genetischen Erbgutes des Landes“, „Umwelterziehung auf allen Unterrichtsstufen“, öffentliche Bewusstseinsbildung, Schutz von Flora und Fauna609 (eindrucksvoll ist der Band Cenas da Vida Gaúcha, 2003). Dieser vorbildliche konstitutionelle Umweltschutz lässt sich bildlich leicht illustrieren (vgl. nur Iguacu610, das Pantanal, Zentral-Amazonas), doch sind die Gefahren für den Regenwald bekannt. Wir stehen vor der Möglichkeit eines „Musée imaginaire“ (A. Malraux), einer Verfassung Brasiliens „für alle“. 5. Politiken, insbesondere die „Stadtpolitik“ (Art. 182 f. Verf. Brasilien): Der schon erwähnte Hauptstadt-Artikel611 in Sachen „Brasilia“612 (Art. 18 § 1) gehört – wie auch in anderen Verfassungen – zu den Integrationsfaktoren, jedenfalls der Idee nach. Angesichts des viel zitierten „künstlichen“ Charakters der Bundeshauptstadt Brasilia stellen sich freilich Zweifel ein. Es fehlen die Elemente einer lebenden 607  Vgl.

2005.

den prächtigen Bildband Rio de Janeiro, hrsg. von H. Donner, 3. Aufl.

608  Vgl. das J. Kubitschek-Denkmal in Brasilia, abgebildet in: H. Taubald, Brasilien, 4. Aufl. 2003, S. 40; s. auch seine Abbildung in: As Constituições Brasileiras, a. a. O., 2007, S.  231. 609  Vgl. die Bildbände: brasil retratos poéticos, brazil poetic portraits, Nr. 1, 2000, Nr. 2, 2001, Nr. 3, 2003. 610  Vgl. den Bd.: Das Welterbe der UNESCO, Naturwunder und Kulturschätze unserer Welt, Mittel- und Südamerika, 1997, S. 304–311. 611  Aus der Lit. vergleichend: C. Seiferth, Die Rechtsstellung der Bundeshauptstadt Berlin, 2008; P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, in: DÖV 1990, S. 989 ff. – Konstitutionelles Textmaterial oben S. 55. 612  Vgl. den Bd.: Das Welterbe der UNESCO, Naturwunder und Kulturschätze unserer Welt, Mittel- und Südamerika, 1997, S. 264–271.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Bürgergesellschaft vor Ort. Architektonisch ist die „Retortenhauptstadt“ Brasilia dank O. Niemeyer indes einzigartig (vgl. den Bildband: Oscar Niemeyer, Minha Arquitetura, 1937–2005, 2. Aufl. 2005). Erwähnt sei die Umsetzung der Verfassung in Architektur: der „Platz der drei Gewalten“. Der weltweit ebenfalls wohl einzig­ artige Verfassungs-Artikel zur Stadtpolitik (s. auch Art. 18 (4)) sei wie folgt auf­ geschlüsselt und kommentiert: „Stadtentwicklungspolitik“, „soziale Funktionen der Stadt“, „Wohl ihrer Bürger“, Bildmaterial: z. B. über die „maßlose Stadt“ São Paulo613, aber auch über Curitiba614. 6. Brasiliens Schutz der Multiethnien (Art. 3 IV, 5 VI, 21 XIV, Art. 215, 261, Art. 231 Verf. Brasilien; Indios615, 232 (kollektives Klagerecht), beachtlich sind auch die deutschen Minderheiten im Süden, dazu der Band: A Saga dos Alemães, Do Hunsrück para Sana Maria do Mundo Novo, 2004; Beispiele für UNESCO-Erbe in Brasilien: Stadtkern von Sâo Louís und Salvador, Brasilia, Díamentina. 7.  Brasiliens Bundesstaat (Art. 4, 18): „Föderative Republik Brasiliens“ mit 26 Bundesländern und einem Bundesdistrikt (Brasilia). Entwickelten sich Eigenarten in den einzelnen Verfassungen der Länder?; Art. 25: „Die Bundesstaaten“, speziell das „afrikanische“ Bundesland Bahia. 8. Der Supreme Court in Brasilia (Art. 101 bis 103): Dokumentation des Äußeren und Inneren, geschichtsträchtiger Plenarsaal616, Erwähnung großer Judikate (Beispiele aus der Feder des Richters G. Mendes), Aufgabe der „Wahrung der Verfassung“ (Art. 102), die Aufwertung des Verfassungsprozessrechts: theoretisch wie praktisch, Arbeit am „kooperativen Verfassungsstaat“. Ausblick In der Verfassung des Bundesstaates Brasiliens von 1988 findet sich keine direkte Bezugnahme auf die alte Verbindung zum Mutterland Portugal (seit 1500 bis 1822), doch diese lebt in Gestalt der Sprache und Kultur fort: Gleiches im Blick auf Afrika im Norden Brasiliens (Musik!). Vor allem arbeiten portugiesische und brasilianische Staatsrechtslehrer eng zusammen. Es gibt auch eine deutsch-brasilianische Juristenvereinigung. Große Brückenbauer sind die Professoren G. Mendes und I. Sarlet. Die Erarbeitung des reichen „kulturellen Verfassungspotentials“ Brasiliens ist authentisch eigentlich nur einem Brasilianer möglich617. Die „offene Gesellschaft 613  Abbildungen

in Merian: Brasilien, 01 / 55, S. 38 ff. J. P. Fagnani, Curitiba 3D, 2002. 615  Abbildung einer Indioplantage des deutschen Malers J. M. Rugendas (Augsburg, 1858), in: As Constituições Brasileiras, 2007, S. 70. Dessen malerische Reise „Malerische Reise“ in Brasilien mit einem Bild des Dschungels hat C. Darwins Theorie der Evolution vor 150 Jahren beeinflusst (vgl. FAZ vom 1. Juli 2008, S. 39). 616  Vgl. den Bildband Supremo Tribunal Federal Brasil, 2004. 617  Aus der Lit.: G. Mendes, Die 60 Jahre des Bonner Grundgesetzes – sein Einfluss auf die brasilianische Verfassung von 1988, JöR 58 (2010), S. 95  ff.; W.  Brugger / I. Sarlet, Moderner Konstitutionalismus am Beispiel der US-Verfassung, des Grundgesetzes und der brasilianischen Verfassung …, JöR 56 (2008), S. 613 ff. 614  Vgl.



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“611

der Verfassungsintepreten und Kunstschaffenden“ Brasiliens „als Land der Zukunft“ (S. Zweig) bleibt gefordert. Ein Bild- und Textband wie der erwähnte römische wird zum Desiderat („kultureller Verfassungskommentar“). Von diesem Ausflug in einen beispielhaften Bundesstaat im Rahmen des allgemeinen Abschnitts über Föderalismus jetzt zu dessen „kleinem Bruder“, dem Regionalismus.

3. Regionalismus: Der Regionalismus in kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichender Sicht a) Der verfassungsstaatliche Begriff „Region“: Ein offenes Ensemble von unterschiedlichen gemischten Größen – textliche Richtgrößen, das Bild der „Skala“ Die Regionalismusstruktur ist auf dem Wege, ein typisches Element des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungs- bzw. Textstufe zu werden. So unterschiedlich die einzelnen Erscheinungsformen in den verschiedenen Ländern sind – von bescheidenen Ansätzen, etwa in Großbritannien (jetzt Schottland: 1997/2012618), über vitale Beispiele in Spanien (Autonomien) bis zur „Vollendung“ des Regionalismus im Föderalismus (i. S. einer aufsteigenden Linie: Österreich / Deutschland / Schweiz): Jede moderne vergleichende Lehre vom Verfassungsstaat muss sich dem Thema „Regionalismus“ stellen. Wie sehr der Regionalismus mindestens in Westeuropa und hoffentlich bald auch realiter und vital in Osteuropa dem Typus Verfassungsstaat innerlich „zuwächst“, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er sich oft aus den Elementen konstituiert, die ihrerseits schon integrierende Bestandteile des Verfassungsstaates sind: die Idee von kultureller Freiheit, Selbstverwaltung bzw. Autonomie (vor allem ausgeformt in den Kommunen), von Dezentralisation und Subsidiarität, von Demokratie (auch im Kleinen), von (vertikaler) Gewaltenteilung und Machtkontrolle. Das sei im Rahmen der Legitimationsgründe vertieft. Hier muss zunächst der Hinweis genügen, dass der Regionalismus heute ein „werdendes“ Strukturelement des Verfassungsstaates bildet und zur Maxime des „Europarechts“ heranreift. Mögen viele Verfassungsstaaten nach wie vor keine Bundesstaaten sein bzw. solche nicht werden wollen: am Ausbau von konstitutionellen Regionalstrukturen dürften sie mittelfristig alle mehr oder weniger arbeiten wollen und vielleicht sogar arbeiten müssen (als Balance zu übernationalen Einbindungen, zu großen Märkten, ggf. aus Gründen des – multiethnischen – Minderheitenschutzes). Möglicherweise befinden wir uns in Europa bereits auf dem Weg zu gemeineuropäischen Regionalstrukturen, so unterschiedlich die einzelnen nationalen Beispiele sind – auf einem Weg, auf dem die Kommunen schon fortge618  Dazu

A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 355 f.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

schritten sind: Ausdruck ist die Europäische Charta der Kommunalen Selbstverwaltung von 1985. Dieses Gemeineuropäische Regionalverfassungsrecht wäre dann Teil des „ius commune constitutionale“, des gemeineuropäischen Verfassungsrechts, wie es jüngst in der älteren und neueren Rechtsgelehrsamkeit, inspiriert vom Zivilrecht, und zugleich in der aktuellen europäischen Szene verankert wurde619. Das Thema „Regionalismus“ sollte nicht zu vorschnell durch begriffliche Festlegungen und Einengungen fixiert werden. Es ist zwar schon ein werdendes Strukturelement des Typus kooperativer Verfassungsstaat, aber es steht heute in einer dynamischen Entwicklungsphase mit sehr unterschied­lichen Momenten und Geschwindigkeiten. Gleichwohl muss bereits jetzt um eine Konturierung des Begriffs „Region“ gerungen werden. Auch der Föderalismus bietet weltweit (in Asien: Indien und Pakistan) einen großen Beispielsreichtum nationaler Varianten (sie sind ein Stück des universalen Konstitutionalismus) und doch muss er (jeweils vorläufig) definiert werden (USA, Kanada). Parallel ist den konstituierenden Merkmalen des „Regionalismus“ nachzugehen. Die Verfassungs- und transnational- bzw. europarechtlichen Texte liefern dabei wichtige Hinweise, auch wenn sie letztlich i. S. einer bestimmten Regionalismus-Theorie „gelesen“ werden sollten – sie klärt sich vor ­allem im Kontext der Legitimationsfrage, im Lichte eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes und im Rahmen der Vielfalt und Einheit Europas. Der Begriff „Region“, der auf dem Weg zu einem konstitutionellen, d. h. verfassungsstaatlichen Begriff ist, gewinnt vor allem aus bestimmten zugehörigen Richtbegriffen seine Konturen. Eine Verfassungs-Analogie zu den Richtbegriffen des Neugliederungsartikels 29 GG liegt nahe, auch wenn man den Regionalismus keineswegs als bloßes „Durchgangsstadium“ zu seiner „vollendeten“ Form, dem Föderalismus, ansehen darf. Gemeint sind die Richtbegriffe aus Art. 29 Abs. 1 GG: „landsmannschaftliche Verbundenheit“, „geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge“, „wirtschaftliche Zweckmäßigkeit“, „Erfordernisse der Raumordnung und Landesplanung“. Speziell für die Regionen finden sich parallele Orientierungs- und Legitimationsbegriffe etwa in Art. 143 Abs. 1 Verf. Spanien (1978) in den Worten: „gemeinsame historische, kulturelle und wirtschaftliche Eigenschaften“620, in Art. 3 Abs. 2 und 3 sind die verschiedenen Sprachen – ein „Kulturgut“ – 619  P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261  ff. – Zu den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“: R. Streinz, Europarecht, 9. Aufl., 2012, S.  155 f., 271 ff. 620  Aus der spanischen Regionalismus-Literatur: P. Cruz Villalón, Die Neugliederung des Spanischen Staates durch die „Autonomen Gemeinschaften“, JöR 34 (1985), S.  195 ff.; F. Balaguer-Calléjon, Die Autonome Gemeinschaft Andalusiens,



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“613

als regionales Differenzierungselement erkennbar. Art. 147 Abs. 2 lit. a lässt die „historische Identität“ als solche erkennen. Materielle RegionalismusElemente, die sich für die Konturierung des Begriffs „konstitutionelle Regionaleinheit des Verfassungsstaates“ auswerten lassen, finden sich in Art. 227 Verf. Portugal (1978 / 89). Für die Azoren und Madeira wird von den „geographischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten“ gesprochen, und die Autonomie der Regionen ganz allgemein zielt laut Verfassung „auf die demokratische Teilhabe der Bürger, auf die wirtschaftlichsoziale Entwicklung und auf die Förderung und den Schutz der Regional­ interessen“ ab, sowie auf die Verstärkung der „nationalen Einheit“ und die „Bande der Solidarität zwischen allen Portugiesen“ (dies ist die Integra­ tionsfunktion!). Eher technokratisch definiert Art. 115 Verf. Italien621: „Die Regionen sind Selbstverwaltungskörperschaften mit eigenen Befugnissen und Aufgaben gemäß den in der Verfassung festgelegten Grundsätzen“; es handelt sich um eine frühe verfassungsrechtliche Textstufe des Regionalismus! Demgegenüber lässt Belgien in seinen jüngeren Verfassungsänderungen (Art. 3bis und Art. 3ter) das Sprachliche bzw. Landsmannschaftliche (vier Sprachgebiete, drei Gemeinschaften) als Regionalismus-Element erkennen (föderal jetzt Art. 3 bis 5 Verf. von 1994). Vom Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ her gedacht ergeben sich an Regionalismus-Strukturen folgende „Anforderungen“ (auch zur Unterscheidung von bloßen administrativen Dezentralisierungsstrukturen): (1) Die Regionalstruktur muss in den Grundzügen in der geschriebenen Verfassungsurkunde normiert sein und einen Teil der Verfassung im materiellen Sinne bilden (Frankreich bleibt hier derzeit noch deutlich „unterentwickelt“). (2) Es muss eine effektive Kompetenzverteilung auf Gesetzgebungs-, Regierungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsebene geben („Spiegelbild“ der Gewaltenteilung). (3) Es können rudimentäre „Vorformen“ einer Eigenstaatlichkeit vorliegen (wie Namen und Flaggen in Spanien: Art. 4 Abs. 2 Verf. Spanien). (4) Die Organstruktur der Regionalismusfunktionen (z. B. Parlamente) sollte im Grundsätzlichen umrissen werden. JöR 47 (1999), S. 109 ff.; s. noch A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 357 ff. Zum Ganzen noch unten „Inkurs XII“. 621  Aus der italienischen Regionalismus-Literatur: L. Paladin, Diritto regionale, 5. Aufl. 1992; V. Onida, Landesbericht Italien, in: F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 239 ff.; S.  Cassese / D. Serrani, Moderner Regionalismus in Italien, JöR 27 (1978), S. 23 ff.; T. Martines, Diritto Costituzionale, 6. Aufl. 1990, S. 757 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

(5) Denkbar sind „kleine“ Homogenitätsklauseln (vgl. Art. 152 Abs. 1 Verf. Spanien); doch sollte das Gegenprinzip der Pluralität und Vielfalt, das „Eigene“ der Regionen sichtbar werden, bei allen möglichen Formen von Kooperation („kooperativer Regionalismus“); auch der Weg zu „gemeinem Regionalrecht“ muss offen bleiben; „Regionalismustreue“ – als Analogie zur „Bundestreue“ sollte kein Lippenbekenntnis bleiben. „Differenzierter“ oder wie in Spanien „asymmetrischer Regionalismus“ findet seine Grenze in einem Mindestmaß an Homogenität. (6) Mitwirkungsrechte der Regionen auf gesamtstaatlicher Ebene sollten in Form einer „zweiten kleinen (Regional-)Kammer“ oder in Gestalt qualifizierter Zustimmungserfordernisse bestimmt sein. (7) Verfahren der Konfliktregelung zwischen den Gesamtstaaten und den Regionen sowie den Regionen untereinander sollten vorgesehen und von einer unabhängigen Instanz geschützt werden. (8) Haushalts- bzw. Finanzautonomie (durch eigene Steuern gesichert) sollte den Regionen eingeräumt werden, ergänzt durch Formen des Finanzausgleichs. Diese „verfassungsstaatliche Themenliste“ für Regionen braucht nicht kumulativ ausgeschöpft zu werden, die einzelnen Nationen dürfen sich sehr unterscheiden; doch sollten wesentliche Teile real werden, nur dann kann von „verfassungsstaatlichem Regionalismus“ gesprochen werden; andernfalls würde der Regionalismus zu einem farblosen Allerweltsbegriff. Vieles deutet darauf hin, dass etwa Frankreich sich erst knapp an der unteren Grenze dieser Anforderungen bewegt622, während Spanien an der oberen Grenze angelangt ist: an der Schwelle zum Föderalstaat. Im Rahmen einer weltweit vergleichenden Verfassungslehre des Regionalismus wären freilich auch die beiden Kategorien „grenzüberschreitender“ Regionalismus (z. B. Arge Alp oder Euregio Egrensis) und „grenzunterschreitender“ Regionalismus (Regionalismus innerhalb der Gliedstaaten eines Bundesstaates: z. B. Franken in Bayern!) typologisch aufzubereiten. Welche Variante des Grundmusters eines „verfassungsstaatlichen Regionalismus“ in der einzelnen Nation auch vorliegen mag: Ähnlich wie beim Föderalismus ist auch beim Regionalismus nach den nicht-juristischen Bedingungen und Voraussetzungen zu fragen. Der verfassungsstaatliche bzw. verfassungsrechtliche Regionalismus braucht eine bestimmte „kulturelle Ambiance“, braucht gesellschaftliche Vorgegebenheiten (auch wirtschaftli622  Zu Frankreich: D.-H. Voss, Regionen und Regionalismus im Recht der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1989, S. 365 ff.; G. Héraud, Die Re­ gionalisierung Frankreichs, in: F. Esterbauer  /  P. Pernthaler (Hrsg.), Europäischer Regionalismus am Wendepunkt, 1991, S. 79 ff.; A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 349 ff.



Inkurs XI: Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“615

cher Art), die ihn „tragen“, lebendig halten und fortentwickeln, etwa Aspekte sozial-kultureller Vielfalt, sprachlicher, landsmannschaftlicher oder geschichtlicher Pluralität. Nur wo sie vorliegen, kann verfassungsstaatlicher Regionalismus gedeihen, er bliebe sonst auf dem Papier des Verfassungs­ textes, realiter siegte letztlich wieder der Einheitsstaat. b) Die sieben Legitimationsgründe von (Föderalismus und) Regionalismus Die Frage nach der inneren Rechtfertigung bzw. den Legitimationsgründen soll die Fundamente und Dimensionen der Region erarbeiten. Sie können vor allem aus Prinzipien des weltoffenen Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe gewonnen werden, unabhängig davon, ob sich ein Land schon konkret zum Regionalismus oder Föderalismus entschlossen hat. Zu unterscheiden sind623: (1) die grundrechtstheoretische Legitimation (einschließlich der aus den kulturellen Freiheiten gewonnenen); (2) die demokratietheoretische Legitimation (einschließlich der ethnischen Aspekte); (3) die gewaltenteilende Legitimation (Kontroll-Argument); (4) die wirtschaftliche, entwicklungspolitische Legitimation; (5) die Integrationsfunktionen als Regionalismus-Argument; (6) die aufgabenteilende, dezentralisierende Dimension (das SubsidiaritätsArgument); (7) speziell in Europa das europapolitische Argument (Stichwort „Europas Kultur als Vielfalt und Einheit“, „offener Regionalismus“). Es liegt auf der Hand, dass viele Analogien zur Legitimation des Föderalismus bestehen – würde er als „Vollendung“ des Regionalismus verstanden, wäre dies nur konsequent. In dem hier entfalteteten Konzept wird freilich nicht behauptet, der Föderalismus sei stets die „ideale“ Form, sozusagen der „Endzustand“ jedes Regionalismus. Das kann sich in einzelnen Nationen so entwickeln, muss aber nicht so sein. Es ist gut denkbar, dass einzelne na­ tionale Verfassungsstaaten sich bewusst „nur“ für den real geltenden Re­ gionalismus entscheiden, so dicht sie dabei an die Grenzen zum Modell des – seinerseits offenen – Föderalismus geraten mögen. 623  Zum Folgenden, jetzt überarbeitet, schon: P. Häberle, Föderalismus, Regionalimus, Kleinstaaten – in Europa, Die Verwaltung 25 (1992), S. 1 ff.; ders., Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates und als europarechtspolitische Maxime, AöR 118 (1993), S. 1 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Der folgende Inkurs soll an einem konkreten Beispiel dem Regionalismus „von unten und innen her“ Gestalt geben. Wiederum wird vergleichend mit der Fülle der Textstufen gearbeitet.

Inkurs XII: Konstitutionelles Regionalismus-Recht – die neuen Regionalstatute in Italien Einleitung Föderalismus und Regionalismus sind offene Strukturformen der vertikalen Gewaltenteilung des Verfassungsstaates. In seiner heutigen Entwicklungsstufe sind sie fast weltweit im Vordringen. Vor allem der Föderalismus gewinnt seit seiner Erfindung in den USA immer mehr Länder für seine Sache. Demgegenüber muss sich der Regionalismus624 in den unterschiedlich zentralisierten Einheitsstaaten mühsam genug Stück für Stück entwickeln. Speziell in Italien kommt es zu Verfassungsreformen, die das Land auf den Weg eines Föderalstaates in der Weise Italiens voranbringen wollen625. Parallel lässt sich eine erstaunliche Entwicklung der selbstbewusster werdenden Regionen Italiens beobachten. Sie wird gewiss auch dadurch unterstützt, dass in benachbarten Ländern, vor allem in Spanien, ein ausgebautes hoch konzentriertes System von „Autonomen Gebietskörperschaften“ besteht. So haben sich jüngst Katalonien und Andalusien Statute gegeben, die den Anspruch, eine „Verfassung“ zu sein, erheben und erfüllen626. Die EU selbst ermutigt durch eine Reihe von Regelwerken die Entwicklung und Stärkung von Regionalstrukturen. Man denke nur an die „Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung“ (1987) sowie an das „Europäische Rahmenübereinkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften“ (1981)627. Im Folgenden sei eine erste Sichtung der wichtigsten neueren Regionalstatute in Italien unternommen, dies ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht vor 624  Aus der Lit.: P. Häberle, Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates und als europarechtspolitische Maxime, AöR 118 (1993), S.  1 ff.; ders., Kulturföderalismus in Deutschland und Kulturregionalismus in Europa, FS Fleiner, 2003, S. 61 ff.; ders., auch zum Folgenden, JöR 58 (2010), S. 443 ff.; W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000; A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 342 ff. 625  Dazu aus der Lit.: A. D’Atena, L’Italia verso il „federalismo“, 2001; ders., Le regioni dopo il big bang, 2005; ders. (a cura di), L’Europa delle autonomie, 2000; O. Peterlini, Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien, 2007. 626  Dazu F. Balaguer (Coord.), El nuevo Estatudo de Andalucía, 2007; E. E. Templado (Coord.), La Costitucione de 1978 y las Communidades Autónomas, 2003. Freilich hat das Verfassungsgericht in Madird das Statut von Katalonien „korrigiert“, dazu H. Bofill, Das Statut von Katalonien vor dem spanischen Verfassungsgericht, JöR 60 (2012), S. 533 ff. 627  Texte bei R. Streinz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat: Der Beitrag des Europarates zum Regionalismus, 2000, S. 107 ff. – Aus der Lit. zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit grundlegend M. Kotzur, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa, 2004.



Inkurs XII: Konstitutionelles Regionalismus-Recht617

allem darum, die auch für Deutschland und ganz Europa interessante Entwicklung in Italien zu dokumentieren und wohl erstmals in Deutschland zu kommentieren. Erster Teil Bestandsaufnahme I. Präambeln Nicht alle neueren Statute Italiens bedienen sich der Präambelkunst628. Damit verzichten sie auf eine für die Integration eines politischen Gemeinwesens besonders wichtige Verfassungskategorie. Kulturwissenschaftlich betrachtet gleichen Präambeln den Prologen in der Literatur oder den Ouvertüren und Präludien in der Musik. Sie arbeiten sprachlich besonders feierlich und bürgernah, meist auch prägnant, zeichnen gerne die Geschichte, die Gegenwart und die erhoffte Zukunft nach und entwerfen inhaltlich oft ein Konzentrat der nachstehenden Regelungen bzw. Artikel. Gelegentlich übernimmt ihre Rolle ein Titel wie „Grundsätzliche Prinzipien“ (so im Statut von Kalabrien, 2004 oder Latium, ebenfalls 2004, ähnlich auch das Statut der Toscana und Umbrien von 2005 sowie das Statut der Abruzzen von 2007 und der Lombardei von 2008). Eine Reihe anderer neuer Statute weiß dagegen um die bürgerintegrierende, verfassungspolitisch zu empfehlende Wirkung von Präambeln und bedient sich ihrer in eindrucksvoller Weise. Hier die Beispiele: Das Statut von Ligurien (2005) hat sich um eine besonders schöne Präambel („Premessa“ genannt) bemüht. Zunächst wird die poetisch schöne Landschaft zwischen Bergen und dem Meer beschrieben, sodann die Funktion einer „Pforte“ bzw. Tores Europas zur Welt postuliert, auch beruft sich die Präambel auf die fruchtbaren internationalen Beziehungen und spricht von den Werten der Freiheit und der Unabhängigkeit, all dies in historischer Betrachtung vom Mittelalter und dem „Risorgimento“ bis zur „Resistenza“. Die Rede ist vom Christentum, überdies von der Erinnerung an seine lange und intensive Geschichte, die die Identität Liguriens geformt hat. Diese Präambel ist eine vorbildliche „Identitätsklausel“, sie bringt die Zeitdimension zum Ausdruck und bekennt sich zu den Grundwerten des Statuts, das in Art. 1 ausdrücklich als „Verfassung“ bezeichnet wird. Sichtbar wird die lange Kulturgeschichte dieser Region. Die Präambel im Statut der Marken (2005) ist formal und inhaltlich ähnlich strukturiert, dies obwohl Art. 1 weitere „konstitutive Elemente“ normiert. Die Rede ist von der Inspiration durch das historische Erbe des „Risorgimento“ sowie den idealen Werten der Republik, die aus der „Resistenza“ stammen. Die Präambel beruft sich auf die Prinzipien der Freiheit, des Pluralismus und der Autonomie, überdies sowohl auf den Laizismus als auch auf das religiöse Erbe, welches die Geschichte der Marken gekennzeichnet hat. Die Präambel unterstreicht ihre Übereinstimmung mit der italienischen Verfassung, mit der EU-Grundrechte-Charta und mit der universalen Menschenrechtserklärung; sie bekennt sich zum Frieden und verwirft den Krieg als Instrument zur Bekämpfung der Freiheit des Volkes und Mittel zur 628  Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. 1998, S.  920 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011, S. 273 ff. Aus der Kommentarlit. zur deutschen Präambel: M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 5. Aufl., 2009, Präambel.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Lösung internationaler Konflikte. Überdies bekennt sie sich zur Verteidigung der Grundrechte der Person sowie zur Idee friedlichen Zusammenlebens verschiedener Bevölkerungsgruppen. Auffällig ist der eigene Absatz zur Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, eine heute beliebte Textstufe. Fast noch ausführlicher ist die Präambel des Statuts der Region Piemont (2005). Sie verdient formal und inhaltlich viel Beifall. Im Einzelnen: Die autonome Region wird sowohl im Rahmen der unteilbaren italienischen Republik gesehen als auch im Kontext der Europäischen Union. Sie empfindet sich inspiriert durch die Universale Erklärung der Menschenrechte und bekennt sich zur Treue zur italienischen Verfassung bzw. ihren Werten der wiedergewonnenen Demokratie. Sie bekräftigt ihre eigene Verpflichtung unter besonderer Berufung auf Freiheit, Demokratie, Toleranz, Gleichheit, Solidarität und Partizipation. Sie bekennt sich ebenfalls zur Würde der Person. Die Zeitdimension findet sich in Gestalt der „multikulturellen Geschichte“, des geistigen Erbes, und sowohl der christlichen als auch der laizistischen Tradition. Anerkannt wird auch die Partizipation der Bürger und das Prinzip der Subsidiarität. Überdies findet sich ein Bekenntnis zur Beförderung der „kulturellen Identität“ und der sprachlichen und historisch lokalen Eigenheiten des Landes. Auch die Förderung des Umweltschutzes und der Naturgüter ist in den hohen Rang der Präambelsprache gehoben. In diesem Kontext findet sich das Bekenntnis zum Schutze der Tiere. Als Grundwerte, auch der Erziehung, wird die Gewaltlosigkeit herausgestellt, auch die soziale Kohäsion sowie die gleiche Würde der Geschlechter. Unterstrichen wird die Hilfspflicht gegenüber Behinderten, auch die Anerkennung der Rolle der Familie. All dies könnte ein Lehrbuch nicht besser darstellen. Das Statut der Region Emilia Romagna (2005) bereichert sich ebenfalls durch eine in jeder Hinsicht eindrucksvolle Präambel. Auffällig ist die Berufung auf die Werte der „Resistenza“, die Ideale der Freiheit und nationalen Einheit des „Risorgimento“ sowie auf die Grundrechte der italienischen Verfassung und der Europäischen Union. Die Rede ist überdies vom Bewusstsein für das eigene kulturelle und humanistische Erbe sowie für die Prinzipien des Pluralismus und des Laizismus. Im Einzelnen werden die „universalen Werte“ der Freiheit und Gleichheit unterstrichen, die Ablehnung des Totalitarismus, die soziale Gerechtigkeit und die Solidarität „mit dem anderen Völkern der Welt und den künftigen Generationen“. Anerkannt werden auch die gleiche soziale Würde der Person ohne jede Diskriminierung wegen des Geschlechts etc., insbesondere auch wegen der sexuellen Orientierung. Die Förderung der partizipatorischen Demokratie wird ebenso postuliert wie die Begünstigung der Gemeinden. Die Präambel bekennt sich auch zum Schutz der Natur- und Kulturgüter sowie der künftigen Generationen. Wieder sind Stichworte für eine vergleichende Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht auf prägnante Begriffe und Texte gebracht worden. Im Ganzen: Die Präambeln mancher neuerer Regionalstatute Italiens sind vorbildlich. Sie halten den Vergleich mit so manchen Verfassungspräambeln der österreichischen oder schweizer Bundesländer bzw. Kantone aus629. Zugleich demonstrieren sie den Erkenntnisgewinn des kulturwissenschaftlichen Ansatzes. 629  Dazu die Dokumentation und die Kommentierung der österreichischen Landesverfassungen von P. Häberle, JöR 54 (2006), S. 367 ff.; zu den neuesten Schweizer Kantonsverfassungen: ders., JöR 56 (2008), S. 279 ff.



Inkurs XII: Konstitutionelles Regionalismus-Recht619 II. Grundsatz-Artikel

In besonders dichter Weise formulieren die neuen Regionalstatute Italiens ihre Grundsatz-Artikel, wobei die innere Nähe zu Präambeln sprachlich, formal und inhaltlich auffällt. Dies ist besonders der Fall im Statut der Region Apulien (2004). Ihr Art. 1 bekennt sich zur Einheit und Unteilbarkeit der Republik und zum Rahmen der Europäischen Union. Er spricht von dem Respekt vor der Menschenwürde, den Grundrechten und den Freiheiten der menschlichen Person und legt auch ein Bekenntnis zur Befreiung und Wiedergewinnung der Demokratie „in unserem Lande“ ab. In Abs. 2 findet sich eine Vergegenwärtigung der jahrhundertealten Kultur und Religiösität sowie des Christentums; bewegend ist der Hinweis auf die Nähe zum Meer und das Bekenntnis zur „Brücke Europas gegenüber der Levante und dem Mittelmeer“. Abs. 3 bekennt sich zu der universalen Menschenrechtserklärung ebenso wie zur EMRK und zur EU-Grundrechte-Charta sowie den Menschenrechten der italienischen Verfassung. Abs. 4 normiert das Prinzip der Subsidiarität mit der schönen Umschreibung von der „primären Zuständigkeit der den Bedürfnissen am meisten benachbarten Institutionen“. All dies ist fruchtbares Textmaterial für eine vergleichende Verfassungslehre bzw. für Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre. Art. 2 Abs. 1 normiert einen Schutz der künftigen Generationen, Art. 3 verpflichtet die Region auf den Frieden und die Solidarität sowie auf den Schutz der Schwachen und Einwanderer. Art. 4 schützt und fördert die sprachlichen Minderheiten auf dem eigenen Territorium. Art. 5 schützt die Rechte der Minderjährigen. Das Regionalstatut von Kalabrien (2004) formuliert, ebenfalls ohne Präambel, gleich eingangs Grundprinzipien und Verfassungsziele. Art. 1 ordnet die Region zugleich in die Republik Italien und die Europäische Union ein. Auch die Grundrechte der Europäischen Union werden anerkannt. Art. 2 unterstreicht insbesondere die Prinzipien der Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität, gleiche soziale Würde, Frieden und Gewaltlosigkeit. An Verfassungszielen werden insbesondere herausgestellt der Abbau von Hindernissen ökonomischer und sozialer Art für die volle Entwicklung der menschlichen Person, sodann die Anerkennung des Schutzes der Rechte der Schwachen, die Unterstützung der Familie, die Gleichberechtigung von Männer und Frauen sowie das Prinzip der Subsidiarität. Eine Fülle von weiteren Verfassungszielen der Region bis hin zum Schutz der Rechte der Tiere Art. 2 Abs. 2 lit. v umschreiben fast alle denkbaren Tätigkeiten einer Region auf ihrer heutigen Entwicklungsstufe. Hier ist des Guten vielleicht zuviel getan. Das Regionalstatut von Latium (2004), ebenfalls ohne Präambel normiert, bekennt sich in – einzigartiger Weise – in Art. 3 Abs. 1 zum „Manifest von Ventotene“ für ein „freies und einiges Europa“, überhaupt zur europäischen Integration, womit gleich eingangs ein eindrucksvoller Europa-Artikel die Identität der Region konturiert. Auffällig ist der eigene Hauptstadt-Artikel in Bezug auf Rom (Art. 5), das als Symbol der italienischen Einheit und des Zentrums des Katholizismus sowie des Dialogs unter den Christen charakterisiert wird. Art. 6 normiert eine Vielzahl von „Rechten und Grundwerten“, genannt seien nur die universale Menschenrechtserklärung, der Schutz der Rechte der Kinder, die EU-Grundrechte-Charta, die Europäische Charta der lokalen Autonomien und die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche auf der Basis der Konkordats. Art. 7 umschreibt die bürgerliche und soziale

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Entwicklung und nennt eine Fülle von Orientierungswerten wie der Schutz der Kinder, der Familie und der Ehe, der Gesundheit, der Umwelt, des Sports. Die wirtschaftliche Entwicklung ist in Art. 8 thematisiert, der hohe Schutz des natürlichen und kulturellen Erbes wird in Art. 9 behandelt. All dies liest sich wie ein Lehrbuch. Das Regionalstatut der Toscana (2005) bekennt sich in ihren Eingangs-Artikeln ebenfalls sowohl zur italienischen Republik als auch zur Europäischen Union. Unter den allgemeinen Prinzipien (Art. 3) werden die Freiheit und Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität sowie die Menschenwürde genannt. Gleiches gilt für die Subsidiarität und für die Förderung der Stimmrechte von Einwanderern. Als Grundziele („Finalita e Principi“) figurieren der Schutz der Menschenwürde, das Bekenntnis zum Pluralismus der Medien und des Zugangs aller zur Kultur, auch die Förderung der auf der Ehe begründeten Familie und die Nachhaltigkeit des Umweltschutzes (Art. 4). Im Ganzen stellt sich indes auch hier die Frage, ob manche Regionalstatute in Sachen „Staatsziele“ zuviel des Guten getan haben und barock überladen sind. Vermutlich suchen sie sich durch ihre Artikel gerade auf diesem Feld zu profilieren. Das Regionalstatut der Marken (2005) enthält nach der schon gewürdigten eindrucksvollen Präambel einen Titel zu den „Grundsatzbestimmungen“. Stichworte sind: das Bekenntnis zur Einheit der italienischen Republik und zum Rahmen der Europäischen Union. Auch wird die Region als durch die Kommunen und Provinzen konstituiert angesehen (Art. 1). Ein eigener Europa-Artikel 2 ist besonders ausführlich geraten (dazu unten IV). Art. 3 bekennt sich zur Gleichbehandlung der Geschlechter, Art. 4 normiert Fragen der ökonomischen Entwicklung und der sozialen Beziehungen. Dabei ist besonders an die Rechte der Arbeiter gedacht, an die Nachhaltigkeit des Umweltschutzes, an die Förderung bzw. der Schutz der Ausgewanderten. Art. 5 befasst sich mit der Gesundheit, dem Umweltschutz und der Kultur. Hier findet sich wiederum der Respekt vor den Tieren sowie das Bekenntnis zum Schutz des geschichtlichen, künstlerischen und archäologischen Erbes. Auch an den Sport ist gedacht (Abs. 5): regionales Kulturverfassungsrecht. Das Regionalstatut des Piemont (2005) regelt nach einer ausführlichen überaus gelungenen Präambel die Grundprinzipien. Genannt seien Stichworte wie das Prinzip der Subsidiarität (Art. 3), der Schutz des natürlichen Erbes (Art. 6), des kulturellen Erbes (Art. 7), der sozialen Rechte (Art. 11) und die pluralistische Informationspolitik (Art. 12). Art. 14 denkt an Erziehung und Forschung, Art. 15 befasst sich mit den Beziehungen zur Europäischen Union: regionales Europaverfassungsrecht. Das Statut der Region Emilia Romagna (2005) arbeitet fast gleichsinnig. Als Ziele werden – nach der Präambel – u. a. postuliert: die gleiche Menschenwürde, der Schutz der verschiedenen Kulturen, Ethnien und Religionen, der sozialen Rechte der Einwanderer und der Flüchtlinge (Art. 2), die nachhaltige Entwicklung (Art. 3); weitere „Politiken“ gelten der Arbeit, der Wirtschaft, dem Sozialen, der kommunalen Selbstverwaltung und der Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Regionen (Art. 4 bis 11). Auch diese Region mutet sich sehr viele Aufgaben zu, ist jedoch Ausdruck des weltweiten verfassungsstaatlichen Aufgabendenkens. Das Statut der Region Ligurien (2005) befasst sich – nach einer sehr geglückten Präambel – im Ersten Abschnitt „Allgemeine Bestimmungen“ fast ähnlich wie die anderen schon analysierten Regionalstatute mit folgenden Themen: Unteilbarkeit der italienischen Republik (Abs. 1), Bekenntnis zu den Prinzipien der Freiheit, Demo-



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kratie, Gleichheit, Subsidiarität, Pluralismus, Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität, Unterstützung der Familie, nachhaltige Entwicklung, Anerkennung der Freiheit zu wirtschaftlichen Initiativen (Abs. 2), Zusammenarbeit mit den anderen Regionen und den Kommunen sowie Beziehungen zur Europäischen Union und internationale Beziehungen (Art. 4 und 5). Diese Themenliste ist weltweit vorbildlich. Das Regionalstatut Umbrien (2005) normiert keine Präambel, wohl aber präambel­ ähnliche „Allgemeine Bestimmungen“. Erwähnt seien die nationale Einheit als Ausdruck des Risorgimento (Art. 1 Abs. 2), das Bekenntnis zur universalen Menschenrechtserklärung, zu den Werten der Freiheit und der „nationalen Identität“ (Art. 1 Abs. 3); in Abs. 4 geht es um die Europäische Union. Art. 2 bezeichnet sich ausdrücklich als Identitätsartikel („Identità e valori“). Hier finden sich manche neue Textstufen: unterstrichen wird die eigene Identität und die Aufgabe, an künftigen Generationen u. a. folgende Grundwerte zu übermitteln: die Kultur des Friedens, die Respektierung der Menschenrechte, die Kultur der sozialen Kohäsion, die „europäische Berufung“, der kulturelle und wirtschaftliche Pluralismus, das geistige und religiöse Erbe Umbriens. Unter den „programmatischen Prinzipien“ fällt der eigene Artikel zum Frieden auf (Art. 4). Erwähnt sei auch der Verbraucherschutz (Art. 6), der Verfassungsschutz der Familie (Art. 9) und der Schutz von Umwelt, Kultur und Tourismus (Art. 11). Weitere umfangreiche Artikel beschäftigen sich mit dem Gesundheitsschutz (Art. 13), der Arbeit und Beschäftigung (Art. 15) sowie dem Prinzip der Subsidiarität (Art. 16). Art. 18 enthält eine Neuerung unter dem Stichwort „Programmazione“. Hier ein Blick auf das Regionalstatut der Abruzzen (2007). Es normiert keine Präambel, wohl aber Grundsatzbestimmungen (Art. 1 bis 12). Erwähnt seien das Bekenntnis zur Einheit der Republik, geboren aus der „Resistenza“, sodann der Hinweis auf die christlichen Wurzeln der Region sowie die Respektierung der Menschenwürde. Art. 3 widmet sich dem Frieden und der internationalen Kooperation, Art. 4 umschreibt das Selbstverständnis in dem überaus geglückten Satz (Abs. 1): „L’Abruzzo è una Regione dell’Europa e concorre, con lo Stato e le altre Regioni, alla definizione delle politiche e alla realizzazione degli obiettivi dell’Unione europea.“ Art. 5 widmet sich der Garantie der Rechte, Art. 7 der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung, Art. 8 der Kultur, dem Sport, der Kunst und Wissenschaft sowie der Schule und der Universität. Die Subsidiarität wird in Art. 10 umschrieben. Ein eigener, sehr umfangreicher Art. 12 geht neue Wege in Sachen Partizipation. Zuletzt ein Wort zum Regionalstatut der Lombardei (2008): Es normiert unter den „Allgemeinen Prinzipien“ viele Ziele (Art. 2), etwa den Schutz des Lebens „in jeder Phase“, den Kulturgütern und Landschaftsschutz, auch den Verbraucherschutz: dies ist ein relativ neues Verfassungsthema, weltweit. III. Spezielle Identitäts-Artikel, insbesondere zu Flaggen und Wappen Schon die bisherige typologische Normenanalyse hat erkennen lassen, welche allgemeine Identitätselemente sich die neueren Regionalstatute in Italien textlich zuschreiben. Im Folgenden seien Beispiele aufgelistet, in denen sich spezielle Identitätselemente wie Flaggen und Wappen630 im Normtext widerspiegeln. Während die 630  Aus der Lit.: P. Häberle, Nationalflaggen: Bürgerdemokratische Identitäts­ elemente und internationale Erkennungssymbole, 2008.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

„Verfassungen“ der Autonomen Gebietskörperschaften in Spanien631 die Trias von Feiertagen, Flaggen und Hymnen grundlegend festschreiben und auch die Länderverfassungen in Österreich und Deutschland, auch der Schweiz ergiebig sind, halten sich die Regionalstatute in Italien hier auffallend zurück. Sie verweisen meistens auf ein Gesetz, was das Banner, die Flagge und das Wappen angeht, und enthalten sich ausführlicher Beschreibungen. Dies überrascht um so mehr, als die reichen Städtebilder und Kulturlandschaften Italiens gerade auch bei diesen Identitätselementen an ihre große historische Überlieferung anknüpfen. Offenbar werden die traditionellen Symbole für so selbstverständlich erachtet, dass sich die Regionalstatute hier nicht textlich engagieren wollen. Hier einige Beispiele für bloße Verweise auf gesetzliche Regelungen der Regionalstatute: Art. 7 Abs. 3 Apulien, Art. 1 Abs. 6 Kalabrien, Art. 3 Abs. 3 Umbrien, Art. 1 Abs. 5 Emilia Romagna, Art. 1 Abs. 4 Piemont, Art. 2 Abs. 3 Toscana, Art. 1 Abs. 5 Marken, Art. 1 Abs. 5 Ligurien, Art. 1 Abs. 5 Abruzzen, Art. 1 Abs. 4 Lombardei. Fast uniform findet sich der Satz: „La Regione ha un gonfalone, una bandiera e uno stemma stabiliti con legge regionale“. Zwar finden sich diese Symbole „hochgezont“ schon in den Eingangs-Artikeln und lassen insofern die grundsätzlich hohe Wertung dieser Themen durch die Regionen erkennen. Doch fehlt, wie erwähnt, eine nähere Beschreibung schon im Regionalstatut selbst. Das neue Regionalstatut der Lombardei von 2008 erwähnt in Art. 1 Abs. 4 vor Banner, Flagge und Wappen die ebenfalls gesetzliche Regelung der „Feste“. IV. Europa-Artikel Ganz anders, d. h. reicher, ist das Bild bei den vielen Textvarianten, die sich in den neueren Regionalstatuten Italiens zum Thema Europa finden. Während die klassischen Symbole wie Banner bzw. Flagge und Wappen im Selbstverständnis der Region nicht so sehr textlich als vielmehr historisch-real ein Kernelement darstellen, wollen die neueren Texte offensichtlich das neue Thema Europa ganz bewusst offenkundig zu einem Element der eigenen Identität machen. Die Europa-Artikel begegnen systematisch und inhaltlich in vielen Formen und Inhalten. Die Regionalstatute scheinen mit ihren Europabekenntnissen fast in einem Wettbewerb untereinander zu stehen. Sie machen sich sozusagen „europaunmittelbar“, was um so mehr auffällt, als die italienische Verfassung selbst noch keinen ausdrücklichen Europa-Artikel enthält. Sie hat kein „nationales Europaverfassungsrecht“632, wohl aber schaffen die Regionen jetzt „regionales Europaverfassungsrecht“. Hier einige Beispiele: Apulien bekennt sich schon in Art. 1 Abs. 1 zur Europäischen Union, in Abs. 2 ist die Rede von der Brücke Europas zur Levante und zum 631  Dazu vor allem im Blick auf Katalonien und Andalusien: P. Häberle, Föderalismus  /  Regionalismus – eine Modellstruktur des Verfassungsstaates, JöR 54 (2006), S.  569 ff.; ders., Juristische Kultur in Katalonien, JöR 56 (2008), S. 503 ff. Zu den Symbolen in Spanien: ders., Nationalflaggen, a. a. O., S.  37 f. 632  Zu dieser damals neuen Begriffsbildung: P. Häberle, Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe – der Ausbau von „nationalem Europaverfassungsrecht“, FS Everling, Bd. I, 1995, S. 355 ff. Aus der späteren Lit.: P. M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 194 (223).



Inkurs XII: Konstitutionelles Regionalismus-Recht623

Mittelmeer hin. Abs. 3 verweist auf die EMRK und die EU-Grundrechte-Charta. Deutlicher könnte die „Europäisierung“ dieses neuen Regionalstatuts nicht zum Ausdruck kommen. Kalabrien spricht ebenfalls in Art. 1 Abs. 1 von dem Kontext der Europäischen Union, in Abs. 2 macht es sich die EU-Grundrechte-Charta zu eigen, die insoweit „vorwirkt“. Umbrien postuliert in Art. 1 Abs. 4 die volle politische und soziale Verwirklichung der Europäischen Union und bekennt sich zu deren Prinzipien und Werten. Die Präambel der Marken ordnet sich in die Werte der Europäischen Union ein. Das Regionalstatut des Piemont ist besonders ergiebig: in der Präambel findet sich das Bekenntnis zu den Prinzipien der Europäischen Union, in Art. 1 Abs. 1 wiederholt sich dieses Bekenntnis und in Art. 15 sind die internationalen Beziehungen und die Beziehungen zur Europäischen Union geregelt. Die Toscana bekennt sich ebenfalls in Art. 1 zur Europäischen Union. Art. 3 nimmt sogar auf die Verträge per la „Costituzione europea“ Bezug. Diese Einschätzung der Verträge als „Verfassung“ ist eine kleine Sensation in Sachen Textstufen zur Konstitutionalisierung Europas. Art. 70 regelt in einem eigenen Artikel die Beziehungen zur Europäischen Union. Auch Latium ist sehr ergiebig: als einziges Regionalstatut inspiriert es sich von den inhaltlichen Prinzipien des „Manifests von Ventotene“, auch ordnet es die Europäische Integration als grundlegende Werte der eigenen Identität ein. In Art. 6 Abs. 3 findet sich ein Hinweis auf die EU-Grundrechte-Charta, die derzeit regional gilt, während sie noch nicht Europäisches Verfassungsrecht ist, in Abs. 8 ebd. eine Bezugnahme auf die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung. Die Marken formulieren ihren Europabezug schon in der Präambel durch eine Bezugnahme auf die damals noch „vorwirkende“ EU-Grundrechte-Charta. In Art. 1 Abs. 1 wird der Kontext der Europäischen Union beschworen, und Art. 2 normiert einen besonders reichhaltigen Europa-Artikel mit nicht weniger als 7 Absätzen und Bezugnahmen auf die Partizipation mit den anderen Regionen Europas sowie mit der EU selbst; überdies werden die Prinzipien der Subsidiarität und loyalen Zusammenarbeit hervorgehoben (Abs. 4 bzw. 7). Das Regionalstatut Liguriens bekennt sich in seiner „Premessa“ zu seiner Rolle als „Tor“ zu Europa. Art. 4 regelt die Beziehungen zur EU. Die Abruzzen normieren ihren Europa-Artikel überaus sorgfältig und inhaltsreich in Art. 4. Auch hier findet sich das Subsidiaritätsprinzip und der Hinweis auf die „regionale Identität“. Die Lombardei nimmt sich des Themas Europa in Art. 6 an. Sie spricht von der Zusammenarbeit mit anderen europäischen Regionen und von der „regionalen Identität“ (Abs. 2)633, ein vorbildlicher Text. V. Menschenwürde, Menschenrechte und Grundrechte bzw. grundrechtsbezogene Regionalziele Die hier dokumentierten neuesten Regionalstatute Italiens sind bei diesen Themen ebenfalls sehr ergiebig. Die Menschenwürde wird immer wieder in konstituierendem Kontext erwähnt. So bekennt sich Apulien schon in Art. 1 zum Respekt vor der Würde der menschlichen Person; so schützt Art. 4 Toscana die Würde der Arbeiter, 633  Aus der reichen Europa-Literatur Italiens hier nur J. Luther, Europa Constituenda, 2007; S.  P. Panunzio / E. Sciso (a cura di), Le Riforme Istituzionali e la Partecipazione dell’Italia all’Unione Europea, 2002; P. Ridola, Diritto comparativo e costituzione europeo, 2010.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

so setzt sich Art. 6 Abs. 1 Latium für die Würde der alten Menschen ein; so setzt sich das Piemont schon in seiner Präambel für die Würde der menschlichen Person ein; so spricht Art. 2 Abs. 1 Kalabrien von gleicher sozialer Würde; so verlangt die Präambel der Emilia Romagna die Anerkennung der sozialen Würde der Person; so normieren die Abruzzen in Art. 2 Abs. 4 unter den „Prinzipien“ u. a. den Wert der menschlichen Würde: diese ist ein Grundsatz der universalen Verfassungslehre und zugleich Ausdruck von „Weltrechtskultur“, auch im Völkerrecht. Die Menschen- und Grundrechte sind – ähnlich wie das Thema Europa – fast ein „Generalbass“ im Ganzen der Regionalstatute. Meist wird sowohl auf die europäischen Menschenrechte als auch auf die universalen Menschenrechts-Texte verwiesen. Dies gilt etwa für Art. 1 Abs. 3 Apulien, für Art. 6 Latium, für Art. 1 Kalabrien, für die Präambel der Marken, ebenfalls für die Präambel der Emilia Romagna. „Von unten her“ wächst ein Stück des universalen Konstitutionalismus mit vielen Teilverfassungen, des nationalen Rechts wie des Völkerrechts. Die Regionalstatute arbeiten hier zwar sehr pauschal. Sie heben aber eine Reihe von speziellen Grundrechten eigens hervor. Dies gilt etwa für das Recht der Bürger auf Information sowie die Petitionsfreiheit (Art. 14 und 16 Apulien) – klassisch gewordene demokratische Grundrechte. Das Informationsrecht ist auch in Art. 9 Kalabrien thematisiert, das Petitionsrecht in Art. 16 der Emilia Romagna. Sehr viel Phantasie entwickeln die Statute bei den Themen Soziales, Familie, Gesundheit, Umweltschutz634 und Arbeit. In solchen Verfassungsaufträgen bzw. Regionalzielen verbergen sich viele Grundrechte. Dies gilt etwa für Art. 11 und 12 Apulien, Art. 4 Toscana, Art. 6 bis 9 Latium, Art. 2 Ligurien, Art. 2 Kalabrien, Art. 4 und 5 Marken, Art. 9, 11, 13 und 15 Umbrien, Art. 7 und 8 Abruzzen; Art. 11 des Piemont spricht von „sozialen Rechten“. Im Ganzen verlangen die Statute von den Regionen viele grundrechtsbezogene Aktivitäten. Die Grundrechte erscheinen im Gewand von Aufgaben-Artikeln, wie dies der Verfasser in Sachen „Grundrechte im Leistungsstaat“ (1971) postuliert hat635. Universale Textstufen werden greifbar, der Kontakt zum Völkerrecht lebt. VI. Demokratie-Artikel In Sachen neue Textstufen für das Prinzip der Demokratie sind die Statute sehr innovativ. Vor allem behandeln sie das Thema „Partecipazione popolare“ (so Art. 15 bis 19 Apulien, das sogar ein „Referendum abrogativo“ und ein „Referendum consultivo“ vorsieht; ähnlich Art. 6 bis 10 Ligurien sowie Art. 18 bis 22 Emilia ­Romagna und Art. 20 bis 24 Umbrien, Art. 6 bis 10 Lombardei). Die Toscana formuliert einen eigenen Art. 8 in Sachen Partizipation und sieht sogar eine Popular-Initiative (Art. 74) vor. Ganz offenbar erhoffen sich die Statute eine stärkere Demokratisierung von „unten her“. Ähnlich geht Kalabrien vor (Art. 4 bis 13). Bemerkenswert sind die einzelnen Postulate zur „Transparenz“ (z. B. Art. 5 Kalab634  Dazu meine Darstellung in: W. Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 180 (191 f.). 635  Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (109 ff.).



Inkurs XII: Konstitutionelles Regionalismus-Recht625

rien). In diesen Kontext gehört auch die Schaffung eines Bürgerbeauftragten (z. B. Art. 6 Kalabrien, Art. 83 Umbrien). Man wird abwarten müssen, ob diese Instrumente die Demokratie vor Ort beleben. VII. Sonstiges Wegen ihres Bestrebens, die eigenen Texte und damit die ganze Region zu profilieren, lohnt sich die Schaffung der Kategorie „Sonstiges“. Ein Streifzug durch die Texte fördert viele neue und alte Themen zu Tage: die Prinzipien der Subsidiarität und loyalen Zusammenarbeit (Art. 8 Abs. 1 Apulien), die „Verifikation“ der Prinzipien und Rechte (Art. 5 Toscana), die Rolle der Minderheiten (Art. 10 Toscana), das Prinzip der Autonomie und Partizipation (Art. 2 Piemont), die Transparenz (Art. 5 Kalabrien), die Einrichtung eines Rates der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 65 Ligurien, ebenso Art. 36 bis 38 Marken). Die kommunale Selbstverwaltung ist ebenfalls breit ausgestaltet in Art. 23 bis 26 Emilia Romagna. Als Beispiel für die immer wieder betonte Subsidiarität sei Art. 16 Umbrien zitiert, auch Art. 10 Abruzzen und Art. 3 Lombardei. Die Regionalstatute zeigen viel Phantasie. Zweiter Teil Ein Theorierahmen – Regionalstatute als werdende „kleine Verfassungen“ Speziell für Italien kann man zwar wohl noch nicht von den Regionalstatuten als „Verfassungen“ sprechen, wohl aber zeichnet sich eine Tendenz dazu ab, Elemente konstitutioneller Substanz der Regionen zu entwickeln. Dies wird textlich-formal und inhaltlich-thematisch erkennbar. Bislang haben die Regionen in Italien wohl noch nicht so viel konstitutionellen Selbststand wie die Autonomen Gebietskörperschaften in Spanien. Doch dürften sie ihr Gewicht in dem Maße verstärken, wie Italien insgesamt auf dem Weg zu einem Föderalstaat ist. Bei all dem sind die Entwicklungen auf der europäischen Ebene impulsgebend. Auch ist zu vermuten, dass es Rezeptionsprozesse in Sachen Texte und Theorien von Spanien her gibt. Es entstehen „europäische Regionen“, sie bereichern das konstitutionelle Europa. Besonders hervorstechend sind die hier nachgezeichneten Entwicklungen der Regionen nach Europa hin, Stichwort: „europaunmittelbar“. Die Regionen Italiens empfinden sich in ihrem Selbstverständnis zu Recht schon als „europäische Regionen“. Ein angemessenes neues Stichwort ist der Begriff des „regionalen Europaverfassungsrechts“. Nicht weniger bemerkenswert sind die Tendenzen der Demokratisierung mit z. T. neuen Textstufen (z. B. konsultative Volksbefragung) und zur Anreicherung der Aufgabenartikel und Themen wie Kultur, Familie, Gesundheit, Arbeit, Soziales, Umweltschutz, auch Wirtschaft, hinter denen oft Grundrechtsprinzipien wirken. Jedes gute Lehrbuch kann von diesen Texten lernen, weltweit. Weltweit wäre zu untersuchen, ob auch andere Verfassungsstaaten, die bislang zentralistisch konzipiert sind, ihren Regionen allmählich Raum lassen: zu konstitutionellen Wachstumsprozessen. Jedenfalls ist das „konstitutionelle RegionalismusRecht“ zunehmend Thema einer vergleichenden Verfassungslehre, europaweit, vielleicht auch bald weltweit: i. S. des Projekts „universale Verfassungslehre“.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

XII. Gerechtigkeitsmaximen im Verfassungsstaat 1. Problem Während Gemeinwohlklauseln und Staatsaufgaben-Artikel schon verfassungstextlich ins Auge springen und überdies in Staatslehren und im übrigen Schrifttum viel behandelt sind636, verhält es sich mit dem Topos „Gerechtigkeit“ anders. Er wird vor allem in der Rechtsphilosophie erörtert637 und soweit er in den positiven Verfassungstexten vorkommt, wird er nicht wirklich beachtet bzw. verarbeitet. Darum soll auch hier mit einer typologischen Textstufenanalyse begonnen werden, die dann – höchst skizzenhaft – in die weltweit vergleichende Verfassungslehre integriert sei. All dies kann nur ein erster Schritt sein, Rechts- bzw. Staatsphilosophie und weltoffene Verfassungslehre zusammenzuführen, so wie heute die Rechtsphilosophie ohne „Philosophie der Verfassung“ nicht praktiziert werden kann (zumal im Zeichen eines universalen Konstitutionalismus). Nicht weil Verfassungen der „Weisheit letzter Schluss“ wären, sondern weil verfassungsstaatliche Verfassungen gemäß dem heute fast universalen Prinzip des „Vorrangs der Verfassung“ (z. B. Präambel Verf. Südafrika von 1996, Art. 2 Verf. Kenia von 2010, Art. 2 Abs. 1 Verf. Angola von 2010, Kap. 1 Sect. 6 Verf. Thailand von 2006) den Rahmen für alle Teilrechtsgebiete setzen, ohne dass sie deren Propria missachten dürften: weshalb etwa das Privatrecht „seine“ spezifische Gerechtigkeit hat und Rechtskultur ist. 2. Elemente einer Bestandsaufnahme der Textstufen Ein erster Schritt gilt den geschriebenen Gerechtigkeitsprinzipien in der Verfassung bzw. der „Verfassungsgerechtigkeit“. Eine systematische Bestandsaufnahme der Texte ist durchaus ergiebig. „Gerechtigkeit“ findet sich in Präambeln (z. B. Verf. Rheinland-Pfalz von 1947, Baden-Württemberg von 1953, Guatemala von 1985, (alte) Verf. Peru von 1979 – „Gerechtigkeit der oberste Wert“, „gerechte Gesellschaft“ –, Verf. Irland von 1937 / 92, Verf. Jura von 1977 („justice sociale“), Verf. Spanien von 1978: „gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung“, Verf. Türkei von 1982, Verf. Philippinen von 1986: „regime of truth, justice“, Verf. Südkorea von 1987, Verf. Uganda von 636  Zuletzt etwa A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 79 ff.; zuvor K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997; s. im Übrigen oben S. 459 ff. 637  Vgl. A. Hollerbach, Art.  Gerechtigkeit und Recht, Staatslexikon, 2. Bd., 7. Aufl., 1986, Sp. 898  ff.; G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980; A. Tschenscher, Art. Gerechtigkeit, in: Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 724 ff.



XII. Gerechtigkeitsmaximen im Verfassungsstaat627

1995: „social justice and progress“, Verf. Mali, 1992: „respect de la justice“, Verf. Russland von 1993: „helle Glaube an das Gute und die Gerechtigkeit“, Verf. Mongolei von 1992: „justice and national unity“, Verf. MecklenburgVorpommern von 1993, Verf. Thüringen von 1993, Verf. Appenzell A. Rh. von 1995: „gerechte Lebensordnung mitgestalten“, Verf. Südafrika von 1996 / 97: „social justice“, Verf. Estland von 1992: „liberty, justice and law“, Verf. Polen von 1997: „Gott als Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen“), sie findet sich als Ziel bzw. Pflicht des Staates (Art. 1 Verf. Portugal von 1976, Art. 1 Verf. Rumänien von 1991, Art. 2 Verf. Guatemala, Art. 2 lit. a Verf. Uri 1984: „gerechte Ordnung für das friedliche Zusammenleben der Menschen“, Präambel Verf. Angola: „Kultur der Toleranz, Verständigung, Gleichheit, Gerechtigkeit“), im Kontext der „Grundrechtsentwicklungsklausel“ (§ 10 Verf. Estland), als „Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen“ (Art. 23 Abs. 3 Ziff. 1 Verf. Belgien von 1994), bei den Menschenrechten als Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG), bei der Enteignungsentschädigung (Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG), im Kontext der Wirtschafts- und Sozialordnung (Art. 118 Abs. 1 Verf. Guatemala, Art. 110 (alte) Verf. Peru, Art. 45 Verf. Irland, Art. 42 Abs. 2 Verf. Brandenburg von 1992), in Eidesklauseln (z. B. Art. 56 GG, Art. 46 WRV, Art. 81 Verf. Türkei von 1982), im Kontext der Steuerpflicht (Art. 31 Abs. 1 Verf. Spanien, Art. 77 (alte) Verf. Peru von 1979), im Kontext der Erziehungsziele (Art. 56 Abs. 4 Verf. Hessen von 1946: „Rechtlichkeit“, Art. 22 Verf. Thüringen: soziale Gerechtigkeit, als Bindung der dritten Gewalt (Art. 20 Abs. 3 GG („Recht“)), als Maxime in den „Beziehungen zwischen den Völkern“ (Art. 7 Abs. 2 Verf. Portugal), ähnlich Präambel Verf. Niger von 1992: „volonté de coopérer … avec tous les peuples épris de paix, de justice et de liberté …“, analog Präambel Verf. Burkina Faso (1997)). In Asien beruft sich Präambel Verf. Philippinen von 1986 früh auf „Wahrheit und Gerechtigkeit“ (s. auch Präambel Myanmar von 2008: „justice“); in Lateinamerika legt sich Verf. Ecuador von 2008 auf „Gerechtigkeit“ fest (Art. 1 Abs. 1); in Afrika beschwört die Präambel Verf. Kenia von 2010 die „soziale Gerechtigkeit“. Das Prinzip Gerechtigkeit ist also in nicht wenigen Verfassungstexten durchaus direkt präsent. Es bildet ein Element der universalen Verfassungslehre, vielleicht einer „Weltrechtskultur“. Auch die „Sozialziele“ in Schweizer Kantonsverfassungen (z. B. KV Zürich von 2004) gehören hierher. 3. Auswertung, erste verfassungstheoretische Folgerungen Es fällt auf, dass das Gerechtigkeitsprinzip besonders häufig in den Präambeln angesiedelt ist – im Kontext der dortigen anderen Grundwerte des Ver-

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5. Kap.: Einzelausprägungen

fassungsstaates. Insofern hat es an allen Inhalten und spezifischen Funktionen der Kunstform „Präambel“ teil. Freilich bleibt es eben darum recht allgemein und abstrakt. Gleichwohl findet sich die Gerechtigkeitsmaxime darüberhinaus in den unterschiedlichsten Zusammenhängen: vom Staatsziel über die Grundrechte bis zur Wirtschafts- und Sozialordnung sowie den Erziehungszielen und Eidesklauseln, ja sogar kooperativ als Beziehungselement im Verhältnis zu anderen Völkern. Man mag insofern von der Gerechtigkeit als „vagabundierendem Element“ im Gefüge des Verfassungsstaates sprechen. Gewiss ist, dass es neben dem allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip, auf das sich der Verfassungsstaat ausdrücklich oder ungeschrieben verpflichtet, bereichsspezifische Gerechtigkeitsmaximen gibt, z. B. als „Familienlastenausgleich“ im Rahmen der Förderung der Familie nach dem GG diskutiert. Wo es an positiven Gerechtigkeitstexten fehlt, bedienen sich die Verfassungsgerichte dieses Topos prätorisch. Auch in der Judikatur des BVerfG ist das Prinzip „Gerechtigkeit“ präsent (vgl. E 79, 106 (123); 80, 103 (108); 84, 90 (121); 86, 81 (87); 94, 12 (34); 95, 96 (134 f.); 96, 96 (134 f.)). Speziell in Sachen „Steuergerechtigkeit“ engagiert sich das BVerfG besonders intensiv (E 120, 1 (44); 122, 210 (231); 127, 1 (28)). „Steuergerechtigkeit“ ist als Ausdruck der klassischen justitia distributiva eine spezielle Erscheinungsform des allgemeinen Gerechtigkeitsprinzips. Hier zeigt sich, dass konstitu­ tionelle Gerechtigkeitstexte und Judikatur gleichermaßen wirken. Verfassungspolitisch ist dem Verfassunggeber zu empfehlen, Gerechtigkeit als Grundwert mindestens in der Präambel „appellativ“, programmatisch einzusetzen, wohl auch als Erziehungsziel (der junge Bürger muss sie lernen können), ebenso im Arbeits- und Wirtschaftsverfassungsrecht, zumal das Wort von der „ökologischen“ Gerechtigkeit weltweit eine Themenkar­ riere vor sich haben dürfte. Im Übrigen sollte das hohe Ideal der Gerechtigkeit nicht zu häufig „getextet“ werden, eine Reservegeneralklausel in der Präambel genügt. Denn es sind ja gerade konkrete Prinzipien und Verfahren, die der Verfassungsstaat in langen Perioden entwickelt hat, um Gerechtigkeit zu schaffen. Man denke an die rechtsstaatlichen due process-Garantien (prozedurale Gerechtigkeit), die im Bereich der justiziellen Grundrechte sowohl in Afrika (z. B. Art. 29, 68 Verf. Angola von 2010) als auch in Lateinamerika sowie jüngst auf dem Balkan immer häufiger in Verfassungstexten auftauchen und Elemente einer universalen Verfassungslehre werden, oder an die Vertragsfreiheit als Pfeiler der Privatrechtsordnung, an die ­Koalitionsfreiheit, aber auch an die parlamentarischen Verfahren. Ein Desiderat bleibt es, die klassische Gerechtigkeitslehre eines Aristoteles (justitia commutativa und distributiva) mit den neueren eines J. Rawls ­(„Gerechtigkeit als Fairness“638) sowie dem Kritischen Rationalismus eines 638  A

Theory of Justice, 1971 / 75.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht629

Popper zu verbinden und in die weltweit vergleichende Verfassungslehre einzubauen. Die Menschenwürde ist dabei ein materiales Gerechtigkeitselement, die Menschenrechte sind dies in Gestalt der Radbruch’schen Formel; das „rechtliche Gehör“ (z. B. Art. 50 Verf. Kenia von 2010) weist auf das klassische „audiatur et altera pars“ als Teil der europäischen Rechtskultur zurück, und schließlich leistet auch Billigkeitsdenken seinen Beitrag zur Verfassungsgerechtigkeit639. Der Typus Verfassungsstaat ist heute das Forum, auf dem der Weg zur Gerechtigkeit gesucht und gegangen werden kann. Da er selbst stets reformbedürftig ist, gibt es ein Stück Gerechtigkeit sogar „vor“ oder „über“ der Verfassung – so viel „verfassungsimmanente“ Gerechtigkeit besteht. Das Bedürfnis des Menschen nach Gerechtigkeit, also die kulturanthropologische Bedürfnisseite dieses Prinzips (in B. Bohley’s Dictum: „Wir haben Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen“), zeichnet ihn als kulturelles Wesen aus. Zahlreiche Klassikertexte zur Gerechtigkeit sind bei all dem „mitzulesen“, auch dann, wenn es um Spezialfragen wie „Übergangsgerechtigkeit“ (z. B. in manchen Übergangsbestimmungen von Verfassungen präsent640) oder „Einzelfallgerechtigkeit“, Chancengleichheit geht. Sollte in den kommenden Jahrzehnten den global vernetzten nationalen Wissenschaftlergemeinschaften eine „universale Verfassungslehre“ gelingen, so hätte die Gerechtigkeit samt ihren Teil- und Nachbarbegriffen nach Maßgabe der erwähnten Trias von Theorien, Verfassungstexten und Judikaten einen zentralen Platz einzunehmen (auch zum Völkerrecht hin).

XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht sowie Sonn- und Feiertagsrecht 1. Präambeln a) Die Präambel als Grundlegung und Bekenntnis Für den Inhalt von Präambeln sind charakteristisch die Formulierung von Werthaltungen, („hohen“) Idealen641, Überzeugungen, der Motivationslage, kurz des Selbstverständnisses der Verfassunggeber. Dieses Bekenntnishafte, der „Glaube“ (so ausdrücklich z. B. die Europäische Menschenrechtskonvention) tritt neben, gelegentlich an die Stelle von „Erkenntnissen“. Mitunter I. Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1991. ihnen: P. Häberle, Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlussbestimmungen als typisches verfassungsstaatliches Regelungsthema und -instrument, FS Lendi, 1998, S. 137 ff. 641  Verf. Japan 1947, Verf. Indien 1949, Verf. Frankreich 1958, Verf. Philippinen 1986, Verf. Südafrika 1996, Verf. Gambia 1997, Verf. Kenia 2010. 639  Dazu 640  Zu

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5. Kap.: Einzelausprägungen

finden sich euphorische, fast hymnische Züge, die den Charakter einer Einstimmung vermitteln und überhaupt „Glanz“ ausstrahlen. Wo auf diese Weise „letzte“ und „erste“ Dinge verhandelt werden, stellt sich naturgemäß sehr rasch ein Hauch von Pathos ein (ausgeprägt in der Präambel der Verfassung des Königreichs Kambodscha, 1993 / 99, auch neue Verf. Angola von 2010). Die hohe Wertintensität von Präambeln zeigt sich auch darin, dass sie gerne auf (ontologische) Vorgegebenheiten wie Gott oder Christus verweisen (z. B. Australien 1900, Indonesien 1945, Argentinien 1853) bzw. sie anrufen (z. B. Irland 1937, Nauru 1968, Philippinen 1986, Südafrika 1996, Venezuela 1999). Die – fast heilige – Selbstverpflichtung ihm gegenüber, gelegentliche Beschwörungen bzw. sonstige Anrufungen642 sind wiederkehrende formale und inhaltliche Elemente und Momente. Präambeln erweisen sich also in Teilen als „Glaubenssätze“ eines politischen Gemeinwesens, und zwar nicht nur bei Bezugnahmen auf Gott und die Verantwortung vor ihm und den Menschen, sondern auch bei anderen Bekenntnisklauseln, die ausdrücklich ihren „tiefen Glauben an diese Grundfreiheiten“ bekräftigen (so Präambel Europäische Menschenrechts-Konvention von 1950), bekenntnisnahe Willensbekundungen objektivieren643 oder subjektive Wünsche und Hoffnungen (z. B. Verfassung Berlin 1950: „In dem Wunsche, die Hauptstadt eines neuen geeinten Deutschlands zu bleiben“ – heute Realität) bzw. Überzeugungen und Willensbekundungen normativieren. Das Bekenntnishafte, mitunter Fiktive führt in die metaphysischen Tiefenschichten eines verfassten und auch nach der Verfassunggebung immer neu sich verfassenden Volkes. R. Smend hat sie in seiner Lehre von der Integration auf seine Weise behandelt644. Der demokratische Verfassungsstaat kann auf diese mehr gefühlsmäßigen Bindungen seiner Bürger an ihn, auf die Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten für den Bürger und auf seine eigene Bindung an und Verantwortung vor höheren Instanzen und Zusammenhängen nicht verzichten, europa- und weltweit. Präambeln verweisen jedenfalls auf vorpositive Basis- und  / oder Glaubenswahrheiten eines politischen Gemeinwesens; in manchem umschreiben sie ein Stück der „religion civile“. Vermutlich enthalten auch Verfassungen 642  Selten ist die Bezugnahme auf das Richteramt Gottes wie in Präambel Verf. Württemberg-Hohenzollern 1947, zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. II, 1948. 643  Wie Vorspruch Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: „Von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern“ etc.; s. auch Präambel EMRK von 1950: „… als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind.“ 644  R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl., 2010, S. 119 (bes. 160 ff., 215 ff., zur Präambel etwa S.  216 f.).



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht631

ohne ausdrückliche Präambeln solche „Glaubenswahrheiten“, die ihren Rechtssätzen vorausliegen, denn jede positive Rechtsordnung reicht in solche tieferen kulturellen Schichten. Präambeln suchen diese zu rationalisieren und zur Sprache zu bringen – teils in säkularisierter Form, teils in „nochtheologischer“ Gestalt. Dieses Grundlegende im Selbstverständnis (in der Identität) eines politischen Gemeinwesens, das Konzentrat, ist das alle Bürger Verpflichtende – fast wie ein „Glaubensbekenntnis“, das in den Präambeln sozusagen „vor die Klammer gezogen“ und oft vertragsähnlich (im Sinne der „Verfassung als Vertrag“) formuliert ist, universal. b) Die Brückenfunktion in der Zeit Regelmäßige Bauelemente von Präambeln sind Ausformungen der Zeitdimension: einmal in der Abkehr von einer bestimmten Vergangenheit oder in der Wiederanknüpfung oder „Erinnerung“ (z. B. Präambel Verfassung Irland) an bestimmte Überlieferungen und Perioden (Geschichtsbezug z. B. Türkei: „im Laufe ihrer Geschichte“; Bayern: „mehr als tausendjährige Geschichte“; Verfassung Bremen 1947: „jahrhundertealte Freie Hansestadt Bremen“); sie wollen die Vergangenheit negativ (polemisch) oder positiv beschwören645 bzw. verarbeiten. Präambeln können sich ferner auf die Gegenwart beziehen, gelegentlich in Wunschorientierung, z. B. Berlin: „In dem Wunsch, die Hauptstadt eines neuen geeinten Deutschlands zu bleiben“ – heute Realität. Sie können schließlich Gegenwart und Zukunft als solche in den Blick nehmen646 oder gerade die Zukunft „gewinnen“ wollen647. Soweit Präambeln „Geschichte“ erzählen und Bekenntnisse zu ihr ablegen, möchten sie dem menschlichen Bedürfnis nach historischer Vergegenwärtigung und Identität Rechnung tragen, nicht im Sinne wissenschaftlicher Aufbereitung für ein Fachpublikum als vielmehr im Sinne einer Geschichte, „die sich dem Laien verpflichtet fühlt“. Hier kann es zwischen Bekenntnissen und Erkenntnissen in Präambeln zu Konflikten kommen: So hält etwa 645  Vgl. Bayern: „Trümmerfeld“ bzw. Verf. Baden von 1947: „Treuhänder der alten badischen Überlieferung“; s. auch Präambel EMRK 1950: „gemeinsames Erbe an geistigen Gütern und Überlieferungen. Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes.“ – s. noch Verf. Sachsen (1992): „gestützt auf Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte … eingedenk eigener Schuld an seiner Vergangenheit.“ In Asien etwa Verf. Myanmar (2008): „magnificant historical tradition“. 646  So Verf. Nordrhein-Westfalen: „… die Not der Gegenwart in gemeinsamer Arbeit zu überwinden.“ Zuletzt Thüringen (1993): „Trennendes in Europa und der Welt zu überwinden“; Mecklenburg-Vorpommern (1993): „den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern.“ 647  Z. B. Rheinland-Pfalz, 1947: „ein neues demokratisches Deutschland als lebendiges Glied der Völkergemeinschaft zu formen.“ – In Afrika: Verf. Kenia von 2010: „aspiration“.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

die Präambel des Grundgesetzes einer historisch-kritischen Überprüfung in manchen Partien nicht stand648. Soweit Präambeln sich der Zukunft zuwenden – so wie etwa die künftigen Generationen in der bayerischen Verfassung (1946) im Gesichts- und Verantwortungskreis des Verfassunggebers stehen – oder Wünsche und Hoffnungen ausdrücken, enthalten sie einen konkret-utopischen Überschuss: Insofern steckt in der Präambel ein (Zukunfts-)Entwurf (besonders ausgeprägt und ehrgeizig in Lateinamerika, z. B. in Ecuador 2008, auch Angola 2010). Er trägt ein Stück jener fruchtbaren Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit in die Verfassung (und Politik), wie sie auch in anderen Partien eines Verfassungstextes, z. B. bei Verfassungsaufträgen, nachweisbar ist. Oft muss ein Volk viel Geduld haben im Blick auf die Wünsche und Hoffnungen der Präambel. Ein geglücktes Beispiel liefert die Präambel des GG von 1949 in Sachen Wiedervereinigung (1990); es ist zugleich Beleg für die Erfolgsgeschichte des weltoffenen deutschen Grundgesetzes. 2. Gottesbezüge Soweit textlich vorhanden, repräsentieren Verfassungklauseln mit Gottesbezügen keineswegs eine „überwundene“, anachronistische, „atypische“ Entwicklungsstufe, sondern eine mögliche kulturelle Variante des Verfassungsstaates als universales Projekt (stärkste Form ist die „invocatio dei“, wie sie sich vor allem in Schweizer Kantonsverfassungen und der nBV Schweiz von 1999 finden). Daneben gibt es andere Formen der bloßen Anrufung oder Berufung, etwa wie im deutschen GG: „in Verantwortung vor Gott“. Sie alle sind Ausdruck von „Religionsverfassungsrecht“ und damit eines Bildes vom Menschen, das diesen – und auch das Volk (!) – historisch wie aktuell in höheren Verantwortungszusammenhängen sieht: Staat und Recht werden als begrenzte, ethisch fundierte Ordnungen bekräftigt, was ohnedies für den Typus kooperativer Verfassungsstaat charakteristisch ist (Präambel KV Zürich von 2004: „Grenzen menschlicher Macht“, ähnlich Präambel Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993). So gesehen besteht ein innerer Zusammenhang zwischen den gottbezüglichen (oder / und schöpfungsbezüglichen) Verantwortungsklauseln (z. B. Präambel KV Basel-Stadt von 2005) und der Menschenwürde, aber auch dem verfassungsstaatlichen Toleranzprinzip, wie überhaupt die Gottestexte in die als Einheit verstandene Verfassung zu integrieren sind649. Die epochale Entwicklung zum säkularisierten Verfassungsstaat (z. B. 648  Dazu D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 80 ff. 649  Dazu allgemein (d. h. ohne Zitierung der Gottestexte): K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 27.



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Art. 1 Verf. Frankreich von 1958, Art. 1 Abs. 1 Verf. Ecuador von 2008) wird damit nicht rückgängig gemacht, denn das Verfassungsrecht des Verfassungsstaates zwingt niemanden zum „Gottesdienst“ via Gottes-Texte. Doch ist der Mensch als homo religiosus kulturell ernst genommen bis hin zur Garantie seiner Freiheit, sich a-religiös oder gar anti-religiös zu verhalten. Es ist dieser kulturelle Hintergrund, der Gottestexte im Verfassungsstaat historisch und aktuell rechtfertigt, freilich auch begrenzt650. An die philosophisch / theologisch offene Alternativentechnik in Polen, Albanien und Fribourg sei erinnert: ein Stück „Religionskultur“. 3. Eine Theorie des Religionsverfassungsrechts von 1976 – nach 35 Jahren wiedergelesen und im Verfassungsstaat von 2012 fortgeschrieben a) Vorbemerkung651 Aktuelle Anlässe für unser Thema gibt es genug. Erinnert sei an das spektakuläre Zitat von Bundespräsident C. Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland als „bunter Republik“; freilich auch an die umstrittene Äußerung von Papst Benedict XVI. in Barcelona, „er beobachte in Spanien die Wiederkehr eines „aggressiven Laizismus“ (ebenfalls 2010). Weltweit erkennen wir ein Vordringen des Islam, demgegenüber das Christentum vor allem in Europa in die Defensive zu geraten scheint. Schlagzeilen machte die vom Schweizer Volk 2009 beschlossene (menschenrechtswidrige) Verfassungsänderung zu Gunsten eines Minarettverbots (Art. 72 Abs. 3 nBV)652. Demgegenüber sei an die Entscheidung des EGMR erinnert, wonach in Italien ein Kruzifix-Verbot in der Schule durchzusetzen ist (DÖV 2010, S. 144 ff.; a. A. in EuGRZ 2011, S. 677 ff.). So traf das Thema des Deutschen Juristentages von 2010: „Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität“ den Nerv der Zeit653. Spätestens heute wird es notwendig, 650  Zum Ganzen schon: P. Häberle, „Gott“ im Verfassungsstaat?, FS W. Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 3 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011, S. 642. 651  Das Folgende wurde, jetzt aktualisiert, für den von I. Holzner u. a. herausgegebenen Sammelband: Staatskirchenrecht und Religionsverfassungsrecht, 2012, verfasst. 652  Aus der Lit.: Y. Hangartner, Religionsfreiheit, Ein Überblick aus Anlass des neuen Art. 72 Abs. 3 BV, AJP 4 / 2010, S. 441 ff.; J. Nolte, Kann der Souverän rechtswidrig handeln?, DÖV 2010, S. 806 ff. 653  C. Waldhoff, Gutachten D zum 68. Deutschen Juristentag 2010; aus der Begleitliteratur: C. Walter, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, DVBl. 2010, S.  993 ff.; H. Weber, Änderungsbedarf im deutschen Religionsrecht?, NJW 2010, S. 2475 ff.; s. auch A. Reuter / H. G. Kippenberg (Hrsg.), Religionskonflikte im Verfassungsstaat, 2010; K.-H. Ladeur / I. Augsberg, Toleranz – Religion – Recht,

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schon vorweg erneut an J. Lockes Toleranz-Brief (1689) und Lessings Ringparabel in „Nathan der Weise“ (1779) als Klassikertexte zu erinnern, so schwer es sein mag, die oft in Verfassungstexten (z. B. als Erziehungsziel, aber auch allgemein) postulierte einzigartige Toleranzidee zu praktizieren. b) Die Ausgangsthesen zum Religionsverfassungsrecht (1976) und ihre spätere etappenhafte Fortschreibung (1978 / 85, 1996, 2001 / 02) P. Mikat gebührt das Verdienst durch seine Verwendung des Wortes „staatliches Religionsrecht“ (1973)654 das Gespräch eröffnet zu haben. Man darf von einem großem „religionsrechtlichen Werk“ sprechen, das Stichworte kreiert hat wie: „Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen“ oder die „religionsrechtliche Ordnungsproblematik in der Bundesrepublik Deutschland“. Dieser Ansatz inspirierte den Verf. des heutigen Rückblicks bzw. seiner Fortschreibung zu seinem grundsätzlichem Versuch: „Staatskirchenrecht“ als Religionsrecht der verfassten Gesellschaft (1976)655 – man beachte die Anführungszeichen und den damals neuen, heute oft gebrauchten Terminus „verfasste Gesellschaft“. Dieser Beitrag wird noch nach Jahrzehnten in einer umfassenden Monographie Religionsverfassungsrecht (2006)656 als „grundlegend für die Begriffsprägung“ gekennzeichnet. In der 2007; A. Rauscher (Hrsg.), Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft, 2004; zur „Herausforderung durch die Präsenz neuer Religionen im Abendland“: A. Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 155 ff. 654  Vgl. seine Bände: P. Mikat, Religionsrechtliche Schriften, 2 Bände, 1974. 655  P. Häberle, „Staatskirchenrecht“ als Religionsrecht der verfassten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff.; wieder abgedruckt in: P. Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, 1980, S. 452 ff. 656  C. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 200, Fn. 81, unter Hinweis auf einen älteren Aufsatz desselben Verfassers: Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, in: R. Grote / T. Marahun (Hrsg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht, 2001, S. 215 ff.; s. auch B. Jean d’Heur / S.  Korioth, Grundzüge der Staatskirchenrechts, 2000, S. 21: „In diesem Sinne ist Staatskirchenrecht Religions(verfassungs)recht“, mit Hinweis auf DÖV 1976, S. 73 ff.; C. Waldhoff, Die Zukunft des Staatskirchenrecht, Essener Gespräche 42 (2008), S. 55 (80) verwendet ebenfalls die Vokabel „begriffsprägend“. Das Lehrbuch von A. von Campenhausen / H. de Wall (4. Aufl., 2006), führt im Untertitel den Begriff „Religionsverfassungsrecht“; C. Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2009), S. 42 (67) verweist auf DÖV 1976, S. 73 als „grundlegend“; U. Sacksofsky / C. Möllers, ebd., sprechen von „Religionsverfassung“, S. 10 ff. bzw. „Religionsverfassungsrecht“, S. 57; von „Prinzipien des Religionsverfassungsrecht“ spricht M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, 2. Aufl., 2008, Art. 140 Rn. 33 ff.; ders., Die korporative Religionsfreiheit, in: H. M. Heinig / C. Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, 2007, S. 185 ff., unter Hinweis auf DÖV 1976, S. 79 ff., in: Fn. 16, 27; s. auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland IV / 2, 2011, S. 1181: „Religionsver-



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Tat gipfelt der Beitrag aus dem Jahre 1976 in seinem vierten Abschnitt: „Religionsverfassungsrecht (Ausblick)“ in dem Postulat: „Religionsverfassungsrecht als zukunftsorientierte Wissenschaft“. Nur wenige Stichworte seien aus diesem frühen Versuch rekapituliert: Es gehe darum, von einer Verfassungstheorie der „offenen Gesellschaft“ aus zu arbeiten, die sich die „Sache Staatskirchenrecht“ zu eigen mache, ohne sich auf „Modelle“ z. B. der Trennung oder der Koordination einseitig festzulegen. Entwickelt wird der Begriff des „konstitutionellen Religionsrechts“; gerungen wird um ein Verständnis des Staatskirchenrechts als ein Stück „Verfassung der Gesellschaft“; postuliert wird ein anthropologischer Ausgangspunkt: es sei am Menschen und Bürger anzusetzen – „idem civis et religiosus“. Nach diesem Konzept sei konstitutionelles Religionsverfassungsrecht zu denken. Es bedürfe der ständigen Aktualisierung aller Erscheinungsformen, Aspekte und Perspektiven der konstitutionellen Religionsfreiheit durch den Bürger und seine Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft selbst. Dieser müsse die religionsfreiheitlichen Verfassungsstrukturen der offenen Gesellschaft leben, religiöse Interessen in ihr positiv artikulieren, andernfalls nützten alle staatlich-rechtlichen Rechtsgarantien nichts gegen etwaige etatistisch-laizistischen Tendenzen in der Gesellschaft. Religionsrecht müsse sich in einem spezifischen Sinne „einbürgern“. Mit all dem soll der Blick auf die kleinen Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften geöffnet bzw. geschärft werden. Vor allem solle es zu „Verallgemeinerungen“ spezieller staatskirchenrechtlicher Prinzipien zu Gunsten der Nichtkirchen kommen, etwa in Sachen religionsrechtlicher Parität. Auf diesem Weg würden die Umrisse eines „Religionsrechts der Verfassung“ sichtbar. Die letzte Fußnote (83) im letzten Abschnitt „Religionsverfassungsrecht (Ausblick)“ wagt dann die Perspektive: „Religionsverfassungsrecht als zukunftsorientierte Wissenschaft“. Freilich sei schon hier ein Stück Selbstkritik aus der Perspektive nach 35 Jahren geäußert. Der Entwurf von 1976 ist noch introvertiert-nationalstaatlich, es fehlte die Verfassungsvergleichung657. Die spezielle Herausforderung „Europa und das Staatskirchenrecht“ wurde noch nicht erkannt. Dies leistete erst später auf seine Weise der Pionier-Artikel von A. Hollerbach (1990)658. fassung“; zuletzt zum „Religionsverfassungsrecht“: R. Streinz, Vielfalt der Reli­ gionen und Kulturen als Herausforderungen an das Religionsverfassungsrecht, in: K. Hilpert (Hrsg.), Theologische Ethik im Pluralismus, 2012, S. 141 ff. 657  Dazu später mein Bd.: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. 658  A. Hollerbach, Europa und das Staatskirchenrecht, ZevKR 35 (1990), S.  250 ff.; später: S. Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, der einen hilfreichen „Systemvergleich“ in Europa leistet und einen „gemeineuropäischen Standard“ findet, bes. S. 383 ff.

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1996 wagte der Verf. die naheliegende Schlussfolgerung659: seine Grundthese gipfelt in einem „Votum gegen den Begriff ‚Staatskirchenrecht‘ (vgl. Art. 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG: ‚Es besteht keine Staatskirche – m. E. also auch kein Staatskirchenrecht‘!) und in dem (immer wieder zur Sprache gebrachten) Engagement für das ‚Religionsverfassungsrecht‘.“ Im Rahmen einer systematischen Kommentierung der neueren Verfassungen in der Schweiz (1985)660 wurde die dortige Vielfalt des „kantonalen Religionsverfassungsrechts“ erarbeitet661. Wiederholt sei nur die These von den vielen Varianten im „bundesstaatlich typischen Spannungsfeld Homogenität und Pluralität in Sachen Religionsverfassungsrecht“. Erarbeitet wurde eine „religionsverfassungsrechtliche Themen- und Problemliste“ mit Stichworten wie: Bistumsprobleme, Fragen des Religionsunterrichts, Kirchengutsgarantien, Feiertagsgarantien, Kirchenaustrittregelungen, Beziehungen zu Universitäten, Möglichkeit der vertraglichen Regelungen zwischen Staat und Kirchen sowie Staatsleistungen. Damit ist fast das ganze Themenfeld abgeschritten, das auf der heutigen Entwicklungsstufe des Typus Verfassungsstaat dessen Religionsverfassungsrecht als kohärente, wenngleich textlich oft weit verstreute Materie kennzeichnet. Es fehlen nur noch die Gottesbezüge, die Erziehungsziele, das Toleranzprinzip, karitative Tätigkeiten und der Schutz religiöser Minderheiten. In dem erwähnten schweizerischen Beitrag von 1985 wurde das Religionsverfassungsrecht erneut als Teil des Kulturverfassungsrecht charakterisiert. Die nächste Etappe der Wege zu Theorie und Dogmatik des Religionsverfassungsrechts aus dem Jahre 1996662 verschärft diesen Ansatz zu Europa 659  In: Verfassung als öffentlicher Prozess, 2. Aufl., 1996, S. 347; später ebenso in: ders., Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl. 2001 / 02, S. 520; s. auch, ebd., S. 517 f. 660  Gleichnamig: P. Häberle, JöR 34 (1985), S. 303 (399 ff.). 661  Später fortgeschrieben in: ders., Die Totalrevision in St. Gallen (1996), JöR 47 (1999), S. 149 (165): „Religionsverfassungsrecht als spezielles Kulturverfassungsrecht“, mit Hinweisen auf die lebhaften Entwicklungsprozesse sowohl in den Normierungstechniken als auch in Sachen Themenliste sowie erneute Ablehnung des Begriffs „Staatskirchenrecht“, da es ja gerade keine „Staatskirche“ in Deutschland gebe. Wörtlich heißt es: „Die Anerkennung von bzw. Öffnung zu weiteren Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften unter bestimmten sachlichen Voraussetzungen – bis hin zu islamischen Glaubensgemeinschaften – dürfte ein verfassungspolitisches Thema im Kanton werden.“ 662  Besprechung von G. Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995, in: AöR 121 (1996), S. 677 (678). Anders: A. Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen – Ansätze zu einem „Europäischen Staatskirchenrecht“, 1995; H. de Wall, Europäisches Staatskirchenrecht, ZevKR 45 (2000), S. 157 ff.; G. Robbers, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Europa, ZevKR 1997, S. 122 ff.; von „Europäischem Religionsverfassungsrecht“ spricht jetzt C. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S.  456 ff.



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hin in den Worten: „Es gibt nur europäisches Religionsverfassungsrecht, kein europäisches ‚Staatkirchenrecht‘!“ Mindestens auf der europäischen Ebene sei angesichts von EU- und EG-Vertrag vom (deutschen Begriff) „Staatskirchenrecht“ Abschied zu nehmen, sei der Begriff „Kirche“ durch den allgemeineren Begriff „Religion“ zu ersetzen. Der im Europäischen Verfassungsrecht („Maastricht“) erfolgte Hinweis auf das „gemeinsame kulturelle Erbe“ sei eine Aufforderung, den Wurzeln des „gemeineuropäischen Religionsverfassungsrechts“ auch in Vielfalt nachzugehen. Es gehe um eine ganzheitliche Interpretation der einschlägigen Artikel. 1998 ringt der Verf. in seiner „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (2. Aufl., 1998, S. 961 ff.) in weitgreifender Rechtsvergleichung erneut um „Konstitutionelles Religionsrecht im Verfassungsstaat“ („Religionsverfassungsrecht“). Gearbeitet wird hier an einer systematischen Platzierung des Konstitutionellen Religionsrechts, um die „Brückenelemente“ zwischen Staat und Religionen, z. B. den Religionsunterricht, sowie die reichhaltige „religionsverfassungsrechtliche Themenliste“ in fast weltweitem Textstufenvergleich vieler einzelner Verfassungsstaaten. Im Grunde ging es tendenziell um eine Verfassungstheorie der Öffnung des Staates für alle Religionen: von der offenen Gesellschaft her (Stichwort: „gesellschaftsorientierte Sicht“), in dem sich ja der Wandel vollzog, der heute vom Religionsverfassungsrecht zu verarbeiten ist. In der Europäischen Verfassungslehre (1. Aufl., 2001 / 2002, S. 16) schließlich sagt der Verf. (unter vorherigem Hinweis auf Gottesbezüge in neueren Verfassungen): „Im Ganzen ist es die gesamte Verfassungsmaterie ‚Religionsverfassungsrechts‘ als spezielles Kulturverfassungsrecht, deren Verständnis besonders auf religiöse Kontexte angewiesen ist: sei es, dass hermeneutisch die vergleichenden Religionswissenschaften gefordert sind, sei es, dass die Religionen selbst dank der Relevanz ihres ‚Selbstverständnisses‘ am Vorgang der Verfassungsinterpretation beteiligt sind.“ An späterer Stelle werden die theoretischen Aspekte eines europäischen Religionsverfassungsrechts in Form von Thesen entworfen und die Möglichkeiten eines „verfassungsstaatlichen Euro-Islam“ umrissen (a. a. O., S. 512 ff., 522 ff.)663. Nicht aus Gründen eitler Selbstbespiegelung, die sich in der Wissenschaft verbietet, sondern zur Erklärung der verschlungenen und schwierigen Rezeptionsprozesse sei diese ausführliche Darstellung unternommen. Der Verf. kennt sehr wohl das Bonmot von K. Kraus, wonach man sich nicht selbst kommentieren solle. 663  Aus der Lit.: Bassam Tibi, Der Euro-Islam als Brücke zwischen Islam und Europa, 2007; C. Leggewie, Auf dem Weg zum Euro-Islam?, 2002; H. Elliesie (Hrsg.), Beiträge zum islamischen Recht, 2010.

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c) Rezeptionen, Kritik, Wahlverwandtschaften, Anderes? Auch diese Zeilen sind heikel, denn vielfach lässt sich der Unterschied zwischen offen erklärten Rezeptionen (sichtbar in Zitaten), unbewussten „Wahlverwandtschaften“ (die oft aus dem Zeitgeist erwachsen) und offenkundigen Plagiaten nicht eindeutig herausarbeiten. Diese sind im wissenschaftlichen Diskurs nicht ganz selten und durch den Aufruf zur wissenschaftlichen Wahrheitsliebe immer wieder zu geißeln664. Einen Autor schmerzt es, wenn seine vermeintlich oder wirklich originalen Leistungen im späteren Wissenschaftsprozess vergessen werden, doch sollte er schon deshalb damit leben, weil er ja auch selbst als Autor nicht immer davor bewahrt bleibt, unbewusst etwas von „fremden Federn“ übernommen zu haben. Vermutlich muss der Erfinder eines Paradigmas sich letztlich freuen, wenn sich „seine Sache“ durchgesetzt hat und der Wahrheitssuche dienlich ist. Die Sache geht vor der Person. Auffällig ist freilich, dass der Begriff „Religionsverfassungsrecht“ unter Hinweis auf DÖV 1976 zunächst sehr oft rezipiert wurde665, dann durch A. Hollerbach, einen Freiburger Jugendfreund des Verf., vor allem zusammen mit P. Mikats „Religionsrecht“ kritisiert wurde666, später aber teilweise verloren ging oder ab und zu wieder auferstanden ist. Die Fragestellung freilich: „Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht“ ist der Form und der Sache nach fast inflationär aufgegriffen worden667. Mitunter findet sich der Begriff „Religionsverfassungsrecht“ bzw. „Religionsrecht“ schon 664  Dazu mein Beitrag in FS Schmitt Glaeser: Verantwortung und Wahrheitsliebe im verfassungsjuristischen Zitierwesen, 2003, S. 395 ff. 665  Vgl. I. Pernice, Religionsrechtliche Aspekte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, JZ 1977, S. 777 ff.; M. Morlok / M. Heinig, Parität im Leistungsstaat, NVwZ, 1999, S. 697 ff. – Zur Rezeptionsgeschichte im Übrigen: A. Kupke, Die Entwicklung des deutschen „Religionsverfassungsrechts“ nach der Wiedervereinigung, insbesondere in den Neuen Bundesländern, 2004, S. 41 ff. 666  A. Hollerbach, Staatskirchenrecht oder Religionsrecht?, in: FS H. Schmitz, 1994, S. 869 ff.; wieder abgedruckt in: ders., Ausgewählte Schriften, 2006, S. 304 ff. 667  Beispiele: G. Czermak, „Religions(verfassungs)recht“ oder „Staatskirchenrecht“?, NVwZ 1999, S. 743 f.; A. Hense, Staatskirchenrecht oder Religionverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: A. Haratsch u. a. (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 (10), unter Hinweis auf DÖV 1976 S.  73 ff.; H. M. Heinig, Vom deutschen Staatskirchenrecht zum europäischen Religions(verfassungs)recht, in: D. Fauth  /  E. Satter (Hrsg.), Staat und Kirche im werdenden Europa, 2003, S. 71 ff.; ders., Zwischen Tradition und Transformation – das deutsche Staatskirchenrecht auf der Schwelle zum Europäischen Religionsverfassungsrecht, ZEE 43 (1999). S. 294 ff.; S. Korioth, Vom institutionellem Staatskirchenrecht zum grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht?, FS Badura, 2004, S.  727 ff.; H. M. Heinig / C. Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, 2007; M. Heckel, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen „Staatskirchen-



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im Titel von Aufsätzen und Büchern668 im Verlauf vieler Jahre in der jüngsten Zeit: unabhängig von älteren Vorarbeiten oder selbstverständlich bzw. nebenbei gebraucht669. Das BVerfG arbeitet mit beiden Begriffen (z. B. E 102, 370 (393 f.)). d) Neue verfassungsrechtliche Textstufen in Sachen Religionsverfassungsrecht Vorbemerkung: So intensiv und extensiv Wort und Sache des „Religionsverfassungsrechts“ in Deutschland diskutiert werden, hilfreich ist wie so häufig, ein Blick in die Textstufenentwicklung des Themas. Die im Folgenden unternommenen Textstufenanalyse folgt dem Paradigma des Verf. aus dem Jahre 1989: Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates670. Was im wissenschaftlichen Prozess oft schwer greifbar ist und zerfließt, vor allem angesichts der Fülle von Literatur, lässt sich in rechts“ oder „Religionsverfassungsrechts“?, AöR 134 (2009), S. 309 ff., der weiterführend von „pluralistischem Religionsrecht“ spricht (ebd., S. 376). 668  Beispiele: G. Czermak, Das System der Religionsverfassung des Grundgesetzes, KJ 2000, S. 229 ff.; ders., Religionsverfassungsrecht im Wandel, NVwZ 2000, S.  896 ff.; M. Droege, Der religionsverfassungsrechtliche Tendenzschutz im Arbeitsrecht, in: G. Klinkhammer u. a. (Hrsg.), Religionen und Recht, 2002, S. 203 ff.; G. Robbers, Religionsrechtliche Gehalte der Europäischen Grundrechte-Charta, FS H. Maurer, 2001, S. 425 ff.; C. Winzeler, Fremde Religionen in der Schweiz unter Ge­ sichtspunkten der Religionsfreiheit und des Religionsverfassungsrechts, ZSR I 117 (1998), S. 237  ff.; ders., Einführung in das Religionsverfassungsrecht der Schweiz, 2. Aufl. 2009; A. Kupke, Die Entwicklung des deutschen „Religionsverfassungsrechts“ nach der Wiedervereinigung, insbesondere in den Neuen Bundes­­län­ dern, 2004; R. Páhut de Mortanges (Hrsg.), Das Religionsrecht der neuen Bundesverfassung, 2001; M. Vacheck, Das Religionsrecht der EU im Spannungsfeld zwischen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, 2000; P. Unruh, Re­li­gions­ver­fas­ sungsrecht, 2009; C. D. Classen, Religionsrecht, 2006; W. Schäuble, zit. nach FAZ vom 22. Mai 2009, S. 33, sagt: das Religionsverfassungsrecht der Bundesrepublik ha­be sich bewährt und bilde für die Integration der Muslime einen geeigneten Rahmen. 669  Z. B.: D. Haack, L’État – qu’est-ce que c’est? – Wissenschaften vom öffentlichen Recht, in: Der Staat 49 (2010), S. 107 (113); S.  Korioth / I. Augsberg, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, JZ 2010, S. 828 (829): „deutsches religionsverfassungsrechtliches System“; A. Voßkuhle, Religionsfreiheit und Religionskritik, EuGRZ 2010, S. 537 (539): „Die Rechtsgrundlagen des Religionsverfassungsrechts der Bundesrepublik“ …, „Religionsverfassungsrecht in Europa“; W. Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, 2010; H. M. Heinig, Zwischen Tradition und Transformation. Das deutsche Staatskirchenrecht auf der Schwelle zum Europäischen Religionsverfassungsrecht, ZEE 43 (1999), S. 294 ff.; H. Weber, Neuralgische Punkte in den Grundsatzfragen des Staatskirchenrechts, FS Maurer, 2001, S. 469 (Fn. 1); H. M. Heinig / M. Morlok, Von Schafen und Kopftüchern, JZ 2003, S. 777 (785). 670  In FS Partsch, 1989, S. 555 ff.

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den meist griffigen Worten eines Verfassunggebers erkennen, der bündig und prägnant formulieren muss. So wollen die folgenden Zeilen fragen, wo und wie neuere verfassungsrechtliche Texte die mit der Sache Religionsverfassungsrecht bezeichneten Fragen arbeiten. Gewiss entstehen die Textstufen nicht aus dem Nichts: sie verwerten vielmehr ihrerseits viele wissenschaftliche Themen und Prozesse, auch Judikatur. Doch ist an ihnen der Problemstand leichter abzulesen als an und in der viel zu abundanten wissenschaftlichen Literatur. Das Themenfeld „Religionsverfassungrecht“ reicht von den Gottesklauseln über die anlässlich der schweizer Kantonsverfassungen zusammengestellten erweiterten Listen bis zu den Erziehungszielen. Insgesamt wird ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, ist die herkömmliche deutsche Fixierung auf die christlichen Kirchen zu verabschieden. Zu suchen ist nach der kohärenten Materie „Religionsverfassungsrecht“ im universal gedachten, weltoffenen Verfassungsstaat. Es hat grundrechtliche und institutionelle Komponenten und viele öffnende Elemente, die einer pluralistischen Gesellschaft gerecht zu werden suchen. Vorweg seien die sechs Grundthesen herausgestellt, die teils aus den Jahren seit 1976 stammen, teils als Fortschreibung von heute zu verstehen sind. (1) Schon in den Art. 137 WRV i. V. m. Art. 140 GG heißt es: „Es gibt keine Staatskirche.“ Hieraus folgert der Verf. messerscharf: Also gibt es auch kein Staatskirchenrecht! Diese erste frühe Begründung aus dem geschriebenen positiven Recht sei hier wiederholt. Sie ist bislang von niemandem widerlegt worden. (2) Das gesellschaftliche Erstarken des Islam in Deutschland, aber auch in Europa insgesamt – in Frankreich ist der Islam schon die „zweite Religion“ – macht es erforderlich, dem auch in der Wissenschaft terminologisch gerecht zu werden. Der Islam ist keine „Kirche“, aber eine Religion. Der ihn einfangende unterschiedlich engmaschige Rahmen des Grundgesetzes lässt ihn heute als vitalen Faktor des deutschen Religionsverfassungsrechts erscheinen. Darum kann er dogmatisch und verfassungspolitisch nicht einfach neben das herkömmliche deutsche „Staatskirchenrecht“ gestellt werden. (3) Der Blick auf das Europa im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne des Europarats zwingt dazu, einen Begriff zu schaffen, der von vorneherein auch andere Religionen einschließt: eben das – europäische – Religionsverfassungsrecht, das Raum lässt für unterschiedliche nationale „Modelle“. Die jüngsten EU-Textstufen belegen dies. Am Euro-Islam ist zu arbeiten – in Kenntnis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Islam (1981), der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (1990), der Arabischen Charta der Menschenrechte im Islam (1994 bzw. 2004).



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(4) Alle Abschnitte und Textensembles einer Verfassung sind auf religionsrechtliche Gehalte, Prinzipien und Staatsmaximen (wie Gottesklauseln und offene Eidesklauseln, die Parität) sowie Erziehungsziele (wie die Toleranz) und ihre Kontexte abzusuchen, die subjektiv-individualrechtliche, korporative (wie das Selbstbestimmungsrecht), schutzrechtliche, objektiv-rechtliche und institutionelle Elemente (wie die Statusrechte) haben. Ihr übergeordneter Rahmen ist das Kulturverfassungsrecht; das offene Religionsverfassungsrecht ist spezielles Kulturverfassungsrecht. (5) Das Postulat der – aktiven – „Religionsfreundlichkeit“ adelt den Verfassungsstaat und prägt die „Freiheitlichkeit“ seines Religionsverfassungsrechts (BVerfG) und seiner Religionskultur durchgängig. Es ist teils schon Wirklichkeit, teils erst universales Programm. (6) Die Religionsfreundlichkeit des Verfassungsstaats bildet ein Herzstück seines pluralen Religionsverfassungsrechts. Das islamische „Staatsreligionsrecht“ ist das fragwürdige Gegenstück zum religiösen Pluralismus im Verfassungsstaat und seinen multireligiösen Gesellschaften. Zunächst zu nationalen Verfassungen Begonnen sei mit den Schweizer Kantonsverfassungen und der Bundesverfassung. Die Schweiz ist seit Ende der 60er Jahre eine große „Werkstatt“ in Sachen neuer Verfassungstexte. Dies verdankt sie nicht zuletzt ihrem experimentierenden Föderalismus: neue Texte von Totalrevisionen in den Kantonen wandern in andere Kantone oder gelegentlich sogar in die Bundesverfassung. Dies alles gilt für viele Themen und wurde in anderen wissenschaftlichen Arbeiten eingehend nachgewiesen671. Dort (1985) ist auch die „unterschiedlich reiche“ religionsverfassungsrechtliche Themenliste, die Kirchenfreiheit bzw. Autonomie als „korporative Aspekte der Religionsfreiheit“ erarbeitet und die „Offenheit des kantonalen Religionsverfassungsrechts“ zum Thema gemacht. Als Entwurf wurde der „religionsverfassungsrechtliche Idealtypus einer geschichtlich-kulturell arbeitenden und ihr eigenes Offenheitspostulat ernst nehmenden Verfassungslehre“ konzipiert. Die Rede war von „Homogenität und Pluralität in Sachen Religionsverfassungsrecht“, das durchgängig als Kulturverfassungsrecht verstanden wurde. Das kantonale Religionsverfassungsrecht der Schweiz sei im Folgenden in wenigen Stichworten nachgezeichnet: Begonnen sei mit Gottesklauseln. Sie sind ja ein vornehmer (freilich nicht unverzichtbarer) Ausdruck von 671  P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff.; ders., Die Kunst der kantonalen Verfassunggebung – das Beispiel einer Totalrevision in St. Gallen (1996), JöR 47 (1999), S. 149 ff.; ders., „Die „total“ revidierte Bundesverfassung der Schweiz“, FS H. Maurer, 2001, S.  935 ff.

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Religionsverfassungsrecht. Mit ihren Sätzen, meist vor oder in der Präambel, setzen sie den besonderen Ton. Freilich sollten sie von vorneherein nicht nur auf die christlichen Kirchen und ihren Gott, sondern auf alle Religionen bezogen werden. Wie kaum in einem anderen Land verwenden die Schweizer Verfassunggeber Gottesklauseln in vielerlei Formen: ihre intensivste Version begegnet als „invocatio dei“ (Beispiele: Präambel KV Uri von 1984). Andere Ausdrucksformen von Gottesbezügen sind die Klauseln: „in Verantwortung vor Gott“ (Beispiele: Präambel Verf. Kanton Jura von 1977, Präambel KV Aargau von 1980, Präambel KV Basel-Landschaft von 1984, Präambel KV Solothurn von 1986, Präambel KV Glarus von 1988). Präambel KV Appenzell A. Rh. von 1995 wählt die Formel: „Im Vertrauen auf Gott“. Vereinzelt findet sich auch der bloße Hinweis auf die „Schöpfung“, die damit implizite freilich auf den Schöpfer Bezug nimmt (Beispiele: Präambel KV Bern von 1993). Die Religionsfreiheit und damit ein wesentliches Element des Religionsverfassungsrechts wird in allen Kantonsverfassungen garantiert, mitunter in ihren verschiedenen Aspekten der privaten und öffentlichen Religionsausübung, der individuellen und korporativen (Beispiele: Art. 8 lit. e KV Jura, Art. 12 lit. d KV Uri, Art. 10 KV Solothurn, § 6 Ziff. 3 KV Thurgau, Art. 14 KV Bern, Art. 7 KV Appenzell A. Rh.). Zuweilen erscheint die Wendung „Freiheit der Religionsgemeinschaften“ (so § 12 c KV Aargau). In Art. 7 KV Glarus wird die „freie Bildung religiöser Gemeinschaften“ gewährleistet, auch hier ist der status corporativus vorbildlich erkennbar. Große Unterschiede gibt es in der Bestimmung des Verhältnisses von „Staat und Kirche“ bzw. „Religionsgemeinschaften“. So lautet Abschnitt VII der KV Jura „L’Eglise et L’Etat“. Die katholische und evangelische Kirche werden als Gemeinschaften des öffentlichen Rechts herausgehoben, die anderen religiösen Gemeinschaften werden in das Privatrecht verwiesen (Art. 130). Offener geht hier die KV Aargau vor. Zwar gibt sie ihrem siebten Abschnitt die Überschrift „Staat und Kirche“. Doch ist in § 109 schlechthin an die „Religionsgemeinschaften“ gedacht, wobei die nicht öffentlichrechtlich anerkannten dem Privatrecht unterworfen werden. Auch sonst finden sich in der Schweiz nicht wenige Kantonsverfassungen, die ganz in der Tradition der herkömmlichen Staatskirche bzw. Landeskirche denken (so Art. 7, 68 KV Uri, §§ 91–93 KV Thurgau) – für sie mag der Begriff „Staatskirchenrecht“ noch seine Berechtigung haben. Offener gegenüber dem religionsverfassungsrechtlichen Ansatz geht die jüngere KV Bern (1993) vor. Ihr Abschnitt 8 lautet: „Landeskirchen und andere Religionsgemeinschaften“. Art. 126 öffnet „weiteren Religionsgemeinschaften“ den Weg zur öffentlichrechtlichen Anerkennung. Ähnliches gilt für die KV Appenzell A. Rh. (1995). Sie überschreibt ihren zwölften



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Abschnitt zwar ebenfalls mit den Worten „Staat und Kirche“, unterscheidet aber dann zwischen „Öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften“ (Art. 109 und 110) und „Anderen Religionsgemeinschaften“ (Art. 111). Sie können vom Kantonsrat als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkannt werden, wenn ihre Verfassung dem kantonalen und dem Bundesrecht nicht widerspricht. Im Vergleich erkennen wir für die Schweiz redaktionell, formal und inhaltlich eine behutsame Öffnung: weg von dem klassischen staatskirchenrechtlichen bzw. landeskirchenrechtlichen Denken zum religionsverfassungsrechtlichen Ansatz – als ein Stück „Verfassung der Freiheit“. Dies ist vorbildlich, auch i. S. von konstitutioneller „Religionskultur“. Ein Blick auf weitere Beispiele: Die Verfassung des Kantons Solothurn (1986) beginnt in der Präambel mit der schon klassischen Formel „Verantwortung vor Gott“. Die Verfassung des Kantons Glarus (1988) spricht in der Präambel von: „eingedenk seiner Verantwortung vor Gott“. Die Verfassung des Kantons Bern (1993) verwendet in der Präambel immerhin die Formulierung: „in Verantwortung gegenüber der Schöpfung“. Die Verfassung des Kantons Appenzell A. Rh. (1995) eröffnet ihre Präambel mit den Worten: „in Vertrauen auf Gott“. Hier dürften alle monotheistischen Weltreligionen angesprochen sein (Jahwe, der christliche Gott sowie Allah – vielleicht noch eine Utopie!, aber doch universal gedacht). Die Verfassung von Republik und Kanton Tessin (1997)672 verzichtet auf eine Gottesklausel. Gleiches gilt für den Kanton Neuenburg (2000) sowie für die KV Waadt von 2003. Dort definiert sich der Kanton als laizistische Republik (Art. 1 Abs. 1). Die Verf. des Kantons Schaffhausen (2002) spricht demgegenüber gleich eingangs von „Verantwortung vor Gott für Mensch und Natur“. Die Verf. Graubünden (2003) wählt die Präambelformulierung: „im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott sowie gegenüber den Mitmenschen“. Ganz anders lautete noch die aus einer früheren Textstufe stammende Verfassung des Kantons Unterwalden (1965 / 2001). Sie beginnt mit der traditionellen invocatio dei: „Im Namen Gottes des Allmächtigen“! Die Verfassung des Kantons Basel-Stadt (2005) spricht in der Präambel von „Verantwortung gegenüber der Schöpfung“ (ähnlich schon Verf. Bern sowie die Präambel der Verf. Zürich von 2004). Einzigartig in der Schweiz ist die Präambel des Kantons Fribourg bzw. der Entwurf von 2004. Sie beginnt mit den Worten: „Wir, das Volk des Kantons Fribourg, die wir an Gott glauben oder unsere Werte aus anderen Quellen schöpfen …“ 672  Zit.

nach JöR 56 (2008), S. 306 ff.; 47 (1999), S. 171 ff.

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Diese Formulierung erinnert auffällig an die neue Verfassung von Polen (1997). Dem nicht an Gott Glaubenden wird eine Alternative geboten. Auf eine Weise öffnet sich hier das Religionsverfassungsrecht für Nichtgläubige und wächst gleichsam über sich hinaus. Es schafft vorbildlich ein Stück Freiheit im offenen Religionsverfassungsrecht. Zugleich bleibt es bei seiner Eigenschaft als Kulturverfassungsrecht. Die neuesten Verfassungen garantieren in ihren meist knappen Grundrechtskatalogen die Glaubensfreiheit (so Art. 8 Abs. 2 lit. b Verf. Tessin, wobei lit. m, ebd., auch die Freiheit der Eltern, ihre Kinder nach der eigenen Überzeugung religiös und ethisch zu erziehen, schützt). Manche Kantonsverfassungen thematisieren das Recht „der Religionsgemeinschaften“ in eigenen Artikeln (so Art. 24 KV Tessin), indem die römisch-katholische und die evangelisch-reformierte Kirche mit öffentlichrechtlicher Rechtspersönlichkeit ausgestattet sind, während „anderen Reli­ gionsgemeinschaften“ diese Rechtspersönlichkeit durch Gesetz zuerkannt werden kann. Die KV Graubünden (2003) enthält einen eigenen Abschnitt VIII „Staat und Kirchen“, in dem zunächst an die etablierten Kirchen gedacht ist, anderen Religionsgemeinschaften indes der Weg entweder zur öffentlich-rechtlichen Anerkennung eröffnet wird oder sie in das Privatrecht verwiesen bleiben (Art. 98 bis 100). Die KV Neuenburg überschreibt ihren Titel VI mit den Worten „Etat, Eglises reconnues et autres communautés religieuses“ (Art. 97 bis 99). Bemerkenswert ist, dass Art. 97 nach der Normierung des strikten Trennungsprinzips sagt: Der Staat könne gleichwohl die Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften als Institutionen des „öffentlichen Interesses“ anerkennen. Hier macht sich das Bewusstsein für Kirchen und Religionsgemeinschaften als kulturelle Ressource geltend. Die Verf. des Kantons Basel-Stadt (2005) formuliert einen außerordentlich umfangreichen eigenen Abschnitt „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (§ 126 bis 136). Hier finden sich Themen wie der öffentlich-rechtliche Status, die Selbstständigkeit, das Steuerrecht, die Rechtspflege. „Anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften“ ist das Privatrecht zugewiesen (§ 132). Bemerkenswert ist der Unterabschnitt „Gemeinsame Bestimmungen“ (§ 135 und 136), in denen etwa die „staatlichen Leistungen an Kirchen und Religionsgemeinschaften“ ermöglicht werden. Die KV Schaffhausen (2002) enthält ebenfalls einen eigenen Abschnitt unter dem Titel „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (Art. 108 bis 113). Zu den Themen gehören: die öffentlich-rechtliche Anerkennung, die Selbstständigkeit, die Mitgliedschaft, die Kirchengemeinden, die Kirchensteuer und der Rechtsschutz – eine relativ breite religionsverfassungsrechtliche Themenliste. Auffällig ist, dass sich die anerkannten Kirchen „nach demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen organisieren müssen“ (Art. 109 Abs. 1).



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Die KV Waadt (2003) normiert in einer ähnlichen Tradition einen eigenen Titel VIII: Kirchen und religiöse Gemeinschaften (Art. 169–172). Auch hier findet sich für die anerkannten Kirchen der Gedanke, der Staat sichere die notwendigen Mittel zur Erfüllung ihrer Mission im Dienste aller im Kanton. Art. 171 stellt die israelitische Gemeinschaft eigens heraus und qualifiziert sie ebenfalls als Institution von öffentlichem Interesse. Die Anerkennung der Kirchen ist vor allem an ihren Respekt vor demokratischen Prinzipien und finanzieller Transparenz geknüpft. Auch findet sich das Postulat des „konfessionellen Friedens“ (Art. 172), heute sehr aktuell. Im Ganzen: Wieder einmal lässt sich von der Schweiz viel lernen. Das Religionsverfassungsrecht673 erweist sich als eine eigene, aber offene Materie im Verfassungsstaat mit vielen Entwicklungsmöglichkeiten. Die schweizer Ungleichzeitigkeit der Texte ist ein Gewinn. Die vergleichende Verfassungstheorie sollte sich von ihr anregen lassen: in Deutschland wie in ganz Europa, ja vielleicht auch weltweit. Im Folgenden zu den alten und neuen deutschen Bundesländern: Die Verfassungen der alten und neuen Bundesländer in Deutschland erweisen sich in Bezug auf religionsverfassungsrechtliche Themen als überaus ergiebig: sie sind z. T. sehr „religionsfreundlich“. Freilich zeigen sich bei aller Kontinuität gewisser Themen gewichtige Unterschiede und Neuerungen im Vergleich zwischen den alten und den neuen Ländern674. Im Einzelnen: Gottesklauseln675 bilden einen wichtigen Baustein von Religionsverfassungsrecht auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Interpretiert man sie auf alle Weltreligionen bezogen, so zeigt sich auch hier ein Abschied von dem herkömmlichen „Staatskirchenrecht“: alle drei abrahamitischen Religionen können sich in den (offenen) Gottesklauseln wiederfinden. Dass die Verfassung von Polen (1997) hierzu eine neue Textstufe in Gestalt einer Alternative entwickelt hat (Präambel: „… wie auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen und diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“), sei schon jetzt vermerkt: als ein Element von „freiheitlichem Religionsverfassungsrecht“ (vgl. BVerfGE 102, 370 (393 f.)). 673  Aus der Lit.: C. Winzeler, Einführung in das Religionsverfassungsrecht der Schweiz, 2. Aufl., 2009; K. Stern, a. a. O., S. 1427: „religionsrechtliche Verschiedenartigkeit“. 674  Aus der Lit.: H. de Wall, Staatskirchenrecht in den neuen Bundesländern, Theologische Literaturzeitung 126 (2001), S. 1118 ff.; C. Fuchs, Das Staatskirchenrecht der neuen Bundesländer, 1999. 675  Dazu mein Beitrag: „Gott“ im Verfassungsstaat?, in FS Zeidler, Bd. 1 (1987), S.  3 ff.; H. Goerlich / W. Huber / K. Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug?, Theologische Literaturzeitung, 2004, S. 7 ff.

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Die Verfassung Bayerns (1946) spricht in ihrer Präambel abwehrend gegenüber der NS-Zeit von einer „Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott“. In den Bildungszielen ist demgegenüber positiv von „Ehrfurcht vor Gott“ die Rede (Art. 131 Abs. 2 BayVerf.). Die Verfassung von RheinlandPfalz (1947) beginnt in der Präambel mit den Worten: „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft“. – Die Verfassung Baden-Württemberg (1953) sagt ebenfalls im Vorspruch: „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott“. Ähnlich intonierte schon die Präambel der Verfassung Nordrhein-Westfalen (1950) ihren Eingangspassus (Gleiches gilt für die Verfassung Niedersachsen (1993)). Ein Gottesbezug fehlt etwa in der Verfassung Hessen (1946), Saarland (1947), Bremen (1947) und Hamburg (1952). Er ist also nicht unverzichtbar für das Religionsverfassungsrecht im heutigen Verfassungsstaat. Ein Blick auf Ostdeutschland, wo Gottesklauseln erstaunlicherweise trotz der großen Verdienste der Kirchen bei der friedlichen Revolution (1989) recht selten sind (Fehlanzeige etwa in Verfassung Brandenburg (1992), Verfassung Mecklenburg-Vorpommern (1993) und Verfassung Berlin (1995)). Die Verfassung Sachsen (1992) spricht in der Präambel immerhin von der „Bewahrung der Schöpfung“, womit auch ein Schöpfer vorausgesetzt ist. Die Verfassung Thüringens (1993) formuliert in ihrer Präambel im letzten Teil: „… gibt sich das Volk des Freistaates Thüringen in freier Selbstbestimmung und auch in Verantwortung vor Gott diese Verfassung.“ Die Verfassung von Sachsen-Anhalt (1992) beruft sich in ihrer Präambel ebenfalls auf die „Verantwortung vor Gott“ (Amtseide mit der Möglichkeit, der Berufung auf Gott oder auch nicht, z. B. Art. 44 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, seien hier ein Merkposten: „offene Eidesklauseln“). Der nächste zentrale Gegenstand zum Religionsverfassungsrecht ist die letztlich in der Menschenwürde wurzelnde Religionsfreiheit, die in fast allen deutschen Landesverfassungen garantiert ist und oft mit der Formel „Es gibt keine Staatskirche“ verknüpft wird. Darin kommt das Prinzip der Trennung zwischen Staat und Kirchen bzw. Staat und Religionen zum Ausdruck.676 Hier nur wenige Beispiele: Art. 50 Verf. Hessen (1946), Art. 59 Abs. 1 Verf. Bremen (1947), Art. 32 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt (1992). Freilich sind von vorneherein in Deutschland die traditionellen „Brückenelemente“ zwischen Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften samt ihrer Autonomie im Blick zu behalten, die im Ganzen ein System der Kooperation begründen, z. B. der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus.677 Man darf von 676  Aus der Lit.: A. von Campenhausen, Die Trennung von Staat und Kirche in Deutschland und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, ZevKR 47 (2002), S.  359 ff.; S. Mückl, Trennung und Kooperation – das gegenwärtige Staat-KircheVerhältnis in der BR Deutschland, Essener Gespräche 40 (2007), S. 41 ff.



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differenzierten bzw. gestuften Näheverhältnissen sprechen, die je nach Land verschieden intensiv sind. Neues gelingt Art. 39 Abs. 2 Verf. Thüringen in Sachen Religionsfreiheit: Ihre Ausübung darf nicht die Würde anderer verletzen, ein universales Postulat. Der dritte Gegenstand einer grundlegenden Themenliste für Religionsverfassungsrecht in den alten und neuen Bundesländern dokumentiert sich in der Frage, ob und wie eigene Abschnitte zu „Religion und Religionsgemeinschaften“ und deren Autonomie gestaltet sind. Hier zeichnet sich die Verfassung von Bayern (1946) sowohl systematisch als auch inhaltlich durch große Themenvielfalt sowie Konstanten und Varianten aus (Dritter Hauptteil, 3. Abschnitt, Art. 142 bis 150 BayVerf.). Art. 142 beginnt mit dem schon klassischem Satz aus der WRV: „Es besteht keine Staatskirche.“ (Abs. 1). Unter den vielen religionsverfassungsrechtlichen Themen, bei denen die Kirchen nie ohne (andere) Religionsgemeinschaften genannt sind (vgl. Art. 142 Abs. 3, Art. 143 Abs. 2 und 3) und wo mitunter von allen Religionsgemeinschaften die Rede ist (Art. 145, 146), ragt vor allem die Regelung in Art. 149 Abs. 2 heraus (Stichwort „Simultangebrauch der Kirchen und Friedhöfe für alle Religionsgemeinschaften“ – ein vorbildlicher Ausdruck von Toleranz!)678. – Die Verfassung Hessen (1946), die auf einen Gottesbezug verzichtet, normiert einen eigenen Abschnitt IV zum Thema „Staat, Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“. Auch hier findet sich die Tendenz, über das Staatskirchenrecht hinauszublicken und an andere Religionsgemeinschaften zu denken (z. B. bei der Garantie der Selbstverwaltung (Art. 49, 50), Steuererhebung (Art. 51 Abs. 2)), für die Körperschaften des öffentlichen Rechts. – Die Verfassung Bremens (1947) arbeitet die religionsverfassungsrechtliche Themenliste in einem eigenen Abschnitt auf (Art. 59 bis 63). Begonnen ist mit dem Trennungsprinzip in Bezug auf Kirchen und Religionsgesellschaften (Art. 59 Abs. 1) und die Garantie ihrer Autonomie (Art. 59 Abs. 2). Im Übrigen finden sich einige der klassischen religionsverfassungsrechtlichen Themen: etwa in Sachen religiöser Vereinigungsfreiheit679, der öffentlichrechtlichen Körperschaftsqualität und Anstaltsseelsorge. Eine Variante findet sich in Art. 63 („Anerkennung als gemeinnützige Einrichtungen“). Hier sind sogar die Kirchen nicht ausdrücklich genannt, vielmehr wird allgemein von den „anerkannten 677

677  Aus der Lit.: S. Muckel, Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, Der Staat, 1999, S. 569 ff.; C. Link, Zeugen Jehovas und Körperschaftsstatus, ZevKR 43 (1998), S. 1 ff.; H. M. Heinig, Öffentlich-rechtliche Reli­ gionsgesellschaften, 2003. 678  Aus der Lit.: L. Renck, Staatliche Religionsneutralität und Toleranz – BVerfGE 35, 366 und 52, 233, JuS 1989, S. 451 ff. 679  Aus der Lit.: J. Lücke, Zur Dogmatik der kollektiven Glaubensfreiheit, EuGRZ 1995, S. 651 ff.

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Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ gesprochen. – Die Verfassung von Nordrhein-Westfalen (1950) rückt einen eigenen Dritten Abschnitt zum Thema „Schule, Kunst und Wissenschaft, Sport, Religion und Religionsgemeinschaften“ ein. Schon von dieser Systematik her liegt es nahe, das Religionsverfassungsrecht als „spezielles Kulturverfassungsrecht“ zu begreifen. Der Verfassunggeber denkt auch hier immer zugleich an „die Kirchen und die Religionsgemeinschaften“ (vgl. z. B. Art. 20 in Sachen Anstaltsseelsorge und Art. 21 in Sachen Leistungen an die Kirchen). Nur Art. 23 denkt „staatskirchenrechtlich“ („Kirchenverträge“). – Die Verfassung von Hamburg (1952) verzichtet auffälligerweise auf fast alle Themen eines möglichen Religionsverfassungsrecht (nur das Sonntags- und Feiertagsrecht kommt vor (Art. 6 Abs. 3)). Gleiches gilt für die Verfassung von SchleswigHolstein (1990). – Die Verfassung von Baden-Württemberg (1953) ist primär auf die Kirchen fixiert. Dies zeigt sich etwa in Art. 3 Abs. 1 Satz 3 („Hierbei ist die christliche Überlieferung zu wahren“ – im Kontext der staatlich anerkannten Feiertage), bei der Rezeption „Weimarer Kirchenartikel“ (Art. 5) sowie bei den Staatsleistungen, Kirchenverträgen, Ausbildung der Geistlichen und der theologischen Fakultäten (Art. 7 bis 10). – Die Verfassung von Rheinland-Pfalz (1947) schafft einen eigenen Abschnitt IV: „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (Art. 41 bis 48). Fast immer sind die Kirchen vorweg genannt und durch den Zusatz „und Religionsgemeinschaften“ ergänzt (z. B. Art. 42: „Kirchliche Lehranstalten“, Art. 44: „Kirchliche Rechte“). – Letztes Beispiel aus Westdeutschland sei die Verfassung des Saarlandes (1947). Sie arbeitet fast alle traditionelle Themen des herkömmlichen Verfassungsrechts in Sachen „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ ab, wobei die Kirchen stets an erster Stelle genannt sind. Besonders reichhaltig ist Art. 35 Abs. 2 mit einer Fülle von Ausprägungen der „Selbstständigkeit der Kirchen“, etwa kirchliches Eigentum (Art.  38), Staatsleistungen an die Kirchen (Art. 39)680, gemeinnützige Einrichtungen der Kirchen und Religionsgemeinschaften (Art. 40), Anstaltsseelsorge seitens der Kirche und Religionsgemeinschaften (Art. 42). Ein Blick auf die Verfassungen der neuen Bundesländer681: Die Verfassung Brandenburg (1992)682 wagt trotz ihres fehlenden Gottesbezugs in der Präambel, aber unter Hinweis auf das Prinzip der Toleranz ebenda einen eigenen 7. Abschnitt im zweiten Hauptteil: „Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (Art. 36 bis 38). Die Themenliste ist auffällig verkürzt. Immerhin 680  Aus der Lit.: M. Droege, Staatsleistungen an Religionsgemeinschaften im säkularen Kultur- und Sozialstaat, 2004. 681  Dokumentiert und kommentiert in JöR 41 (1993), S.  69  ff.; 42 (1994), S. 149 ff.; 43 (1995), S. 355 ff. 682  Zum „Religionsunterricht in Brandenburg“ gleichnamig: M. Heckel, 1998; ders., Religionskunde im Lichte der Religionsfreiheit, ZevKR 44 (1999), S. 147 ff.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht649

ist an die Seelsorge in Anstalten gedacht (Art. 38). – Die Verfassung Sachsen (1992) erfindet neue Varianten. Art. 105 regelt im Kontext des Abschnitts „Das Bildungswesen“ das Thema „Ethikunterricht, Religionsunterricht“ – eine offenkundige Umstellung, denkt aber auch einen eigenen 10. Abschnitt: „Die Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (Art. 109 bis 112). Dabei verdient Art. 109 Abs. 1 besondere Aufmerksamkeit (eine Rezeption von Art. 4 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg): „Die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt.“

Damit werden Kirchen und Religionsgemeinschaften als unverzichtbare Ressource für den Verfassungsstaat anerkannt683 (nur auf die Kirchen bezogen, aber ähnlich noch Art. 41 Abs. 1 Satz 1 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947). Erneut zeichnet sich eine Öffnung des sog. Staatskirchenrechts gegenüber allen Religionen ab: auch hier gewinnt das Religionsverfassungsrechts Terrain (Ähnliches gilt für Art. 112 Abs. 2 Verf. Sachsen in Sachen „Baudenkmale der Kirchen und Religionsgemeinschaften“ als „Kulturgut der Allgemeinheit“), erweist es sich als Herzstück für den Verfassungsstaat. – Die Verfassung von Thüringen (1993) behandelt Themen des Religionsverfassungsrecht an zwei Stellen: zum einen im Abschnitt „Bildung und Kultur“ (Art. 25: „Religions- und Ethikunterricht“ – man beachte die Reihenfolge), zum anderen im Abschnitt „Religion und Weltanschauung“ (Art. 39 bis 41), mit einer Rezeption von Art. 140 GG. Nur beim Thema „Karitative Einrichtungen“ (Art. 41) sind die Kirchen vorweg und ausdrücklich genannt. – Die Verfassung von Sachsen-Anhalt (1992) normiert keinen eigenen Abschnitt in Sachen Kirchen und Religionsgemeinschaften, wohl aber einen Art. 32, in dem auf die Religionsartikel der WRV verwiesen ist (Abs. 5). Bemerkenswert ist die bekannte Postulierung des Prinzips der Trennung zwischen Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und dem Staat (Abs. 1 Satz 1) sowie die Gewährleistung des Rechts „zu öffentlichen Angelegenheiten Stellung zu nehmen“: Art. 32 Abs. 1 Satz 2 (eine Andeutung des Öffentlichkeitsanspruchs der Kirchen und Reli­ gionsgemeinschaften)684 – dies sind kluge Textstufen. – Die Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern (1993) macht es sich einfach. Sie verweist in Art. 9 („Kirchen und Religionsgemeinschaften“) vorweg auf die Artikel der 683  Aus der Lit.: A. Rauscher (Hrsg.), Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft, 2004; W. Schreckenberger (Hrsg.), Staat und Religion, 2006; C. Hillgruber, Staat und Religion, 2007. 684  Aus der Lit.: C. Thiele, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen – aus evangelischer Sicht, ZevKR 46 (2001), S. 179 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV / 2, 2011, S. 1295 f.; H. G. Kippenberg / G. F. Schuppert (Hrsg.), Der Öffentlichkeitsstatus der Religionsgemeinschaften, 2004.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

WRV von 1919. Immerhin ist in Art. 15 („Schulwesen“) ein Stück Religionsverfassungsrecht oder auch europäische Aufklärung versteckt: in Form des Erziehungsziels „Geist der Toleranz“ (Abs. 4). Er sollte weltweit das ganze Religionsverfassungsrecht prägen und sich in vielen Detailnormen ausdifferenzieren: z. B. als Erziehungsziel beim Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften (so z. T. in Osteuropa). Art. 9 Abs. 3 ermöglicht theologische Fakultäten und ist insoweit „Staatskirchenrecht“ (sofern nicht auch islamische Fakultäten eröffnet werden). Der große Reichtum meist gemeindeutscher Erziehungsziele685 ist ein drittes Feld, auf dem man für das Thema Religionsverfassungsrecht fündig wird – neben den Eidesklauseln (z. B. Art. 48 Verf. Baden-Württemberg, Art. 100 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 44 Verf. Mecklenburg-Vorpommern), wobei die religiöse Beteuerung entfallen kann. Beginnen wir mit Westdeutschland, d. h. der Verfassung Bayerns (1946). Ihr reicher Katalog von Bildungszielen (Art. 131) bestimmt die „Ehrfurcht vor Gott und die Achtung vor religiöser Überzeugung und der Würde des Menschen“ zum obersten Bildungsziel. Auch damit ist ein Eckstein von Religionsverfassungsrecht geschaffen. Hinzu kommt die Idee der Toleranz nach Maßgabe von Art. 136 Abs. 1. Die Verfassung Hessen (1946) schreibt das Erziehungsziel „Achtung und Duldsamkeit“ vor (Art. 56 Abs. 4). Die Verfassung von Baden-Württemberg (1953) postuliert in Art. 17 Abs. 1: „In allen Schulen waltet der Geist der Duldsamkeit und der sozialen Ethik“. Auf den Trägerpluralismus in Art. 12 Abs. 2 sei verwiesen. „Duldsamkeit“ verlangt auch die Verfassung von Nordrhein-Westfalen (Art. 7 Abs. 1). Ähnlich geht Art. 33 der Verfassung von Rheinland-Pfalz vor. Das Saarland (1947) lässt viel herkömm­ liches „Staatskirchenrecht“ erkennen mit dem Erziehungsziel: „auf der Grundlage des natürlichen und christlichen Sittengesetzes“ (Art. 26 Abs. 1). Es schafft in diesem Kontext aber auch eine neue Form von Religionsverfassungsrecht als Kulturverfassungsrecht (Art. 26 Abs. 1 Satz 2: „Die Kirchen und Religionsgemeinschaften werden als Bildungsträger anerkannt.“). Kirchen und andere Religionsgemeinschaften werden so als für den Verfassungsstaat notwendige Einrichtungen erkannt. J. Habermas spricht von „postsäkularer Gesellschaft“686. Ein Blick auf Ostdeutschland: Die Verfassung von Brandenburg (1992) erwähnt das Erziehungsziel: „Achtung vor der Würde, dem Glauben und 685  Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaats, 1981; s. zuletzt H. Wißmann, Bildung im freiheitlichen Verfassungsstaat, JöR 60 (2012), S. 225 ff. 686  Aus der späteren Lit.: G. E. Rusconi (Hrsg.), Der säkularisierte Staat im postsäkularen Zeitalter, 2010; K. F. Gärditz, Säkularität und Verfassung, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 153 ff.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht651

den Überzeugungen anderer“ (Art. 28) – schon die Präambel nennt die Toleranz, Art. 2 sagt: „Jeder schuldet Jedem die Anerkennung seiner Würde“. Die Verfassung von Sachsen (1992) normiert als Erziehungsziel die „Achtung vor der Überzeugung des anderen“ (Art. 101 Abs. 1). Die Thüringer Verfassung (1993) spricht vom Erziehungsziel der „Toleranz gegenüber der Überzeugung anderer“ (Art. 22 Abs. 1). Ähnlich formuliert schon die Verfassung von Sachsen-Anhalt (1992): „im Geiste der Toleranz“ (Art. 27 Abs. 1); ebenso lautet Art. 15 Abs. 4 Verfassung Mecklenburg-Vorpommern (1993), das immerhin in Art. 19 Abs. 2 ein Stück herkömmlichen Staatskirchenrechts normiert, indem es auf die „soziale Tätigkeit der Kirchen“ verweist und damit einen in der heutigen Diskussion wichtigen Legitimationsgrund für die Kirchen darstellt, werden auch Staatsleistungen derzeit unter Verkennung des unverzichtbaren sozialen Engagements der Kirchen bei uns in Frage gestellt. Im Ganzen: Die religionsverfassungsrechtliche Themenliste in den alten und neuen Bundesländern ist reich. Es finden sich viele, z. T. auch neue religionsfreundliche Verfassungstexte in den unterschiedlichsten Kontexten. Bei allen Varianten lässt sich doch ein gemeindeutscher Bestand mit flexiblen Teilbausteinen im Mosaik des Religionsverfassungsrechts als Ganzes feststellen – ähnlich der Schweiz. Das herkömmliche „Staatskirchenrecht“ ist schon dem Wort und Begriff nach auf dem Rückzug, das Religionsverfassungsrecht befindet sich im Vordringen. Auffälligerweise beachtet die Wissenschaft, soweit ersichtlich, diese erst im Vergleich erfassbare Textstufenentwicklung bislang nicht. Gottesklauseln sind nicht unverzichtbar. Die Garantie der Autonomie der Religionsgemeinschaften ist konstituierend für die individuelle Religionsfreiheit: vielleicht i. S. eines universalen Konstitutionalismus in weltbürgerlicher Absicht, auch im Völkerrecht. Jetzt ein Blick auf die west- und nordeuropäischen Verfassungen: Im Folgenden sei eine prägnante Auswahl von Texten präsentiert, die religionsverfassungsrechtliche Themen zum Ausdruck bringen. Dabei gilt ein Hauptaugenmerk der Frage, wie „religionsfreundlich“, offen die einzelnen nationalen Verfassunggeber ihre Texte ausgestaltet haben. Hier gibt es große Unterschiede. Die Modellvielfalt von der strikten Trennung zwischen Staat und Kirche bzw. Religionsgemeinschaften, differenzierten Formen der Kooperation und der Teilidentität von Staat und Kirchen (Stichwort „Staatskirchen“ bzw. „Landeskirchen“) wurde oft dargestellt. Es fehlt jedoch an einer systematischen und vergleichenden Erschließung möglichst aller religionsverfassungsrechtlichen Themen bzw. Textensembles. Hier einige Beispiele687: 687  Texte

zit. nach: Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl. 2005.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Einer sehr alten Textstufe gehört die Verfassung Luxemburgs an (1868 / 2004). Sie garantiert einerseits die „Freiheit der Glaubensbekenntnisse und die ihrer öffentlichen Ausübung“ sowie die Freiheit, die eigenen religiösen Meinungen zu äußern (Art. 19), andererseits sieht Art. 22 das „Eingreifen des Staates bei der Ernennung und Absetzung der Oberhäupter der Glaubensbekenntnisse“ vor – ein Restbestand des alten Staatskirchentums. Die Verfassung der Republik Irland (1937 / 2004) beginnt ihre Präambel mit der Wendung: „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit“. Sie erfindet zum Teil neue religionsverfassungsrechtliche Themen: Art. 34 Abs. 4 verlangt von jedem Richter eine Erklärung bei seiner Ernennung („In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich …“). Art. 44 nimmt sich vieler Themen zum Teil neuen Religionsverfassungsrechts an: Zum Beispiel wird gesagt, der Staat anerkenne, dass dem „allmächtigen Gotte die Huldigung öffentlicher Verehrung“ gebühre. Bei dieser Ehrung der „Religion“ ist nicht auf eine bestimmte Religion verwiesen, sodass, ähnlich wie beim Gottesbezug, wohl alle monotheistischen Religionen gemeint sind. Abs. 4 ebd. normiert ein Differenzierungsverbot in Bezug auf die Gewährung staatlicher Hilfen an Schulen, die unter der Leitung verschiedener Religionsbekenntnisse stehen. Abs. 5 normiert das Recht „jeder religiösen Konfession“, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, Abs. 6 enthält für die religiösen Konfessionen eine Eigentumsgarantie. Die Verfassung Italiens (1947 / 2003) – sie enthält keinen Gottesbezug – postuliert in Art. 7 die Unabhängigkeit von Staat und katholischer Kirche: „jeder im eigenen Bereich“. Zugleich ist jedoch auf die Lateranverträge verwiesen (Abs. 2). Art. 8 erklärt „alle religiösen Bekenntnisse“ für frei, verweist aber auch auf die Möglichkeit von „Vereinbarungen“. An den individuellen und korporativen Aspekt der Religionsfreiheit denkt Art. 19. Art. 20 trifft eine schützende Aussage zum „kirchlichen Charakter“ und „religiösen oder kulturellen Zweck“ einer Vereinigung. Damit kommt immerhin das Feld von nichtkirchlichem Religionsverfassungsrecht zum Ausdruck (z. B. keine besondere Steuerbelastung bei ihrer Gründung)688. Frankreichs Verfassung (1958 / 2008) ist paradigmatisch für ihre strikte Trennung von Staat und Kirchen, was seit der Revolution von 1789 bzw. 1905 einer großen französischen Tradition entspricht689. Art. 1 S. 1 bis 3 lauten: 688  In Bezug auf Italien spricht K. Stern, a. a. O., S. 1421 von „System der Kooperation“. 689  Aus der Lit.: W. Heun, Die Religionsfreiheit in Frankreich, ZevKR 49 (2004), S.  273 ff.; S. Mückl, a. a. O., S. 143 ff. („Trennungssystem Frankreich“); O. Lepsius, Religion und Verfassung im Vergleich: Deutschland, Frankreich, USA, in: A. Arndt-



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht653 „Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik. Sie gewährleistet die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion. Sie achtet jeden Glauben.“

Aus der heutigen Verfassungswirklichkeit (2011 / 12) ist bemerkenswert, dass der damalige Staatspräsident N. Sarkozy mitunter kooperativen Strukturen im Verhältnis zu den Religionen das Wort redet. An das strenge Burka-Verbot in Frankreich (2010) sei erinnert690. Die Verfassung Griechenlands (1975 / 2001) beginnt mit einer „invocatio dei“ („Im Namen der Heiligen … Dreifaltigkeit“). Der II. Abschnitt gilt den „Beziehungen zwischen Kirche und Staat“. Die Östlich-Orthodoxe Kirche Christi wird als „vorherrschende Religion“ bezeichnet. Art. 13 sagt im Grundrechtsteil immerhin: „Jede bekannte Religion ist frei“. Auch ist von den „Geistlichen aller bekannten Religionen“ die Rede. Das Religionsverfassungsrecht orientiert sich aber eher traditionell, letztlich doch kaum zukunftsoffen. Die Verfassung Schwedens (1975 / 2003)691 erfindet eine neue Textstufe schon in § 2 Abs. 5. Sie lautet: „Die Möglichkeiten ethnischer, sprachlicher oder religiöser Minderheiten, ein eigenes Kultur- und Gemeinschaftsleben zu behalten oder zu entwickeln, müssen gefördert werden.“

Soweit ersichtlich, ist dieser Verfassungstext in Westeuropa die beste Form für neues Religionsverfassungsrecht zum Schutz religiöser Minderheiten, wobei zugleich der kulturverfassungsrechtliche Aspekt zum Ausdruck kommt. Er ist Material für eine universale Verfassungslehre. Die Verfassung Portugals (1976), ebenfalls ohne Gottesbezug eröffnet, normiert in Art. 41 Abs. 4: „Die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften sind vom Staat getrennt“. An die individualrechtliche Seite der Religionsfreiheit denkt Art. 41 Abs. 5: „Die Freiheit, eine Religion in der jeweiligen konfessionellen Ausgestaltung zu lehren …, ist gewährleistet“692. In diesem Kontext wird – neu – an die Aktivitäten über Massenkommunika­ tionsmittel gedacht. Kreis (Hrsg.), 2006, S. 19 ff.; T. G. Funke, Die Religionsfreiheit im Verfassungsrecht der USA, 2006. 690  Dazu T. Barczak, „Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du wirklich bist“, DÖV 2011, S. 45 ff. – Zu Belgien: J. Finke, Warum das „Burka-Verbot“ gegen die EMRK verstößt, NVwZ 2010, S. 1127 ff. 691  Aus der Lit.: G. Robbers, Kirche und Staat in Schweden, FS Hollerbach, 2001, S.  907 ff. 692  Aus der Lit.: J. E. Mendes Machado, Liberdade Religiosa Numa Comunidade Constitucional Inclusiva, 1996.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Ebenfalls ohne einen vor allem in der Schweiz sehr verbreiteten Gottesbezug arbeitet die Verfassung Spaniens (1978). Art. 16 Abs. 3 lautet: „Es gibt keine Staatsreligion. Die öffentliche Gewalt berücksichtigt die religiösen Anschauungen der spanischen Gesellschaft und unterhält die entsprechenden kooperativen Beziehungen zur Katholischen Kirche und den sonstigen Konfessionen.“

An diesem Verfassungstext ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen öffnet sich der Staat gegenüber den religiösen Anschauungen der „spanischen Gesellschaft“ (gesellschaftsorientierter Ansatz!), zum anderen kommt das Kooperationsmodell693 zum Ausdruck (hier freilich wohl auf die christ­lichen Gemeinschaften beschränkt: Arg. „Konfessionen“). Die koordinierende Verfassung Belgiens (1994 / 2002) arbeitet mit einem eigenen Sprachgebrauch. Sie spricht nicht von Religionen, sondern von „Kulten“. Ganz im Vordergrund steht die Freiheit der Kulte sowie die Freiheit jedes Einzelnen in Sachen des Kultes (Art. 19 und 20). Art. 21 untersagt dem Staat, „in die Ernennung oder Einsetzung der Diener irgendeines Kultes einzugreifen oder ihnen zu verbieten, mit ihrer Obrigkeit zu korrespondieren“. Art. 24 § 1 bekennt sich zum Grundsatz der Neutralität des staat­ lichen Unterrichtswesens und verlangt Achtung der „religiösen Auffassungen der Eltern und Schüler“. Ebd. ist bis zum Ende der Schulpflicht die „Wahl zwischen dem Unterricht in einer der anerkannten Religionen und demjenigen in nichtkonfessioneller Sittenlehre“ eröffnet. (Die Parallele zum umstrittenen Ethikunterricht in Brandenburg694 ist offenkundig.) In Skandinavien garantiert die Verfassung Finnlands (1999 / 2000) in § 11 sowohl die individuelle Religionsfreiheit, als auch das Recht, „einer Reli­ gionsgemeinschaft anzugehören oder auch nicht“. Damit ist der „status corporativus“ angedeutet. Im Folgenden ein Blick auf Landesverfassungen in Österreich und italie­ nische Regionalstatute: Die österreichischen Landesverfassungen beginnen ihre Verfassungsautonomie gerade auch im kulturellen Bereich auszuschöpfen695. In Sachen Religionsverfassungsrecht finden sich einige Texte. Die Tiroler Landesordnung (1989) spricht in ihrer Präambel von „Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe“. Die Kontextualität beider Themen ist bemerkenswert. – Die Verfassung des Landes Vorarberg (1989) normiert in Art. 1 Abs. 1 einen Satz, der sich in Baden-Württemberg findet: 693  Aus der Lit.: S. Mückl, a. a. O., S. 314 ff. (S. 349 ff.): „Institutionelle Kooperation“. 694  Dazu K. Stern, a. a. O., S.  515 ff. 695  Dazu die Dokumentation vom Verf.: JöR 54 (2006), S. 384 ff.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht655 „Die Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt.“

Die Notwendigkeit von Religionen für das Leben des Einzelnen in Staat und Gesellschaft könnte nicht besser auf den Punkt gebracht werden. Der hier zitierte Grundsatz kann in Anspruch nehmen, ein Kernstück des Religionsverfassungsrechts in offenen Gesellschaften zu sein. Ein weiteres Stück Religionsverfassungsrecht findet sich in Art. 7 Abs. 5, wonach das Land „Die Bedeutung des Sonntags und der gesetzlichen Feiertage als Tage der Arbeitsruhe anerkennt“696. Die neuen Regionalstatute in Italien697, die auf dem Weg sind, „kleine Verfassungen“ zu werden, lassen durchaus schon religionsverfassungsrechtliche Ansätze erkennen und müssen gerade auch von Europa aus in den Blick genommen werden. Das Regionalstatut von Apulien (2004) spricht in Art. 1 Abs. 2 von „la storia pluriseculare di culture, religiosità, cristianità …“ Das Regionalstatut des Piemont (2005) beruft sich in seiner Präambel auf die „cultura cristiana“, freilich auch auf das laizistische und liberale Element im Rahmen einer Multikultur. Das Regionalstatut Marken (2005) erzählt in seiner Präambel von der „forze laiche e cattoliche regionaliste“, der laizistischen Tradition und zugleich der „matrice religiosa“, die die Geschichte der Marken geformt haben. – Das Regionalstatut der Emilia-Romagna (2004) reichert ebenfalls die Präambel mit traditionellen und gegenwärtigen Aspekten zum Thema pluralistische Religionsverfassungsrecht an: „ideale e religioso e dei principi di pluralismo e laicità delle istituzioni“. – Das Regionalstatut von Umbrien (2005) verwendet in seinem Identitäts- und Werte-Artikel 2 auch im Blick auf künftige Generationen die Worte: „il patrimonio spirituale, fondato sulla storia civile e religiosa dell’Umbria“. – Das Regionalstatut Ligurien (2005) schließlich sucht in seiner Präambel eine Harmonie zwischen dem Mittelalter, dem Risorgimento und der Resistenza einerseits und dem Christentum andererseits, herzustellen: ein großer kulturgeschichtlicher Zusammenhang, Regionalismus aus Kultur. Im Folgenden ein Blick auf die osteuropäischen Verfassungen nach 1989: Wenigstens in Auswahl seien die neuen osteuropäischen Verfassungen seit dem „annus mirabilis 1989“ auf religionsverfassungsrechtliche Themen hin abgesucht. Bekannt sind die damaligen intensiven und extensiven Rezep696  Aus der Lit.: I. Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1971; H. Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1984. – W. Mantl, VVDStRL 59 (2000), S. 354 spricht von „Austro-Islam“, um die Integrationsleistung in Österreich anzuerkennen. 697  Dokumentiert in JöR 58 (2010), S. 456 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

tions- bzw. Transferprozesse von West nach Ost. Da sich der weltoffene Verfassungsstaat in der Trias von Texten, Judikaten und wissenschaftlichen Theorien entwickelt bzw. fortlaufend neu Gestalt gewinnt, kommen mittelbar mitunter auch große Urteile etwa des deutschen BVerfG oder der europäischen Verfassungsgerichte in Luxemburg und Straßburg zur Wirkung. Im Folgenden sei nach dem schon bekannten Schema dieser Studien die inhaltlich kohärente Materie „Religionsverfassungsrecht“ unter vier systematischen Aspekten aufgeschlüsselt: Gottesklauseln, Religionsfreiheit mit Verfassungstexten zur Trennung oder Kooperation mit Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften, systematisch eigene Abschnitte zum Verhältnis von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften (Garantie ihrer Autonomie bzw. Selbstbestimmung) sowie Sonstiges, z. B. religiös geprägte Erziehungs- und Bildungsziele wie die Toleranz, und das Feiertagsrecht. Im Einzelnen698: Auffällig wenig Religionsverfassungsrecht findet sich in der Verfassung Lettland (1922  /  1998): ein Gottesbezug fehlt; Art. 99 schützt im Grundrechtsteil das Recht von Jedermann auf die religiöse Überzeugung und postuliert den Satz: „Die Kirche ist vom Staat getrennt.“ Allenfalls in Art. 114 (Garantie der kulturellen Eigenheiten von Minderheitenvolksgruppen) könnte auch das Religiöse mit geschützt sein. – Ohne Gottesbezug garantiert die Verfassung Ungarns (1949 / 1997) im GrundrechteKapitel in § 60 u. a. die Religionsfreiheit und zwar in ihrer öffentlichen und privaten Ausprägung. Die Trennung von Kirchen und Staat ist ausdrücklich festgelegt. Eine eigene Textstufe findet sich in dem Satz, wonach ein Gesetz über die Gewissens- und Religionsfreiheit nur mit den Stimmen von zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten angenommen werden kann. Diese Hochstufung von Religionsgesetzen kommt, vergleichend betrachtend, sehr selten vor, ist aber angesichts der Sensibilität des Themas zu begrüßen. – Die Verfassung Kroatien (1990) erfindet ebenfalls neue Textstufen. Zwar fehlt sogar in der umfangreichen präambelartigen historischen Einleitung ein Hinweis auf Christentum und Religion, doch wird man im Grundrechtsteil fündig. Art. 40 gewährleistet die Freiheit des Glaubens sowie dessen „freie öffentlichen Verkündung“, Art. 41 Abs. 1 normiert apodiktisch: „Alle Glaubensgemeinschaften sind vor dem Gesetz gleich und sind vom Staat getrennt.“ Die Öffnung für alle Glaubensgemeinschaften ist bemerkenswert. Abs. 2 ebenda beschreibt und schützt eindrucksvoll die vielen möglichen Aktivitäten von Glaubensgemeinschaften, wie die Gründung von Schulen, Lehranstalten und anderen Institutionen sowie sozialen und wohltätigen Einrichtungen. Damit sind die in anderen Ländern gelegentlich umstrittenen Aktivitäten von Religionsgemeinschaften im karitativen Bereich vorbildlich 698  Texte zit. nach H. Roggemann (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Ost­ europas, 1999.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht657

zu einem Text geronnen. – Die Verfassung Bulgarien (1991) beginnt mit einer überaus inhaltsreichen und klangvollen Präambel. In ihr werden allgemeine menschliche Werte wie „Gerechtigkeit und Toleranz“ hochgehalten. Die Toleranz ist im Verfassungsstaat das Ideal zur Gestaltung des Verhältnisses der Religionsgemeinschaften untereinander sowie zum Staat, heute mehr denn je. Sie hat ihren Klassikertext in Lessings Ringparabel und findet sich in manchen Verfassungen (z. B. in den deutschen Bundesländern als Erziehungsziel). Da sie auch Ausdruck der europäischen Aufklärung bzw. eines allgemeines Humanismus ist, kann sie historisch nicht allein den Kirchen bzw. Religionen zugerechnet werden, doch muss sie auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates neben Gottesbezügen (in den Präambeln) das vornehmste Ideal von – offenem – Religionsverfassungsrecht sein. Im Kapitel „Grundprinzipien“ (Art. 13) schreibt Bulgarien zunächst die Freiheit der Glaubensbekenntnisse fest. Sodann normiert es die Trennung der religiösen Institutionen vom Staat; schließlich wagt Bulgarien den bemerkenswerten Text: „Die traditionelle Religion in der Republik Bulgarien ist das östlich-orthodoxe Glaubensbekenntnis.“ Ein neuer Gedanke findet sich in dem Verbot, wonach die Religionsgemeinschaften sowie die religiösen Überzeugungen nicht für politische Zwecke benutzt werden dürfen. Im Grundrechtsteil (Art. 37) sucht Bulgarien einen bemerkenswerten Weg. Es schützt die Glaubensfreiheit alternativ für religiöse oder atheistische Ansichten. Zugleich sucht die Verfassung den Staat mit in die Pflicht zu nehmen: „bei der Aufrechterhaltung von Toleranz und Achtung unter den Gläubigen verschiedener Glaubensbekenntnisse sowie zwischen Gläubigen und den Ungläubigen.“ Dieser erstklassige Verfassungstext sollte gerade heute weltweit von allen Verfassungsstaaten rezipiert und befolgt werden (vor allem in arabischen Ländern). Einmal mehr zeigt sich, dass selbst nach dem Jahre 1989 die Verfassungsvergleichung keine „Einbahnstraße“ von West nach Ost ist, sondern umgekehrt die westeuropäischen Verfassungsstaaten sich auch einmal an den Vorbildern Osteuropas orientieren sollten. Die Verfassung Mazedonien (1991), ohne Gottesbezug redigiert, behandelt viele religionsverfassungsrechtliche Themen in einem einzigen Artikel (Art. 19). Zunächst wird die Freiheit des Glaubensbekenntnisse garantiert, sodann werden vorbildlich die verschiedenen Dimensionen der Glaubensausübung geschützt („freie und öffentliche, individuelle oder gemeinschaftliche“); schließlich wird das Trennungsprinzip zwischen der Makedonischen Orthodoxen Kirche, den sonstigen Religionsgesellschaften und religiösen Gruppen einerseits, dem Staat andererseits festgeschrieben. Zuletzt werden die Aktivitäten aller Religionsgesellschaften und Gruppen in Bezug auf die Gründung religiöser Schulen und sozialer und wohltätiger Einrichtungen erwähnt bzw. nach Maßgabe von Gesetzen geschützt. – Die Verfassung Rumänien (1991) erfindet in Titel I. („Allgemeine Grundsätze“) eine neue

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Textstufe, die in der Staatsrechtslehre insbesondere in der Wissenschaft vom Religionsverfassungsrecht Beachtung verdient. Nach Art. 6 Abs. 1 anerkennt der Staat den Angehörigen der nationalen Minderheiten das Recht auf die Bewahrung die Entwicklung und den Ausdruck ihrer ethnischen, kulturellen, sprachlichen und „religiösen Identität“. Diese Wendung zum Recht auf Identität und dessen Teilelement „religiöse Identität“ kann gar nicht hoch genug geschätzt werden, gerade weil sie im Kontext des Minderheitenschutzes formuliert ist. M. a. W.: Rumänien hat ein neues Element des Religionsverfassungsrecht geschaffen: die religiöse Identität, und dies in individualrechtlicher und korporativer Dimension! Art. 7 verbürgt auch und gerade den Auslandsrumänen die Unterstützung in Sachen religiöse Identität. Der Verfassunggeber bleibt also konsequent. Wie sehr Rumänien religionsfreundlich ist, zeigt auch Art. 29. Hier wird den Religionsgemeinschaften die Freiheit und „Selbstverwaltung“ garantiert, zugleich werden alle Arten von religiöser Feindseligkeit der Religionsgemeinschaften untereinander verboten. Schließlich „erfreuen“ sich die Religionsgemeinschaften der Unterstützung des Staates in Bezug auf „religiösen Beistand in der Armee, in Krankenhäusern, Strafanstalten, Heimen und Waisenhäusern.“ Diese inten­ sive leistungsstaatliche Zuwendung des Staates zu den mannigfachen Aktivitäten aller Religionen auf dem Gebiet sozialer Einrichtungen verdient rechtsvergleichend gesehen höchste Aufmerksamkeit aller wissenschaft­ lichen Theorien zum offenen Religionsverfassungsrecht. Die Regelung geht sogar über analoge Texte in Deutschland hinaus. – Die Verfassung Slowenien (1991) normiert schon in ihrem allgemeinen Teil im Kontext der Symbolartikel Art. 7: „Die Religionsgemeinschaften sind vom Staat getrennt. Die Religionsgemeinschaften sind gleichberechtigt; ihre Tätigkeit ist unbeschränkt“. Im Text zu elterlichen Erziehungszielen in Art. 41 wird den Eltern ausdrücklich das Recht zugesprochen, ihren Kindern die ihrer eigenen Überzeugung entsprechende religiöse Erziehung zu vermitteln. (Im deutschen GG ist diese Ausdruck des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2.) Sogar an das Problem der altersgemäßen religiösen Erziehung ist gedacht. Als Zwischenergebnis sei formuliert: Die osteuropäischen Verfassungen schaffen zwar nicht selten neuartige Textstufen in Sachen Religionsverfassungsrecht, sie variieren ihre Themen bzw. Texte, doch schreibt kein Land alle denkbaren religionsverfassungsrechtliche Themen zugleich fest. Gottesbezüge sind für das Religionsverfassungsrecht im hier umrissenen Sinne nicht unverzichtbar, das zeigen ost- und westeuropäische Verfassungen. Unverzichtbar ist jedoch die Religionsfreiheit und das Verfassungsprinzip Toleranz, weltweit: Vom Islam erwartete man Gegenseitigkeit! Die Verfassung Estland (1992) fasst ihr Religionsverfassungsrecht in eine einzige Norm zusammen. § 40 schützt die Glaubensfreiheit, spricht von Kirchen und Religionsgemeinschaften und verordnet: „Es gibt keine Staats-



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kirchen“, womit das Trennungsprinzip rigide festgeschrieben ist, auch spricht er vom Recht von Jedermann, die Glaubensfreiheit, „sowohl allein als auch gemeinsam mit anderen religiösen Handlungen auszuüben“ (im Rahmen fixierter Grenzen der öffentliche Ordnung und Moral). – In der Verfassung Litauen (1992) wird im Kontext anderer Grundrechte auch an die Glaubensfreiheit gedacht. Von „Kirchen“ ist nicht die Rede, vielmehr wird sehr allgemein von „religiösen Handlungen“ und „irgendeiner Religion“ gesprochen. Auch ist den Eltern und Vormündern freigestellt, nach ihrer eigenen Überzeugung die religiöse und sittliche Erziehung der Kinder durchzuführen. Im Abschnitt III. („Die Gesellschaft und der Staat“) findet sich dann ein großer, sehr durchdachter Kirchen- bzw. Religionsartikel. Zunächst ist an die „traditionellen Kirchen und Religionsorganisationen“ gedacht. Art. 43 öffnet sich aber auch für Religionsorganisationen, „sofern sie in der Gesellschaft Unterstützung finden“. Damit ist die vom Verf. seit 1976 verfochtene These von der gesellschaftsorientierten Sicht vom Religionsverfassungsrecht Text geworden. Auch in den übrigen Absätzen arbeitet Litauen sehr religionsfreundlich, etwa in Sachen juristische Personen, Eigentum, wohltätige Einrichtungen und Schulen. Apodiktisch sagt Art. 43 im letzten Absatz: „In Litauen gibt es keine Staatsreligion“. Die Verfassung Montenegro (1992) – sie wagt keinen Gottesbezug – beschäftigt sich mit dem Religionsverfassungsrecht in zwei Artikeln. Art. 11 formuliert das Trennungsprinzip in einer offenen Variante: „Die Orthodoxe Kirche, die Islamische Glaubensgemeinschaft, die Römisch-Katholische Kirche und die anderen Glaubensgemeinschaften sind vom Staat getrennt.“ Trotz dieser rigiden Aussage heißt es dann aber im letzten Absatz: „Der Staat unterstützt die Glaubensbekenntnisse materiell“. Damit ist das scharfe Trennungsprinzip zu Gunsten der Glaubensgemeinschaften in einer erstaunlichen Weise aufgelockert (Stichwort: Staatsleistungen). Art. 34 Abs. 2 garantiert im Grundrechtskatalog die Glaubensfreiheit bzw. ihre öffentliche oder private Ausübung. Unter die wissenschaftliche Rubrik „sonstige Themen des Religionsverfassungsrecht“ fällt Art. 76 (Rat zum Schutz der Rechte). Hier wird zum Zweck der Bewahrung u. a. der „konfessionellen Identität“ ein eigener „Republikrat“ gegründet. Damit wird von der institutionellen Seite her der religiöse Minderheitenschutz auf eine neue Textstufe gehoben: vorbildlich für so manchen multireligiösen Verfassungsstaat, weltweit. Die Verfassung der Slowakischen Republik (1992) verzichtet auf eine Gottesklausel, sie garantiert in Art. 24 Abs. 1 die Freiheit des Glaubens mit dem Zusatz: jeder habe „das Recht, sich zu keiner Religion zu bekennen“. Die Bekundung der Religionsfreiheit wird nach all ihren Dimensionen hin konkretisiert: allein oder mit anderen, privat oder öffentlich, durch Gottesdienst, religiöse Handlungen, Einhalten von Riten, und am entsprechenden Unterricht teilzunehmen (Art. 24 Abs. 2). Abs. 3 ebd. garantiert den Kirchen

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und den religiösen Gemeinschaften das Recht der Selbstverwaltung und spricht von der Unabhängigkeit „kirchlicher Einrichtungen“. Die Verfassung der Tschechischen Republik (1992) verzichtet auf einen Gottesbezug. In ihrer Charta der Grundrechte und -freiheiten (1992) ist die Religionsfreiheit in Art. 16 Abs. 1 nach ihren unterschiedlichen Dimensionen hin (individuell  /  korporativ, privat  /  öffentlich) garantiert; Abs. 2 ebd. normiert die Selbstverwaltungsgarantie für die „Kirchen und die religiösen Gemeinschaften“. Im Übrigen findet sich kein Religionsverfassungsrecht, abgesehen von den vom Gesetz festzulegenden Bedingungen des Religionsunterricht an Staatsschulen (Abs. 3 ebd.) sowie einer guten Schrankenregelung (Abs. 4, in Anlehnung an die EMRK). Die Verfassung der Russischen Föderation (1993), die sich durch eine in Sprache und Inhalt vorbildliche Präambel auszeichnet, wagt keinen Gottesbezug, wohl aber gibt Art. 28 jedem die Freiheit des Glaubensbekenntnisses einschließlich des Rechts, „sich individuell oder gemeinsam mit anderen zu einer beliebigen Religion zu bekennen oder sich zu keiner Religion zu bekennen.“ Man erkennt an dieser Formulierung, dass selbst der Atheismus als Gegenbild die Religion braucht. Eine neue Textstufe wagt Art. 14: (1) Die Russische Föderation ist ein weltlicher Staat. Keine Religion darf sich zur Staatsreligion oder verbindlichen Religion herausbilden. (2) Die religiösen Vereinigungen sind vom Staat getrennt und vor dem Gesetz gleich. Die Festlegung des Selbstverständnisses Russlands als „weltlicher Staat“ ist angesichts der realen Vorherrschaft der russisch orthodoxen Kirche erstaunlich. Art. 14 ist m. E. von semantischen Elementen nicht frei. Die Verfassung der Republik Moldau (1994) normiert in ihrer vorbildlichen Präambel – wie fast alle übrigen osteuropäischen nach 1989 – keinen Gottesbezug. Sie nimmt sich der übrigen Themen dieser Studien indes in einem bemerkenswerten Art. 31 an. Er steht unter der Überschrift „Die Gewissensfreiheit“. Diese muss „in einem Geiste der Toleranz und der gegenseitigen Achtung zu Tage treten“ (Abs. 1). Diese Toleranzklausel, zugleich in Gestalt einer Geist-Klausel normiert, ist sehr geglückt und sollte Nachahmung finden. Abs. 2 ebd. garantiert die Freiheit der „Religionsgemeinschaften“. Abs. 3 ebd. ist im Kontext der Toleranzidee besonders geglückt und sollte ernst genommen werden. Er lautet: „Im Verhältnis der Religionsgemeinschaften untereinander ist jedwede Bekundung religiöser Feindseligkeit verboten.“ Abs. 4 ebd. erstreckt die Selbstverwaltungsgarantie der Religionsgemeinschaften auf die staatliche Unterstützung, die es ihnen erleichtern soll, „religiösen Beistand, in der Armee, in Krankenhäusern, Strafanstalten, Heimen und Waisenhäusern zu leisten“. Man erinnert



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sich an ähnliche religionsverfassungsrechtliche Regelungen in den östlichen Bundesländern Deutschlands (seit 1990). Die Verfassung von Polen (1997)699 hat Pionierarbeit geleistet. Ihre Präambel normiert die Bezugnahme auf Gott mit einer Alternative: „beschließen wir …, die an Gott glauben, welcher Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen ist, wie auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen und diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten.“ Damit ist es Polen gelungen, eine Klausel zu finden, die den Verfassungspatriotismus auch des Nichtgläubigen anspricht und einen Horizont zur Universalität bestimmter Werte eröffnet, zugleich ein Stück Freiheit in das Religionsverfassungsrecht getragen – als Bestandteil eines universalen Konstitutionalismus. An einer späteren Stelle der polnischen Präambel findet sich wieder das Alternativen-Denken: „im Gefühl der Verantwortung vor Gott oder dem eigenen Gewissen.“ Der Verfasser hat vor einem Jahrzehnt die polnische Gottes- bzw. Universalitätsklausel anlässlich des Streites um eine Gottesklausel im europäischen Verfassungsvertrag, freilich ohne jeden Erfolg, vorgeschlagen700. Die Religionsfreundlichkeit der polnischen Verfassung findet überdies in Art. 25 überzeugenden Ausdruck. Zunächst wird die Gleichberechtigung „der Kirchen und sonstiges Bekenntnisverbände anerkannt“ (Abs. 1). Sodann werden die öffentlichen Gewalten auf die „Unparteilichkeit“ in Angelegenheiten u. a. von religiösen Überzeugungen verpflichtet (Abs. 2). Schließlich wird wechselseitige Achtung verlangt zwischen dem Staat einerseits und den sonstigen Bekenntnisverbänden andererseits und der wechselseitigen Unabhängigkeit „jedes in seinem Bereich sowie gleichfalls des Zusammenwirkens für das Wohl des Menschen und das Gemeinwohl“ (Abs. 3). Auch hier beobachten wir eine schöpferische Textstufe insbesondere im Blick auf die Einbeziehung des Gemeinwohl. Abs. 4 widmet sich den Konkordaten. Abs. 5 eröffnet sonstigen Kirchen und Bekenntnisverbänden den Abschluss von Verträgen („Religionsvertragsrecht“). Die Verfassung von Georgien (1995) – ihre Präambel ist ohne Gottesbezug – fällt durch ihren Art. 9 auf. Er lautet: „Der Staat bekennt sich zu der besonderen Rolle der georgischen orthodoxen Kirche in der historischen Entwicklung Georgiens, gleichzeitig erklärt er die absolute Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat.“

Dem Verfassunggeber gelingt es hier, in einem schönen Text drei Konfliktfelder miteinander zu balancieren: „die besondere Rolle“ der orthodoxen 699  Aus der Lit.: K. Naumann, Eine religiöse Referenz in einem Europäischen Verfassungsvertrag, 2008, S. 74 ff. 700  Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl. 2001  / 2002, S. 243; 4. Aufl. 2006, S. 660.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Kirchen, die „absolute Glaubens- und Bekenntnisfreiheit“ sowie die „Unabhängigkeit der Kirche vom Staat“. Freilich ist eine Erweiterung auf alle Religionsgemeinschaften nicht geglückt. Immerhin ist in Art. 19 von der Freiheit des religiösen Bekenntnisses bzw. religiösen Glaubens die Rede. Als Grenze ist vorbildlich das Verbot des Missbrauchs im Blick auf die Rechte anderer Menschen festgelegt. Die Verfassung der Ukraine (1996) schafft eine eigene neue Textstufe, indem sie von „beliebiger Religion“ und sogar vom Bekenntnis zu „keiner Religion“ spricht. Art. 35 Abs. 1 lautet: Jeder hat das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich zu einer beliebigen Religion oder zu keiner Religion zu bekennen, ungehindert einzeln oder gemeinschaftlich Gottesdienst abzuhalten, Kulthandlungen zu vollziehen und eine religiöse Tätigkeit auszuüben. Abs. 3 ebenda formuliert das Prinzip der Trennung zwischen Kirche bzw. Religionsgemeinschaften und Staat bzw. der Schule von der Kirche. Apodiktisch heißt es: „Keine Religion darf vom Staat als verbindlich anerkannt werden.“ Abs. 4 sieht einen alternativen Ersatzdienst für den Fall eines Widerspruchs der Überzeugungen eines Bürgers mit der Wehrpflicht vor. Die Verfassung von Albanien (1998) ist in Sachen Religionsverfassungsrecht besonders ergiebig. Schon die Präambel ist überaus reichhaltig. Sie lehnt sich an das Vorbild Polens an („Im Glauben an Gott und / oder andere universelle Werte), sie beschwört den „Geist der Toleranz und des Zusammenlebens der Religionen“. Auch Art. 3 verschreibt sich u. a. dem „Zusammenleben der Religionen“ als Element des Selbstverständnisses des Staates. Dieser Text könnte kaum aktueller sein. Art. 10 liefert viele weitere Stichworte, wie: Es gibt keine Staatsreligion, der Staat ist neutral in Fragen des Glaubens, der Staat anerkennt die Gleichheit der religiösen Gemeinschaften, der Staat und die religiösen Gemeinschaften respektieren gegenseitig ihre Unabhängigkeit und „arbeiten zum Wohl eines jeden von ihnen und aller zusammen“. Schließlich wird auf die Möglichkeit von Abkommen zwischen dem Staat und den religiösen Gemeinschaften verwiesen, auch sind die religiösen Gemeinschaften als juristische Personen anerkannt, sie „genießen Unabhängigkeit in der Verwaltung ihres Vermögens gemäß ihren Regeln und Gesetzeswerken, solange die Interessen Dritter nicht verletzt werden“. Dies verdient Beifall. Im Rückblick versammelt Albanien fast alle heute wichtigen Elemente eines offenen Religionsverfassungsrechts, das im Zeitalter wachsender Religionskonflikte und der Intoleranz notwendig ist. Ganz offensichtlich lernte der Verfassunggeber von Textstufen der älteren Verfassungen anderer Länder. Wie die Wirklichkeit aussieht, ist – wie stets – eine andere Frage.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht663

Im Folgenden eine Auswahl zu den sonstigen Ländern auf dem Balkan, Serbien und Kosovo: Die Verfassung von Serbien (2006), das ja auch in religiöser Hinsicht typisch ist für den Balkan als „Pulverfass“, nimmt sich des Themas Religionsverfassungsrecht an mehreren Stellen an, sie bleibt jedoch ohne Gottesbezug. Art. 11 Abs. 1 und 2 legt die Säkularität des Staates sowie das Prinzip der Trennung zwischen Kirchen und religiösen Gemeinschaften einerseits und dem Staat fest. Nach dem Vorbild der USA heißt es in Abs. 3: „No religion may be established as state or mandatory religion.“

Art. 43 Abs. 1 garantiert die Religionsfreiheit einschließlich des Wechsels zu einer anderen Religion. Die verschiedenen Arten der Ausübung von Religion, z. B. öffentlich oder privat, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, werden ausdrücklich einbezogen (Abs. 3). Auch wird den Eltern das Recht auf religiöse Erziehung ihrer Kinder nach eigenen Überzeugungen garantiert (Abs. 5). Art. 44 („Churches and religious communities“) schließlich dekretiert die Gleichheit der Kirchen und religiösen Gemeinschaften sowie ihre Trennung vom Staat. Überdies ist das Selbstbestimmungsrecht, die Möglichkeit der Gründung religiöser Schulen und karitativer Einrichtungen verbürgt. Art. 44 Abs. 3 wagt eine kluge Innovation: „Das Verfassungsgericht kann eine religiöse Gemeinschaft nur dann verbieten, wenn diese etwa religiöse, nationale oder rassische Intoleranz pflegt.“ Die Verfassung des Kosovo (2008) ist für eine Textstufenanalyse in Sachen Religionsverfassungsrecht durchaus ergiebig, zum Teil gelingen ihr neue Textstufen. Eine Gottesklausel findet sich nicht. Doch fällt Art. 8 auf (Secular State): „The Republic of Kosovo is a secular State and is neutral in matters of religious beliefs.“

Eine Besonderheit ist der Schutz des religiösen Erbes, also nicht nur des kulturellen Erbes im Ganzen, wie dies viele Verfassungen vorsehen. Art. 9 (Cultural and Religious Heritage) lautet: „The Republic of Kosovo ensures the preservation and protection of its cultural and religious heritage.“

Dieser Gedanke durchzieht die Verfassung des Kosovo auch in anderen Kontexten. So schützt Art. 39 Abs. 1 neben der religiösen Autonomie auch die „religious monuments within its territory“, Art. 58 Abs. 5 erhebt das religiöse Erbe aller Gemeinschaften zum integrierenden Bestandteil zum Erbe des Kosovo. Ähnliche Aussagen finden sich in Art. 59 Ziff. 1 und 12. Im Grunde macht hier die Verfassung mit der Idee des multireligiösen Staates ernst, was gerade im Kosovo bzw. auf dem Balkan insgesamt dringlich ist. Auch findet sich Religionsverfassungsrecht, etwa in der Anerkennung der re-

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5. Kap.: Einzelausprägungen

ligiösen Autonomie für alle Gemeinschaften, die auch religiöse Schulen und karitative Organisationen gründen dürfen (Art. 39 Abs. 2 und 3). Die Heraushebung des „Geistes der Toleranz“, des Dialogs und der Versöhnung in Art. 58 Abs. 2 verdient ebenso Beachtung wie die Unterstreichung der Garantie der Identitätselemente aller religiösen Gemeinschaften (z. B. Art. 59 Ziff. 1). Konsequent ist auch die weite Gewährleistung der Glaubensfreiheit in Art. 38 mit den individualrechtlichen und korporativen Dimensionen. Der Verfassunggeber im Kosovo hat in sehr subtiler Weise mit der Grundidee des multireligiösen Selbstverständnisses dieses Landes ernst gemacht. Im Folgenden alte und neue Texte im Europäischen Verfassungsrecht: Die einschlägigen religionsverfassungsrechtlichen Texte im Europarecht im engeren Sinne, d. h. im Recht der EU, und im Europa im weiteren Sinne, d. h. von EMRK bzw. Europarat, seien hier gemeinsam aufgeschlüsselt und zwar in ihrem historischen Entwicklungsprozess. Die EMRK von 1950 spricht nur vom „gemeinsamen Erbe an geistigen Gütern“ (Präambel). Art. 9 garantiert die Religionsfreiheit einschließlich der Freiheit des Wechsels der Religion sowie die Freiheit, „einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und Beachtung religiöse Gebräuche auszuüben“701. Damit sind die wichtigsten Dimensionen der Religionsfreiheit textlich erfasst. Manche späteren nationalen Verfassunggeber sind dem teilweise gefolgt. Große Ausstrahlung, vor allem nach Osteuropa hin, gelang Art. 9 Abs. 2 EMRK in Sachen Schranken (Stichwort: demokratische Gesellschaft702, öffentliche Sicherheit, öffentliche Ordnung etc.). Bekanntlich war im Vorfeld der Schaffung einer Verfassung der EU umstritten, ob diese durch einen Gottesbezug eröffnet wird. Die Gegner, vor allem aus Frankreich, setzten sich leider durch. Immerhin kam es im Rahmen des Vertrages von Amsterdam703 zu einer von allen EU-Mitgliedsstaaten abgegebenen Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften (2. Oktober 1997)704: 701  Aus der Lit.: C. Grabenwarter, Die korporative Religionsfreiheit nach der EMRK, FS Rüfner, 2003, S. 147 ff.; H.-T. Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 1998. 702  Dazu W. Fiedler, Staat und Religion, VVDStRL 59 (2000), S. 199 (210 f.). 703  Zu Recht spricht G. Robbers, Staat und Religion, VVDStRL 59 (2000), S. 231 (257), von einem „europäischen“ Religionsrecht; s. noch den Band: H. Lehmann (Hrsg.), Multireligiosität im vereinten Europa, 2003. Vergleichendes Material bei: G. Robbers (Hrsg.), Staat und Religion in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005. 704  Text zit. nach S. Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002, S. 11; s. auch B. Grzeszik, Die Kirchenerklärung zur Schlussakte des Vertrages von Amsterdam, ZevKR 48 (2003), S. 284 ff.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht665 „Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Religionsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.“

Damit ist ein bemerkenswertes Stück Freiheit für alle Religionen in das europäische Religionsverfassungsrecht hineingetragen. Überdies kommt die religionsverfassungsrechtliche Parität zu ihrem Recht; auch die Offenheit für verschiedene „Modelle“. Die Charta der EU (2000) spricht in ihrer Präambel vom „geistig-religiösen und sittlichen Erbe“, in Art. 10 garantiert sie die Religionsfreiheit nach dem Vorbild der EMRK. Ein weiteres Stück Religionsverfassungsrecht, sogar im Sinne einer Öffnung zur Pluralität der Gesellschaft hin, findet sich in Art. 22 („Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“). Eine neue Textstufe erreicht das Europäische Verfassungsrecht in der Präambel des EUV (Lissabonvertrag, 2007 / 09), denn dort heißt es: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen …“

Damit ist das Religiöse im europäischen Verfassungsrecht wenigstens in einer Erbe-Klausel „aufgehoben“. Artikel 6 rezipiert die EU-GrundrechteCharta, so dass auch die erwähnten Bestimmungen Teil des Europäischen Verfassungsrechts geworden sind. Es wird religionsfreundlich. Art. 17 Abs. 3 AEUV leistet eine neue Textstufe des europäischen Religionsverfassungsrechts in den Worten: „Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrages einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“ Damit ist ein wichtiges Stück des europäischen Religionsverfassungsrechts geschaffen, mit möglichen Ausstrahlungen auf die Mitgliedsstaaten. Exkurs: Außereuropäische Staaten Im Folgenden seien prägnante Beispiele solcher (vor allem arabischer) Verfassungen zitiert, die Gegen-Modelle zum freiheitlichen „Religionsverfassungsrecht“ im Verfassungsstaat (mit seinen Elementen einer möglichst offenen Gottesklausel, der Toleranz, der Religionsfreiheit und des Trennungsprinzips („Säkularität“), mitunter auch multireligiöse Elemente liefern) und z. B. eine einzige Staatsreligion oder sogar einen „Gottesstaat“ festschreiben („Staatsreligionsrecht“), indem das Trennungsprinzip zwischen Staat und Religionsgemeinschaften ausdrücklich oder der Sache nach abge-

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5. Kap.: Einzelausprägungen

lehnt wird. In Afrika und Asien gibt es aber auch Mischmodelle. USAmerika bleibt nur ein Merkposten.705 Ein Blick auf Arabische Staaten: – Libanon ist ein Sonderfall, weil dort traditionell mehrere Religionen zusammenleben. Die Verfassung (1926 / 1990)706 dekretiert in ihrer Präambel (unter H) die „Überwindung des politischen Konfessionalismus“ – offenbar eine Umschreibung des gewünschten Trennungsprinzips. Art. 9 garantiert zwar „alle Glaubensbekenntnisse“ und die Achtung der „religiösen Interessen“ aller, doch findet sich die Einschränkung: „In Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten“. Im Kontext aller Artikel des Libanon darf diese Formel wohl als offene Gottesklausel verstanden werden, zumal Art. 10 die „Rechte der Religionsgemeinschaften, ihre eigenen Schulen zu bilden“, schützt. Die legislative Gewalt soll „zu gleichen Teilen zwischen Christen und Muslimen bzw. „proportional zwischen den Religionen“ verteilt werden (Art. 24). Dieses libanesische Modell ist in seiner Art wohl ebenso anspruchsvoll und schwer realisierbar wie vorbildlich und der Versuch, zwischen dem typisch arabischen islamischen Recht und dem westlichen Religionsverfassungsrecht eine Brücke zu bauen. – Die Verfassung von Jordanien (1952  /  84) legt in Art. 2 den Islam als „Staatsreligion“ fest, was wohl alle arabischen Länder tun, selbst wenn sie die Religionsfreiheit mehr oder weniger verbal garantieren. Art. 43 bezieht die Eidesklausel auf „Allah, den Erhabenen“. Mehr und mehr werden Ausprägungen des geschlossenen islamischen „Religionsverfassungsrechts“ (besser „Staatsreligionsrechts“) erkennbar: islamisches Staatsreligionsrecht. – Dies zeigt sich z. B. auch in der Verfassung von Kuweit (1962 / 1980), die mit einer invocatio Allahs beginnt und auch die Eidesklausel auf diesen ausrichtet (Art. 91). – Die Verfassung von Qatar (1970 / 75) ist ebenfalls stark auf das islamische Modell verpflichtet. Sie beginnt mit einer Anrufung Allahs (Präambel), legt als Religion den Islam fest und macht die islamische Schari’a zur „Hauptquelle seiner Gesetzgebung“ (Art. 1). Der klassische „Vorrang der Verfassung“ ist damit beseitigt, so umstritten die Inhalte der „Scharia“ im Einzelnen sind. – Die Verfassung der Republik Ägypten (1971 / 1980) ist schon in ihrer Präambel von „Allah und seiner Botschaft“ durchdrungen (Allah kommt 705  Dazu G. Krings, Von strikter Trennung zu wohlwollender Neutralität. Staat und Kirche in den Vereinigten Staaten …, ZevKR 45 (2000), S. 555 ff. 706  Texte zit. nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995.



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hier mehrfach vor). Dieser Gottesbezug ist „geschlossen“, verglichen mit den Gottesklauseln westlicher Verfassungsstaaten, die mindestens allen drei Weltreligionen gelten können. Art. 2 formuliert apodiktisch: „Der Islam ist Staatsreligion … Die Prinzipien der Schari’a sind die Hauptquelle der Gesetzgebung.“ Damit ist der Grundsatz des Vorrangs der Verfassung (vgl. etwa Kap. 1 Art. 2 Verf. Südafrika von 1996) relativiert, wenn nicht gar eliminiert. Auch Art. 11 spricht in Bezug auf die Familie von den „Geboten des islamischen Rechts“. Immerhin garantiert der Staat die Glaubensfreiheit und die Freiheit der Ausübung religiösen Riten dem Wort nach (Art. 46). Diese Norm scheint bloß semantisch zu sein, wie man an der Christenverfolgung in unseren Tagen (Kopten!) sieht. Art. 19 erklärt die religiöse Erziehung zu einem „grundlegenden Bereich im Rahmen der Allgemeinbildung“. – Die Verfassung von Bahrain (1973) beginnt schon vor der Präambel mit einer invocatio Allahs und verordnet in Art. 2 den Islam als „Staatsreligion“ und die islamische Schari’a nur als „eine“ der Hauptquellen der Gesetzgebung – im Gegensatz zu Ägypten. Art. 6 trägt dem Staat zu Recht die Bewahrung des „arabischen und islamischen Erbes“ auf. – Die Verfassung von Syrien (1973), die stark von sozialistischer Ideologie durchdrungen ist, legt immerhin den Islam als „Religion des Präsidenten der Republik“ fest (Art. 3 Abs. 1) und sie macht das islamische Recht zu „einer Hauptquelle der Gesetzgebung“ (Art. 3 Abs. 2). Der Verfassungseid richtet sich an Allah aus, beschwört aber auch den Sozialismus (Art. 7). (Gegenüber dem Christentum gibt es kaum Gegenseitigkeit.) – Die Verfassung Algeriens (1976 / 1989) definiert sich in der Präambel als „Heimstatt des Islam“. Art. 2 erhebt den Islam zur „Staatsreligion“. Beim Amtseid des Präsidenten (Art. 73) ist charakteristischerweise wieder von „Allah, dem Erhabenen“ und von dem Gebot der Achtung der islamischen Religion die Rede. Eidesklauseln erweisen sich auch hier als Ort des religiösen Selbstverständnisses eines Staates. – Die Verfassung des Jemen (1991 / 1994) definiert in Art. 1 die Republik als „souveränen arabischen und islamischen Staat“. Art. 2 fixiert den Islam als „Staatsreligion“. Art. 3 formuliert noch strenger als andere arabische Länder: „Die islamische Schari’a ist die Quelle aller Gesetzgebung“. Art. 59 verlangt sogar die „Verteidigung des Glaubens“ als heilige Pflicht. All dies ist typisch für islamisches „Staatsreligionsrecht“, mit der Scharia als unumstößlichem „Gottesrecht“. – Die Verfassung von Djibouti (1992) normiert schon in der Präambel die invocatio „Allahs, des Erhabenen“ und die Festlegung des Islam als „Staatsreligion“. Immerhin schützt Art. 11 die Religionsfreiheit.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

– Das Konstitutive Dokument von Saudi-Arabien (1992) lässt die Präambel mit einer Anrufung Allahs beginnen. Art. 1 definiert das Königreich als islamischen Staat, „dessen Religion der Islam und dessen Verfassung das Buch Allahs, des Erhabenen, und die Sunna seines Propheten sind“. Saudi-Arabien darf als typischer Gottesstaat gelten. Dies zeigt sich an vielen Stellen, etwa bei der Festlegung der „islamischen Zeitrechnung“ (Art. 2), bei der Ausgestaltung der Staatsflagge mit einem auf Allah und Mohammed bezogenen Text (Art. 3), bei der Normierung des Familienrechts, das von der islamischen Glaubenslehre her definiert wird (Art. 9) sowie bei Art. 23 („Der Staat wendet die islamischen Schari’a an … Er wahrt dabei seine Pflicht zur Anrufung Allahs“). Art. 26 schützt die Menschenrechte nur „in Übereinstimmung mit der islamischen Schari’a“, Art. 29 verpflichtet den Staat auf die Wahrung des islamischen und arabischen Erbes, Art. 33 verpflichtet die Streitkräfte auf die Verteidigung des islamischen Glaubens und der beiden Heiligen Stätten, und Art. 34 macht jedem Bürger die Verteidigung des islamischen Glaubens zur Pflicht. – Die Verfassung von Saudi-Arabien dürfte das den Gottesstaat in allen Texten und Kontexten besonders konsequent begründende „Modell“ für „Staatsreligionsrecht“ sein. Saudi-Arabien verkörpert den Typus der geschlossenen Gesellschaft – im Gegensatz zu den (meisten westlichen) offenen Gesellschaften, die viele öffnende, freiheitliche Elemente von pluralistischem „Religionsverfassungsrecht“ haben. Als Kontrastprogramm ist Saudi-Arabien besonders lehrreich und dient der Erkenntnis der Welt unseres – offenen – Religionsverfassungsrechts. (Der arabische Frühling konnte noch nicht berücksichtigt werden.) Im Folgenden Staaten in Afrika. Ein ganz anderes Bild ergibt die Suche nach religionsbezogenen Verfassungstexten in Afrika. Hier nur eine kleine Auswahl: – Die Verfassung von Senegal (1963  /  1992)707 normiert immerhin einen eigenen Abschnitt „Die Religionen und die religiösen Gemeinschaften“. Sie gibt in Art. 19 den religiösen Institutionen und Gemeinschaften eine Art Entwicklungsgarantie und Autonomie. Damit ist vorbildlich ein Stück multireligiöses Religionsverfassungsrecht geschaffen. – Das Grundgesetz von Äquatorial-Guinea (1991) beginnt mit einer – offenen – Gottesklausel („Verantwortung vor Gott und der Geschichte) und garantiert die Religionsfreiheit in Art. 13 (f.). Sie ist damit besonders zurückhaltend in Sachen Religionsverfassungsrecht. 707  Texte zit. nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas, 1997.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht669

– Die alte Verfassung von Angola (1992) lautet in Art. 8 (ähnlich Art. 10 Abs. 1 und 2 neue Verf. Angola von 2010): (1) Die Republik Angola ist ein weltlicher Staat, in dem die Trennung von Staat und Kirche verwirklicht ist. (2) Die Religionen genießen Achtung, und der Staat gewährt den Kirchen, sofern sie die Gesetze des Staates einhalten, sowie den Kultstätten und Kultgegenständen Schutz. Art. 45 garantiert die Gewissens- und Glaubensfreiheit, auch die Freiheit der Kulthandlungen. Weder in einer Präambel, noch in Selbstverständnisklauseln, noch im Amtseid finden sich Gottesbezüge. Mit der „Weltlichkeit“ wird Ernst gemacht. – Die Verfassung von Togo (1992) beginnt ihre Präambel mit dem bemerkenswerten Satz: „Wir, das togolesische Volk, das sich dem Schutz Gottes anvertraut hat.“ Art. 1 definiert die Republik als „weltlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat“. Art. 25 Abs. 3 lautet: „Kulthandlungen und Glaubensäußerungen erfolgen unter Achtung der Weltlichkeit des Staates“. „Den religiösen Konfessionen wird das Recht garantiert, sich frei zu organisieren“ – alles gute Texte. – Andere afrikanische Verfassungen sind relativ wenig von Problemen der Religion durchdrungen. Dies zeigt sich etwa in der Verfassung von Kamerun (1996), wo neben der Religionsfreiheit nur der Satz steht (Präambel): „Der Staat ist weltlich. Die Neutralität und die Unabhängigkeit gegenüber jeder Religion werden garantiert.“ Überdies wird die „Freiheit des Kultes“ garantiert. – Die Verfassung von Madagaskar (1995) schafft eine neue Gottesklausel in den Worten: „Das Volk von Madagaskar …, das seinen Glauben an die Existenz Gottes des Schöpfers bekräftigt.“ Die Religionsfreiheit garantiert Art. 10. – Die Verfassung von Äthiopien (1994) formuliert einen eigenen Artikel mit der Überschrift „Trennung zwischen Staat und Religion“ (Art. 11) und verwirft ausdrücklich jede Staatsreligion. Im Ganzen: In Afrika hat sich das Prinzip der Weltlichkeit des Staates und damit der Trennung von Staat und Religionen durchgesetzt. Tendenziell öffnet es sich gegenüber allen Religionen – jedenfalls den Texten nach (dies gilt auch für die durchweg vorbildliche neue Verfassung von Kenia von 2010, z. B. Art. 8: „There shall be no State Religion“). Im Folgenden zu Asiatischen Staaten: Schon prima facie dürfte zwischen islamischen Gottesstaaten und tendenziell multireligiösen Staaten zu unterscheiden sein. Ein erster Eindruck kann auch hier nur im Sinne der Text-

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5. Kap.: Einzelausprägungen

stufenanalyse vermittelt werden – insbesondere, um ein Kontrastprogramm zur Freiheitlichkeit des Religionsverfassungsrechts in westlichen Staaten und manchen Ländern Afrikas zu gewinnen. In diesem Band sind leider nur bescheidene „Vorstudien“ zu einer universalen Verfassungslehre möglich. – Ein Blick auf den Iran. Schon vor der Präambel (1979 / 1989) findet sich die islamische Version der invocatio dei sowie eine Sure aus dem Koran. Art. 1 definiert: „Der iranische Staat ist eine Islamische Republik.“ Art. 2 fasst eine ganze Reihe von Glaubensgrundsätzen zusammen, etwa unter Ziff. 1: „Die Einheit Gottes …“, unter Ziff. 4: „Die Gerechtigkeit Gottes in Schöpfung und Gesetzgebung“ sowie unter Ziff. 6: „Ehre und Würde des Menschen und seine mit Verantwortung verbundene Freiheit vor Gott.“ Art. 12 lautet: „Die offizielle Religion des Iran ist der Islam und die dschafaritische Rechtsschule, die Schule der Zwölfer-Schia. Eine Änderung dieses Artikels ist nicht zulässig.“

Damit ist der Islam als Staatsreligion Bestandteil einer Ewigkeitsklausel, eine einzigartige Textstufe. Im Grunde handelt es sich um die Ze­men­tie­ rung des islamischen „Staatsreligionsrechts“. Art. 13 lautet: „Iranische Bürger des zaroastrischen, jüdischen und christlichen Glaubens sind als offizielle religiöse Minderheiten anerkannt, die vollständig frei ihre religiösen Pflichten im Rahmen des Gesetzes ausüben können. Die Personenstandsangelegenheiten und die religiöse Erziehung erfolgen nach der entsprechenden eigenen Religion.“

Art. 14 rezipiert den Koran in Abs. 3: „Die Regierung der Islamischen Republik Iran und die Muslime sind gemäß der Anweisung des erhabenen Verses (Koran 60:8) verpflichtet, gegenüber Nichtmuslimen nach bester Sitte, mit Anstand und unter Wahrung islamischer Gerechtigkeit zu handeln und ihre Menschenrechte zu achten.“

Immerhin wird so der Menschenwürde der Nichtmuslime gedacht: im Geiste des Propheten. Weitere Themenfelder sind ganz und gar vom Islam durchdrungen (etwa Art. 3 Ziff. 1, 3, 15 und 16). Auch die Staatssymbole sind von der islamischen Geschichte und Gegenwart geprägt, etwa Art. 18 zur Staatsflagge und Art. 17 zur Zeitrechnung (Auswanderung des Propheten des Islam vom Mekka nach Medina). Damit ist der Iran eine religiös eher „geschlossene Gesellschaft“. – Der Erlass des Präsidenten der islamischen Übergangsregierung von Afghanistan (2004708) zeichnet sich durch drei Gottesbezüge schon in der 708  Zit. nach Max-Planck-Institut für ausländisches Recht und Völkerrecht (Heidelberg), 2004.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht671

Präambel aus: „Im Namen des erhabenen Gottes … Ich flehe den erhabenen Gott an … Mit Gottes Hilfe.“ Die Präambel des eigentlichen Verfassungstextes (2004) verbindet die bekannte Formel: „Wir, das Volk“ mit dem Satz „im festen Glauben an den heiligen Gott, den allmächtigen und im Vertrauen auf den Willen des erhabenen Gottes und im Glauben an die heilige Religion des Islam“. Das Selbstverständnis als islamischer Staat kommt auch in Art. 1 zum Ausdruck („Afghanistan ist eine Islamische Republik“). Art. 2 dekretiert den Islam zur Religion des Staates (Abs. 1, den Anhängern anderer Religion wird Freiheit zugebilligt, im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen). Noch beunruhigender, von einem als freiheitlich verstandenen offenen Religionsverfassungsrecht westlicher Demokratien her, formuliert Art. 3709: „In Afghanistan darf kein Gesetz dem Glauben und den Bestimmungen der heiligen Religion des Islam widersprechen.“

Der islamische Grundton findet sich auch in den beiden Artikeln zur Flagge bzw. Nationalhymne (Art. 19 und 20). Ganz im Sinne der Lehre von den Nationalsymbolen als kulturellen Identitätselementen wird die Flagge mit der Gebetsnische und einer Kanzel geschmückt; überdies ist das Wappen mit den Texten aus dem Koran versehen: „Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Gesandter“ sowie „Gott ist groß“. Die Nationalhymne ist vom Ruf „Gott ist groß“ samt den Namen aller ethnischen Gruppen geprägt. Die Parlamentarier leisten einen Eid auf den Koran (z. B. am 26. Januar 2011). – Der Verfassungsentwurf des Iraks (2005) formulierte in einer reichen geschichtsträchtigen Präambel den Satz: „Recognizing God’s right upon us“ – damit ist eine neue Formel für den Gottesbezug gefunden. In Teil 2 (Freiheiten) finden sich zwei weit gefasste Artikel zur Glaubensfreiheit: Art. 39 und 40. Insbesondere wird jedem die Freiheit zuerkannt, „to their own religion, sect, belief “ zu wählen. Auch werden die Schiitischen Riten eigens herausgestellt. Die endgültige Verfassung, ebenfalls von 2005, hat manches umformuliert. Die Präambel beginnt mit einer echten invocatio dei, die den Koran rezipiert: „In the name of God, the most merciful, the most compassionate“. Auch wird an den Propheten und an die Märtyrer erinnert, an die Märtyrer der Schiiten, Sunniten, Araber und Turkmen. Art. 29 schützt die religiösen moralischen und patriotischen Werte der Familie im Sinne des Islam: Art. 43 lautet wie folgt: „First: The followers of all religions and sects are free in the: A. Practice of religious rites, including the Husseini ceremonies 709  Aus der Lit.: T. Walter, Die Entstehung der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom 4. Januar 2004, JöR 58 (2010), S. 713 (740 f.).

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5. Kap.: Einzelausprägungen

B. Management of the endowments (Awqaf) its affairs and its religious institutions. The law shall regulate this. Second: The state shall guarantee the freedom of worship and the protection of the places of worship.“

In ganz anderem, nämlich offenen Geist ist die Verfassung der Mongolei (1992) geschrieben. Ihr Art. 9 lautet: „1. The State shall respect the Church and the Church shall honour the State. 2.  State institutions shall not engage in religious activities and religious institutions shall not pursue political activities. 3.  The relationship between the State and religious institutions shall be regulated by law.“

Weit über Asien hinaus darf dieses Stück Religionsverfassungsrecht als vorbildlich gelten, zumal im Grundrechtskatalog (Kap. 2) auch die Freiheit des religiösen Glaubens unter Ziff. 15 garantiert wird. Freilich: Ist „Church“ multireligiös zu lesen? – Die Verfassung von Kambodscha (1993) hat eine ganz eigene Handschrift. Art. 4 normiert als Motto des Königreichs: „Nation, Religion, King“. Art. 43 Abs. 3 legt den Buddhismus als Staatsreligion fest, obwohl Abs. 2 zuvor eine Garantie der Religionsfreiheit gegeben hat. Art. 68 Abs. 4 trägt dem Staat unter anderem die Verbreitung und Entwicklung buddhistischer Institute auf (Buddhismus als Staatsziel). – Die Verfassung Thailand (1997) ist nicht minder aufschlussreich. In ihrer Präambel, die die Geschichte des Landes nachzeichnet, wird die Zeitrechnung im buddhistischen Sinne festgelegt. In Art. 9 heisst es: „The King is a Buddhist and Upholder of religions.“ Da Art. 38 die Religionsfreiheit garantiert, ist der König wohl auch der Vertrauenswalter anderer Religionen. – Die Verfassung von Nepal (2007) definiert sich in den Vorartikeln als „Multireligiöse Nation“ – eine Formel, die der im Kosovo entspricht. Damit wird ernst gemacht: Art. 23 garantiert die Religionsfreiheit in ihren vielfältigen Dimensionen bis hin zu dem Schutz von „religious places and religious trusts, in accordance with law“. Dies ist vorbildlich! – Die Verfassung des Königreiches Bhutan (2008)710 legt sich stark auf den Buddhismus fest, aber dies in sehr toleranter Weise. Art. 3 (Spiritual Heritage) lautet: (1) Buddhism ist the spiritual heritage of Bhutan, which promotes the principles and values of peace, non-violance, compassion and tolerance. 710  Texte

zit. nach JöR 60 (2012), S. 670 ff.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht673

(2) The Druk Gyalpo is the protector of all religions in Bhutan. (3) It shall be the responsibility of religious institutions and personalities to promote the spiritual heritage of the country while also ensuring that religion remains separate from politics in Bhutan. Religious institutions and personalities shall remain above politics. Immerhin gewährt Art. 7 Abs. 4 die Religionsfreiheit und verbietet jede Zwangsausübung zu Gunsten einer anderen Religion. Ein multireligiöser Ton ist erkennbar. Im Ganzen: So kurz die Rundreise in Asien war, das schwierige Verhältnis von Staat und Religion(en) ist in ganz unterschiedlicher Weise geregelt. Wir finden strenge islamische Gottesstaaten, beherrscht von der Schari’a, so in Iran (Staatsreligionsrecht!), im Grund auch im Irak und Afghanistan; indes zeigen sich auch Textstufen, die von einem menschenrechtlichen Impuls her die Religionsfreiheit stärken, auch wenn sie in die Kultur einer bestimmten Religion oder einer „Religion ohne Gott“ (Buddhismus) eingebettet sind. Die Regelung der Mongolei besticht durch den Versuch eines harmonischen Ausgleichs zwischen Staat und Religionen. e) Ein Theorierahmen: Das pluralistische – offene – Religionsverfassungsrecht, insbesondere das Prinzip der „Religionsfreundlichkeit“ aa) Das pluralistische – offene – Religionsverfassungsrecht Das Religionsverfassungsrecht bildet als integrierender, freilich in seinen Einzelelementen variantenreicher, aber kohärenter und dynamischer Bestandteil des Typus „Verfassungsstaat“ teils durch Verfassungstexte, teils durch große Judikate ein Stück der unterschiedlichen kulturellen Identität der Völker, ihre „Kultur der Freiheit“711. Kontrastprogramm ist das geschlossene Religionsverfassungsrecht, für das das heutige Saudi-Arabien und sein Staatsreligionsrecht schon nach seinen Texten als typisch gelten kann (ebenso der Iran). Es gibt heute, im Verfassungsstaat, keine Fixierung auf die christlichen Kirchen mehr, wie dies das Wort „Staatskirchenrecht“ noch nahelegt. Das Religionsverfassungsrecht ist (neben anderen Teilgebieten, wie etwa dem Bildungsverfassungsrecht) „spezielles Kulturverfassungs­ recht“712. In Deutschland eröffnet es die Möglichkeit zu öffentlich-rechtlicher 711  Begriff von P. Häberle, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (184). 712  Dazu aus seiner Sicht: M. Heckel, Religionsbedingte Spannungen im Kulturverfassungsrecht, FS Maurer, 2001, S. 359 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

Körperschaftsqualität auch für Nichtkirchen (z. B. die Zeugen Jehovas, vgl. BVerfGE 102, 370). Doch die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen steht m. E. wohl nicht auf der Tagesordnung, da diese historisch begründet sind und sich aus den karitativen Leistungen auch in der Gegenwart rechtfertigen lassen. Hilfreich ist die Rückbesinnung auf die Thesen von 1976: neu gesehen in den europäischen Horizonten, von EMRK und EU. Wegen der Modellvielfalt der Einzelstaaten ist vom Europäischen Verfassungsrecht her wohl nur das Trennungsmodell ggf. mit behutsamen Kooperationsformen je nach den nationalen kulturellen Kontexten geboten. Das deutsche „Staatskirchenrecht“ wird vom retrospektiven Begriff zum allgemeinen sich öffnenden freiheitlichen Religionsverfassungsrecht. Das alte (christliche) Staatskirchenrecht ist zu eng geworden, um dem neuen Pluralismus der offenen Gesellschaft gerecht zu werden. Die Herausforderungen kamen und kommen von der Gesellschaft her, die sich in der 1976 konzipierten Weise gewandelt verfasst: für und von allen Religionen. Auf der EU-Ebene steht das – offene – Europäische Religionsverfassungsrecht. Lessings „Nathan der Weise“ in Sachen Toleranz bleibt der Klassikertext. Mitmenschlichkeit, Integrationsanforderungen und -leistungen sind dank der Klassikertexte aus dem Reservoir des deutschen Idealismus zu bewältigen. Es geht nicht um „Vergrundrechtlichung“, dies wäre eine Verkürzung der kohärenten themenreichen Materie „Religionsverfassungsrecht“. Heute stehen zwei Fortschreibungen der Thesen von 1976 an: die Europäisierung des Religionsverfassungsrechts und der mögliche Erkenntnisgewinn dank weltweiter Verfassungsvergleichung, auch durch Erarbeitung des Ungleichen (abschreckende Gegenbeispiele sind der Gottesstaat in Saudi-Arabien und im Iran, hier eine „Republik des Koran“). Die Wissenschaft des Religionsverfassungsrechts hat große Aufgaben, so begrenzt ihre Möglichkeiten bleiben. Es geht darum, den Wandel der Gesellschaft (Migration, Vordringen des Islam, seine Diskriminierung der Frauen, Körperstrafen, seine Demokratieferne, im Westen freilich eine Krise der Kirchen, Kirchenaustritte) kongenial „aufzufangen“. Vor allem ist die christliche Ökumene zu stärken und der Dialog mit dem freilich sehr vielgestaltigen Islam auf vielen Feldern zu verbessern (z. B. durch Islamschulen und Lehrstühle für Islamwissenschaft)713. Die Öffnung der öffentlich-recht713  Zur Einführung einer islamischen Theologie an staatlichen Universitäten: C. Walter, Neue Religionskonflikte …, DVBl. a. a. O., S. 196 ff.; W. Bock (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht?, 2. Aufl. 2007; M. Heckel, Der Rechtsstatus des Religionsunterrichts im pluralistischen Verfassungssystem, 2002; ders., Religions­ unterricht für Muslime?, JZ 1999, S. 741 ff.; M. Ott, Ausbildung islamischer Reli­ gionslehrer und staatliches Recht, 2009; M. Rohe, Muslime in der Schule, BayVBl. 2010, S. 257 ff. Der Wissenschaftsrat empfiehlt als „Frankfurter Modell für den Reformislam“ (FAZ vom 7. April 2010, S. N 5), islamische Theologie angesichts der



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lichen Körperschaftsqualität für den (aufgeklärten?) Islam ist angesagt. Verlangt werden sollte moralisch und rechtlich freilich Gegenseitigkeit, d. h. effektive Religionsfreiheit für Christen in islamischen Staaten, vor allem des Orients und Nahen Ostens (Syrien, Ägypten). Auszubauen ist das dem Wort nach neue Postulat der Religionsfreundlichkeit714 des Verfassungsstaates – bei aller weltanschaulich-konfessioneller Neutralität. Hierher gehört vorweg eine Kritik an der populären Formel von E.-W. Böckenförde, wonach der Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht schaffen könne. Sie ist entweder banal oder falsch: letzteres, weil der Verfassungsstaat durchaus Grundwerte setzt und sie z. B. in der Form von Erziehungszielen in den Schulen lehrt; man denke auch an die Nationalsymbole wie Hymnen und Flaggen; zum anderen banal: alle Dinge dieser Welt beruhen auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen. Es geht nicht um eine „Vergrundrechtlichung“ des Staatskirchenrechts715 von der Religionsfreiheit her, sondern um ein weitgreifendes, viele Teilgebiete des Verfassungsrechts umgreifendes offenes Religionsverfassungsrecht: von den Gottesbezügen in Präambeln über die Eidesklauseln bis zum Feier­ tagsrecht, von der Religionsfreiheit bis zum Religionsunterricht in den Schulen bzw. Universitäten und der religiösen Erziehung der Kinder seitens der Eltern, vom Toleranzprinzip bis zur Förderung kirchlicher Einrichtungen etwa karitativer Art und dem Schutz religiöser Minderheiten. All dies lässt sich aus der hier unternommenen Textstufenarbeit gewinnen. bb) Insbesondere: Das Prinzip der „Religionsfreundlichkeit“ des Verfassungsstaates Das hier ins Zentrum gerückte Prinzip der Religionsfreundlichkeit fällt nicht „vom Himmel“. Es lehnt sich an parallele Wort- und Begriffsschöpreli­giösen Pluralisierung in Deutschland als Fach an deutschen Universitäten einzurichten. Aus der Lit.: L. Wick, Islam und Verfassungsstaat, 2009. 714  In der Tagespolitik spricht jüngst Bundesminister T. de Maizière von der Bundesrepublik als „religionsfreundlichem“ Staat (FAZ vom 8. Dezember 2010, S. 4). K. Naumann verwendet in der Fachliteratur den Begriff „Religionsfreundlichkeit“, a. a. O., S. 233; s. auch, ebd., S. 247, 252. Von einem „freundlichen Nebeneinander von Staat und Religion“ spricht bereits M. Brenner, Staat und Religion, VVDStRL 59 (2000), S. 264 (297 f.); von „wohlwollender“, „offener“ Neutralität K. Stern, a. a. O., S. 1221 f. Tendenziell wohl ähnlich S. Leutheusser-Schnarrenberger, Jeder Religion die gleiche Chance, FAZ vom 10. Februar 2011, S. 8. Von „Religionsfreundlichkeit der (deutschen) Rechtsordnung“ spricht auch schon H. M. Heinig, Zwischen Tradition und Transformation, ZEE 1999, S. 294 (296). 715  Dazu S. Korioth, Vom institutionellen Staatskirchenrecht zum grundrecht­ lichen Religionsverfassungsrecht?, FS Badura, 2004, S. 727 ff.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

fungen in Deutschland an: an die vom BVerfG früh konzipierte „Völkerrechtsfreundlichkeit“ (E 6, 309 (362 f.)) und an die in der Literatur 2001 / 02 vorgeschlagenen716, vom BVerfG später in seiner Lissabon-Entscheidung (2009) groß vorangestellte, aber nicht wirklich eingelöste „Europarechtsfreundlichkeit“ (E 123, 267 (347)). Beide Begriffe sind in einer Gesamtschau von GG-Präambel und einzelnen Artikeln des GG erarbeitet worden. Diese Methode empfiehlt sich auch für das Verfassungsprinzip „Religionsfreundlichkeit“. Dabei hilft es, die oben im weltweiten Vergleich aufbereiteten und hier systematisierten konstitutionellen Textmaterialien auszuwerten. Der erste Basistext für das Prinzip der Religionsfreundlichkeit ist in den Verfassungen, die in der Präambel einen oder wie in Kenia (2010) mehrere Gottesbezüge normieren, dieser. Denn Gottesklauseln (auch in freistellenden Eidesformeln) schaffen „Rückbindung“ im Sinne von Re-ligio, nehmen also (alle) Religionen (nicht etwa nur Kirchen) ernst. Dabei ist der Begriff „Glaubensfreiheit“ mit dem BVerfG weit auszulegen (E 12, 1 (3 f.); 32, 98 (106 ff.); 33, 23 (28 ff.); 41, 29 (51); 47, 46 (77); 52, 247 (251); 93, 1 (15 ff.); 108, 282 (297); 129, 208 (263)). Die Möglichkeit der Verwendung der religiösen Beteuerung in Amtseiden bzw. ihrer Unterlassung (dies schafft ein Stück Freiheit im Religionsverfassungsrecht wie die Alternative bei der Gottesanrufung in der Präambel Polens, Albaniens sowie in Fribourg) ist Ausdruck der Toleranz des kooperativen Verfassungsstaates auch gegenüber den Nichtreligionen. Speziell das GG ist durch die „Freiheitlichkeit des Religionsverfassungsrecht“ (BVerfGE 102, 370 (393)) gekennzeichnet. Polen hat (1997) pionierhaft in der Präambel die universal beste Lösung gefunden: ein Stück Freiheit in Sachen Gottesbezug (ebenso später Verf. Albanien von 1998 und KV Fribourg von 2004). Das nächste Fundament zur Begründung der verfassungstaatlichen Religionsfreundlichkeit ist die Religionsfreiheit. Sie findet sich, mit welchen Schranken auch immer, in wohl allen Verfassungen sowie universalen und regionalen Menschenrechtserklärungen. Heute Ausdruck der Menschenwürde – ein Beispiel universaler Rechtskultur –, gilt die Religionsfreiheit historisch seit G. Jellinek als „Urgrundrecht“ (1895). Um ihre Tiefendimension zu erfassen, darf man sich auf das Wort von Goethe berufen: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion, wer diese beiden nicht hat, der habe Religion.“ Damit ist Religion in den denkbar intensiven Kontext von Wissenschaft und Kunst gerückt. Diese drei Freiheiten und die dank ihnen von den Menschen geschaffenen „Ergebnisse“ als Erkenntnisse der Wissenschaft bzw. Werken der Kunst rücken der Religion und ihren Ausprägungen denkbar nahe. Vor allem wird erkennbar, dass sie zu den unentbehrlichen Quellen bzw. Ressourcen des Verfassungsstaates werden, weil sie dem Menschen 716  P.

Häberle, Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl. 2001 / 2002, S. 4, 608.



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die Suche nach „Sinn“ erleichtern717. Freiheiten werden hier als kulturelle an ihren Werken, wenn man will: „Ergebnissen“ erkennbar. Dies gilt auch für die europäische Ebene sowie darüber hinaus. Dogmatisch muss die so verstandene Religionsfreiheit in ihren verschiedenen Grundrechtsdimensionen gesehen werden: individuelle stehen neben objektivrechtlichen Gehalten (in Deutschland sind diese greifbar etwa im Schutz des kirchlichen Eigentums), individualrechtliche stehen neben der korporativen Dimension im Sinne des status corporativus718 (greifbar werden sie im Schutz der Religionsgemeinschaften, ihrer Vereinigungen, in gemeinsamen Feiern, in sonstigen gemeinsamen Lebensformen sowie im öffentlich-rechtlichen Körperschaftstatus.). Heute, in der Zeit neuer Christenverfolgungen im Irak, in Nigeria, im Sudan und zuletzt der Kopten in Ägypten und der unter Polizeischutz gestellten Weihnachtstage der Kopten in Deutschland (6. Januar 2011), ist es überdies die vom BVerfG allgemein entwickelte Schutzpflichtendimension (seit E 39, 1 (41 ff.)), jetzt in Sachen Religionsfreiheit, die auch und gerade dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat obliegt (zu ihm etwa BVerfGE 19, 206 (216); 93, 1 (17); 102, 370 (394); 108, 282 (299 ff.))719. Ein weiteres Begründungselement für Religionsfreiheit, selbst in Staaten, die Religion und Staat strikt trennen wollen, liefert die Toleranz720. Die Toleranz ist in Deutschland, wie gezeigt, oft als Erziehungsziel in Landesverfassungen festgelegt (Adressat ist hier der junge Bürger) und im Übrigen als allgemeines Verfassungsprinzip anerkannt (Adressat ist hier auch der Staat). Sie verlangt viel Engagement des Verfassungsstaates zu ihrem Schutz bis ins Strafrecht und ins Recht der Eidesleistung hinein, wo alternativ die Wege zur religiösen Eidesformel als Bekräftigung oder ihre Unterlassung eröffnet sind721. So sehr es angesichts der nationalen und globalen Religi717  Vgl. auch O. Depenheuer, Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft, Hommage à J. Isensee, 2002, S. 1 ff.; P. Kirchhof, Die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher Beitrag zu einem freien Gemeinwesen, Essener Gespräche 39 (2005), S. 106 ff.; H. Maier, Dienste der Kirche am Staat, Essener Gespräche 25 (1991), S. 5 ff. 718  Dazu meine Thesen in: Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2, 3. Aufl. 1983, S.  376 ff. 719  Aus der Lit.: W. Brugger u. a. (Hrsg.), Der Staat und das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 1998; S. Huster, Der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 2004. 720  Aus der Lit. zuletzt: C. Enders u. a. (Hrsg.), Identität und Toleranz, 2010, und hierin besonders die Beiträge von C. Enders und M. Kotzur, S. 213 ff. bzw. 219 ff.; A. Debus, Das Verfassungsprinzip der Toleranz unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG, 1999; F. Forst, Toleranz im Konflikt, 2003. Vgl. BVerfGE 12, 1 (3), 296 (306); 32, 98 (106, 108); 33, 23 (32); 93, 1 (23); zuletzt E 108, 282 (301 f.).

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onskonflikte heute viel Intoleranz gibt, so intensiv muss der Verfassungsstaat besorgt sein, Toleranz praktisch herzustellen – das dient gerade der Religionsfreiheit Vieler, sogar der Freiheit der Religionsgegner. So paradox es klingen mag: Das Verfassungsprinzip der (aktiven) Toleranz erfordert viel religionsfreundliches Engagement eben dieses kooperativen Verfassungsstaates (Friedensgebot) – so wie von den Religionen (auch den polytheistischen und Nichtreligionen) wechselseitig Frieden, Toleranz und Humanität (Menschenrechte!) zu erwarten sind und ihre Absolutheits- und Wahrheitsansprüche im Zusammenleben nicht dem Toleranzgebot zuwiderlaufen dürfen. Es geht um friedliche Koexistenz aller Religionen (Präambel Verf. Angola von 2010 spricht vorbildlich für die Welt von „Kultur der Toleranz“). 721

Bei all dem ist zu bedenken: Mit der Normierung von freiheitlichem Religionsverfassungsrecht im Ganzen und in einzelnen Elementen grundiert der Verfassungsstaat sich selbst: in und aus Kultur. Es öffnen sich Quellen und Ressourcen, auf denen ein politisches Gemeinwesen aufbauen kann, ja muss. Die dank der Wissenschaftsfreiheit gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die dank der Kunstfreiheit kreierte und allseits erlebbar gewordene Kunst und die dank der Religionsfreiheit als letzter und erster kultureller Freiheit ermöglichte Rückbindung des einzelnen Menschen an über- und vorstaatliche, an übernatürliche, naturrechtliche Instanzen der Transzendenz liefern den „Stoff “, aus dem dann Recht und Verfassungsstaat, Wahrheitssuche und Verantwortung, Gerechtigkeit und friedliches Zusammenleben aller in einem politischem Gemeinwesen und auch in Europa und der Welt im Ganzen erwachsen können. Religionsfreundlichkeit, Religionsoffenheit des auf seiner heutigen Entwicklungsstufe verstandenen Verfassungsstaates erweist sich historisch wie theoretisch als sein freiheitliches Kernstück – unabhängig von allen konkreten Modellen der unterschiedlichen nationalen Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion. Nur der „Gottesstaat“ (Saudi-Arabien, Iran) einerseits und der atheistische Staat (China) andererseits sind die sich als Extreme berührenden Antipoden und Gegenwelten eines religionsfreundlichen, mit dem Pluralismus ernst machenden Verfassungsstaates, wobei es viele Abstufungen von Religionsfreundlichkeit in Raum und Zeit gibt. Die Schaffung von durchgängig freiheitlichem – offenem – Religionsverfassungsrecht722 auf vielen 721  Zu den hier offenbar werdenden Gottesbezügen, die ein Stück Religionsverfassungsrecht sind, mein Beitrag „Gott“ im Verfassungsstaat?, in: FS Zeidler 1987, S. 3 ff. – Freilich ist daran zu erinnern, dass der überaus friedliche Buddhismus eine Religion ohne persönlichen Gott ist. 722  Zum Postulat der Offenheit des Religionsverfassungsrecht (in Bezug auf die Schweiz) schon der Verf., Neuere Verfassungen, a. a. O., JöR 34 (1985), S. 303 (402 f.).



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Kontinenten, ja auf der ganzen Welt723, braucht noch viel Zeit, vielleicht Jahrhunderte724. Es könnte, völkerrechtlich unterstützt, Weltrechtskultur werden. 4. Feiertage / Sonntage a) Feiertage aa) Problem Feiertagsgarantien gehören zu einer oft vernachlässigten „Schicht“ von Verfassungsnormen, die ins Zentrum der kulturellen Identität des jeweiligen Verfassungsstaates und des Verfassungsstaates als Typus reichen. Sie stammen aus dem „Stoff “, aus dem mitunter auch (zunächst nur) „Träume“ – etwa in Sachen „deutsche Einheit“, die 1990 Realität geworden ist – oder Tage zur Erinnerung an die nationale Unabhängigkeit wie oft in Lateinamerika und Afrika, vor allem aber Grundwerte sind (bzw. waren), die neben der ratio die emotio des Menschen und Bürgers im Verfassungsstaat „ansprechen“: Hymnen, Flaggen725, Erziehungsziele wie „Liebe zu Volk und Heimat“ (z. B. Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz (1947)) oder „Völkerversöhnung“ (z. B. Art. 25 Abs. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen) sowie Denkmale. National-Hymnen bedeuten wie National- bzw. Feiertage ein Stück kollek723  Aus der Lit.: D. Ottenberg, Der Schutz der Religionsfreiheit im internationalem Recht, 2009; H. Weber, Die Religionsfreiheit im nationalen und internationalen Verständnis, ZevKR 45 (2000), S. 109 ff. 724  Aus der jüngsten, seit der Fertigstellung dieses Abschnitt, erschienenen Literatur: H. M. Heinig, Eigenwert des Religionsverfassungsrecht, in: T. Vesting / S. Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S. 221 ff.; C. Walter, Religiöse Symbole in der öffentlichen Schule …, EuGRZ 2011, S. 673 ff.; B. Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Religionsfreiheit im Verfassungsstaat, 2011; R. Streinz, Wie hast du’s mit der Religion?, FS Fiedler, 2011, S. 703 ff.; C. Enders, Verbot ritueller Gebete auf dem Schulgelände, JZ 2012, S. 363 ff. 725  Aus der Literatur vgl. R. Smend, Art. Integrationslehre (1956), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010. S. 475 (477): „Daher ist hier (sc. bei der sachlichen Integration) z. B. der systematische Ort für die Theorie der Symbole des politischen Wertganzen, Fahnen, Wappen, Staatshäupter, politische Zeremonien, nationale Feste, die die Totalität des staatlichen Sinngehalts erfaßbar und dem Erlebnis zugänglich machen. Zu „Staatssymbolen“ zuletzt: P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S. 352 ff.; speziell: P. Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987, fortgeschrieben in: ders., Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl., 2006, S. 107 ff. – Neues konstitutionelles Textmaterial zu Flaggenartikeln: Art. 3 Abs. 1 Verf. Sierra Leone von 1991; Art. 5 Verf. Südafrika von 1996; Art. 8 Verf. Venezuela von 1999; Art. 1 Abs. 4 Verf. Senegal von 2001; Art. 6 Abs. 3 Verf. Ruanda von 2003; Art. 6 Verf. Kosovo von 2006; Art. 6 Abs. 2 Verf. Bolivien von 2007; Art. 2 Verf. Ecuador von 2008. In Asien: Art. 19 Verf. Afghanistan von 2004; Art. 12 Verf. Irak von 2005.

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tiver Erinnerung eines Volkes, wobei sich ein Wandel vollziehen kann: Kaum ein Franzose denkt bei der „Marseillaise“ heute noch an ihren blutrünstigen Inhalt. Solche eher „emotionalen Konsensquellen“ dürfen neben den eher rationalen (wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie) nicht unterschätzt werden – schon die positiven Verfassungstexte schließen dies aus. In Feiertagsgarantien spiegelt sich ein Stück Selbstverständnis des nationalen Verfassungsstaates, aber auch ein Teil des „Bildes“, das sich seine Bürger von ihm und das er sich von seinen Bürgern machen darf und soll. Erst der kulturwissenschaftliche Ansatz vermag Möglichkeiten und Grenzen von Feiertagen im Verfassungsstaat auszuleuchten, der staatsrechtliche Positivismus bleibt ihnen gegenüber eher ratlos. In einem tieferen und weiteren Sinne sind alle lebenden Feiertage „Verfassungstage“ – weil sie jeweils unterschiedliche Elemente des ganzen Verfassungsstaates ins Bewusstsein rücken wollen. Die universale Verfassungslehre hat hier ein wohl unverzichtbares Thema, trotz der rechtskulturellen Partikularität des Themas. bb) Feiertagsgarantien als Ausdruck der – geschichtlich geglückten – Integrierung von Bevölkerungsteilen in den Verfassungsstaat Feiertagsgarantien können Ausdruck der gelungenen oder doch erhofften Integrierung einer Bevölkerungsgruppe in das gesamte Volk sein: Beispiele bilden im Blick auf die Arbeiterschaft die Garantien zum 1. Mai, wobei gelegentlich große Ziele, die die verfassungsstaatliche Verfassung auch sonst prägen (z. B. als allgemeines Staatsziel oder spezielles Erziehungsziel), hinzugefügt sind. Repräsentativ wirkt hier Art. 3 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (1953): „Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag. Er gilt dem Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Völker­ver­ ständigung“726 – ein Beispiel für Völkerrecht im Verfassungsstaat! Das wohl eindrucksvollste und zugleich jüngste Beispiel für diesen Typus bildet der neue Feiertag, den die USA zu Ehren des Bürgerrechtlers Martin Luther King, erstmals 1986, geschaffen haben. Mag dies auch nicht in Gestalt einer formellen Verfassungsänderung („amendment“) geschehen sein: in der Sache handelt es sich um materielles Verfassungsrecht. Der neue Feiertag bzw. Martin Luther King-Tag ist der symbolische Abschluss eines langen 726  Festlegung des „Nationalfeiertages“ z.  B. in Art. 3 Verf. Togo (1992) und Art. 2 Verf. Gabun (1994). – Neues konstitutionelles Textmaterial zur Festlegung der Hauptstadt: Art. 1 Abs. 3 Verf. Niger von 1992; Art. 2 Verf. Senegal von 2001; Art. 4 Verf. Ruanda von 2003; Art. 21 Verf. Afghanistan von 2004; Art. 2 Abs. 3 Verf. Demokratische Republik Kongo von 2005; Art. 9 Verf. Serbien von 2006; Art. 6 Abs. 1 Verf. Bolivien von 2007; Art. 13 Verf. Kosovo von 2008; Art. 1 Ziff. 7 Verf. Bhutan von 2008; Art. F Abs. 1 Verf. Ungarn von 2012.



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht681

Kampfes der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Gleichstellung und Integrierung der „Farbigen“. Wenn der große Verfassungsstaat USA den Geburtstag dieses Repräsentanten des gewaltlosen Widerstandes ebenso wie zuvor nur für G. Washington als Feiertag anerkennt, so bedeutet dies viel: der Januar-Tag wird zu einer Art „Verfassungstag“; er ist das Forum, auf dem sich alle Bürger der USA als Freie und Gleiche ideell treffen. Der Martin Luther King-Tag bedeutet einerseits eine historische „Erinnerung“ an diesen großen Bürger, aber zugleich die Vergegenwärtigung von zukünftigen Aufgaben: auf dem „ewigen Weg“ zum Abbau etwa noch vorhandener gesellschaftlicher Rassendiskriminierung. Art. 9 Verf. Kenia von 2010 formuliert besonders eindrucksvoll drei „Nationaltage“ im Kontext der anderen nationalen Symbole wie Flagge, Hymne, Wappen und Siegel (Kulturverfassungsrecht). Eine nur positivistisch betriebene Staatsrechtslehre kann diese Zusammenhänge und Tiefendimensionen nicht erschließen. Die symbolhafte, integrierende, den Bürgern Identifikation ermöglichende Kraft von Feiertags­ garantien vermag nur die kulturwissenschaftlich arbeitende vergleichende Verfassungslehre aufzudecken. Vergleicht man die erklärten Feiertagsziele deutscher Länderverfassungen nach 1945 (vor allem Baden-Württembergs, Bremens und Hessens) untereinander und mit anderen Aussagen ihrer Texte, so ergeben sich überraschende Zusammenhänge: „soziale Gerechtigkeit“, „Frieden“, „Freiheit“, „Völkerverständigung“ sind „Verfassungsziele“, die in den Texten auch an anderen Stellen als grundlegend ausgewiesen werden: vor allem als Staatsziel oder als Erziehungsziel. So finden sich in Art. 12 Verf. Baden-Württemberg das Erziehungsziel „Brüderlichkeit aller Menschen und Friedensliebe“, auch „freiheitliche demokratische Gesinnung“, in Art. 26 Verf. Bremen der „Wille zu sozialer Gerechtigkeit“ und „zur friedlichen Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern“ ebd. als „Staatsziele“ in Art. 65 („soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung“), und Art. 56 Verf. Hessen postuliert als Erziehungsziel den „selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit“. „Völkerverständigung“ ist als Verfassungsziel in Art. 69 ebd. normiert. All dies könnte ein Mosaikstein im Rahmen einer universalen Verfassungslehre werden, an der auch die Völkerrechtswissenschaft mitarbeiten muss. In all dem zeigt sich, dass manche Feiertagsgarantien aus verfassungsrechtlichem „Grundstoff “ gewebt sind. Wenn der nationale Verfassungsstaat „feiert“ bzw. feiern „lässt“, so im Dienst bestimmter Ziele. Und diese Ziele sind grundlegender Art – nur so kann die Ausnahme vom normalen Arbeitsund Lebensgang, der Feier-Tag – legitimiert werden. Die Geschichte des 1. Mai zeigt aber auch, wie der ursprünglich nur einem Teil des Volkes „gehörende“ – oft blutige – Kampf-Tag zum – friedlich gewordenen – Tag aller Bürger „umgedacht“ wurde: Er bezeugt und bekräftigt die Integrierung

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5. Kap.: Einzelausprägungen

der (deutschen) Arbeiterschaft in den kooperativen Verfassungsstaat im Zeichen großer Ideen. Sie bilden wohl schon ein Stück des universalen Konstitutionalismus: heute vielleicht erst noch ein Projekt, später vielleicht ein Stück „Welt­literatur“ i. S. von Goethe. Speziell der „1. Mai“, in deutschen Länderverfassungen oft ausdrücklich festgelegt (z. B. Art. 32 Verf. Hessen von 1946, Art. 174 Abs. 2 Verf. Bayern von 1946, Art. 35 Abs. 1 Verf. Berlin von 1995), ist sowohl ein Stück „Arbeitsverfassungsrecht“: materiell, weil er der Arbeiterschaft ermöglicht, sich in der Verfassung mit „ihrem“ Tag wiederzufinden, formell, weil er als gesetzlicher Feiertag „Arbeitsruhe“ unter Fortbestehen des Lohnanspruchs gewährt. Er bildet zugleich ein Stück Kulturverfassungsrecht: weil er Verfassung und Kultur spezifisch verbindet: „Arbeitsruhe“ eröffnet die Möglichkeit, die sinnstiftende Seite der Arbeit zu erkennen, zugleich sich anderen kulturellen Tätigkeiten zuzuwenden (vgl. auch BVerfGE 125, 39). Arbeit und Freizeit sind gleichermaßen ein Stück Kultur, darum auch das sie ausgestaltende Recht. cc) Das Beispiel „Osteuropa“ Ein Wort zu der Bedeutung von Symbolen wie Flaggen, Wappen und Hymnen in Osteuropa: Der Aufbruch und Umbruch in Osteuropa (1989) wurde von Anfang an vom Wechsel der Staatssymbole begleitet. Waren sie im Marxismus-Leninismus von oben oktroyiert, buchstäblich „aufgepflanzt“, als sozialistische „Zeichen“ in Hammer und Sichel, roten Sternen u. ä., in bestimmten neuen Feiertagen der Machtergreifung oder umfunktionierten klassischen Feiertagen wie dem 1. Mai greifbar, so wurden sie beim Übergang zum Verfassungsstaat jetzt meist von Anfang an geändert: oft durch Rückgriff auf die unterdrückte Verfassungsgeschichte der jeweiligen osteuropäischen Nation. Auch und besonders in pluralistischen Demokratien bedarf es der Staatssymbole als kulturellen Identitätselementen des Verfassungsstaates; selbst und gerade in offenen Gesellschaften braucht der Bürger in und für sein politisches Gemeinwesen konsensstiftende IdentifizierungsZeichen bzw. Bekenntnis-Artikel. R. Smends Integrationstheorie727 liefert die bis heute gültigen Stichworte. Symbole sollen das Geschehene den Zeitgenossen sinn- und augenfällig machen und es dem „kollektiven Gedächtnis“ der Nachwelt überliefern. Sie sagen oft mehr über den „Geist“ eines Volkes aus als manche Rechtsnormen. So werden Feiertage verkündet, Denkmäler errichtet, Straßen benannt, Flaggen geschaffen und gegrüßt, Hymnen gesungen. So wird Geschichte verarbeitet und Zukunft gewagt. 727  R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. 2010, S. 119 (170).



XIII. Präambeln, Gottesbezüge, Religionsverfassungsrecht683

Symbole der genannten Art bilden ein Element des universalen Konstitu­ tionalismus als Projekt. Jeder Verfassungsstaat braucht „Erinnerungskultur“. Hier die Beispiele aus den jüngsten Entwicklungen; sie belegen, dass der Sturz der Staatssymbole den juristischen Detailnormierungen meist vorausgeht – so groß ist die zeichensetzende Kraft dieser Symbole. Und es ist kein Zufall, dass die verfassungsstaatlichen Verfassungsurkunden den Symbolen oft einen vorderen Platz in den Grundlagen-Artikeln einräumen (z. B. Art. 3 WRV von 1919; Art. 5 (alte) Verf. Venezuela von 1961; Art. 11 Verf. Portugal von 1976; Art. 4 Verf. Spanien von 1978; Art. 2 Abs. 2 und 3 Verf. Frankreich von 1958; Art. 1 Abs. 2 und 3 Verf. Bayern von 1946; Art. 28 Verf. Polen von 1997; Art. 1 Verf. Elfenbeinküste von 1995; Art. 4 Verf. Madagaskar von 1995; Art. 9 Verf. Kenia von 2010; Art. 6 Verf. Bolivien von 2007; Art. 2 Verf. Ecuador von 2008; Art. 18 neue Verf. Angola von 2010; Art. I Abs. 1 bis 3 Verf. Ungarn von 2012) – fast weltweit. Polen hat 1990 erstmals wieder seinen nationalen Feier- und Verfassungstag am 3. Mai im Blick auf seine erste Verfassung von 1791 begangen. Zum Jahreswechsel 1989 / 90 erhielt in Polen der weiße Adler im polnischen Nationalwappen seine Krone zurück728. Auch wird die „Republik Polen“ in Verfassungsänderungen als „demokratischer Rechtsstaat“ definiert, der sich von gesellschaftlicher Gerechtigkeit leiten lässt. Die regenerierte bzw. teilrevidierte (alte) Verfassung Ungarns von 1949 / 89, eine Übergangs- und eher Verlegenheitslösung, regelt in Kap. XIV die Hauptstadt und die nationalen Symbole der Republik Ungarn: die Nationalhymne (Art. 75). In Art. 76 heißt es: „Staatswappen und Nationalfahne der Republik Ungarn sowie der Gebrauch dieser Nationalsymbole regelt ein Gesetz mit verfassungsrecht­lichem Inhalt“. In dem Formerfordernis „Verfassungsgesetz“ kommt die Wichtigkeit des Gegenstands zum Ausdruck. Am 2. Mai 1990 verabschiedet das ungarische Parlament eine Entschließung, in der der Volksaufstand von 1956 als revolutionärer Freiheitskampf gewürdigt wird. Der 23. Oktober, Jahrestag des Ausbruchs der Revolution, soll künftig ein Feiertag sein. Wenn Ungarn noch vor kurzem drei Wappen zusammenfügen wollte – das „Kossuth-Wappen“ (1848 / 49), das sozialistische Emblem (1948) und das „Kronen-Wappen“ (Königreich Ungarn bis 1945) –, so rang und ringt es hier um eine Aussöhnung mit sich und seinen wechselvollen verfassungsgeschichtlichen Perioden: im Wege einer „produktiven Rezeption“, die an sein kulturelles Erbe anknüpft. Die neue Verfassung Ungarns (2012) ist schon in der Präambel einschlägig (s. auch Art. J). Im revolutionären Libyen von 2011 haben die Aufständischen die alte Nationalflagge aus der Zeit von König Idris I. wieder zurückgeholt (dazu unten Exkurs III.). Jetzt ein Wort zum Sonntag: 728  Vgl.

jetzt Art. 28 Abs. 1 Verf. Polen aus dem Jahre 1997.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

b) Sonntage und Sonntagskultur im Verfassungsstaat, Sonntagsverhalten in der Freizeitgesellschaft, Sonntagswirklichkeit Der Sonntag verlangt eine von den Feiertagen gesonderte Behandlung. So häufig sie in einer „Doppelgarantie“ zusammengebunden sind, der Unterschied bleibt: Der „Sonntag“ ist weit mehr als ein Jahrtausend alt. Weder die Französische Revolution von 1789 und die russische Oktoberrevolution von 1917729, noch Mao Tse-tung in China konnten ihn abschaffen oder verdrängen. Fast weltweit behauptet er sich als universale Rechtskultur. Im Einzelnen zu Sonntagen und Sonntagskultur im Verfassungsstaat: Die klassische Gestalt begegnet in Art. 139 WRV mit der doppelten Ausrichtung auf „Arbeitsruhe“ und „seelische Erhebung“. Dogmatisch ist sie (1) eine „institutionelle Garantie“ (C. Schmitt) und damit in ihrem Wesensgehalt gegenüber allen staatlichen Funktionen geschützt (anders die gesetzlich relativierbaren „offenen“ Feiertagsgarantien); (2) ist der Sonntagsgarantie ein an den Staat gerichteter Schutzauftrag zu entnehmen! Das einfache Recht gibt all dem weitere Konturen in den Stichworten: grundsätzlich keine „öffentlich bemerkbaren Arbeiten“, Schutz des Gottesdienstes der Gläubigen in Gestalt von bestimmten Verboten im Rahmen kollektiver Arbeitsruhe und einer an diesem Tag auf allgemeine „Ruhe“ strukturierten Öffentlichkeit, aber Raum für ganz unterschiedliches Freizeitverhalten der Bürger und Gruppen, kurz der pluralistischen Öffentlichkeit. In nicht allein positivrechtlich faßbarer, sondern vertieft kulturwissenschaftlich greifbarer Weise sind es folgende verfassungshohe Grundwerte, die den Sonntag zum vielzitierten „Kulturgut“ oder „Verfassungsgut“ machen: Strukturierung sowohl des menschlichen Alleinseins als auch des menschlichen Miteinander im 7-TageRhythmus durch kollektive Arbeitsruhe, damit Spannung / Entspannung, Arbeit / Freizeit bzw. Verpflichtung  / Muße und damit Öffnung zu: (freiwillig wahrgenommenen) Grundwerten / Grundrechten wie Ehe und Familie, Nachbarschaft und Verein, Freundschaft und Versammlungen, Religion, Wissenschaft und Kunst, als Beispiele einer grundsätzlichen Möglichkeit zur „seelischen Erhebung“ (insofern „Angebotscharakter“ des Sonntags). In islamischen Ländern tritt an die Stelle des (christlichen) Sonntags der Freitag; an den „jüdischen Sabbat“ sei erinnert. Eine universale Verfassungslehre als völkerrechtsorientiertes Projekt muss solche Unterschiede angemessen verarbeiten und differenzieren.

729  Aus der Lit.: P. Kunig, Der Schutz des Sonntages im verfassungsrechtlichen Wandel, 1989; P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1989 (2. Aufl., 2006). – Aus der Judikatur des BVerfG zuletzt E 125, 39.



XIV. Schutz der Verfassung685

XIV. Schutz der Verfassung In der pluralistischen Bürgerdemokratie sind alle Bürger „Hüter“ der Verfassung. Was ältere Staatslehren einem Präsidenten oder neuere dem Verfassungsgericht als Privileg bzw. Prädikat allein zusprechen, ist aus der Sicht der weltweit vergleichenden Verfassungslehre der heutigen Entwicklungsstufe nicht mehr das Monopol einer einzigen Gewalt oder Person, sondern Sache aller: Alle Bürger und Gruppen, die z. B. Verfassungsbeschwerde einlegen oder als Abgeordnete organschaftlich vor dem BVerfG auftreten (z. B. derzeit in Sachen ESM und Fiskalpakt, 2012), alle staatlichen Organe, die an die Verfassung gebunden sind, haben im Rahmen ihrer Kompetenzen die Verfassung zu „hüten“, und nicht nur das: auch weiterzuentwickeln! – gibt es auch hierzu eine Vielzahl von formalisierten Kompetenzen und Verfahren, Einrichtungen und Instrumenten, die dem Schutz der Verfassung dienen. Das „Arsenal“ an Vorkehrungen zum Schutz der Verfassung in Raum und Zeit rechtsvergleichend betrachtet, ist höchst reichhaltig: Je nach unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen, auch „Ängsten“, regelt eine na­ tionale Verfassung den Problembereich „Schutz der Verfassung“ besonders intensiv und extensiv (so das Bonner Grundgesetz von 1949 nach den negativen Erfahrungen mit den generalklauselartigen Notstandsartikeln der Weimarer Reichsverfassung bzw. der „Diktaturgewalt“ des Reichspräsidenten und den Feinden von links oder rechts) oder nur am Rande bzw. überhaupt nicht (so die Schweiz). Das deutsche Grundgesetz ist besonders erfinderisch, wenn es um den Schutz der Verfassung geht. Vielleicht lässt sich sogar sagen, dass es nahezu alle denkbaren Instrumente potentiell und aktuell bereit hält, um die Verfassung zu schützen. Bei allem Perfektionismus dieser guten Absichten muss aber daran erinnert werden, dass „letztlich“ eine Verfassung nur politisch bzw. in der Tiefe kulturell geschützt werden kann; die rechtlichen Instrumente bleiben zwar wichtig, aber sie greifen letztlich nur, wenn alle den „Willen zur Verfassung“ haben und diese auf Dauer normative Kraft (K. Hesse) entfaltet. Das deutet auf „Grenzen“ des juristischen Schutzes der Verfassung hin. Auch unter diesem Vorbehalt kann, ja sollte jeder nationale Verfassunggeber aus der Fülle denkbarer Regelungen die für die politische Kultur eines Volkes, seiner Erfahrungen und Hoffnungen relativ beste Problemlösung auswählen. Denkbar sind730, weltweit betrachtet: – Der Schutz des „Wesensgehalts“ bzw. „Kerngehalts“ der Grundrechte in einer ausdrücklichen Garantie (so Art. 19 Abs. 2 GG von 1949, Art. 28 Kantonsverfassung Bern von 1993, Art. 31 Abs. 3 S. 2 Verf. Polen von 730  Eine vorbildliche Aufzählung der „Grundwerte der Verfassungsordnung“ findet sich in Art. 8 Verf. Mazedonien von 1991.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

1997, Art. 36 Abs. 4 nBV Schweiz von 1999, Art. 38 Abs. 4 KV Fribourg von 2004, Art. 52 Abs. 1 Europäische Grundrechte-Charta von 2007, Art. 18 Abs. 2 Serbien von 2006, Art. 55 Abs. 4 Verf. Kosovo von 2008, Art. 24 Abs. 2 (c) Verf. Kenia von 2010, Art. 57 Abs. 2 Verf. Angola von 2010); mitunter haben Gerichtshöfe ungeschriebene Wesensgehaltklauseln entwickelt (so der österreichische Verfassungsgerichtshof oder auf der EG-Ebene der EuGH731). – Das Verbot von Verfassungsdurchbrechungen (vgl. Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG); es ist ebenfalls der Versuch, negative Weimarer Erfahrungen zu verarbeiten; die Verfassungspraxis zum Grundgesetz hat jedoch in Gestalt von Art. 79 Abs. 1 S. 2 fragwürdige Ausnahmen durchgesetzt732. In Österreich ist die Verfassung wegen fehlenden Verbots der Verfas­ ­ sungsdurchbrechung bis zur vielzitierten „Ruine“ verunstaltet (H. R. Klecatsky).733 – Die Begrenzung von Verfassungsänderungen: sog. „Ewigkeitsklauseln“ als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG); diese Klauseln setzten sich in neueren Verfassungen immer mehr durch734, in der WRV fehlte sie noch. Reiche Kataloge stehen z. B. in Art. 288 Verf. Portugal; bald ist nur die Staatsform der Republik geschützt (so in Afrika: Art. 142 Verf. Madagaskar von 1992), bald sind mehrere Verfassungsprinzipien, eben ihre wesentlichen, gegen den verfassungsändernden Gesetzgeber geschützt (z. B. Art. 118 Verf. Mali von 1992, Art. 225 Verf. Tschad von 1996). In der Schweiz sind „Ewigkeitsklauseln“ weder auf Bundes- noch auf Kantonsebene positives Recht, gleichwohl beschäftigt sich ihre Literatur intensiv mit ihnen735. Sie bleiben ein Thema für die universale Verfassungslehre. – Die Begrenzung der Verfassunggebung: für den „Real“- bzw. „Machtpolitiker“ mag sie kein Thema sein, auch für die fragwürdige Lehre, nach der der Verfassunggeber „normativ aus dem Nichts“ entscheidet („Dezisionismus“), stellt sich die Frage nach Grenzen für den doch „allmächti731  P. Häberle, Die Wesengehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S.  264 ff. bzw. 266 ff.; T. Öhlinger, a. a. O., S.  314.; A. Gamper, Staat und Verfassung, 2. Aufl., 2010, S. 242 f. – In der deutschen Lit. differenzierend: L. Michael /  M. Morlok, Grundrechte, 3. Aufl., 2012, § 3 Rdn. 20. 732  Kritisch dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 291 f. 733  Zum B-VG als „Torso“: T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl., 2009, S. 52; ebd., auch zum gescheiterten „Österreich-Konvent“. 734  Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2.  Aufl. 1998, S.  267 ff. 735  J. P. Müller, Materiale Schranken der Verfassungsrevision?, FS Haug, 1986, S.  195 ff.; P. Häberle, ebd., S. 81 ff.



XIV. Schutz der Verfassung687

gen“ Verfassunggeber nicht. Anders aber im Verfassungsstaat der vergleichenden Verfassungslehre. In ihm gibt es Grenzen, die aus seinem Typus folgen: Menschenwürde und Menschenrechte, Demokratie und Gewaltenteilung sind (oft schon in der Präambel anklingend) „ideelle“ Vorgaben, deren Nichteinhaltung dazu führt, dass von „Verfassungsstaat“ nicht mehr die Rede sein kann. In der Schweiz dürfte auch der Föderalismus eine „immanente Grenze“ für jeden nationalen Verfassunggeber bilden. Im sich einenden Europa ist die Zugehörigkeit zu diesem Europa, in welcher technischen Form (Europarat oder EU) auch immer, eine Grenze nationaler Verfassunggebung. Bei den „Bedingungen“, die der Europarat in den 90er Jahren etwa in Sachen Minderheitenschutz in osteuropäischen Reformstaaten stellt (z. B. Estland und Ungarn), handelt es sich ebenfalls um Grenzen; anders gesagt: Der Europarat, besonders aber die EU wirken gegenüber beitrittswilligen Ländern praktisch als „mittelbarer Verfas­ sung­geber“736. Umgekehrt versucht das GG durch die sog. Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 mittelbar auf die europäische Einigung einzuwirken, was dem BVerfG mit seiner „Solange“-Rechtsprechung gelungen war (E 37, 271 und 73, 339). Im Ganzen sind, abgesehen von den erwähnten typusgerechten Grenzen, in der Tiefe der Verfassungskultur einer Nation letzte Determinanten zu suchen, die ihren Verfassunggebern vorgegeben sind, selbst wenn sie juristisch nicht formulierbar sein sollten. So wie das Verständnis der Verfassunggebung sich im Textstufenprozess, vergleichend betrachtet, wandelt, insofern z. B. nicht mehr „die Nation“ oder „das Volk“ sich eine Verfassung „gibt“, sondern die „Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg“ (so seine Präambel Verf. von 1992), so hat der Typus Verfassungsstaat begonnen, den „wilden“, „urhaften“, explosionsartig bei „Null“ beginnend gedachten Vorgang der Verfassunggebung zu „institutionalisieren“ und zu „konstitutionalisieren“. Weltweit bestes Beispiel sind die schweizerischen Kantonsverfassungen, die an das Verfahren der Verfassunggebung bestimmte Mindestanforderungen stellen (z. B. früh §§ 121 bis 125 Verf. Aargau von 1980737). Auch die Verfassung Brandenburgs (1992) errichtet als bisher einzige in Deutschland genau umschriebene prozessuale Hürden für eine neue Landesverfassung (Art. 115: u. a. Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung, Zustimmung durch Volksentscheid der Mehrheit der Abstimmenden). In Südafrika sind in der Übergangsverfassung von 1993 Bedingungen („General Principles“) für die neue (end736  Ausdrücklich normiert in Art. 6 Abs. 1 i.  V. m. 49 EUV (Amsterdam bzw. jetzt Art. 6 EUV i. V. m. Art. 49 EUV – Lissabon). 737  Weitere Beispiele: Art. 101 KV Graubünden von 2003; Art. 441 bis 444 Verf. Ecuador von 2008; Art. 347 bis 350 Verf. Venezuela von 1999; Art. 411 Verf. Bolivien von 2007.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

gültige) Verfassung von 1996 festgelegt worden, deren Einhaltung sogar 1997 vom dortigen Verfassungsgericht überprüft worden ist – der wohl weltweit einzigartige, positivrechtlich geforderte Beteiligungsvorgang eines Verfassungsgerichts an der Verfassunggebung und ein Beweis für die Erfolgsgeschichte der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit, fast weltweit. Das Thema „Grenzen der Verfassunggebung“ ist also längst nicht mehr nur „platonischer“ Natur oder bloß theoretische Spielerei738. – Die Sicherungen der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ sind eine besondere Errungenschaft des Bonner Grundgesetzes, das im Zeichen der sog. „streitbaren“ bzw. „abwehrbereiten“ wertgebundenen Demokratie die Verfassung gegen möglichst früh erkannte Gegner („Verfassungsfeinde“) schützen will, wobei freilich die Gefahr besteht, dass herrschende Gruppierungen missliebige Oppositionsgruppen als „verfassungsfeindlich“ ausschalten wollen, obwohl sie – im Rahmen der Verfassung – nur ihre, insbesonders durch die Grundrechte geschützten Oppositionsrechte ausnutzen. Für äußerste Fälle hat das deutsche Grundgesetz zwei Verbotsmöglichkeiten geschaffen, die auf Antrag vom BVerfG konstitutiv entschieden werden: die sog. „Verwirkung“ von Grundrechten nach Art. 18 GG und das Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG. Nach Art. 18 verwirkt derjenige Grundrechte, die er wie die Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit oder das Asylrecht zum „Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung mißbraucht“. Nur in wenigen Fällen ist Art. 18 GG bisher praktisch geworden. Anders steht es um das Parteiverbot gemäß Art. 21 Abs. 2 GG. Danach sind „Parteien, die nach ihren Zielen oder des Verhaltens ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, verfassungswidrig“. Gegen die rechtsradikale „Sozialistische Reichspartei“ bzw. die „Kommunistische Partei Deutschlands“ hat das BVerfG 1952 bzw. 1956 kraft des Parteienprivilegs in zwei großen Entscheidungen (E 2, 1 bzw. E 5, 85) ein – konstitutives – Verbot ausgesprochen und dabei tiefdringende Ausführungen zur „freiheitlichen Demokratie“ und zur „streitbaren Demokratie“ gemacht („process of trial and error“, „Synthese zwischen dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen politischen Auffassungen und dem Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten der Staatsordnung“: E 5, 85 (135 bzw. 139)). Was in anderen Ländern allein über das politische Strafrecht oder allein über die öffentliche Meinung sanktioniert werden kann, sucht das deutsche GG juristisch zu be738  Aus der Lit.: H. Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2008; K.-E. Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999. Aus der Lit. zu Art. 146 GG: P. M. Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl., 2009, Art. 146.



XIV. Schutz der Verfassung689

wältigen. Freilich muss man sich auch hier über die Grenzen des Missbrauchsverbots im Klaren sein: Kleinere politische Parteien lassen sich leichter ausschalten als solche, die in Wahlen vom Volk mit größerer Macht legitimiert worden sind. Die Türkei hat 1998 mit dem Verbot der schon an der Regierung beteiligt gewesenen Islam-Partei durch das Verfassungsgericht (vgl. Art. 68 und 69 Verf. Türkei von 1982, Art. 98 Gesetz über die politischen Parteien von 1983) vielleicht die Grenze des Parteiverbots erreicht. Im Grunde zeigt sich auch hier, dass die freiheitliche Demokratie letztlich nur von ihren Bürgern selbst gesichert werden kann. Die Möglichkeit des Parteiverbot findet sich auch in neuen osteuropäischen Verfassungen bzw. auf dem Balkan, z. B. Art. 11 Abs. 1 Verf. Polen von 1997, Art. 9 Abs. 2 Verf. Albanien von 1998. – Schutz der Verfassung ist auch das Telos des „Ausnahmezustands“ bzw. sog. „Staatsnotstands“. Es geht um alle ernsthaften Gefahren für den Bestand des Staates oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die nicht auf den normalen von der Verfassung vorgeschriebenen Wegen beseitigt werden können, sondern deren Abwehr oder Leistungen nur mit exzeptionellen Mitteln möglich ist739. Manche Länder haben in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg mit ungeschriebenem, außer- oder überkonstitutionellem Notrecht des Staates operiert (so etwa die Schweiz). Der Verfassungsstaat, der sich jedoch durch geschriebenes Recht auszeichnet, wenngleich er auch ungeschriebende Rechtsquellen wie das Verfassungsrichterrecht oder wie allgemeine Rechtsgrundsätze anerkennt, tut gut daran, in seiner geschriebenen Verfassung für den Ausnahmefall klare Kompetenzen zu begründen und eindeutige Grenzen zu ziehen. Ziel jeder geschriebenen Notstandsregelung muss sein, so schnell wie möglich den „normalen Verfassungszustand“ wieder herzustellen. Der Gedanke der ultima ratio bzw. des Übermaßverbots muss alle Notstandsmaßnahmen steuern, etwa die Durchbrechung der normalen Kompetenzen der Parlamente zugunsten der Exekutive (Gewaltenkonzentration) oder der zeitweiligen Einschränkung bzw. Außerkraftsetzung von Grundrechten. Unter diesen strengen Voraussetzungen verlangt das Primat der geschriebenen Verfassung, die Verfassung in Teilen zu suspendieren, „um ihre uneingeschränkte Geltung wiederherstellen zu können“740. Insofern gehört der Ausnahmezustand durchaus zu den „normalen“ Einrichtungen des Verfassungsstaates, er steht nicht per se etwa im Widerspruch zu ihm. Demgemäß kennen viele ältere und neuere Verfassungen den Ausnahmezustand 739  K. Hesse, Grundzüge, a. a. O., S. 301. Weitere Lit.: R. Zippelius / T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, S. 592 ff.; A. Gamper, Staat und Verfassung, 2. Aufl., 2010, S. 63 ff. 740  K. Hesse, a. a. O., S.  303.

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5. Kap.: Einzelausprägungen

bzw. (herkömmlich) „Belagerungszustand“. Ihre Verteufelung durch linke Ideologien in den End-60er Jahren in Deutschland (Stichwort „Orwell“) war weder im Rechtsvergleich noch verfassungsgeschichtlich gerechtfertigt. Konstitutionelles Textmaterial in Sachen Ausnahmezustand findet sich in Kap. 11 Verf. Südafrika von 1996, Teil IX A Verf. Bangladesh von 1973/2004, Art. 200 bis 202 Verf. Serbien von 2006, Art. 238 bis 247 Verf. Kenia von 2010, Kap. 12 Verf. Uganda von 1995, Art. 58 neue Verf. Angola von 2010, Art. 16 nF Verf. Frankreich von 1958  /  2008, Kap. 11 Verf. Myanmar von 2008, also fast weltweit. Die weltweit vergleichende Verfassungslehre muss – auch als Handreichung für die Verfassungspolitik – eine Reihe von Grundsatzfragen klären, die von den einzelnen Ländern unterschiedlich beantwortet werden können: Wer erklärt den Ausnahmezustand (z. B. der Staatspräsident oder das Parlament oder die Regierung?), welche tatbestandlichen Voraussetzungen gibt es? (Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung?), wobei zwischen dem „äußeren Notstand“ (nach dem GG der sog. „Verteidigungsfall“: Art. 115 a Abs. 1 und 3 GG) und dem „inneren Notstand“ (Naturkatastrophen, besonders schwere Unglücksfälle, drohende Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche Grundordnung des Staates: Art. 35 Abs. 2 und 3, 91 Abs. 1 GG) zu unterscheiden ist; begnügt man sich mit einer Generalklausel wie in der WRV in ihren berüchtigten Art. 48 oder sucht man durch viele Detailnormen der Probleme Herr zu werden (wie im deutschen GG seit 1968). Besteht bei der Generalermächtigung wie in Frankreich (Art. 16 Verf. 1958) die Gefahr eines Missbrauchs, so droht eine zu spezielle Regelung zur Ineffektivität zu führen (wie wohl beim deutschen GG); schließlich: wer kontrolliert die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen (etwa ein Verfassungsgericht wie im GG: Art. 115 g) bzw. wer entscheidet über die Dauer des Ausnahmezustandes (vgl. etwa ein besonderer Ausschuss: Art. 53 a GG („Gemeinsamer Ausschuss“)? – Das Widerstandsrecht ist ein „letztes Mittel der Bürger“ zum Schutz der Verfassung. Manche Verfassungsstaaten haben es positiviert, so das deutsche GG in Art. 20 Abs. 4: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“741, zuvor schon deutsche Länderverfassungen (Art. 147 Abs. 1 Verf. Hessen von 1946 überfordert seine Bürger sogar mit einer Widerstandspflicht). In Afrika ragt die Verfassung von Mali von 1992 heraus, insofern sie dem Volk „das Recht auf zivilen Ungehorsam“ zuschreibt, „um die republikanische Staatsform zu erhal741  Aus der Lit.: P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S. 326 f.; R. Zippelius /  T. Würtenberger, a. a. O., S.  596 f.; A. Gamper, Staat und Verfassung, 2. Aufl., 2010, S.  245 ff.



XIV. Schutz der Verfassung691

ten“ (Art. 121 Abs. 2 S. 2). Damit ist auch ein weiterer Beleg für das „Textstufenparadigma“ gefunden. Wurde das Widerstandsrecht in den Allgemeinen Staatslehren früher unter naturrechtlichen bzw. menschenrechtlichen Aspekten diskutiert und z. B. von den Geschwistern Scholl in Deutschland 1944 gegen den Nationalsozialismus praktiziert, so integrieren neuere Verfassungen die jüngste politische und wissenschaftliche Diskussion um den „zivilen Ungehorsam“, die dem Amerikaner Thoreau (1848) zu verdanken ist und in großen Gestalten wie M. Gandhi, Martin Luther King oder N. Mandela und V. Havel ihre glaubwürdigen Zeugen gefunden hat. Auch kollektive Gruppen wie „Amnesty international“, „Robbin Wood“ oder „Greenpeace“ und „Transparency International“, „Human Rights Watch“ bemühen die Lehre vom „zivilen Ungehorsam“, um ihre „begrenzten Regelverletzungen“ zu rechtfertigen742. Der kooperative Verfassungsstaat hat mehrere alternative Möglichkeiten: Er kann das Widerstandsrecht ungeregelt lassen und auf den „Aufstand des Gewissens“ unter Rückgriff auf Naturrecht hoffen, er kann es positivieren und so dem Gewissen des Einzelnen eine mindestens symbolische Stütze geben oder er kann sogar die mögliche Berufung auf den zivilen Ungehorsam vorschreiben743. In einer funktionierenden demokratischen Ordnung kann es laut BVerfGE 5, 85 (376) das Widerstandsrecht nur im „konservierenden Sinne“ geben, das ultima ratio-Gebot bleibt unverzichtbar; aber selbst der „entwickelte Verfassungsstaat“ läuft mitunter Gefahr, grobe Missstände zu spät oder gar nicht zu erkennen. Hier bedarf es des „Frühwarnsystems“, zu denen der zivile Ungehorsam gehört. Er vermag ein politisches Gemeinwesen für Entwicklungen (z. B. der Umweltverschmutzung oder Atomverseuchung) zu sensibilisieren, die die pluralistische Öffentlichkeit nicht ernst genug nimmt. Hier kann unter den Bedingungen von J. Rawls „Ziviler Ungehorsam“ gerechtfertigt sein. Derjenige, der ihn ausübt, muss aber die Folgen in seiner Person in Kauf nehmen, z. B. Strafen hinnehmen. Er ist nur ethisch, nicht rechtlich gerechtfertigt.

742  Zum 743  Aus

Problem J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 399 ff. der Lit.: R. Dreier, Recht und Moral, 1981, S. 202.

6. Kapitel

Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe I. Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher ­Perspektive – Methoden seiner wissenschaftlichen Erfassung, Kennzeichnung seiner heutigen Inhalte 1. Methoden der wissenschaftlichen Erfassung: Weltweite Produktions- und Rezeptionsprozesse seit Jahrhunderten, kultur- bzw. erfahrungswissenschaftlicher Ansatz, Klassikertexte, das Textstufenparadigma, Rechtsvergleichung in „weltbürgerlicher Absicht“ Die Entwicklungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Verfassungsstaates als Typus mit universaler Tendenz gehört zum Credo dieses Buches, ohne dass damit mehr als ein Minimum von unverzichtbarem „wissenschaft­ lichem Optimismus“ gewagt werden kann. Den „Sinn“ der (Verfassungs)Geschichte vermögen wir nicht zu erkennen, wohl aber i. S. der Stückwerktechnik Poppers daran zu arbeiten, dass der gleich noch einmal näher zu kennzeichnende weltoffene Verfassungsstaat mit seinen spezifischen Inhalten und Verfahren als Gegenstand und Forum „ewiger“ menschlicher Anstrengungen in Sachen Menschenwürde, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit und Gewaltenteilung sowie Demokratie als „Res publica semper reformanda“ verstanden und weiterentwickelt wird. Tendenziell geht es um einen universalen Konstitutionalismus, zu dem die (teil-)verfassenden Elemente des Völkerrechts (z. B. das UNESCO-Übereinkommen zum Schutz der kulturellen Vielfalt von 2005, auch das allgemeine Folterverbot) einen Beitrag leisten können und müssen. Möglich wird „Weltrechtskultur“, auch innerhalb der Charta der UN.  Welche sind die Methoden, die Entwicklungen des Verfassungsstaates bis heute einzufangen? Verfassungstexte, einmal in der Welt, ggf. auch „nur“ als Entwürfe, entfalten in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten eine schwer vorauszusagende Potenz, zumal schon der juristische Methodenpluralismus der Auslegung dazu führt, dass offen bleibt, wie die klassischen (seit F. C. v. Savigny) vier, m. E. wegen der Rechtsvergleichung



I. Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher P ­ erspektive693

fünf Interpretationsmethoden im Einzelfall zu bündeln sind1. Dennoch sind die Verfassungstexte, auch ihr weltweiter Austausch heute, aber auch schon seit 1787 bzw. 1789, die „Träger“ der einzelnen Bestandteile des Typus Verfassungsstaat. Das in diesem Buch mehrfach geschilderte „Textstufenparadigma“ kann und will nachweisen, dass über allseitige aktive Rezeptionsprozesse von Verfassungstexten mittelbar auch Verfassungswirklichkeit transportiert wird: weil etwa eine neu teil- oder totalrevidierte Verfassung später das auf Begriffe bzw. Texte bringt, was in anderen Verfassungsstaaten sich bislang in der Praxis (auch dank Judikatur und Wissenschaft) durchgesetzt hat. Bei den Normtexten der Grundrechte, der politischen Parteien, dem Föderalismus und Regionalismus lassen sich leicht praktische Beispiele hierfür finden2. So gesehen lebt der beste „Kommentar“ des kooperativen Verfassungsstaats in den sich weiterentwickelnden Textstufen! Sie wurden, soweit möglich, in diesem Buch immer wieder nachgezeichnet. In Absage an den beliebten „Eurozentrismus“ – der Verfassungsstaat ist heute ein Gemeinschaftswerk vieler Zeiten und Räume, so sehr er historisch ein europäisch  /  atlantisches Projekt war – sind die „Entwicklungsländer“ und Kleinstaaten in diese Rechtsvergleichung „in weltbürgerlicher Absicht“ von vornherein einzubeziehen. Konkret: Wir haben uns zu fragen, ob und wie diese Länder schon eigenständige Beiträge zum Typus Verfassungsstaat leisten. Dasselbe gilt für die Reformstaaten in Osteuropa (künftig vielleicht für die Länder des Arabischen Frühlings seit 2011). So haben in Afrika beispielsweise Madagaskar (1992 / 95) und Äthiopien (1994, s. auch Art. 10 Abs. 2 lit. c Verf. Kenia von 2010) das neue Postulat der „Transparenz“ des politischen Lebens konstitutionell getextet – das klassische Öffentlichkeitsprinzip reicht vielleicht nicht mehr aus. So wird in Kleinstaaten, auch föderal eingebundenen Stadtstaaten Bürgernähe praktiziert, die für andere vorbildlich sein kann3. So hat Südafrika in seiner Verfassung von 1996 Bereicherungen des menschenrechtsbezogenen Auslegungskanons gewagt, wie sie in der Wissenschaft vorweg gefordert worden waren (Art. 39 Abs. 1 lit c: „may consider foreign law“). So hat Polen 1997 in Sachen Gottesbezug kompromisshaft eine Verfassungspräambel geschaffen, wie sie in der pluralen Gesellschaft (Verfassungs-)Geschichte machen sollte (rezipiert in Albanien und in der KV Fribourg), während etwa die Kantonsverfassung Bern 1  Aus der Lit. zuletzt: E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl., 2005, S.  229 ff.; A. Gamper, Staat und Verfassung, 2. Aufl., 2010, S. 24. Kritik bei A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 8. 2  Nachweise in P. Häberle, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033 ff. 3  Aus der Lit. zu Liechtenstein: G. Batliner, Aktuelle Fragen des liechtensteinischen Verfassungsrechts, 1998; zu Stadtstaaten mein Beitrag: Die Zukunft der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen, JZ 1998, S. 57 ff.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

(1993) in Sachen Internationale Zusammenarbeit und Hilfe einen vorbild­ lichen Artikel entworfen hat (Art. 54, s. auch Art. 93 KV Waadt von 2003), so wie es in Art. 28 den (deutschen) Streit um den „Wesensgehalt“ von Grundrechten durch absolute und relative Momente entschärft und einen Beispielskatalog gewagt hat4. So hat eine Verfassung den Schutz der Gebärdensprache normiert (Art. 12 KV Zürich von 2004). Solche „Textstufen“ ermutigen, Rechtsideen aus den Verfassungsmaterialien weltweit zu erschließen und zu befördern, etwa bei der praktischen Verfassungsberatung vor Ort in Osteuropa und und jetzt in Arabien (2011). 2. Kennzeichnung der wesentlichen Inhalte (Prinzipien) des Verfassungsstaates – eine Reprise Von den Methoden zu den Inhalten, so sehr beides zusammenhängt: Der Verfassungsstaat zeichnet sich durch ein – gewordenes – Ensemble von Themen aus, die hier nur stichwortartig genannt bzw. wiederholt seien, wobei der Prinzipienkatalog – trotz sog. „Ewigkeitsklauseln“ i.  S. von Art. 79 Abs. 3 GG – offen ist, so wie die verfassungsstaatliche Themenliste insgesamt in die Zukunft hinein offen bleibt: So hat etwa die Verfassung Ukraine (1996) einen bislang einzigartigen Tschernobyl-Artikel geschrieben (Art. 16); so hat das Thema „Schutz alter Menschen und der Behinderten“5 (z. B. Art. 68 Abs. 3 Verf. Polen von 1997, Art. 59 Abs. 1 lit. g und i Verf. Albanien von 1998, Art. 51 Abs. 2 Verf. Kosovo von 2008, Art. 14 Abs. 1 lit. h KV Tessin von 1997), auch dank UN-Texten von 1989 erst im Laufe der letzten Jahre, heute aber weltweit Karriere gemacht; so beginnen sich Grundrechte für Kinder durchzusetzen (z. B. Art. 28 Verf. Südafrika, Art. 72 Verf. Polen6); auch das Thema Verbraucherschutz wird zum Verfassungstext (z. B. Art. 76 Verf. Polen, Art. 51 Verf. Spanien von 1978, Art. 46 Verf. Kenia von 2010, Art. 78 Verf. Angola von 2010). In Osteuropa sind auf Grund der Erfahrungen mit dem totalitären Staat des Marxismus-Leninismus Antistaatsideologie- bzw. Pluralismus-Klauseln geschaffen worden (z.  B. 4  Aus der Lit.: J. P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 141 ff.; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962, 2. Aufl. 1972, S. 39 ff., 3. Aufl. 1983, bes. S. 326 ff. Aus dem Schweizer Textmaterial hier nur: Art. 36 nBV Schweiz von 1999; Art. 38 KV Waadt von 2003. 5  Ein Beispiel für das diesbezügliche, auch sprachliche „neue“ Bewusstsein ist die jüngste Verfassungsänderung in Bayern (1998): Kinder, nicht mehr „gesunde Kinder“, sind das köstlichste Gut eines Volkes (Art. 125 Abs. 1 S. 1). 6  Auf Wunsch des Schweizer Nationalrats sollen sogar in der Schweiz Kinderrechtsartikel in die Verfassung: NZZ vom 20. März 1998, S. 17. – Weiteres Textmaterial in Sachen Kinderrechte: Art. 13 KV Waadt von 2003, Art. 64 Verf. Serbien von 2006, Art. 50 Verf. Kosovo von 2008.



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Art. 11 Verf. Bulgarien von 1991; Art. 1 Abs. 3 Verf. Rumänien von 1991; Art. 3 Verf. Kroatien von 1991; Art. 8 Verf. Mazedonien von 1991; Art. 13 Abs. 1 und 2 Verf. Russland von 1993); auch in afrikanischen Staaten findet sich das Bekenntnis zum politischen Pluralismus (z. B. Präambel Tschad von 1996; Art. 2, 159 lit. c alte Verf. Angola von 1992), ebenso in lateinamerikanischen Verfassungen. Eine ganz neue Textstufe in Sachen „Zivile Gesellschaft“ gelingt Art. 137–139 Kantonsverf. Fribourg von 2005. Es gibt jedoch einen Grundbestand von Verfassungsprinzipien auf der heutigen Entwicklungsstufe des kooperativen, weltoffenen Verfassungsstaates, sozusagen ein „konstitutionelles Pflichtprogramm“. Es beginnt mit der Menschenwürde als kulturanthropologischer Prämisse, die zur Demokratie als „organisatorischer Konsequenz“ führt. Die sehr deutsche Trennung von Menschenwürde und Demokratie und deren Verengung zur repräsentativen als „eigentlicher“ lässt sich schon im Rechtsvergleich nicht halten. Die „Volksrechte“ der Schweiz sind die Einlösung der Menschenwürde, sie werden ja auch so verstanden. Nehmen wir die Ausformungen der Menschenwürde in einzelne Menschenrechte bis hin zum Recht auf Entwicklung (in diesem Kontext auch das im Völkerrecht diskutierte Recht auf Frieden) hinzu (Grundrechte der „Dritten Generation“), auch zur Absicherung durch soziale Grundrechte und kulturelle Freiheiten mitsamt dem reichen Filigran von mehreren „Dimensionen“, so haben wir eine verfassungsstaatliche „Grundrechtskultur“, die die verschiedenen Länder im Einzelnen freilich recht unterschiedlich leben: Frankreich stark vom Kulturellen, National-republikanischen („öffentliche Freiheiten“), Deutschland derzeit (leider) eher von seinem betont ökonomischen Selbstverständnis her, immerhin verstehen wir „deutsche Freiheit“ als „föderative Freiheit“, so stark ist der Kultur­ föderalismus bei uns verwurzelt. Die Gewaltenteilung ist ein weiteres unverzichtbares Strukturelement, wobei wir die klassische, auf den Staat bezogene, die (horizontale und vertikale), um die gesellschaftliche, die ­ Gewaltenteilung im weiteren Sinne ergänzt sehen sollten (gesellschaftliche Gewaltenteilung, z. B. zwischen den Tarifpartnern oder den Medien). Die Anfälligkeiten des Menschen im Amt für Machtmissbrauch stellt dem Verfassungsstaat immer neu die Aufgabe, Gewaltenteilungsmechanismen zu ersinnen (Beispiel Menschenrechtskommissionen, Rechnungshöfe, Ombudsmänner bzw. -frauen, Medienräte, vorbildlich z. B. Art. 183 bis 187 Verf. Tschad von 1996, Art. 59 Verf. Kenia von 2010: Nationale Menschenrechtskommission). Auch das klassische Land der Menschenrechte, Frankreich, hat kürzlich (2008) einen „Défenseur des Droits“ eingeführt (Art. 71-1), so wie es neu, fast sensationell, den großen Satz wagt (Art. 75-1): „Les langues regionales appartiennent au patrimoine de la France.“ Auch der Solidaritätund Kooperations-Artikel mit der francophonen Welt (Art. 87) leistet eine neue Textstufe und bereichert das Völkerrecht.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

Die abstrakte Verpflichtung auf das Gemeinwohl muss konkret in der Gestalt des sozialen Rechtsstaates und des Kulturstaates eingelöst werden. Letzteres ist textlich sehr variantenreich, besonders in kulturellen ErbeKlauseln in „Entwicklungsländern“ (Art. 60 und 61 Verf. Guatemala von 1985) sowie in Osteuropa und auf dem Balkan (z. B. Präambel und Art. 6 Verf. Polen von 1997, Art. 11, 54 Abs. 4 Verf. Ukraine von 1996, Art. 9 Verf. Kosovo von 2008), aber auch im reich gegliederten Kulturverfassungsrecht neuer Schweizer Kantonsverfassungen oder der 5 neuen deutschen Bundesländer greifbar7. Der von vornherein sozial zu denkende Rechtsstaat stellt viele weitere Staatsaufgaben – bei aller Kontroverse zum „Umbau“ des Sozialstaates. Er reicht auch den Verfassungsauftrag an die „Marktpropheten“ weiter, um soziale Marktwirtschaft zu ringen und an die Grenzen des Marktes (die „sichtbare Hand“ des Verfassungsrechts) zu denken. Es gibt sie wohl auch bei den kulturellen Aufgaben der Länder und Gemeinden (Stichwort Privatisierung, Kultursponsoring). Zum typischen Bestand welt- und völkerrechtsoffener Verfassungen heute gehört die Öffnung gegenüber größeren Regionen: in Europa die sog. Europa-Artikel8, was auf der iberischen Halbinsel bzw. in Südamerika und Afrika Entsprechungen hat, sofern wörtlich oder der Sache nach von iberoamerikanischer (vgl. Art. 7 Abs. 4, 15 Abs. 3 Verf. Portugal, Art. 11 Abs. 3 Verf. Spanien) bzw. afrikanischer Einheit und Identität die Rede ist (z. B. Präambel und Art. 117 Verf. Mali von 1996, Art. 122 Verf. Niger von 1996, Präambel Verf. Senegal von 1992; Art. 146 f. Verf. Burkina Faso von 1991 / 97). Gleiches gilt für Verfassungstexte zur Lateinamerikanischen Integration (z. B. Präambel Verf. Venezuela von 1999) – hier entsteht, parallel zu den „Europa-Artikeln“ – nationales Lateinamerika-Verfassungsrecht. Hierher ge­­hört das vielen Verfassungen eigene „Weltbild“9: Sie ordnen ihre Völker in die Weltgemeinschaft ein, bekennen sich zu den universalen Menschenrechten oder / und sichern Entwicklungshilfe und andere Formen der Kooperation zu: An die Stelle des introvertierten Nationalstaates tritt der „kooperative Verfassungsstaat“. Menschheitsaufgaben werden sichtbar, das verfassungsstaatliche „Menschenbild“ wird zur auf die ganze Welt bezogenen „Menschheit“10. Die verfassungsstaatliche Ewigkeitsklausel, deren Kar­riere 7  Dazu meine Analysen in: JöR 40 (1991  / 1992), S. 291 ff.; 41 (1993), S. 69 ff.; 43 (1995), S. 355 ff. – Aus der allgemeinen Literatur: (für die Schweiz) in JöR 34 (1985), S. 303 (320 ff.); (für Ostdeutschland): H. v. Mangoldt, Die Verfassungen der neuen Bundesländer, 2. Aufl. 1997. 8  Dazu meine vergleichende Zusammenstellung in Festschrift Everling, 1995, Bd. I, S. 355 ff. sowie oben und zuletzt Art. 88-I bis VII Verf. Frankreich (1958 / 2008). 9  Dazu der Beitrag: Das „Weltbild“ des Verfassungsstaates – eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und „letztem“ Geltungsgrund des Völkerrechts, Festschrift Kriele, 1997, S. 1277 ff.



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in Art. 112 Verf. Norwegen von 1814 beginnt, in Art. 79 Abs. 3 GG einen Höhepunkt erlangt, der sich auch in vielen wissenschaftlichen Deutungen fortsetzt, und die seitdem in so manchen Verfassungen auf allen Kontinenten Nachfolge gefunden hat (z. B. Art. 159 Verf. Angola von 1992; Art. 104 Verf. Äquatorial-Guinea von 1991; Art. 64 Verf. Kamerun von 1996; Art. 157 Verf. Ukraine von 1996), sind mit dem hier umschriebenen Mindestbestand nicht identisch. Auch ist gerade hier national zu denken: Die Schweiz braucht keine solche geschriebene „Ewigkeitsklausel“, ihre Verfassungskultur hält sich selbsttragend und sichert ihre Identitätselemente von selbst „ewig“11. Frankreich garantiert nur die Republik „ewig“ (Art. 89 Abs. 5 Verf. von 1958), Portugal hingegen schuf einen reich gefächerten Katalog (Art. 228 Verf. von 1976), das deutsche Grundgesetz nimmt auch Elemente des Föderalismus in Art. 79 Abs. 3 auf, während die beiden iberischen Staaten in Sachen vertikale Gewaltenteilung nur dessen „kleineren Bruder“, den Regionalismus kennen – zu ihm entwickelt sich Großbritannien, mühsam genug, erst heute („devolution“ in Schottland (2014 unabhängig?) und Wales, der halbautonome Status für Nordirland12). Hier zeigt sich, dass stets auf zwei Ebenen gearbeitet werden muss: auf der abstrakteren des Typus „Verfassungsstaat“ und zugleich auf der konkreten des nationalen Beispiels, so sehr sich auf lange Sicht beide Ebenen verschränken: Der Ombudsmann aus Skandinavien ist auf dem Weg, ein „normales“ Prinzip verfassungsstaatlicher Verfassungen zu werden (z. B. Polen, 1997; s. auch Art. 156 bis 158 Verf. Togo von 1992: „Nationale Menschenrechtskommission“), es wird bald „universal“ (ein Beispiel ist auch Mexiko, Art. 192 Verf. Angola, 2010). Hinzuzunehmen ist das ungeschriebene Verfassungsrecht, das (wie in der Schweiz) im Blick auf manche Grundrechte erst durch Wissenschaft und Praxis vorgeformt wird, oft durch Verfassungstexte fremder Länder „ange­stossen“ und dann auf Texte gebracht worden ist (Art. 20 bzw. 21 nBV Schweiz von 1999 für die Wissenschafts- und Kunstfreiheit). 10

An die Artikel zur „rule of law“ (z. B. Präambel Verf. Bangladesh von 1973/2004) und zum „Vorrang der Verfassung“ (Art. 7 Verf. Bangladesh, Art. 3 Verf. Zimbabwe, Art. 2 Abs. 1 Verf. Nauru von 1968) sei erinnert.

10  Dazu im Anschluss an die Idee des „kooperativen Verfassungsstaates“ (1978) mit allen Textnachweisen meine Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 175 ff., jetzt um das „nationale Völkerrechts-Recht“ zu ergänzen. 11  Aus der Lit.: J. P. Müller, Materielle Schranken der Verfassungsrevision?, Festschrift Haug, 1986, S. 81 ff.; P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, ebd., S. 81 ff.; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR, Bd. I (1987), S. 775 ff. (3. Aufl., Bd. II, 2004, § 21). 12  Aus der Lit.: A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 354 ff.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

II. Verfassungspolitik, Utopien 1. Verfassungspolitik („Möglichkeitsdenken“) Verfassungspolitik ist die bewusste Gestaltung bzw. Fortentwicklung einer Verfassung, die dem Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ angehört: Formal kann sie auf vielerlei Weise vorgehen bzw. arbeiten: als erstmaliger „Erlass“ einer Verfassung (wie 1787 in den USA oder 1791 in Frankreich), als „Totalrevision“ vorhandener Verfassungen (wie seit den 60er Jahren bis heute in vielen Schweizer Kantonen), als „Teilrevision“ (wie bis heute (2012) mehr als 55mal beim deutschen GG, nur 28 mal seit 1787 in den USA: „amendments“), aber auch in den „feineren“ Formen schöpferischer Verfassungs­ interpretation der geltenden Verfassung bis hin zum kühnen, prospektiven Sondervotum (z. B. von Frau Rupp-von Brünneck: E 32, 129). Inhaltlich richtet sich Verfassungspolitik auf das Ganze bzw. auf Ensembleteile einer verfassungsstaatlichen Verfassung, wobei sie sich an deren (völkerrechtsoffenen) Typus orientiert, aber auch nationale (im Bundesstaat gliedstaatliche) Varianten gestaltet: je nach der individuellen historisch besonders gewachsenen Verfassungskultur (z. B. in der Schweiz als halbdirekte Demokratie, in den neuen deutschen Bundesländern via aktive Rezeption und Fortentwicklung neuester Lehre und Rechtsprechung aus (West) Deutschland bzw. Übernahme europäischer oder weltweiter Standards). Während die staatlichen Funktionen wie der Verfassunggeber oder der „organische Gesetze“ schaffende einfache Gesetzgeber (Beispiel Spanien), aber auch der formale Verfassungsänderer sich heute ihre „Materialien“, Modelle, Vorbilder und Anregungen aus der ihnen zugänglichen ganzen Verfassungsgeschichte (Zeit) und Verfassungsvergleichung (Raum) in Sachen Verfassungsstaat „holen“ können, um neue Verfassungen zu schaffen („Verfassunggebung“) oder bestehende in welchen Verfahren auch immer zu reformieren („Verfassungsreform“) und sie dabei „politisch“ vorgehen, d. h. mit den anderen Pluralgruppen der Konstituante (ein Konvent) einen Verfassungskompromiss suchen müssen, ist der als Wissenschaftler Beteiligte freier. Er dient direkt der (Verfassungs-)Gerechtigkeit und arbeitet unmittelbar im Dienste der Wahrheitssuche – eben als Wissenschaftler. Er hat unmittelbar das Ideal einer „guten“ verfassungsstaatlichen Verfassung vor Augen, er geht in der „Werkstatt“ aus Verfassungsgeschichte und Verfassungsvergleichung, die die zwei Seiten derselben Sache sind, frei umher, während der politische Verfassunggeber vielfältigen Bedingungen des „Bargaining“, des Handelns mit allen Beteiligten bis hin zum „faulen“, aber unvermeidbaren Kompromiss ausgesetzt ist. Diese unterschiedlichen Wege und Aufgaben in Sachen Verfassungspolitik, die direkt politischen und die primär wissenschaftlichen, müssen unterschieden werden, so viele Über-



II. Verfassungspolitik, Utopien699

schneidungen es gibt: etwa wenn der Staatsrechtslehrer einen konkreten Verfassungsentwurf begutachten soll, wie dies seit 1990 immer wieder in Polen geschah13, in Südafrika 1996 unter starker deutscher Beteiligung stattfand14 oder auch im Entstehungsprozess der Provinzverfassung KwaZulu Natal 1996 zu beobachten war. Die Schweiz liefert ebenfalls Beispiele. Sache der Wissenschaft ist, eine Palette von denkbaren Lösungen bzw. Normierungen vorzuschlagen oder die schon in Textform gegossenen zu kommentieren, ggf. durch Textvarianten zu verbessern. Dazu hat sie (zuvor) „wissenschaftliche Vorratspolitik“ zu leisten, d. h. in Unabhängigkeit ein Spektrum vieler Alternativen bereitzulegen, die dem, der Verfassungspolitik „von Amts wegen“ betreibt, also z. B. einem Verfassungsänderer, dienlich sein können. Einen Sonderfall bilden die wissenschaftlichen Privatentwürfe, die es nach schon klassischer Tradition immer wieder in der Schweiz gibt, jüngst etwa auf Bundesebene dank Kölz / Müller (1984), in Zürich dank T. Jaag, in Deutschland dank J. Schwarze / Flauss für die EU-Verfassung. Sie gehen ohne Auftrag vor und können noch „idealer“ arbeiten, indem sie aus sich heraus tätig werden und nicht an konkrete Instanzen, Gremien und Verfahren angebunden bzw. in sie eingebunden sind, auch nicht an politische Parteien. (Das gilt auch für völkerrechtliche Aspekte der Kooperation.) Verfassungspolitik, so begriffen, muss zur selbstverständlichen Aufgabe der vergleichenden Staatsrechtslehre werden. Zumal im Zeichen einer vergleichenden, als juristische Text- und Kulturwissenschaft arbeitenden Verfassungslehre ist sie nicht als zu „politiknah“ auszugrenzen, sondern als Bestandteil der Disziplin selbst zu begreifen. Sie hat Handwerks- und im Glücksfall „Kunstregeln“, die sich in den langen Traditionen des Verfassungsstaates ausgebildet haben und die heute, im „Verfassungszeitalter“ seit 1989 und seit 2011 im „Arabischen Frühling“, besonders gefragt sind. Dabei ist viel Bescheidenheit am Platz. Ein noch so guter Verfassunggeber hätte wohl in Südafrika das „Wunder“ der Übergangsverfassung von 1993 und der endgültigen von 1996 ohne einen N. Mandela und den ihm den Weg freigebenden F. de Klerk nicht vollbracht. Umgekehrt hat man in Polen 1989 / 90 die „Stunde der Verfassung“ wohl versäumt, obwohl es eine charismatische Persönlichkeit wie L. Walesa gab. (Erst 1997 gelang die Verfassung.) Was sich der Staatsrechtslehrer am mehr oder weniger „grünen Tisch“ in Sachen Verfassungsstaat ausdenkt, ist noch nicht per se geeignet, in die Tat praktischer Verfassungspolitik umgesetzt zu werden. Hierzu bedarf es der politischen Kräfte, einer aufnahmebereiten Öffentlichkeit, bestimmter ökonomischer Bedingungen und viel guten Willens. Gleichwohl bleibt der Verfas13  Dokumentation

in JöR 43 (1995), S. 184 ff. U. Karpen, Südafrika auf dem Wege zu einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung, JöR 44 (1996), S. 609  ff. – Zur Verfassunggebung in Kenia: C. Murray, JöR 61 (2013), S. 747 ff. 14  Dazu

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

sungsjurist um seiner Wissenschaft willen aufgerufen, nach seinen (bescheidenen) Möglichkeiten mitzuarbeiten. Er kann dabei den universalen Konstitutionalismus in den Blick nehmen, freilich kulturell differenzierend, auch das (nicht nur humanitäre) Völkerrecht. 2. Utopien aus allen Feldern der Kunst Die „Utopiethesen“ einer vergleichenden Verfassungslehre als juristischer Text- und Kulturwissenschaft (im Dienste des universalen Konstitutionalismus, auch der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts) lauten: a) Utopien bilden eine unentbehrliche Literaturgattung und Wissenschafts- bzw. Kunstform zur teils legitimierenden, teils kritischen Selbstvergewisserung. Sie bringen bald Erfahrungen, bald Hoffnungen des Menschen ein: sie sind (kultur-)anthropologisch begründet, national und international. b)  Da die Geschichte lehrt, dass speziell der demokratische Verfassungsstaat zur „kulturellen Errungenschaft“ nicht zuletzt dank Utopien, „Phantasien“, Visionen und „Träumen“ seiner Klassiker geworden ist, muss in der Zukunft Offenheit bestehen für neue oder gewandelte klassische Utopien als „Katalysatoren“ oder „Fermente“. Man denke an Martin Luther Kings „Traum“ der Rassenintegration in den USA, der in vielem Wirklichkeit geworden ist und in Form eines neuen Feiertages 1986 juristisch wie kulturell dort besondere verfassungsstaatliche Gestalt angenommen hat. Insofern zielt die These von einer Erschöpfung utopischer Energien, sollte sie richtig sein, auf ein Krisensymptom, das den weltoffenen demokratischen Verfassungsstaat nicht gleichgültig lassen kann: gerade im Zeichen der heutigen Krise des „Kapitalismus“ nicht. c)  Das schließt nicht aus, dass die vergleichende, kulturwissenschaftlich arbeitende Verfassungslehre bewusst wertet und zwischen „positiven“ und „negativen Utopien“ (z. B. „geschichtsphilosophischen“ oder „totalitären“) unterscheidet. Das schönste, bislang nur punktuell verwirklichte Beispiel einer „positiven Utopie“ ist bis heute für das Völker- und Verfassungsrecht I. Kants philosophischer Entwurf „Zum ewigen Frieden“ (1795), das einer „negativen“ bildet Orwells „1984“ oder der Film „Fahrenheit 451“ von Truffaut. d) Die vergleichende Verfassungslehre sollte zwischen der unentbehr­ lichen Kritikfunktion von Utopien und ihrer Warnfunktion unterscheiden und die Gefahren klassischer wie neuerer Utopien unerschrocken beim Namen nennen: z. B. den Marxismus / Leninismus oder den Anarchismus, heute etwa geschlossene „Gottes-Staaten“ des Islams (Iran, Afghanistan). e)  Diese differenzierende Einordnung von Utopien bedeutet eine Korrektur am Denken von Popper in dem Maße, wie sein „Kritischer Rationa­



II. Verfassungspolitik, Utopien701

lismus“15 der inhaltlichen Ergänzung um die kulturwissenschaftliche Methode bedarf. Utopien können antizipierend und sehr kreativ „Vermutungswissen“ schaffen, das, im Wege der „Stückwerkreform“ verwirklicht, die Entwicklungsprozesse des Verfassungsstaates bereichert. Selbst Utopien einer „geschlossenen Gesellschaft“ wie die Platons oder des Marxismus vermögen als Gegentypus zum Verfassungsstaatsmodell positive Wirkungen zu zeitigen. Diese differenzierende Einordnung baut aber insofern auf Popper auf, als sie mit ihm an die „Offenheit des Geschichtsverlaufs“ und die Möglichkeit individueller Sinngebung glaubt und sich eben hierin gegen den Marxismus oder deterministische Systeme stellt. Alldem liegt freilich das „gedämpft optimistische Menschenbild“ und der „wissenschaftliche Optimismus“ zugrunde, wie er die vergleichende universale Verfassungslehre in Einzelfragen (etwa bei den Erziehungszielen oder beim resozialisierenden Strafrecht) sowie im Ganzen kennzeichnen sollte. f)  Die vergleichende Verfassungslehre bzw. der Typus kooperativer „Verfassungsstaat“ hat den Menschen Raum für ein „Utopiequantum“ zu geben: dies nicht nur in Gestalt der Ausgrenzung und Förderung kultureller Freiheiten (auch der Religionen!), sondern sogar weit intensiver: indem Ver­ fassungstexte Hoffnungen (z. B. früher auf die Einheit Deutschlands oder – heute – Irlands und Europas) normieren, die mindestens konkrete „Utopiewünsche“ sind. Das „Prinzip Hoffnung“ (E. Bloch), das „Prinzip Verantwortung“ (H. Jonas), z. B. im Umweltschutz (vgl. § 31 Abs. 3 KV Basel-Stadt von 2005 bzw. das Verbot der Nutzung von Kernenergie wirksam), stimuliert fruchtbare Verfassungsentwicklungen, weil der Mensch Hoffnung wie das Atmen braucht und das Gemeinwesen von verantworteter Freiheit lebt. So weit Verfassungstexte in ihrer juristischen Dimension von Utopien entfernt sind und ihrer Eigenart entsprechend entfernt bleiben müssen, in Teilbereichen können sie „noch“ Utopie sein – auch das Sozialstaatsprinzip war zur Zeit von H. Heller (1930) und dann 1949 unter dem GG zuerst ein Stück Utopie! g) Kunst und Künstler nehmen nicht selten vorweg, was die politische Wirklichkeit später auf die „Tagesordnung“ setzt: man denke an den „Krieg der Sterne“ als Film in den 70er Jahren und als verteidigungspolitisches (oder gefährliches?) Konzept weltpolitischen Handelns in den 80er Jahren, oder an die tschechische Wahrheitsphilosophie von V. Havel (2010 verstorben) mit Blick auf das Jahr 1989: die „Charta 77“. h) In dem Maße, wie die vergleichende völkerrechtsoffene Verfassungslehre als Wissenschaft insgesamt auf Kunst und Künstler „hören“ sollte, um Sensibilität für neue Probleme zu gewinnen, muss sie der Utopie in ihrem Rahmen einen erklärten hohen Stellenwert verschaffen, freilich auch be15  Karl

R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

stimmte Grenzen ziehen: sie liegen vor allem dort, wo Gewalt und Unfreiheit zum Mittel erzwungener, „für später“ versprochener Ideal-Zustände werden. Poppers Postulat der „Stückwerkreform“ bleibt verfassungspolitische Maxime. Mit dieser Maßgabe können utopische Texte „Klassikertexte“ sein und zu Verfassungstexten im „weiteren Sinne“ werden16, auch international. i) So gesehen sind Utopien ein Stück „kulturellen Erbes“ des Verfassungsstaates als Typus, auch dort, wo sie ihm bis heute vorausgeeilt sind oder wo sie gegen ihn geschrieben wurden: er gewinnt aus ihnen und zum Teil gegen sie Konturen. Er wird teils von ihnen „provoziert“, teils muss er sich an ihnen bewähren, z. B. im Umgang mit anderen Staaten im Völkerrecht i. S. von Kants „Ewigem Frieden“: als „kooperativer Verfassungsstaat“ im Dienste eines universalen Projekts. Dasselbe gilt für den – offenen – Verfassungsstaat und seine „Völkerrechtsfreundlichkeit“ (BVerfG). j)  Utopien dürfen, ja sollten den Menschen „beunruhigen“, dasselbe gilt für den nationalen Verfassungsstaat. Sie können ihn aber auch „beruhigen“: weil und insoweit sie von ihm vielfach eingelöst worden sind und ihm die Gedankenfreiheit bestätigen. Man vergegenwärtige sich das einst „utopische“ Menschenwürde-Gebot und seine jahrhundertelange Kulturgeschichte17 bzw. seine heutige Idealität und Realität im Verfassungsstaat: in Gestalt vieler Textstufen. Gleiches gilt für das rechtsstaatliche Folterverbot, in dem sich die nationalen Verfassungsstaaten und das universelle Völkerrecht heute treffen, sowie für „gute Völkerrechtspolitik“. 

III. Beispielfelder von Verfassungspolitik: Heutige Aufgaben verfassungsstaatlicher Reformpolitik 1. Reformbedürfnisse heute, eine Bestandsaufnahme in Auswahl Zu unterscheiden ist zwischen zwei Arten von Reformnotwendigkeiten: solchen, die primär national verfassungsstaatlich bezogen sind, und solchen, die diese (nationale) politische Gemeinschaftsform übersteigen bzw. letztlich weltbezogen sind. Beide Felder können im Zeichen der Globalisierung miteinander verzahnt sein, sind jedoch zunächst zu trennen. Das zeigt sich schon an mehr oder weniger „informellen“, jedenfalls nicht primär staat­lichen Organisationen bzw. Einrichtungen wie „Amnesty International“, „Human Rights Watch“, „Freedom House“, „Greenpeace“ oder „Robin Wood“ und die P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. P. Häberle: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 815 ff. (Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 22, S. 317 ff.). Weitere Lit. oben S. 333 ff. Zum Folgenden, jetzt aktualisiert: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011, S. 584 ff. 16  Dazu: 17  Dazu



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Anti-Korruptions-Organisation „Transparency International“. Sie alle nehmen Defizite national wie weltweit bzw. weltöffentlich in den Blick. Als „Frühwarnsysteme“ operieren sie gerade auf dem Forum von Verfassungsstaaten optimal, sie sind im Ganzen wohl auch unentbehrlich, wenngleich Wahrheitsverstöße schmerzen (so geschehen bei Green Peace in Sachen „Brent Spar“, 1995). Nicht immer ist die pluralistische Öffentlichkeit als Zivilgesellschaft sensibel genug, um Gefahrenherde rechtzeitig zu erkennen (z. B. „Instandbesetzungsaktionen“ vor Jahren in Berlin und St. Gallen, Hintergrund: Grundstücksspekulationen) – hier mag man die Lehre vom „Zivilen Ungehorsam“ (Thoreau) bemühen, die eine Verfassung Afrikas sogar textlich rezipiert hat (Art. 121 Abs. 2 S. 2 Verf. Mali von 1992). a) National-verfassungsstaatsbezogene Reformbedürfnisse Unterschieden sei zwischen dem Typus völkerrechtsoffener, kooperativer Verfassungsstaat, d. h. Reformfragen, die allgemein weltweit anstehen, und einzelnen auf die verschiedenen Nationen bezogenen. aa) Wohl alle Beispielsnationen stehen in Frage, d. h. der Typus entwicklungsoffener Verfassungsstaat ist gefordert bei folgenden Themen: – Abbau der internen Massen- und Jugend-Arbeitslosigkeit, wobei im Hintergrund der Streit um die „richtige“ Abgrenzung zwischen Staat und Wirtschaft steht (Markt gegen Staat, Privatisierung?, Garantie der Grundversorgung der Daseinsvorsorge durch den Staat, Deregulierung angesichts einer „Überforderung“ des Staates), aber auch demokratiekonforme Märkte statt „marktkonformer Demokratie“; – Reform der Alterssicherungssysteme (Umbau der Sozialversicherung auf dem Weg zu einer „dritten Säule“); – „Zähmung“ des neuen Kapitalismus (Gräfin Dönhoff), Stichwort: Regulierung der US-Rating-Agenturen, der virtuellen Finanzmärkte; – Rückführung der Verschuldung (besonders dringlich in Belgien, Griechenland und Italien sowie Spanien, auch Deutschland, erforderlich schon wegen des Generationenvertrages als Sicherung intergenerativer Gerechtigkeit, auch wegen der mit neuen Sanktionsmechanismen zu sichernden Stabilitätskriterien des „Euro“); – Verringerung von Umweltbelastungen (Atommüllagerung etc.), die „ökologische Herausforderung“, Klimaschutz; – Reduzierung der Staatsbürokratie (Stichwort „schlanker Staat“, „l’etat modeste“, „new public management“); – Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Menschenhandel (nicht nur in Italien und Russland sondern auch in Osteuropa sowie in Lateiname-

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rika, z. B. Mexiko und Kolumbien, allgemeiner Missbrauch im Internet, der „fünften Gewalt“ (Pornographie, Schutz des Urheberrechts); – Bekämpfung der Korruption (Frankreich, Italien, Belgien, auch Deutschland, Afghanistan und Irak), der Steuerhinterziehung; – pluralistische Einbindung der Massenmedien (kein Monopol im Berlusconi-Stil); – Gefahr für die Freiheit der Journalisten (in vielen Ländern Asiens und Afrikas, jüngst Arabiens); – Bewältigung der Herausforderungen durch neue Techniken (Stichwort: Gentechnik, Bioethik, moderne „Informationsgesellschaft“), das Internet darf kein rechtsfeier Raum sein, seine Verträglichkeit mit Menschenrechten und Demokratie ist rechtspolitisch herzustellen, vordringlich wird der Schutz der Persönlichkeit und der Urheberrechte, es muss Grenzen für Skandalisierungen geben („neue Medienethik“); causa Wulff; – Herausforderung durch den islamischen Fundamentalismus, in national unterschiedlicher Stärke, damit im Zusammenhang die „multikulturelle Gesellschaft“ (auch im „Arabischen Frühling“); Terrorismus; – Krise der Parteiendemokratie (stärker in Deutschland, Stichwort: „Politikverdrossenheit“, schwächer wohl in der Schweiz, dank der halbdirekten Demokratie), Auswüchse der „Gefälligkeitsdemokratie“; – rechtliche und ethische Verstärkung der Idee von „Menschenpflichten“ („Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“, z. B. dank Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt); – Migrationsbewegungen (was schon die überregionale und Weltebene betrifft), derzeit an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei, sowie am „Tor zu Italien“ in Lampedusa (2010–2012). Hinter vielen dieser Reformthemen lassen sich allgemeinere Entwicklungen und Konflikte entdecken: Manchen Problemfeldern liegt der viel beklagte Werteverfall und ein Erziehungsdefizit zugrunde; so mag man in Deutschland eine neue Grundwerte-Debatte fordern, auch einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ („Generationengerechtigkeit“) verlangen. Andere lassen einen Generationenkonflikt, um nicht zu sagen Generationen-Kampf, erkennen oder doch schon ahnen (so beim Umbau der Sozialsysteme, bei der Endlagerung von Atommüll, bei der „Schuldenbremse“). bb) Nur als „Merkposten“ seien jetzt einige Beispiele für primär auf einzelne konkrete Nationen bezogene Reformthemen genannt: Die „vertikale Gewaltenteilung“ in Form eines noch so bescheidenen Regionalismus muss Großbritannien intensiver suchen. Für Italien steht seit langem eine Verfassungsreform an. Belgien hat erst jüngst den Durchbruch zum Föde-



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ralismus geschafft (Verf. von 1994), doch findet es nur schwer zu einer stabilen Regierung. Spanien ringt um eine Neuformulierung des Verhältnisses seiner „Autonomien“ zum Gesamtstaat. Ungarn muss trotz seiner ingeniösen Kennzeichnung der Minderheiten als „staatsbildende Faktoren“ (1989 – auch in der Verfassung von 2012 beibehalten) in der Praxis (durch „Brückenbauen“) am Minderheitenschutz arbeiten. Deutschland sollte sich von den ökonomischen Standortideologien aus dem Primat der Ökonomie befreien, um dem Kulturabbau entgegen zu wirken (z. B. teilweise Schließung der Goetheinstitute Ende der 90er Jahre, 2012 zeigt sich ein besseres Bild), während Frankreich unbeirrt seine nationale Kulturpolitik im Ausland durchzieht. (Vom „Meisterwerk“ der deutschen Rechtschreibreform sei bewusst geschwiegen.) Frankreich diskutiert im Rahmen der „Modernisierung des politischen Lebens“ über ein Verbot der Ämterhäufung. Der Streit um die Einwanderung bzw. „doppelte Staatsbürgerschaft“ bleibt in Deutschland mittelfristig ein Reformthema, auch das Stiftungsrecht sowie die Ergänzung der sozialen Marktwirtschaft um die ökologische Dimension (ökologische Steuerreform): Der Mensch, nicht der Markt ist das Maß der Dinge. In Deutschland macht sich ausgerechnet nach dem Glück der Wiedervereinigung eine schwer zu begreifende Zukunftsverdrossenheit bemerkbar. Auch muss wohl das Anspruchsdenken zurückgeführt werden (Reform des öffentlichen Dienstrechts). Im Rahmen einer deutschen Justizreform stehen neue Formen außergerichtlicher Streitbeilegung an („Mediation“). In Südafrika (auch in den USA) bleibt die Überwindung der Rassendiskriminierung („affirmative action“) ein Reformthema. Die Schweiz hat wohl ihr Verhältnis zu „Europa“ zu klären. Dieses Europa ist angesichts seiner Schuldenkrise und der Schwäche des Euro aufs Höchste gefordert (2012), mit „Solidarität“ Ernst zu machen (Hilfe für Griechenland). b) Auf die Welt bzw. die Menschheit bezogene Reformbedürfnisse Auch hier nur einige Stichworte: Es sei nicht verkannt, dass nicht alle Staaten auf diesem einen „blauen Planeten“ Verfassungsstaaten im gekennzeichneten Sinn – offene – Gesellschaften sind. Manche Entwicklungsländer in Schwarzafrika sind nur auf dem Papier Mitglied der universalen „Familie der Verfassungsstaaten“. Andere Länder bleiben halbautoritär oder werden es (z. B. Russland unter W. Putin). „Wunder“ wie das Südafrika N. Mandelas sprechen für sich. Nordkorea, Kuba und China sind nach wie vor staatssozialistisch. Die islamischen Staaten (wie der Iran, auch Afghanistan) begeben sich oft nicht einmal auf den Weg in Richtung auf den Typus „Verfassungsstaat“, doch lässt der „Arabische Frühling“ (seit 2011), wenn auch gelegentlich stockend, hoffen. Gleichwohl sei die These gewagt, dass die Völkerrechtsgemeinschaft wegen der UN-Charta, der Verpflichtung auf

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universale Werte wie die Menschenrechte18 letztlich und erstlich von konstitutionellen Werten getragen wird und einen Beitrag zur „universalen Verfassungslehre“ leisten kann (wie etwa durch das UNESCO-Abkommen über kulturelle Vielfalt von 2005), ein Stück „Weltkulturverfassungsrecht“ als Teilverfassung (wie die Texte zum Weltkulturerbe). Welt- bzw. Menschheitsbezogene Reformthemen in diesem Sinne sind: – die Einstellung der kooperativen Verfassungsstaaten auf die Herausforderung der Globalisierung der Märkte, auch Medien (Internet), die freilich gerade den Verfassungsstaat an seine spezifischen, nur von ihm wahrnehmbaren Verantwortungen erinnert; überdies ist die ökonomische „Globalisierung“ nur durch kulturelle Regionalisierung im Kleinen, durch Verwurzelung in der „Heimat“ zu ertragen: der Mensch fiele ins Bodenlose! Die Bewegung „occupy Wallstreet“ sollte hellhörig machen; – Kulturgüterschutz (national und universal, mit wechselseitigen Verschränkungen wie in der Ukraine und Venezuela); – Subsidiaritätsdenken nicht nur im Rahmen der EU, sondern als weltweites Strukturprinzip für das Miteinander der „kooperativen Verfassungsstaaten“; – angesichts der weltweit wachsenden Knappheiten in Sachen Umwelt / Wasser, Luft (Stichwort: „sustainable development“ der Rio-Konferenz von 1992 und der neue enttäuschende „Erdgipfel“ von 2012 ebendort) stellt sich die Gemeinschaftsaufgabe in Sachen Umweltschutz, was dem Thema „Menschenpflichten“ Schub gibt; die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt (1996) ist eine geglückte Etappe; das neue „Menschenrecht auf Wasser“ ebenso19 (wie das Verbot von Landminen); – der Abbau von Armut, Entwicklungshilfe zur Selbsthilfe (Entschuldung der Entwicklungsländer), Kampf gegen Analphabetentum (in vielen Verfassungen Lateinamerikas normatives Programm) und moderne Formen des „Menschenhandels“ sowie „Steueroasen“; – Völkerverständigung durch weltweit praktizierten Schüler-, Studentenund Wissenschaftleraustausch; Zeit zum „Nach-Denken“; – Einrichtung eines ständigen Internationalen Gerichtshofes der UN zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. Völkermord nach dem Vorbild des UN-Tribunals für Ex-Jugoslawien und Ruanda; – Die Durchsetzung der universalen Menschenrechte, auch beim Wegfall effektiver Staatsgewalt („The Failed State“), man denke an Somalia und an einige Provinzen Mexikos. 18  L.

Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987. der Lit.: S. R. Laskowski, Das Menschenrecht auf Wasser, 2010.

19  Aus



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2. Ausblick auf den nationalen und universalen Konstitutionalismus Reformideen springen gerne über Ländergrenzen und Kontinente bzw. Räume hinweg, wie wir bei Rezeptionen einzelner Institutionen des Verfassungsstaates (Obmudsmann, Verfassungsgerichtsbarkeit etc.) beobachten können. Was sind die kulturellen Bedingungen für „gelingende“ Rezeptionen? – etwa, dass sie im aufnehmenden Verfassungsstaat produktiv fortgedacht werden? Vermutlich könnte erst eine umfassende empirische Bestandsaufnahme (z. B. der Reformen in Osteuropa seit 1989 und steckengebliebener Verfassungsänderungen etwa in westeuropäischen Staaten, z. B. das Scheitern des „Österreich-Konvents“) weiterhelfen. Gibt es Nationen, die für Reformen besonders „begabt“ sind – wie die Franzosen für Revolutionen? – sie haben auch das Thema Arbeitslosigkeit erstmals (1998) kollektiv in ihrer verfassungsstaatlichen Öffentlichkeit durch die Betroffenen selbst auf die Tagesordnung gesetzt mit Rückwirkungen auf die „europäische Öffentlichkeit“. Die „Arabellion“ seit 2011 liefert viel Anschauungsmaterial, manche Enttäuschungen, ist aber auch ein Laboratorium für den Verfassungsstaat (wird er dort „islamisch“, und was heißt das?). Wie dem auch sei: An dieser Stelle konnten nur einige der verfassungsstaats- und menschheitsbezogenen Reformbedürfnisse namhaft gemacht werden, wobei Menschenwürde und Demokratie, Menschheitswerte sowie der Glaube an Kunst und Kultur „letzte“ sinnstiftende Orientierungswerte darstellen. Das „Prinzip Hoffnung“ und das „Prinzip Verantwortung“ bleiben die intellektuellen Vorbedingungen des Nachdenkens über den tendeziell universalen Verfassungsstaat und seine Reformbedürfnisse, Reformnotwendigkeiten – und hoffentlich auch – Reformmöglichkeiten (Ungarn geriet in seiner neuen Verfassung von 2012 zum Teil auf Abwege, Gleiches gilt für das Regierungssystem in Rumänien im Juli 2012; die EU sucht gegenzusteuern). Drei Exkurse suchen den Brückenschlag in die – offene – Zukunft des Verfassungsstaats bzw. in die „weite Welt“. Sie werden in den nächsten Dekaden im Rahmen einer universalen Verfassungslehre vielleicht zu „Inkursen“, sofern die Konstitutionalisierung der Welt fortschreitet: in Gestalt einer Architektur von Teilverfassungen und „Völkerrechtspolitik“. Zuvor ein kurzer Rückblick und Ausblick in Sachen universaler Konstitutionalismus in „weltbürgerlicher Absicht“: Der hier verwendete Begriff „universaler Konstitutionalismus“ besteht aus einem Ensemble von Teilverfassungen: Teilverfassungen des Völkerrechts und solchen der nationalen Verfassungsstaaten20. Der Begriff „Teil20  Vgl. jüngst etwa M. Avbelj / J. Komárek (eds.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012.

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verfassung“ wurde 2001 für das Verhältnis des EU-Europas und EuroparatsEuropas und den nationalen Mitgliedsstaaten konzipiert21. Er ist besser als der viel zitierte „Mehrebenenkonstitutionalismus“, da er nicht in Hierarchievorstellungen verstrickt ist. Er ist besser als der Begriff „Verfassungsfragmente“, den G. Teubner vorgeschlagen hat („Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung“, 2012). Denn der Begriff universaler Konstitutionalismus lässt dem Nationalstaat seine unverzichtbare Kompetenz und ist nicht systemtheoretisch von der Gesellschaft sowie dem privaten Recht her konzipiert. So interessant dieser Ansatz ist, so intensiv muss ihn die universale völkerrechtsoffene Verfassungslehre in Frage stellen. Gleiche Einwände gelten der Idee der Neuen Lex Mercatoria22 und dem Transnationalem Recht23. Die „Zukunft der Verfassung“ (D. Grimm)24 liegt also gerade in dem Versuch von „Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre als Ensemble von nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen“. Von „Eigenverfassungen der Gesellschaft“ sollte nicht gesprochen werden. Die Textstücke „universal“ sind Ernst zu nehmen. Völkerrechtliche Teilverfassungen sind zum Beispiel die fast von allen Nationalstaaten ratifizierten UN-Menschenrechtspakte, Konventionen wie zum Schutz des Kultur- und Naturerbes, des Folterverbots, der Kinderrechte, der Schutzrechte für Behinderte und zum Schutz der kulturellen Vielfalt. Die nationalen Verfassungsrechtsordnungen haben sie in ihren Verfassungstexten vielfach verinnerlicht25. Auch bei der vielgenannten „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“26 handelt es sich nur um Teilverfassungen27. 21  Dazu der Verfasser: Das Grundgesetz als Teilverfassung im Kontext der EU / EG, FS Schiedermair, 2001, S. 81 ff. 22  P. Zumbansen, Lex mercatoria: Zum Geltungsanspruch transnationalen Rechts, RabelsZ 67 (2003), S. 638 ff. 23  Dazu aber H. P. Glenn, A Transnational Concept of Law, in: D. Cane  /  M. Tushnet (Hrsg.), The Oxford Handbook of Legal Studies, 2003, S. 839 ff.; A. Maurer, Lex Maritima, Grundzüge eines transnationalen Seehandelsrechts, 2012. 24  D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, 2012. 25  M. Kotzur, Weltrechtliche Bezüge in nationalen Verfassungstexten, in: Rechtstheorie 39 (2008), S. 191 ff. 26  Th. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht. Konstruktion und Elemente einer idealistischen Völkerrechtslehre, 2012; J. L. Dunoff / J. P. Trachtmann, Ruling the World? Constitutionalism, International Law, and Global Governance, 2009; B. Fassbender, Towards World Constitutionalism: Issues in the Legal Ordering of the World Community, 2005. A. Pollmann u. a. (Hrsg.), Menschenrechte, 2012. 27  Zu den Teilverfassungen, die das Völkerrecht zum universalen Konstitutionalismus beiträgt, gehört das humanitäre Völkerrecht; dazu aus der Lit: L. Schmidt, Das humanitäre Völkerrecht in modernen asymmetrischen Konflikten, 2012; Gleiches gilt für die „Bindung internationaler Organisationen an internationale Menschenrechtsstandards“; dazu gleichnamig aus der Lit: C. Janik. Zu Recht spricht



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Sieht man die nationalen Teilverfassungen und die Teilverfassungen des Völkerrechts, verstanden als konstitutionelles Menschheitsrecht, zusammen, so dürften im Rahmen einer universalen Verfassungslehre folgenden Institutionen, Prinzipien und Normenkomplexen eine besondere Zukunft sicher sein, zumal sie in Gestalt von Textstufen weltweit erkennbar sind: (1) Die Formel „We, the people“, welche zunehmend anstelle des Klassikertextes von Rousseau tritt („Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“). (2) Das Prinzip „Vorrang der Verfassung“, das sich in neuen Texten in Nord und Süd, Ost und West immer häufiger findet. (3) Das Rechtsstaatsprinzip bzw. die rule of law reifen zum tragenden Element des universalen Konstitutionalismus, ausweislich vieler Verfassungstexte. Hierher gehört auch der „due process“, auch international. (4) Ein Ensemble von kulturellen Identitätselementen wie Hymnen, Flaggen, Feiertagen, wobei Mosaiksteine der Erinnerungskultur bzw. der nationale und universale Kulturgüterschutz hinzu kommen. (5) Normen zum „kooperativen Verfassungsstaat“, durch die sich die Länder teils in die Völkerrechtsfamilie insgesamt, teils im Blick auf die anderen Verfassungsstaaten, teils in regionale Verantwortungsgemeinschaften (wie die EU, den Andenpakt oder die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) eingliedern: „Völkerrechtsfreundlichkeit“. (6) Die Anreicherung der auf die Menschenwürde bezogenen Menschenrechtskataloge um Auslegungsmaximen im Blick auf die Verfassungsvergleichung („may consider foreign law“ oder „may consider foreign case law“ wie im südlichen Afrika). Sie etabliert sich als „fünfte Auslegungsmethode“. Es gibt keinen numerus clausus der Rechtsquellen. (7) Speziell der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, ausgehend vom preußischen OVG, ist mittlerweile auf dem Weg, ein universales Verfassungsprinzip zu werden. Theoretisch ist er den Grundrechten, dem Rechtsstaatsprinzip sowie dem auch internationalen Rechtsschutz zuzuordnen. M. Kotzur im Blick auf den menschenrechtlichen Individualschutz im Völkerrecht von „anthropozentrischer Wende“ (FS Stern, 2012 S. 811 ff.: Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat). Ausdruck dieser Wende sind die „Schutzpflichten im Völkerrecht“ (dazu aus der Lit. gleichnamig S. Stahl, 2012; s. auch P. Hilpold, Die Schutzverantwortung im Recht der Vereinten Nationen, SZIER 21 (2011), S. 231 ff.). Schon klassisch G. Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl. 2012. Aus der Grundsatzliteratur zum Völkerrecht: B. Fassbender, Optimismus und Skepsis im Völkerrechtsdenken der Gegenwart, DÖV 2012, S. 41 ff.; s. auch ders., „Denkschulen im Völkerrecht“ in: B. Fassbender u. a. (Hrsg.), 2012 S. 1 ff. Ein frühes Stichwort liefert die Konstitu­ tionalisierung des Völkerrechts, dazu S.  Kadelbach / T. Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht, AVR 44 (2006), S. 235 ff.

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(8) Die innere Strukturierung des Verfassungsstaates entwickelt sich sehr häufig weg vom klassischen (oft dezentralisierten) Zentralstaat hin zum Föderal- oder Re­gionalstaat. (9) Die Gewaltenteilung, sowohl im staatlichen Bereich als auch im gesellschaftlichen Bereich, entwickelt sich verfassungstextlich in Gestalt mancher Verfeinerungen, die die wissenschaftliche Literatur und die Judikatur ihrerseits parallel entfaltet haben.  (10) Die Verfassungsgerichtsbarkeit reift zu einem wichtigen Thema der universalen Verfassungslehre, so umstritten sie politisch oft sein mag (man denke jüngst, 2012, an Ungarn, die Türkei, Rumänien). Das ewige Wechselspiel zwischen „judicial activism“ und „judicial restraint“ kann wissenschaftlich auch von der universalen Verfassungslehre kaum eingefangen werden. Die nationalen Verfassungsrichter wie die internationalen Verfassungsrichter in Den Haag oder in speziellen UN-Tribunalen sind wichtige Akteure in der Pluralität vieler sonstiger Akteure wie der NGOs, den allgemein anerkannten Völkerrechtslehrern und den Wissenschaftlern, national wie international. (11) Bei all dem muss Raum für rechtskulturelle Partikularität bleiben.

Exkurs I: Aspekte einer kulturwissenschaftlichrechtsvergleichenden Verfassungslehre in „weltbürgerlicher“ Absicht – die Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang Erster (einführender) Teil Einleitung, Problem, ein Theorierahmen, „Gesellschaften im Übergang“ Das Thema ist anspruchsvoll28. Es kann nur in einer Gemeinschaftsleistung vieler Gelehrter in langen Jahren erarbeitet werden. Stichworte müssen andeuten, was anderwärts in Detailstudien29 versucht wurde oder noch zu leisten ist, und gewiss ist über das bilaterale Verhältnis Korea / Deutschland hinauszudenken: etwa im Blick auf Südafrika und Europa (man denke an die Rezeption von Föderalismus und Regionalismus, auch Wahlrecht dort) oder im Blick auf Osteuropa und Westeuropa bzw. die USA, jetzt seit 2011 auch die arabischen Länder. Gedacht wird in „weltbürgerlicher Absicht“ i. S. von I. Kant. Der Verfassungsstaat hat Aspekte eines universalen Projekts, methodisch ermöglicht durch das Konzept der „Rechtsvergleichung“ als „universaler Interpretationsmethode“ (K. Zweigert), inhaltlich konstituiert durch den 28  Das Folgende ist – jetzt aktualisiert – erstmals in JöR 45 (1997), S. 555 ff. erschienen (deutsch-koreanische Tagung in Speyer, 1996). 29  Vgl. P. Häberle, Die Entwicklungsländer im Prozess der Textstufendifferenzierung, VRÜ 23 (1900), S. 225 ff., auch in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 791 ff.



Exkurs I: Kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende Verfassungslehre711

Typus „Verfassungsstaat“, wie er gemeineuropäisch  /  atlantisch, vorbereitet durch Klassikertexte von Locke bis H. Jonas und J. Rawls in große Jahreszahlen wie 1776, 1787, 1789, 1848, 1966 gewachsen ist; vor allem aber seit 1989! Vor diesem „annus mirabilis“, der „Weltstunde des Verfassungsstaates“ hätte man das Thema kaum so formulieren dürfen. Denn trotz der vielen schmerzlichen Rückschläge, etwa auf dem Balkan oder im Kaukasus, hat der gemeineuropäisch / atlantische Typus Verfassungsstaat 1989 einen universalen Wachstumsschub erfahren und eine globale Legitima­ tionsebene etabliert: Menschenrechte, Demokratie, soziale Marktwirtschaft, Rechtsstaat, oft auch Verfassungsgerichtsbarkeit als seine wesentlichen Kennzeichen sind zu Reformzielen vieler anderer Staaten geworden. Eine universale Verfassungslehre wird möglich. Vor allem aber: Neben die „Entwicklungsländer“ in Afrika und Südamerika sind „Gesellschaften im Übergang“ getreten, Gesellschaften, die teils wie in den Territorien des ehemaligen Ostblocks zu „Verfassungsstaaten“ werden wollen oder dies primär wirtschaftlich anstreben – wie häufig in Südostasien. Lassen wir einmal den „Fundamentalismus“ und die Kulturwelt des Islam als besondere Herausforderung des Verfassungsstaates beiseite30, so darf gesagt werden, dass der gemeineuropäisch-atlantische Verfassungsstaat kooperativ eine spezifische Mitverantwortung für „Gesellschaften im Übergang“ hat: sei es, dass er sich in zweiseitigen Produktions- und Rezeptionsprozessen auf sie einlässt (vom „Rechtsimport“ bis zum Gelehrtenaustausch und gemeinsamen Tagungen, von der wirtschaftlichen Entwicklungshilfe bis zur A. v. Humboldt-Stiftung), sei es dass er auf der völkerrechtlichen, internatio­nalen Ebene allseits wirkt und wirbt: für seine Inhalte und Verfahren31. Im Rahmen dieser Exposition werden Aspekte des Theorierahmens erkennbar; zum einen die Vergegenwärtigung der Rahmenbedingungen: Technisch ist eine globale Kommunikationsgemeinschaft entstanden, oft als „Weltgesellschaft“ apostrophiert, und die „Globalisierung der Märkte“ bildet ein Vehikel dieser Vorgänge. In der einen Welt unseres „blauen Planeten, Erde“,· in der spätestens die „Chaostheorie“ den (Ordnungs-)Zusammenhang von allem mit allem aufgedeckt hat, ist der Markt ein Medium auch für den Austausch von Ideen geworden. Der Markt ist zwar wie der Staat nur instrumental zu verstehen, er ist kein Selbstzweck32, wie dies der moderne Ökonomismus uns glauben machen möchte; „sich selbst Zweck“ ist der Mensch dank seiner Würde. Aber das Jahr 1989 steht auch für den Sieg der (sozia­ len) Marktwirtschaft und eben dies hat zur Erfolgsgeschichte des Typus Verfassungsstaat beigetragen33, und die Marktwirtschaft ist nur mit Attributen verfassungsstaat30  Dazu F. Hufen, Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates und der Rechtsphilosophie, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1992, S.  455 ff.; P. Häberle, Der Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates, liber amicorum für J. Esser, 1995, S. 49 ff. 31  Zur These eines „weltweiten Verantwortungszusammenhangs der je nationalen Verfassungsstaaten“ meine ersten Überlegungen in: U. Battis / E. G. Mahrenholz /  D. Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990, S. 264 (Diskussion), u. a. mit der Forderung nach e­ inem „WeltGesellschaftsvertrag“. 32  Die Präambel der Verf. Peru (1979), zit. nach JöR 36 (1987), S. 641, sagt einzigartig: „gerechte Gesellschaft, in der die Wirtschaft im Dienste des Menschen steht und nicht der Mensch im Dienst der Wirtschaft.“ 33  Repräsentativ: H. Albach (Hrsg.), Globale soziale Marktwirtschaft, 1994.

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lich: also als „soziale“ und wie neuere ostdeutsche Landesverfassungen sagen als ökologische, d. h. dem Umweltschutz verpflichtete Marktwirtschaft (vgl. Art. 42 Abs. 2 S. 1 Verf. Brandenburg von 1992). Nur so wird ein Ausgleich zwischen Sozialverträglichkeit und Effizienz möglich. Dass freilich der Markt nicht zur Wallstatt eines „Krieges aller gegen alle“ gleich dem Naturzustand des T. Hobbes ausarte, sondern nicht zuletzt dank der Rechtsordnung zu einem „status culturalis vel civilis“ werde, ist eine ständige Aufgabe des kooperativen Verfassungsstaates. Eine zweite Vorklärung muss sich auf die „Gesellschaften im Übergang“, beziehen. „Gesellschaften im Übergang“ ist der Oberbegriff sowohl für die herkömmlich sogenannten „Entwicklungsländer“, als auch für jene Länder, die um Transforma­tion von totalitären oder autoritären Strukturen zu verfassungsstaatlichen ringen, oft als „Schwellenländer“. So haben die USA z. B. im August 1995 für Kambodscha wieder gezielt Millionen Dollar um des Aufbaus der Demokratie willen gezahlt34. Gedacht ist an die Nachfolgestaaten der UdSSR, in Asien z. B. auch an Vietnam. Der Begriff „Gesellschaften im Übergang“ verweist implizite auf die Zeitachse: Gemeint ist die besonders sensible, oft langwierige Phase des Umbaus von Staat und Gesellschaft, auf dem, wie sich mehr und mehr gezeigt hat, sehr steinigen Weg zum Verfassungsstaat. Vorgänge, Instrumente, Verfahren und zeitlich gestaffelte Ziele dieses Transformationsprozesses seien später gesondert geschildert. Hier, eingangs, seien nur als gemeinsamer Oberbegriff die Bezeichnung „Gesellschaften im Übergang“ festgehalten; er birgt sehr Verschiedenes in sich. Das bedeutet nicht etwa, dass der Typus Verfassungsstaat nicht selbst ebenfalls auf der Zeitschiene sich entfaltete. Das Gegenteil ist der Fall. Der Verfassungsstaat ist zu einem solchen gerade durch intensive und extensive Wachstumsprozesse geworden, man denke neben der Ausdifferenzierung der Staatsaufgaben an die schrittweise Entwicklung der Grundrechte, jüngst an die Entdeckung ihrer prozessualen und oft schon textlich vorgezeichneten Schutzpflichtendimension (vgl. Art. 53 Abs. 3 Verf. Spanien (1978)), man denke an die Herausbildung von Re­ gio­nalstrukturen in klassischen Einheitsstaaten wie Frankreich und an die Vorformen des Föderalismus in Regionalstaaten wie Italien und Spanien. Insofern ist „Zeit und Verfassungskultur“35 eine Daseinsweise des Verfassungsstaates; zumal wenn man sich den ständigen Reformbedarf der westlichen Demokratien vergegenwärtigt und hier schmerzliche Defizite wahrnimmt, etwa beim Minderheitenschutz, bei Fragen des Umweltschutzes, bei der Bekämpfung der Korruption, der Arbeitslosigkeit oder auf Feldern der Arroganz der politischen Parteien. Dennoch meint das Wort „Gesellschaften im Übergang“ etwas Eigenes. Die Zeitspanne ist verkürzt, wie in einem Zeitraffer, eine „vorrechtsstaatliche Vergangenheit“ vordemokratischer Strukturen36 soll möglichst rasch überwunden und in verfassungsstaatliche überführt werden. Es besteht ein hoher „Zeitdruck“, mitbedingt durch die, Globalisierungsvorgänge37. Jedes Gemein34  FAZ

vom 5. August 1995. mein gleichnamiger Münchner Vortrag (1982), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 627 ff. 36  Vgl. das Thema der Gießener Staatsrechtslehrertagung: Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vorrechtlichen Vergangenheit, VVDStRL 51 (1992), S. 9 ff. 37  Dazu etwa C. Engel, Wege zur Bewältigung der Konflikte in der globalen Informationsgesellschaft, in: E.-J. Mestmäcker (Hrsg.), Kommunikation ohne Monopole II, 1995, S. 179 ff. 35  So



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wesen will möglichst rasch Menschenrechte, pluralistische Demokratie, offene Märkte, eine prosperierende Wirtschaft. Dabei wird oft vergessen, dass der völkerrechts­ offene Verfassungsstaat ungeschrieben ein Mindestmaß an Wohlstand voraussetzt, obwohl oder gerade weil er ihn selbst mitschafft. Die Frage, „wie viel Armut erträgt ein Verfassungsstaat“? bzw. „wie viel Wohlfahrt braucht die Demokratie“?, ist eine Gretchenfrage der Gesellschaft im Übergang38, auch im „arabischen Frühling“. Zielgröße, Maßstabsgröße, „vorläufiges Endziel“ (der Widerspruch sei gewagt) ist dabei der Verfassungsstaat, als Typus im Ganzen und in seinen Strukturelementen. Ihn wollen die Gesellschaften im Übergang möglichst rasch erreichen: Dabei sei vorweg bekannt, dass er, ein gemeineuropäisch-atlantisches Gemeinschaftswerk, meist aus spezifischen Beiträgen der verschiedenen Ländern gewachsen ist: z. B. ist England die parlamentarische Demokratie, den USA und der Schweiz der Föderalismus, den späteren USA (1776) sowie Frankreich (1789) die Menschenrechte, Österreich und Deutschland die Verfassungsgerichtsbarkeit zu verdanken – Ungarn hat 1989 die wunderbare Formulierung von den Minderheiten als „staatsbildenden Faktoren“ erfunden (2012 bestätigt), in Ex-Jugoslawien war zunächst die „ethnische Säuberung“ das „Staatsbildende“, zuvor hat Polen den „Runden Tisch“ als kulturelles Gen der Menschheit wieder entdeckt und in der prekären Phase des Übergangs vom Totalitären zum Pluralismus so den klassischen Gesellschaftsvertrag räumlichoptisch praktiziert. In den 90er Jahren standen in Deutschland Neuerungen im Staatsangehörigkeitsrecht (Stichwort „doppelte Staatsangehörigkeit“ im (europäischen Haus)) an. Kurz: Sichtbar wird, dass die Bewährung des Verfassungsstaates eine Dauer-Anstrengung vieler „im Laufe der Zeit ist“, und die Gesellschaften im Übergang sind, ebenso wie die Entwicklungsländer, in diese Gemeinschaftsaufgabe von vorneherein aktiv einzubeziehen. F. Schiller hat vielen europäischen Nationen ein klassisches Stück – „Geburtsurkunden“ ähnlich – geschrieben: die englische „Maria Stuart“, den Schweizer „Wilhelm Tell“, die französische „Jungfrau von Orleans“, den spanischen „Don Carlos“ und bezeichnenderweise unvollendet – den russischen „Demetrius“. In dieser Weise und (sit venia verbo) „Höhenlage“ wäre der europäisch-atlantische Verfassungsstaat von einem F. Schiller der Verfassungslehre in seinen vielstimmigen Entstehungsvorgängen und heutigen Konturen zu entwerfen. Doch kein Schiller ohne Goethe: Der „west-östliche Diwan“ und die Sentenz „Gottes ist Orient, Gottes ist Okzident, Nord- und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände“ bleibt auch für uns Juristen hier und heute im Blick auf Korea aktuell. Dabei können Vorgänge in anderen Weltgegenden ermutigen: man denke an N. Mandelas Südafrika und die dort z. T. eingelöste Mitverantwortung europäischer Nationen für den fast wunderbaren, weil friedlichen Übergang. 38  Man hat gelernt, dass wirtschaftliche Entwicklung auf staatlichen Rahmenbedingungen beruht, die den Raum für konkurrierende private Wirtschaftsaktivitäten schaffen. Dem Verfassungsstaat bleibt die ordnungsstiftende und gerechtigkeitsverbürgende Rolle. Am Beispiel Afrika lässt sich lernen, dass die von der traditionellen Entwicklungsökonomie genannten Faktoren (nämlich Bevölkerungsexplosion, Kapitalmangel, außenwirtschaftliche Abhängigkeiten) nur Teilaspekte sind. In institu­ tionentheoretischer Sicht fehlt es wesentlich an „institutionellem Kapital“ (Stichwort Armut durch Staatsversagen), weil der Staat keine funktionsfähigen Ordnungen schafft. Dazu H. Leipold, Ordnungsprobleme der Entwicklungsländer, Das Beispiel Schwarzafrika, 1994. – Neu Fragen: das „arabische Jahr 2011“.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

„Weltbürgerliche Absicht“ und nationale Bescheidenheit müssen jetzt den Blick auf (Süd)Korea richten und Aspekte einer „Arbeitsgemeinschaft“ in Sachen kooperativen Verfassungsstaat konstituieren, so wenig wir uns als Rechtswissenschaftler überschätzen dürfen. Letztlich ist es das tolerante Kulturgespräch, das den Kontext für unsere Themen bildet. Damit sei der Übergang zum zweiten und dritten Teil dieses Versuchs angedeutet. Zweiter (allgemeiner) Teil Konturen des gemeineuropäisch / atlantischen Typus Verfassungsstaat I. Methodische Vorfragen: Die Kategorien von Raum und Zeit „Subjekt“ in der Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang ist der ge­ mein­europäisch / atlantische Typus „Verfassungsstaat“; er bildet zugleich das Reformziel dieser Gesellschaften. In den Kategorien von Raum und Zeit gedacht, heißt dies heute: Die Verantwortungsgemeinschaft besteht über weite Räume hinweg, nicht etwa wie herkömmlich nur unter geographischen „Nachbarn“, z. B. in Europa – global sind wir heute freilich Nachbarn aller. Doch schon die werdenden USA haben sich in ihrem Produktions- und Rezeptionsverbund in Sachen Verfassungsstaat vom 18. Jahrhundert bis heute über den Atlantik hinweg mit Europa entwickelt, um dann ihrerseits aktive Stichworte für eben dieses Europa (Menschenrechte, „Federalist Papers“, Verfassungsgerichtsbarkeit) zu geben. Der Raum ist also für Verantwortungsgemeinschaften in „verfassungsstaatlicher Absicht“ relativ, das zeigt sich auch am Beispiel Japan und Korea. Freilich bleibt er ein Faktor für Unterschiede, zumal wenn wir J. G. Herders Wort von der Geschichte als in Bewegung gesetzte Geographie bedenken (wir brauchen es noch im „rezeptionsgeographischen“ Kontext). Wie aber steht es mit der Zeit, einer zweiten Determinante unseres Themas? Gesellschaften im Übergang sind oft in anderen Kulturen beheimatet, d. h. wir stehen vor Ungleichzeitigkeiten. Das Reformziel „Verfassungsstaat“ aber ist Zwischenergebnis einer gemeinsamen Rechtskultur, bei allen nationalen Varianten. Die jeweilige Einbettung der Verfassungsstaaten in unterschiedliche, z. T. ferne Kulturen, wirft das Problem auf, wie stark sich die unterschiedlichen Kulturkreise auf den Normenbestand auswirken: das Problem des kulturellen Kontextes zu den geschriebenen oder ungeschriebenen Texten des Verfassungsstaates und die Differenz im Mentalen. Auf der Zeitschiene gedacht: „Gesellschaften im Übergang“ suchen die auch kulturbedingten Ungleichzeitigkeiten abzubauen, aber sie können und sollen dies nicht zu weitgehend und nicht zu übereilt tun. So wie innerbundesstaatliche Ungleichzeitigkeiten den Föderalismus beleben39 – in den drei deutschsprachigen Bundesstaaten nachweisbar –, so bilden Ungleichzeitigkeiten eine Wachstums- (weil auch Konkurrenz-)Bedingung des globalen oder regionalen Verbunds in verfassungsstaatlicher und zugleich weltbürgerlicher Absicht. M. a. W.: Zeit und Raum sind unentbehrliche Kategorien für die Art und Weise, das jetzige Thema zu denken. Das zeigt sich übrigens auch methodisch beim Verständnis von Verfassungsgeschichte und Rechts39  Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz …, JöR 34 (1983), S. 303 (339).



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vergleichung als zwei Seiten derselben Sache: Verfassungsgeschichte ist Rechtsvergleichung in der Zeit, Rechtsvergleichung ist Vergleichung im Raum. Beide Wege sind zugleich zu gehen: So ist der entwicklungsoffene Verfassungsstaat über Räume hinweg geworden und heute im Blick auf Gesellschaften im Übergang spezifisch gefordert, und so ist kreative Rechtsvergleichung zu praktizieren – als Vergleichung im Raum. Als Bayreuther „Hintersasse“ sei das einzige philosophische R. WagnerZitat aus dem „Parcival“ erlaubt: „Zum Raum wird hier die Zeit“. II. Drei Stichworte zur methodischen Erarbeitung einer Verfassungslehre heute Drei Stichworte kennzeichnen im Übrigen das Arbeiten einer völkerrechtsverpflichteten Verfassungslehre, die sich, nicht autistisch mit sich selbst beschäftigt, sondern die – weltbürger­liche – Mitverantwortung für „Gesellschaften im Übergang“ leisten kann und übernehmen will: –– Verfassungslehre als vergleichende juristische Text- und Kulturwissenschaft; –– Verfassungslehre als Wissenschaft aktiver Rezeptionen (kulturelle Aneignung) und als Teil von ihnen als „Transformationswissenschaft“; –– Verfassungslehre im – doppel – „entwicklungsgeschichtlichen“ Verständnis. 1. Zunächst zum ersten Stichwort dieser methodologischen Trias Die hier skizzierte, ins Universale zielende Verfassungslehre basiert auf geschriebenen und ungeschriebene Texten, die sie raumzeitlich vergleichend erschließt und dank des „Textstufenparadigrnas“ erarbeitet40, wobei die Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode – nach den klassischen vier von F. C. von Savigny (1840) – inthronisiert wird41. Was heißt das? Auszugehen ist von den RechtsTexten, wobei diese weit verstanden werden. Es gibt Verfassungstexte im engeren Sinne, etwa die – interpretierten – Texte des GG, und solche im weiteren Sinne: meist als „Klassikertexte“ präsent und wirksam. So lesen wir Montesquieu’s Gewaltenteilung (nicht nur im GG) immer mit, – heute vielleicht qua „ésprit des constitutions“ –, so werden wir daran arbeiten müssen, dass Lockes Lehre vom Gesellschaftsvertrag in die Zeitdimension projiziert als Generationenvertrag (Nachweltschutz) gelesen wird, und so müssen wir als Juristen die Fortschreibung von Kants „Kategorischen Imperativ“ in Sachen Umweltschutz mit H. Jonas vornehmen: „Handle so, dass die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d. h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte 40  Das Bild von den „Stufen“ will dabei die ältere Phase gegenüber der jüngeren nicht zur bloßen „Vorstufe“ abwerten. Das „Heute“ soll nicht zur „höheren“ Stufe idealisiert werden. Das bedeutete eine Verkennung des Eigenwerts jeder verfassungsstaatlichen Phase und eine Verabsolutierung des Entwicklungsglaubens. 41  Zum Folgenden die schrittweisen Ausarbeitungen des Verf.: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982 (2. Aufl. 1998);·Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992; Europäische Rechtskultur, 1994; Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl. 2001 / 02, 7. Aufl. 2011.

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Zeit zu überleben“. Mit solcher „Weltliteratur“ wurde und wird (der) Verfassungsstaat „gemacht“! – Und er wird vielleicht eines Tages selbst zur Weltliteratur. Hinzuzufügen ist das in Werken von Dichtern und anderen Künstlern ganz allgemein gespeicherte Sinnpotential. So müssen wir für allfällige Reformen des Verfassungsstaates den kritischen Stachel des Satzes von B. Brecht spüren: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus – aber wo geht sie hin?“ Heute etwa zu den Parteien? Geht sie in Russland etwa von der Mafia aus? Und immer wieder F. Schillers Don Carlos: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“. Oder so sollen wir mit D. Sternberger sagen: „Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“: etwa im Bereich der unverfügbaren Grundrechte und des Minderheitenschutzes. Diese Verfassungs- bzw. Klassiker-Texte42 sind in ihrer zeitlichen Abfolge zu lesen und dadurch kommt ihre „Fortschreibung“ und in ihr die Verfassungswirklichkeit ins Bild. Jüngere Verfassunggeber übernehmen nicht etwa einfach die älteren Texte benachbarter oder weiter entfernter Verfassungsstaaten; sie „übersetzen“ auch das, was anderwärts mittlerweile inzwischen in der Verfassungswirklichkeit „gelaufen“ ist, in ihrer Sprache: was aus den alten Texten praktisch geworden ist; sie bringen diese auf neue Begriffe und Texte: in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten dank Staatspraxis, Grundsatzentscheidungen des Verfassungsgerichts bis hin zu Sondervoten (z.  B. Art. 132 Abs. 2 S. 2 Verf. Albanien von 1998), wissenschaftlicher Theorievorschläge. Dieses „Textstufenparadigma“, das eben nicht an der Oberfläche der Texte bleibt, sondern raumzeitlich in die Tiefe geht und die Wirklichkeit erfasst, lässt sich an vielen Themen und in vielen Ländern beobachten: z. B. bei der Entwicklung des (pluralen) Medienverfassungsrechts durch Deutschland bzw. sein BVerfG im Blick auf die iberischen und lateinamerikanischen Länder, bei der Rezeption von föderalen Strukturen „als“ Regionalstrukturen in Spanien im Blick auf das deutsche Grundgesetz und seine Verfassungswirklichkeit, zuletzt in der Fortschreibung, die die neuen ostdeutschen Länderverfassungen im Blick auf westdeutsche Verfassungsentwicklungen etwa im Grundrechtsteil vollbracht haben43. Anders gesagt: Wir befinden uns heute in der „Werkstatt“ einer universalen Verfassungslehre, neue Textstücke als ihre Materialien sind freilich noch keine Garantie für verfassungskonforme Wirklichkeit in dem Land, das sie konzipiert hat, aber diese Textstücke verarbeiten sehr oft anderwärts gewordene Verfassungswirklichkeit und sie bereichern die (nationale) Verfassungslehre, auch im Kontext des Völkerrechts. Verfassung wird dabei von vorneherein kulturwissenschaftlich verstanden, darum das Programm der vergleichenden Verfassungslehre als juristischer Text- und Kul42  P. Häberle, Klassikerstexte im Verfassungsleben, 1981; fortgeschrieben in: FS Hollerbach, 2001, S. 15 ff. 43  Um einen denkbaren Einwand auszuschließen: Mit dieser Textstufenanalyse wird nicht etwa behauptet, dass der junge, neue Text im betreffenden Land jeweils schon Verfassungswirklichkeit ist, wohl aber, dass er in dem anderen Land, dessen Wirklichkeit er ja rezipiert und „konzentriert“ hat, ohne vorgegebenen Text gilt. Der Verweis auf „Vollzugsdefizite“ greift zu kurz. Die Textstufenanalyse gewinnt ihr „Material“ aus den so um Wirklichkeit angereicherten Texten, sie sagt noch nichts darüber aus, ob und wie die neuen Texte im neuen Kontext wirken, „gelten“, zumal sie oft „Programm“ sein wollen. Manche Texte bleiben leider „semantisch“, doch können sie plötzlich in anderen Ländern „erwachen“.



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turwissenschaft, die die Texte inhaltlich stets im (jetzt um das Völkerrecht erweiterten) kulturellen Kontext „nimmt und liest“. Wiederholt sei hier: Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Vielleicht darf man heute in Abwandlungen von Hegel den Satz wagen: Verfassungen (auch das Völkerrecht) sind „ihre Zeit in Gedanken gefasst“. Damit wird es theoretisch möglich, den Nationen, die als Gesellschaften im „Übergang“ Elemente des Verfassungsstaates rezipieren, einerseits ihr kulturelles Erbe mit geben zu lassen, andererseits mindestens mittelfristig Gestaltungsraum für aktive Rezeptionsprozesse zu schaffen. Darauf ist zurückzukommen. In dieses Gesamtbild gehören auch alle seinerzeitigen (Druck-)Mittel des Europarates, Menschenrechte und Minderheitenschutzes als Aufnahmebedingung für die Baltenländer und Russland zu nutzen oder die Türkei zur Einhaltung der Menschenrechte über den „Hebel“ der Zollunion bzw. die EU-Beitrittskriterien zu drängen. Verstärkt geschieht dies in den Europa- bzw. Assoziationsabkommen der EU mit osteuropäischen Ländern und solchen des Balkans, auch der Türkei. Es liegt auf der Hand, dass im Kontext vieler spezieller Textensembles das Programm „Verfassung als Kultur“ zu begreifen, sich unmittelbar aufdrängt. Erinnert sei an ausdrücklich kulturelles Erbe-Klauseln wie sie sich in vielen Entwicklungsländerverfassungen finden44; an Präambeln als „Konzentrat“ der Verfassung, an SprachenArtikel – Sprache mit W. v. Humboldt verstanden als „gleichsam äußere Erscheinung des Geistes der Völker“, im Grund ein Stück ihrer Identität –, sodann an Flaggen, Hymnen, Feiertagsgarantien und Erziehungsziele oder an speziell kulturelle Freiheiten wie die Religionsfreiheit bis hin zu sehr deutschen Sonderformen des Kulturverfassungsrechts wie dem „Staatskirchenrecht“. Doch auch so typische Fundamentalnormen des Verfassungsstaates wie die Grundrechte sind letztlich kulturell geprägt. Es gibt keine „natürliche Freiheit“, alle Freiheit ist kulturell begründet, im Gang der Geschichte kulturell „erfüllte“ Freiheit. Die Kultur,· nicht die Natur bringt Zugewinn an Freiheit: Der „status naturalis“ ist eine Fiktion, eine unverzichtbare gewiss, aber erst die „Kultur“ verschafft den Menschen den „aufrechten Gang“, erst im Laufe ihrer Biographie, kulturellen Sozialisation gewinnen sie Würde. Auch die Entwicklungspsychologie eines L. Kohlberg mit ihren Phasen der konventionellen und mo44  Nachweise in: P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, a. a. O., S.  791 ff.

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ralischen Perioden bekräftigt diesen Ansatz45. Die Humanisierung des Menschen gelingt nur durch Kultur, vor allem die Kunst. Die Gesellschaften im Übergang können aus dieser kulturwissenschaftlichen-rechtsvergleichenden Sicht viel Kraft zu Eigenem schöpfen. Die „westlichen“ Elemente des Typus kooperativen Verfassungsstaat liefern Teile eines „Gerüstes“, aber sie degradieren sie nicht zu „Statisten“ im „eigenen Haus“ und zu bloß passiven Rezipienten fremder Kultur. Vor allem ist vor jeder offenen und verdeckten Form von „Rechtsimperialismus“ zu warnen. 2. Vergleichende Verfassungslehre als Wissenschaft beidseits aktiver Produktion und Rezeption, das Textstufenparadigma, insbesondere ihre jüngste Ausprägung: Die Transformationswissenschaft Die vergleichende völkerrechtsverpflichtete Verfassungslehre in verfassungs- und weltbürgerlicher Absicht (sit venia verbo) kann und muss jene Prozesse namhaft machen, in denen sich ihr Gegenstand (die Elemente des Verfassungsstaates) im Ganzen und Einzelnen entwickelt haben. Gemeint sind die kulturellen Vorgänge der Produktion und Rezeption (kulturelle Aneignung) von Texten, von Judikaten, von wissenschaftlichen Theorien, der erwähnten Trias. Hier lässt sich ein üppiges, vielgliedriges Tableau erstellen, das die Rezeptionswege etwa via Gesetzgebung, und Rechtsprechung, aber auch regionale und universale Wissenschaftlergemeinschaften verfolgt, z. B. Überkreuz- oder Mehrfachrezeptionen beobachtet, auf der Verfassungsstufe beginnt, aber bis in die Exekutive reichen kann46. Das personale Moment: einzelne Gelehrte, die ihre juristische Lebenswelt (als „Rezeptionsvermittler“) transportieren, etwa Deutsche in die Türkei, nach Japan47 (von Koeber oder P. F. von Seibold und C. F. H. Roesler48) und für Korea ein E. Fraenkel bzw. die Übersetzungen von Werken eines G. Leibholz49. Für die Gesellschaften im Übergang, die den europäisch / atlantischen Verfassungsstaat spätestens seit 1989 als „Orientierungswert“ gewählt haben, und die wie die „Tigerstaaten“ oder „Schwellenländer“ in Südostasien nicht zuletzt über das Vehikel des wirtschaftlichen Erfolges und wachsenden Wohlstandes ihrem Ziel näher kommen, aber auch für die Reformstaaten im ehemaligen Ostblock hat sich eine Spe­ L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, 1. Aufl. 1974. Ausarbeitungen in P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz …, JöR 34 (1983), S. 303 (354 ff.); später ders., in: U. Battis /  E. G. Mahrenholz  /  D. Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990, S. 17 ff.; zuletzt besonders in JZ 1992, S. 1033 ff. (auch in: Europäische Rechtskultur, 1994, S. 175 ff.; I. v. Münch, Rechtsexport und Rechtsimport, NJW 1994, S. 3145 ff. 47  Hier einige Beispiele: K. Miyazawa wurde eine Festschrift gewidmet mit dem Titel: „Dem Wegbereiter des japanisch-deutschen Strafrechtsdiskurses“, hrsg. von H.-H. Kühne, 1995. 48  Dazu A. Morita, Die Wirkung der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft auf Praxis und Lehre der japanischen Verfassung, in: Battis / Mahrenholz / Tsatsos, a. a. O., S.  189 (191 ff.). 49  Dazu Hyo-Jeon Kim, Hundert Jahre Verfassungsrecht in Korea und Deutschland, JöR 35 (1986); S. 575 (587, 596). 45  Dazu 46  Erste



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zialwissenschaft entwickelt, die als Transformationswissenschaft50 apostrophiert wird. Schlagworte wie „von der Staatswirtschaft zum Markt“ oder „Kleine Schritte, Gradation oder ein Schock?“ und „Zwischen Staat und Markt“ sind fast populär. Die wissenschaftlich-theoretische Aufarbeitung kann vieles namhaft machen, wobei die ganze Beispielvielfalt zu beachten ist, das Transformationsbeispiel Chile, auch Spanien, bis hin zu Ostdeutschland und Ungarn, dieses als besonders gelungen, kann gar nicht überschätzt werden. Nicht zuletzt die A. von Humboldt-Gesellschaft bildet ein Produktions- und Rezeptionsforum, das über Personen – jüngere Gelehrte in Ost und West, Nord und Süd deutschsprachige Verfassungsmaterialien „transportiert“. (Erwähnt sei auch die vom Bund finanzierte Stiftung für international-rechtliche Zusammenarbeit, die bei der Gesetzgebung in Osteuropa hilft.) In den Blick zu nehmen ist auch die Innovationskraft der scheinbar primär nur „nehmenden“ neuen jüngeren Verfassungsstaaten: Kleinstaaten und Entwicklungsländer haben vieles neu auf Texte gebracht und sich aktiv kulturell angeeignet, was in „alten“ Verfassungsstaaten nur kraft Interpretation gilt: etwa Aussagen zur normativen Kraft von Präambeln (z. B. im Kleinstaat) oder zum Vorrang der Verfassung, differenzierte Rechtsquellenkataloge (z. B. im Verfassungsentwurf des polnischen Senats (1991)51). Rezeption ist im Verbund der Verfassungsstaaten also keine „Einbahnstraße“. Dies könnte mittelfristig sogar für die Länder der Arabellion seit 2011 gelten. Inkurs I: Das Beispiel (Süd-)Korea im Spiegel seiner Verfassungen von 1980 und 1987 Nur an wenigen Beispielen sei illustriert, wie intensiv Südkorea in die weltweite Textstufenentwicklung einbezogen ist. Auf einigen Problemfeldern ist es in seinen beiden Verfassungen von 1980 bzw. 1987 schon prima facie zunächst „Rezipient“52: so ist etwa die Vorbildwirkung des Parteien-Artikels 21 des GG evident (Art. 7 bzw. Art. 8)53; doch entwickelt Korea die Terminologie des GG punktuell auch fort in dem Bekenntnis zum „pluralen Parteiensystem“. Die Verf. von 1980 „versteckt“ in Art. 9 das große Wagnis der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung „pursuit of happiness“ (ähnlich Art. 18 Verf. von 1987). Art. 35 Abs. 1 bestimmt: „Freedoms and rights of citizens shall not be neglected on the grounds that they are not enumerated in the Constitution“ (wörtliche Wiederholung in der Verf. von 1987 in Art. 37 Abs. 1): Diese Form entbehrt zwar der dynamischen Kraft und des inhalt­ lichen Reichtums der öffnenden Grundrechtsentwicklungsklausel von Art. 4 Verf. Peru (1979), wonach die Aufzählung der anerkannten Rechte nicht andere, die ver50  Die „Transformationsliteratur“ ist schon jetzt unüberschaubar. Nachweise bis 1994 in meinem Beitrag in FS Mahrenholz, 1994, S. 133 ff. Seitdem etwa K. Pappenberger, „Sequencing“ and „timing“ im Transformationsprozess, 1995; D. Lehmann, Das Steuerrecht der osteuropäischen Länder von der sozialistischen Planwirtschaft zur demokratischen Marktwirtschaft, 1995. Eine eigene Zeitschrift „Transit“, 1990 in Wien gegründet, behandelt regelmäßig transformationswissenschaftliche Fragen. 51  Zit. nach JöR 43 (1995), S. 212 ff. 52  Zit. nach JöR 35 (1986), S. 604 ff. bzw. 38 (1989), S. 587 ff. 53  Zum Vorläufer-Artikel 13 der Verf. von 1960: Hyo-Jeon Kim, JöR 35 (1986), a. a. O., S.  594.

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gleichbarer Natur sind oder aus der „Würde des Menschen, dem Prinzip der Volkssouveränität, dem sozialen und demokratischen Rechtsstaat … folgen“, ausschließt54 („numerus apertus“ der Rechtsquellen). Aber sie ist wenigstens vorhanden. Im Übrigen ist der Grundrechtskatalog auf dem Stand, der dem Typus kooperativer Verfassungsstaat 1980 bzw. 1987 bei allen Gestaltungsspielräumen geschrieben oder ungeschrieben eigen war: wir finden die Unschuldsvermutung (Art. 26 Abs. 4 bzw. 27 Abs. 4, die dem GG bekanntlich nur durch schöpferische Interpretation und Bezugnahme auf die EMRK „zuzuschreiben“ ist), wir finden das Recht auf „privacy“ (Art. 17 Verf. von 1987), auch die grundrechtliche Wesensgehaltgarantie (Art. 37 Abs. 2 Verf. von 1987)55. Innovative, also aktive Textstufen-Bereicherungen lassen sich indes immer wieder ebenfalls nachweisen: in der Präambel etwa in Gestalt der schönen Formel „To consolidate national unity with justice, humanitarianism and brotherly love“ (in beiden Verfassungen) oder in Form des Staatsziels „lifelong education“ (Art. 29 Abs. 5 Verf. 1980). In der Präambel 1987 ist sogar eine Menschheits- und Nachweltdimension erkennbar („To elevate the quality of life for all citizens and contribute to lasting world peace and the common prosperity of mankind and therebey to ensure security, liberty and happiness for ourselves and our poster­ ity“). Wie überhaupt die klassische Präambelstruktur vorbildlich beachtet und fortgeschrieben wurde: nämlich feierlich-bürgernahe „Einstimmung“ auf die Grundsätze der Verfassung, Verarbeitung der Geschichte, Entwurf von Zukunftsperspektiven (auch international) – analog Ouvertüren oder Prologen in Kunstwerken56. 3. Vergleichende Verfassungslehre im doppelt „entwicklungsgeschichtlichen“ Verständnis Drittes Stichwort, das unter den methodischen Vorfragen verhandelt sei, ist das entwicklungsgeschichtliche Verständnis des Verfassungsstaates; dies in einem doppelten Sinne. Zum einen: Wie im Textstufenparadigma greifbar, bildet der Verfassungsstaat die immer vorläufige Zwischensumme langer Entwicklungen im Laufe der Zeit. Er bleibt unterwegs, vor allem muss er sich an und in Reformen bewähren, wobei ausgerechnet seit seinem Sieg über den Marxismus-Leninismus im Jahre 1989 ein gesteigerter, oft nicht befriedigter Reformbedarf auftritt: Korruption, Parteienarroganz, Arbeitslosigkeit, das Defizit an Umweltschutz sind bekannt. Gewiss, die Menschenwürde ist die kulturanthropologische Prämisse57, die pluralistische Demo54  Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff. Weitere Textbeispiele: § 10 Verf. Estland von 1992. „Urbild“ war wohl Art. IX US-Amendment. 55  Dazu Hyo-Jeon Kim, Das Bonner Grundgesetz und die koreanischen Verfassungen, in: Battis / Mahrenholz / Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990, S. 175 (181  f.); Y. Huh, Die Grundzüge der neuen koreanischen Verfassung von 1987, JöR 38 (1989), S. 565 (569). 56  Zu den Präambeln mein Beitrag: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen (1981), jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 176 ff.; s. auch in diesem Band S. 629 ff. 57  Dazu mein Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HStR, Bd. I (1987), S. 815 (843) – Bd. II, 3. Aufl. 2004 § 22 RdNr.  46 ff.



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kratie deren organisatorische Konsequenz. Aber darüber hinaus ist der Verfassungsstaat entwicklungsfähig und -bedürftig – wie alle Kultur, will er nicht versteinern und damit letztlich (zer)brechen. Und: viele Instrumente und Verfahren haben sich organisieren lassen, um den Reformbedarf auf den Weg zu bringen: auf einer Skala gedacht, von der Total- oder Teilrevision über Gesetzgebungsexperimente (z. B. Experimentier- und Erfahrungsklauseln, Zeitgesetze) bis hin zum – „prospektiven“ – Sondervotum im Verfassungsgericht der USA, Deutschlands, Albaniens, Brasiliens oder Spaniens und Thailands (noch nicht: Italiens). Zum andern: Der nationale Verfassungsstaat ist heute ideell und materiell in einem regional oft schon recht dichten Verbund (Beispiel Europa), der nun auch global sichtbar wird und unser heutiges Thema bestimmt: die Mitverantwortung für Gesellschaften. im Übergang! Diese Mitverantwortung ist heute wachsender Teil der eigenen Entwicklungsgeschichte des kooperativen Verfassungsstaates, er unterstützt Entwicklungen (z. B. Beratungshilfe) um der anderen, letztlich aber auch um seiner selbst willen. Diese „überschießende Tendenz“, z. B. in Gestalt von materieller und personeller „Entwicklungshilfe“ greifbar, aber nicht nur hier schlägt sich bislang nur z. T. in Verfassungstexten, mehr noch in der Praxis nieder: man denke an Entwicklungsprojekte von parteinahen Stiftungen in Deutschland im Blick auf Namibia58, im Blick auf Südafrika (paritätisch zwischen der F. Ebert-Stiftung und der K. Adenauer / H. Seidel-Stiftung aufgeteilt) und man vergegenwärtige sich nur die Unternehmungen US-amerikanischer Gelehrter, aber auch der „law firms“ in den GUSStaaten oder auch eigene Beiträge des Verfassers in Polen (1991 und 1994). Inkurs II: Weltbürgerliche Mitverantwortungstendenzen im Spiegel älterer und neuerer Verfassungstexte und Verfassungsvorhaben, das „Weltbild“ des Verfassungsstaates, humanitäres nationales Verfassungsrecht Das Folgende will die Aufmerksamkeit auf Tendenzen der verfassungsstaatlichen Textstufenentwicklung lenken, die – bislang kaum beachtet und nicht im Zusammenhang interpretiert – für unser Thema höchst aussagekräftig sind. Stichworte seien das „Weltbild des Verfassungsstaates“, die Entstehung von „humanitärem Verfassungsrecht“. Gemeint ist folgendes: Der nationale Verfassungsstaat „verinnerlicht“ Vorgänge und Aufgaben in der (einen) Welt, er sieht sich in globalen (oder regionalen) Bezügen und ordnet sich entsprechend ein. Er normiert (seine) Grundwerte für die Welt, universal, „kosmopolitisch“. Ganz vereinzelt sind Vorstufen von nationalem humanitärem Verfassungsrecht und einem Verfassungsrecht der Entwicklungshilfe zu erkennen; auch das Umweltvölkerrecht ermutigt wenigstens tendenziell. Wird man für unser Thema dank einer Textstufenanalyse fündig oder ist es Aufgabe zukünftiger Verfassunggeber, die „weltbürgerliche Absicht“, speziell beglaubigt als „Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang“, auch textlich zu dokumentieren? Stehen wir erst am Beginn einer neuen Wachstumsphase, zu der „wissenschaftliche Vorratspolitik“ zu leisten ist – analog der Arbeit etwa an Europa-Artikeln von Art. 23 n. F. GG sowie deutschen Länderferfassungen und zur Rezeption des EMRK wie in Art. 3, 112 Verf. Tschechien 199259, von einem neuen griechischen 58  Dazu 59  Dazu

M. O. Hinz, Die Verfassung Namibias, JöR 40 (1991 / 92), S. 653 ff. mein Beitrag in FS Everling I., 1995, S. 355 (364 ff.).

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Europa-Artikel (vgl. Art. 28) bis zum schließlich geglückten Europa-Artikel 3 a in Bayern (1998), von der einschlägigen französischen Verfassungsreform (Art. 88-1 bis 7) bis zur (vor allem in den Regionalstatuten erfolgreichen) Diskussion in I­ talien, Spanien und bis zu einer Denkschrift für Polen60? Der erste Wachstumsschub für solche Ideen erfolgte in den späten 40er Jahren und ist von der durch den 2. Weltkrieg verursachten Katastrophe geprägt. Das schönste Beispiel findet sich im GG, indem es Menschenrechte, Frieden und Gerechtigkeit im Blick auf die Welt verspricht (Art. 1 Abs. 2: Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage jeder (!) menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“61: ein Universalitätsanspruch. Die Einstimmung hierfür intonierte die Präambel: „als Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen“, und sie strahlt auch in das universale Ziel in Art. 24 Abs. 2 GG aus („Einschränkung von Hoheitsrechten, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern“). Schrittmacher solch großen Denkens sind UN-Dokumente wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN (1948), zuvor die Charta der UN (1945). Dass das Völkerrecht hier in die innerstaatliche Verfassunggebung ausstrahlt, sei festgehalten, weil sich darin ein neuer Wirkungszusammenhang offenbart. – Es ist kein Zufall, dass nach 1989 ein neuer Textschub erfolgt, so wenn ein Verfassungsentwurf in Mecklenburg-Vorpommern vom Juli 199062 in der Präambel formuliert: „Entschlossen …, einen Frieden zu wahren, der Gerechtigkeit und Menschenrechte für alle Völker und jeden einzelnen einschließt“, oder wenn die Verfassungspräambel Tschechiens’ (1992) den Weltbezug wagt, indem es sich als „Bestandteil der Familie der Demokratien Europas und der Welt“ definiert. Präambel EUV (2007) spricht von den „unverletzlichen und unveräußerlichen Rechten des Menschen sowie Freiheiten, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“ als „universellen Werten“. Diese reifen zu „Weltrechtskultur“ und bereichern das allgemeine Völkerrecht. Friedensklauseln – in nuce durchaus ein Stück „Weltethos“ – bilden ein zweites Textensemble Eine besonders glückliche Formulierung findet sich in der Präambel Verf. Hamburg (1952): Hamburg „will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern sein“. Zuvor hat Art. 11 Verf. Italien (1947) eine souveränitätsbeschränkende Ordnung entworfen, „welche den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Nationen“ gewährleistet. Art. 29 Abs. 1 Verf. Irland (1937 / 1987) bekräftigt die Ergebenheit gegenüber dem „Ideal des Friedens und der freundschaftlichen Zusammenarbeit unter den Völkern“. Präambel Verf. Japan (1946) bekennt sich zum „ewigen Frieden“ – wer denkt dabei nicht an I. Kants Vision vom „Ewigen Frieden“ (1795)? Und auch die Verfassungspräambel Koreas (1980) will „strive for a lasting world peace“. Auch hier standen völkerrechtliche Texte wie die Charta der Vereinten Nationen (1945) Pate: für den kooperativen Verfassungsstaat. 60  Dazu P. Häberle, in: Die Verwaltung 28 (1995), S. 249 ff. bzw. oben S. 616 ff. zu Italien. 61  Eine parallele Fragestellung bei C. Gusy, Das Grundgesetz im völkerrecht­ lichen Wirkungszusammenhang, in: U. Battis / E. G. Mahrenholz / D. Tsatsos (Hrsg.), 1990, S. 207 (208). 62  Zit. nach JöR 39 (1990), S. 399.



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Eine dritte Textgruppe befasst sich mit Erziehungszielen in weltbürgerlicher bzw. völkerrechtlicher Absicht sowie multikultureller Toleranz. Erziehungsziele sind Herzstücke verfassungsstaatlicher Verfassungen. Sie sagen viel über das Selbstverständnis eines Gemeinwesens aus63. Pionier-Artikel ist Art. 148 WRV (1919) mit dem Erziehungsziel „im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung“. Die westdeutschen Landesverfassungen nach 1945 kommen darauf zurück (z. B. Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: „demokratische Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung“). Fast ein „Quantensprung“ gelingt Art. 72 Abs. 1 Verf. Gua­ temala von 198564. Erziehungsziele sind „… die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur“ und die Erziehung zu den Menschenrechten. (Hierzu inspirierte gewiss Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948). Das Schwellenjahr 1989, bewirkte einen weiteren „Textschub“, wenn es z. B. in Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993 heißt: „Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen“. Dies wird auch in Form des Umweltschutzes eingefordert. Wird dies auch in arabischen Ländern beherzigt? Zusammenarbeits-Klauseln, die sich bis zum Humanitären verdichten können und im Verfassungsziel der Entwicklungshilfe vereinzelt konkret werden, bilden ein viertes Textensemble. Erwähnt sei Art. 28 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975), Zusammenarbeit mit anderen Staaten, Präambel Verf. Spanien (1978) – „von guter Zusammenarbeit gekennzeichnete Beziehungen zwischen allen Völkern der Erde“, Belege für das Konzept des „kooperativen Verfassungsstaates“65. Eine neue Textstufe leiten Schweizer Kantonsverfassungen und ihre reichen Werkstätten ein. Das beginnt mit dem stolzen Satz aus Art. 4 Abs. 3 Verf. Jura (1977) – „Elle est ouverte au monde et coopère avec les peuples soucieux de solidarité“ und endet vorläufig mit dem kühnen Anspruch, den Art. 54 Abs. 2 Verf. Bern (1993) unter der Überschrift „Internationale Zusammenarbeit und Hilfe“ wagt: „Er (sc. der Kanton) leistet einen Beitrag zum wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aufbau in benachteiligten Ländern und unterstützt die humanitäre Hilfe für notleidende Menschen und Völker. Er fördert dabei die Einhaltung der Menschenrechte“. Diese Klausel strahlte auf die seinerzeit geplante „Nachführung“ der Schweizer Bundesverfassung aus (Art. 44 Abs. 2 Hlbs. 2 des Entwurfs 199566, vgl. jetzt Art. 54 Abs. 2 nBV Schweiz von 1999). Zu diesen Texten gibt es in Deutschland schon Entsprechungen in der (Verfassungs-)Wirklichkeit: So engagieren sich derzeit vier Bundesländer von NRW bis Baden-Württemberg in Patenschaften mit Provinzen eines Prototyps einer Gesellschaft im Übergang, nämlich in Südafrika67. Ähnliches ging als Entwicklungshilfe im Blick auf Provinzen Russlands bzw. der GUS voraus. Auch die Verbundenheit 63  Zum Theorierahmen: P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 64  Zit. nach JöR 36 (1985), S. 555 ff. 65  Dazu P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat (1978), auch in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 407 ff. (3. Aufl. 1998). 66  In Osteuropa gelingt Ungarn schon 1989 die Wendung (Abschnitt 6 Abs. 2, zit. nach JöR 39 (1990), S. 258 ff.): „Die Republik Ungarn strebt nach einer Zusammenarbeit mit allen Völkern und Ländern der Welt.“ 67  Zit. nach FAZ vom 15. August 1995, S. 2.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

der Regionen in Europa gehört ins Bild. M. a. W.: wir sehen uns einem Wettlauf von „werdenden Verfassungstexten“ gegenüber, die teils „nachschreiben“ und „nachholen“, teils „voraus sind“ und Tendenzen in der Wirklichkeit einfangen: ein Beleg für das hier vertretene Paradigma von Text- bzw. Kontext-Entwicklung bzw. entsprechender Metamorphose, fast weltweit. Art. 151 Verf. Guatemala (1985) ist die textliche Verkörperung einer Idee geglückt, die den Kooperationsgedanken inhaltlich fortschreibt und unmittelbar für Korea bzw. Südostasien geschrieben sein könnte. „Der Staat Guatemala unterhält Beziehungen der Freundschaft, Solidarität und Zusammenarbeit mit allen Staaten, deren ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung ähnlich ist wie die von Guatemala, mit dem Ziel, Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden und gemeinsam für eine Politik zum Wohl der genannten Staaten zu entwickeln.“68 Diese Klausel kann m. E. gar nicht überschätzt werden. Sie verdient den Namen „Wahlverwandschafts-Klausel“. Zwischen „ähnlichen“ Verfassungsstaaten wird eine spezifische Verantwortungsgemeinschaft hergestellt: nicht im Sinne zunächst einseitiger „Entwicklungshilfe“ vom entwickelten Nehmerstaat zum sich erst noch entwickelnden Geberstaat: vielmehr unter Gleichen oder doch Ähnlichen. Damit gewinnt unser Problem ein doppeltes Gesicht: Zu bedenken ist die Verantwortung der „älteren“ Verfassungsstaaten für „Gesellschaften im Übergang“ einerseits, aber auch die Verantwortung dieser „Gesellschaften im Übergang“ untereinander; beides im völkerverbindenden, nicht im ausgrenzenden Sinne69. Während Art. 151 Verf. Guatemala durchaus ins Universale greifen kann – in aller Welt können sich Verfassungsstaaten „ähnlichen“ Entwicklungsstandes finden –, sind als fünfte Textgruppe jene Normen ins Auge zu fassen, die regional konzipiert sind, d. h. hier, vor Ort, Integration wollen. So bekennt sich Brasilien (Art. 4 Verf. von 1988) zur Integration mit dem Ziel der Bildung einer lateinamerikanischen „Nationengemeinschaft“, ähnlich Präambel Verf. Peru (1979). Hierher gehören aber vor allem alle allgemeinem und speziellen „Europa-Artikel“, von deren Vielfalt Art. 23 n. F. GG nur ein Beispiel liefert70, ebenso Afrika-Artikel in Afrika und Lateinamerika-Artikel in Lateinamerika. Eine letzte Textgruppe, die den kooperativen Verfassungsstaat zur Welt hin öffnet, ist durch den Wunsch nach Verbesserungen der Grundrechtspositionen für Ausländer gekennzeichnet, Die Beispielsvielfalt reicht von Gleichstellungsartikeln der Ausländer mit Inländern (vgl. Art. 13 Abs. 1 und 2 Verf. Spanien) zu Normen zum Minderheitenschutz. Dieser kursorische Überblick liefert „Materialien“ für weltbezogene nationale Verfassungspolitik, d. h. Normen: –– zur Einforderung eigener und zugleich universaler Grundwerte wie Menschenrechte, Gerechtigkeit, Frieden sowie Aspekte humanitären Verfassungsrechts; 68  Zit.

nach JöR 36 (1987), S. 555 ff. egoistisch denkt Art. 7 Verf. Singapur (1992): „Participation in cooperative international schemes which are beneficial to Singapore.“ 70  Dazu P. Häberle, Europaprogramme neuerer Verfassungen und Verfassungsentwürfe, FS Everling, Bd. I, 1995, S. 355 ff. Weitere konstitutionelle Beispiele oben S.  98 ff. 69  Einseitig



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–– zur entschlossenen Förderung entsprechender Erziehungsziele einschließlich multikultureller Toleranz; –– durch Kooperations-Artikel, die sich bis zu regional definierten Verantwortungsgemeinschaften oder universalen Verbundformen zwischen „Wahlverwandtschaften“ steigern können bzw. gestufte Integrationsformen nach Maßgabe Europas oder Lateinamerikas sowie Afrikas vorsehen (Stichwort: nationales Europaverfassungsrecht, nationales Lateinamerika-Verfassungsrecht bzw. nationales AfrikaVerfassungsrecht). Insgesamt ist die Sensibilität des nationalen Verfassungsstaates für Textstufenentwicklungen auf völkerrechtlicher Ebene zu schärfen, die von ihm zu Verfassungstexten und -werten „verinnerlicht“ werden könnten oder sollten. Die skizzierte Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft zwischen Verfassungsstaaten ist um die völkerrechtliche Ebene zu ergänzen! Auch darf sich alles Ringen um Partnerschaft und (Beratungs-)Hilfe in Verfassungs-, Gesetzgebungs- und Verwaltungsfragen der „Transformationsländer“ ermutigt fühlen. Sichtbar wird eine „Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten“. Für Korea sind aus all dem im dritten Teil Folgerungen zu ziehen. Kurz: Die Mitverantwortung für das (z. T. nur scheinbar) „Fremde“ wird zur jüngsten Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates der offenen Gesellschaft und pluralistischen Gruppen, Entwicklungshilfe im weitesten Sinne, d. h. auch Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang zu Beispielsfällen eben dieses Typus Verfassungsstaat, aber auch Entwicklungen anderer zu integrierenden Bestandteil des Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe zu befördern: wohl nicht in Bezug auf die ganze Welt (das wäre utopische Überforderung), sondern im Blick auf jeweils einzelne „Gesellschaften“ im Übergang“. Mitgedacht sind dabei regional geprägte Verantwortungszusammenhänge, die sich ökonomisch gene in „Freihandelszonen“, kulturell in Identitätskonzepte (so im Blick auf Iberoamerika: Spanien und Portugal oder in Europa-Artikeln in Europa) andeuten. Im Ganzen mag dann aus dem Wirken vieler einzelner Verfassungsstaaten eingelöste Mitverantwortung für die Welt entstehen. Nur dies will das – zugegeben gewagte – Wort von „verfassungsstaatlicher“ und „weltbürgerlicher Absicht“ andeuten. Und: Das Gesagte verläuft innerhalb des nationalen Verfassungsstaates, so sehr Völkerrecht und Völkergemeinschaften eine Wirkebene bleiben. Einzelne Bürger wie Gruppen, der Staat wie seine Parteien, die einzelnen Staatsfunktionen sind dabei gesamthänderisch in die Pflicht genommen, wobei alte Austausch- bzw. Wahlverwandtschaften etwa zwischen Korea (oder der Türkei) und Deutschland oder Bulgarien, Rumänien und Frankreich und neu sich entwickelnde wie Südafrika / Deutschland fruchtbar sind, weil sie „Kulturwege“ bezeichnen und gesunde Konkurrenzverhältnisse nicht ausschließen, so etwa der Wettbewerb zwischen deutschen und französischen Rechts­ traditionen in Polen71 (neu war und ist der Wettbewerb zwischen US-amerikanischen und deutschen in Osteuropa). Auf die Vorgänge in Arabien (2012) darf man gespannt sein. Vermutlich arbeiten Frankreich in Tunesien mit, die USA in Ägypten. Dabei ist es der einzelne Verfassungsstaat, der letztlich auch die Völkergemeinschaft trägt. Zwar wird im Blick auf die europäischen Einigungsvorgänge zu Recht von der „überstaatlichen Bedingtheit des Staates“ gesprochen (W. von Simson). Doch ist das innere Gegenstück hierzu die staatliche Bedingtheit des Überstaatlichen. Wir 71  Dokumentiert

in JöR 43 (1995), S. 134 ff.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

sehen sie an dem Versagen der UN-Völkergemeinschaft (zuletzt gegenüber Syrien 2012) und der EU in regionalen Konflikten wie auf dem Balkan oder in Somalia. Die weltbürgerliche Absicht auf einen „Weltstaat“ hin zu entwickeln, wäre unsinnig. Sie allein auf die Völkerrechtsebene z. B. in Sachen Menschenrechte im Völkerrecht, Entwicklungsvölkerrecht, Umweltvölkerrecht, humanitäres Völkerrecht zu betreiben, wäre zu wenig. Es ist der nationale kooperative Verfassungsstaat, der das verfassungsstaatliche zum Regionalbürgerlichen und Weltbürgerlichen steigern kann, indem er z. B. Mitverantwortung für „Gesellschaften im Übergang“ wahrnimmt. Ob und wie sich diese Entwicklungen bereits in Verfassungstexten niederschlagen und ob dabei die Tatsachen wie so oft den Begriffen „voraus“ sind, mag die folgende Textstufenanalyse erweisen. III. Inhaltliche Hauptfragen: Themen, Funktionen und Verfahren des Verfassungsstaates – Insbesondere: Die Kunst der Verfassunggebung für Gesellschaften im Übergang 1. Allgemeines Inhaltlich sei der Typus „Verfassungsstaat“, wie er Reformziel für Gesellschaften im Übergang ist, nur knapp skizziert, zumal schon im Kontext der Methodenfrage naturgemäß viele „Sachen“ mitgedacht wurden. Die „Themenliste“ geschriebener und ungeschriebener Verfassungen – also das für „wichtig Gehaltene“ – ist offen. Neue Inhalte wie Umweltschutz, Datenschutz, Minderheitenschutz, neue Dimensionen der Grundrechte, Ausbau des effektiven Rechtsschutzes und justizielle Grundrechte kommen hinzu; anderes tritt zurück oder wird so selbstverständlich, dass es nicht mehr ausdrücklich behandelt wird. Das Prinzip des „Vorrangs der Verfassung“ wird in neuen Verfassungen Lateinamerikas und Afrikas, der „Entwicklungsländer“, z. B. in Namibia: Art. 1 Abs. 6 Verf. von 1990, Art. 2 Abs. 1 neue Verf. Angola von 2010 oder Asiens, Art. 5 Abs. 2 Verf. Turkmenistan (1992)72, Art. 1 Abs. 1 Verf. Nepal (1990)73, textlich thematisiert (z. B. Art. 87 Verf. Peru von 1979), während es in vielen alten Verfassungsstaaten vor allem von Judikatur und Wissenschaft behandelt wird74. Darum ist das Bild vom „Wachstumsprozess“ der Verfassungen so treffend („constitutio cum legentibus et viventibus crescit“). Für „Gesellschaften im Übergang“ stellen sich grundsätzliche Fragen: Sollen sie erklärtermaßen für die Übergangszeit nur „Übergangsverfassungen“ erlassen (so etwa Polen, 1991) oder sollen sie bereits grundsätzlich eine „ganze“ verfassungsstaatliche Verfassung in Kraft setzen, obwohl für eine gewisse Zeitspanne, eben den Übergang, deren Dauer nicht immer voraussehbar ist, die Verfassung in Teilen suspendiert ist, realiter noch nicht gilt bzw. gelten kann, also eher Hoffnungen und Wünsche, mitunter utopischer Art programmatisch formuliert, so dass die „normati72  Zit.

nach JöR 42 (1994), S. 674 ff. nach JöR 41 (1993), S. 506. 74  Aus der Lit.: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 88; R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, S. 375. 73  Zit.



Exkurs I: Kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende Verfassungslehre727

ve Kraft der Verfassung“ (K. Hesse) Schaden nimmt. M. E. ist der Weg der formellen Übergangsverfassung in der Regel zu meiden. Das zeigen die Erfahrungen in Polen. Dort hat man die „Stunde der Verfassunggebung“ Anfang der 90er Jahre versäumt, bis 1997 tat man sich ungemein schwer, eine Verfassung wie die von Tschechien (1992) oder Estland (1992) zu entwerfen und in Kraft zu setzen. Eher ist der umgekehrte Weg empfehlenswert: In Gesellschaften im Übergang können „ganze“ Verfassungen in Einzelteilen für eine Übergangszeit noch außer Vollzug gesetzt werden75. Die Grundpfeiler, der Grundsatzrahmen sollte „stehen“. So vieles sonst für die Stückwerk-Technik des „social piece meal engineering“ von Popper spricht: Verfassungen als „rechtliche Grundordnung“ des Staates (W. Kägi) und das sei hinzugefügt, auch von Gesellschaft, müssen im Ganzen konstituiert werden. Sukzessives, fragmentarisches Inkraftsetzen durch eine Vielzahl einzelner Verfassungsgesetze nimmt den Gesellschaften im Übergang die Kraft, ja den Elan vital für das Reformziel und den „langen Atem“. Der Übergang wird kurzatmig, beschwört die Gefahr von Rückschritten wie in Polen herauf. M. a. W.: die Kunst der Verfassunggebung in Gesellschaften im Übergang bildet ein eigenes Thema. Überblickt man weltweit die Verfassungswerkstätten in Asien oder Afrika, so dürfte der Wunsch, von vorneherein eine ganze Verfassung auf den Weg zu bringen, vorherrschen. (Nur Südafrika geht das Wagnis einer Übergangsverfassung ein, 1994 bis 97, wobei der endgültigen Verfassung „Constitutional Principles“ mitgegeben wurden, die als „Schedule 7“ alle Essentialia des Verfassungsstaates enthalten, z. B. Vorrang der Verfassung, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteiensystem, Vielfalt der Sprachen und Kulturen, Grundfreiheiten, kommunale Selbstverwaltung etc.) In Osteuropa hat sich Ungarn zunächst seit 1989 mit bloßen verfassungsstaatlichen Stückwerken im Gesamtgefüge der Verfassung von 1949 begnügt76, 2012 trat eine neue Verfassung in Kraft, die sehr umstritten ist. Freilich sei eines festgehalten: Wagen die „Gesellschaften im Übergang“ eine ganze Verfassung bzw. eine „Totalrevision“, so darf nicht alles „Projekt“, Zukunft, Wunsch und Hoffnung bleiben. Die „Sofortwirkung“ der wichtigsten Grundrechte77, des Demokratieprinzips, der rechtsstaatlichen Kontrollen und nicht zuletzt der Erziehungsziele muss gewährleistet sein; anderes mag zeitlich „gestreckt“ werden, etwa im Bereich der Wirtschafts- und Sozialverfassung, auch des Umweltschutzes, mag es auch zunächst noch am „Verfassungs- und Verwaltungspersonal“ fehlen. 75  So hat z. B. Griechenland in seiner Verfassung von 1975 viele Übergangsbestimmungen erlassen, um mit der Periode des autoritären Regimes von Papadopoulos fertig zu werden (Art. 111 bis 119). Gleiches gilt für Portugal (Art. 290 bis 297), Verf. von 1976). Die Verfassung von Namibia (1990), zit. nach JöR 40 (1991 / 92), S. 691 ff., hat ebenfalls einen reichen Katalog von Übergangsbestimmungen (Art. 133 bis 148 samt acht „Schedules“). – Weiter Beispiele aus jüngerer Zeit: Übergangsbestimmungen 1974 und 1976 zur Verfassung Schweden von 1975 (zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 (382 f.); 29 ausführliche Übergangsartikel zur Verf. Chile von 1981 (zit. nach JöR 30 (1981), S. 693 bis 698). 76  Abgedruckt in JöR 39 (1990), S. 258 ff. 77  Immerhin meint Y. Huh noch 1989 für Korea (Die neue koreanische Verfassung von 1987, JöR 38 (1989), S. 565 (586)): „Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Grundrechte in Korea für eine Übergangszeit weiterhin durch Notmaßnahmen verschiedener Grade eingeschränkt werden.“

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

Diese Überlegungen sind Konsequenz des hier vertretenen „gemischten“ Verfassungverständnisses78. Verfassung ist Norm und Aufgabe (U. Scheuner), Anregung und Schranke (R. Smend), sie ist (nur zum Teil) „Rahmenordnung“ und (nur zum Teil) „öffentlicher Prozess“ im Kontext der Kultur. Je nach Zeit und Raum, nach Geschichte und heutiger Lage der einzelnen Völker (auch ihrem Temperament) sind diese Elemente beweglich miteinander zu kombinieren. So steht der Aspekt des öffentlichen Prozesses bei Gesellschaften im Übergang stärker im Vordergrund als bei klassischen Verfassungsstaaten, die sich in der Sache nur punktuell reformieren müssen, z. B. in der Schweiz. So dürfen die Präambeln in Reformstaaten noch mehr „versprechen“, auf die Zukunft vertagen, „programmatischer“ sein als in alten Verfassungen. So ist der Katalog der Übergangsbestimmungen mit Recht in Reformstaaten länger und bunter als in Totalrevisionen verfassungsstaatlicher Verfassungen wie etwa der Schweizer Kantone. Vieles ist hier eine Frage des rechten Maßes. (So wird etwa Österreich wegen seiner vielen „Nebenverfassungsgesetze“ des Bundes seit langem viel kritisiert79.) Diese wissenschaftliche Integrierung der Sonderlage der „Gesellschaften im Übergang“ in das allgemeine Koordinatensystem einer vergleichenden Verfassungslehre sucht also ernst zu machen mit der Ausgangsthese, Gesellschaften im Übergang seien nur ein Sonderfall des „Projekts Verfassungsstaat“ – in „weltbürgerlicher Absicht“. 2. Konkrete Beispielfelder Schlagwortartig seien die klassischen, „klassizistischen“ und modernen Inhalte des kooperativen Verfassungsstaates der heutigen Entwicklungsstufe erneut in Erinnerung gerufen, damit die Gesellschaften im Übergang daran Maß nehmen können, ohne dass sie ihre propria aufgeben sollten: –– Menschenwürde und Menschenrechte als kulturanthropologische Prämisse (mit allen Verfeinerungen der multidimensionalen Grundrechte bis hin zum „status activus processualis“80, erinnert sei auch an die Lehre von den „Rechten der Dritten Generation“ (Recht auf Entwicklung)81, neuerdings an Auslegungsmaximen für die Menschenrechte wie in Südafrika, im Kosovo sowie in Kenia. –– Pluralistische Demokratie als organisatorische Konsequenz, wobei die große Variationsbreite der Mischung repräsentativer und plebiszitärer Elemente auf der Hand liegt – die Schweiz hat m. E. die nahezu ideale Kombination erreicht, in Deutschland herrscht die unbegreifliche Ideologie vor, die mittelbare Demokratie82 sei die „eigentliche“ – Ausdruck unseres „Jargons der Eigentlichkeit“ (T. W. Adorno). – Die schöne schon klassische Formel „We, the people“ bleibt aussage78  Dazu meine Ausarbeitungen von 1985, jetzt in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 113 f., 263 ff. 79  Dazu etwa T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl. 2009, S. 52 f. 80  Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff.). 81  Dazu E. H. Riedel, Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986, S. 210 ff. 82  So aber E.-W. Böckenförde, Die mittelbare Demokratie …, FS Eichenberger, 1982, S.  301 ff.



Exkurs I: Kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende Verfassungslehre729 kräftig und ist auf dem Weg ein Stück Weltrechtskultur zu werden; zugleich ist sie besser als der (oft noch positivrechtlich tradierte) Klassikertext von J.-J. Rousseau: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“

–– Der Gesellschaftsvertrag ist den Verfassungen dabei teils als „unterlegt“ zu denken, zu fingieren i. S. von Kant bis Rawls, teils als Generationenschutz wie in neueren Verfassungstexten zum Umweltschutz (z. B. Art. 31 Abs. 1 Verf. Bern von 1993) textlich auf Begriffe zu bringen. Verfassung ist immer neues Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller, die Schweizer Konkordanzdemokratie samt ihren Vernehmlassungsverfahren macht damit ernst; der „Runde Tisch“ – als kulturelles Gen der Menschheit virulent – ist der „Geburtsort“ des Reformstaates Polen (1989); apodiktisch und vorbildlich zugleich spricht Art. 4 Verf. Montenegro von 1996 von „Herrschaft des Rechts“. –– Die Prinzipien des „sozialen Rechtsstaates“ sowie teils geschrieben, teils ungeschrieben des Kulturstaates und die damit zusammenhängende Verfeinerung, aber auch Ausdehnung der Staatsaufgaben (bis hin zu Technikfragen) sowie der kulturelles Erbes-Klauseln und Erziehungsziele. –– Die unabhängigen Gerichtsbarkeiten und in wohl allen osteuropäischen Reformstaaten sowie auf dem Balkan die eigene Verfassungsgerichtsbarkeit. –– Die innere Pluralisierung der Staatlichkeit entweder durch den Föderalismus oder durch seinen jüngeren, aber eigenwüchsigen „Bruder“, den Regionalismus83, worin sich die Fortschreibung der klassischen Gewaltenteilung Montesquieus zur „vertikalen“, auch pluralistischen, zeigt (Ausdruck der „Verfassung des Pluralismus“), die Erziehungsziele, etwa zu den Menschenrechten, zu Toleranz und Offenheit gegenüber „Fremden“, zum Umweltschutz, die ja nur die andere – pädagogische – Seite der juristischen Verfassungsprinzipien sind84. –– Nicht zuletzt die vielfältigen Formen der Öffnung des Verfassungsstaates nach außen: zu Nachbarregionen, zur Völkergemeinschaft im Ganzen und zu spezielleren Verantwortungsgemeinschaften im Blick auf „Reformstaaten“; Stichworte der Lehre sind „offene Staatlichkeit“ (K. Vogel), „kooperativer Verfassungsstaat“85, „Völkerrechtsfreundlichkeit“, wobei die Textensembles denkbar vielfältig sind und sich ständig erweitern und verfeinern: von der Rezeption allgemeiner Rechtsgrundsätze und regionale oder globale Menschenrechtspakte über Identitäts-, Integrations- und Kooperationsklauseln bis zu Entwicklungshilfe-Artikeln und Klauseln zur (Mit-)Verantwortung für die Welt. Sogar die Klauseln zum ethnischen Minderheitenschutz gehören hierher. (Sie finden sich jetzt in Verfassungen auf dem Balkan, etwa in Albanien, 1998, Serbien, 2006, Kosovo 2008). –– Die „allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts“ bzw. Teilverfassungen wie die Wiener Konventionen formen den universalen Konstitutionalismus mit.

P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994. S. 209 ff., 257 ff. meine Monographie: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1982. 85  Dazu mein gleichnamiger Beitrag in FS Schelsky (1978), auch in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 407 ff. (3. Aufl., 1998). 83  Dazu 84  Dazu

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat 3. Inkurs: Kulturwissenschaftliche Verfassungstheorie des (globalen) Marktes

Ein eigener Inkurs hat dem Markt, einem im Grunde „unbekannten Wesen“, zu gelten. Eine Verfassungstheorie des Marktes86 – erstmals 1993 gefordert – wird um so dringlicher, je vordergründig erfolgreicher er gerade in Gesellschaften im Übergang ist. Denn in Reformländern wie Russland87 nimmt er Züge des kriegerischen, „mafiosen“ „status naturalis“ eines T. Hobbes an: Der Stärkere setzt sich durch. Andererseits ist klar zu sehen, dass nur freie und offene Märkte wie in den sog. Tigerstaaten jenes Maß an Wohlstand schaffen, auf dessen Basis sich Verfassungsstaaten weiter entwickeln lassen (Sozialstaatliche Verteilungsgerechtigkeit setzt zu Verteilendes voraus). Insbesondere die Demokratie bedarf eines Minimums an materiellem Wohlstand. Man braucht nicht Marxist zu sein, um sich die Frage zu stellen, ob nicht ein Grund des Zusammenbruchs des Ostblocks 1989 die wirtschaftliche Rückständigkeit und Unfähigkeit der sozialen Planwirtschaft war. M. a. W.: Den fast weltweiten Sieg der – sozialen – Marktwirtschaft muss die vergleichende Verfassungslehre erst noch verarbeiten. Der nationale Verfassungsstaat ist keine abhängige Variable der Wirtschaft, aber er kommt auch nicht ohne eine erfolgreiche Wirtschaft aus. Diese Einsicht ist kein Plädoyer für den sich im Westen so beängstigend verbreitenden Ökonomismus und neuen Materialismus – hier können gerade die alten Kulturen des Ostens entgegensteuern. (Stichwort „Wirtschaftsstandort Deutschland“ unter Hintansetzung des „Kulturstandorts Deutschland“!) Vielmehr ist der Markt88 in das Koordinatensystem des Verfassungsstaates als Feld für Innovation und Leistung, für den eigennützig denkenden Menschen einzubauen, auch in seiner völkerverbindenden Kraft. Doch ist er zugleich in den übergreifenden, auch disziplinierenden Rahmen der Verfassung und ihrer kulturellen Vorgaben einzuordnen. Konkret: Der Markt ist nicht das Maß aller Dinge, er ist nicht das Maß des Menschen89, er ist kein Selbstzweck, er darf nicht zum neuen „Götzen“ werden90, er ist selbst kein sinnstiftender Orientierungswert. Damit wird nicht geleugnet, dass das deutsche Modell „Soziale Marktwirtschaft“ seinerseits eine Kulturleistung von Rang ist, aber eben als „soziale“. Vor allem ist an die kulturellen Wertvoraussetzungen und die Grenzen für Marktkräfte zu erinnern. Sie begegnen in Gestalt der Ge86  P. Häberle, Soziale Marktwirtschaft als „Dritter Weg“, ZRP 1993, S. 383 ff.; s. schon oben S. 499 f. 87  Aus der Lit.: M. I. Goldmann, Lost Opportunity: Why economic reforms in Russia have not worked, 1994. 88  Neues Verfassungstextmaterial in Osteuropa: Art. 20 Verf. Polen von 1997: „Soziale Marktwirtschaft“; Art. 49 Abs. Verf. Kroatien von 1990: „Die Freiheit der Unternehmerschaft und des Marktes sind das Fundament des Wirtschaftssystems.“ 89  Bemerkenswert ist die Fragestellung des Instituts für Demoskopie Allensbach: „Ist die Marktwirtschaft nicht menschlich genug“, FAZ vom 16. August 1995, S. 5. 2012 geht es um den Kampf gegen globale Steuerhinterziehung. 90  Zum Vorstehenden schon mein Versuch: Soziale Marktwirtschaft als „Dritter Weg“, ZRP 1993, S. 383 ff. Die Lit. ist im Übrigen unüberschaubar, zuletzt etwa C. Müller, Soziale oder sozialistische Marktwirtschaft – Möglichkeiten zur Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung durch Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht, VRÜ 1995, S 37 ff. (ein in China gehaltener Vortrag).



Exkurs I: Kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende Verfassungslehre731

neralklauseln des Bürgerlichen Rechts zur Unsittlichkeit von Rechtsgeschäften, zu Treu und Glauben etc.91. In der Transformationsgesellschaften nach 1989 hat man schmerzlich erfahren müssen, wie das Fehlen der viel gescholtenen „bürgerlichen Moral“ sich negativ bemerkbar macht. Das Wettbewerbsrecht, alle Versuche, z. B. auf dem die Demokratie wie in Italien so gefährdenden Markt der Medienübermacht einzudämmen, gehören hierher. Andererseits ist freilich immer wieder daran zu erinnern, wie in autoritären Staaten oft gewährte, bloß wirtschaftliche Freiheiten letztlich auch zum Reform- bzw. Revolutionswunsch nach politischen Freiheiten geführt haben (Beispiele finden sich in Chile, auch Polen, hoffentlich inskünftig in China, dazu unten Exkurs III). Der Ruf nach einer „ökologischen Marktwirtschaft“, z. T. schon in Verfassungstexten greifbar (z. B. in Ostdeutschland: Art. 38 Verf. Thüringen von 1993, ähnlich Art. 42 Abs. 2 Verf. Brandenburg von 1992), benennt ein weiteres Teilproblem. Eine spezielle Frage an Gesellschaften im Übergang ist es, ob und wie lange sie das Wirtschaftswachstum unter Außerachtlassung des Umweltschutzes forcieren können. So ist es wohl kein Zufall, dass die koreanische Verfassung von 1987 in ihrer Präambel zwar von „quality of life for all citizens“ spricht, im Übrigen aber den Anschluss an die weltweite Textstufenentwicklung von nationalem Umweltverfassungsrecht verpasst hat92. Die Globalisierung der Märkte birgt Chancen, aber auch neue Gefahren: Einerseits transportieren die Marktkräfte weltweit im eigenen Interesse die sie tragenden Inhalte und Verfahren des kooperativen Verfassungsstaates. Andererseits gefährden sie diesen aber auch, insofern sie z. B. die Individualität der einzelnen Nationen zur Uniformität auflösen, die regionalen und nationalen Kulturen abbauen und damit auch die individuelle Biographie der Menschen auflösen. Der Verfassungsstaat ist weder „merkantile Assekuranzanstalt“ (A. Müller) noch „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (Hegel). Er ist fundiert durch die ethischen Grundwerte, die z. B. in den Erziehungszielen zum Ausdruck kommen und im Grundkonsens immer neu erarbeitet werden müssen. Seine Menschen auf das Entweder-Oder von „Produzenten oder Konsumenten“ zu reduzieren, d. h. also alles vom Markt her und auf den Markt hin zu denken, verfehlte den Verfassungsstaat aus Kultur und als Kultur im Kern. 4. Verwaltungsrecht „im“ verfassungsstaatlichen Verfassungsrecht Das Wort Verwaltungsrecht „im“ Verfassungsrecht will andeuten, dass die beliebten Hierarchie-Vorstellungen zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht fragwürdig sind. Weder ist das Verfassungsrecht nur „oben“, noch das Verwaltungsrecht nur „unten“, es hat seine Propria, und die Schweizer Lehre ist hier insofern weiter als die deutsche, sofern sie von „droit administratif constitutionnel“ spricht. Vor allem 91  Symptomatisch ist das Bemühen fast aller osteuropäischer Staaten, durch die Wiedereinführung von Zivil-, Register- und Notarvorschriften nach kontinentaleuropäischem Vorbild die Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern, vgl. FAZ vom 30. Mai 1995, S. 5: „Freie Notariate in Osteuropa begrüßt.“ 92  Aussagen wie in Art. 120 Abs. 2 („The land and natural resources shall be protected“) sind zu wenig. Weiteres konstitutionelles Textmaterial in Sachen „Umweltschutz“ und „Nachhaltigkeit“ in diesem Buch oben S. 522 ff.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

die Europäisierung des Verwaltungsrechts öffnet ganz neue Horizonte93. Das GG denkt Grundsätze des Verwaltungsrechts auf seiner eigenen Höhe mit. So verdienstvoll F. Werners These vom „Verwaltungsrecht als konkretisierendes Verfassungsrecht“ ist, so wenig darf sie im traditionellen Sinne gelesen werden. Die Konkretisierung und Modernisierung des Verfassungsstaates hat auf weiten Feldern im Medium des Verwaltungsrechts zu geschehen (auch personell), und es sei vermerkt, dass die neuere Verwaltungsrechtsdogmatik in Deutschland sich aufmacht, das allgemeine und besondere Verwaltungsrecht neu zu durchdenken, Stichwort: gewandelte Handlungsformen, kooperative Verwaltungsstrukturen, z. B. im Umweltrecht – etwa in den Arbeiten der Projektgruppe von E. Schmidt-Aßmann und W. HoffmannRiem94; weitere Stichworte sind die Relativierung der herkömmlichen Handlungsformen der Verwaltung, die engere Zusammenführung des öffentlichen und privaten Rechts im Verwaltungsrecht, die neuen Kooperations- (Konsensual-) und Kommunikationsformen (staatliche Informationsakte), Prozeduralisierung des Verwaltungsrechts, der Präventionsgedanke im Verwaltungshandeln (Vorsorgefunktion der Verwaltung), die Ergänzung des Rechtsschutzes durch Steuerungsaktionen und Bürgermitwirkung95. Speziell für Gesellschaften im Übergang ist der entwicklungspolitische Ansatz96 weiter. Der Übergang ist „vor Ort“, „im Kleinen“ zu leisten, und die Schaffung einer ebenso rechtsstaatlichen wie effizienten Verwaltungsorganisation erscheint besonders wichtig. Vor allem: Die oben beschriebenen Rezeptionsinhalte und -wege, die Rezeptionstechniken und -bedingungen personaler, wirtschaftlicher, kultureller Art etc. müssen entsprechend für die Verwaltung im kooperativen Verfassungsstaat gedacht werden. Die Frage des „Personals“, der „Rezeptionsvernittler“ ist besonders bedeutsam, die kommunale Selbstverwaltung (dazu oben Inkurs S. 408 ff.) vielleicht die Bewährungsprobe auch im Blick auf Kommunalpartnerschaften. Vordringlich wird die Frage, ob Privatisierungen in Gesellschaften im Übergang die Modernisierung optimieren oder wegen der hohen sozialen Kosten eher verzögert werden sollten. Das Internationale Verwaltungsrecht verlangt Neues. 93  Dazu als Pionierliteratur: J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2 Bde., 1988; E. Schmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, FS Lerche, 1993, S. 513 ff. 94  Vgl. die Bände: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann / G. F. Schuppert (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994; Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993; s. auch W. Blümel / R. Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994; W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann / A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1: Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, 2. Aufl., 2012; dies. (Hrsg.), Informationsordnung, Verwaltungsverfahren, Handlungsformen, 2. Aufl., 2012; A. v. Bogdandy  /  S. Cassese (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. IV, Verwaltungsrecht in Europa: Wissenschaft, 2011; dazu: E. Schmidt-Aßmann, Zum Stand der Verwaltungsrechtsvergleichung in Europa: Wissenschaft, in: Die Verwaltung 45 (2012), S. 264 ff.; K. H. Ladeur, Die Herausbildung des globalen Verwaltungsrechts und seine Verknüpfung mit dem innerstaatlichen Recht, DÖV 2012, S. 369 ff. 95  Aus der Lit.: W. Blümel / R. Pitschas, Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994; A. Benz, Kooperative Verwaltung, 1994. 96  R. Pitschas / C.Koch (Hrsg.), Entwicklungsrecht und sozial-ökologische Verwaltungspartnerschaft, 1992.



Exkurs I: Kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende Verfassungslehre733 IV. Werdende Teilverfassungen in Europa – „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“ – Modelle für andere Weltregionen

Der nationale Verfassungsstaat in Europa hat in jüngster Zeit Entwicklungen durchlaufen, die das Wort vom „europäischen Verfassungsstaat“ rechtfertigen. Integrationsprozesse in der Region Europa haben eine solche Dichte und Geschwindigkeit erreicht, dass der klassische Nationalstaat sich substantiell verändert hat. Aspekte sind einerseits die (in einzelnen Verfassungsstaaten wie der Schweiz und Österreich) sogar verfassungshohe Geltung der Grundfreiheiten der EMRK, also Teil des Europarechts im weiteren Sinne, d. h. das Recht des Europarates und der OSZE, andererseits die Integrationsleistungen der EU, das Heranwachsen des EuGH zum partiellen „Verfassungsgericht“, die innerstaatliche Geltung des EU-Rechts etc. Gewiss, nur auf Teilfeldern ist Europa „verfasst“, wir sehen uns werdenden Teilverfassungen Europas gegenüber. Doch muss jede, sich ins Universale vorwagende Verfassungslehre diese Entwicklungen zum Thema machen. Das geschieht z. B. durch das z. T. schon eingelöste Programm des „Gemeineuropäischen Ver­ fassungsrechts“. 1991 in Anlehnung an das „gemeineuropäische Zivilrecht“ von H. Kötz (1981) entwickelt97, gilt ihm heute immer mehr die Aufmerksamkeit der auch internationalen scientific community, etwa im April 1995 in Lausanne98. Schließlich sei das Europaprogramm erwähnt, das sich aus einer Gesamtschau des nationalen Europaverfassungsrechts ergibt, d. h. jener Klauseln in einzelnen Verfassungen von der Verf. Tschechiens (1991) bis zur neuen Kantonsverfassung Bern (1993) und Appenzell-A.Rh. (1995), vom (im Übrigen verunglückten) Europa-Artikel 23 n. F. GG bis zu den erwähnten Europa-Artikeln in Spanien und in Italien (vor allem in ihren neuen Regionalstatuten). Dieses „nationale“ Europaverfassungsrecht ist jedenfalls eine wissenschaftlich erst 1995 entdeckte Wachstumsstufe des – europäischen – Verfassungsstaates99. All dies legt es nahe, den Begriff weltbürgerliche Absicht auch auf das Wortbild „regionalbürgerliche Absicht“ zu variieren und zugleich zu integrieren, denn das „Europabürgerliche“ ist heute auf nationaler wie auf Europaebene greifbar: hier in Gestalt der Unionsbürgerschaft (Präambel 97  P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261  ff.; jetzt auch in: ders., Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33 ff. . 98  Dazu der Band: Der Europäische Verfassungsraum, hrsg. von R. Bieber/ P. Widmer, 1995, S. 361 ff.; R. Pitschas, Europäische Integration als Netzwerkkoordination, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1994, S. 503 ff. Umgekehrt wird der ostmitteleuropäische Systemumbruch auch als „kooperationspolitische Herausforderung der EG“ gesehen: so in der Schrift von F. Geissler, Transformation und Kooperation, 1995. Auch steckt in den Vorformen eines Zugangs osteuropäischer Staaten zur EU (Stichwort „Partnerschafts- und Kooperationsabkommen“, z. B. für Weißrussland: FAZ vom 18. August 1995, S. 5) Hilfe für Gesellschaften im Übergang, die so in ihrer „Eigenstaatlichkeit“ gestärkt werden sollen. 99  Belege in P. Häberle, Europaprogramme neuerer Verfassungen, FS Everling I., 1995, S. 355 ff. – In deutschen Länderverfassungen kam es in den 90er Jahren zu einer „Rezeptionswelle“ von vielgestaltigen Europa-Artikeln, z. B. Präambel Verf. Baden-Württemberg (1953 / 95); Art.  3a Verf. Bayern (1946 / 98); Art.  4 Verf. Brandenburg (1992); Art. 11 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993); Art. 12 Verf. Sachsen (1992); Art. 74a Verf. Rheinland-Pfalz (1947 / 2000).

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

EUV, Art. 20 bis 25 AEUV-Lissabon), dort in Form des Kommunalwahlrechts für EU-Inländer (z. B. Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG). Die Frage ist, ob diese Vorgänge in einer Weise Modellcharakter für andere Weltregionen besitzen, ob und wie sich ihre Erfahrungen anderwärts fruchtbar machen lassen können, ob das Entstehen regionaler „Verfassungsgemeinschaften“ in Südostasien begünstigt werden soll. Immerhin gibt es bereits die Freihandelszone „Nafta“ in Nordamerika, also neue einheitliche Märkte. Ähnliches ist wohl in Südostasien im Gange (vielleicht das Asean Forum?) – eine „asiatische Wirtschaftsgemeinschaft“ –, auch sei an die neue Freihandelszone in Südamerika („Mercosur“) sowie im Süden Afrikas, so nach den Plänen der „Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika“ (SADC), unter Beteiligung von elf Staaten100 erinnert. In Asien ringen sechs Turkvölker um regionale Zusammenarbeit und Solidarität101. Für „Gesellschaften im Übergang“ stellen sich eigene Fragen, die hier nur formuliert werden können. Etwa: Vermögen Gesellschaften im Übergang mehr zu leisten, d. h. ihren Entwicklungsprozess in Richtung kooperativer Verfassungsstaat zu beschleunigen, wenn sie sich – wie intensiv? – zusammenschließen und auf einen der EU-ähnlichen Verfassungsverbund zielen, oder ist es ergiebiger, wenn sie auf den Einsatz einzelner (auch mit­ einander konkurrierender) Verfassungsstaaten zählen?102. Ist vielleicht das Sowohlals-auch die beste Lösung?, d.  h.: Rezeption von Verfassungstexten, -theorien, -rechtsprechung, Entgegennahme von wirtschaftlicher und persönlicher Entwicklungshilfe und zugleich sich intensivierende regionale Verbundlösungen, in der Hoffnung auf nationale Synergie-Effekte? Hier wären Südostasien-Artikel oder die Entwicklung von gemeinasiatischem Verfassungsrecht zu erwägen (Stichwort: nationales Asien-Verfassungsrecht, analog zu den erwähnten Europa-Artikeln). Dritter (besonderer) Teil (Süd-)Korea / Deutschland im verfassungsstaatlich-weltbürgerlichen Verantwortungsverbund? I. Elemente einer Bestandsaufnahme Im Folgenden sei der hier versuchte allgemeine Theorierahmen jetzt etwas spezieller auf die Entwicklungsgemeinschaft Deutschland / (Süd-)Korea hin gedacht, besser: „angedacht“. Der so glücklich äußerlich und später gewiss auch „innerlich“ wiedervereinigte deutsche Verfassungsstaat steht in seiner „Vorgeschichte“ seit langem in spezifischen Verbindungen mit Korea103. So wurde der Einfluss der Wei100  FAZ vom 28. August 1995, S. 4, zuletzt FAZ vom 29. August 1995, S. 5: „Schritt zur Zollunion“. 101  Die Türkei, Aserbeidschan, Kyrgistan, Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan, vgl. FAZ vom 29. August 1995, S. 5. 102  So fragte schon H.-J. Kim, in: U. Battis / E. G. Mahrenholz / D. Tsatsos (Hrsg.), a. a. O., S. 258 (Diskussion) nach einer etwaigen (EG-analogen) „Asiatischen Gemeinschaft“ (dazu meine Antwort, ebd., S. 260 f.). 103  Das zeigt sich auch in den Spalten des JöR, vgl. etwa Joung-Sung Kwon, Die Verfassung Koreas von 1972, JöR 24 (1975), S. 619 ff.



Exkurs I: Kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende Verfassungslehre735

marer und älteren deutschem Staatsrechtslehre auf Korea längst durch kompetente Autoren beschrieben104. So sind einzelnen Gelehrten intensive Brückenschläge zu verdanken, z.  B. solchen, die auch bei uns Wissenschaft gelernt haben, etwa Y. Huh105. Nicht zuletzt ist dieses schon vierte deutsch-koreanische Forum in Speyer (1994) ein Mosaikstein in diesen personellen Verflechtungen im Zeichen des Austausches. Es gibt schon so etwas wie eine deutsch-koreanische „scientific commun­ity“, und in dem geschilderten Rezeptions-Tableau hat sie ihren Ort beim primär personell bedingten Transfer von Verfassungstexten, Judikaten, wissenschaftlichen Theorien, für das Verwaltungsrecht bei dessen Fragestellungen. Die rasante Entwicklung von (Süd-)Korea erlaubt gewiss auch, die Parallelen zwischen den Entwicklungslinien der beiden nationalen Verwaltungsrechte auszuziehen. Korea erbringt offenbar autonome Leistungen in Sachen Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Das heutige Forum wird zeigen müssen, wie weit sich bereits Möglichkeiten des Gebens von koreanischer Seite her abzeichnen. Während etwa der Einfluss deutschen Verfassungsdenkens auf das spanische Verfassungsgericht in Madrid bekannt ist und die regelmäßigen europäischen Verfassungsrichtertreffen als Forum überdies besondere Produktions- und aktive Rezeptionswege eröffnen, ist Ähnliches für Korea noch nicht nachgewiesen106. Immerhin könnte die Literaturgattung „Dissertation“, die so viele Koreaner in Deutschland wagen, mittelfristig Vorarbeit für sich intensivierenden Austausch107, sozusagen „Trägerrakete“ sein.

104  Dazu Hyo-Jeon Kim, Hundert Jahre Verfassungsrecht in Korea und Deutschland. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte deutschen Rechts in Korea, JöR 35 (1986), S.  575 ff. 105  Von ihm die Monographie: Probleme der konkreten Normenkontrolle, 1971 sowie die Beiträge, Die Grundzüge der neuen koreanischen Verfassung von 1987, JöR 38 (1989), S. 566 ff.: zuletzt ders., 5 Jahre Verfassungsgericht in Korea, JöR 44 (1996). Zahlreich sind die Publikationen, die auf die deutsche Staatsrechtslehre intensiv Bezug nehmen, z. B. Joung-Sung Kwon, Constitutional Law, a Textbook, 1995; D. H. Kim, Untersuchung über die Rechtsquellenlehre, 1992; H.-J. Kim hat sogar einen Band herausgegeben: „Die deutschen Staatsrechtslehrer, Leben und Werk, Dong-A Law Review Vol. 14 (1992); weitere Belege bei Kim, JöR 35 (1986), a. a. O., S. 601 f. Die deutsch-ökonomische Gelehrtengemeinschaft kommt auch zunehmend in Form von Festschriften zum Ausdruck, zuletzt „Arbeitsrecht und Zivilrecht in Entwicklung“, FS für H.-B. Kim, hrsg. von H. G. Leser, 1995. 106  Zur Verfassungsgerichtsbarkeit nach der koreanischen Verf. von 1987: Y. Huh, Die neue koreanische Verfassung von 1987, JöR 38 (1989), S. 565 (571, 580 ff.); zuletzt B. Wagner / H. Scholler, Das koreanische Verfassungsgericht, JöR 60 (2012), S.  621 ff. 107  Beim Verf. gefertigte Dissertationen: Young Hee Lee, Staat und Wirtschaft der neueren deutschen Staatsrechtslehre (1919–1967), 1991; U. Han Lee, Das Verfassungsgericht der Republik Korea, 1991.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat II. Das Kulturkreis-Problem, die Kluft zwischen europäischen und asiatischen Grundwerten, Folgerungen 1. Allgemeines

Der Rechtsvergleichung vor allem im Zivilrecht ist das Kulturkreis-Problem seit langem geläufig. Für die „Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates“ stellt es sich in eigener Weise. Die herkömmlichen Kategorien und Einteilungen sind zu überprüfen. So ist der weltoffene Verfassungsstaat eine Gemeinschaftsleistung von Nordamerika (in Sonderheit der USA) und Europa (wobei sich Symbiosen dank der deutschen Emigranten-Juristen ergeben haben); gleichwohl unterscheiden wir die kontinental-europäische und US-amerikanische Kultur. Die Rechts- bzw. Verfassungskultur hat hier viele Gemeinsamkeiten des nationalen Verfassungsstaates entwickelt, die auf den übrigen Kulturfeldern, etwa im Bereich der Kunst, nicht bestehen. Überdies muss sich der Verfassungsstaat, abgesehen von seinen universalen Elementen wie Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und wohl auch soziale Marktwirtschaft auf die einzelnen kulturellen Kontexte der verschiedenen Regionen variabel einstellen. Eurozentrismus ist nicht erlaubt. Der islamische Fundamentalismus, der etwa die Universalität der Menschenrechte in Zweifel zieht, stellt den Verfassungsstaat vom Religiös-kulturellen her mit intensiven Auswirkungen auf das Recht vor eine besondere Bewährungsprobe. Stichwort ist: „europäische gegen asiatische Werte“. Man liest eine Schlagzeile wie „Tradition und Explosion, Europas Kunst, Asiens Wirtschaft: Kurt Masur und das Gewandhausorchester auf Tournee“108. Doch wir lesen auch: „Asien – Partner oder Widerpart?“, da im Fernen Osten ein „neues Weltzentrum“ den Westen wirtschaftlich, politisch und geistig herausfordere109, Wir sehen uns hier Grenzen der Rezeption gegenüber. Texte, Urteile mögen „formal“ rezipiert bzw. transportiert werden: Im anderen kulturellen Kontext gewinnen sie Selbststand und Eigenwert; sie verändern sich inhaltlich. Das kann ein aktiver Beitrag des Nehmer-Landes sein, kann aber auch zu (Selbst-)Täuschungen führen. Das „Sittengesetz“ als Schranke der Grundrechte, das unterschiedliche Verständnis von Familie, von Eigentum und Arbeit110 sind allgemeine Beispiele dafür, dass europäi­sche und asiatische Grundwerte auf das Recht durchschlagen. Wie wirkt sich dies für den Verantwortungsverbund zwischen (Süd-)Korea und Deutschland aus. Bedeutet dies Entmutigung für die These von der verfassungsstaatlich-weltbürgerlichen Mitverantwortung? im Zeichen von Konvergenz? 2. Das Fallbeispiel (Süd-)Korea / Deutschland Mag der juristische Produktions- und  / Rezeptionsaustausch zwischen (Süd-)Korea und Deutschland noch so stark sein: die Distanz der Kulturen bleibt offenkundig. Eine „konzertierte Aktion“ aller Einzeldisziplinen der Kulturwissenschaft wie der Religionswissenschaft, der Philosophie, der vergleichenden Sprachwissenschaft wäre 108  So

FAZ vom 18. Mai 1995, S. 35. T. Sommer, in: Die Zeit, Nr. 24 vom 9. Juni 1995, S. 42; s. auch das Heft Zeit-Punkte, Nach uns die Asiaten?, 1995. 110  Dazu B. Nenninger, Das Recht auf Arbeit in Japan und Deutschland. 1994. 109  So



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notwendig. Die Gefahr des Dilettantismus ist – auf der Seite des Verf. – entsprechend groß, darum nur Fragen111: Ist die Entwicklung eines „asiatischen“ Verfassungsstaates langfristig so denkbar, wie es heute den „europäischen Verfassungsstaat“ gibt (mit Korea als Modell?), oder kann es wegen der Kulturdifferenz letztlich nicht gelingen, einen Verfassungsstaat in Asien zu entwickeln, weil die Sache „Verfassungsstaat“ auf spezifisch europäischen / atlantischen Kulturwerten beruht? Denkbar wäre aber auch, dass (Süd-)Korea ein „Sonderfall“ in Asien ist: weil der Rechtsaustausch auch mit Deutschland schon so lange so intensiv ist, dass er die Differenz im Kulturellen zurücktreten lässt und „überspringt“. Freilich: Es gibt durchaus Parallelen zwischen der Rezeption von Kultur, etwa den Symphonien Beethovens, und der von Recht – hier wie dort kann Interpretation nachschöpferische Wirkung entfalten. III. Erfahrungs-Transfer in Sachen (deutsche) Wiedervereinigung für Korea? Die vielleicht „persönlichste“ Verbundenheit zwischen Deutschland und Korea könnte sich herstellen, wenn sich Korea „platonisch“ und real auf seine Wiedervereinigung vorbereiten sollte. Hier ergäbe sich ein einzigartiges Feld für den Transfer von Erfahrungen, übrigens auch Hoffnungen, wobei zu fragen ist, ob die „Wiedervereinigungsklausel“ des Art. 4 Verf. Korea von 1987 „fortzuschreiben“ wäre. Deutschland könnte auf allen Ebenen und in allen Feldern Modellelemente liefern: im Positiven z. B. in Gestalt der Befürwortung effektiver Regional- oder gar Föderalstrukturen, weil nur so die drohenden Identitätskrisen im Norden vor Ort, „im Kleinen“ aufgefangen werden könnten; im negativen, d. h. im Blick auf die „Fehler“, die im Verlauf der deutschen Wiedervereinigung politisch und direkt juristisch gemacht wurden: m. E. beim Versäumnis einer Generalamnestie – die Geschichte von Heinrich IV. in Frankreich (1594) bis zu Ludwigs XVIII: (1814) eben dort112 sollte hier Lehrmeisterin sein. Aber auch aus manchen Fehlern der Treuhand113, beim Streit um „Rückgabe vor Entschädigung“114 wäre zu lernen. Die speziell wirtschaftlichen Probleme, etwa die Fragen bei der Währungsumstellung, vermag ich nicht zu beurteilen. Positiv könnte die Rolle des deutschen BVerfG im Zusammenwachsen der beiden Teile vorbildlich sein. Gedacht ist an die Entscheidung zur vorläufigen Nichtgeltung der 5 % Klausel im Wahlrecht (BVerfGE 82, 322). Das BVerfG hat 111  Aus der Lit.: G.-K. Kindermann, Der Aufstieg Koreas in der Weltpolitik, 1994; dazu die Rezension von E.-O. Maetzke, FAZ vom 31. Juli 1995 mit dem Satz: „Südkorea ist dabei vom Entwicklungsland über das Schwellenland zum „kleinen Tiger“ geworden, der nach „Globalisierung“ dürstet; s. auch W. Draguhn, Asiens Schwellenländer: Dritte Weltwirtschaftsregion, Wirtschaftsentwicklung und Politik der „Vier kleinen Tiger“ sowie Thailands, Malaysias und Indonesiens, 1991 (Neudruck 1994). 112  Dazu H. Quaritsch, VVDStRL 51 (1992), S. 130, Diskussion. 113  Dazu aus der Lit. allgemein: R. Weimar, Haushaltsrechtliche Instrumente der Treuhandanstalt gegenüber ihren Beteiligungsunternehmen, DÖV 1993, S. 2  ff.; R. Bärwaldt, Die Treuhandanstalt nach dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages, DtZ 1990, S. 347 ff.; M. Schmidt-Preuß, Die Treuhandanstalt und ihr gesetzlicher Auftrag, Die Verwaltung 25 (1992), S. 327 ff. 114  Dazu die Referate von B. Pieroth / W. Berg, VVDStRL 51 (1992), S. 46 ff.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

spezifische Übergangsjudikatur geleistet115. Und jeder sich vereinigende Verfassungsstaat braucht besonders „neutrale“ Instanzen für das Gelingen des Gesamtprozesses. So mag man sogar die ketzerische Frage stellen, ob Präsidialdemokratien hier gegenüber parlamentarischen Demokratien im Vorteil wäre116, da der Staat noch primäre Entwicklungsinstanz ist. Korea bleibt also in doppelter Weise gefordert. Es hätte zwei Übergangssituationen zu meistern: der Vollendung der einen, nämlich dem Weg zum kooperativen nationalen Verfassungsstaat, ist es schon denkbar nahe. Die zweite, die Wiedervereinigung sollte danach folgen. Als deutscher Staatsrechtler darf man sich dies für Korea besonders wünschen. Vielleicht kann sogar die „Vorratshaltung“ des konkreten Staatsziels „Wiedervereinigung“ in einer Verfassungspräambel (wie im GG, auch Irland) bzw. seiner Interpretation durch das BVerfG (E 36, 11 (17 ff.); 77, 137 (149)) Vorbild sein. Jedenfalls dürfte es zu wenig sein, nur von „Konföderation“ oder bloßem „Commonwealth“ als Ziel zu sprechen117; allenfalls als schrittweise Phase und Mittel (wie beim ZehnPunkte-Plan H. Kohls vom Herbst 1989) mag man sich damit begnügen. Ausblick Deutschland kann und darf eine doppelte Verantwortung im Blick auf Korea wahrnehmen: die allgemeine, als einer unter anderen kooperativen Verfassungsstaaten, die in Konkurrenz mit anderen Nationen Transferleistungen vielerlei Art in „guter Absicht“ erbringen, die spezielle aber im Blick auf eine mögliche Wiedervereinigung Koreas. Sollte sie nicht gerade auf diesem Forum in Speyer besonders ins Auge gefasst werden?

Exkurs II: Die Chinesische Charta 08 – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Einleitung118 Selbst bei einer „lectio aurea“ muss die Sache vor der Person stehen. Die Lectio aurea ist der letzte Takt in der Vita eines Gelehrten: Promotion, Habilitation, Antrittsvorlesung, Abschiedsvorlesung und eben lection aurea. Eine große Tradition wird in Freiburg gepflegt: mit Namen wie Otto Bachof, Hans Schneider, Paul Feuchte, Karl Josef Partsch, E. Bund, T. Ramm, A. Hollerbach. Die Lectio aurea 115  Dazu meine Ausführung in FS Mahrenholz, 1994, S. 133 (149  f.), auch in Europäische Rechtskultur, 1994, S. 149 ff. 116  Zum koreanischen Präsidialsystem: Young Huh, a. a. O., JöR 38 (1989) S. 565 (576 ff.), bes. S. 585: „Man kann von einer Entwicklung vom ‚Neo-Präsidentialismus‘ zur Präsidialdemokratie sprechen.“ 117  Vgl. den Bericht von E.-O. Maetzke, Der scheue Blick nach Norden. In Südkorea wird über die Wiedervereinigung sehr verhalten diskutiert, FAZ vom 30. Mai 1995, S. 14. 118  Lectio Aurea, gehalten in Freiburg am 11.11.2011, vgl. JöR 60 (2012), S.  329 ff.



Exkurs II: Die Chinesische Charta 08739

bildet eigene Literaturgattung. Es gibt freilich Beispiele für andere Formen der Ehrung, etwa regelmäßige Gedenkvorlesungen (wie die Lectures für K. Vogel in Wien). Doch ist der heutige Tag kaum Verdienst des Laureaten, denn es sind ja die Götter, die ihm die Zeit zumessen. Wohl aber bleibt er das Verdienst der Lehrer, die den Doktoranden auf den Weg gebracht haben: an erster Stelle Konrad Hesse, der Begründer der jetzt vor Ort jäh erloschenen, von Roman Herzog früh sogenannten „Freiburger Schule“, sodann Mentoren wie H.-H. Jescheck, Erik Wolf, F. von Hippel, auch A. Bergstraesser und F. Pringsheim, auch W. v. Simson, H. Ehmke. Für jemanden, der die Rechtswissenschaften als „Lebensform“ versteht, so der Titel meiner Bayreuther Abschiedsvorlesung 2002119, ist die Möglichkeit zur lectio aurea ein Geschenk, wofür ich der gastgebenden Fakultät danke. Als alter Professor sollte man sich vor der Autobiographie als Großform hüten, für W. Apelt (1965) oder R. Thoma, G. Anschütz, soeben Hans Maier (2011) mag anderes gelten. Erlaubt sind allenfalls „Pädagogische Briefe“ als kleine Erfahrungsberichte. Die Themenwahl einer lectio aurea ist dem Redner freigestellt. Während Antrittsvorlesungen kühne Programme entwerfen sollten, Abschiedsvorlesungen im „Herbst des Mittelalters“ als Rückblick konzipiert sein dürfen, auch wenn manche Leuchtspuren noch in Horizonte der Zukunft ausgreifen könnten, stellt die lectio aurea die Grundsatzfrage, wie man ihr am besten altersgemäß am Ende gerecht werden soll und kann. Doch genug der captatio benevolentiae gegenüber einem gewiss über alle Maßen kritischen Publikum, hier und heute?! Erster Teil Verfassungsentwürfe in Zeiten von 1989 bzw. 2011, insbesondere sogenannte Privatentwürfe Das „annus mirabilis 1989“ brachte viele Verfassungsentwürfe hervor, auch viele Privatentwürfe, wie sie in der Schweiz seit langem eine besondere Tradition haben; man denke nur an den erfolgreichen Privatentwurf Kölz / Müller (1984)120, der ein bewundernwertes Gegenstück in dem grenzüberschreitenden Freiburger Privatentwurf von Seiten Schwarze / Flauss in Sachen Europäische Verfassung gefunden hat (2002). Verwiesen sei auf die Dokumentationen im Jahrbuch des öffentlichen Rechts121, dessen Treuhänder auf Zeit ich seit 1983 dank des Verlegers Dr. G. Siebeck sein darf: zwergenhaft auf den Schultern der Riesen G. Jellinek und G. Leibholz. Das „annus mirabilis 1989“, das meines Erachtens selbst heute noch trotz aller Enttäuschungen dieses Prädikat beanspruchen darf (auch trotz des „11. Septembers“), hat im Jahre 2011 für alle überraschend ein zweites annus mirabilis, freilich gepaart mit einem „annus horribilis“, gefunden. Ich meine die Freiheits- und De119  Vgl.

JöR 53 (2004), S. 155 ff. 34 (1985), S. 551 ff. (3. Aufl. 1995). 121  Dazu P. Häberle, Verfassunggebung in Europa, JöR 54 (2006), S. 629  ff., ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 600 ff.; ebd., zum Privatentwurf Schwarze / Flauss, S.  621 f. 120  JöR

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mokratiebewegung in vielen arabischen Staaten, so offen deren Ausgang noch ist, als zweites „annus mirabilis“ einerseits, andererseits als „annus horribilis“ die Atomkatastrophe in Japan. Noch vor diesem fast dialektisch zu sehenden weltgeschichtlichen Doppelereignis kam es zu einer Aufsehen erregenden Publikation, der Charta 08 aus China (am 9. Dezember 2008 veröffentlicht, im Jahre 303 in China). Nach einer Zeitungsmeldung (Rheinischer Merkur Nr. 5  /  2009, S. 5) war sie zu diesem Zeitpunkt schon von mehr als 8000 Chinesen unterzeichnet. Mitverfasser ist der spätere Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo (FAZ vom 26. März 1011, S. 33). Er bekam dafür 11 Jahre Gefängnis. Die Charta erreichte schon 303 Unterschriften, als er verhaftet wurde. Zuletzt stieg die Zahl der Unterzeichner auf 10.000 (FAZ vom 26. März 2011, S. 33). Nach Zeitungsmeldungen verschwinden immer mehr Unterstützer der Charta 08 im Gefängnis. Die SZ (Jahresrückblick 2010, V2, S. 3) kommentierte das Dokument als „Charta gegen China“, was so nicht zutrifft. Ihre Bemerkung, die Charta sei ein „eher rationales, fast langweiliges Pamphlet“, ist abwegig, wie jetzt zu zeigen sein wird. Die Charta sei im Folgenden auf dem Hintergrund der 1982 konzipierten „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ gewürdigt. Ihr Name erinnert gewiss bewusst an die wirkungsmächtige Charta 77 eines V. Havel in Prag. Doch zuvor in Stichworten einiges zur heutigen recht widersprüchlichen NochWirklichkeit in China (rekonstruiert aus Tageszeitungen, die sich aus rhetorischen Gründen hier nicht im Einzelnen nachweisen lassen). Gerade im Kontrast zwischen aktuellen Meldungen einerseits und Verfassungs- bzw. Klassikertexten andererseits, lassen sich Funken schlagen. China gilt als asiatische Wirtschafts- und Entwicklungsdiktatur. China erwägt derzeit eine Beteiligung am europäischen Rettungsfond. Es kritisiert die westlichen Medien aus Anlass des Murdoch-Skandals. Seine KP ist heute die „wahrscheinlich mächtigste Partei der Welt“. Der chinesische Staatskapitalismus, so schreiben die Medien, „zieht davon“. China gilt als „unberechenbarer Riese“, Taiwan als „unsichere Republik“. Auf der anderen Seite ist von „Unsicherheit der Mächtigen“ die Rede. Unbestritten ist, dass nach nur etwas mehr als 30 Jahren die Volksrepublik China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Erde aufgestiegen ist. China selbst sieht den Westen nicht mehr als Vorbild an (FAZ vom 6. Juni 2011, S. 12). Es gibt aber auch Anzeichen für einen Richtungsstreit innerhalb der kommunistischen Partei. Westliche Politiker und Wirtschaftsleute biedern sich an oder halten sich zurück, so dass eine Zeitung von „Kriecherei in Fernost“ geschrieben hat: Speziell in Tibet, wo laut dem Dalai Lama ein kultureller Völkermord begangen wird, will China die Ursachen des sogenannten „Separatismus“ bekämpfen. Ein Wort zur Kultur: Erinnert sei an den vor allem in Deutschland geführten Streit um die Kunstausstellung über die „Aufklärung“ in Peking. Peking proklamiert eine Stärkung der von der Zentralmacht gesteuerten Kulturpolitik. Großes Aufsehen erregte die Verhaftung des regimekritischen Künstlers Ai Weiwei, des „Gewissens China“. Dieser hatte kurz vor seiner Verhaftung in der SZ ein Interview gegeben: Die „gegenwärtige Situation“ in China ist „absolut verrückt“, auch 100 Jahre nach der Aufklärung sind wir Chinesen dazu noch nicht bereit (SZ vom 5. April 2011). Manche Stimmen bei uns fordern, dass deutsche Museen nach wie vor mit China kooperieren sollten. Im Westen erinnert man sich in Bezug auf das Exil des chinesischen Dissidenten-Dichter Liao Yiwu an Boris Pasternak und Dr. Schiwago. Freilich hören wir auch erstaunt von einer Mahnung Chinas an den Dalai Lama zur „Wiedergeburt“ (FAZ vom 28. September 2011, S. 27). Dieser



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hatte in einem Interview Folgendes resümiert (FAZ vom 25. August 2011, S. 7): „China mangelt es an Selbstbewusstsein“. Der Dalai Lama spricht über die Ängste und Dämonen der Pekinger Führung, das Beharren Tibets auf seiner Identität, seinen Weg zur Demokratie, den Glauben an einen Dritten Weg in der Wirtschaft und die Sehnsucht nach „Spiritualität“. China selbst spricht von den „fünf Giften“: Tibet, Taiwan, Falun-Gong und Demokraten sowie die Muslime im Norden (SZ vom 7. Juni 2011, S. 13). Einerseits beeindrucken die vielen neuen Konfuzius-Institute in fast 100 Ländern, sie dienen der auswärtigen Kulturpolitik, andererseits verbergen sich hinter ihnen „Pekinger Zensoren und Einheitsfrontspezialisten“ (FAZ vom 8. Nov. 2011, S. 9). Bemerkenswert ist, dass in diesen Tagen acht chinesische Intellektuelle nach Berlin kommen, um „von Europa zu lernen“ (FAZ vom 7. Nov. 2011, S. 25). Offen bleibt die Frage, ob das Internet die Revolution in China bringen kann (dazu der chinesische Dissident Bei Ling (FAZ vom 5. Nov. 2011, Z 6)) – auf lokaler Ebene nutzen unabhängige Kandidaten schon das Internet für einen Wahlkampf, den sie auf der Straße und in den Staatsmedien nicht führen dürfen (FAZ vom 7. Nov. 2011, S. 5). Zweiter Teil Die Charta 08 aus China als Text in Kontexten I. „Vorverständnis und Methodenwahl“ Ohne Josef Esser, das Tübinger Genie der Rechtswissenschaften, wäre diese Fragestellung trotz der Vorarbeiten von H.-G. Gadamer und von H. Ehmke, einem meiner Freiburger Mentoren, nicht denkbar. Ihrer Vorfrage ist der folgende Ansatz zu verdanken, so wie ich eigentlich fast alles meinen Freiburger Lehrern sowie meinen Tübinger Mentoren verdanke, zu denen auch der große G. Dürig gehörte – alles was später zur Menschenwürde geschrieben worden ist, bleibt Sekundärliteratur zu ihm, erklärtermaßen oder der Sache nach (Stichworte: Grundrechte als „Wertsystem“, „Objektformel“). Spiegelstrichartig sei im Folgenden offengelegt, wie der Text der chinesischen Charta ausgeleuchtet wird: –– Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982 / 98), d. h.: Verfassungen sind nicht „bloß“ juristische Umschreibungen. Mit Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei

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„geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (Zitat aus „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“, 1982, S. 19, jetzt um das Völkerrecht zu ergänzen). –– Die Kontextthese von 1979 (Kommentierte Verfassungsrechtsprechung), weitergeführt im Handbuch des Schweizerischen Verfassungsrechts („Verfassung im Kontext“, 2001), oft rezipiert, leider auch plagiiert. Ihr wesentlicher Inhalt lautet in Zuspitzung: Es gibt keine Texte, sondern nur in Kontexten interpretierte Texte; die Texte sind vielfach erst aus ihren historischen, kulturellen, philosophischen – wandelbaren – Kontexten her zu verstehen (Beispiel: der Begriff „Familie“ nach Art. 6 GG); Texte als Verfassungstexte im weiteren Sinne sind vor allem die Klassikertexte; in der Zeitschiene betrachtet können dieselben Texte in Jahrzehnten, weltweit, d. h. im Raum über viele Kontinente hinweg anders interpretiert werden. Klassikertext ist für diese Sicht das Diktum von Rudolf Smend aus dem Jahre 1951: „wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe“. –– Die These von der kulturellen Verfassungsvergleichung (1982), Stichwort Verfassung als Kultur und nicht nur Verfassung und Kultur; nicht nur für den Richter ist die Rechtsvergleichung hier „fünfte“ Auslegungsmethode (1989), sondern aus funktionell-rechtlichen Gründen ist sie dies als Gestaltungsmethode noch wesentlich intensiver für den Verfassunggeber122, wohl auch im Völkerrecht. –– Das Textstufenparadigma (1989): Es gibt im Verfassungsstaat als Typus und im Vergleich eine Trias der Produktion und Rezeption von Texten, Theorien und Judikaten. Was im einen Verfassungsstaat von den Verfassungsgerichten entwickelt worden ist, auch zur Verfassungswirklichkeit wurde, kann später im benachbarten Land auf einen neuen Text gebracht werden. Dies ist oft geschehen, im innerdeutschen Rezeptionsprozess z. B. in Sachen „Grundversorgung“ durch das Fernsehen, eine Prägung von K. Hesse im BVerfG, jetzt wörtlich wiederkehrend in Art. 12 Abs. 1 Verfassung Thüringen (1993). In der Schweiz finden sich viele Beispiele für sogenannte ungeschriebene, jetzt geschriebene Grundrechte, insbesondere die Wesensgehalts- bzw. Kerngehaltsgarantie von Grundrechten. Manche sprechen neuerdings von „nachholenden“ Verfassungsänderungen. –– Die hohe Relevanz von Privatentwürfen – sie können von einem oder mehreren verbündeten Professoren verfasst sein, von parteipolitischen Gruppierungen oder auch – horribile dictu – von vor allem US-amerikanischen law firms (so nach 1989 in Osteuropa). Vor allem in der „Werkstatt Schweiz“123 mit ihrem experimentierenden Föderalismus haben sie sich als sehr einflussreich erwiesen. –– Die normative Kraft von oft als bloß semantisch gescholtenen Verfassungstexten, seien sie als Entwurf steckengeblieben, seien sie formal in Geltung gesetzt, kann sich mittelfristig entfalten – Sie alle vermuten zu Recht letztlich die berühmte Antrittsvorlesung meines Lehrers Konrad Hesse von 1956 hinter diesem Ansatz.

122  Belegbar in der „Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes“, vgl. das Vorwort zu JöR, Bd. 1, Neuauflage 2010, S. V, XVI f. u. ö. 123  Dazu meine Beiträge: „Eine Werkstatt für Verfassungspolitik“, NZZ vom 20.11.1990, S. 23; „Werkstatt Schweiz“, JöR 40 (1991 / 92), S. 167 ff.; Die Kunst der kantonalen Verfassunggebung, …, JöR 47 (1999) S. 149 ff.; Die totalrevidierte Bundesverfassung in der Schweiz, 1999 / 2000, FS Maurer, 2001, S. 935 ff.



Exkurs II: Die Chinesische Charta 08743 II. Kontexte der Charta 08 aus China

So wichtig sie sind: zu ihnen vermag ich heute relativ wenig zu sagen, theoretisch müssten sie auch erst nach den Texten behandelt werden. Ich bin leider kein Kenner sondern nur ein Bewunderer der großen Kulturgeschichte Chinas124 (man denke an die Erfindung des Porzellans, der Akupunktur, der Zahnbürste und Zahnseide, den Bau der chinesischen Mauer, der Terrakota-Armee, die Nudelgerichte (in Konkurrenz mit Italien), leider auch die Erfindung des Schießpulvers) und ich bin nicht in der Lage, große Daten wie die Vergewaltigung durch die westlichen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert und die imperialistische Eroberung durch Japan vor 1945 in Erinnerung zu rufen. Als Merkposten seien sie jedoch notiert, ebenso wie die großen Lehren eines Konfuzius125 („Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht“ als menschliche Ziele, die „harmonische Gesellschaft“) und Laotse sowie des Taoismus126, die Jahrzehnte nach der entsetzlichen Kulturrevolution des massenmörderischen Mao Tse Tung heute offenbar nach und nach wieder ins Bewusstsein rücken und eine Renaissance erfahren. Erwähnt seien auch die schmerzliche Geschichte Tibets und die im Ergebnis gescheiterten, fast weltweiten Demonstrationen vor einigen Jahren, wo wir überall auf dem Globus in der Hand von mutigen Demonstranten die tibetische Fahne als „kulturelles Identitätselement“ und „internationales Erkennungssymbol“ (im Sinne meiner gleichnamigen Monographie von 2008) dieses geschundenen Volkes („Nationalität“) erleben konnten. Dem weltweit vergleichenden Rechtswissenschaftler stellt sich von vornherein die Frage, warum das große China bis heute hier nicht zu einer präföderalen oder föderalen Lösung finden konnte und kann. Sieht man im Fernsehen die 2011 durchgeführte große „Volksversammlung ohne Volk“, wie sie alle paar Jahre im Volkskongress in Peking inszeniert wird, so denkt man sofort an das Demokratiedefizit. Der von Bundeskanzler G. Schröder und seiner Nachfolgerin vorangetriebene sogenannte „Rechtsstaatsdialog“ erinnert uns an analoge Defizite. Einzelheiten sind mir nicht bekannt, wohl aber weiß ich, dass manche jüngere Kollegen an bestimmten chinesischen Universitäten lehren können, hoffentlich so frei, wie ich dies einmal während des Apartheids-Regimes Südafrikas 1981 tun durfte (freilich unter Meidung jeglicher Kontakte mit staatlichen Stellen). Erinnert sei auch an den fruchtbaren Rechts- und Kultur-Dialog zwischen der Universität Göttingen und Taiwan. Verlassen wir uns auf die deutschen China-Experten127, so sind folgende Stichworte aus der 5000jährigen Kultur- und Rechtsgeschichte Chinas erhellend: „Die 124  Grundlegend M. Granet, Das chinesische Denken – Inhalt, Form, Charakter, Deutsche Neuausgabe, 1962. 125  Der Politische Rat hat nach 1913 einen „Erlass betr. die Konfuzius-Verehrung“ beschlossen, vgl. ohne Verf., Die Chinesische Verfassungsfrage, JöR a. F., Bd. VIII (1914), S. 513 (520 f.). 126  Dazu M. Granet, a. a. O., S.  230 ff. 127  Aus der staatsrechtlichen Literatur: O. Franke, Die staatsrechtliche Entwicklung in China seit 1901, JöR a. F., Bd. VI (1912), S. 503 ff. – das Jahr 1901 bildet bis heute einen „Markstein der Geschichte“, den Anfang einer „völligen Umformung des Staates“. – F. Jäger, Die Vorverfassung der chinesischen Republik vom März 1912, JöR a. F., Bd. VII (1913), S. 489 ff., mit dem bemerkenswerten Art. 1 der vor-

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chinesische Verfassungsgeschichte ist vor allem eine Rezeptionsgeschichte“128. Insbesondere wirkte die Weimarer Verfassung von 1919 ebenso breit wie tief auf die Republik China bzw. die national chinesischen Lehrbücher des Verfassungsrechts129. Vor allem Sun Yat-sen (1866–1925) übernahm viel anglo-amerikanisches und europäisches Gedankengut130. Erstaunlich ist, dass Sun Yat-sen in dem „Wohlwollenden Vertrag“ in Sachen Abdankung des letzten Qing-Kaisers (1912) das italienische „Gesetz der Garantien“ (1870) in Sachen „Statut des Papstes“ in Ita­lien rezipierte131. Schon diese wenigen Hinweise belegen, dass die Charta 08 nicht auf einer Tabula rasa aufbaut, sondern in Schichten, im kulturellen Humus des großen alten China wurzelt. Dazu gehört leider auch die vorherrschende „Machtfunktion der Verfassung“, die manche guten Verfassungstexte und -Erlasse relativiert, z. B. zu Rechten der Bürger (1912)132, zur Religionsfreiheit (1912  /  14)133 sowie zur Volkssouveränität (1923) und 1931 zu Grundrechtsgarantien in dem Kapitel „Rechte und Pflichten des Volkes“, auch zur Bildung der Staatsbürger und zur Unabhängigkeit der Gerichte134, und die Schwierigkeiten bei der Rezeption von demokratisch-rechtsstaatlichem Verfassungsrecht bereitet135. Hingegen gibt es jetzt auch ermutigende Stimmen der Rechtswissenschaft zu Gunsten eines chinesischen „Konstitutionalismus“136. All diese kulturellen Kontexte (z. B. „Über das chinesische Denken herrschen gemeinsam die Begriffe von Ordnung, Ganzheit und Wirkkraft“137, „Im alten China gab läufigen Verfassung: „Die Republik China ist die Organisation der chinesischen Bürger“ sowie einem Grundrechtskatalog unter den Überschrift „Die Bürger“ (Art. 5 bis 15). – Zur „Verfassung der Republik China“ von 1923: F. Koehne, JöR a. F., Bd. XIV (1926), S. 495 ff. 128  W. Lasars, Die Machtfunktion der Verfassung, Eine Untersuchung zur Rezeption von demokratisch-rechtsstaatlichem Verfassungsrecht in China, JöR 41 (1993), S. 597 (656). 129  Dazu W. Lasars, a. a. O., S.  621. 130  Vgl. Carsun Chang, Die staatsrechtliche Krisis der chinesischen Republik, JöR a. F., Bd. 19 (1931), S. 316 (333 ff.); H. Herrfahrdt, Sun Yatsen. Der Vater des neuen China, 1948; E. Tomson, Die Verfassungsentwicklung in der Volksrepublik China, JöR n. F. 22 (1973), S. 427 (432): „Seit der Jahrhundertwende erhielt die chinesische Kultur Anregungen aus dem Gedankengut des Abendlandes. Besonders stark war der Einfluss im Staats- und Rechtsdenken, so dass die Umgestaltung des Staatsaufbaus und des Rechtssystems die notwendige Folge war“; Xie Hui / R. Heuser, Ist die chinesische Tradition eine Quelle zur Gestaltung moderner Herrschaft des Rechts?, JöR 50 (2002), S. 581 (585 f.). 131  Dazu Wikipdia „Xinhai-Revolution“, http: /  / de.wikipedia.org / wiki / XinhaiRevolution. 132  Vgl. JöR a. F., Bd. VII (1913), S. 496 ff. 133  Zit. nach JöR a. F., Bd. VIII (1914), S. 510 (519 f.). 134  Zit. nach JöR a.  F., Bd. XIV (1926), S. 495 ff. bzw. nach JöR a. F., Bd. 19 (1931), S.  347 ff. 135  Dazu W. Lasars, a. a. O., S.  637 ff. 136  Dazu R. Heuser, Der offene Weg: Ein Jahrhundert chinesischer Verfassungsreform, JöR 56 (2008), S. 655 (664 ff.); zuletzt ders., Drei Lehrer der chinesischen Rechtskultur – eine Erinnerung, VRÜ 2012, S. 5 ff.



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es lediglich den Begriff der Pflicht und nicht den Begriff des Rechts“138, die These von R. Heuser „Kulturtradition und Institutionen Chinas widmen der Machtkontrolle keine ausreichende Aufmerksamkeit, „das Wesen der chinesischen tradi­tionellen Kultur ist nicht Herrschaft des Rechts“139, und vor allem die sogenannten „Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden“, dank H. v. Senger als „Strategeme“ meisterhaft aufbereitet140) müssen mitgelesen und mitgedacht werden, wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, die bloßen Texte der Charta 08 vorzustellen. Eigentlich müssten vor oder besser nach mir Sinologen das Wort ergreifen oder: Ist hier im Raum vielleicht ein Chinese?, vielleicht Herr H. v. Senger, der hier in Freiburg 1995 / 96 eine Ringvorlesung über die List durchführte141 und sogar eine „chinesische Widerlegung von J. Lockes Verharmlosung der List“ unternahm142. 137

III. Die Texte der Charta 08 aus China In einer überregionalen Tageszeitung143 erstmals veröffentlicht sowie auch im Internet publiziert, erregte sie weltweit großes Aufsehen (innerchinesisch kam es sogleich zu Verhaftungen). Das Datum ist kein Zufall. 1. Das Vorwort Schon im präambelähnlichen Vorwort wird daran erinnert, dass sich 2008 die erste Verfassung Chinas zum 100. Mal jährt, die „Erklärung der universellen Menschenrechte“ zum 60. Mal und die Pekinger „Mauer der Demokratie“ zum 30. Mal. Auch ist im Vorwort der Tatsache gedacht, dass vor zehn Jahren die chinesische Regierung den (völkerrechtlichen UN-Vertrag) „Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ unterzeichnete. Dieser bescheiden bloß „Vorwort“ genannte Anfangstext erinnert an alle Elemente der verfassungsstaatlichen Präambelkunst als „Textereignis“, wobei Präambeln kulturwissenschaftlich betrachtet, dem Präludium, der Ouvertüre sowie dem Prolog ähneln144. Wenn irgendwo eine Verfassung eine 137  Dazu M. Granet, a. a. O., S.  258; H. v. Senger, Ganzheit im chinesischen Denken – Legende und Realität, in: C. Thomas (Hrsg.), „Auf der Suche nach dem ganzheitlichen Augenblick“, 1992, S. 63 ff. 138  H. v. Senger, a. a. O., S.  76. 139  Xie Hui / R. Heuser, Herrschaft des Rechts in China, JöR 50 (2002), S. 581 (587). 140  H. v. Senger, Strategeme, Bd. II: Strategeme 19–36, 2000; ders., Die Kunst der List, Strategeme durchschauen und anwenden, 2. Aufl. 2002. 141  H. v. Senger, Strategeme, a. a. O., S. 52. 142  H. v. Senger, Strategeme, a. a. O., S.  57 ff. 143  FAZ vom 22. Dezember 2008, Nr. 299, S. 6 f., übersetzt von Prof. Dr. JörgM. Rudolph, ebenfalls in http: /  / www.eu-china.net / web / cms / upload / pdf / materialien /  rudolph_2009_charta_08.pdf; s. auch Wikipedia „Charta 08“, http:  /   /  de.wikipedia. org / wiki / Charta_08, mit Nachweisen der ersten Reaktionen. 144  P. Häberle, Präambeln in Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.; fortgeschrieben in ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 920 ff.

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„Liebeserklärung“ an ihr Volk ist (H. Prantl), dann in der Präambel. Nachgezeichnet wird in feierlicher, bürgernaher Sprache die Geschichte eines Landes, die Substanz der folgenden Texte sowie die Zukunftshoffnungen bis hin zu konkreten Utopien (wie die eine, die 1949 im Grundgesetz postulierte Gewinnung der Einheit, 1990 erreicht war). So ist davon die Rede, dass die chinesischen Bürger „nach langwierigen mühsamen und von Rückschlägen gezeichneten Kämpfen aufgewacht sind“, so wird ein Bekenntnis abgelegt zu Freiheit, „Gleichberechtigung und Menschenrechten, als gemeinsamen und universellen Werten der Menschheit“ (Parenthese: allen sehr deutschen Infragestellungen der Theorie von verfassungsrechtlichen Grundwerten ist damit wie in so vielen modernen Verfassungen mit einem Federstrich des Verfassunggebers schon positivrechtlich der Garaus gemacht). Es folgen Bekenntnisse zu „Demokratie, Republik“ und zur „verfassungskonformen Regierung“ als Fundament einer modernen Politik. Damit ist das typische Präambelelement „Konzentrat der Verfassung“ bzw. der folgenden Texte umrissen. Die Zukunftsdimension, ebenfalls neben der bürgernahen Sprache ein typisches Präambelelement, wird vom Negativen her entworfen. Es heißt wörtlich: „Eine „Modernisierung“, die sich „von diesen universellen Werten und solchen Grundlagen der Politik entfernt“, kann nur zu einer Katastrophe werden, weil sie den Menschen ihre Rechte raubt, ihre Vernunft korrumpiert und ihre Würde zerstört.“ Die Berufung auf Menschenwürde und Vernunft ist bislang in dieser Weise noch in keinem Präambeltext so vorbildlich zum Ausdruck gebracht worden. Wie behutsam die Verfasser der Charta vorgehen, zeigt sich in den beiden bescheidenen in Frageform gefassten Sätzen: „Wohin wird China im 21. Jahrhundert gehen? Wird es weiter die „Modernisierung“ unter autoritärer Herrschaft verfolgen? Oder wird es sich mit den universellen Werten identifizieren, mit der Hauptrichtung verschmelzen und ein demokratisches Regierungssytem aufbauen?“ Im folgenden Teil des überaus umfangreichen „Vorworts“ (schon die Verfassung von 1923 hatte eine Präambel mit Stichworten „von dem Willen beseelt, das na­ tionale Ansehen zu erhöhen …, das Wohl des Volkes zu mehren und für die Ideale der Menschlichkeit einzutreten“)145 werden in vier weiteren Abschnitten die historischen Prozesse der politischen und Kulturgeschichte Chinas bis ins Einzelne nachgezeichnet und dies in einer ungemein objektiven, sachlichen Weise. Nur wenige Stichworte seien noch genannt: „Die historischen Umwälzungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts (gemeint ist der Einbruch europäischer Kultur … in die bis dahin hermetisch verschlossene chinesische Welt)“ sowie die „Bewegung zum Lernen vom Ausland“ (als „erster Modernisierungsversuch“), überdies „die Niederlage im Krieg gegen Japan“ (1894 / 95); die „Hundert Tage der Reformen“ (1898); sodann die „Revolution von 1911“ mit der Folge der Schaffung der „ersten asiatischen Republik“, die freilich als „republikanisches System“ nur eine Episode bleiben konnte. Weitere Stichworte der etwas langatmigem Verarbeitung der Tausenden von Jahren chinesischer Kultur- und Rechtsgeschichte beziehen sich auf „das Banner Wissenschaft und Demokratie“ der „Bewegung des 4. Mai“ (1919), die Übernahme europäischen Denkens, die „Warlord-Kriege im Inneren und die Aggression von 145  Text

zit. nach F. Koehne, JöR, a. a. O., S. 495.



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außen (von 1931 an: Japan)“, sie unterbrachen jedoch den Prozess der politischen Demokratisierung Chinas. Die neue Wirklichkeit nach dem Sieg der KP wird zutreffend umschrieben mit dem Satz: „Das Neue China … von 1949 war indessen nur dem Namen nach eine ‚Republik des Volkes, tatsächlich war es die Welt der Partei‘. Erwähnt werden die Serie „Menschenrechtliche Katastrophen“, der „Große Sprung“ (1958–1960), „die Kulturrevolution (1966–1976), der 4. Juni 1989, die Unterdrückung der Volksreligion …“ Knapp wird gesagt: „Dutzende Millionen Menschen kamen bei alldem ums Leben, die Chinesen und ihr Land zahlten einen verheerenden Preis.“ Im letzten Absatz keimt Hoffnung auf in den Worten: Mit dem Prozess von „Reform und Öffnung“ (am Ende des 20. Jahrhunderts) ließ China „die allgemeine Armut und den vollkommenen Totalitarismus der Zeit Mao Tse Tungs hinter sich“. Sehr konzentriert wird die ambivalente Entwicklung nachgezeichnet: einerseits Reform der Wirtschaft „in Richtung Markt und Privatisierung“, andererseits „Rufe nach Menschenrechten“. Zwar wird die Verfassungsänderung von 2004 durch den „Nationalen Volkskongress“ erwähnt (Art. 33: „Der Staat respektiert und schützt die Menschenrechte“), doch wird beklagt, dass sich diese Fortschritte großenteils „auf das Papier“ beschränken. An den Pranger gestellt wird die „Beamten-Korruption“, die Zerstörung der „Ethik“, die Polarisierung der Gesellschaft, die „abnorme“ Entwicklung der Wirtschaft, die Zerstörung der „natürlichen Umwelt und des Geistes.“ An einen Klassikertext aus den USA erinnert der Passus: „Die Rechte der Bürger auf Freiheit, Eigentum und die Verfolgung ihres Glücks haben keinen systemischen Schutz“. Im Ganzen: Das „Vorwort“, aus unserer Sicht die Präambel, bietet alles, was ein Verfassungsdokument aus vergleichender Sicht leisten kann und soll. Es kann sich mit den weltweit besten Präambeln etwa aus den USA (1787), Südafrika (1996), Polen (1997) und Albanien (1998) sowie aus dem Kosovo (2008) messen (viel Kritik verdient die einseitige nationalistische und tendenziöse Präambel der neuen Verfassung Ungarn von 2012)146. Entweder kannten die Verfasser der Charta 08 aus China diese Texte von Verfassungen „im Diskurs der Welt“ oder der Weltgeist, der freilich kein Schwabe ist, kristallisierte sich im fernen China aus, so wie überhaupt zu vermuten ist, dass bei aller Relevanz von I. Kant meiner Theorie von den „Textstufen“ ein Stück Hegel beigemischt ist: Vieles, was sich in Verfassungstexten kristallisiert bzw. wirklich ist, ist vernünftig! Meine einzige Kritik am Vorwort geht dahin, dass Sun Yat-sen nicht ausdrücklich erwähnt wurde, obwohl er im Umsturz von 1911 eine große Rolle spielte, der Vorläufige Große Präsident der 1. Republik Chinas war147, sich große Verdienst erworben hatte (seine „Drei Volksprinzipien“: Nationalismus, Rechte des Volkes und Volkswohlfahrt sind bis heute berühmt148, auch die „Verfassungslehre von den fünf Gewalten“149) und im heutigen China sogar 146  Erste Kritik von P. Zilahy, Vom Leben in magischen Zeiten. Tausend Jahre und kein bisschen weise: Ungarns heiliger Gral oder Die modernste Verfassung Europas – eine Budapester Farce, FAZ vom 4. Mai 2011, S. 27. 147  W. Lasars, a. a. O., S.  600. 148  W. Lasars, a.a.O, S. 617 f. 149  Dazu Casun Chang, Die staatsrechtliche Krisis der chinesischen Republik, JöR a. F., Bd. 19 (1931), S. 316 (333 ff.).

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ein Mausoleum in Taipei hat. Ein deutscher Autor spricht zu Recht von „Chinas unbeachteter Republik“150. 2. Der Teil „Unser grundsätzliches Konzept“ Diese Überschrift leistet, was sie verheißt. Das Dokument geht hier nicht in Artikel-Form vor, sondern es ähnelt eher einem Traktat bzw. den Federalist Papers der werdenden USA. In bewunderswerter Dichte werden die „Grundzüge“ – fast ist man an Konrad Hesses klassisches Lehrbuch erinnert (1966 / 20. Aufl. 1999) – der Prinzipien, Grundwerte und Themen eines Verfassungsstaates im Kontext Chinas entworfen. Im Einzelnen: Der Text beginnt unter Hinweis auf den „jetzt hundertjährigen Modernisierungsprozess“ mit der Bekräftigung von sieben „Grundsätzen“, die in prägnanter Sprache formuliert sind und erkennen lassen, dass sich die Autoren der Charta 08 auf dem jetzigen Stand des weltweiten Diskurses in Sachen Verfassungsstaat befinden. Begonnen wird mit dem Thema „Freiheit“: „Die Freiheit ist der Kern der universellen Werte.“ Es folgt ein Hinweis auf „Rechte“, wie das der Rede, der Veröffentlichung, des Glaubens, der Versammlung und Organisation, der Freizügigkeit, des Streiks, (sogar) der Demonstration. Diese Freiheiten gelten alle „als konkrete Erscheinungsformen der Freiheit.“ Auch dieser Satz ist lehrbuchartiges Wissen um die Grundlagen des Verfassungsstaates. Fast poetisch heißt es: „Wo die Freiheit nicht blüht, kann von moderner Zivilisation keine Rede sein.“ Welch smarter Jurist würde bei uns heute, das schöne Wort von „blühender Freiheit“ ohne weiteres noch wagen!? Als nächstes Thema figurieren die „Menschenrechte“: „Sie sind kein Geschenk des Staates, sondern Rechte, die jeder Mensch von Geburt an besitzt“ – man fühlt sich u. a. an den berühmten Art. 1 des Entwurfs von Herrenchiemsee zum Grundgesetz (1948) erinnert. Wenn es anschließend heißt: „Sie zu schützen ist das oberste Ziel einer Regierung, und sie sind die legitimierende Basis allen Rechts“, so denkt man nicht nur an das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 Satz 2), sondern auch an andere im weltweiten Vergleich vergegenwärtigte Texte. In geradezu raffinierter Weise kontextualisiert die Charta „ein Propaganda-Wort der Partei- und Staatsmacht, seit etwa 2002“, nämlich: Menschenrechte sind auch der wichtigste Inhalt einer Politik, die „den Menschen zum Ausgangspunkt nimmt“. Der folgende Satz gilt der These, die politischen Katastrophen Chinas seien eng verbunden mit der Missachtung der Menschenrechte durch die machthabenden Behörden“. Wiederum leuchtet ein Stück der Texte von Herrenchiemsee auf: „Der Mensch ist das Wesentliche am Staat, ihm dient er und für ihn ist die Regierung da“ – ein Abschied von Hegel aus Stuttgart, aber noch in Berlin (?). Das nachfolgende Thema lautet die „Gleichberechtigung“. Auch hier ist die Charta vom westlichen, jetzt weltweiten Verfassungsstaatsdenken her inspiriert: Ich zitiere nur Sätze wie: „Jedes Individuum ist allen anderen gleichgestellt, ohne Ansicht seiner sozialen Position …, Geschlechts, seiner wirtschaftlichen Situation, seiner Rasse oder seiner politischen Ansichten.“ Über das Grundgesetz hinaus, das be150  T. Weyrauch, Chinas unbeachtete Republik. 100 Jahre im Schatten der Weltgeschichte. Bd. 1 (1911–1949), 2009. – Zur Verfassungsreform in Taiwan: gleichnamig R. Heuser, JöR 41 (1993), S. 658 ff., mit Textanhängen, S. 667 ff.



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kanntlich ein Defizit an sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten aufweist (ganz anders die west- und ostdeutschen Landesverfassungen) lautet der einschlägige Satz: „Das Prinzip der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht ist ebenso zu verwirklichen wie die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rechte der Bürger.“ Hier wirken die UN-Menschenrechtspakte von 1966 und viele osteuropäische Verfassungen, sogar afrikanische und lateinamerikanische. Eine Steigerung gelingt der Charta im folgenden Passus, der in Anknüpfung an Klassikertexte seit der Antike lautet: „Res publica: Das meint die Sache des Volkes, dass ‚alle herrschen und friedlich zusammenleben.‘ “ Konkretisierend ist hinzugefügt: „Das bedeutet Teilung der Gewalten und deren gegenseitige Kontrolle und Balance, dass vielfältige Interessen, unterschiedliche soziale Gruppen und jene, die unterschiedliche Kultur- und Glaubensrichtungen verfolgen, auf gleichberechtigter Basis partizipieren, in fairem Wettbewerb gemeinsam am politischen Leben teilnehmen in friedlicher Weise die Angelegenheiten der Allgemeinheit regeln“. Dieser Text rezipiert antike und moderne Klassiker von Cicero bis Montesquieu und ergänzt sie um die neuere Partizipationsidee sowie den Gedanken des fairen Wettbewerbs – letzteres ist angloamerikanischem Denken verpflichtet. Das Postulat „in friedlicher Weise“ ist wohl ein sehr asiatisches bzw. chinesisches Ideal. Der nächste textstufenartige und überdies verfassungsvergleichende Schritt gilt der „Demokratie“: Als ihr „grundlegendster Inhalt“ sind „die Volkssouveränität und die Wahl der Regierung durch das Volk“ bezeichnet. In vier Ziffern werden die grundlegenden Charakteristika – fast im Sinne von „Grundzügen“ – aufgelistet, ein bösartiger Betrachter könnte von Plagiat sprechen! (Klammerzusatz: Während das „Plagiat“ als Begriff der Wissenschaft zuzuordnen ist und einen Betroffenen wie mich etwa bei den Begriffen „Parlamentsvorbehalt“ (1972), „Religionsverfassungsrecht“ (1976) oder „Kultur der Freiheit“ (1991) und „Europarechtsfreundlichkeit“ (2001 / 02), dann mit Stolz erfüllen dürfte, wenn diese Wortschöpfungen zum Allgemeingut geworden sind wie heute, sollten wir bei hohen Verfassungstexten von „Rezeption“ sprechen. Klammerzusatzende). In der Charta werden genannt „1. die Legitimität: politische Macht kommt aus dem Volk; 2. Die politische Herrschaft entsteht durch Wahlen des Volkes; 3. Die Bürger genießen echtes Wahlrecht die wichtigsten Funktionäre der Regierungen aller Ebenen sind durch periodische Wahlen zu bestimmen; 4. Mehrheitsentscheidungen sind zu achten, die grundlegenden Rechte der Minderheit sind zu schützen“ (Klammerzusatz: Bekanntlich eine Idee von K. Hesse, dessen Grundzüge vor drei bis vier Jahren ins Chinesische übersetzt worden sind). Ebenso erstaunlich ist der eine Satz, der Schlusssatz: „Die Demokratie ist ein Mittel moderner Öffentlichkeit, mit dem diese die Regierung zu ihrem ‚Besitz, Herrschaftsmittel und Nutzbringer‘ macht.“ Es handelt sich offenkundig um ein Zitat ohne Nennung der Quelle. Man denkt an J. Habermas („Strukturwandel der Öffentlichkeit“), an G. Heinemann („Öffentlichkeit als Sauerstoff der Demokratie“) oder M. Walser („Öffentlichkeit als Quellgebiet der Demokratie“). (Klammerzusatz: Die neuesten Erscheinungsformen der Öffentlichkeit, Stichwort Internet-Öffentlichkeit in all ihrer Ambivalenz auch zum Bösen hin, hätte ein Kommentator von heute mit in den Blick zu nehmen, ebenso die globale Öffentlichkeit, die regionale Revolutionen auslösen kann: etwa den „Arabischen Frühling“). Der vorletzte Abschnitt dieses konzentrierten Textes, der einen Mittelweg zwischen ausformulierten Verfassungsartikeln und programmatischem Dokument sucht,

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gilt dem Thema „Verfassungsgemäßes Regieren“. Einer Legaldefinition ähnlich heißt es: „Es ist das Prinzip, durch rechtliche Bestimmungen und die Herrschaft des Rechts die in der Verfassung festgelegten grundlegenden Bürgerfreiheiten und -rechte zu schützen und mittels rechtlicher Festlegungen die Macht und das Handeln der Regierung zu begrenzen und diesem Zweck dienende systemische Mittel zur Verfügung zu stellen.“ Dieser Textstufe gelingt eine Verknüpfung anglo-amerikanischen Denkens (rule of law) und kontinentaler Verfassungsstandards (Rechtsstaatsprinzip). Angesichts des apodiktischen Charakters vieler Sätze ist man fast an die Diktion von „Zehn Geboten“ in Sachen weltoffener Verfassungsstaat erinnert. Der letzte Abschnitt ist stark aus der chinesischem Rechts- und Kulturgut geschnitzt. Er verbindet Aussagen zur Wirklichkeit und Zukunftshoffnungen in gelegentlich blumiger Sprache, die aber durch ihre Authentizität überzeugt: „Das Zeitalter imperialer Macht ist in China schon lange vorbei, und es wird auch nicht zurückkommen.“ Poetisch fahren die Autoren der Charta 08 fort: „die autoritären Systeme in der Welt nähern sich ihrer Abenddämmerung“ – wer denkt hier nicht an die Morgendämmerung der demokratischen und an der Menschenwürde orientierter Revolution in den arabischen Staaten unserer Tage! Streng und hoffnungsvoll zugleich heißt es: „Jetzt müssen die Bürger zu den tatsächlichen Herren der Staaten werden.“ Noch erstaunlicher ist der Satz, der die deutsche Untertanenmentalität alter Zeiten (man denkt an H. Mann’s Buch „Der Untertan“) und chinesisches Gedankengut miteinander verbindet: „Hinweg mit der Untertanenmentalität, sich auf ‚Ehrbare (Machthaber)‘ und ‚saubere Beamte‘ zu verlassen, jetzt ist die Zeit des Bürgerbewusstseins“ – hier fühlt man sich an neue Texte zur Bürger- bzw. Zivilgesellschaft erinnert (Beispiele finden sich in Präambel Verf. Mongolei von 1992 sowie der Präambel Verf. der Tschechischen Republik von 1992). Das Bürgerbewusstsein wird sogar noch konkretisiert: weil es „das Rechte als Wesen der Sache und Teilnahme als seine Verantwortung begreift, Freiheit verwirklicht, Demokratie als ureigenes Anliegen begreift und der Herrschaft des Rechts Respekt entgegen bringt.“ Die Charta sieht allein hier den „Ausweg für China“. Der kritische Leser und Hörer mag hier Elemente von Wunschdenken, ja konkreter Utopien erkennen, an der Überzeugungskraft und Ernsthaftigkeit der Verfasser darf er gewiss nicht zweifeln. 3. Der dritte Teil: „Wofür wir grundsätzlich eintreten“ Der dritte Teil ist überschrieben: „Wofür wir grundsätzlich eintreten“. Hier geht es um Konkretisierungen des bisherigen Programms, das die wesentlichen Grundsätze bereits skizziert hat. Mag es auch zu manchen Wiederholungen kommen (dazu sogleich): In nicht weniger als 19 Ziffern wird die Charta teils sehr prinzipiell und verfassungstheoretisch (Stichwort: Strukturierung des Bundesstaates) als auch sehr konkret (etwa bis zu Steuerraten und Registrierungsvorgängen in Sachen Parteien und Religionen). Im Einzelnen: Das 19 Punkte-Programm, dass nur zufällig an die Grundrechte-Artikel des GG erinnert, denn es geht auch um wesentliche organisatorische Vorschriften, beginnt mit dem hohen Satz: „Entsprechend und in verantwortungsbewusstem, konstruktivem Bürgergeist treten wir mit Blick auf das politische System Chinas, die Rechte seiner Bürger und die Entwicklung der Gesellschaft für die folgenden konkreten Positionen ein“:



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Ziff. 1 „Revision der Verfassung“. Man zögert zunächst bei der Lektüre dieses Begriffs, denn dank der Schweiz unterscheiden wir ja zwischen Teil- und Totalrevision einer Verfassung. Die gleich zu benennenden Änderungspläne sind so umfassend, dass eigentlich nur von einer „Totalrevision“ gesprochen werden kann. Vielleicht ist die Wortwahl der Charta taktischer Natur. Wir erinnern uns, dass auch die Arabische Revolution in Ägypten (2011) zunächst mit Verfassungsänderungen vorlieb nehmen wollte, manche politischen Kräfte aber eine ganz neue Verfassung wollten und noch heute erfolgreich anstreben. Die nachstehenden Revisionswünsche beziehen sich auf Identitätselemente einer etwaigen neuen chinesischen Verfassung, ganz im Sinne des Entwurfs meines Festschriften-Beitrags von 1986 „Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien“151. Dies zeigt sich schon am ersten Satz. Hiernach ist die Revision „auf der Grundlage der oben dargelegten Wertvorstellungen zu ändern.“ Präzise wird verlangt: „Bestimmungen, die dem Prinzip der Volkssouveränität nicht entsprechen, sind zu streichen, so dass die Verfassung tatsächlich zu einer Garantieurkunde der Menschenrechte und zu einer Lizenz zur Ausübung öffentlicher Macht wird, zu einem praktizierten höchsten Gesetz, gegen das kein Individuum, keine Organisation und keine Partei handeln darf, damit sie zur Basis legaler Rechte bei der Demokratisierung Chinas wird.“ In diesem Text erkennen wir unschwer J.-J. Rousseau, aber auch den „Vorrang der Verfassung“ und den Wunsch, dass die formale Urkunde auch bei den Menschenrechten zur Praxis wird. An spätere Teilrevisionen ist wohl noch nicht gedacht. Der Begriff „Verfassungsurkunde“ erinnert an die wichtige formale Seite der Verfassung, nicht aber an die positivistische bzw. politologische These von der Verfassung als bloßem „Grundbuch“. Ziff. 2 widmet sich der Gewaltenteilung und Machtbalance. Wiederum gelingt den Verfassern ein Libretto dieses Themas. Es heißt nämlich: „Aufbau einer modernen Regierung (auf Grundlage) der Gewaltenteilung und Machtbalance, Garantie der Gewaltenteilung in Legislative, Judikative und Exekutive.“ Ganz eigene, wohl auf negativen Erfahrungen im jetzigen China beruhende Gedanken sind geglückt in den Worten: „Sicherstellung einer rechtlichen Verwaltung und verantwortlichen Regierung, Verhütung einer grenzenlosen Ausdehnung der Verwaltungsmacht (Zusatz: Unter ihr leidet ja nicht nur heute die chinesische Bevölkerung in Tibet – schon die Verfassung Chinas von 1923 beginnt mit Art. 1: „Die Republik China ist auf ewig ein demokratischer Einheitsstaat“). Textstufentheoretisch betrachtet ist die folgende Forderung höchst innovativ: „die Regierung ist den Steuerzahlern verantwortlich“ – welche Aktualität angesichts der europäischen Finanz- und Steuerprobleme! Schon in Vorwegnahme der Bundesstaatsstruktur in Ziff. 18 ist schließlich gesagt: „zwischen Zentrale und Regionen ist ein System der Gewaltenteilung und Machtbalance zu schaffen, die Rechte der Zentrale sind auf der Grundlage klar zu begrenzen oder zu autorisieren, die Regionen verwalten sich vollständig selbst.“ Die Ankündigung von konstitutioneller Regional-Autonomie sowie die Erkenntnis der vertikalen Gewaltenteilung im Bundesstaat faszinieren, weltweit. Während die Exekutive als Zweite Gewalt nicht durch einen eigene, besondere Ziffer hervorgehoben wird, sich vielmehr nur über mehrere Ziffern hin ausfindig 151  FS

Haug, 1986, S. 81 ff.

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machen lässt, widmet sich Ziff. 4 der „Unabhängigkeit der Judikative“, also der Dritten Gewalt. Hier einige Stichworte: „Das Rechtswesen steht über den Parteien und ist frei von jeglicher Einmischung, die Judikative ist unabhängig, ihre Unparteilichkeit zu garantieren; ein Verfassungsgericht ist zu schaffen sowie ein System zur Prüfung von Verfassungsverstößen und zum Schutz der Verfassungsautorität.“ (Zusatz: welch ein geglückter Begriff!) Damit wäre der gesetzliche Weg zu vielen speziellen Kompetenzen eines selbstständigen Verfassungsgerichtshofs nach westlichen Standards eröffnet – bis hin zu Verfahren der konkreten Normenkontrolle bzw. Verfassungsbeschwerde wie jetzt in Frankreich. Ein Stück Verarbeitung der bisherigen unseligen Geschichte des Monopols der Kommunistischen Partei152 findet sich in dem schwerwiegenden Satz: „Die Parteiausschüsse für Politik und Recht (im Verborgenen wirkende Parteigliederungen, die nach eigenem Ermessen auch der Justiz Anweisungen geben) stehen über dem geltenden Recht und sind alsbald auf allen Ebenen abzuschaffen.“ Begründung: „weil sie in schwerwiegender Weise die Herrschaft des Rechts schädigen.“ Welch scharfe Abrechnung mit der Noch-Gegenwart! In diesen Texten finden wir der Sache nach das Mehrparteiensystem und die Idee des Status der Öffentlichkeit der politischen Parteien. Etwas sachfremd endet Ziff. 4 mit dem Satz: „das Verwenden öffentlicher Mittel für private Zwecke ist zu unterlassen.“ Hier ist wohl, wenngleich ausnahmsweise nicht in idealer Textform, die Korruption angesprochen. Welch ein prägnanter Satz für Korruptionsformen, die bekanntlich in fast allen Verfassungsstaaten wuchern! Ziff. 5 spiegelt ganz und gar die unglücklichen chinesischen Erfahrungen in der Vergangenheit wider. Zugleich orientieren sie sich an Prinzipien des Verfassungsstaates. Ziff. 5 beginnt mit dem Satz: „Öffentliches Eigentum gehört der Öffentlichkeit“ – ein schöner Gedanke, wenn man sich den seit den 70er Jahren erhofften Zusammenhang zwischen res publica, öffentlichem Wohl und Öffentlichkeit vergegenwärtigt153. Die Verfasser fordern: „Die Streitkräfte sind zu nationalisieren.“ Der Klammerzusatz: „sie unterstehen der Parteiführung“ ist wohl missverständlich formuliert, wie sich aus dem Kontext ergibt, insofern es anschließend heißt: „die Soldaten haben der Verfassung und dem Staat loyal zu dienen, Parteiorganisationen haben die Armee zu verlassen, dessen professionelles Niveau ist zu erhöhen.“ Scherzfrage: Ist damit schon die neue Berufsarmee der deutschen Bundeswehr gemeint? Neue Wege, die freilich von westlichen Verfassungsideen inspiriert sind, finden sich in den zwei letzten Sätzen: „Alle Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, auch die der Polizei, haben politische Neutralität zu wahren.“ Soweit, so gut. Wie aktuell ist aber in westlichen Ländern, sogar Bayern und Nordrhein-Westfalen, erst recht im Italien Berlusconis der hehre Satz: „Die Partei-Bevorzugung bei Einstellungen im öffentlichen Dienst ist abzuschaffen, Einstellungen erfolgen ohne Blick auf die Partei-Zugehörigkeit.“ Ziff. 6 gilt der „Sicherung der Menschenrechte“. Sie sind „wirksam zu garantieren, die Würde der Menschen ist zu schützen“. Interessanterweise wird ein – manchen afrikanischen Ländern wahlverwandter – eigener „Ausschuss für Menschen152  Aus der älteren Lit.: E. Tomson, Die Verfassungsentwicklung in der Volksrepublik China, JöR 22 (1973), S. 431 ff. 153  P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, z.  B. S. 558 ff., 516 ff. (2. Aufl. 2006).



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rechte“ geschaffen, er muss Missbräuche verhindern, „die persönliche Freiheit der Bürger sicherstellen“, niemand dürfe ungesetzlich verhaftet, eingesperrt, vorgeladen, verhört oder bestraft werden. (Habeas Corpus auf chinesisch!) Apodiktisch heißt es: „das System der Erziehung durch Arbeit (Arbeitslager) ist abzuschaffen“. – Jeder von uns hat die grausamen Bilder aus dem Film „Der letzte Kaiser“ von Bertolucci vor Augen, in dem die Umerziehungslager der Kulturrevolution dargestellt sind. Auch denkt man an das zynische Motto in Auschwitz: „Arbeit macht frei“ – (Zusatz: Dieses Dictum gilt freilich für die akademische Freiheit und Arbeit). Ziff. 7 befasst sich mit der Wahl der Beamten. Sie fordert eine „vollständige Einführung eines demokratischen Wahlsystems“ (Stichwort: „Jeder Wähler eine Stimme“). Die Direktwahl der Verwaltungsleiter ist „Schritt für Schritt auf allen Ebenen einzuführen.“ Dies ist ein realistisches Zugeständnis an die Einsicht, dass eine neue Verfassung oft nur im Sinne der Stückwerktechnik von Popper umgesetzt werden kann. Die in der Wissenschaft relativ spät formulierte These von der menschenrechtlichen Dimension des Wahlrechts wird auf die Textstufe gebracht: „Periodische und freie Wahlkämpfe und die Wahlteilnahme der Bürger sind ein unwiderrufliches Grund-Menschenrecht der Bürger.“ (Zusatz: Der Hinweis auf die Periodizität ist überaus geglückt und treffend. Demokratie ist „Herrschaft auf Zeit“, ein Stück Gewaltenteilung im Horizont der Zeit.) Ziff. 8 postuliert die Gleichheit zwischen Städtern und Landbewohnern. Unmissverständlich ist gesagt: das System entrechtet z. B. die „Bauernarbeiter“ – „Wanderarbeiter“ – in den Städten, für die sie kein Aufenthaltsrecht besitzen. Hier wird die „ausnahmslose Gleichberechtigung der Bürger und die Garantie der Freizügigkeit“ verlangt. Ziff. 9 trägt die Überschrift „Organisationsfreiheit“. Hier handelt es sich wohl um einen ganz neuen Text und Sammelbegriff, der den bisherigen Verfassungsstaaten meines Wissens so nicht bekannt ist. Es handelt sich um mehr als einen Artikel zu den politischen Parteien, so sehr deren Pluralität verlangt wird. Das „Recht auf Organisationsfreiheit der Bürger“, die „Umwandlung des jetzigen Genehmigungssystems bei der Bildung von Organisation zugunsten eines Systems der bloßen Anmeldung und Registrierung“ sind weitere Stichworte. Aufgehoben wird das Parteienverbot, insbesondere die „Abschaffung der Sonderrechte, die einer einzigen Partei das politische Monopol gewähren“, die „Schaffung einer freien Betätigung politischer Parteien und eines fairen (Parteien-)Wettbewerbs.“ Verlangt wird eine „Verrechtlichung und Normalisierung der Parteienpolitik“ – eine Herkulesarbeit! Dieser Passus lässt an die Diskussion über das Parteienrecht und seine „Generationen“ in Deutschland sowie seine Propria denken. Pionier war hier D. Tsatsos in Hagen, Straßburg und Athen.154 Ziff. 10 widmet sich der „Versammlungsfreiheit“: Friedliche Versammlungen, Umzüge, Demonstrationen und der freie Ausdruck sind ein verfassungsmäßiges Grundrecht, sie dürfen nicht die Verfassung verletzenden oder illegalen Eingriffen der herrschenden Partei unterliegen“. Blicken wir rechtsvergleichend in Raum und 154  Von ihm zuletzt: D. Tsatsos (Hrsg.), Unionsgrundordnung, 2010; ders., Die Europäische Unionsgrundordnung, 2002; ders., Die Europäische Unionsgrundordnung, EuGRZ, 1995, S. 287 ff.

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Zeit zurück: In Europa war es die Verfassung des Kantons Jura (1977), die erstmals die Demonstrationsfreiheit textlich anerkannte. In Deutschland wurde es nahezu ungeschrieben aus Art. 5 und 8 GG von Wissenschaft und Rechtsprechung entwickelt. Jetzt lebt die Demonstrationsfreiheit auf verfassungsrechtlicher Textstufe in einem neuen – chinesischen – Kontext. Ziff. 11 gilt der „Freiheit der Rede“. Sie ist etwas zu umfangreich und vereinigt vieles, was eigentlich auf die Stufe des subkonstitutionellen Rechtes gehört. Im Einzelnen: Neben der Redefreiheit wird die Publikationsfreiheit und die „akademische Freiheit“ garantiert (Platons Akademie ist jetzt in einem chinesischem Verfassungstext auferstanden!). Geschützt wird „das Recht des Bürgers zu wissen (was die Verwaltungen tun)“ – im Grunde unser Informationsfreiheitsrecht. Gesprochen wird sogar von der „Öffentlichkeit der Verwaltung“, die im deutschen Schrifttum so erst 1970 erarbeitet worden ist. Im Sinne eines Verfassungsauftrags wird die Ausarbeitung eines „Presserechts“ und eines „Verlagsrechts“ verlangt, auch die Abschaffung der Zeitungsverbote, die Beseitigung von Bestimmungen wie „Anstachelung zum Umsturz der Staatsmacht“ im „jetzigen Strafrecht“ (man denkt an einen umstrittenen Artikel in der Türkei). Geradezu klassisch lautet der Schlussatz: „es muss ein Ende haben, dass Wörter Verbrechen sein können“. Der Wissende denkt – „erbaut“ – an Friedrich Schillers: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ Ziff. 12 („Religionsfreiheit“) gilt dem Religionsverfassungsrecht, ganz im Sinne der Theorie, die dazu vor 35 Jahren entwickelt worden ist155. Freilich geht die Charta auch hier zu detailliert vor. Prägnant ist gesagt: „Garantie der Religions- und Glaubensfreiheit, Verwirklichung der Trennung von Politik und Religion, keine Einmischung der Regierung in religiöse Aktivitäten“. Damit wird an religionsverfassungsrechtliche Textstufen angeknüpft, die sich bereits in osteuropäischen Verfassungen finden. Sehr ins Einzelne gehen weitere Sätze wie „Verbot der Praxis, religiöse Aktivitäten mit Hilfe administrativen Rechts zu überwachen“. Das bisherige System, durch Anträge die eigene Legalität vorab genehmigen lassen zu müssen, wird durch ein „System der bloßen Registrierung“ ersetzt, „das mit keinerlei Überprüfung verbunden ist.“ Ziff. 13 befasst sich mit einem Bildungssystem für Bürger – ein schon Konfuzius und Sun Yat-sen wichtiges Anliegen156. Man denkt sofort an die in Spanien jüngst umgesetzte Idee von der „Bürgerschaft durch Bildung“157. Die Charta 08 verlangt hier: Beseitigung der „durch und durch ideologischen politischen Erziehung und der Polit-Prüfungen, die der Ein-Partei-Herrschaft dienen“. Der folgende Passus erinnert an Vorbilder in den Verfassungen von Guatemala und Peru (1985 bzw. 1979), denn es heißt: „Verbreitung einer Bürgererziehung, die die universellen Werte und die Bürgerrechte zum Kerninhalt hat“. Man denkt auch an den Kanon „gemeindeutscher 155  P. Häberle, „Staatskirchenrecht“ als Religionsrecht der verfassten Gesellschaft, DÖV, 1976, S. 73 ff. 156  Dazu Wikipedia „Konfuzius“, http: /  / de.wikipedia.org / wiki / Konfuzius: „Dem Lernen wird bei Konfuzius eine hohe Priorität eingeräumt. Es ist das bevorzugte Mittel den Edlen zu formen, zu bilden.“ – s. auch seinen Klassikertext: „Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede machen.“ 157  Dazu mein Beitrag in FS H.-P. Schneider, 2008, S. 460 ff.



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Erziehungsziele“ sowie an die Literatur zur Zivilgesellschaft, schließlich an Verfassungsstexte in Europa, wenn es zuletzt heißt: „Schaffung von Bürgerbewusstsein, Förderung der bürgerlichen Tugend158, des Dienstes an der Gesellschaft“. Dass der alteuropäische Begriff „Tugend“ in dieser Charta ranghoch steht, ist ein Glücksfall, der vielleicht aus tiefen kulturellen Schichten China stammt159 und manchen westlichen Aufklärer zum Lächeln bringen mag, besser: beschämen sollte. Ziff. 14 zum Schutz des Eigentums bündelt programmhaft eine übergroße Fülle von Zielen, die wohl erst in langwierigen Transformationsprozessen erreicht worden können und einer Vielzahl von Ausführungsgesetzen bedürfen. Inhaltlich werden Rezeptionsprozesse in Bezug auf Elemente der westlichen Demokratien erkennbar, aber auch Themen, die spezifischen Eigenheiten der zu überwindenden „Volksdiktatur“ und dem Volkseigentum in China ein Ende bereiten wollen – hier zeigt sich, wie sehr die Charta 08 ein Gegenentwurf zur noch geltenden „Verfassung“ der Volksrepublik China (1978 / 79) ist. Schlagwortartig heißt es: „Etablierung des Rechts auf Privateigentum und Schutz dieses Rechts“, sodann „Einrichtung eines Systems der freien und offenen Marktwirtschaft“ – damit werden Verfassungsideen der Zeit nach 1989 aufgegriffen. Neu ist wohl der Begriff „Schutz der Freiheit von PionierUnternehmen (neuer, junger Firmen)“ – in westlichen Verfassungen wird meist die Wirtschafts- bzw. Unternehmerfreiheit normiert. Allzu simpel wird gesprochen von „Beseitigung des Verwaltungsmonopols“ – ganz verzichten wollen auch westliche Demokratien hierauf nicht. Die Charta fährt fort: „Einrichtung eines der obersten Volksvertretung verantwortlichen Ausschusses für das Staatseigentum und die Staatsressourcen“ – nicht ganz klar ist, ob damit jede Art von Staatseigentum verboten wird. Einleuchtender heißt es: „Rechtskonforme und geordnete Reform des Eigentumsrechts, Klärung der Eigentumsverhältnisse und -verantwortlichkeiten“ – hier ist viel reformierende Ausgestaltungsarbeit eines künftigen parlamentarischen Gesetzgebers erforderlich. Revolutionär ist die Forderung nach „Initiierung einer neuen Boden-Bewegung“ – damit ist wohl die bisherige „Kollektivierung“, wonach „alles Land staatlich ist und Bauern nur Pächter“ sind, gemeint. Schließlich der Satz: „Privatisierung des Grund und Bodens, Garantie von Eigentumsrechten der Bürger an Grund und Boden, insbesondere der Bauern“. Im Grunde handelt es sich wohl um eine Befreiung der Bauern, wie dies im deutschen Konstitutionalismus in Gestalt von Reformen erst relativ später gelang und in der DDR als Zwangskollektivierung bis 1989 Wunden schlug. In einer sehr umfangreichen Ziff. 15 ist die Finanz- und Steuerreform skizziert. Auch hier überwiegt die detaillierte Programmatik, die sich ein riesiges Reformprogramm zumutet, das vermutlich erst in Jahrzehnten umgesetzt werden könnte. Dazu nur wenige Stichworte: Schaffung einer „demokratischen Finanz(verwaltung), Schutz der Rechte der Steuerzahler“, Schaffung eines „rationalen und effizienten Systems“ zu deren Gunsten. „Senkung der Steuerrate, Vereinfachung der Steuerlast“ – welch Wahlverwandtschaft zu einem „Professor aus Heidelberg!“ Es dürfe nicht geschehen, 158  Zu den fünf Grundtugenden des Konfuzianismus: „Menschlichkeit, Pflichtgefühl, Anstand, Klugheit und Glaubwürdigkeit“: H. v. Senger, Strategeme, a. a. O., S. 155. 159  Zum „Regieren mittels der Tugend“ i. S. des Konfuzianismus: Lasars, a. a. O., S. 651.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

„dass Verwaltungsabteilungen, ohne öffentlichen Entscheidungsprozess oder Beschluss der Vertretungsorgane nach eigenem Gutdünken Steuern erhöhen oder neue erheben“. „Mit Hilfe einer Reform des Eigentums(systems)“ müssten „vielfältige Marktteilnehmer (eine Chance erhalten) am Wettbewerb teilzunehmen“. Damit ist erneut der Wettbewerbsgedanke zum Text geschliffen. Bemerkenswert ist die Forderung nach Öffentlichkeit der Steuergesetzgebung. Implicite kommt darin zum Ausdruck, welche Arkanpraxis in der Vergangenheit bzw. noch heute das auch bei uns sensible Steuerrecht dominiert. Weitere große Reformvorhaben beziehen sich auf die soziale Sicherung (Ziff. 16: „Grundsicherung für Ausbildung, Krankheit, Alter und Arbeit“) sowie auf den Schutz der Umwelt (Ziff. 17: Forderung nach Nachhaltigkeit, um sich „vor den folgenden Generationen sowie der Menschheit insgesamt verantworten zu können“). Selten ist in neueren Verfassungstexten im Kontext der Umwelt auch die Verantwortung vor der „Menschheit“ insgesamt zum Text geronnen. Ebenso innovativ klingt der Zusatz, „Nicht-Regierungsorganisationen müssen auf dem Gebiet des Umweltschutzes ihre Rolle als Beteiligte und Kontrolleure entfalten können“. Soweit ersichtlich ist damit zum ersten Mal in einem Verfassungsentwurf in diesem Kontext den NGO’s eine Aufgabe zugewiesen (etwa „Greenpeace“, „Internationales Netzwerk Steuergerechtigkeit“, „Ärzte ohne Grenzen“). Man staunt als Westeuropäer über den Kenntnisstand der Verfasser der Charta 08 in Sachen Umweltschutz, auf welchem Gebiet vor allem die jüngsten Schweizer Kantonsverfassungen sowie die italienischen Regionalstatute an der Spitze der Textstufenentwicklung stehen160. Ein Höhepunkt gelingt der Charta in Ziff. 18. Denn hier ist der kühne Gedanke eines föderalen China Verfassungstext geworden. Zwar ist zweimal von „Bundesrepublik“ die Rede, doch deuten die Details eher auf ein hoch entwickeltes System von Regionalen Gebietskörperschaften hin, wie wir dies vor allem aus Spanien kennen. Aus der Geschichte weiß man, wie wichtig China mehr als 1000 Jahre lang seine Einheit war und ist und welche fest psychotische Furcht das „Reich der Mitte“ immer vor Autonomiebewegungen (Tibet!) bis heute hat. Vermutlich ist nur ein präföderales System von differenziertem Regionalismus (Italien) oder „asymmetrischen Devolution“ (Großbritannien nach 1997) möglich. Hierauf deuten einige Texte. Gleich eingangs steht der Paukenschlag: „(Wir wollen) ein großes Land schaffen, das verantwortlich ist und an der Wahrung einer friedlichen Entwicklung der Region in gleichberechtigter und fairer Weise teilnimmt“. Wenn sich daran der Satz anschließt: „Das freie System Hongkongs und Macaos ist zu verteidigen“, so deutet dies auf ein flexibles, offenes Bundesstaatssystem. Die deutsche Föderalismustheorie hält hierfür das „gemischte Bundesstaatsverständnis“161 bereit. Der kulturwissenschaftliche Ansatz erlaubt es, angesichts der besonderen Geschichte von Honkong und Macao spezifische Strukturen zu bewahren. Eine ähnliche Flexibilität zeigt sich in der Behandlung des Verhältnisses zu Taiwan. Überaus optimistisch 160  Vgl. die Kommentare und Texte in: JöR 54 (2006), S. 367 ff. bzw. JöR 58 (2010), S.  443 ff. 161  P. Häberle, erstmals in VVDStRL 46 (1988), S. 148 ff., Votum; ders., in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 (184); zuletzt L. Michael, Abweichungsgesetzgebung als experimentelles Element einer gemischten Bundesstaatslehre, JöR 59 (2011), S. 321 (323, 326).



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heißt es: „unter der Vorbedingung einer freien Demokratie (in China) ist in gleichberechtigten Verhandlungen und interaktiver Kooperation eine friedliche Lösung in der Taiwan-Straße … zu suchen“. Man assoziiert hier nicht zuletzt die Idee des „kooperativen Föderalismus“ bzw. „kooperativen Regionalismus“. Sehr chinesisch klingt der vorletzte Satz: „Es muss mit großer Weisheit und Intelligenz ein Weg und ein praktikables System gefunden werden, die den Nationalitäten (in China) ein gemeinsames Aufblühen ermöglichen“. „Weisheit“ und „Aufblühen“ sind bislang kein gängiges Vokabular in der Grammatik und Sprache des entwicklungsoffenen Verfassungsstaates! Ziff. 18 endet, abrundend, mit dem großen Satz: „Im Rahmen einer demokratischen und verfassten (Gesellschaft) sollte eine Bundesrepublik China gegründet werden“. Der Kenner weiß, dass im deutschen Schrifttum das Wort von der „verfassten Gesellschaft“ erst 1978 geprägt wurde162. Ähnlich grundlegend und beifallswürdig sind Ideen und Texte in Ziff. 19 der Charta unter der Überschrift „Rehabilitation der Ungerechtigkeiten“. Denn hier wird nichts weniger als die Idee der Wahrheitskommission aufgegriffen, die von Südafrika aus bis nach Peru und Osteuropa viele Länder, zuletzt in der Elfenbeinküste erobert hat und wissenschaftlich in der Festschrift für A. Hollerbach (2001) beschrieben worden ist. Einmal mehr zeigt sich die weltweite Produktions- und aktive Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat. Im Einzelnen: Die Charta verlangt, dass „Personen und ihre Familienangehörigen, die in den politischen Bewegungen der Vergangenheit politische Verfolgung erlitten haben“, „ihre Ehre zurück erhalten und vom Staat entschädigt werden.“ Zu gründen ist ein „Komitee“ zur Untersuchung der Fakten, „das die tatsächlichen Umstände historische Ereignisse untersucht, die Verantwortung klärt und Gerechtigkeit etabliert; auf dieser Grundlage ist eine Aussöhnung in der Gesellschaft zu finden“. Wir wissen, welche Pionierleistungen hier Südafrika gelungen sind und staunen über die Gestaltungskraft der Textgeber im weit entfernten China. Die erhoffte Aussöhnung ist eine alte chinesische Idee. Das ewige Ziel der „Gerechtigkeit“ ist zum Verfassungstext geworden wie zuvor in der Präambel Verf. Polen von 1997, im Geiste des universalen Konstitutionalismus. 4. Der vierte Teil: Der sogenannte „Schluss“ Auf ihn ist man besonders neugierig, zumal eine „Mängelliste“ kritisieren könnte, dass in der Charta manches fehlt, etwa die Umschreibung der Kompetenzen des Staatsoberhaupts oder Einzelheiten des Parlamentsrechts bzw. der Verfassungsgerichtsbarkeit. Doch die Charta schwingt sich zu einer auf dem Hintergrund der Geschichte unerwarteten „Weltoffenheit“ gerade am Schluss auf. Sie denkt nicht mehr vom geschlossenen Reich der Mitte bzw. vom introvertierten Polizeistaat aus, sondern sie wagt einen Blick auf das konstitutionalisierte Völkerrecht sowie die Menschheit (mein Stichwort: „Völkerrecht als konstitutionalisiertes Menschheitsrecht“). Fast wie ein Glaubensartikel lautet der emphatische Schluss: „Als eines der großen Länder der Erde, als eines der fünf Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, als Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte muss China eigene Beiträge für die friedliche Sache der Menschheit und Fortschritte bei den 162  Verfassung als öffentlicher Prozess, 1. Aufl. 1978, S. 155: „II. Offener Staat und verfasste Gesellschaft“, 3. Aufl. 1998, ebd.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

Menschenrechten leisten. Es ist bedauerlich, dass allein China unter den Großmächten der heutigen Welt sich noch im Zustand eines autoritären politischen Systems befindet und aus diesem Grund fortwährend Menschenrechtskatastrophen und so­ ziale Krisen produziert, die Entwicklung der Nation aus eigener Kraft fesselt und den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit einschränkt. Dieser Zustand muss geändert werden! Die Überführung der politischen Herrschaft in eine Demokratie erlaubt keinen weiteren Aufschub mehr.“ Welch ein Menschheitstext! Was in der deutschen Literatur ein K. Vogel als „offene Staatlichkeit“, zum Klassikertext geformt hat (1964), was andere 1978 als „kooperativen Verfassungsstaat“ umschreiben, was das deutsche BVerfG früh als „Völkerrechtsfreundlichkeit“ gekennzeichnet hat, leuchtet in der Charta 08 auf ihre Weise als großes Fernziel auf. Mögen andere Verfassungen, auch das deutsche GG, die Öffnung zum Völkerrecht hin schon in der Präambel zum Ausdruck bringen: Angesichts der umfangreichen Präambel der Charta 08 war es klug, den Text in Sachen Völkergemeinschaft, Völkerrecht und universale Menschenrechte bzw. Menschheit und Friedensgemeinschaft nicht ohne Pathos am Schluss zu platzieren: als Finale. Einmal mehr bewahrheitet sich die These vom hohen Rang der Schlussvorschriften in Verfassungen163. Ausblick Diese grobe Präsentation eines suggestiven Verfassungsentwurfs aus dem fernen China widmet sich mehr als einem Grundriss. Teils in allgemeinen Worten, teils sehr speziell, entwirft die Charta ein Programm, das mit den westlichen Verfassungsstaaten gemeinsamen Konzeptionen vereinbar ist, ja ganz offensichtlich von ihnen inspiriert ist. Ich meine Verfassungstheorien wie „Verfassung als Anregung und Schranke“ (R. Smend, 1928), „Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates“ (W. Kägi, 1945), „Verfassung als Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner, 1963) sowie „Verfassung als öffentlicher Prozess und Kultur“ (1969 bzw. 1982). Dies ist keine schwäbische Rechthaberei, die ohnedies in Südbaden nicht erlaubt wäre, sondern objektiver Befund. Die globale „kulturelle Verfassungsvergleichung“ mag diesen großen Text mittragen, sie sollte sich von ihm aber auch in ihren künftigen Arbeiten inspirieren lassen. In den Zeiten der Globalisierung eröffnet dieser Vorgang einmal eine positive Seite. Aus meiner Sicht ist die Charta 08 aus China auf dem Weg, ein Menschheitstext zu werden, ähnlich der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) oder der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789). Die Charta ist schon jetzt ein Vermächtnis für künftige Generationen, ein kulturelles Erbe im Sinne eines „Zurück in die Zukunft“. So lange ihre Verwirklichung auch dauern mag, vielleicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte, oder sosehr sie vielleicht nur in Etappen und einzelnen Punkten Wirklichkeit wird (wir denken an den französischen Pointillismus in der Malerei oder an einen Torso von Michelangelo), auch könnte sich der Beginn eines schon 1997 konzipierten „Gemeinasiatischen Verfas163  Dazu mein Beitrag: Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlussbestimmungen als typisches verfassungsstaatliches Regelungsthema und -instrument, in: FS für Martin Lendi, 1998, S. 137 ff., sowie G. M. Köhler, Übergangs- und Schlussbestimmungen in den Verfassungen der deutschen Bundesländer, JöR 57 (2009), S.  359 ff.



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sungsrechts“ eröffnen164 – die Wissenschaft vermag nachzuweisen, dass Texte, einmal in der Welt, langfristig normative Kraft entfalten können. Man braucht nur viel Geduld und einen langen Atem, auch Demut. Dies gilt gerade heute, wo eine Phase der gesteigerten Repression begonnen hat (erinnert sei an die Verhaftung von Ai Weiwei, der zu jenen gehört die den Staat in Sachen Herrschaft des Gesetzes beim Wort nehmen wollten165 – auch an den Streit um die deutsche Ausstellung „Aufklärung“ im chinesischen Nationalmuseum im Frühjahr 2011166). Damit ist dieses Ende meiner lectio aurea an den Anfangspunkt zurückgekehrt und von da aus vielleicht wieder aufgebrochen: an die Freiburger Antrittsvorlesung zur „normativen Kraft der Verfassung“ meines Lehrers Konrad Hesse167. 164  Ansätze gibt es im Blick auf die Verfassung von Südkorea von 1987 (JöR 38, 1989, S. 587 ff.) sowie Taiwans von 1991 (JöR 41, 1993, S. 672 ff.), auch Nepals von 1990 (JöR 41, 1993, S. 566 ff.), von Kambodscha (1993 /  99), der Mongolei (1992) sowie des Königreiches Bhutan (2008) 165  Vgl. FAZ vom 6. April 2011, S. 29: „Kein Schutz, kein Schirm, Chinas Intellektuelle fühlen sich rechtlos vor dem Recht“; ebd., S. 10: „Die Nervösen von Peking, Ursachen und Folgen der neuen Repressionswelle in China“. – s. auch N. Bisky, Wo ist Ai Weiwei? Und was machen wir?, FAZ vom 3. Mai 2011, S. 31; s. freilich auch NZZ vom 12. Mai 2011, S. 9: „Ai Weiwei – kein wirklicher Regimekritiker, Exponent des vom Regime geförderten neuen extremen Materialismus in China“. 166  Dazu etwa FAZ vom 1. April 2011, S. 31: „Was Aufklärung in China bedeutet“; T. Fähnders, „Welcher Konfuzius darf es sein für das moderne China?“, FAZ vom 1. April 2011, S. 3.; „Aufklärung in Marmor, Peking geht mit Gewalt gegen seine Künstler vor und freut sich über die ‚Kunst der Aufklärung‘ “, FAZ vom 5. April 2011, S. 29. 167  Der vorliegende Text der Rede zum 50jährigen Doktorjubiläum wurde im November 2011 abgeschlossen. Zur Aktualisierung seien nur wenige Stichworte erwähnt, die in Sachen China in den deutschen Medien Schlagzeilen gemacht haben: „China gilt als Hoffnungsträger bei der Hilfe für Europa in der Finanzkrise“ (FAZ vom 10.12.2011, S. 33), „China muss der Welt Ideen liefern, ohne Identität bleibt der Aufstieg blind“ (FAZ vom 29.12.2011, S. 29), „Selbstverbrennungen in China“ (FAZ vom 09.01.2012, S. 4), Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo: „Für mich gibt es keinen Weg zurück“ (FAZ vom 20.01.2012, S. 32), „Nicht jeder, der schweigt, ist ein Büttel des Systems“ (FAZ vom 27.01.2012, S. 33), „Auch die Tibeter selbst sind verunsichert über die Welle von Selbstverbrennungen“ (FAZ vom 16.03.2012, S. 32), „Tibets Schrei nach Freiheit“ (FAZ vom 22.03.2012, S. 4), „Es weht ein heftiger Wind in Peking, und niemand weiß, woher“ (FAZ vom 24.03.2012, S. 7), „ ‚Vermisst‘ ist in China das häufigste Suchwort im Netz“ (FAZ vom 10.04.2012, S. 29), „Chinas entscheidendes Jahr“ (umfassendster Machtwechsel, FAZ vom 12.04.2012, S. 9), „China lockert seinen Wechselkurs“ (FAZ vom 16.04.2012, S. 11), „Die düsteren Seiten der Macht, Der Sturz von Bo Xilai“ (FAZ vom 19.04.2012, S. 3), „Roter Teppich für China, die deutschen hofieren die Chinesen“ (FAZ vom 28.04.2012, S. 13), „Chen Guangsheng beschuldigt China der Erpressung“ (er reiste in die USA aus, FAZ vom 3.05.2012, S. 1), „Der Blinde, der China die Augen öffnet“ (gemeint ist der spektakulär geflohene Bürgerrechtler Chen Guangsheng, FAZ vom 4.05.2012, S. 33), „Mehr Macht für die Mächtigen, die neue chinesische Strafprozessordnung stößt auf teilweise heftige Kritik“ (FAZ vom 22.05.2012, S. 8), „Ohne Reform werden wir in China bald ein Desaster erleben“ (so im Interview der Künstler Ai Weiwei in FAZ vom 12.06.2012, S. 29).

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

Exkurs III: Der Arabische Frühling (2011 / 12) – in den Horizonten der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft* Einleitung Die „Arabellion“ 2011168 kam ebenso unerwartet wie seinerzeit das erste „annus mirabilis“ 1989. Ist sie ein zweites annus mirabilis? Allenfalls die im Keim erstickte „grüne“ Revolution im Iran (2009 – damals, am 18. Juni 2009, waren 3 Millionen Iraner auf den Straßen Therans169) darf rückblickend als Vorbote gewertet werden. Der Arabische Frühling bildet eine große Herausforderung des Verfassungsstaates als Typus mit seinen weltweiten Beispielen in Nord und Süd, Ost und West, hier und heute. Er müsste, sollte und könnte sich wie damals im Verhältnis zu Osteuropa bewähren. Erstaunlich sind die Domino-Effekte170: Die Revolution in der arabischen Welt – im Namen von Demokratie und Menschenrechten – begann in Tunesien am 17. Dezember 2010 („Jasmin-Revolution“, am 23. Oktober 2011 wurde eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt), sie setzte sich in Ägypten fort (vielleicht als „stockende Revolution“, wenn man sich die derzeitige Militär-Diktatur vergegenwärtigt171, immerhin wurde schon vor der Parlamentswahl eine „Verfassungserklärung“ verabschiedet, die die Prinzipien der neuen Verfassung enthält172, * Lectio magistrale, die der Verf. auf einem Internationalem Kongress an der Universität Catania (Sizilien) am 29. November 2011 hielt (JöR 2012). 168  Vgl. SZ vom 23. Mai 2011, S. 11: „Europas überraschte Reaktionen auf den arabischen Frühling (…) Die Hauptursache für die politische Gewalt ist der autoritäre Staat.“ 169  FAZ vom 14. Juni 2011, S. 6. 170  Vgl. FAZ vom 26. Februar 2011, S. 5: „Demonstrationen in Bahrain, Ägypten, Tunesien, Jemen, Irak und Jordanien“. 171  Vgl. FAZ vom 20. Juni 2011, S. 10: „In Ägypten wurde lediglich die Spitze der Pyramide ausgetauscht“, „In Bahrain ist Friedhofsruhe eingekehrt.“; FAZ vom 13. Juli 2011, S. 8: „In Ägypten herrscht nach dem Sturz des ‚Rais‘ Husni Mubarak faktisch eine Militärdiktatur“; s. auch SZ vom 19. Juli 2011, S. 8: „Die Armee reagiere inzwischen ähnlich brutal wie einst Mubarak, klagen viele Ägypter“; immerhin bildet Ägyptens Übergangspremier gelegentlich sein Kabinett um (SZ vom 19. Juli 2011, S. 8). Freilich versucht Ägyptens Übergangsregierung die Sonderstellung der Armee zu retten, was wenig Verständnis beim Volk findet (SZ vom 23. / 24. Juli 2011, S. 8). Am 3. August 2011 begann der Prozess gegen Mubarak, der in einem „Metallkäfig“ in den Gerichtssaal geschoben wurde. Für die Demonstranten vom Tahrir-Platz ist dies eine große Genugtung, vgl. FAZ vom 4. August 2011, S. 1, 3. Auf dem TahrirPlatz finden immer wieder Proteste für Wohlstand und Rechtsstaat bzw. Reformen statt (FAZ vom 30. Juli 2011, S. 6). Es kam sogar zum Streit zwischen Parteien und Ägyptens Armee, der „Konterrevolution“ vorgeworfen wird (FAZ vom 10. Dezember 2011, S. 7). Bemerkenswert SZ vom 6. / 7. August 2011, S. 13: „Public Viewing im Ramadan 2011, Die arabische Welt schaut dem Prozess gegen die Mubaraks zu.“ Im Januar 2012 wird im Strafverfahren gegen Mubarak die Todesstrafe beantragt. 172  Dazu FAZ vom 18. Juli 2011, S. 5; schon im Februar 2011 forderte Ali ­Gooma, der Großmufti von Ägypten, „Eine Verfassung für Ägypten“, FAZ vom 15. Februar 2011, S. 8.



Exkurs III: Der Arabische Frühling761

Stichwort: „laizistischer Staat in einem multikulturellen Ägypten, in einer toleranten Republik“; vorausgegangen sind bereits durch Referendum gebilligte Änderungen von acht Artikeln der alten Verfassung in Sachen Aussetzung der Menschenrechte im Kampf gegen den Terrorismus, Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten auf vier Jahre173). In drei Runden fanden im Dezember 2011 / Januar 2012 bei hoher Beteiligung an den Wahlen zum Parlament (Ober- und Unterhaus) statt. Die sich gemäßigt gebenden Muslimbrüder, also ein Teil des politischen Islam gingen als Sieger hervor174. Er will jedoch mit den säkularen Parteien zusammenarbeiten. Die konstituierende Sitzung des neuen Parlaments am 23. Januar 2012 (mit nur ganz wenig weiblichen Abgeordneten) begann mit einem Gebet für die „Märtyrer“. Zu hoffen bleibt, dass das regierende Militär sein Macht abgibt. Ab dem 15. April 2012 können Kandidaturen für die Ende Juni angekündigte Präsidentenwahl eingereicht werden175. Die Revolution fand eine widersprüchliche Fortsetzung im heute blutig umkämpften Jemen176 (immerhin hofft der scheidende Präsident Salih nach heftigen Demonstrationen auf eine Amnestie177, in seiner Abschiedsrede entschuldigte er sich für Fehler in seiner mehr als drei Jahrzehnte währenden Herrschaft178, ein neuer Staatspräsident soll am 21. Februar 2012 gewählt werden) und später griff die Revolution auf Libyen über (Beginn der Proteste Mitte Februar 2011 in Bengasi); unklar bleibt Bahrain, immerhin hat das sunnitische Königshaus ein „Dialogforum“ berufen, auf dem jedoch nur 35 der 300 Bürger den Oppositionsparteien zugerechnet werden179. 173  Vgl. FAZ vom 19. März 2011, S. 4; ebd., vom 22. März 2011, S. 8; ein neuer Art. 189 nennt die Voraussetzungen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung: Der Präsident soll mit Zustimmung des Kabinetts oder aber die Hälfte der Abgeordneten beider Häuser den Auftrag erteilen können, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen; am 28. November 2011 sollen beide Kammern des Parlaments gewählt werden, danach wird eine Verfassungskommission eingesetzt. Anschließend wird dann ein neuer Präsident gewählt, vgl. FAZ vom 13. August 2011, S. 5. – s. freilich auch FAZ vom 28. September 2011, S. 6: „Militärisch organisierte Unsicherheit“. 174  Vgl. FAZ vom 5. Dezember 2011, S. 29 bzw. 24. Dezember 2011, S. 10; FAZ vom 23. Januar 2012, S. 7: „Mehr als 70 % für Islamisten“. – Manche Intellektuelle fürchten eine „Konterrevolution“ religiöser Kräfte, FAZ vom 23. Januar 2012, S. 27. 175  FAZ vom 17. Januar 2012, S. 6. 176  Vgl. FAZ vom 23. April 2011: „Massenkundgebungen beider Lager im Jemen“; s. auch SZ vom 7. Juni 2011, S. 8: „Saudi-Arabien behandelt Jemens Präsidenten Salih und versucht, die Entwicklung im Nachbarland zu steuern“; zuletzt FAZ vom 21. Juli 2011, S. 1: „Berlin vermittelt im Jemen, Salih offenbar zum Rücktritt bereit“; aus der Lit.: C. Dreyer: Umbruch im Jemen, Hintergründe und Perspektiven einer Rebellion mit ungewissem Ausgang, KAS 12 / 11, S. 102 ff. – Das Sultanat Oman nimmt „eine besondere Stellung in der islamischen Welt ein“, manche Beobachter hoffen, dass dort die Arabellion „sanftere Züge“ annehmen wird (FAZ vom 27. Juli 2011, S. 8). In Bezug auf die Vereinigten Emirate wird von einer „arabischen Erfolgsgeschichte“ gesprochen (FAZ vom 2. Dezember 2011, S. 10). 177  Vgl. FAZ vom 10. Januar 2012, S. 1. 178  Vgl. FAZ vom 24. Januar 2012, S. 5. 179  FAZ vom 19. Juli 2011, S. 6. In Bahrain hat es Festnahmen gegeben, auch hatte sich der Golfkooperationsrat eingeschaltet, FAZ vom 18. März 2011, S. 7; In Bahrain besteht tiefes Misstrauen zwischen Sunniten und Schiiten. Bald kommt es zu Protesten, bald zu Gewalt, vgl. FAZ vom 28. Dezember 2011, S. 5.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

Die Militärdiktatur unter Assad in Syrien schlug bisher alle reformerischen bzw. revolutionären Versuche im Lande blutig und grausam nieder180 – syrische Oppositionelle gründeten im Juli 2011 in Istanbul einen „Rettungsrat“181. Die UN sind in Sorge wegen der alarmierenden Eskalation in Syrien, mit inzwischen Tausenden Toten182. Dem Sicherheitsrat gelang immerhin eine „Präsidentielle Erklärung“ wegen Verletzung der Menschenrechte in Syrien bzw. wegen exzessiver Gewalt gegen die eigene Bevölkerung183. Hierfür wird Syrien selbst von arabischen Ländern (Kuweit und Saudi-Arabien) kritisiert184. Mittlerweile beschloss die wieder erstarkte Arabische Liga neben Wirtschaftssanktionen185 die Suspendierung der Mitgliedschaft Syriens und entsandte Beobachter186 dorthin, um dem Morden ein Ende zu bereiten, was bis Januar 2012 noch nicht gelang187; die Beobachter wurden sogar angegriffen, ob von Assads Militär oder den Aufständischen ist ungeklärt. Manche Beobachter der Arabischen Liga verließen freilich Syrien, weil sie den Einsatz für gescheitert hielten (auch die Golfstaaten ziehen sich zurück)188. Möglicherweise droht ein Bürgerkrieg bzw. eine „syrische Tragödie“, in der alles von der Armee abhängt. Am 10. Januar 2012 kündigte Assad ein Referendum über eine neue Verfassung sowie spätere Wahlen an189, auch eine Amnestie. Manche halten dies für ein Täuschungsmanöver. Jüngst warnte der Machthaber Assad die Araber vor einem Einmarsch190, er sprach von einer „ungeheuerlichen Einmischung“ der Arabischen Liga in innere Angelegenheiten191. Die Liga wandte sich ihrerseits an die UN, um Assad zum Rücktritt zu bewegen192. Etwas positiver könnte die vom marokkanischen König angekündigte und angenommene Verfassungsreform in Marokko werden. Historisch-kulturell und geographisch bietet sich hier für Spanien als „Brückenland“

180  Assad verspricht, wenig glaubhaft, Reformen. Er deutet an, dass Art. 8 der Verfassung (Monopol der Baath-Partei) zur Debatte stehe, FAZ vom 21. Juni 2011, S. 2; zuletzt FAZ vom 11. Juli 2011, S. 5: „Nationaler Dialog in Syrien ohne Opposition“. 181  Vgl. FAZ vom 18. Juli 2011, S. 1. – s. auch FAZ vom 2. September 2011, S. 10: „Von Libyen inspiriert. Doch in Syrien erschweren andere Bedingungen den Sturz des Regimes.“ 182  FAZ vom 3. August 2011, S. 1; SZ vom 6. / 7. August 2011, S. 8: „Die Leute werden wie Schafe abgeschlachtet.“ 183  FAZ vom 5. August 2011, S. 10. Die EU verschärft ihre Sanktionen gegen Syrien, SZ vom 2. August 2011, S. 1. 184  SZ vom 9. August 2011, S. 1. 185  Vgl. FAZ vom 28. November 2011, S. 1. 186  Vgl. SZ vom 30. Dezember 2011, S. 2: „Blick ins Niemalsland“. 187  Vgl. FAZ vom 23. Dezember 2011, S. 2: „Syrische Oppositionelle fordern UN-Schutzzone nach Massakern“; speziell die EU plant neue Syriensanktionen, FAZ vom 11. Oktober 2011, S. 7. Es gibt sogar ein vom Nationalrat gegründetes Büro für Deserteure, FAZ vom 17. Januar 2012, S. 4. 188  Vgl. FAZ vom 13. Januar 2012, S. 5; ebd., vom 25. Januar 2012, S. 6. 189  Vgl. FAZ vom 11. Januar 2012, S. 1: „Assads Welt von gestern“. 190  Vgl. FAZ vom 18. Januar 2012, S. 5. 191  Vgl. FAZ vom 24. Januar 2012, S. 1. 192  Vgl. FAZ vom 26. Januar 2012, S. 6.



Exkurs III: Der Arabische Frühling763

eine besondere Chance, ja Verpflichtung193. Besonderes gilt vielleicht für das im Ganzen noch friedliche Jordanien, wo sich ebenfalls eine konstitutionelle Monarchie als Reformziel abzeichnet und sogar ein Verfassungsgericht geplant ist194. Bahrain dürfte weiterhin ein Sonderfall sein195. Zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten sind neuerdings Wahlen geplant196. Algerien bleibt merkwürdig ruhig.197 Der beratende Verfassungsvergleicher muss sich ein Sowohl-als-auch von vorsichtiger Realpolitik und klugen Visionen zum Ziel setzen – auch im Verfassungsstaat gibt es ein unverzichtbares Utopie-Quantum198, Beispiel ist von 1949 bis 1990 die deutsche Wiedervereinigung. Als Fernziel könnte sich daher für das Mittelmeer die Idee eines „mare nostrum constitutionale“199 abzeichnen (mehr als eine bloße Revitalisierung des Barcelona-Prozesses)200. Die Europäer sollten sich für behutsame Verfassungsberatung als Teil einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft bereithalten: auf der Basis des Textstufenparadigma sowie kultureller, kontextsensibler Verfassungsvergleichung – bis hin zu den Prinzipien des Völkerrechts. Der Historiker erinnert sich an gewisse Parallelen zur Art und Weise, wie 1848 in Frankreich, der Schweiz sowie Deutschland nacheinander Umbrüche stattfanden und Einigungsprozesse gelangen: vor allem den „verspäteten Nationen“ Italien (1861) und Deutschland (1871).Viele Fragen stellen sich schon prima facie: Haben die „europäischen Ideale“ als kulturelles Erbe in der arabischen Welt eine Zukunft? Wird es zu einer Kräftigung von Nationalstaaten kommen? Gelingt es dem Mittelmeer, zum Forum des Gesprächs zwischen Europäern (Christen) und Arabern bzw. Muslimen zu werden? Handelt es sich um einen Aufstand der Jugend oder einen allgemeinen Volksaufstand? Wird es gelingen, die überkommenen Stammes- und Gesellschaftsstrukturen in den Verfassungsstaat zu integrieren? Welche Bedeutung haben Religionen, Sprache und Kultur als unverzichtbare Ressource für einen „ara193  Man erinnere sich auch des „Goldenen Zeitalters der arabischen Wissenschaften“, insbesondere in Spanien, dazu jüngst Jim al-Khalili, Im Hause der Weisheit, Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur, 2011; s. auch das Sonderheft APuZ vom 26. September 2011: „Arabische Zeitenwende“. 194  Vgl. FAZ vom 16. August 2011, S. 6: „Jordaniens König stellt Reformen vor“. 195  Aus der Lit.: M. Schmidmayr, Politische Opposition in Bahrain, 2011; A. Gramsch, Die Umwandlung Bahrains in eine konstitutionelle Monarchie, in: P. Scholz / N. Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, S. 159 ff. 196  Vgl. FAZ vom 24. September 2011, S. 12. 197  Der Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 2011 ist ein Algerier: B. Sansal hofft auf Fortsetzung des arabischen Frühlings, vgl. FAZ vom 17. Oktober 2011, S. 9. 198  Bemerkenswert SZ vom 19. Mai 2011, S. 13: „Eine Utopie, die man plötzlich leben konnte“ (bezogen auf die Revolution in Ägypten). 199  Immerhin gibt es schon an der Universitäten Malta und Enna ein „Mediterranean journal of human rights“. 200  Vgl. auch A. P. Purini, Die Zeit vom 1. September 2011, S. 15: „Europa muss sich um den Mittelmeerraum kümmern, unter Hinweis auf die ‚kluge Mittelmeer­ politik‘ Friedrich II. Anfang des 13. Jahrhunderts.“

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

bischen Konstitutionalismus“ eigener Art? Zwingt die „Öffnung der politischen Systeme auch das politisch islamische Spektrum zu mehr Pluralismus“ (V. Perthes). Überdies: Noch ist ungewiss, ob aus dem Arabischen Frühling ein arabischer Herbst oder gar Winter wird – zumal offen bleibt, ob sich letztlich die extremen Islamisten durchsetzen (i. S. eines islamischen Gottesstaates), ob und wie sich der ägyptische Militärrat zurückzieht, wie sich die Lage im Jemen entwickelt. Nur Tunesien scheint – ohnedies Vorhut des arabischen Frühlings – nicht ohne berechtigten Stolz auf dem direkten Weg zu einem offenen Verfassungsstaat zu sein.201 (Im Dezember 2011 gab es sich schon eine Übergangsverfassung mit 26 Artikeln.)202 Erster Teil Fragmente, Elemente bzw. Materialien für eine Bestandsaufnahme Der vergleichende Verfassungsrechtler hat es bis jetzt schwer, sich einen ersten Überblick über die oft hektischen, diffusen, widersprüchlichen und heterogenen Entwicklungen in den einzelnen Ländern zu verschaffen, zumal diese eine ganz unterschiedliche Revolutions- bzw. Reformgeschichte durchleben. Die Bandbreite ist weit. Wir stehen vor der wohl langfristig gelingenden Revolution in Ägypten einerseits und dem Krieg gegen das eigene Volk andererseits, den Syriens Staatspräsident Assad führt. Besonders bedauerlich und verbrecherisch sind die Vorgänge im Libyen des seit 27. Juni 2011 mit Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshof gesuchten Gaddafis203 – er wollte Selbstmordkommandos nach Europa schicken204 und die Befreiung sog. arabischer Territorien aus dem „Herzen Europas“ wie die Kanarischen Inseln, Sizilien und Andalusien erzwingen205. Gaddafi wurde im Oktober 2011 unter zweifelhaften Umständen von den Aufständischen getötet. Das „Erbe des Tyrannen“ ist freilich zwiespältig: gewinnen die demokratischen Kräfte, separatistische Stammesfürsten oder Islamisten die Oberhand206? Nach Gaddafis Sturz stellt sich die Devise: „Einheit und Erdöl“207. Gegenüber allen Medien ist Vorsicht am

201  Vgl. FAZ vom 5. Januar 2012, S. 8: „Das neue Tunesien sieht sich weiterhin als Vorreiter des ‚arabischen Frühlings‘. Die Ende Oktober 2011 gewählte verfassungsgebende Versammlung (neuer Staatspräsident ist M. Marzouki) arbeitet derzeit die Grundlagen für ein neues Staatswesen aus. Vorgeschlagen wird sogar ein ‚völliger Zusammenschluss‘ Tunesiens mit Libyen.“ Die siegreiche Islamistenpartei gibt sich „überaus zivil“ (FAZ vom 21. Oktober 2011, S. 35). 202  FAZ vom 12. Dezember 2011, S. 6. 203  Überzeugend K. Ambos, Verhandlungen mit Gaddafi untergraben die internationale Strafgerichtsbarkeit, FAZ vom 11. August 2011, S. 6. 204  FAZ vom 11. Juli 2011, S. 1. 205  FAZ vom 14. Juli 2011, S. 8: „Nicht nur Gaddafi instrumentalisiert den Verlust Andalusiens.“ 206  SZ vom 23. August 2011, S. 2. 207  FAZ vom 30. August 2011, S. 10; ambivalent bleibt der spektakuläre Besuch des französischen Präsidenten N. Sarkozy und des britischen Premier D. Cameron am 15. September 2011 in Tripolis.



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Platze, so ergiebig Zeitungsmeldungen, Internetportale, Facebook208, Twitter und andere neue Formen der „Internet-Öffentlichkeit“ sein können und auch für die Arabellion Positives bewirkt haben – in Quatar gibt es ein „Libyen-TV“, einen Sender der Gaddafi-Gegner209. Unter Vorbehalt sind einige Beobachtungen möglich: 1. Besonders wichtig sind die „werdenden Zivilgesellschaften“, bestehend aus Bürgern, vor allem aus Frauen und Jugendlichen, sowie vielerlei (auch religiösen) Gruppierungen, etwa NGOs, z. B. Amnesty International, Transparency International oder Human Rights Watch. Demonstrationen, über Facebook etc. geplant, erzwingen den Sturz von Regimen wie in Tunesien und Ägypten relativ friedlich, da sich das Militär zurückhielt. Politische Gruppierungen wie Parteien entstehen in Tunesien erst langsam210. In Ägypten ist eine schmerzliche Rivalität zwischen den christlichen Kopten und den Islamisten zu beobachten211. Große Schwierigkeiten gibt es offenbar allenthalben bei den Versuchen, unterschiedliche politische Parteien im Spektrum eines demokratischen Pluralismus ins Leben zu rufen. Offenkundig fehlt es auch an anerkannten Führungspersönlichkeiten, selbst in Ägypten. „Zivilgesellschaft“ ist dabei ein Schlagwort unserer Tage, das bereits in neue Verfassungstexte vorgedrungen ist (Beispiel: Verfassung Tschechische Republik von 1992: „Bürgergesellschaft“). Am 25. Januar 2012 feierte Ägypten den ersten Tag der Revolution, die bisher nach Angaben der UN 6000 Menschenleben kostete. Gleichzeitig wurde eine Amnestie angekündigt und der seit 1981 währende Ausnahmezustand ausgesetzt.212 2.  Es gibt eine ganze Skala von Instrumenten und Verfahren zur Organisation des Übergangs: Nationale Übergangsräte, z. B. in Libyen213 (u. a. Berlin und London 208  Vgl. B. Müchler, Mit Facebook gegen den Diktator (sc. in Bezug auf die Rebellion in Syrien), FAZ vom 5. Juli 2011, S. 7; s. auch T. Apolte / M. Möller, „Die Kinder der Facebook-Revolution“, FAZ vom 18. Februar 2011, S. 12. 209  FAZ vom 28. Juni 2011, S. 35; plastisch: Die Welt vom 11. April 2011, S. 6: „Das bleierne Libyen Gaddafis“. 210  Vgl. FAZ vom 16. März 2011, S. 10: „In Tunesien gründen sich zahlreiche Parteien“; s. auch SZ vom 4. / 5. Juni 2011, S. 8: „Weltoffene Islamisten, Die tunesische Partei an-Nahda gibt sich modern – manche ihrer Kandidatinnen treten sogar ohne Kopftuch auf.“ 211  Vgl. W. G. Lerch, Der nationale Konsens zwischen Muslimen und Kopten ist in großer Gefahr, FAZ vom 13. Oktober 2011, S. 10. Aufschlussreich von ihm auch: Arabellion und Scharia – „Fänden sich traditionelle Kräfte und solche eines säkularen Aufbruchs zusammen, wäre schon viel gewonnen“, FAZ vom 26. Oktober 2011, S. 1. 212  FAZ vom 26. Januar 2012, S. 7. 213  Die Gaddafi-Gegner bildeten früh eine Übergangsregierung, FAZ vom 28. Februar 2011, S. 1. Der „Nationale Übergangsrat“ unterhielt Kontakte mit den Aufständischen und dem Gaddafi-Regime, FAZ vom 25. Juni 2011, S. 7. Dieser Rat hat bereits die „Vision eines demokratischen Libyen“ publiziert (FAZ vom 30. März 2011, S. 6). Darin werden eine Verfassung, die Gründung politischer Parteien, freie und faire Parlamentswahlen und Grundrechte gefordert. Der nationale Übergangsrat will einen demokratischen Staat sowie eine Zivilgesellschaft (FAZ vom 14. Juli 2011, S. 3). Geplant ist, die Zahl der Mitglieder des Übergangsrats um 25 auf 65 Mitglieder zu erweitern. Nach acht Monaten soll der Übergangsrat aufgelöst werden. Zuvor soll er Wahlen für 200 Mitglieder eines provisorischen Parlaments ansetzen

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

haben diesen Übergangsrat anerkannt214), in Tunesien existiert eine „Reformkommis­ sion“215, um den Übergang zur Demokratie zu ermöglichen216, in Syrien hat sich eine Gruppe von 50 Intellektuellen als Nationales Bündnis etabliert217, es gibt eine Libyen-Kontaktgruppe, bestehend aus 40 Ländern und internationalen Organisationen218, vor allem der AU, die Ankündigung von Wahlen219 und Abstimmungen (z. B. über Interimspräsidenten220) oder das Militär wie in Ägypten (seitens der Übergangsregierung) oder gar teil- oder totalreformierte Verfassungen. In Jordanien arbeitet ein „Dialogausschuss“, der sich mit Empfehlungen an König Abdullah wandte221. Die Frage bleibt: Wie kann es zu sicheren, fairen und freien Wahlen kommen? Erinnert sei an die ersten Strafverfahren gegenüber den Repräsentanten des alten Regimes wie in Tunesien und Ägypten; besser sind wohl mittelfristig arbeitende Wahrheitskommissionen222 – wie seinerzeit vorbildlich in Südafrika und einigen Ländern Lateinamerikas (zuletzt Honduras und Brasilien). Nur offenkundig schwere Straf­ taten der einstmals Herrschenden (Diebstahl von Volksvermögen, Folter und Todesschüsse auf friedliche Demonstranten) sollten verfolgt werden. Letzte oder erste Stufe können Prozesse der Verfassunggebung sein: über den Weg von freien Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung ohne Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf oder mit einer solchen: im zivilgesellschaftlichen Dialog. 3.  Weitere Darstellungen von Entwicklungen „rund um das Mittelmeer“ sowie im fernen Jemen, auch in Bahrain, sehen sich vor besonderen, schwierigen Transformations- und Übergangsprozessen223. Zwar sind Parallelen zu Osteuropa 1989 ff. erkennbar, etwa in Sachen Rezeption von Elementen des konstitutionellen Erbes Europas, doch wirken vor Ort ganz andere kulturelle Kontexte: vor allem der Islam. und für einen vorbereitenden Ausschuss, der eine neue Verfassung ausarbeitet, die per Referendum in Kraft tritt, FAZ vom 23. August 2011, S. 3. Das Ganze soll Anfang 2013 über die Bühne gehen, FAZ vom 19. September 2011, S. 13. 214  FAZ vom 28. Juli 2011, S. 5. 215  Dieses Übergangsorgan gilt als Quasi-Parlament mit 161 Mitgliedern, dem Vertreter von Parteien, Zivilgesellschaft und Regionen angehören, FAZ vom 11. Mai 2011, S. 10. 216  FAZ vom 28. Juni 2011, S. 5. 217  FAZ vom 31. März 2011, S. 31. Mitunter wird auch von einem „Nationalen Koordinierungsrat“ gesprochen, FAZ vom 02. Juli 2011, S. 4. 218  FAZ vom 16. Juli 2011, S. 2. 219  In Tunesien hatte die Übergangsregierung eine Verfassungsgebende Versammlung für Herbst 2011 angekündigt, SZ vom 14. Juni 2011, S. 13. 220  Das Nationale Übergangsrat plant eine „Verfassungserklärung“, die den Rahmen für die Verfassung vorgeben soll. Stichworte sind: demokratischer Staat, Zivilgesellschaft, Rechtssicherheit und Menschenrechte. Offen ist, ob Libyen später eine parlamentarische Demokratie oder ein Präsidialsystem sein soll, zit. nach FAZ vom 14. Juli, S. 10. 221  FAZ vom 7. April 2011, S. 3. 222  So gibt es in Tunesien bereits eine Antikorruptions-Kommission, die die Ereignisse der Ära Ben Ali aufarbeiten soll, von der Übergangsregierung eingesetzt, SZ vom 14. Juni 2011, S. 13. 223  Im Jemen hat sich ein Übergangsrat gebildet (FAZ vom 18. Juli 2011, S. 5).



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Sodann geht es um vereinzelt noch absolutistische Königreiche wie in Marokko und Jordanien, die sich vielleicht nur dadurch retten können, dass sie sich konstitutionalisieren, d. h. zu konstitutionellen Monarchien wandeln – die Abstammung beider Monarchien aus der Familie des Propheten Mohammed mag dabei helfen224 (Stichwort: Repräsentations- und Integrationsfunktion, wie in alten Monarchien Europas, z. B. Großbritannien, Belgien, skandinavischen Ländern und seit 1978 wieder Spanien225). Andere Staaten könnten real geltende Republiken werden, i. S. des klassischen Zusammenhanges von Ciceros res publica und salus publica. Bei all dem sind die konstitutionellen Texte und kulturellen Kontexte aus dem Arsenal der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft unverzichtbar. Diese darf sich aber nicht als „Museum“ ohne den Mut zu neuen Instrumenten und Verfahren verstehen, sondern als lebendige Werkstatt, eine Art „Laboratorium“ – wie seit den 60er Jahren in Gestalt der Totalrevisionen der Schweizer Kantonsverfassungen („Werkstatt Schweiz“). Man denke an den Ombudsmann, neue Grundrechte, neue Verfahren der unmittelbaren Demokratie sowie den Schutz von Umwelt und kulturellem Erbe, gespeichert z. B. in Archiven, Bibliotheken und Museen. Empfohlen seien GeistKlauseln226, um das Eigene, das rechtskulturelle Selbstverständnis der arabischen Länder zur Geltung zu bringen. 4.  Besondere Aufgaben stellen sich aus vielen Gründen für das „arabische“ Spanien227: dank seiner islamischen Geschichte und Kultur sowie seiner geographischen Nähe, dies gilt speziell für Granada. Italien ist wegen seiner Kolonialgeschichte wohl bis heute diskreditiert (nicht erst seit B. Mussolini228). Seine frühere Kolonialpolitik in Tunesien und Libyen hat einen schlechten Ruf. Freilich ist an den Kotau zu erinnern, den viele westliche Verfassungsstaaten gegenüber dem libyschen Machthaber Gaddafi, dessen Grausamkeiten erst jüngst offenkundig wurden229, noch bis vor kurzem praktizierten. Man denke an das Beduinen-Zelt, das der Libyer in einem französischen Park während seines Parisbesuchs bei Staatspräsident N. Sarkozy errichten durfte. Irritierend bleibt auch der freundschaftliche Handschlag zwischen dem seinerzeitigen deutschen Bundeskanzler G. Schröder und dem Diktator Gaddafi230. Waren die westlichen Staaten aus wirtschaftlichen Gründen und Ölinteressen blind? Ging es ihnen nur um „Stabilität der Region“? 224  Vgl. FAZ vom 16. August 2011, S. 27: „Vom Nutzen des Erb-Charismas im arabischen Frühling“. 225  Dazu mein Beitrag: Monarchische Strukturen und Funktionen in europäischen Verfassungsstaaten, FS Schambeck, 1994, S. 683 ff. 226  Beispiele in: P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 600 ff. u. ö.; s. auch § 10 Verfassung Estland von 1992: „Sinn der Verfassung“. 227  Vgl. G. Bossong, Al-Andalus, goldener Traum. Im Sommer 711 begann die arabische Herrschaft in Spanien. Sie schuf eine Kultur, in der Muslime, Juden und Christen zueinander fanden, in: Die Zeit vom 16. Juni 2011, S. 24. 228  Vgl. XLSemanal, Del 17 al 23 de abril de 2011, S. 54 ff: „Libia – El juguete roto de Mussolini“. 229  FAZ vom 26. August 2011, S. 3. 230  Allgemein zum „Winter der Diktatoren“: Der Spiegel Nr. 9 / 28. Februar 2011, S. 78.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat Zweiter Teil

Der Theorierahmen: Ein arabischer bzw. islamischer Konstitutionalismus im Kontext eines künftigen Gemeinarabischen bzw. Gemeinislamischen Verfassungsrechts – analog dem Gemeineuropäischen Verfassungsrecht (1991) I. Relevanz der kulturellen Kontexte Hier ist primär an arabische Traditionen zu denken, wobei diese überaus vielfältig sind231. Es gibt wohl keinen einheitlichen Islam232. Erstaunlicherweise finden heute gewaltige soziale Veränderungen realiter im Islam selbst statt, man denke an die große Zahl demonstrierender Frauen: ein Beginn ihrer Emanzipation. Die Wirkmächtigkeit der je eigenen Staats- und Völkergeschichte in den verschiedenen Ländern ist offenkundig. Zwar wird sie punktuell aufgebrochen, kann aber wohl nicht beseitigt werden und sollte als „kultureller Humus“ auch beachtet bleiben. Am Mittelmeer gibt es bisher keinen erkennbaren Willen, „Gottesstaaten“ wie im Iran zu gründen, wohl aber zum Teil den Wunsch, gewachsene Monarchien beizubehalten (Marokko und Jordanien), die zu konstitutionellen Monarchien reifen könnten und damit ähnlich manchen europäischen Ländern eine Stabilisierungs- und Integrationsfunktion erfüllen dürften. Es bleiben demgegenüber (noch?) aber auch sehr statische Gebilde wie Saudi-Arabien und Kuweit – immerhin werden in Saudi-Arabien Wahlen auch für Frauen auf lokaler Ebene angekündigt233. II. Inhaltliche, juristische Maßstäbe und neue konstitutionelle Verfahren für den Übergang von autoritären Systemen zu arabischen bzw. islamischen Verfassungsstaaten, Vergewisserung der Strukturelemente von Verfassungsstaaten der heutigen Entwicklungsstufe – Rezeptionsprozesse 1. Das Prinzip der Balance von Stabilitätsfaktoren und Innovationen im Kraftfeld des Verfassungsstaates Die wissenschaftlich beratende Verfassungspolitik rund ums Mittelmeer muss um eine Balance zwischen Innovation und Tradition ringen. Nur eine Mischung beider Aspekte kann die anstehenden Transformations- und Transferprozesse bewältigen. Rezeptionen von westlichen Vorbildern müssen den unterschiedlichen kulturellen Kontexten gerecht werden. Europäische Besserwisserei ist zu vermeiden. Rezep­ tionsgegenstände können Verfassungstexte, große Judikate von Verfassungsgerichten 231  Programmatisch jetzt P. Scholz / N. Naeem (Hrsg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext – 2011, 2011, bes. S. 11 ff. 232  Aus der Lit.: Das Vermächtnis des Islams, Artemis Verlag, Bd. I, 1980; G. Endreß, Der Islam, Eine Einführung in seine Geschichte, 3. Aufl., 1997; R. Paret, Mohammed und der Koran, 1957. Vgl. noch SZ vom 6. Juli 2011, S. 13: „Nichts ist klar im Koran: In Essen streiten muslimische Gelehrte über die Möglichkeiten einer Aufklärung im Islam.“ 233  Vgl. FAZ vom 27. September 2011, S. 6: „Eine Stimme für Saudi-Arabiens Frauen“.



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und wissenschaftliche Theorien von den Klassikern bis in die Gegenwart sein – eine Trias. Das „konstitutionelle Erbe“ Europas kann inspirieren. Wechselseitige Lernprozesse aller beteiligten Akteure werden wichtig. So ist bemerkenswert, dass in Marokko Mohammed VI. sich im Mai 2011 eine ganze Woche lang diskret durch den spanischen König Juan Carlos I. beraten ließ234 – hier strahlt das spanische Modell aus. Zu denken ist sogar an die Revitalisierung der Idee des Gesellschaftsvertrags235 bzw. des „Runden Tisches“ (einen solchen gibt es in Bahrain und Sy­ rien236) – als kulturelles Gen der Menschheit. Stichwortartig sei der Typus „Verfassungsstaat“ charakterisiert: Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse mit der pluralistischen Demokratie als organisatorischer Konsequenz, Menschenrechte, horizontale Gewaltenteilung, insbesondere unabhängige Gerichte, Staatsaufgaben-Kataloge, vertikale Gewaltenteilung i. S. von Föderalismus bzw. Regionalismus, soziale Marktwirtschaft, „Religionsfreundlichkeit“, Verfassungsgerichte, Verfahren der Verfassungsänderung, Friedensgebot. a)  Beispiele für die Bewahrung von Kontinuitätselementen An erster Stelle wirken hier emotionale und rationale „Konsensquellen“, die sich aus Nationalflaggen, Nationalhymnen, Feiertagen und Mosaiksteinen der „Erinnerungskultur“ speisen237. Zu empfehlen ist, grundsätzlich an den bewährten Traditionen festzuhalten (freilich bleibt bemerkenswert, dass die Aufständischen238 in Libyen um Bengasi in Berlin239 jüngst auf der libyschen Botschaft die alte Nationalflagge der Zeit vor Gaddafi gehisst haben, als Libyen noch das Königreich von Idris I. war)240. Bewegend ist die Tatsache, dass ein namenloser Demonstrant am 14. Januar, dem Beginn der Revolution in Tunesien, sich als erster in eine Nationalflagge 234  FAZ

vom 4. Juli 2011, S. 6. Hermann, Entscheidung im Ramadan?, FAZ vom 26. Juni 2011, S. 8, spricht von Optionen für Syrien, etwa den Abschluss eines „neuen Gesellschaftsvertrags“ zwischen Sunniten und Alawiten. 236  Vgl. FAZ vom 9. Juli 2011, S. 35: „Kein Platz am Tisch für Demokratie, Die Machthaber in Bahrain und Syrien preisen ihre Gespräche am Runden Tisch als Beginn eines nationalen Dialogs an.“ 237  Dazu die Tetralogie des Verf.: Feiertagsgarantien (1987), Nationalhymnen (2006), Nationalflaggen (2007), Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat (2011). 238  Treffend R. Hermann: „Revolutionäre, nicht Rebellen, In Benghasi sind fast alle Menschen zu engagierten Freiheitskämpfern geworden“, FAZ vom 4. April 2011, S. 7. 239  Vgl. FAZ vom 18. Juni 2011: „Rebellenflagge weht in Berlin“, S. 5. – In Tunesien sind die Symbole der Diktatur rasch gefallen. Eine Woche nach der Flucht Ben Alis wurden die Straßen des 7. November 1987, die an den Amtsantritt Ben Alis erinnerten, umbenannt in: Straße des 14. Januar oder Platz des Märtyrers Mohamed Bouazizi, SZ vom 14. Juni 2011, S. 13. 240  Gaddafi hatte die Sommerresidenz des Königs verschlossen und alle Bücher über König Idris I. verbrennen lassen, FAZ vom 31. März 2011, S. 3: „Können die Rebellen einen Staat machen?“; s. auch SZ vom 28. März 2011, S. 8: „Mit Rebellenflagge und Trikolore“ (seitens der Gaddafi-Gegner). 235  R.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

gehüllt hatte241. Heute liegen Ergänzungen um neue Feiertage zur Erinnerung an die Revolutionen oder Reformen seit 2011 nahe, vielleicht auch die Schaffung neuer Denkmäler oder Erinnerungsorte wie der Tahrirplatz in Kairo, er ist zum Symbol der Freiheit geworden242. Namen für Plätze und Straßen, die Repräsentanten der alten Regime gewidmet sind, müssten getilgt werden243. Im Übrigen sollten speziell die Nationalflaggen und Nationalhymnen so weit wie möglich beibehalten werden244. Hier lassen sich Lehren aus der europäischen Geschichte ziehen: So sind in Europa etwa in Polen und Weissrussland, zum Teil auch in Deutschland die Nationalhymnen konstant geblieben – über alle Regimewechsel hinweg (vielleicht sollten nur die Texte, nicht aber die Musik geändert werden). b)  Innovationen aus dem Potenzial des Typus „Verfassungsstaat“ An erster Stelle ist neben Wahrheitskommissionen und der Verfassungsgerichtsbarkeit an die Grundrechte zu erinnern: Etwa schon positivierte Grundrechtskataloge (z. B. Verfassung Ägypten von 1971 / 80 Teil III.: Öffentliche Freiheiten, Rechte und Pflichten; Verfassung Jemen von 1991 / 94 Teil II.: Die Rechte und Pflichten der jemenitischen Bürger245) sind aus ihrem semantischen Schattendasein zu holen, zu erneuern, fortzuschreiben und zu geltendem Verfassungsrecht zu machen. Hier sind Anknüpfungen an die islamischen Menschenrechtserklärungen246, aber auch neue Grundrechte wie das Recht auf Internet, als neue Form der Demonstrationsfreiheit fruchtbar zu machen (so jüngst in Peru). Die Verfassunggeber müssen aus der Blockierung des Internets seitens der noch Herrschenden in Ägypten und Syrien lernen. Einmal mehr zeigt sich, dass Grundrechte aus negativen Erfahrungen älterer Zeiten erwachsen. Die neue Informationsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG war 1949 eine greifbare Reaktion auf die deutsche NS-Zeit. Die europäischen Grundrechtskataloge können im Übrigen mancherlei Vorbilder liefern, auch die universalen. 241  FAZ

vom 23. Juli 2011, Bilder und Zeiten, Z 2. FAZ vom 2. April 2011, S. 41, „Was vom Tahrir übrig blieb“. 243  Bemerkenswert FAZ vom 17. Juni 2011, S. 35: „Viele Libyer weigern sich, die Geldnoten, die Gaddafis Konterfei tragen, auch nur in die Hand zu nehmen.“ – Auch tauchten Posters mit dem Konterfei von König Idris I. auf, FAZ vom 26. Februar 2011, S. 10. Vgl. auch FAZ vom 28. Februar 2011, S. 3: „Ein neues Libyen unter alter Fahne?“ 244  Freilich hat ein Marokkaner eine Hymne auf die Revolutionen in der arabischen Welt verfasst, SZ vom 18. April 2011, S. 16. 245  Zit. nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995. 246  s. freilich P. Scholz / N. Naeem, in dieselben, a. a. O., S. 41 (101): „Somit handelt es sich bei einem islamischen Rechtsstaat um einen Staat, dessen verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrechte einerseits formell keinen absoluten Vorrang gegenüber nicht kodifiziertem islamischem Recht haben und andererseits keine oder nur wenig materielle Wirkung aufweisen.“ Ebenso einschlägig dieselben, a. a. O., S. 11 (12): „Hinsichtlich des Umgangs mit materiellen verfassungsrechtlichen Ideen Europas wie der Menschenrechte, der Gewaltenverschränkung, dem Rechtsstaatsprinzip oder dem Demokratieprinzip sowie dem die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen sichernden Element der Verfassungsgerichtsbarkeit herrscht hingegen große Unsicherheit.“ 242  Vgl.



Exkurs III: Der Arabische Frühling771

Präambeln sind, kulturwissenschaftlich betrachtet, Prologen, Präludien und ­ uvertüren vergleichbar. In bürgernaher, festlicher Sprache wollen und sollen sie O die Vergangenheit beschreiben, die Gegenwart feststellen und zukunftorientierte Projekte (z. B. Weltfrieden) entwerfen. Als „Textereignis“ können sie ein Konzentrat der Verfassung darstellen. Für neue Präambeln der arabischen bzw. islamischen Staaten247 ist die wichtigste Frage, wie wahrhaftig sie Geschichte schreiben und den Umbruch von 2011 nachzeichnen, ohne die Vergangenheit zu verleugnen. Hohe Präambelkunst, dank des weltweiten Vergleiches der besten Präambeln, z. B. in Südafrika (1996), Polen (1997) und Albanien (1998) möglich (nicht Ungarn 2011 / 12!), ist hier gefordert. Pathosformeln sind durchaus erlaubt und im arabischen Geist und Buchstaben zu schreiben. Die Chinesische Charta 08 kann hier trotz ihrer Überlänge als Vorbild wirken248. Ein Sonderproblem ist die Gottesklausel249. Alle bisherigen arabischen und islamischen Verfassungen enthalten reiche Gottesbezüge (man denke an die Länder Kuweit (Verf. von 1962 / 80, Präambel), Bahrain (Verf. von 1973, Präambel), Mauretanien (Verf. von 1991, Präambel). In Europa sind sie oft umstritten. Polen und Albanien gelingt eine alternative Form (Präambel: „die diesen Glauben (sc. an Gott) nicht teilen“), auch für Nichtgläubige. Denkbar wäre die gleichzeitige Nennung von Allah, Jahwe und Gott: heute vielleicht noch eine Utopie! c)  Offenes Religionsverfassungsrecht Unerlässlich ist – im Geiste des universalen Toleranzprinzips – die verfassungstextliche Schaffung von offenem Religionsverfassungsrecht250. Die Länder des arabischen Frühlings sollten textlich weder ein Monopol für den Islam beibehalten oder Gottesstaaten errichten, noch den Spuren des überholten deutschen sog. „Staatskirchenrechts“ folgen. Religiöse Minderheiten, wie etwa die Christen, müssen effektiv geschützt werden. In den öffentlichen Schulen müsste der Religionsunterricht für alle drei Weltreligionen geöffnet werden. Jede Form von Fundamentalismus ist zu vermeiden.251 Speziell in Europa wird der sog. Euro-Islam diskutiert252. Vielleicht 247  Speziell zur Präambel der Iranischen bzw. Irakischen Verfassung: P. Scholz /  N. Naeem, a. a. O., S.  46 f. bzw. 48 f. 248  Dazu mein Beitrag: Die Chinesische Charta 08 – auf dem Forum der Verfassungslehre der Kulturwissenschaft, JöR 60 (2012), oben Exkurs II. 249  Allgemein dazu: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl., 2011, S. 276, 641 u. ö. 250  Dazu mein Beitrag, in: T. Holzner u. a. (Hrsg.), Staatskirchenrecht und Religionsverfassungsrecht 2012, Stichwort „Religionsfreundlichkeit“, „Religionskultur“. 251  Dazu mein Beitrag: Der Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates: rechts- bzw. kulturwissenschaftlich betrachtet, in: Liber Amicorum Josef Esser, 1995, S. 49 ff. 252  Bassam Tibi, Die Verschwörung, das Trauma arabischer Politik, aktualisierte Ausgabe, 2. Aufl., 1994; ders., Die neue Weltunordnung, 1999; ders., Euro-Islam: Die Lösung eines Zivilisationskonfliktes, 2009; C. Leggewie, Auf dem Weg zum Euro-Islam?, 2002. Allgemein: G. Krämer, Demokratie im Islam: Der Kampf für Freiheit und Toleranz in der arabischen Welt, 2011; M. Asad, Die Prinzipien von

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

lassen sich manche Anforderungen und Aussagen über ihn auf die Länder des „mare nostrum constitutionale“ übertragen. d)  Wahrheitskommissionen als „dritter Weg“ Diese neue Errungenschaft des offenen Verfassungsstaates, die Südafrika pionierhaft entwickelt hat, und sich mittlerweile in vielen Ländern findet (z. B. Honduras oder Elfenbeinküste), sollte auch in den Reformstaaten des Arabischen Frühlings praktiziert werden. Denn sie dient, sozusagen „zwischen“ der Bestrafung und der Amnestie stehend, der kollektiven Versöhnung253. Allerdings wurde im Juli 2011 in Ägypten ein Strafverfahren gegen den ehemaligen Staatspräsidenten H. Mubarak und seine Söhne eröffnet, in Tunesien wurde im Juni 2011 der ehemalige Staatspräsident Ben Ali samt Ehefrau wegen Unterschlagung öffentlichen Vermögens angeklagt und in allzu raschem „kurzen Prozess“ zu 35 Jahren Haft verurteilt254; Strafverfahren wegen Mord und Folter sollen später folgen. Der vergleichende Verfassungsrechtler darf wissenschaftlich bei den Ländern mindestens für kleinere Delikte den milderen Weg der Wahrheitskommissionen empfehlen; Gleiches gilt für – zum Teil schon verkündete – Amnestien255. e)  Neue Formen der vertikalen Gewaltenteilung Die meisten Länder des Arabischen Frühlings sind stark zentralisierte Einheitsstaaten – trotz ihrer vielen ethnischen Minderheiten in den verschiedenen Regionen. Der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe hat in langwierigen Prozessen zwei Strukturen geschaffen, die den Ländern des Arabischen Frühlings „angeboten“ werden dürfen: gemeint ist der offene Föderalismus nach dem Vorbild der „glücklichen“ Schweiz, Deutschlands und Österreichs, auch des multinationalen Kanada sowie der Regionalismus wie in Italien und Spanien. In diesen beiden Ländern sind die Regionalstatute auf dem Weg „kleine Verfassungen“ zu werden256. (Der Föderalismus in Belgien ist freilich gefährdet, der österreichische Verfassungskonvent 2003–2005 scheiterte; die beiden deutschen Föderalismusreformen bleiben umstritten257). Beide Staat und Regierung im Islam: The Principles of State and Government in Islam, 2011; M. Rohe, Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., 2011; P. Scholl-Latour, Arabiens Stunde der Wahrheit, 2011; W. Ende / U. Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl., 2005. 253  Aus der Lit.: P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1993; ders., „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat – eine Zwischenbilanz“, FS Hollerbach, 2001, S. 15 ff. 254  Vgl. FAZ vom 22. Juni 2011, S. 6, 10. Ende Juli 2011 wurde Ben Ali ein zweites Mal verurteilt (wegen Korruption und Immobilienbetrug), FAZ vom 30. Juli 2011, S. 6. 255  In Tunesien kam es zu einer Amnestie für Hunderte von Opfern des Ben Ali-Regimes, FAZ vom 21. Februar 2011, S. 6. 256  Dazu P. Häberle, Konstitutionelles Regionalismusrecht – Die neuen Regionalstatute in Italien, JöR 58 (2010), S. 443 ff.; ders., Textstufen in österreichischen Landesverfassungen – Ein Vergleich, JöR 54 (2006), S. 367 ff.



Exkurs III: Der Arabische Frühling773

Verfassungsstaaten, das heißt Italien und Spanien haben differenzierte Strukturformen entwickelt, d. h. manche Regionen besitzen einen verstärkten Sonderstatus (z. B. Katalonien oder das Baskenland in Spanien, in Italien die Region Alto Adige). All dies könnte vorbildlich sein für die arabischen bzw. islamischen Länder, insbesondere auch als Schutz für ethnische oder andere kulturelle, vor allem religiöse Minderheiten258. So sehr sich in mancher Hinsicht die Türkei als Vorbild empfiehlt259 (Stichwort: laizistischer Staat, aber islamische Gesellschaft): Angesichts des noch ungelösten Kurdenproblems (mehr Autonomie!) kann speziell in dieser Frage die Türkei wohl wenig helfen: sie bleibt derzeit unitarisch, ähnlich wie Großbritanien und Frankreich nur mühsam Prozesse der Dezentralisierung durchführen. 257

f)  Parteien-Artikel und Wahlgesetze Bislang ist ein unverzichtbares reales Mehrparteiensystem in den arabischen Ländern wohl erst im Entstehen (die Chinesische Charta 08 ringt ihrerseits darum260). Die Ausgangslagen scheint verschieden zu sein. In Tunesien wachsen bereits parteipolitische Formationen heran, Gleiches dürfte für Ägypten gelten, wo die sog. Muslimbrüder schon gut organisiert sind und sich um Pluralismus bemühen, indessen kann im Osten Libyens von Parteien noch kaum gesprochen werden. Die Aufständischen tun sich schwer, eine neue Führung für das Land aufzubauen261. Umso wichtiger wird ein ausdrücklicher Parteien-Artikel, der sich an westliche und osteuropäische Vorbilder anlehnen kann262. Es bedarf einer Einordnung aller politischen Parteien263 in den nationalen „Verfassungsbogen“ der einzelnen Länder. Neuzuschaffen ist das Wahlrecht, wobei sich wohl wegen seines Spiegelcharakters das Verhältniswahlrecht (mit niedrigen Sperrklauseln) empfiehlt, nicht das reine 257  Aus der Lit.: Deutscher Bundestag, Bundesrat, Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Zur Sache 1 / 2005, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005; H. Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008; C. Starck, Die Föderalismusreform 2006, Eine Einführung, 2007. 258  Zur „bundesstaatlichen Ordnung der Verfassung der Vereinigten Arabischen Emirate“: N. Naeem, JöR 58 (2010), S. 633 ff. 259  Einschlägig FAZ vom 14. September 2011, S. 2: „Erdogan fordert Ägypten zur Säkularisierung auf.“ 260  Dazu mein Beitrag: Die Chinesische Charta 08 – auf dem Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, JöR 60 (2012), oben Exkurs II. 261  Vgl. SZ vom 29. März 2011, S. 10; suggestiv FAZ vom 16. November 2011, S. N 3: „Tribales Libyen: Die Stämme der Kyrenaika zwischen Tradition und Revolution“. 262  In Syrien verspricht Assad ein Mehrparteiensystem. Das neue Gesetz soll die Gründung von Parteien garantieren, wenn diese „auf dem Bekenntnis zur Ver­fassung, zu demokratischen Prinzipien der Geltung der Gesetze und dem Respekt vor Freiheit und Grundrechten“ stünden (SZ vom 26. Juli 2011, S. 8; FAZ vom 5. August 2011, S. 6). 263  Aus der Lit.: D. T. Tsatsos, Verfassung – Parteien – Europa, 1998 / 99; H. H. v. Arnim (Hrsg.), Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft, 2011.

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6. Kap.: Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat

Mehrheitswahlrecht Großbritanniens. Gerade bei Wahlen sollten europäische Berater in arabischen bzw. islamischen Ländern vor Augen führen, wie sehr Menschenwürde und die demokratische Möglichkeit fair und frei wählen zu können, zusammengehören264. Der Militärrat in Kairo hat im Juli 2011 ein neues Wahlgesetz erlassen, wonach die 504 Abgeordneten je zur Hälfte über Parteilisten und in Wahlkreisen gewählt werden265. Es ist freilich umstritten: Die Muslimbrüder (sie treten mit einer Bekenntnis übergreifenden Vision auf266) und die liberale Opposition wollten Abstimmungen allein über die Parteilisten267. Im November 2011 forderten sogar hunderttausend Ägypter den Rücktritt des Militärrats268. Im Ganzen: Westeuropa bzw. formelle oder informelle Berater wie Professoren, Parteistiftungen, EU-Mitarbeiter (Stichwort: „Transformationspartnerschaften“ zwischen der EU und den arabischen Ländern269), die Venedig-Kommission etc. sollten sich der verfassungspolitischen „Alternativentechnik“ bedienen (d. h. mehrere mögliche Texte zur Auswahl anbieten), wie sie sich bei den Schweizer Totalrevisionen in den dortigen Kantonen und im Vorfeld der neuen Bundesverfassung von 1999 seit Jahrzehnten bewährt haben. Auf keinen Fall darf auch nur der Anschein eines „Oktrois“ von Europa her erweckt werden. Afrikanische Vorbilder, etwa in Gestalt der Verfassungen von Äthiopien (1993) und Kenia (2010), sollten selbst dann ernst genommen werden, wenn diese neuen Texte in diesen Ländern derzeit noch sehr „semantisch“ geblieben sein mögen, d. h. keine Entsprechung in der Verfassungswirklichkeit finden. g)  Gemeinislamisches Verfassungsrecht Stichworte hierzu lauten – in Anknüpfung an die Vorschläge zum Gemeineuropäischen Verfassungsrecht aus dem Jahre 1991 sowie eines Gemeinasiatischen Verfassungsrecht aus dem Jahre 1997270: Prinzipienstruktur des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts, die zwei Wege seiner Gewinnung (Rechtspolitik und interpretatorische Rechtsfindung), die arbeitsteilige Entwicklung im Laufe der Zeit. Zu denken ist an die Organisation von die Nationen übergreifenden überregionalen Zusammenschlüsse, Völkerrechtsoffenheit, humanitäres Verfassungs- und Völkerrecht.

264  Dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR I 1987, S. 315 (350 ff.), später auch das Lissabonurteil des BVerfGE 123, 267 (341). 265  FAZ vom 22. Juli 2011, S. 6. Eher optimistisch FAZ vom 2. Juli 2011, S. 10: „In Ägypten formiert sich neues politisches Leben.“ 266  FAZ vom 21. Mai 2011, S. 35. 267  FAZ vom 23. Juli 2011, S. 6; unumstritten ist, dass der Hohe Militärrat die Sperrklausel von 8 % auf 0,2 % gesenkt hat. 268  Vgl. FAZ vom 26. November 2011, S. 1. 269  Vgl. FAZ vom 22. August 2011, S. 5: „Strategiepapier zur Arabellion“. 270  Dazu die Beiträge des Verf.: Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff., bzw. ders., Aspekte einer kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Verfassungslehre, JöR 45 (1997), S. 555 ff. (bes. S. 576 ff.); zum Gemeinislamischen Verfassungsrecht: E. Mikunda, JöR 51 (2003), S. 21 ff.



Exkurs III: Der Arabische Frühling775 2. Aufgaben der UN bzw. der „Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten“ sowie einzelner westlicher Verfassungsstaaten a)  Die UN

An erster Stelle obliegen den Vereinten Nationen bestimmte Aufgaben. In Sachen Libyen ist der Sicherheitsrat durch eine Resolution 1973 im Frühjahr 2011 vorbildlich tätig geworden271. Er formulierte einen Schutzauftrag für das Volk und die Bürger dieses Landes, das bisher von acht NATO-Staaten (einschließlich Italien) militärisch umgesetzt worden ist. Manche sehen darin freilich einen „Umbruch im Völkerrecht“. Es bleibt eine Schande der deutschen Bundesregierung, dass sich Deutschland im Sicherheitsrat auf Weisung des Bundesaußenministers G. Wester­ welle enthalten hat272. Dies umso mehr, weil sich dieser später im Juni 2011 von denselben Kindern und Eltern in Bengasi feiern ließ, die von den Truppen Gaddafis ohne die Hilfe aktiver NATO-Staaten jedoch umgebracht worden wären. Neuerdings stellt Deutschland Hilfe bei der humanitären Mission der UN in Aussicht273. Immerhin gibt es schon einen „Treuhandfonds“ für die libyschen Aufständischen274. Kritisch sei angemerkt, dass sich Ähnliches wohl in dem gefolterten Land Syrien nicht ereignen wird – die USA fühlen sich überfordert, Europa ist feige, wagt nur Symbolpolitik und zieht die Stabilität der Region einer humanitären Intervention vor (anders seinerzeit auf dem Balkan). Die humanitäre Flüchtlingshilfe der Türkei (Zeltlager für Syrer an der Grenze) sei positiv erwähnt, auch die von NGO’s. b)  Multinationale Hilfe Multinationale Hilfe kann in vielerlei Form geleistet werden, vor allem kooperativ im wirtschaftlichen Bereich. Die EU-Kommission sollte hier eine Federführung ausüben. Speziell in Libyen sind manche Länder, insbesondere Frankreich schon aktiv. Langfristig ist auch an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu denken. Freilich stimmt der Fall des mit Internationalem Haftbefehl ohne Erfolg gesuchten, kürzlich in Rotchina mit allen Ehren empfangenen, Staatspräsidenten des Sudan O. Al-Bashir skeptisch. c)  Nationale Hilfe Nationale Hilfe einzelner Verfassungsstaaten kann sich mit unterschiedlichen Zielen in vielerlei Formen und Verfahren geltend machen: Zu denken ist an staatli271  C. Tomuschat, Wenn Gaddafi mit blutiger Rache droht, FAZ vom 23. März 2011, S. 29, hält sie mit guten Gründen für rechtmäßig. 272  Vgl. auch die Kritik in Der Spiegel Nr. 9 / 28. Februar 2011, S. 22: „Historische Chance vertan“. – s. auch R. Hermann: „Ein zögerliches Europa, Der Wandel in der arabischen Welt muss als Chance begriffen werden“, FAZ vom 19. April 2011, S. 8. 273  Vgl. FAZ vom 29. Juli 2011, S. 6: „100-Millionen-Euro-Kredit Berlins für Benghasi“. 274  FAZ vom 6. Mai 2011, S. 5.

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che Hilfen humanitärer Art einschließlich des Aufbaus von Polizeikräften; sodann an die Beratungstätigkeit seitens deutscher parteinaher Stiftungen bei der Neugestaltung des Verfassungsrechts275 und grundlegender Gesetze im Wahl- und Parteienrecht (einschließlich eine Aktivierung akademischer Zusammenarbeit), auch der Gerichtsorganisationen (irritierend war freilich die Schließung der K. Adenauer-Stiftung in Kairo seitens des ägyptischen Militärrats276). Zu denken ist auch an Seminare und Diskussionsforen, die einzelne Universitäten etwa von Spanien, insbesondere Granada aus, durchführen. Bei aller sich anbietenden Verfassungspolitik und wissenschaftlicher Vorratspolitik i. S. des „academical self restraint“ ist immer wieder daran zu erinnern, dass die westlichen Verfassungsstaaten nicht eurozentrisch argumentieren und handeln sollten. Besonders wichtig wird dieser Grundsatz bei so heiklen Fragen wie Gottesklauseln und Präambeln, beim offenen Religionsverfassungsrecht, der Religionsfreundlichkeit und beim Minderheitenschutz, beim Aufbau von „Zivilgesellschaft“ und „sozialen Marktwirtschaften“. Wissenschaftliche Hilfe ist besonders beim Erarbeiten von Grundsätzen eines etwaigen Gemeinislamischen bzw. Gemeinarabischen Verfassungsrecht erforderlich. Es geht darum, übernationale Strukturen und Verfahren nach dem Vorbild des Mercosul in Lateinamerika277 und der EU in Europa zu finden (Stichwort: Regionale Verantwortungsgemeinschaften). Für übernationale Verfassungsgerichte wie in Costa Rica und Straßburg ist die Zeit vielleicht noch nicht reif. Monarchien sollten buchstäblich – reformiert – „stehen“ gelassen werden. Sie können sich als unverzichtbare Integrations- und Stabilitätselemente beweisen. Dies dürfte etwa im Königreich Marokko278 gelingen, sofern der König Mohammed VI. mit den angekündigten Verfassungsreformen ernst macht und sich einerseits „konstitutionalisiert“, andererseits dem Parlament substanzielle Kompetenzen eingeräumt werden und eine unabhängige Gerichtsbarkeit entsteht. Marokko will in eine parlamentarische Monarchie279 – freilich könnte der Monarch „Befehlshaber der Gläubi275  So versuchen die deutschen parteinahen Stiftungen, den Tunesiern beim Aufbau der Demokratie zu helfen, FAZ vom 23. März 2011, S. 3. 276  Vgl. FAZ vom 31. Dezember 2011, S. 1: „Berlin empört über Razzia bei der Adenauer-Stiftung in Kairo“; vgl. auch FAZ vom 3. Januar 2012, S. 5: „Kairo kritisiert Nichtregierungsorganisationen.“ 277  Dazu M. A. Maliska, Die Supranationalität in Mercosul, JöR 56 (2008), S.  639 ff. 278  Aus der Lit.: C. Amelunxen, Staatsaufbau und Verfassungsentwicklung in Marokko (1908–1988), JöR 38 (1989), S. 499 ff.; A. P. Fernández, Das beredte Schweigen über die Verfassungsreform im Marokko von Mohammed VI., JöR 56 (2008), S.  561 ff. 279  Vgl. FAZ vom 21. Juni 2011, S. 7. Der spanische König Juan Carlos I. sowie der französische Staatspräsident N. Sarkozy begrüßten diese Pläne in Richtung auf mehr Demokratie und Respekt für Menschen- und Freiheitsrechte in Marokko. Das Referendum fand am 1. Juli 2011 statt (98 % Zustimmung). Eher kritisch: FAZ 20. Juni 2011, S. 10: „Maßanzug für den Reformkönig, der Monarch bleibt weiterhin unantastbar, aber das Parlament erhält wichtige neue Befugnisse.“ Der Bewegung des 20. Februars sowie den Islamisten reichen die Reformen freilich nicht, FAZ vom 12. Juli 2011, S. 6. Anschaulich schon FAZ vom 19. März 2011, S. 10: „Reformkö-



Exkurs III: Der Arabische Frühling777

gen“, d. h. religiöses Oberhaupt bleiben (er soll jetzt nicht mehr „heilig“, sondern nur noch „unantastbar“ sein280); auch gibt es Zweifel, ob eine unabhängige Justiz gelingt281. Die überwältigende Mehrheit hatte der von Mohammed VI. vorgeschlagenen Verfassung im Sommer 2011 zugestimmt. Ausblick Die „Arabellion“ von 2011 bleibt eine große Chance und Herausforderung, ja Bewährungsprobe für den kooperativen Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe einerseits und für die Völkerrechtsgemeinschaft andererseits. Das in den arabischen Ländern oft formulierte Motto „Arbeit, Würde, Freiheit“282 ist charakteristisch für den Typus Verfassungsstaat. Es besteht die ethische Pflicht, den „verlorenen Generationen“, vor allem der Jugend, in jenen Ländern zu helfen, die zu Recht auf Teilhabe an der Globalisierung drängt und national mehr Freiheit und Demokratie wünscht. Freilich sollte man sich keinen Illusionen hingeben283. Nicht zuletzt von einer wieder funktionierenden Wirtschaft284 hängt auch das Gelingen einer pluralistischen Demokratie und die Verwirklichung der Menschenrechte ab. Wirtschaftshilfe aus dem Westen ist angesagt285. Die USA haben eine solche bereits versprochen, vielleicht kann auch die „neue Türkei“ ideell helfen286, jedenfalls preist sie sich als „Vorbild für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie“287. Der für den Verfassungsstaat typische „Vorrang der Verfassung“ ist spezifisch herausgefordert von dem durch den Islam postulierten „Vorrang des Koran bzw. Scharia“. Speziell in Libyen nig versucht Königsreform“; FAZ vom 15. Juli 2011, S. 8: „König Mohammed VI. könnte die Herausforderung der „Arabellion“ bestehen“. 280  Art. 46 Verf. Marokko lautet: „Die Person des Königs ist unverletzlich, und Ihm ist Respekt geschuldet.“ 281  Die neue Verfassung verankert die Menschenrechte, die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, die Anerkennung der Berbersprache als gleichberechtigt neben dem Arabischen. Der König soll überdies den Ministerpräsidenten aus der stärksten politischen Partei wählen, FAZ vom 28. Oktober 2011, S. 10, ernannt wurde ein gemäßigter Islamist, dessen Partei nach den Wahlen dominierte, FAZ vom 5. Januar 2012, S. 4. 282  Dazu W. G. Lerch, Arabischer Lackmustest, FAZ vom 6. Juli 2011, S. 8. 283  Vgl. K. D. Frankenberger, „Dornenreicher Übergang, Die Arabellion hat noch einen langen und schwierigen Weg vor sich“, FAZ vom 13. Juli 2011, S. 8; W. G. Lerch, „Arabisches Jahrhundertprojekt“, „Die ‚Arabellion‘ ist so vielfältig wie die Araber. Sie wird länger dauern als nur einen Frühling“, FAZ vom 12. Juli 2011, S. 1. 284  Vgl. R. Hermann, FAZ vom 25. Juli 2011, S. 9: „Der wirtschaftliche Preis der Arabellion“. Ägypten will die Konjunktur beleben und denkt an „Marktwirtschaft mit mehr sozialen Elementen“, FAZ vom 30. Juni 2011, S. 11. 285  Vgl. FAZ vom 27. Mai 2011, S. 1: „G 8 wollen ‚arabischen Frühling‘ unterstützen.“ 286  Bemerkenswert ist, dass die Türkei eine „letzte Warnung“ an Assad ausspricht, FAZ 10. August 2011, S. 1. 287  FAZ vom 4. Februar 2011, S. 4.

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lautet das Motto des Vorsitzenden des Nationalen Übergangsrats „Scharia statt Grünes Buch“288. Bemerkenswert ist, dass der arabische Frühling jetzt sogar die Proteste der Jugend in Israel inspiriert289, wie zuvor vielleicht auch in Spanien. Der Aufbau einer auf die Würde des Menschen bezogenen pluralistischen Demokratie braucht viel Zeit290. Er muss – kulturell grundiert – in den Schulen beginnen (Stichwort: Menschenrechte als Erziehungsziele nach dem Vorbild Guatemalas und Perus, „Verfassungspädagogik“) und in den Museen enden291. Vermutlich gibt es für jeden Verfassunggeber in den reformierten arabischen Ländern viele Themen für lange, Stück für Stück eingelöste Übergangs- und Schlussvorschriften292, handele es sich nun um Teiloder Totalrevisionen. Der „Westen“ darf nicht selbstgerecht sein. Auch bei ihm sind manche Verfassungsreformen gescheitert (z. B. in Österreich293 und – noch – in Belgien). Der Typus weltoffener Verfassungsstaat im Ganzen ist allgemein durch die Globalisierung einerseits und Regionalisierung andererseits herausgefordert. Nur die „glückliche“ Schweiz kann sich rühmen, etwa in Sachen Schuldenbremse ein wohl für die ganze Welt vorbildliches Modell erfunden zu haben. Zu bedenken bleibt, dass die Araber selbst „hin und her gerissen sind zwischen Islam und Säkularismus, Tradi­tion und Moderne“ – ein syrischer Philosoph vergleicht sie mit Hamlet294. Das „Prinzip Hoffnung“ (E. Bloch) und das Prinzip Verantwortung (H. Jonas) werden gleichermaßen relevant. Die Verfassunggeber müssen viel Kraft und Phantasie in den Umweltschutz und den Schutz des kulturellen Erbes investieren; auch sei empfohlen, den universalen Kulturgüterschutz nach dem Beispiel der Ukraine in die nationalen Verfassungen zu integrieren. Effektive Geltungsanordnungen für überregionale und universale Menschenrechtstexte dank unabhängiger Gerichtsbarkeit sind 288  FAZ vom 14. September 2011, S. 9: „Scharia statt Grünes Buch“; s. auch SZ vom 1. / 2. / 3. Oktober 2011, S. 2: Die Anhänger der Scharia gewinnen mit der arabischen Revolution an Einfluss. 289  Vgl. SZ vom 9. August 2011, S. 11. 290  Vgl. Rami G. Khouri, „300 Millionen Träume von einer anderen Welt, Die arabische Revolutionen werden siegreich sein. Doch der Kampf um Freiheit und Demokratie kann Jahrzehnte dauern“, Die Zeit vom 19. Mai 2011, S. 8. 291  In Ägypten kam es zu Beginn der Revolution zu Diebstählen aus dem Antikenmuseum in Kairo, SZ vom 17. Februar 2011, S. 11; auch brannte das berühmte Institut de l’Égypte aus, SZ vom 24. / 25. / 26: Dezember 2011, S. 13; auch in Libyen drohen Plünderungen von antiken Stätten und Museen, FAZ vom 2. März 2011, S. 31; s. auch SZ vom 20. Juli 2011, S. 16: „Der Ägyptologe S. Seidlmayer über die Folgen des arabischen Frühlings für die Grabungen in Nordafrika.“ 292  Aus der Lit.: J. Zeh, Das Übergangsrecht, Zur Rechtsetzungstätigkeit von Übergangsverwaltungen am Beispiel von UNMIK im Kosovo und dem OHR in Bosnien-Herzegowina, 2011; allgemein: P. Häberle, Strukturen und Funktionen von Übergangs- und Schlussbestimmungen als typisch verfassungsstaatliches Regelungsthema, FS Lendi, 1998, S. 137 ff. 293  Aus der Lit.: W. Berka u.  a. (Hrsg.), Verfassungsreform, Überlegungen zur Arbeit des Österreich-Konvents, 2004. 294  Dazu das Interview mit Sadiq al Azm: „Die Araber könnten bald etwas weniger hamlethaft sein“, FAZ vom 12. August 2011, S. 5.



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besonders wichtig. Der brasilianische Konstitutionalismus295 als Pionierbewegung in ganz Lateinamerika darf ebenso Vorbild sein wie europäische Lösungen. Europa muss sich im eigenen Interesse, aber auch aus allgemeinen humanitären Gründen kooperativ engagieren. Die UN ist als Ganzes gefordert, auch in ihren Teilverfassungen sowie via Völkerrecht. Zu recht will sie eine „Zivile Libyen Mission“ beschließen296. Bei all dem dürfen zwei Klassikertexte inspirieren: Goethes „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, nord- und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände“ sowie Lessings „Ringparabel“ in Sachen Gleichberechtigung aller drei Weltreligionen. Vielleicht gibt es auch klassische Literatur in der arabischen Dichtung von Kunst, so wie in China etwa die Maximen eines Konfuzius297.

In wie vielen Dekaden wohl die vorstehenden drei „Exkurse“ zum integrierenden Bestandteil einer dem Völkerrecht innerlich verpflichteten universalen Verfassungslehre werden? Der universale Konstitutionalismus ist jedenfalls auf das Völkerrecht in all seinen Ausfächerungen hin und von diesem her zu denken. Der ungekürzte Titel des vorliegenden Buches lautet: Der kooperative Verfassungsstaat – aus Kultur und als Kultur. Vorstudien zu einer universalen Verfassungslehre im Kontext der Teilverfassungen des Völkerrechts.

295  Ein Teilaspekt bei M. A. Maliska, Die Geschichte des brasilianischen Föderalismus, JöR 58 (2010), S. 617 ff.; G. Mendes, Die 60 Jahre des Bonner Grundgesetzes und sein Einfluss auf die brasilianische Verfassung, JöR 58 (2010), S. 95 ff. 296  FAZ vom 14. September 2011, S. 9. 297  Neuste Literatur in Deutschland: H. Abdel-Samad, Krieg oder Frieden. Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens, 2011; M. Lüders, Tage des Zorns. Die arabische Revolution verändert die Welt, 2011; V. Perthes, Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, 2011. – Als Manuskript abgeschlossen am 27. Januar 2012.

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Personen- und Sachregister Hinweis: Die folgenden Stichworte verweisen auf den Text und die Fußnoten. Da nach dem hier verfolgten Konzept die in Raum und Zeit miteinander verglichenen Verfassungstexte „als Literatur“ bzw. „zu Literatur“ verarbeitet wurden und diese Texte oft „Zitat“ sind (statt wissenschaftlicher Literatur und verfassungsgerichtlicher Judikatur), kommt ihnen eine entsprechend hohe – oft Klassikertexten gleichende – Bedeutung zu. Sie wären in einem eigenen Verfassungs- bzw. „Literaturverzeichnis“ nachzuweisen. Dies ist aus Raumgründen nicht möglich. Verwiesen sei aber auf das Verfassungs- und Vertragsregister in P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 899–968. Die Verfassungen der Bundesländer in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland bzw. die Regionalstatute in Italien und Spanien sind nicht im Einzelnen ausgewiesen. Abgeordnetenstatus  180 Academical self restraint  775 AEUV  604 Afghanistan, Verf. (2004)  146, 151, 463, 482, 670 – Gemeinwohltexte  482 – Präambel  463 Afrika  20, 364, 390, 430, 695, 727 – Afrikanische Banjul Charta (1982)  434 Afrikanische Einheit  231, 244 – Klauseln  231 Ägypten  675, 725, 765, 766, 773 – Islamisten  765 – Multikulturalität  760 – Revolution  764 Ägypten, Verf. (1971 / 80)  666, 770 Akademische Freiheit  753 Albanien, Verf. (1997 / 98)  19, 32, 61, 65, 94, 110, 124, 168, 218, 252, 360, 373, 385, 386, 390, 456, 466, 467, 470, 570, 571, 593, 633, 662, 721, 747, 771 Algerien  763 Algerien, Verf. (1976 / 89)  667

Allah  771  Sachregister Allgemeinbildung  369 Allgemeine Rechtsgrundsätze  90, 166, 239, 293, 296, 318, 348, 462 Allgemeine Schulpflicht  373 Alternativen  83 – Kulturen  417 – Technik  633, 774 Alternativendenken, pluralistisches  80, 84 Alterssicherungssystem  703 Amerika-Artikel  220 Amerikanische Einheits-Klausel  242 Amparo-Verfahren  237 AMRK (1969 / 82)  224, 226, 233, 319 Ämterpatronage  398 Analphabetismus  235, 429 Andenpakt  102, 406 Andorra, Verf. (1993)  456 Angola, Verf. (1992 bzw. 2010)  35, 105, 109, 380, 381, 382, 397, 422, 467, 471, 473, 492, 539, 588, 602, 626, 630, 678, 683, 686, 690, 695, 697, 726



Personen- und Sachregister789

Annus mirabilis 1989  17, 324, 416, 682, 739, 740 Anpassungs- und Gestaltungsänderung  256 Ansatz – kulturanthropologischer ~  495 – materieller und prozessualer ~  459 Anstaltsseelsorge  647 Anti-Ideologie-Klauseln  22 Anti-Kruzifix-Beschluss  175 Anti-Staatsideologieklauseln  382 – in Osteuropa  156 Antrittsvorlesungen  739 Äquatorial-Guinea, Verf. (1991)  381, 422, 461, 467, 593, 697 Arabische Länder  248, 434, 666, 704, 719 Arabische Liga  762 Arabischer Frühling 2011  17, 43, 57, 77, 119, 260, 391, 481, 693, 704, 707, 719, 749, 760, 764, 777 Arbeit  494 f. – Verfassungslehre der ~  494 – Verfassungsrecht der ~  495 Arge Alp  614 Argentinien, Verf. (1853 / 1956 / 95)  237, 467, 630 Arkanmaxime  484 Armenien, Verf. (1995)  92 Armut  747 – Abbau  706 Artenschutzabkommen  502, 521 Aserbaidschan, Verf. (1995 / 96)  22, 58, 92 Asiatische Wirtschaftsgemeinschaft  734 Asien  76, 726 Asylrecht  359 Äthiopien, Verf. (1994 / 95)  45, 92, 130, 148, 299, 338, 380, 454, 669, 693 Aufgaben – Denken  138, 140, 157

– Kataloge  401 – Lehre  42 – Normen  135, 146 Ausgleichsklauseln  146 Auslandseinsätze der Bundeswehr  206 Auslegung  483 – grundrechtliche Maximen  262 – Regeln  351 Ausnahmezustand  689 Außereuropäische Staaten  665 Australien, Verf. (1900)  630 Autonomie, lokale  169 Azoren  613 Bahrain  761, 766 Bahrain, Verf. (1973)  481, 482, 667 Balagner, F.  230 Balkan  384, 390 – Länder  570 Baltenrepubliken  24 Bangladesh, Verf. (1973 / 2001)  36, 58 Barcelona-Prozess  763 Baskenland  317 Bayernhymne  446 Beatles  354 Begrenzte Regelverletzungen  691 Begriff Region  612 Behindertenschutz  21, 116, 315, 492, 694, 708 Bekenntnis-Artikel  252 Belgien, Verf. (1994 / 2002)  400, 494, 530, 531, 568, 627, 654 Bengasi  761, 769 Benin, Verf. (1990)  56, 112, 129, 231, 407, 461, 466 Beraterverträge  398 Bereichstrias, republikanische  42, 44, 311 Berlusconi, S.  344 Berufliche Bildung  369 Berufsbilder  266, 334 Besatzungsmächte  252

790

Personen- und Sachregister

Beteiligte – an Verfassungsinterpretation  267, 278 – Frage nach den ~  296 – Verfahren ~  269 Bewahrung von Kontinuitätselementen  769 Bewusstseins-Artikel  252 Bhutan, Verf. (2008)  157, 672 Bilderphilosophische Aspekte  352 Bildung  369 – Begriff  369 – Bürger  377 – Inhalte  435 – Verfassungsrecht  374 – Ziele  427, 529, 558 – in deutschen Länderverfassungen  370, 427 Bismarck-Verfassung (1871)  126 Bogotá Charter (1948)  223 Bolivien, Verf. (1967 / 95 bzw. 2007)  83, 105, 133, 140, 156, 157, 158, 226, 235, 236, 237, 246, 252, 350, 364, 365, 381, 382, 400, 424, 462, 466, 488, 601 Bonum Commune  484 Bosnien-Herzegowina, Verf. (1995 / 96)  110, 115, 234, 472 Bossi, U. 602 Brandt-Kommission (1977)  26, 31 Brasilien  221, 312, 326, 415, 467, 592, 597, 605 – Bundesgericht in ~  290 – kulturelles Verfassungspotential  605, 610 – Pluralität und Homogenität der Kulturen  609 – Wahrheitskommmission  765 Brasilien, Verf. (1988)  236, 290, 415, 424, 430, 435, 538, 606, 609, 721, 724 – Hauptstadt-Artikel  609 – Motto Ordnung und Fortschritt  606

Brückenfunktionen  229, 631 Brüderlichkeit  336 – der Welt  364 Buchreligionen  160, 602 Bulgarien, Verf. (1991)  61, 62, 112, 154, 373, 382, 406, 466, 495, 536, 570, 695 Bundesrepublik China  756 Bundesstaat  177, 403 – kultureller ~  543 – Lehre  543, 544 – unitarischer ~  309 Bundesstaatstheorie – gemischte ~  543 – kulturelle ~  66 Bundesstaatsverständnis – gemischtes ~  310 – kulturwissenschaftliches ~  563 Bundestagsauflösung  206 Bundestreue  298, 614 Bürger – Beauftragter  292, 388 – Begriff  368 – Demokratie  279, 298, 311, 313, 339, 376, 378, 386 – der europäische ~  277 – Ethos  367 – Freiheit  279, 750 – Freizeitverhalten der ~  684 – Freundlichkeit  209 – Gemeinschaft  29 – Gesellschaft  377, 610 – Initiative  366 – Nähe  124, 419, 693 – Sinn  367 Bürgerschaft  342, 367 – durch Bildung  138, 365, 754 Bürgschaft  316 Burka-Verbot in Frankreich  653 Burkina Faso, Verf. (1991 / 97)  112, 139, 231 f., 244, 386, 461, 627, 696 Burundi, Verf. (1992)  62, 147, 232, 386, 467, 469, 471



Personen- und Sachregister791

BVerfG  322, 324, 336, 383 – Aktualisierung der Präambel  330 – als Bürgergericht  325 – als gesamtgesellschaftliches Gericht  325 – als gesellschaftliches Gericht eigener Art  321 – Entwicklung neuer Grundrechte  330 – Lissabon-Urteil  328 – Statusbericht  325 – Verdienste  330 Causa Österreich  577 Charta 77  23 Charta – der kommunalen Selbstverwaltung  415 – der OAU (1963)  233 – der Vereinten Nationen (1945)  692, 722 – Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung (1985)  555, 612, 616 Chile, Verf. (1988 / 97)  472, 719, 731 Chinesische Charta  08  192, 194, 738, 741, 743, 750, 758 – Bauernarbeiter  753 – Demonstrationsfreiheit  754 – Eigentumsschutz  755 – Finanz- und Steuerreform  755 – föderales China  756 – Freiheit der Rede  754 – Gewaltenteilung und Machtbalance  751 – Gleichheit zwischen Städtern und Landbewohnern  753 – Öffentliches Eigentum  752 – Organisationsfreiheit  753 – Religionsfreiheit  754 – Sicherung der Menschenrechte  752 – Soziale Sicherung  756 – Streitkräfte  752 – Unabhängigkeit der Judikative  752

– Versammlungsfreiheit  753 Christentum  619 Civil democracy  364 Costa Rica, Verf. (1949 / 97)  221, 235, 236, 237, 437 Dänemark  494, 530 Datenschutzbeauftragte  389 Dekonstruktivismus  204 Delaware (1897 / 1995)  573 Demokratie  177, 711, 749 – als organisatorische Konsequenz  333, 378 – als Versuch und Irrtum  341 – attische ~  408 – Aufbau  381 – Demokratieerziehung zur Bürgerschaft  376 – Demokratieverständnis  413 – Gefälligkeitsdemokratie  704 – gelebte pluralistische ~  419 – gemeinsame Postulate  226 – Grenzen der Bürgerschaft freiheit­ licher ~  347 – Grundrecht auf ~  347 – halbdirekte ~  379, 397, 698 – Klassikertexte zur ~  379 – kulturelle ~  214 – Lehren  498 – marktkonforme ~  703 – menschenwürde-konsequente ~  342, 378 – pluralistische ~  30, 83, 345, 486, 490, 682, 777 – Prinzip  727 – repräsentative ~  379 – Typus der ~  382 – unmittelbare Demokratie der WRV  379 – Varianten  339 – wertgebundene ~  385 Demokratie und wirtschaftlicher Wandel  341

792

Personen- und Sachregister

Demokratie-Artikel  624 Demokratiekonforme Märkte  703 Demonstrationsfreiheit  347, 754, 770 Deutsche Demokratische Republik (DDR)  391 Deutsche Freiheit als föderative Freiheit  562 Deutscher Bundestag, Verfassungs­ debatte  271 Deutscher Einigungsvertrag (1990)  63, 554 Deutscher Juristentag  187 Deutschland  412 – Idealismus  356 – Kulturnation  553 – Staatsrechtslehre  196 Dialog der Union  371 Direktdemokratische Elemente  585 Diskriminierungsverbot gegenüber Behinderten  173 Djibouti, Verf. (1992 / 2007)  109, 482, 667 Dominikanische Republik, Verf. (1962 / 66)  222, 467 Doppelte Staatsbürgerschaft  705 Dreielementelehre  603 Drittwirkung von Grundrechten  322 Due process  34, 156, 628 Ecuador, Verf. (2008)  32, 35, 43, 55, 61, 62, 104, 109, 110, 112, 124, 130, 132, 133, 140, 146, 148, 149, 154, 156, 157, 214, 222, 226, 228, 229, 235, 236, 237, 239, 241, 242, 246, 252, 307, 350, 351, 357, 360, 365, 381, 389, 398, 401, 406, 424, 430, 437, 462, 468, 488, 506, 538, 597, 627, 632, 633, 683 – alte Verf. (1979 / 98)  221, 236, 254, 538 Effektiver Rechtsschutz  406 Effet utile  295 EG-Vertrag  406 Ehe und Familie  175 Eidesklauseln  72, 466, 627

Eigentum  494 f. – durch Arbeit  498, 736 – Sozialbindung  495 Eingeborenen – Kulturen  30, 63, 436, 601 – Sprachen  431 – Völker  235, 241 Einheit der Verfassung  129, 146 Einleitungsliteratur  548 Einparteienstaaten  397 Ein-Partei-Herrschaft  754 Einschätzungsspielraum  295 El Salvador, Verf. (1983 / 91)  221 Elfenbeinküste, Verf. (1995)  683 EMRK  317, 319, 356, 380, 541, 623, 630, 733 – Europarat  115 – Verfassungsrang  97 – Verweise  588 Enquete-Kommissionen  269 Entwicklung – Hilfe  352 – Klauseln  144 – Länder  23, 26, 33, 34, 66, 215, 429, 434, 435 – auf dem Feld des Kultur­verfas­ sungs­rechts  428 – Verfassungsrecht  32 – Zusammenarbeit  200 Entwürfe  463 Erfahrungs-Transfer  737 Erfahrungswissenschaft  63 Erinnerungskultur  5, 56, 154, 214, 336 Erinnerungsorte  770 Ermächtigungsmodell  125 Erweiterter Kulturbegriff  343 Erziehung – als zweite Geburt des Menschen  357 – Demokratieerziehung zur Bürgerschaft  376 – staatsbürgerliche ~  376 – zur pluralistischen Demokratie als Bildungsziel  375



Personen- und Sachregister793

Erziehungsziele  48, 111, 122, 214, 360, 361, 432, 472, 505, 529, 604, 606, 627, 679, 717 – der Toleranz  382, 651 – gemeindeutsche ~  650 – in weltbürgerlicher bzw. völkerrechtlicher Absicht  723 ESM  685 Estado constitucional  226 Estland, Verf. (1992)  58, 65, 167, 237, 293, 390, 467, 469, 471, 506, 571, 627 EuGH siehe Europäischer Gerichtshof Euro-Islam  637, 771 Euroland  98 Europa – Artikel  97, 104, 588, 619, 620, 622, 724 – als gelebte pluralistische Demokratie  419 – als mittelbarer Verfassunggeber  415 – als Mutterland  377 – der Kommunen  419 – der Regionen und Kommunen  420, 591 – der Vaterländer  377 – im engeren und weiteren Sinne  217 – Offenheit  291, 294 – Pluralität  602 – Recht im engeren und weiteren Sinne  96 – und der Föderalismus  564 – Verfassungsrecht – nationales ~  622, 733 – regionales ~  622 Europäische Gemeinschaft  421 Europäische Juristen  318, 604 Europäische Republik der Vielfalt  465 Europäische Sozialcharta  423 Europäische Union  75, 106, 414 – Bürger  377 – Charta der Kommunalen Selbst­ verwaltung (1985)  612, 616

– Grundrechtecharta  368, 404, 425, 480, 617, 619, 623, 665 – Kulturabkommen  61, 373 – Kulturverfassungsrecht  571 – Nationalhymne  439 – Parlament  101 – präföderale Strukturen  193 – Rechtsstaat  218 – Verfassungsentwürfe  414 – Verfassungsgerichte  405 – Verwaltungsrecht  405 Europäischer Gerichtshof  291, 318 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte  291, 406, 633, 711 Europäischer Hochschulraum  376 Europäisches Haus  75 Europäisches Spanien  317, 318 Europäisierung  553 – des Verfassungsstaates  96 Europarat  106, 414 f. – Charta zur kommunalen Selbstverwaltung (1989)  555 – Satzung (1949)  373 Europarechtsfreundlichkeit  291, 328, 330, 676, 749 Europa-Urteile des BVerfG  328 Eurozentrismus  693, 736 EUV  603 – Art. 2  61 – Art. 17 Abs. 1  479 – Art. 19 Abs. 1  406 – Präambel  665, 722 Evolutionsparadigma  27 Ewigkeitsgarantie  155 Ewigkeitsklauseln  35, 62, 113, 133, 155, 258, 259, 262, 348, 686, 694 Experimentier- und Erfahrungsklauseln  94 Fachgerichte  316, 328 Fair hearing  406 Fair Trial / Faires Verfahren  231, 317, 406

794

Personen- und Sachregister

Fall Honecker  580 Familie  512, 742 Federalist Papers (1787)  77, 714 Feiertage  57, 121 f., 167, 679 Feiertagsgarantien  62, 153, 372, 636, 717 Feiertagsziele  366 Fernsehurteil  327 Filmkultur  559 Finalität  421 Finanz- und Steuerreform  755 Finanzausgleich  614 Finanzkrise  113, 488 Finnland, Verf. (1991 / 95 / 99 / 2000)  51, 63, 530, 654 Fiskalpakt  322, 685 Flaggen  5, 56, 62, 74, 108, 122, 178, 372, 606, 608, 675, 679, 717, 769, 770 Föderal- und Regionalstaat  710 Föderalismus  33, 53, 192, 309, 327, 543, 729 – China  756 – fiduziarischer ~  310, 546, 547 – Konzepte  309 – kooperativer ~  90, 309, 546 – Reform  562 – sieben Legitimationsgründe des deutschen ~  563, 615 – unitarischer ~  546 – vergleichende Lehre  576 – Wettbewerb ~  546 Föderalstaat  396, 614, 625 Folterverbot  235, 249, 708 Formvorschriften  257 Frankreich – Menschenrechtserklärung (1789)  77, 137, 151, 153, 249, 350, 433 – Art. 16  393 – Präsidialsystem  401 Frankreich, Verf. (1958 / 2008)  51, 56, 104, 111, 112, 119, 129, 257, 350, 381, 391, 432, 509, 530, 599, 633, 697

Freiheit  421, 748 – aus Kultur  54, 59, 185, 354, 361 – der Rede  754 – Grenzen grundrechtlicher ~  478 – kulturelle ~  43, 354, 367, 554, 611 – öffentliche ~  226 Freiheitlich-demokratische Grund­ ordnung  340, 688 Freizeitverhalten der Bürger  684 Freund / Feind-Denken  598 Frieden – Gebot  678 – Klauseln  157, 722 – Recht auf ~  695 Friedfertigkeit  365 Friedrich-Ebert-Stiftung  198 Friedrich-Naumann-Stiftung  198 Frühwarnsystem  691, 703 Fundamentalismus  711 – islamischer ~  736 Fünf  %-Klausel  83, 382, 737 Fünf Fragenkreise  246 Funktionelle Richtigkeit  315 Funktionenteilung  393 Fürstensouveränität  74 Gabun, Verf. (1991 / 94 / 97)  83, 156, 168, 214, 399, 467, 470, 593 Gambia, Verf. (1973)  58 Gebärdensprache  135 Gedächtnis, kulturelles  67 Gefälligkeitsdemokratie  704 Gegen-Klassiker  78, 79 Geist der Verfassungen  18 Geist-Artikel  131, 154 Geist-Klauseln  63, 65, 109, 128, 146, 166, 370 f. Gemeinafrikanisches Verfassungsrecht  234 Gemeinamerikanische Textbilder  223 Gemeinamerikanisches Verfassungsrecht  30, 212 f., 223, 244



Personen- und Sachregister795

Gemeinarabische Verfassungslehre  238, 768 Gemeinasiatisches Verfassungsrecht  758, 774 Gemeindefreiheit in Europa  555 Gemeineuropäische Grundrechtstheorie  309 Gemeineuropäisches Regionalverfassungsrecht  612 Gemeineuropäisches Verfassungsrecht  30, 42, 97, 212, 218, 234, 302, 733, 768 – Prinzipienstruktur des ~  218 Gemeinislamisches Verfassungsrecht  30, 768, 774 Gemeinlateinamerikanisches Verfassungsrecht  241, 608 Gemeinrecht  167, 416 Gemeinschaftsaufgaben  547 Gemeinverfassungsstaatlich  261 Gemeinwohl  308, 392, 394, 403, 459, 461, 463, 468, 696 – als Ausnahmetitel vor allem im Staatsnotstand  470, 689 – als Direktive für letztlich bürger­ bezogene Staatsaufgaben  469 – als grundrechtslegitimierender Titel  468 – als Kompetenztitel für beratende Gremien  470 – Aspekte  146, 475 – Gerechtigkeit  472 – im Parteienrecht  464 – Interesse  478 – Judikatur  308, 312 – Klauseln  471, 476, 478 – in islamischen Staaten  480 – Texte  482 – Texte im „werdenden“ EU-Verfassungsrecht  479 – Theorie, pluralistische  383 – Typologie  464 – Verständnis, prozessuale, pluralis­ tische  491

Gemischtes Verfassungsverständnis  64, 106, 108, 120, 298, 393, 598, 728 Generalamnestie  737 Generalklausel  485 – des Bürgerlichen Rechts  731 Generationen  354, 507, 512, 513 – Bindungen oder Freistellungen künftiger ~  509 – Gerechtigkeit zwischen den ~  502, 510, 704 – Kultur als Werk von ~  518 – künftige ~  363 – nächste ~  504 – Rentner ~  502 – Schutz  22, 46, 81, 483, 521, 529 – ausdrücklicher ~  503 – immanente Generationenschutzklauseln  506 – Verfassungsrecht  520 – Vertrag  40, 41, 321, 336, 361, 501, 516, 517, 519, 604 – kultureller ~  54 Georgien Verf. (1921 bzw. 95)  32, 66, 112, 133, 147, 293, 351, 368, 387, 390, 396, 467, 495, 505, 536, 661 Gerechtigkeit  30, 308, 368, 425, 448, 472, 757 – als Fairness  628 – Einzelfall ~  629 – Maximen  626 – ökologische ~  628 – Postulat  603 – soziale ~  627 – Steuer ~  628, 756 – Übergang ~  629 Gerichte – Internationale  182, 332, 390, 407 Gerichtsbarkeit  180 – unabhängige  729 Gesamtrevision  253 Gesamtrevisions-Regelungen  252 Gesellschaft – geschlossene ~  264

796

Personen- und Sachregister

– im Übergang  35, 343, 710, 712, 714, 721, 724, 725, 726, 734 – konstitutionelle ~  19 – offene ~  382, 437, 438 – Vertrag  153, 217, 321, 323, 355, 516, 715, 729 Gesellschaftlicher Bereich  388 Gesetz und Recht  423 Gesetzeskonforme Auslegung der Verfassung  315 Gesetzgebung  180 Gesetzgebungsaufträge  93 Gestaltungsmethoden  240 – fünf  255 (Verfassunggebung) Gewährleistung der Rechte  249 Gewaltenbalancierung  391 Gewaltenteilung  21, 78, 153, 294, 341, 388, 390, 420, 424, 545, 710, 751 – als Herzstück jedes Verfassungs­ staates  392 – horizontale ~  389 – im engeren und weiteren Sinne  387, 388 – kulturelle ~  543 – Machtbalance  751 – Mechanismen  695 – Prinzip  390 – Verantwortung  392 – vertikale ~  389, 420, 772 Gewerkschaften  388 Gewissensfreiheit  599 Gipfeltreffen in Rio (1992 / 2012)  103 Glaubensfreiheit  676 Gleichberechtigung  748 Gleichgewicht – institutionelles ~  292 – ökologisches ~  523 Gleichheit  173 Gleichheit aller Menschen  749 Gleichheitssatz  303 Globalisierung  29, 112, 242, 243, 553, 706 – der Märkte  711, 731

Google  210 Gott  771 Gott und Christus als ontologische Vorgegebenheit  630 Gottesbezug  629, 632 – im Verfassungsvertrag der EU  607 Gottesbild  352 Gottesklauseln  645, 646, 676 – offene ~  110 Gottesstaaten  678, 768 Gottes-Texte  633 Göttinger Sieben  175 Gregor d. Gr.  440 Grenzen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes  247 Grenzen des Verfassunggebers  163 Grenzziehungsmodell  125 Griechenland  75, 704 Griechenland, Verf. (1864 bzw. 1925 bzw. 1975 / 86 / 2001)  51, 104, 109, 111, 113, 122, 139, 141, 142, 372, 409, 423, 489, 494, 530, 723 Griechenlandhilfe  322 Großbritannien  389, 454, 602 Großer Lauschangriff  176 Grotius, H.  77 Grundgesetz (1949)  119, 356, 412, 597, 690 – 60 Jahre  167, 202 – als Exportgut  183 – Art. 1 Abs. 2 GG  153 – Art. 3 Abs. 2  94 – Art. 6 Abs. 1  145 – Art. 6 Abs. 5  158 – Art. 19 Abs. 2  685 – Art. 20a  215, 503 – Art. 21  385, 719 – Art. 23  112, 597 – Art. 24  597 – Art. 79 Abs. 3  509 f., 697 – Art. 140  122, 428, 640 – Erfolgsmodell  209 – Kulturstaatsklausel für das ~  208



Personen- und Sachregister797

– Nehmen und Geben  190 – plebiszitäre Defizite  207 – Richtbegriffe aus Art. 29 Abs. 1  612 Grundkonsens  20, 41, 249 – Verfassungsgerichtsbarkeit als Mitarbeit  323, 325 Grundkonsens und Pluralität  155 Grundpflichten    147, 468, 527, 531, 534 Grundrechte  98, 330, 424, 527, 531, 534, 580, 623, 727, 770 – auf Demokratie  347 – Charta  61, 344, 360 – der Dritten Generation  695 – deutsche Lehre  201 – Entwicklungsklauseln  133, 165, 167, 237, 627 – Garantien  558 – Gemeinschaft, Europa als offene ~  293 – justizielle ~  406, 628 – Kultur  64, 603 – kulturelle ~  242, 434 – Leistungsstaat  624 – leistungsstaatliche Seite  491 – Mehrdimensionalität  125 – numerus apertus  143 – Politik  140, 306 – Schranken  467 – Schutz, durch Organisation und Verfahren  158, 330 – Schutzpflichtendimension  191, 676 – Vergleich, gemeineuropäischer  306 – Verständnis, generationenorientiertes  481 – Verwirklichungsklausel  143, 144, 152 – Verwirkung  688 – Wesensgehaltsschutz  461, 685, 694 – Ziele  140 Grundsatzartikel  619 Grundsatzurteile  327 Grundversorgung  327 Grundwerte  126, 469 Grundwertekataloge  248

Grundwerte-Klauseln  48, 128, 130, 153, 239 Grundwerte-Modell  126 Grundwerteseite  252 Guatemala, Verf. (1983 / 85 / 97)  21, 31, 34 f., 57, 61 f., 123, 132, 134, 138, 143, 146, 214, 221, 236, 307, 343, 351, 357, 360, 375, 430, 431, 433, 435, 468, 470, 471, 538, 601, 626, 627, 696, 724, 754, 778 Guinea, Verf. (1990 / 91)  56, 168, 232, 470 f. Guinea-Bissau, Verf. (1993)  63, 109 Gute Regierung (Siena)  409 Habeas Corpus  225 f. – auf Chinesisch  753 Haiti, Verf. (1987)  55, 236, 467 Hauptstadt  55, 62, 630 Hauptstadtartikel  562 Hauptstadtfrage  62 Hauptstadtfunktion  420 Hermeneutik  302 – gemeiniberoamerikanische  315 Herrenchiemsee, Verfassungsentwurf (1948)  59, 152, 171, 337 Herrschaft auf Zeit  54, 70, 72, 157 Herrschaft des Rechts  394, 750 Hesse, K.  604, 739 Hochkultur  417 Hochsprache  602 Homo politicus  418 Homogenitätsklauseln  239 – kleine  614 Honduras, Verf. (1982 / 87 / 91 / 94 / 95)  214, 222, 226, 236, 472 Honduras, Wahrheitskommission  765 Hongkong, Grundgesetz (1990)  57 Humanität  115, 361, 774 Hymne  74, 108, 122, 372 – Deutschlands  454 – Verfassungshymne  454 – verfassungsimmanente ~  454 Hymnenartikel  454

798

Personen- und Sachregister

Iberoamerikanische Mutterländer  230 Identität  65 – aus Kultur  574 – europäische ~  60, 67, 101, 225, 602 – kulturelle ~  59 ff., 435 – nationale ~  52, 294 – panamerikanische ~  225 – Politik  67 Identitäts-Artikel  154 Identitätsgarantien – Ewigkeitsklauseln als ~  259 – verfassungsstaatliche ~  686 Identitätsklauseln, 570, 617 – kulturelle ~  236, 429 – multiethnische ~  61 – offene (erklärte) ~  62 – verdeckte ~  62 Illinois (1970)  573 Im-Geist-Formel  222 Indien, Verf. (1949)  467, 572 Indogene Kulturrituale  607 Indonesien, Verf. (1945)  630 Informationsfreiheit  174 Integration der Wirklichkeit  86 Integrationskraft  113 Integrationslehre  598 Integrationstheorie (Smend, R.)  630, 682 Internationaler Strafgerichtshof  296 Internet  331 – Missbrauch und Pornographie  704 – Öffentlichkeit  43 f. Interpretationsbegriff  265 Interpretationsregeln  35 – grundrechtliche ~  255 Interpretationsspielräume, offene  447 Invocatio dei  632 Irak, Verf. (2005)  345, 463, 467, 671 Iran, Verf. (1979 / 89)  670 Irland, Verf. (1937 / 87 / 92 / 2004)  51, 56, 257, 372, 472, 626, 630, 631, 652, 722

– Amtseid des Präsidenten  130 – Einheit  701 – Nein zum Lissabon-Vertrag  168 Islam  633, 640, 671, 777 – als Staatsreligion  670 – Wissenschaft  674 Islamische Menschenrechtserklärungen  770 Islamische Staaten  705 Island, Verf. (1944)  420 Israel, Unabhängigkeitserklärung (1948)  67 Italien  767 – Kulturgeschichte  418 Italien, Verf. (1947 / 2003)  56, 77, 92, 104, 139, 144, 152, 154, 168, 350, 359, 406, 423, 467, 494, 506, 569, 599, 652, 722 Jahwe  771 Japan  743 Japan, Verf. (1946)  104, 153, 399, 469, 471, 722 Jasmin-Revolution  760 Jellinek, G.  603 Jemen  760, 764, 766 Jemen, Verf. (1991 / 94)  667 Jordanien  763, 768 Jordanien, Verf. (1952 / 84)  482, 666 Judicial activism  325, 406, 710 Judicial restraint  325, 406, 710 Jugendarbeitslosigkeit  499 Juristisches Handwerkszeug  214 Jus americanum publicum  230 Jus commune americanum  211 Jus publicum europaeum  230 Kambodscha, Verf. (1993 / 99)  35, 157, 399, 630, 672 – als Königreich  261 Kanada – multinationales ~  772 – Verf. (1981)  132, 153, 572



Personen- und Sachregister799

Kantonsverfassungen Schweiz  96, 115, 123, 147, 154, 159, 215, 247, 257, 410, 423, 525, 622, 627, 632, 636, 687, 696, 723 Karibik  220 Kasachstan, Verf. (1995)  92 Kästchendenken  309 Katalonien  317 Kategorischer Imperativ  153 Kelsen-Verfassung  577 Kenia, Verf. (2010)  43, 55, 63, 141, 145, 148, 231, 241, 257, 262, 347, 351, 381, 383, 386, 389, 398, 400, 402, 404, 406, 430, 438, 456, 462, 467, 539, 597, 626, 627, 629, 676, 681, 683, 686, 693 Kerneuropa  98 Kinder – Anwälte  389 – Artikel  582 – Rechte  21, 158, 231, 694, 708 – Schutzartikel  389 – Schutzkonvention  251 Kinderfreundliche Gesellschaft  582 Kirchen  371, 439 Kirchliches Eigentum  648 Klassiker  446 – Gegenklassiker  383, 510 – junge ~  195 Klassikertexte  18, 20, 77, 78, 80, 105, 158, 215, 255, 309, 361, 363, 367, 387, 391, 438, 484, 543, 603, 634, 692, 711, 716 – zur Demokratie  379 Klassische vier Auslegungsmethoden  301, 604 – Sinn und Zweck  302 Klassisches Grundrecht  145 Klauseln zur Mitverantwortung für die Welt  729 Kleinstaaten  23 ff., 47, 693 Knappheit in Sachen Umwelt  706 Kolumbien, Verf. (1991 / 96)  62, 112, 221, 226, 350, 467, 538 – Konstitutionalisierung  48

Kommende Generationen  152 Kommissionspräsident  76 Kommunale Selbstverwaltung  180, 408, 417, 421, 625 – als ein Stück der Freiheit  417 Kommunales Kulturverfassungsrecht  417, 428 Kommunalpartnerschaften  732 Kommunalrecht, kooperatives  411 Kommunistische Partei Chinas  752 Komoren, Verf. (1992)  481 Kompetenzverständnis  314 – positives ~  288 Kompromiss zwischen Gegenwart und Zukunft  241 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit (1975)  102 Konfuzius  779 – Institute  741 Kongo, Verf. (1992 bzw. 2005)  109, 155, 157, 163, 232, 233 Konkordanzformel  477 Konrad Adenauer-Stiftung  198 Konsens  286 Konsensquellen, irrationale  72 Konstitutionalisierung des Völkerrechts  106, 465 Konstitutionalismus  464 – afrikanischer ~  231 – brasilianischer ~  6, 604 – chinesischer ~  744 – lateinamerikanischer ~  25 – Mehrebenenkonstitutionalismus  708 – mexikanischer ~  243 – universaler ~  32, 50, 68, 99, 119, 156, 209, 220, 239, 320, 332, 386, 391, 393, 483, 521, 528, 682, 707 f. – Verfassungsgerichtsbarkeit als Strukturelement des universalen ~  332 Konstitutionelle – Erbe Europas  769 – Europa  366 – Gemeinwohlrecht  156

800

Personen- und Sachregister

– Komparatistik  320 – Legaldefinitionen  128 Konstruktives Misstrauensvotum  180 Konsultative Volksbefragung  625 Kontext  147, 320, 452, 714, 717 – abhängiger Begriff  483 – der Staatsaufgaben  239 – Klauseln  120 – Kon-Text  496 – kultureller ~  214, 602 – Lateinamerikanischer ~  218 – Sensibilität  149 – Theorie  109 – These  320, 742 Kontingenz  81, 116, 249, 251, 363, 604 Kooperationsartikel  725 Kooperationsverfassungsrecht  36, 102 Kooperativer Verfassungsstaat  18, 50, 54, 73, 100, 105, 158, 164, 196, 211, 226, 241, 248, 260, 306, 321, 341, 349, 393, 433, 443, 493, 516, 530, 539 f., 583, 603, 613, 622, 632, 693, 698, 712, 720, 722, 724, 729, 736, 777 Koran  604, 670 – Vorrang  777 Kosovo, Verf. (2008), 24, 32, 55, 110, 130, 141, 142, 145, 148, 151, 153, 158, 234, 262, 299, 307, 316, 318, 358, 398, 401, 406, 415, 428, 438, 456, 467, 536, 571, 597, 663, 686, 696 Kriegszeiten  258 Krise – der Arbeitsgesellschaft  497 – des Kapitalismus  485 Kritischer Rationalismus  85, 700 f. Kroatien, Verf. (1991)  58, 66, 368, 473, 571, 695 KSZE  102 Kultur  213, 215, 357, 417, 421 – als Staatsziel im GG  552 – als viertes Staatselement  41, 46, 603

– als zweite Schöpfung  357, 603 – Alternativ- bzw. Subkulturen    63, 601 – Artikel, europäischer  564 – der Freiheit  346, 611, 673, 749 – der Menschenwürde  346 – der Toleranz  382, 627, 678 – des Friedens  61 – Eingeborenen ~  30, 63, 436, 601 – Erbe  418 – Föderalismus  602 – Förderungsgesetze Österreichs  303 – Freiheitsgarantie, offene  266 – Geschichte Italiens  418 – Gespräch  714 – Güter der Menschheit  65 – Güterschutz  336, 706 – nationaler ~  429 – Hauptstadt  66 – europäische ~  408, 419 – Hochkultur  600 – Identität aus ~  574 – Kammer  566 – Kontextualität von ~  512, 599 – Konzept – offenes ~  28, 343, 426, 436 f., 545 – pluralistisches ~  63, 343, 367 – Kulturkreis-Problem  736 – Landschaften  52, 60 – Nation  214 – Deutschland  553 – Politik in der Stadt  417 – politische ~  440 – Recht  357, 438 – Regionalismus  214 – Revolution  743 – Staat  392, 403, 426, 512 – Staatsklauseln, allgemeine  427, 434 – Standort Deutschland  730 – Verfassungsrecht  82, 364, 426 – Entwicklungsländer  428 – europäisches ~  571 – im Bundesstaat Deutschland  548 – in Föderalstaaten in Übersee  572



Personen- und Sachregister801

– in Regionalstaaten Europas  568 – korporatives ~  428 – objektiv-institutionelles ~  428 – Verwaltungsrecht  426 – Volkskultur  600 – Wissenschaft  91, 304 f., 550 – Verfassungstheorie des globalen Marktes  730 – zurück zur ~  511 – Zustand  251, 342 Kulturelle – Bedingungen  201 – Eigenheiten  61 – Erbe  18, 20, 60, 365, 507, 683, 717 – Identitätselemente  608 – Kontexte  307, 766, 768 – Patrimonium  132 – Tiefendimension  147 – Verfassungsvergleichung  758 – Wachstumsprozesse  68 Kulturelles-Erbe-Klauseln  127, 131, 146, 154, 236, 242, 373, 429, 507, 540, 561, 696 – europäische ~  61 – in Entwicklungsländern  696 – nationale ~  61 Künftige Generationen  363, 619 Kunst- und Kulturbegriff  417 – erweiterter ~  417 Kunstfreiheit  174 Kuwait, Verf. (1962 / 80)  481, 482, 666 KwaZulu Natal, Verf. (1996)  58, 92, 118, 129, 254, 318, 320, 573, 699 Landesverfassungen Deutschlands  28, 41, 48 f., 53, 58, 62 f., 65, 83, 92, 111, 122, 124, 129 f., 137, 327, 368, 428, 469, 473, 528, 555, 622, 630 f., 687, 723 Landesverfassungen Ostdeutschlands  716 Landesverfassungen Österreichs  127, 137, 475, 565, 578, 622, 654

Landminen  706 Lateinamerika  118, 219, 222, 317, 358, 364, 365, 390, 538 Lateinamerika-Artikel  724 Lateinamerikanisches Verfassungsrecht  238 Law in action  163 – law in public action  274, 296 Lectio Aurea  738 Legitimation, demokratietheoretische Überlegungen als ~  277 Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt 2007  419 Leistungen des Demokratieprinzips  340 Lettland, Verf. (1922)  51, 61, 467, 534 Letztinterpreten  306 Libanon, Verf. (1926 / 90)  666 Liberia, Verf. (1983)  40, 62, 468 Libyen  352, 683, 761, 764, 769 Liechtenstein  70 f., 467, 470, 604 – Verf. (1921)  55 Lissabon-Urteil  328 Lissabon-Vertrag (2007)  572, 602, 665 Litauen, Verf. (1992)  66, 217, 368, 472, 534, 571 Literaturgattung Dissertation  735 Locke, J.  244 Lüth-Urteil  131, 191, 196, 327 Luxemburg, Großherzogtum  506 – Verf. (1868 / 2008)  139, 381, 397, 511, 599 Madagaskar, Verf. (1992 / 95), 45, 124, 399, 422, 669, 683, 686, 693 Madeira  613 Mai, 1.  680 Malaŵi, Verf. (1994)  110, 231, 243, 307, 318 f., 471 Mali, Verf. (1992)  62, 105, 112, 467, 471, 474, 627, 686, 690, 696 Malta, Verf. (1964 / 92)  112, 166 Manifest von Ventotene  619, 623

802

Personen- und Sachregister

Marbury vs. Madison (1803)  324 Mare nostrum constitutionale  39, 763 Markt  37, 187, 711, 712 Marktpropheten  696 Marktwirtschaft  79, 501 – ökologische ~  494, 499, 712, 731 – soziale ~  113, 494, 499, 711 Marokko  768, 776 Marseillaise  452, 455 Marxismus-Leninismus  391, 720 Massachusetts (1780)  573 Massenmedien  398 Mauerschützen  407 Mazedonien, Verf. (1991)  51, 58, 61, 252, 262, 368, 390, 404, 422, 535, 571, 657, 695 Mediation  705 Medienfreiheit  345 Mehrfachrezeption  718 Mehrheitsprinzip  383 Meinung, öffentliche ~  284 Mendes, G.  607 Mensch als Mitmensch  336 Menschenbild  32, 352, 493 – gedämpft optimistisches ~  701 Menschenbildjudikatur  335 Menschenpflichten  704 Menschenrecht – Auslegungsmaximen der Kataloge  709 – Erziehung  375 – Fragen  242 – Freundliche Auslegung des GG  315 – Freundlichkeit  291, 357 – Konforme Auslegung der Grund­ rechte  358 – für Kinder  694 – Konvention – amerikanische ~  224, 356 – europäische ~  44 – Menschheitstext  758 – Pakte

– der UN von 1966 / 76  182, 319, 708, 749 – regionale und internationale ~  144 – Texte – interamerikanische ~  225 – nationale ~  225 – universale ~  624 – Würde  18, 39, 152, 172, 345, 363, 623, 746, 750 – als kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates  333, 348, 603, 728 – Dank des Kulturzustands  342 – Demokratie als organisatorische Konsequenz der ~  226, 339, 348 – Grundsätze  450 – im Du-Bezug und im Generationen­ verbund  335, 336 – im kulturellen Wandel  336 – Maßgabegrundrecht auf Demokratie  331, 346 – und demokratische Teilhabe  331, 336 Menschenrecht auf Erziehung  225 Menschenrechte  43, 98, 190, 339, 345, 381, 597, 623, 722, 728, 748, 752 – Allgemeine Erklärung der UN (1948)  32, 77, 374, 433, 436, 722 – als Erziehungsziele  351, 360 – Interpretationsmaximen  148 – Kairoer Erklärung der (1990)  359 Mercosur  102, 212, 224, 608, 734 Methodenlehre – Desiderat einer europäischen  294 – gemeinamerikanische ~  228 Mexiko, Verf. (1917 / 97)  235, 237, 343, 471, 697 Mexiko, Verfassungspolitik  240 Militärische Verteidigung  404 Minarettverbot  633 Minderheiten  323 – als staatsbildende Faktoren  34 – ethnischer Minderheitenschutz  611, 729



Personen- und Sachregister803

– kulturelle ~  53, 218 – Schutz  52, 61, 111, 115, 227, 345, 383, 749 Minderheitsvoten  265, 268 Mitbestimmung  322 Mitbürger, Arbeiter wird zum ~  498 Mit-Eigentümer  498 Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn  363 Mittelamerika  220 – Klauseln  225 Mittelbare Drittwirkung  191, 324 Möglichkeitsdenken  80, 82, 88, 361, 698 Moldau, Verf. (1994)  368, 469, 495, 536, 571, 660 Monarchen, skandinavische  399 Monarchie  400, 768, 776 – föderative ~  74 – konstitutionelle ~  73 – parlamentarische ~  250 Monarchisches Prinzip  71 Mongolei, Verf. (1992)  124, 130, 152, 386, 454, 627, 672, 750 Montenegro, Verf. (1992 / 97)  21, 61, 217, 495, 571, 659 Mosaiksteine der Erinnerungskultur  769 Mosambik  470 Multiethnizität  234 Multikulturalität  223, 234 Multikulturelle Geschichte  618 Multikulturelles Erbe  431 Multinationale Hilfe  775 Musik  446 – und Literatur  448 – und Recht  439, 457 ff. – Wissenschaften  602 Muttersprache  66 Myanmar (Burma), Verf. (2008)  159, 160, 338, 627, 631, 690 Nabucco  602 Nachhaltigkeit  522, 620

– als werdendes Strukturelement des Verfassungsstaates  540 – gemeineuropäische ~  541 Nachtragsliteratur  548 Nachwelt  528 Namibia, Verf. (1990)  57 f., 110, 121, 129 f., 166, 467, 721, 726 Nationale Hilfe  775 Nationales Amerika-Verfassungsrecht  220 Nationales Europaverfassungsrecht  97, 112, 162, 220 Nationalfarben  122 Nationalflaggen siehe Flaggen Nationalhymnen  5, 57, 74, 444 f., 602, 675, 679, 717, 769 f. – als emotionale Konsensquellen  602 – als Zitat  451 – Deutschlands  454 – europäische ~  439 – geheime ~  449 – postkonstitutionelle ~  455 – präkonstitutionelle ~  455 Nationalstaat  432 Nationalsymbole  675 Nationaltage  681 NATO-Staaten  775 Natur – Katastrophen  690 – Kontextualität von ~  512 – und Umwelt  185 – Zurück zur ~  511 Natur- und Kulturzustand  163 Naturrecht  106, 448 Nauru, Verf. (1968)  24, 74, 124, 630 ne bis in idem  406 Nelkenrevolution  170 Nepal, Verf. (1990 / 2006 / 07)  112, 672, 726 Neue deutsche Bundesländer  504 Neue Lex Mercatoria  708 Neues Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat Deutschland  559

804

Personen- und Sachregister

Neues Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat Schweiz  557 Neues Kulturverfassungsrecht in den fünf neuen Bundesländern  560 Neueste islamische Verfassungen  482 Neugliederung  49, 51 Neutralitätsprinzip  111 NGOs  44, 296, 565, 710, 775 Nicaragua, Verf. (1986), 58, 105, 112, 161, 221, 235, 236, 237 Niederlande, Verf. (1983)  43, 70, 122, 127, 136, 139, 424, 530 Niger – alte Verf. (1960)  105 – Verf. (1966)  55, 56 – Verf. (1990 / 92 / 96)  61, 109, 131, 232, 358, 386, 422, 469, 474, 494, 602 Nordeuropäische Verfassungen  651 Nordirland  389, 697 Normative Kraft der Verfassung  109, 604 Normierung des politisch Wichtigen  254 Norwegen  697 Notwendigkeitsdenken  80, 86, 88 Nulla poena sine lege  217 Numerus clausus  327 OAS (1967)  429, 437 Objektformel (Dürig, G.)  335, 346 Offene Gesellschaft freier Verfassungsinterpreten  361, 440, 447, 485, 692, 716, 717 Offene Staatlichkeit  729 Offener Kunstbegriff  601 Offenheit der Ordnung  341 Offenheit der Verfassung  154 Öffentliche Hearings  326, 327, 599 Öffentliches Eigentum  752 Öffentlichkeit  311, 398, 425 – als mittelbarer Verfassunggeber  21 – amerikanische ~  228 – arabische ~  99

– Arbeit  113 – der Bundesregierung  310 – demokratisches Prinzip  384 – der Verfassung  384, 396 – der Verwaltung  21, 404, 754 – europäische ~  42, 64, 292, 339 – Internet ~  43, 44 – Kontrolle der ~  282 – kulturelle ~  64 – normierende Kraft der ~  282 – pluralistische ~  269, 275, 281 f., 404 Öffentlich-rechtliches Fernsehen  324 Ökonomischer Wohlstand  343 Ökonomisches Existenzminimum, Garantie des ~  386, 426 Ombudsmann  30, 231, 695 Oper  442 Opposition  340 Oppositionsprinzip  381 Oratorium  442 – Weihnacht ~  447 Organisation des Übergangs  765 Organisationsstatut  125 Organkonstituierung  393 Orientierungswerte  360, 363, 365 Ostblock  730 Ostdeutsche Länder  370, 646 Österreich  566 – Gliedstaaten in ~  505 – Konvent  567, 575, 707, 772 Österreich BV-G (1920)  56, 126, 257, 380 Osteuropa  324, 696 Osteuropäische Reformstaaten  570 OSZE  541 Ouvertüre  602 Palau, Verf. (1979)  24, 55 Panama, Verf. (1972 / 94)  235 f., 471 f. Paraguay, Verf. (1992)  105, 140, 142, 235, 237, 347 Parlament  395



Personen- und Sachregister805

– Album  170 – Reformen  396 – Vorbehalt  48, 405, 749 Parlamentarische Demokratie  192 Parteien  178, 400, 773 – Artikel  773 – Finanzierung  83, 379 – Verbotsverfahren  381 Partikularität  6, 34, 53, 61 f., 64, 164, 218, 372, 680, 710 Partizipationsrecht, demokratisches  285 Paulskirchenverfassung (1849)  77, 412 Personalisierung  270 Person-Sein  334 Peru, Verf. (1979 bzw. 93)  65, 120, 143, 214, 222, 229, 236, 237, 307, 350 f., 360, 375, 388, 430, 433, 435, 437, 626 f., 724, 726, 754, 778 – Entwurf (2001 / 02)  235, 237 Petitionsrecht  176 Philippinen, Verf. (1986)  153, 155, 257, 386, 401, 454, 473, 539, 627, 630 Pluralgruppen  485 Pluralismus  65, 85, 382 f. – Artikel  22, 156, 157, 436, 604, 694 – Konzept  310 – kultureller Trägerpluralismus  65, 436, 545, 565, 609 – politischer ~  382, 466 – territorialer ~  543 Pluralistische Demokratie, als organisatorische Konsequenz  728 Pluralität und Vielfalt  614 Polen, Verf. (1997)  55, 61, 110, 113, 124, 132, 152, 192, 248, 319, 359, 368, 386, 390 f., 394, 396, 397, 402, 404 ff., 422, 456, 467, 505, 534, 552, 570, 602, 627, 633, 661, 676, 683, 685, 693 f., 696, 731, 747, 771 Politiker  197 Portugal Verf. (1976 / 92)  31, 43, 51, 61 ff., 77, 105, 109, 122, 132 f., 135,

140, 142, 146, 156, 170, 229, 243, 252, 257, 262, 307, 338, 348, 359, 368, 373, 398, 423, 488, 494, 506, 530, 531, 555, 593, 597, 610, 653, 686, 696, 697 – kulturgeschichtliche Deutung  594 – Solidarität zwischen allen Portu­ giesen  613 Präambel  72, 110, 141, 154, 262, 428, 456, 477, 530, 534, 578, 602, 606, 617, 618, 628 f., 720, 745, 746, 771 – als Grundlegung und Bekenntnis  629 – Analyse  526 – Element  535 – Feiertagssprache und -kultur  123 – Generationenorientierte ~  92 – Gottesbezug  172, 642, 676 – Inhalte  121 – Kunst  617 – Lateinamerikanische Einheit  238 – Wiedervereinigungsauftrag  172 Praktische Konkordanz  196, 314 Präsidialsystem  401 Primat des Rechts  424 Prinzip der verfassungskonformen Auslegung  314 Prinzip Gewaltenteilung  390 Prinzip Hoffnung  22, 114, 701, 707, 778 Prinzip Verantwortung  22, 77, 114, 195, 215, 370, 701, 707, 778 Prinzipiencharakter des Rechts  416 Prinzipien-Normen  132 Privatautonomie  227, 316, 465 Privatentwürfe  739, 742 Privatheitsschutz  42 ff., 384, 490 Privatisierung  403 Privatrecht  315, 388 – deutsches ~  188 Privatrechtsordnung  628 Problemkatalog  246 Produktions- und Rezeptionsvorgang  90, 603, 717 f.

806

Personen- und Sachregister

– kulturelle Aneignung  718 – Mehrfachrezeption  718 – Zusammenhänge  38 Programme politischer Parteien  119, 510 Programmmusik Projekt Verfassungsstaat  728 Prospektives Sondervotum  108 Publizität der Normen  56 Qatar  765 – Prov. GG (1970 / 75)  481, 666 Radbruch’sche Formel  29, 178, 629 Ratingagenturen  113, 300 Ratio und Emotio  153 Rechnungshöfe  389, 394 Recht  448, 457 – auf Arbeit  169 – auf Frieden  695 – auf sichere und hygienische Arbeitsbedingungen  495 – Gespräch  331 – Import  711 – Interpretatorische Findung  219 – Kreise  226 – Kultur  26, 166, 230, 343, 406, 462 f., 602 – europäische ~  218, 462, 629 – nationale ~  417, 473 – universale ~  6, 235 – Ordnung, Einheit  429 – Quellen – Artikel  483 – Europäisierung der ~  293 – Katalog  719 – Neue ~  165 – numerus apertus  294 – Probleme  163 – Schutz  55, 85, 98, 604 – Garantie des ~  424 – Sicherheit  425 – Sprechung  405

– Unabhängigkeit der ~  218 – Staatlichkeit  218 – Staatsdialog  743 – Staatsprinzip  178, 199, 226, 317, 329, 424 f., 709 – deutsches ~  194, 424 – Texte  255 – Vergleichung  291 – als fünfte Auslegungsmethode  64, 90, 215 f., 219, 294, 301, 303, 307, 315, 318, 320, 329, 359, 604, 709, 715, 742 – als Kulturvergleichung  318, 320 – als universale Interpretations­ methode  305, 710 – Defizit an ~  329 – horizontale in der Zeit  88, 301 – in weltbürgerlicher Absicht  692 – raumzeitliche ~  393 – schöpferische Kraft der ~  217 – Verfassungsgeschichte  88 – vertikale im Raum  89, 301 – wertende ~  318 Rechtschreibreform  705 Reformbedürfnisse im Verfassungsstaat  692 Reformstaaten  728 Reformverfassungen, osteuropäische  534 Regenbogenpresse  75 Regierung  401 Regietheater  446 Regime der Wahrheit  155 Regime of truth  364 Regionalismus  53, 192, 543, 602, 611, 614, 729 – aus Kultur  655 – differenzierter ~  551, 756 – jüngerer, eigenwüchsiger Bruder ~  729 – kooperativer ~  90, 614, 757 – offener ~  569 f., 615 – Treue  614



Personen- und Sachregister807

Regionalismusrecht  317 – gemeineuropäisches ~  533 – konstitutionelles ~  193, 616 Regionalistic Papers  66 Regionalstatute  149, 193 – als kleine Verfassungen  625, 772 Regionalstatute Italien  112, 149, 409, 530, 532, 616 ff., 622 f., 654, 772 Regionalstatute Spanien  104, 149, 530, 532, 772 Rehabilitation der Ungerechtigkeiten  757 Reichsgründungsfeiertag Deutschland (1871)  593 Religion civile  630 Religionsfreiheit  44, 169, 218, 646, 676, 754 Religionsfreundlichkeit  17, 25, 41, 81, 111, 238, 427, 641, 673, 769, 776 – des Verfassungsstaates  641, 675, 678 Religionsgemeinschaften  644 Religionsverfassungsrecht  26, 29, 197, 398, 427, 629, 633, 635, 639, 641, 749 – als spezielles Kulturverfassungsrecht  648 – europäisches ~  637, 640 – freiheitliches ~  645 – gemeindeutscher Bestand  651 – offenes ~  111, 668, 771 – Themen- und Problemliste  636 – Wissenschaft des  674 Republik  68, 250 – als Nichtmonarchie  68 Republikanisches Integrationsmodell  366 Republikverständnis, materiales  69 Res publica  749 Resistenza  618 Rezeption  195, 201, 549, 707, 741 Rezeption – Forum  719 – im Kontext  203

– Klauseln  125, 144, 146 – Mittler  196, 200, 718, 732 – Prozesse  717, 768 – kulturelle ~  254 – Tableau  735 – Wege  735 – Zusammenhänge  25 Richterliches Prüfungsrecht  425 Richterrecht  29 Richterwahl  322, 326 Richtgrößen  611 Richtigkeit, funktionelle  288 Ring-Parabel / Nathan der Weise (G. Lessing)  657, 674 Risorgimento  621 Ruanda, Verf. (1996 bzw. 2003)  44, 130, 232, 467 Rückwirkung von Gesetzen  471 Rule of law  21, 153, 161, 348, 422, 424 Rumänien, Verf. (1991)  49, 58, 61, 63, 571, 627, 695, 707 Runder Tisch  40, 67, 78, 79, 183, 602, 769 – als neuer Gesellschaftsvertrag  604 Russland  730 Russland, Verf. (1993)  57, 386, 399, 505, 535, 627, 660 Rütlischwur  40 Sao Tomé und Princípe  380 Sáo Tomé und Princípe, Verf. (1990)  61, 380, 539 Saudi-Arabien, Verf. (1992)  668 Scharia  146, 475, 667 – Vorrang  166, 777 Schießbefehl  391 Schlanker Staat  703 Schottland  47, 389, 697 Schuld  317 Schuldenbremse  36, 113, 519, 778 Schule der Verfassung  362 Schulwesen  175

808

Personen- und Sachregister

Schutz der Multiethnien  610 Schutz vor Machtmissbrauch  341 Schutzpflichten  143 Schutzpflichtendimension  191, 677 Schutzpflichttheorie  309 Schutzverantwortung  352 Schweden, Verf. (1809 / 74 / 75 / 76 / 2003)  104, 381, 489, 530 f., 555, 653 Schweiz  379, 476, 641 – Bundesverfassung (1848 bzw. 1874)  77, 126, 469, 489 – kantonales Religionsverfassungsrecht  641 – Konkordanzdemokratie  729 – „nachzuführende“ Bundesverfassung (1995 / 99)  96, 723 – neues Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat Schweiz  557 – Totalrevision (1977)  559 – Verfassungsentwurf von Kölz / Müller (1984)  159 – Werkstatt  641, 742 Schweiz, (Verf.)  (nBV 1999)  29, 92, 110, 115, 140, 241, 381, 410, 412, 504, 525, 541, 552 Schweizer Privatrechtslehre  306 Schweizer Psalm  446 Schwellenländer  25 f., 343, 718 Sechs Elemente  462 SED-Diktatur  210 Seerechtsübereinkommen  251, 296 f. Selbstverständnis  267, 631, 637 Senegal, Verf. (1963 / 92 / 2001)  44, 62, 150, 232, 355, 358, 364, 380 f., 467, 470, 473, 668, 696 Separative federalism  309 Serbien, Verf. (2006)  21, 32, 51, 55, 63, 110, 111, 130, 158, 318, 351, 358, 360, 382, 385, 400, 404 ff., 425, 467, 571, 602, 690 Sierra Leone, Verf. (1991)  58 Simson, W. von  54, 739 Sinn-Argument  302 Sklaverei  607

Slowakei, Slowakische Rep.,Verf. (1992)  58, 61, 368, 507, 534, 570, 571, 659 Slowenien Verf. (1991)  21, 57, 61, 404, 495, 506, 534, 571 Smend, R. 126, 147, 630, 682 Soft law  223, 368 Solidarität  60, 67 f., 496, 583 Somalia  483 Sondervoten  384 – Alternativjudikatur  93 – spanische Verfassung  93 – verfassungsrichterliche ~  84, 87, 93, 108, 312, 329, 331, 473, 721 Sonn- und Feiertagsrecht  648 Sonn- und Feiertagsschutz  470 Sonntage und Sonntagskultur  679, 684 – Angebotscharakter  684 Sorben  561 Sorge-Klauseln  139 Souveräner Nationalstaat  103 Soziale Marktwirtschaft  300, 485, 730 Sozialer Rechtsstaat  129, 422, 423, 729 Sozialhilfeanspruch  343 Sozialstaatsprinzip  425 f. Sozialziele  477 Spanien  602, 733 – Arabisches ~  767 – Autonomien  611 – Europäisches ~  317 f. – Katalonien und Andalusien  533 Spanien, Verf. (1978 / 92)  35, 38, 43, 51, 61 ff., 92, 105, 122, 130 f., 141, 143 f., 152, 156, 230, 252, 257, 307, 350 f., 358, 368, 398, 405, 467, 488 f., 492, 530, 531, 568, 626, 683, 694, 721, 723 Spanisches Commonwealth  105 Sprache und Musik  457 Sprachen  122 Sprachen-Artikel  62, 431 Sprachliche Vielfalt  121



Personen- und Sachregister809

Staat – Angehörigkeit – Aufgabenkatalog     394, 411, 459, 477, 558 – Menschenrecht auf ~  116 – Aufgabenlehre  49 – Bild  352 – Elementenlehre  46 – Form, gemischte  70 – Gebiet  46 ff. – Konstitutionalisierung  48 – Gewalt  388 – Haftung  425 – Kirchenrecht  427, 636, 675 – Leistungen an die Kirchen  636, 674 – Notstand  689 – Oberhaupt  399, 404 – Präsident  399 – Wiederwahl des ~  341 – Praxis  265 – Räson  88 – Rechtslehrer  197 – religiös-weltanschauliche Neutralität  677 – Symbole  46, 55, 58 f., 161, 400, 682, 683 – und Markt  719 – Verschuldung  181 – Ziel  477, 530, 534, 558, 561 – Generationenschutz als ~  535 – Zielbestimmungen  135, 475 – Zielekommission  552 – Zwecke  477 Staaten Westafrikas  232 Staatenverbund der EU  102 Stabilitätsfaktoren und Innovationen  768 Stadtentwicklungspolitik  610 Stadtpolitik  609 Stadtrepubliken Oberitaliens  408 status activus politicus  376 status activus processualis (1972)  158, 309, 330

status civilis  355 status civilis als status culturalis  357 status corporativus  398, 677 status mundialis hominis  355 status naturalis  717 Steuerreform, ökologische  705 Stimmungsdemokratie  340 Stolleis, M.  89 Straf- und Privatrecht  227 Strafrecht  316 f. Strafrechtspflege  317 Strategeme  745 Streik  748 Streitkräfte  252, 752 Struktursicherungsklausel  546 Stückwerkreformen  240, 701 Stückwerktechnik  753 Subjekt  246 – der verfassungsändernden Kompetenz  257 Subsidiarität  420, 583, 621 – Denken  706 – Prinzip  111, 619 Südafrika – Übergangsverfassung (1993 / 94–97)  687, 727 – Verf. (1996 bzw. 2007)  112, 130, 148, 166, 231, 241, 243, 254, 262, 307, 316, 318 f., 332, 347, 351, 358, 389, 397, 400 ff., 405, 467, 505, 555, 572, 573, 626 f., 630, 687, 690, 693, 694, 710, 713, 723, 747, 771 – Wahrheitskommission  766 Sudan, Verf. (1998)  463, 483 Südkorea, Verf. (1980 bzw. 87)  626, 719, 720, 734 – Erfahrungs-Transfer  737 – Fallbeispiel Südkorea / Deutschland  736 Südostasien-Artikel  734 Supreme Court (Brasilien)  326, 610 – als Teil der Zivilgesellschaft  326 – öffentliche Hearings  326

810

Personen- und Sachregister

Symbol-Artikel  129, 207, 231, 579, 596 Syrien  761, 762 Syrien, Verf. (1972 / 73)  481, 667 Taiwan  743 – Verf. (1991)  467, 468, 740 Techniken, neue  704 Teil- und Totalrevision  155 Teilhaberechte  142 Teilöffentlichkeit  228 Teilrevision  253, 751 – in Venezuela  162 Teilung der Gewalten  390 Teilverfassungen  107, 297, 603, 707 ff. – des Völkerrechts  6, 23, 91, 98, 117, 200, 251, 302, 358, 375, 574, 596, 708, 729 – im Europarat  106, 243 – in der EU  106, 111, 217, 243, 293, 314 – nationale ~  6, 574, 708 – UN-Menschenrechtspakte  319, 708 – Weltkulturverfassungsrecht als ~  706 – werdende ~ in Europa  733 Texas (1876)  573 Text-Kontext  414 Textstufen  61, 119, 209, 319, 470, 493, 507, 589, 693, 694 – Analyse  231, 234, 455, 525, 721 – Arbeit  414 – Entwicklung  103, 117, 248, 349 – in österreichischen Landesverfassungen  574 – Paradigma  22, 31, 216, 225, 343, 693, 715 f., 718, 742 – Vergleich  119 – Vorgang  18, 43, 56 ff. Thailand, Verf. (1997)  93, 112, 155, 196, 312, 384, 399, 473, 626, 672 Theorierahmen  416 Tibet  740 f., 743 – Fahne  743

Tiere  511, 620 Tierschutz  529, 557 Togo, Verf. (1992)  124, 233, 386, 399, 400, 669 Toleranz  19, 79, 81, 85, 353, 361, 365, 460, 627, 634, 647, 725 – als Verfassungsprinzip  382, 636, 677, 771 – Erziehungsziel der ~  382 – Idee  348 – Klauseln  111, 604 – Kultur der ~  382, 678 Tonart  453 Topik  84 Totalrevision  95, 238, 253, 751 – in der Schweiz  118 Transformations- und Übergangs­ prozesse  766 Transformationsländer  725 Transformationswissenschaft  718 f. Transparenz  44, 625 Trennungsdenken  336 Trias – von Freiheit, Eigentum und Arbeit  497 – von Texten, Theorien und Praxis  461, 523, 629 Tschad, Verf. (1996)  35, 55, 112, 233, 398 ff., 686 Tschechische Republik, Verf. (1992)  351, 358, 368, 387, 396, 400, 506, 534, 571, 660, 727, 750 Tschernobyl-Artikel 16 (Verf. Ukraine (1996))  214 Tunesien  764, 769, 772, 773 – Übergangsverfassung  764 – Verf. (1959 / 88)  481 Türkei  704, 773 – Verf. (1982)  21, 55, 92, 248, 252, 350, 466, 467, 626 f., 631, 689 – Kemal Atatürk  189 – Nationaler Sicherheitsrat  405 Turkmenistan, Verf. (1992)  57, 726



Personen- und Sachregister811

Typus Verfassungsstaat  145, 202, 209, 244, 245, 247, 261, 320, 321, 349, 400, 613, 703, 714, 726 – Entwicklungsgeschichtliche Etappen  601 Übergangsgesellschaften  343, 711 Übergangsvorschriften  258 Überlegungen, demokratietheoretische  277, 385 Übermacht der Finanzmärkte  485 Überstaatliche Bedingtheit des Staates  725 Uganda, Verf. (1995)  58, 145, 381, 383, 401, 404, 539, 626, 690 Ukraine, Verf. (1996)  66, 156, 316, 382, 399, 401 f., 405 f., 422, 474, 505, 571, 662, 696, 697 Umwelt  169, 185 – Völkerrecht  542 Umweltschutz – als Staatsziel  402 – Klauseln  504 – Probleme  284 – Verfassungsrecht  503 Umweltstaat  394, 403 UN  94, 775 – Abkommen zur kulturellen Vielfalt (2005)  431 – als mittelbarer Verfassunggeber  21, 116, 158, 256 – Menschenrechtspakte  182, 319, 369, 708 – Tribunal  706, 710 – UN-Behindertenrechtskonvention  134 Unabhängigkeit der Judikative  752 UNESCO-Konventionen  426, 574, 708 UNESCO-Programme  375 UNESCO-Satzung Art. 1 Abs. 1 (1945)  433 UNESCO-Übereinkommen  59 – kulturelle Vielfalt  6, 59, 692, 706, 708

Ungarn, Verf. (1949 / 97 bzw. 2011 / 12)  34, 62, 66, 97, 135, 154, 157, 246, 319, 456, 571, 656, 683, 707, 713, 747 Unionsbürger  367 Unionsbürgerschaft  67, 368 Unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts  314 Universelle Werte  100 Unschuldsvermutung  317 Unvollendeter Bundesstaat  328 Urheberrecht  497 Uruguay, Verf. (1967 / 92 / 96)  62, 222 USA  46, 736 – US-amerikanische Kultur  736 US-Bundesverfassung (1787)  19, 400, 510, 573, 713, 747 Utopie  23, 82, 85, 147, 592, 771 – aus allen Feldern der Kunst  700 – Thesen  700 Utopiequantum  67 – konstitutionelles ~  182 – verfassungsstaatliches ~  155 Venedig-Kommission des Europarates  199, 774 Venezuela, Verf. (1999)  157, 159, 161, 351, 364 f., 381 f., 424, 466 f., 488, 600, 630, 696, 706 – alte Verf. (1961 / 83)  222, 236, 683 Verabsolutierung des Marktes  552 Verantwortung für die Gemeinschaft  723 Verantwortung für künftige Genera­ tionen  422 Verarbeitung der Zeit  154 Verbandsklage  485 Verbot der Sklaverei  235, 608 Verbot des Angriffskrieges  169 Verbot von Verfassungsdurch­ brechungen  686 Verbraucherschutz  492, 694, 621 Vereinigungsfreiheit  176

812

Personen- und Sachregister

Verfahren  246, 263 Verfasste Gesellschaft  599, 634 Verfassung – afrikanische ~  669 – als Anregung und Schranke  64, 107, 126, 147, 213, 299, 758 – als Beschränkung und Rationalisierung der Macht  107, 598 – als Beschränkung von Macht  64, 213, 300 – als Ganzes  320 – als Kultur  107, 214, 596, 601, 602, 717, 758 – als kulturelle Selbstdarstellung des Volkes  717 – als Kulturzustand  250 – als Norm und Aufgabe  64, 107, 109, 127, 213, 300, 728, 758 – als öffentlicher Prozess  19, 64, 107, 213, 217, 275, 758 – als Rationalisierung von Macht und Garantie  300 – als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens  598 – als Vertrag  17, 245, 363, 631 – de-Gaulle-Verf. (1958)  399 – Eigenverfassungen der Gesellschaft  708 – Einheit der ~  275 – für künftige Generationen  501 – Geber, indirekte  223 – Gebung  240, 245, 250, 253, 317, 327 – als pluralistischer Vorgang  253 – Grenzen der ~  688 – Gewährleistung eines freiheitlichen Lebens­pro­zesses  64 – Grundwert der ~  390 – im Diskurs der Welt  217, 747 – neuere ~  373 – Österreichs gliedstaatliche ~  523 – osteuropäische ~  494, 535, 655 – Pluralismus  110, 113, 298, 361, 491, 604

– Schutz der ~  685 – semantische ~  159, 160 – Verfassungswirklichkeit  90, 119, 742 – Vorrang  56, 112, 162, 299, 315, 316, 407, 424, 626, 709, 726 – westeuropäische  530 – westlicher Länder  494 – Wille zur ~  685 Verfassung von Cádiz (1812)  350 Verfassungsänderung  95, 109, 155, 240, 245, 253, 255, 258 – verfahrensrechtliche Erschwerungen von ~  257 Verfassungsauftrag  136 Verfassungsdebatte  271 Verfassungsentwicklung  303 Verfassungsentwürfe  158, 536 Verfassungsgemäßes Regieren  750 Verfassungsgemeinschaft  98, 102 Verfassungsgericht  384, 407, 733 – deutsches ~  322, 324 – europäische Verfassungsgerichte  291, 405 – Öffentlichkeitsarbeit  331 – südafrikanisches ~  332 Verfassungsgerichtsbarkeit  193 f., 227, 245, 299, 322 f., 596, 710, 713 – Verfassungspolitik  332 Verfassungsinterpretation  263, 267, 271 – als öffentlicher Prozess  310 – Beteiligtenkreis  278 – kulturelle ~  132 – Methoden und Prinzipien der ~  297, 314 – offene ~  85, 109, 278, 298, 542 – pluralistische ~  263 – Politik als ~  271 – „prozessuale“ ~  263 Verfassungsinterpreten – im weiteren Sinne  79 – Pluralismus der ~  78



Personen- und Sachregister813

– offene Gesellschaft der ~  263, 291, 313, 326, 376, 440, 610 Verfassungskommentar, kultureller  170, 611 Verfassungskultur  33, 64, 109, 261, 463, 603, 736 Verfassungslehre – als juristische Text- und Kulturwissenschaft  37, 121, 544, 602, 715, 716 – als Kulturwissenschaft  438, 740 f., 760, 767 – als Wissenschaft aktiver Rezeptionen  715 – der Arbeit  494 – europäische ~  6, 107, 299 – im entwicklungsgeschichtlichen Verständnis  715, 720 – in weltbürgerlicher Absicht  256, 618, 710 – universale ~  113, 229, 256, 297, 299, 307, 314, 319, 350, 355, 416, 716 – vergleichende ~  36, 350, 499, 618, 718 – Werkstatt  716 Verfassungspädagogik  360, 362 Verfassungspatriotismus  60, 63, 300, 324, 372 Verfassungspolitik  87, 149, 238, 251, 332, 698, 699, 702, 775 – gute ~  542 – weltbezogene nationale ~  724 Verfassungspolitische Reformfragen  206 Verfassungspräambel  241 Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele  362 Verfassungsprozessrecht  281, 322, 326, 330 – Konsequenzen für die Ausgestaltung des ~  284 – schöpferische Handhabung  329 Verfassungsrecht – europäisches ~  53

– gemeineuropäisches ~  408, 416 – gemeinislamisches ~  462 – humanitäres nationales ~  721 – Prinzipienstruktur des gemein­ europäischen ~  218 Verfassungsrechtslehre  270 Verfassungsrechtsprechung als ­punktuelle Verfassunggebung  327 Verfassungsrechtswissenschaft  272 – rezensierte ~  549 Verfassungsreform  238, 259 Verfassungsstaat  18, 25, 348, 440, 626 – als Entwicklungsprojekt  91 – Entwicklungsgeschichte des ~  448 – im Kontext Chinas  748 – Internationalisierung  96 – kooperativer ~  18, 35, 50, 52 ff., 73, 96, 98, 100, 105, 158, 164, 190, 196, 211, 226, 241, 248, 260, 306, 319, 321, 341, 349, 393, 433, 443, 493, 516, 530, 539 f., 583, 599, 603, 613, 622, 632, 693, 698, 702, 706, 709, 712, 720 ff., 738, 758, 777 – kulturelle Identitätselemente  451, 682, 709 – Menschenrechte / Grundrechte  349 – universale Verantwortungsgemeinschaft  115 – Universalität  307 – völkerrechtsfreundlicher ~  98 – Weltbild des ~  96, 114, 353 – Weltgemeinschaft des ~  114 – Weltstunde des ~  499, 711 Verfassungsstaatliche Monarchie  68, 69 Verfassungstage  167, 182, 400, 592, 681 – akademischer ~  183 – Portugal  170 Verfassungstext  121, 246, 536 – Artenreichtum  120 – Funktionenvielfalt  150 – Vielschichtigkeit  120

814

Personen- und Sachregister

Verfassungstheorie  148 Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft  635 Verfassungsunterricht  362 Verfassungsverbund  98, 102 Verfassungsvergleich  215, 243 – als Kulturvergleichung  416 – kultureller ~  64, 303, 459, 742 Verfassungsverständnis – anthropozentrisches ~  151 – gemischtes ~  151, 598 – in Bundesstaaten  303 – kulturwissenschaftliches ~  298, 300 – materiales ~  127 Verfassungswandel  92 Verfassungswirklichkeit  216, 264 Verfassungszeitalter  699 Vergleichende Föderalismuslehre  576 Verhältnis Markt / Demokratie  344 Verhältnis von Staat und Kirche  237, 642 Verhältnismäßigkeit  709 Versammlungsfreiheit  176, 347, 753 Verschuldung  703 Verstehen  483 Verteidigungsfall  690 Verträge – von Maastricht (1992)  508, 637 – von Amsterdam (1997)  508 Verwaltung  402 – Gesetzmäßigkeit der ~  424 Verwaltungskultur  402 Verwaltungsrecht – im verfassungsstaatlichen ­Verfassungsrecht  731 – Europäisierung des ~  732 Verwirkung von Grundrechten  688 Virginia bill of rights (1776)  77, 126, 350 Volk  278, 385 – Anwalt  340 – Anwaltschaft  587 – Bild  352

– Demokratie  339, 378 – Initiativen  376 – Kongress in Peking  743 – Kultur  28, 63, 417 – Pädagogik  556 – Souveränität  74, 345, 744 – Klausel  337 Volk als pluralistische Größe  278 Völkerrecht  17, 29 f., 54, 77, 85, 99, 105, 111 f., 145, 152 f., 179, 214 f., 242, 254, 295, 334 f., 344, 353, 355, 394, 462, 604, 680 f., 695, 699, 703, 713, 715 ff., 722, 729, 742, 763, 774, 779 – als konstitutionelles Menschheitsrecht  113, 295, 418, 542, 757 – als Kultur  32, 47, 53, 116, 440 – als universales Menschheitsrecht  34, 100 – Entwicklungs- 462 – Freundlichkeit  17, 103, 179, 242, 255, 296, 328, 378, 758 – Gelehrte  296 – Geltung des ~  179 – Gemeinschaft  323 – Koexistenz ~  100 – Konstitutionalisierung  463, 708 – Konzeption vom ~  295 – Kooperation ~  100 – Koordination ~  100 – menschheitsrechtliches ~  295 – nationales ~  351 – Offenheit  25, 65 – Teilverfassungen  40, 78, 91, 98, 200, 302, 596 – Texte  369 – Umwelt ~  528, 542 – Wissenschaft  603 Völkerrechtsgebundenheit  103, 112, 154 Völkerrechtspolitik  87, 91, 299, 358, 430, 571, 574, 702 Völkerverständigung  681 Vorbehalt des Möglichen  80, 82



Personen- und Sachregister815

Vorinterpreten  265 Vorrang-Artikel  133 Vorrang-Klausel  134 Vorverständnis und Methodenwahl  89, 741 Vorwirkung von Gesetzen  94 Wahlgesetze  773 f. Wahlsprüche  20, 110, 364, 461 – Äquatorial-Guinea (1991)  110, 461 – Madagaskar (1995)  110 Wahlverwandtschaftsklausel  36, 724 Wahrheit – Kommissionen  55, 465, 757, 766 – als dritter Weg  772 – Liebe  638 – Philosophie  701 – Probleme  54 – Suche  638 Waldschlößchenbrücke  418 Wales  389, 697 Wandel  446 Wappen, 56, 58 We, the people  17, 40, 74, 229, 235, 298, 345, 386, 709 Wehrbeauftragter  405 Weimarer Klassik  202 Weimarer Reichsverfassung (WRV 1919)  122, 127, 171, 361, 370, 404, 432, 640, 686 – Art. 139  684 – Art. 148  723 – unmittelbare Demokratie der ~  379 Weißrussland, Verf. (1994)  386 Welfare state  423 Welt – anschaulich-konfessionelle Neutra­ lität  218 – Bild  42, 352, 696 – Bürger  114 – Mitverantwortungstendenzen  721 – Bürgertum aus Kunst und Kultur  59

– deutscher Idealismus zur ~  211 – Ethos  352, 722 – Gemeinschaft der Verfassungsstaaten  775 – Gesellschaft  165, 353 – Gesellschaftsvertrag  50, 355 – Hungerhilfe  114 – Kultur  357 – Kulturerbe  60, 574, 706 – Kulturrecht  574 – Konventionen  251 – Kulturverfassungsrecht  706 – Literatur  682, 716 – Nachbarschaftsordnung  210 – Offenheit  365, 757 – Öffentlichkeit  42, 344 – Recht  205 – Kultur  17, 20, 30, 34, 64, 101, 229, 235, 238, 334, 391, 422, 528, 624, 627, 692, 722 – Staat  726 – Stunde des Verfassungsstaates  359 – Zivilgesellschaft  364 Weltraumrecht  353, 521 Werdende Verfassungsgemeinschaften  111 Werkstatt des Verfassungsstaates  161, 243, 698 Wert- und Grundlagenbegriff  484 Wertsystem  330 Wesensgehalt von Grundrechten  694 Wesensgehaltsgarantie  154, 254, 685 Wesensgehaltsjudikatur  192 Wesensgehaltsschutz  216, 461 Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft  102 Western-Cap  572, 573 Westkap, Verf. (1997)  112 Wettbewerb der Rechtsordnungen  183 Wettbewerbsföderalismus  208, 310

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Personen- und Sachregister

Wettbewerbsrecht  731 Widerstandspflicht  690 Widerstandsrecht  178, 690 Wiedervereinigung  186, 632 Wiener Klassik  446 Wiener Schule  166 Wille zur Verfassung  361 Willkürverbot  173 Wir sind das Volk  176, 379 Wir, das multiethnische Volk  386 Wir, die Bürger …  368 Wir-Gefühl  66 Wirklichkeit  273 Wirklichkeitsdenken  80, 86, 88 Wirklichkeitsmenschen  80 Wirklichkeitswissenschaft  277, 385 Wirtschaft  229 – im Dienste der Menschen  229 Wirtschaftsverfassungsrecht  429 Wissenschaft – Begriff, offener  266 – Freiheit  175 – Optimismus  175 – Pessimismus  175 – Vorratspolitik  238, 240 Würde der Arbeiter  623 Wutbürger  111

Zaire, Verf. (1983 / 89)  55 Zehn Gebote in Sachen Verfassungsstaat  750 Zeit  77, 267 – Brückenfunktion  631 Zeit und Raum  88, 714 Zeit und Verfassungskultur  91, 445, 515, 712 Zentralafrikanische Republik, Verf. (1995)  233 Zitierpraktiken  329 Zivile Libyen-Mission  779 Ziviler Ungehorsam  109, 691 – Recht auf ~  690 Zivilgesellschaft  18, 44 f., 56, 158, 292, 311, 326, 377, 471, 695, 765 – plurale ~  59 – werdende ~  765 Zivilrecht  316, 465 Zivilrechtslehre  304 Zivilverfassung, globale  205 Zukunfts- und Fortschrittsklauseln  91 Zurück zur Kultur  342 Zusammenarbeits-Klauseln  723 Zusammenhalt, sozialer  344, 479, 499 Zweite Kammern  394, 396 Zypern  23, 52, 233