Der Reisebericht in der deutschen Literatur: Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte [Reprint 2010 ed.] 9783110911855, 9783484603653

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Der Reisebericht in der deutschen Literatur: Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte [Reprint 2010 ed.]
 9783110911855, 9783484603653

Table of contents :
Einleitung: Methodische Grundlagen einer Forschungsgeschichte als Gattungsgeschichte
I. Theorie, Methodologie und Geschichte des Reiseberichts
1. Gattungsprobleme
2. Die Erfahrung des Fremden
3. Zur Geschichte der Reiseliteratur und des Reisen
II. Reiseberichte im Spätmittelalter
1. Die Entwicklung der Pilgerreisen und die Entstehung einer Reisekultur
2. Die Profanisierung des Reisens und der Ausbau der Reisekultur
3. Die Reiseberichte
4. Philologische Probleme: Struktur und Stil
III. Die Reiseliteratur der Frühen Neuzeit und des Barock
1. Europäische Reisen
2. Die Institutionalisierung des Reisens: Kavalierstour, Apodemiken, Formen des Kulturkontaktes
3. Erschließung einer Neuen Welt: Die reale und mentale Vereinnahmung Amerikas
4. Neue Perspektiven auf einen alten Kontinent: Traditionelle und innovative Elemente des Orient-Bildes
5. Literarische Spiegelungen des neuen Weltbildes
IV. Aufklärung
1. Voraussetzungen des Reisens und der Reiseliteratur
2. Aufklärer auf Reisen
3. Die Jakobiner und ihre Kritiker
4. Reisen durch Europa
5. Überseeische Reisen
6. Reise und Wissenschaft
V. Der Reisebericht zur Zeit der deutschen Klassik: Goethe und sein Umfeld
1. Die nachaufklärerische Entwicklung: Gattungswandel durch Funktionsverlust
2. Goethes voritalienische Reisen
3. Goethes Reise nach Italien
4. Goethe und die Sizilienreisen seiner Zeit
VI. Epochenübergänge: Der Reisebericht zwischen Spätaufklärung und Restauration
1. Neubestimmungen der Gattungsfunktion
2. Romantische Reiseliteratur
3. Die Modernisierung der Naturerfahrung
4. Biedermeierzeit
VII. Poesie, Publizistik, Politik: Die Weiterentwicklung der Gattung durch Heines Reiseschriften und der Reisebericht des Vormärz
1. Heines Reiseschriften in ihrer Epoche
2. Stil und Struktur der Reisebilder
3. Politik und Gesellschaft: Der sachliche Gehalt der Reisebilder
4. Modernität und Geschichtsphilosophie in den Reisebildern
5. Die Stellung der Reisebilder in der Gattungsgeschichte
6. Reiseberichte im Umfeld der Juli-Revolution
7. Die jungdeutsche Reiseliteratur
VIII. Die Vermessung der Welt: Forschungsreisen im 19. Jahrhundert
1. Historische, methodische und literarische Voraussetzungen des wissenschaftlichen Reiseberichts
2. Adelbert von Chamisso
3. Alexander von Humboldt
4. Weitere Forschungsreisende des 19. Jahrhunderts
IX. Von der Modernisierung zur Moderne: Alte und neue Wege des Reiseberichts im 19. Jahrhundert
1. Die Erfahrung der Modernisierung: Der Einfluß neuer Reiseformen und -ziele auf die Gattungsentwicklung
2. Reisen als Form sozialer Mobilität: Unternehmer, Frauen, Arbeiter
3. Auswanderer und Abenteurer: Nordamerika im Reisebericht
4. Das Beharren auf der Konvention: Dichterreisen in die Nachbarschaft
5. Der Übergang zur »Moderne«: Die neuerliche Erschließung des Orients und der »Exotismus« in der Literatur
6. Die Innovation des Reiseberichts im Umkreis der »Moderne«
X. Vom Tourismus über die Reportage zur Postmoderne: Gattungsentwicklungen im 20. Jahrhundert
1. Die neue Reiseform: Entwicklungslinien des Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert
2. Vom Expressionismus zur »Neuen Sachlichkeit«: Vision und Reportage als Formen des Reiseberichts
3. Die Politisierung der Gattung in den zwanziger Jahren: Reisen in die Sowjetunion
4. Faszinierte Kritiker: Reisende in die USA
5. »Drittes Reich«
6. Die Gattungsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg
7. Gegen-Tourismus: Neue Bilder von fremden Ländern
8. Ausblick: Die Zukunft des Reiseberichts und seiner Erforschung
Bibliographie
1. Bibliographische und lexikalische Hilfsmittel
2. Sammelbände und Ausstellungskataloge
3. Darstellungen
Namenregister
Begriffsregister

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Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur

2. Sonderheft

Herausgeher

WOLFGANG FRÜHWALD, München; GEORG JÄGER, München; DIETER LANGEWIESCHE, Tübingen; ALBERTO MARTINO, Wien.

Wissenschaftlicher Beirat

MAX L. BAEUMER, Madison, Wisconsin; WILFRIED BARNER, Tübingen; ROGER BAUER, München; HERMANN BAUSINGER, Tübingen; KARL BERTAU, Erlangen; MARTIN BIRCHER, Wolfenbüttel; KARL BOSL, München; WOLFGANG BRÜCKNER, Würzburg; WALTER H. BRUFORD, Duns, Berwickshire; FRANCESCO DELBONO, Rom; HORST DENKLER, Berlin; WOLFRAM FISCHER, Berlin; HANS FROMM, München; HANS NORBERT FÜGEN, Heidelberg; GERALD GILLESPIE, Stanford, California; HERBERT G. GÖPFERT, München; HEINZ GOLLWITZER, Münster; KLAUS GRUBMÜLLER, Münster; WOLFGANG HARMS, München; RENATE VON HEYDEBRAND, München; WILLIAM M. JOHNSTON, Amherst, Massachusetts; REN£ KÖNIG, Köln; HANS-JOACHIM KOPPITZ, Mainz; HELMUT KREUZER, Siegen; EBERHARD LÄMMERT, Berlin; VICTOR LANGE, Princeton, N.J.; KLAUS LANKHEIT, Karlsruhe; PETER LUNDGREEN, Bielefeld; WOLFGANG MARTENS, München; WALTER MÜLLER-SEIDEL, München; THOMAS NIPPERDEY, München; PAUL RAABE, Wolfenbüttel; FRITZ K. RINGER, Boston; LUTZ RÖHRICH, Freiburg; PIERRE-PAUL SAGAVE, Paris; NELLO SAITO, Rom; GERHARD SAUDER, Saarbrücken; RUDOLF SCHENDA, Zürich; FRIEDRICH SENGLE, Seefeld-Hechendorf; ALPHONS SILBERMANN, Köln; FRITZ STERN, New York; JEAN-MARIE VALENTIN, Paris; WILHELM VOSSKAMP, Köln; ERNST-PETER WIECKENBERG, München; MANFRED WINDFUHR, Düsseldorf; REINHARD WITTMANN, München; DIETER WUTTKE, Bamberg; BERNHARD ZELLER, Marbach a. N.; HANS ZELLER, Fribourg; WOLFGANG ZORN, München.

Mitglieder der Redaktion

NORBERT BACHLEITNER, Wien; WERNER HAHL, München; KLAUS HEYDEMANN, Wien; ELISABETH GÜNTHER, München; WOLFGANG VON UNGERN-STERNBERG, Regensburg.

Peter J. Brenner

Der Reisebericht in der deutschen Literatur Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte

2. Sonderheft Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990

Anschriften der Herausgeber Prof. Dr. Wolfgang Frühwald, Römerstädter Str. 4k, D-8900 Augsburg Prof. Dr. Georg Jäger, Klenzestr. 26a, D-8000 München 5 Prof. Dr. Dieter Langewiesche, Rotbad 9, D-7400 Tübingen Prof. Dr. Alberto Martino, Peter-Jordan-Str. 145/1/5, A-1180 Wien Redaktionen Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3, D-8000 München 40 Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft Berggasse 11/5, A-1090 Wien Redaktion des Sonderheftes Georg Jäger IASL erscheint in zwei Halbjahresbänden mit etwa 480 Seiten Umfang insgesamt. IASL veröffentlicht Originalbeiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache. Das Merkblatt zur Manuskriptgestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Mitarbeiter werden ersucht, ihre Manuskripte satzfertig an die Redaktion einzusenden und Änderungen in den Korrekturfahnen nach Möglichkeit zu vermeiden, da der Verlag die durch Autorenkorrektur verursachten Mehrkosten nur in beschränktem Maße trägt. Die Zeitschrift zahlt kein Honorar. Die Autoren erhalten 50 Sonderdrucke unentgeltlich und für Aufsätze, Fortschrittsberichte und Sammelrezensionen außerdem ein Freiexemplar. Die Herstellung zusätzlicher Sonderdrucke ist vom Verlag nicht vorgesehen. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Für die hier veröffentlichten Aufsätze hat § 4 UrhRG Gültigkeit. Rezensionsexemplare werden an die Redaktionen erbeten. IASL wird in Current Contents/Ans fr Humanities und im Arts & Humanities Citation Index ausgewertet.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek [Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur l Sonderheft] Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft. - Tübingen : Niemeyer. Erscheint unregelmässig. - Aufnahme nach l (1985) Fortlaufende Beil, zu: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2. Brenner, Peter J.: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. - 1990 Brenner, Peter J.: Der Reisebericht in der deutschen Literatur : ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte / Peter J. Brenner. [Hrsg.: Wolfgang Frühwald...]. -Tübingen: Niemeyer 1990 (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur ; 2) ISBN 3-484-60365-8

ISSN 0175-9779

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Weihen-Druck, Darmstadt

Inhalt

Einleitung: Methodische Grundlagen einer Forschungsgeschichte als Gattungsgeschichte

I.

II.

Theorie, Methodologie und Geschichte des Reiseberichts

19

1. Gattungsprobleme 2. Die Erfahrung des Fremden 3. Zur Geschichte der Reiseliteratur und des Reisen

19 25 31

Reiseberichte im Spätmittelalter

41

1. Die Entwicklung der Pilgerreisen und die Entstehung einer Reisekultur 2. Die Profanisierung des Reisens und der Ausbau der Reisekultur 3. Die Reiseberichte 4. Philologische Probleme: Struktur und Stil

III. ' Die Reiseliteratur der Frühen Neuzeit und des Barock 1. Europäische Reisen 2. Die Institutionalisierung des Reisens: Kavalierstour, Apodemiken, Formen des Kulturkontaktes 3. Erschließung einer Neuen Welt: Die reale und mentale Vereinnahmung Amerikas 4. Neue Perspektiven auf einen alten Kontinent: Traditionelle und innovative Elemente des Orient-Bildes 5. Literarische Spiegelungen des neuen Weltbildes

41 51 57 73

80 80 105 110 125 146

IV.

V.

VI.

Aufklärung

149

1. 2. 3. 4. 5. 6.

149 172 199 216 243 266

Voraussetzungen des Reisens und der Reiseliteratur Aufklärer auf Reisen Die Jakobiner und ihre Kritiker Reisen durch Europa Überseeische Reisen Reise und Wissenschaft

Der Reisebericht zur Zeit der deutschen Klassik: Goethe und sein Umfeld

275

1. Die nachaufklärerische Entwicklung: Gattungswandel durch Funktionsverlust 2. Goethes voritalienische Reisen 3. Goethes Reise nach Italien 4. Goethe und die Sizilienreisen seiner Zeit

275 277 286 312

Epochenübergänge: Der Reisebericht zwischen Spätaufklärung und Restauration

320

1. 2. 3. 4.

320 329 336 344

Neubestimmungen der Gattungsfunktion Romantische Reiseliteratur Die Modernisierung der Naturerfahrung Biedermeierzeit

VII. Poesie, Publizistik, Politik: Die Weiterentwicklung der Gattung durch Heines Reiseschriften und der Reisebericht des Vormärz 1. Heines Reiseschriften in ihrer Epoche 2. Stil und Struktur der Reisebilder 3. Politik und Gesellschaft: Der sachliche Gehalt der Reisebilder 4. Modernität und Geschichtsphilosophie in den Reisebildern 5. Die Stellung der Reisebilder in der Gattungsgeschichte 6. Reiseberichte im Umfeld der Juli-Revolution 7. Die jungdeutsche Reiseliteratur VI

361 361 364 378 398 412 424 431

VIII. Die Vermessung der Welt: Forschungsreisen im 19. Jahrhundert

443

1. Historische, methodische und literarische Voraussetzungen des wissenschaftlichen Reiseberichts 443 2. Adelbert von Chamisso 449 3. Alexander von Humboldt 455 4. Weitere Forschungsreisende des 19. Jahrhunderts 467

IX.

X.

Von der Modernisierung zur Moderne: Alte und neue Wege des Reiseberichts im 19. Jahrhundert

491

1. Die Erfahrung der Modernisierung: Der Einfluß neuer Reiseformen und -ziele auf die Gattungsentwicklung 2. Reisen als Form sozialer Mobilität: Unternehmer, Frauen, Arbeiter 3. Auswanderer und Abenteurer: Nordamerika im Reisebericht 4. Das Beharren auf der Konvention: Dichterreisen in die Nachbarschaft 5. Der Übergang zur »Moderne«: Die neuerliche Erschließung des Orients und der »Exotismus« in der Literatur 6. Die Innovation des Reiseberichts im Umkreis der »Moderne«

565

Vom Tourismus über die Reportage zur Postmoderne: Gattungsentwicklungen im 20. Jahrhundert

575

491 506 519 535

549

1. Die neue Reiseform: Entwicklungslinien des Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert 575 2. Vom Expressionismus zur »Neuen Sachlichkeit«: Vision und Reportage als Formen des Reiseberichts 588 3. Die Politisierung der Gattung in den zwanziger Jahren: Reisen in die Sowjetunion 597 4. Faszinierte Kritiker: Reisende in die USA 609 5. »Drittes Reich« 628 6. Die Gattungsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg 631

Vll

7. Gegen-Tourismus: Neue Bilder von fremden Ländern 8. Ausblick: Die Zukunft des Reiseberichts und seiner Erforschung

Bibliographie 1. Bibliographische und lexikalische Hilfsmittel 2. Sammelbände und Ausstellungskataloge 3. Darstellungen

Namenregister Begriffsregister

vin

648 660

667 667 669 671

715 731

EINLEITUNG METHODISCHE GRUNDLAGEN EINER FORSCHUNGSGESCHICHTE ALS GATTUNGSGESCHICHTE

Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit Francis Bacon

I. Der »Reisebericht« als erzählende Darstellung einer realen Reise gehört zu den ältesten Gattungen der abendländischen Literatur; seine Spuren lassen sich bis weit in die griechische Antike zurückverfolgen. Auch im deutschsprachigen Kulturraum hat die Gattung eine lange Tradition, die bis zu den ersten Pilgerberichten des 14. Jahrhunderts reicht. Mit literarischen Ansprüchen freilich ist der Reisebericht erst sehr spät aufgetreten. Seine soziale Rolle definierte sich bis ins späte 18. Jahrhundert hinein in der Regel nicht durch seine literarische Qualität, sondern durch die Funktion der Vermittlung authentischer, durch Autopsie gewonnener Informationen. Diese Authentizitätsverpflichtung, die zugleich eine Entpflichtung gegenüber ästhetischen Erwartungen bedeutet, dürfte der Grund dafür sein, daß die Gattung als möglicher Gegenstand literaturwissenschaftlicher und speziell germanistischer Forschung lange Zeit nicht in den Blick getreten ist. In jüngster Zeit hat sich die Situation in der Germanistik gewandelt. In den letzten zwei Jahrzehnten und erst recht in den letzten Jahren ist die Zahl der Publikationen zum Thema ständig gestiegen, und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Die Gründe für die ausufernde Entfaltung dieses Forschungsgebietes scheinen auf der Hand zu liegen: Es sieht so aus, als artikuliere sich darin nach den heftigen Diskussionen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre um Begriff und Funktion der Literatur ein gewandeltes Selbstverständnis des Fachs, die Loslösung nämlich von einem orthodoxen, insgeheim oder offen von klassizistischen Wertvorstellungen inspirierten Literaturbegriff. Damit einher ging sowohl eine methodische wie eine materiale Neuorientierung der Germanistik. Bereits vor den großen Diskussionen um diese Thematik hat Friedrich Sengle eine »Liberalisierung« der Forschung gefordert, die über die konventionalisierte Gattungstrias hinaus zu einer Rehabilitation des wei-

ten Bereichs der literarischen »Zweckformen« führen sollte.1 Die Germanistik hat diese Vorschläge nur zögernd angenommen, da mit ihnen ein grundsätzlicher Wandel im tradierten Charakter des Faches gefordert wurde. Eine Hinwendung zu literarischen Formen jenseits der kanonisierten Gattungen fordert die Germanistik zur Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses auf. Im Falle des »Reiseberichtes« werden die Konstituenten dieses Selbstverständnisses auf exemplarische Weise deutlich. Eine Erforschung dieser Gattung, die sich auf das einließe, was zu ihrem adäquaten Verständnis notwendig wäre, würde der Germanistik eine weite Überschreitung ihrer selbstgezogenen Grenzen ansinnen. Sie würde nämlich nichts weniger bedeuten, als daß das Fach sich als eine Kulturwissenschaft verstünde. Die Ausweitung des Literaturbegriffs wäre noch die geringste Folge eines solchen Wandels. Viel tiefer würde die erforderliche Änderung der Fragestellungen, der Methoden und nicht zuletzt auch der institutionellen Organisationsformen in die Substanz des Fachs eingreifen. Eine sinnvolle Beschäftigung mit dem Reisebericht könnte sich nicht darauf beschränken, Texte deskriptiv zu erfassen und analytisch auszulegen. Damit würde sie die Chance zum Erkenntnisgewinn vertun, die mit der Untersuchung dieser Gattung gegeben ist: die Chance zur Erschließung vergangener oder fremder Kulturen und Mentalitäten, welche Form und Gehalt der Reiseberichte prägen. Eine solche Fragestellung erfordert einen anderen methodischen Zugriff, als ihn das Arsenal einer eng gefaßten Germanistik erlaubt. Zuerst und vor allem wäre Ernst zu machen mit der vielbeschworenen Interdisziplinarität der Forschung. Wie kaum ein anderer Bereich von Texten erzwingt die angemessene Untersuchung von Reiseberichten eine Überschreitung der Grenzen des Fachs sowohl in inhaltlicher wie in methodischer Hinsicht. Die Forschung muß sich vertraut machen mit den faktographischen Ergebnissen und den methodischen Grundlagen der Geschichts- wie der historischen Sozialwissenschaft, der Ethnologie, der Anthropologie, der Philosophie und der Volkskunde, der Geographie und der Geschichte der Naturwissenschaften, um nur die wichtigsten der Fachgebiete zu nennen, die dabei zu berücksichtigen wären. Es stellt sich beim aktuellen Stand der Germanistik nicht nur die Frage, ob sie zur Bewältigung eines solchen Programms in der Lage, sondern - noch diesseits der praktischen Probleme eines interdisziplinären Zugriffs - ob sie überhaupt bereit ist, sich auf ein solches Forschungsgebiet einzulassen. Ein Blick auf die Germanistik als einer akademischen Institution muß skeptisch stimmen. Denn jenseits aller Bekenntnisse zur Interdisziplinarität läßt sich im akademischen Betrieb allzu häufig ein Beharren auf Vgl. Friedrich Sengle, Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform, Stuttgart 1967 (= Dichtung und Erkenntnis 1), S. 10.

den Grenzen des eigenen Fachs erkennen, das durch subventionierte interdisziplinäre Sammelbände oder Kolloquien nur verdeckt, nicht aber überwunden wird. Speziell an diesem eingeengten Fachverständnis leidet die gegenwärtige Forschung zur Reiseliteratur. Es ist kein Zufall, daß sich in der Fülle neuerer Arbeiten kaum einmal eine akademische Qualifikationsschrift findet - und die wenigen Doktorarbeiten und Habilitationsschriften, die sich darauf eingelassen haben, greifen, sofern es sich nicht um amerikanische Dissertationen handelt, zu ihrer Legitimation in aller Regel auf Autoren zurück, die zum kanonisierten Bestand der Literaturgeschichte gehören und durch andere Werke als ihre Reiseberichte ausgewiesen sind. In den nichtphilologischen Fächern entfällt eine solche institutionell aufgezwungene Affinität zum Literarischen naturgemäß; hier ist der Blick auf das Material durch andere Vorgaben bestimmt. Ein erheblicher Teil der Forschungsbeiträge wurde von der Geschichtswissenschaft, der Volkskunde und verwandten Fächern erbracht. Diese Beiträge widmen sich was durchaus legitim ist - dem Reisebericht aber nicht als einer literarischen Gattung, deren Geschichte und Strukturen zu erarbeite wären, sondern als einer besonders aussagekräftigen Quellenart. Die Konstellation ist also - entgegen dem ersten Anschein - nicht glücklich für die germanistische Erforschung des Reiseberichts. Auch wenn die Zahl von Forschungsbeiträgen inzwischen fast schon bedenkliche Ausmaße angenommen hat, läßt sich von einer »Reiseliteraturforschung« im strengen Sinne des Wortes nicht sprechen. Denn wissenschaftliche Forschung bedeutet mehr und anderes als die Kumulation von Einzelergebnissen. »Forschung« ist vielmehr dadurch definiert, daß sie Diskussionszusammenhänge aufbaut, institutionalisiert und weiterfuhrt. Erst in Diskussionszusammenhängen konstituieren sich die Themenbereiche zumal von kulturwissenschaftlicher Forschung; ihr sind die Gegenstände nicht einfach vorgegeben, sondern sie arbeiten sich in wissenschafts- und sozialgeschichtlichen Prozessen heraus. Erst wenn sich in einem solchen Prozeß ein gegenstandsbezogenes Problembewußtsein, ein komplexes Arsenal von aufeinander bezogenen Fragestellungen und methodischen Ansätzen, schließlich eine Verständigung über das themenrelevante Material herausgebildet hat, lassen sich fruchtbare und weiterführende Ergebnisse erwarten. Die Erforschung des Reiseberichts ist von diesem Standard wissenschaftlicher Arbeit weit entfernt. Die Quantität der Forschungsbeiträge zum Reisebericht steht in einem frappanten Gegensatz zum Fehlen eines ausgeprägten und in kohärenten Diskussionen erarbeiteten Problembewußtseins. Der aktuelle Stand der Forschung ist vielmehr gerade durch die Disparatheit der Fragestellungen und Methoden sowie durch die Heterogenität des untersuchten Materials

charakterisiert, so daß der Gegenstand ebenso wie die Untersuchungsergebnisse nach wie vor diffus bleiben. II.

Aus dieser Situation heraus bestimmt sich die Funktion eines Forschungsüberblicks. Seine Aufgabe ist zunächst das Zusammenstellen, Sichten und Ordnen wissenschaftlicher Beiträge zu einem klar umgrenzten Themengebiet; also »Überschau, durch Kompression, Selektion durch Kritik, Synthese des Geleisteten und Formulierung der Forschungsaufgaben«. Mit der Erfüllung dieser Aufgaben versteht sich die wissenschaftliche Gattung des »Forschungsberichts« als ein Dienstleistungsunternehmen. Sie referiert und informiert und leistet damit angesichts der allenthalben ausufernden rastlosen Forschungs- und Publikationstätigkeit auf den verschiedensten Gebieten gewiß einen nützlichen, wenn auch meist nur stillschweigend ausgebeuteten und selten anerkannten Beitrag zur Funktionsfähigkeit von Wissenschaft. Die Beschränkung auf eine solche Dienstleistungsfunktion ist dort legitim, wo der Gegenstand durch die Forschungsgeschichte klare Konturen erhalten hat. Sie ist aber unzureichend, wo ein Forschungsgebiet diffus geblieben ist oder aber sich überhaupt noch nicht als solches etabliert hat. In einem solchen Fall gehört es zu den anerkannten Aufgaben des Forschungsberichtes, zur »Konstituierung und Strukturierung eines neuen Forschungsfeldes« beizutragen.3 Die Einlösung dieses Anspruches freilich wirft erhebliche methodische und darstellungstechnische Probleme auf. Mit der Wiedergabe von Forschungsergebnissen ist es in einem solchen Fall nicht getan; die Grenzen des bloßen Referats müssen vielmehr erheblich überschritten werden, ohne daß die Obliegenheiten der Informationsvermittlung vernachlässigt würden. Daß der Forschungsbericht damit die Gestalt einer Monographie annimmt, ist nicht nur auf den Wunsch zurückzuführen, ihn aus dem Schattendasein des bloßen Dienstleistungsunternehmens herauszuheben in die Höhen anerkannter Forschung. Die Ausweitung zur Monographie ist vielmehr sachlich erzwungen, wenn die Konstitution des Forschungsfeldes Georg Jäger, Der Forschungsbericht. Begriff - Funktion - Anlage, in: Deutsche Forschungsgemeinschaft. Beiträge zur bibliographischen Lage in der germanistischen Literaturwissenschaft. Referate eines Kolloquiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Deutsches Literaturarchiv Marbach a. N., S.-7. März 1980, im Auftrag der Ständigen Arbeitsgruppe für germanistische Bibliographie herausgegeben von HansHenrik Krummacher, Bonn 1981 (= Kommission für Germanistische Forschung, Mitteilung III), S. 73-92; hier S. 80. Ebd., S. 85.

erst noch geleistet werden muß. Der Überblick über wissenschaftliche Ergebnisse allein kann nur disparate Details vermitteln, solange er sich nicht auf den Hintergrund eines Diskussionsstandes zu beziehen vermag, der den Ergebnissen ihren Zusammenhang vermittelt und der als Kriterium für ihre Bewertung fungieren könnte. Wenn der »Reisebericht« in den Blick einer solchen Darstellung genommen wird, dann ergibt sich für den Literaturwissenschaftler seine potentielle Kohärenz als Gegenstand der Forschung aus seiner Eigenschaft als literarische Gattung. Als Gattung konstituiert er sich nicht durch nominalistische Setzungen, sondern durch seine Geschichte. Voßkamps Überlegungen zur Möglichkeit der Bestimmung von literarischen Gattungen haben plausible theoretische Argumente dafür angeführt, daß Gattungen am klarsten als soziokulturelle Institutionen zu begreifen sind, die bestimmte Funktionen innerhalb einer literarischen und sozialen Umgebung wahrnehmen, dabei aber eine gewisse Autonomie gegenüber dieser Umgebung bewahren.4 Im Laufe ihrer Geschichte bilden sie im Spannungsfeld von »Zweckbedingtheit und Eigengesetzlichkeit« Strukturen heraus,5 mit denen sie sowohl Konventionen und Erwartungshaltungen entsprechen wie auch innovative Antworten auf Herausforderungen ihres Umfeldes bereithalten. Voßkamps Modell hat den Vorteil, den Doppelcharakter von Gattungen herauszuarbeiten, indem es sie gleichermaßen als literarische wie soziale Phänomene begreift. Gattungen sind demnach »Bedürfnissynthesen«, in denen »bestimmte historische Problemstellungen bzw. Problemlösungen oder gesellschaftliche Widersprüche artikuliert und aufbewahrt sind.«6 Die Hervorhebung des sozialen Moments bei der Gattungskonstitution spielt im Falle des Reiseberichts eine besondere Rolle. Es wäre wohl verfehlt, die Kontinuität der Gattung »Reisebericht« ausschließlich aus der Bildung literarischer Reihen heraus begreifen zu wollen; das ergäbe ein Bild der Gattungsgeschichte, das wesentlich durch Kontinuitätsbrüche gekennzeichnet wäre. Genau das dürfte im übrigen der Grund dafür sein, daß der Reisebericht in seiner vollen historischen Ausdehnung der Literaturwissenschaft erst in jüngster Zeit in den Blick gerückt ist; als ein reihenbildendes literarisches Phänomen, das innerhalb der Literaturgeschichte einen eigenen Kontinuitätsstrang herausgebildet hat, etablierte Vgl. Wilhelm Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, in: Textsortenlehre - Gattungsgeschichte, hg. v. Walter Hinck, Heidelberg 1977, S. 27-44; hier S. S. 30f. Wilhelm Voßkamp, Literarische Gattungen und literaturgeschichtliche Epochen, in: Literaturwissenschaft. Grundkurs 2, hg. v. Helmut Brackert/Jörn Stückrath in Verbindung mit Eberhard Lämmert, Reinbek 1981, S. 51-74; hier S. 56. Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, S. 32.

er sich in den westeuropäischen Literaturen frühestens seit dem 18. Jahrhundert. In den zwei Jahrtausenden zuvor - und im Jahrhundert danach war der Reisebericht ein wesentlich soziales Phänomen, dessen Funktionen in aller Regel durch gesellschaftliche Erwartungen bestimmt waren.7 Diese Überlegungen müssen bei der Abgrenzung des Forschungsgegenstandes »Reisebericht« berücksichtigt werden. Sie haben zur Konsequenz, daß dieser Gegenstand nicht definitorisch bestimmt werden kann und daß auch der oft unternommene Versuch einer vorgängigen Strukturbeschreibung, welche die gemeinsame Merkmale aller Produkte der Gattung herausarbeiten will, zum Scheitern verurteilt ist. Die Gattung konstitutiert sich in der Wahrnehmung sozialer und literarischer Funktionen; und »über die verschiedenen Funktionen literarischer Gattungen gibt ihre Geschichte Auskunft.«8 Damit ist die Aufgabe der Wissenschaft benannt, die eine literarische Gattung beschreiben will: Sie muß deren Geschichte im kulturellen und sozialen Umfeld rekonstruieren. Sich einer solchen Gattungsgeschichte auf dem Weg eines Forschungsüberblicks annähern zu wollen, mag prekär erscheinen. Eine Literaturgeschichte ohne Literatur wäre zweifellos ein Kuriosum. Bei »Vorstudien« zur Literaturgeschichte einer Gattung auf Quellen zunächst zu verzichten, ist aber nicht nur als pragmatische Lösung eines institutionellen Problems zu verstehen, sondern es läßt sich auch methodisch rechtfertigen. Das institutionelle Problem liegt klar vor Augen: Einer monographischen Gattungsgeschichte läßt sich billigerweise methodische wie darstellerische Kohärenz abverlangen; sie dem Buchbinder zu überlassen, ist in neueren Literaturgeschichten zwar ein gerne praktiziertes, aber in der Regel scheiterndes Unterfangen. Die Alternative zur Aufsatzsammlung wäre die Darstellung aus einer Hand, die aber nicht nur aufgrund der Organisation des modernen Wissenschaftsbetriebs allenfalls in Ausnahmefällen noch möglich erscheint, sondern im Falle des »Reiseberichts« auch aus inneren Gründen vom Mißlingen bedroht wäre. Eine solche Darstellung müßte sich auf einen breiten, forschungsgeschichtlich gewachsenen Konsens über relevante Texte und Probleme stützen können; ein solcher Konsens existiert in der Reiseliteraturforschung aber nicht. Eine Gattungsgeschichte des Reiseberichts steht damit vor dem klassischen hermeneutischen Dilemma: Die Arbeit Das gilt bereits für die frühesten Zeugnisse aus der vorchristlichen Antike. So erfüllten die um 500 v.u.Z. verfaßte, auf eigenen Reisen beruhende Erdbeschreibung des Hekataios von Milet oder die um 350 v. u. Z. von Skylax zusammengestellten Schiffahrtshandbücher präzise bestimmte Informationsaufgaben. Vgl. Max Cary/Eric H. Warmington, Die Entdeckungen der Antike. Kindlers Kulturgeschichte, Zürich 1966, S. 356-361. Zu Hekataios vgl. Martin Ninck, Die Entdeckung von Europa durch die Griechen, Basel 1945, S. 32-40. Voßkamp, Literarische Gattungen und literarhistorische Epochen, S. 57.

an ihr setzt voraus, was erst erarbeitet werden muß. Ein vorläufiger Ausweg kann die Form des Forschungsberichts als Gattungsgeschichte sein. So hybrid ein solches Unternehmen der Verbindung zweier höchst verschiedener wissenschaftlicher Darstellungsformen auf den ersten Blick erscheinen mag, so praktikabel wirkt sie unter hermeneutischer Perspektive und angesichts forschungspraktischer Notwendigkeiten. Daß die aktuelle Situation der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung durch eine eklatante Diskrepanz zwischen Versprechungen und Erfüllungen gekennzeichnet ist, läßt sich nicht übersehen.9 Nach wie vor ist die Fertigstellung der meisten großen Projekte zur Geschichte der deutschen Literatur - die fast durchgängig von vornherein als Aufsatzsammlungen konzipiert waren - seit Jahren überfällig. Den fragmentarischen Projekten stehen auf der anderen Seite Programmdiskussionen und Theoriemodelle gegenüber, die auf die Bedingungen der Möglichkeit von Literaturgeschichte reflektieren.10 Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die wissenschaftsorganisatorischen Verfahren mit den immens gewachsenen Anforderungen, die sich insbesondere durch die Ausweitung des Literaturbegriffs und die Einbeziehung sozialgeschichtlicher Fragestellungen ergeben, nicht mehr Schritt gehalten haben. Angesichts dieser Situation ist der Verzicht auf Kohärenz der Darstellung und das Ausweichen auf Aufsatzsammlungen eine naheliegende, aber nicht befriedigende Lösung, da hier gerade das nicht geleistet wird, was der neueren Literaturgeschichtsschreibung abverlangt werden sollte: eine klare und durchgängige methodische Fundierung sowie die Integration literatur- und sozialgeschichtlicher Problemstellungen.11 Diese krisenhafte Entwicklung in der Vgl. Peter Pütz, Projekte der Literaturgeschichtsschreibung, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 27 (März 1980), S. 10-14. So wurde zuletzt ein anspruchsvoller, aber eben wiederum nur programmatischer Entwurf zu einer »Sozialgeschichte der Literatur« vorgelegt von Dieter Pfau/Jörg Schönert, Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine 'Sozialgeschichte der Literatur', in: Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf, hg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe »Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770-1900« v. Renate v. Heydebrand/Dieter Pfau/Jörg Schönert, Tübingen 1988 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 21), S. 1-26. Die jüngste Entwicklung der Literaturgeschichtsschreibung hält eine neue Antwort auf das Problem bereit: die wissenschaftliche Regression. Uedings Epochendarstellung zur Klassik und Romantik im Rahmen einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur trägt im Guten wie im Schlechten alle Merkmale traditioneller Literaturgeschichtsschreibung: Sie ist eine kohärente Darstellung aus einer Hand; sie widmet sich einem durch die Rezeptions- und Forschungsgeschichte weitgehend konturierten und kanonisierten Gegenstand, und sie »scheint« nicht nur der »deklarierten Absicht einer Sozialgeschichte zu widersprechen«, sondern sie gibt deren Prämissen preis. Vgl. Gert Ueding, Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen

germanistischen Literaturgeschichtsschreibung sollte Konsequenzen in der Forschungspraxis zeitigen, deren Bedeutung zu lange unterschätzt wurde, weil die Organisationsform wissenschaftlicher Arbeit in der Regel als subsidiär und nicht als ergebnispräformierendes Moment des Erkenntnisprozesses begriffen wurde.

III. Literaturwissenschaftliche Forschung vollzieht sich in der unmittelbaren Rezeption von literarischen Texten und in der Auseinandersetzung mit und Weiterführung von vorliegenden Forschungsergebnissen. Daß dabei die Priorität der Quelle fraglos vorausgesetzt wird, gehört zu den Traditionen besonders des Fachs Germanistik, die gelegentlich von anderen methodischen Ansätzen überdeckt wurden, aber doch periodisch wiederkehren. Das Ziel der Forschung ist die Interpretation, die - wie es jüngst wieder heißt - »den Sinn der Werke« erschließen will.12 Dieses Statuieren eines Primats des literarischen Textes bedeutet nichts anderes als das Beharren auf einer Illusion der romantischen Hermeneutik, die mit Schleiermachers Formel vom »divinatorischen Verstehen« die Möglichkeit eines unmittelbaren, freilich durch die »komparative« Methode zu komplettierenden Zugangs zum Text suggerierte.13 Es ist allgemein anerkannt, daß diese Position wissenschaftlich überholt ist. Ihre letzte relevante Ausprägung hatte sie mit der Dominanz der »werkimmanenten Interpretation«, die zwischen 1945 und 1965 das Feld beherrschte und deren Affinitäten zur romantischen Hermeneutik-Konzeption weitgehend unbeachtet geblieben sind.14 Obwohl dieses methodische Verfahren in den neueren Diskussionen zu Recht als obsolet verworfen wird, prägen seine Prämissen dennoch wei-

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Revolution, 1789-1815. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. Rolf Grimminger, Bd. IV, München/Wien 1987, S. 12. Ebd., S. 12. Vgl. Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hg. u. eingel. v. Heinz Kimmerle, vorgelegt am 12. November 1958 von HansGeorg Gadamer, Heidelberg 1959 (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Jg. 1959, 2. Abhandlung), S. 109. Zur Kritik von Schleiermachers Hermeneutik-Konzept vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen, 3., erw. Aufl. 1972, S. 172-185; bes. S. 175. Zur wissenschaftshistorischen Etablierung dieser Methode in der Germanistik, die sich 1949 mit einem Kongreß über die deutsche Romantik vollzog, vgl. Paul Gorceix, Les grandes otapes de Phistoire littdraire allemande, Presses Universitaires de France 1977 (=Quesais-je? 1699), S. 95f.

terhin insgeheim weite Bereiche der germanistischen Forschungs- und Lehrpraxis. Das ist wohl darauf zurückzuführen, daß die Reflexionen der siebziger Jahre über die Notwendigkeit einer sozialgeschichtlichen Fundierung der Literaturwissenschaft die Thematisierung von Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens historischer Texte weitgehend ignoriert haben.15 Auch die jüngsten programmatischen Diskussionen über Literatur- und Gattungsgeschichte haben sich fast ausschließlich über Probleme des jeweiligen Gegenstandsbereiches verständigt. Dabei sind die Errungenschaften der hermeneutischen Diskussion, wie sie zuletzt zu Beginn der siebziger Jahre auf hohem Niveau geführt wurde, fast völlig in den Hintergrund getreten, obwohl aus ihnen entscheidende Folgerungen für die literarhistorische Forschungspraxis abzuleiten wären. Dem Gedanken des »divinatorischen Verstehens« hat Gadamer die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Verstehens entgegengesetzt. Verstehen wird begriffen als »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.«16 Mit diesem Hinweis auf die Wirkungsgeschichte hat Gadamer die alte hermeneutische Erkenntnis von der »Vorstruktur des Verstehens« präzisiert.17 Gadamer ist in seiner Argumentation zu fragwürdigen Folgerungen gelangt. Dazu gehört nicht nur sein systemwidriges Postulat vom Primat des »Klassischen«,18 das deshalb »eine verfeinerte hermeneutische Besinnung« erfordere, weil es dem Prinzip der Wirkungsgeschichte widerspricht; dazu gehört auch sein Versuch einer »Rehabilitierung von Autorität und Tradition«,19 gegen den Habermas berechtigte Bedenken vorgetragen hat. Mit Gadamer teilt Habermas die Prämisse, daß sich die interpretierende Aneignung von Traditionen - und damit auch von literarischen Texten - »aus einem durch diese Tradition schon vorgeformten Erwartungshorizont« vollzieht.20 Gegen Gadamer aber bestreitet er die unbefragbare Autorität des historisch gewachsenen Vorurteils. Vorurteile sind unverzichtbar im Prozeß des Verstehens, aber sie sind nicht unrevidierbar. Sie können zum Gegenstand von Reflexion gemacht und an

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Über diese Diskussionen informieren, mit reicher Bibliographie, Sibylle Späth/Bernd Witte, Sozialgeschichtliche Tendenzen in der Germanistik der siebziger Jahre, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 27 (1980), H. 3, S. 15-28 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 275. Vgl. ebd., S. 250. Vgl. ebd., S. 270. Ebd., S. 261. Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien, Frankfurt a.M., 2. Aufl. 1971, S. 263.

ihrem Objekt überprüft werden, und sie verlieren damit ihre vermeintlich naturwüchsige Autorität.21 So kontrovers die Diskussion zwischen Habermas und Gadamer in ihren jeweiligen Folgerungen auch verlaufen ist, so grundsätzlich besteht eine Übereinstimmung in der Einschätzung des fundamentalen Problems der Hermeneutik, das Gadamer schon früh formuliert hatte: Es geht beiden zunächst um die »abhebbare Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile«. Methodisch reflektiertes Verstehen erfordert ein Verfahren, in dem »Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen« sind, »um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen.«22 Gadamers wie Habermas' Überlegungen zielen weit hinaus über den Bereich der Philologie, in dem sie wie alle Hermeneutik seit der Romantik ihren Ausgangspunkt haben; besonders Habermas strebt eine kommunikative Theorie lebensweltlichen Handelns an. Trotz ihrer weit ausgreifenden Dimensionen hat die hermeneutische Diskussion zwischen Gadamer und Habermas ihre Bedeutung auch für die philologische Arbeit. Die beiden grundlegenden Einsichten von der Vorurteilsstruktur des Verstehens und der Notwendigkeit reflexiver Befragung von Vorurteilen lassen sich in die kleine Münze der Forschungspraxis umsetzen. Auch die philologische Forschung entwickelt sich in wirkungsgeschichtlichen Zusammenhängen, durch die hindurch sie literarische Texte als ihre Gegenstände wahrnimmt. Die Wirkungsgeschichte von Texten entfaltet sich für sie in den zwei Dimensionen des lebensweltlichen Bewußtseins und der Forschungsgeschichte. Hier wie dort werden die Vorurteile bereitgestellt, die das Verständnis von Texten, ihre Auswahl und ihre Anordnung zu einer zusammenhängenden Literaturgeschichte präfigurieren. Die lebensweltliche Wirkungsgeschichte ist durch eine Rekonstruktion von Rezeptionsgeschichte der Reflexion zugänglich; die wissenschaftliche Wirkungsgeschichte erschließt sich über die Darstellung der Forschungsgeschichte.

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Vgl. Jürgen Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M. 1971, S. 120-159; hier S. 122f. Hans-Georg Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, in: ders., Kleine Schriften IV: Variationen, Tübingen 1977, S. 54-61; hier S. 57f.

IV.

Mit der methodisch betriebenen Aneignung von Forschungsgeschichte wird eine Voraussetzung für die wissenschaftliche Erarbeitung einer Gattungsgeschichte geschaffen, die sich nicht auf die unreflektierte Überlieferung von wissenschafts- und rezeptionsgeschichtlichen Kanonisierungstraditionen verlassen muß. Damit soll nicht der reale, wohl aber der forschungslogische Primat der Wirkungsgeschichte vor dem Text behauptet werden. Das Ziel der Gattungsgeschichte bleibt nach wie vor das Verstehen von Texten in ihren soziokulturellen Zusammenhängen; die Rekonstruktion von Wirkungsgeschichte liefert nur erste, historisch gewachsene Modelle, die sich als wissenschaftliche »Vorurteile« sedimentiert haben und durch authentische Lektüre modifiziert werden können und müssen. Die Aneignung von Wirkungs- und Forschungsgeschichte wäre also der erste Schritt, der einer Gattungsgeschichte vorauszugehen hätte. Bei der Erarbeitung literaturgeschichtlicher Darstellungen auf die systematische Aneignung von Forschungs- und Wirkungsgeschichte zu verzichten und sich dem Glauben an die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugangs zum »Sinn« von Texten zu überlassen, bedeutet nicht etwa, daß dem Primat des Textes sein Recht gegeben würde; es bedeutet vielmehr, sich den Wirkungen der Wirkungsgeschichte blind anheimzugeben. Das gilt bereits und erst recht für die Auswahl der Texte, die in eine solche Darstellung aufgenommen werden. Es wird sich kaum jemand ernsthaft der freilich oft genährten Illusion hingeben, daß sich literaturgeschichtliche Arbeiten eines einzelnen Verfassers zu einem größeren Komplex stets auf authentische Quellenkenntnis stützen können; schon der Eindruck, den größere Darstellungen der Reiseliteraturforschung vermitteln, spricht dagegen. Daß schließlich die Auswahl berücksichtigter Texte - die stets auch ein Werturteil impliziert23 - sich nicht etwa selbstverständlich aufgrund ihrer unmittelbar erfahrbaren Qualitäten ergibt, sondern immer durch das Medium der Wirkungsgeschichte vermittelt wird, ist eine theoretisch zwar bekannte, aber in der Praxis nicht hinreichend gewürdigte hermeneutische Einsicht. Es ist eine sicherlich allseits geübte, aber nur selten eingestandene Praxis, daß sich literarhistorische Darstellungen zu einem oft nicht unerheblichen Teil auf Informationen aus zweiter Hand stützen müssen; ganz zu schweigen von den in solche Darstellungen eingehenden Vormeinungen der Wirkungsgeschichte. Schon eine Gegenüberstellung 23

Zu diesen Fragen vgl. auch Gerhard Plumpe/Karl Otto Conrady, Probleme der Literaturgeschichtsschreibung, in: Literaturwissenschaft. Grundkurs 2, S. 373-392; hier S. 375f. 11

von Lebenszeit und für literarhistorische Darstellungen erforderlicher Forschungszeit macht eine solche Annahme plausibel. Aufgrund dieser forschungslogischen wie forschungspraktischen Voraussetzungen der Literaturgeschichtsgeschreibung liegt es nahe, diese Praxis zu legalisieren durch eine wissenschaftsorganisatorische Ausdifferenzierung von Funktionen, die in der üblichen Forschungspraxis meist mit schlechtem Gewissen in Personalunion betrieben werden. Die Konsequenz daraus ist der Forschungsbericht als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, der die durch die wissenschaftliche Wirkungsgeschichte bereitgestellten Vormeinungen als »abhebbare« zur Verfügung stellt. Damit werden die Prämissen des seligierenden Werturteils, der historischen Anordnung und schließlich des interpretierenden Verstehens aus dem Schattendasein unreflektierter Vorurteile herausgehoben und einer kritischen Reflexion zugänglich, die sich dann in Konfrontation mit den Texten entfalten kann. Indem der Forschungsbericht Forschungsgeschichte als die eine Dimension der Wirkungsgeschichte von Texten vergegenwärtigt, kann er jene »kontrollierte Verfremdung« hermeneutisch wirksamer Traditionen betreiben, die »das Verstehen aus einer vorwissenschaftlichen Übung zum Rang eines reflektierten Vorgehens« erhebt.24 Wissenschaftliche Forschungsgeschichte läßt sich als bewußtgemachte und aufgeklärte Wirkungsgeschichte verstehen, in der jene Vorurteile reflektierend gesichtet werden, durch die hindurch sich der Gegenstand überhaupt erst konstituiert hat.

V. Das Forschungsreferat ist aber nur einer der Wege, die im Ziel einer Gattungsgeschichte des Reiseberichts münden; daneben stellen sich - außer der kontinuierlichen Weiterarbeit an der Interpretation einzelner Werke und Autoren - zusätzliche Aufgaben. Das Forschungsreferat als Vorstudie muß ergänzt werden durch Vorarbeiten anderen Typs. Das Forschungsreferat soll einen extensiven Überblick über die historischen Erscheinungsformen und Entwicklungen der Gattung geben, wie sie sich im Medium der Forschungsgeschichte darstellen; es muß auf eine direkte Berücksichtigung von Texten und damit auch auf die intensive Erprobung sachadäquater methodischer Ansätze verzichten. Solche Ansätze am Material zu entwickeln, ist das Ziel eines Sammelbandes, der die einzelnen Epochen der Gattungsgeschichte vom 11. Jahrhundert bis in die Gegenwart in monographisch angelegten Aufsätzen kontinuierlich ent24

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Haberinas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 280.

wickelt. Der Band bemüht sich dabei - in jenem weiten Rahmen, der bei Publikationen dieses Typs möglich ist - auch um eine gewisse Kohärenz in der sozialgeschichtlichen Methode und in den Fragestellungen, mit denen die Texte untersucht werden.2^ Die zweite systematische Forschungsaufgabe wäre die Erstellung einer zuverlässigen Gattungsbibliographie, die als Grundlage einer Gattungsgeschichte dienen könnte. Hierzu existiert eine vorbildliche, allerdings bei weitem noch nicht abgeschlossene Vorarbeit für den Zeitraum von 1700 bis 1810;26 andere Epochen sind mit modernen bibliographischen Methoden noch nicht erschlossen. Die methodischen Probleme einer Gattungsbibliographie gleichen denen der Gattungsgeschichte, und sie sind nur im heuristischen Vorgriff auf eine solche zu lösen, da sie einen Begriff der Gattung voraussetzen.27 Eine Gattungsbibliographie kann sich nicht darauf beschränken, den jeweils zeitgenössischen Begiff - sofern ein solcher überhaupt existiert - der Gattung »Reisebericht« zu akzeptieren. Sie muß vielmehr selbst von einem solchen Begriff ausgehen, der gleichermaßen den aktuellen wissenschaftlichen Ansprüchen und Einsichten standhält wie auch den historischen Gattungswandel reflektiert. Das »zentrale Problem« einer Gattungsbibliographie bleibt also die »Ermittlung des Gattungscharakters der Werke«.28 Zu den grundlegenden »Tugenden« einer Bibliographie gehören »Vollständigkeit und Zuverlässigkeit«.29 Zuverlässigkeit läßt sich durch den bloßen Rückgriff auf die höchst unzuverlässigen bibliographischen Quellen nicht erreichen. Er kann nur der erste Schritt sein, der ergänzt werden müßte durch den »Nachweis eines Standortes und die anschließende Autopsie.«30 Ob »Vollständigkeit« in diesem frühen Stadium der Forschung bereits ein erstrebenswertes Ziel ist, muß bezweifelt werden; eine vollständige Erfassung auch nur einzelner Epochen dürfte eher lähmend auf die Forschung wirken, solange nicht einmal ein vorläufiger

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Vgl. Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt a.M. 1989. Wolfgang Griep, Deutschsprachige Reiseliteratur 1700 bis 1810. Ein Forschungsprojekt der Universität Bremen, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 1984, München/New York/London/Paris 1985, S. 45-48. Vgl. zu den Problemen einer Gattungsbibliographie die Überlegungen von Ernst Weber, Wechselwirkungen zwischen Gattungsbibliographie und Literaturwissenschaft am Beispiel einer Bibliographie zum Roman des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Forschungsgemeinschaft. Beiträge zur bibliographischen Lage in der germanistischen Literaturwissenschaft, S. 257-279. Ebd., S. 274. Ebd., S. 270. Ebd., S. 273. 13

Konsens über relevante Werke und Autoren besteht und kein Diskussionszusammenhang über methodische Probleme entwickelt wurde.31 Als Grundlage für eine Gattungsgeschichte erschiene eine selektive Bibliographie plausibler, auf deren Basis die im Forschungsreferat dargestellten Problem- und Fragestellungen weiterentwickelt und in bezug auf alle Epochen der Gattungsgeschichte geprüft werden könnten. Die Erstellung einer solchen selektiven Gattungsbibliographie könnte sich ganz pragmatisch an das Forschungsreferat anlehnen, indem sie die dort erwähnten Texte zuverlässig in bezug auf die originale Titelei und den Standort erfaßt und möglichst mit biographischen Informationen ergänzt. Dies wäre ein weiterer grundlegender Schritt, der dem Ziel einer Gattungsgeschichte des Reiseberichts näher führte.

VI.

Der Forschungsbericht folgt in seiner Anlage diesen forschungslogischen Vorgaben. Seine erste und traditionelle Aufgabe ist fernab von jeder hermeneutischen Reflexion die Vermittlung von Information. Die Weitergabe von Informationen kann sich freilich nicht darauf beschränken, die Forschungslage in möglichst kondensierter Form zu referieren, wie es zu Recht von Forschungsberichten über etablierte Themenbereiche verlangt werden darf.32 Er muß neben solchen Informationen über die Forschung zugleich das in ihr niedergelegte Material bereitstellen, auf dem eine Gattungsgeschichte aufbauen kann. Das erfordert eine breite, oft weitschweifige Anlage des Referats. Die Vorstellung, daß relevante wissenschaftliche Arbeiten nur durch die kurze Wiedergabe ihres Ergebnisses abgehandelt werden könnten,33 ist - zumindest im Bereich der Reiseliteraturforschung - eine schöne Illusion. Tatsächlich findet sich unter den selbständig erschienenen Arbeiten zum Thema keine einzige, die so etwas wie eine »These« stringent entfaltete; sie alle bestehen, wie auch die meisten unselbständigen Publikationen, in der Kumulation von Fakten zu Texten, Autoren und zur Geschichte des Reisens. Solche Informationen 31

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Das Problem stellt sich anders dar bei der Quellenbibliographie von Reinhart Meyer, da bei seinem Gegenstand ein über Jahrzehnte hinweg geführter wissenschaftlicher Diskurs ein Raster entwickelt hat, in das sich die immensen neuerschlossenen Materialien einordnen lassen und das durch sie weiterentwickelt werden kann. Vgl. Bibliographia dramatica et dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Übersetzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart, hg. v. Reinhart Meyer, 1. Abt., Bd. Iff., Tübingen 1986ff. Vgl Jäger, Der Forschungsbericht, S. 88. Vgl. ebd., S. 83.

in Zusammenhänge einzuordnen, ist die erste Aufgabe des Forschungsüberblicks. Die Ausführlichkeit, mit der eine Arbeit dargestellt wird, steht also nicht in einem unmittelbaren Verhältnis zu ihrer wissenschaftlichen Qualität und läßt auch keinen wertenden Vergleich mit anderen Arbeiten gleicher Qualität zum gleichen Thema zu, die weniger ausgiebig referiert werden. Wenn mehrere Arbeiten vorliegen, die im wesentlichen die gleichen Informationen liefern, dann orientiert sich das faktographische Referat an der ausführlichsten - oder solidesten - dieser Arbeiten und beschränkt sich bei den anderen auf kurze ergänzende Hinweise. Die gattungsgeschichtliche Intention erfordert ebenfalls eine ausgreifende Ausführlichkeit der zu berücksichtigenden Beiträge. Auch wenn sie oft methodisch irrelevant erscheinen mögen oder - wie dies in der bei diesem Thema ausgiebig betriebenen lokalpatriotisch motivierten Forschung häufig der Fall ist - wissenschaftlichen Standards nicht standhalten, so vermitteln sie doch stets materiale Facetten zur Geschichte der Gattung. Ein Anspruch auf Vollständigkeit läßt sich aus praktischen Gründen nicht einlösen. Angesichts der Fülle und Mannigfaltigkeit des Gegenstandes sind mancherlei Einschränkungen des Berichts notwendig. Für den Bereich der germanistischen Forschung der letzten zwei Jahrzehnte strebt der Bericht jene Vollständigkeit an, die sich auf dem Weg über die - leider unzulänglichen - Indices der Fachbibliographien und mit Hilfe des systematisierten Zufalls erreichen läßt. Unberücksichtigt blieben dabei die umfangreichen Forschungen zur fiktionalen Reiseliteratur. Soweit es irgend möglich ist, werden auch Arbeiten aus den nichtphilologischen Disziplinen herangezogen; daß hier aufgrund des Umfangs der betreffenden Fachgebiete und der bibliographischen Lage die Erschließung noch lükkenhafter sein muß als in der Germanistik, läßt sich wohl nicht vermeiden. Der weitgehende Verzicht auf die Forschungserträge anderer Philologien ist rein pragmatisch und thematisch bestimmt; sie werden nur berücksichtigt, sofern unmittelbare Auswirkungen auf die deutsche Gattungsgeschichte ausmachbar sind. Der Bericht beschränkt sich im wesentlichen auf die Forschung seit 1970; er wurde Anfang 1989 abgeschlossen, auf die Einbeziehung später erschienener Literatur wurde konsequent verzichtet; angesichts der üblichen Verzögerungen in der bibliographischen Verzeichnung germanistischer Neuerscheinungen kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß neuere, in den Jahren vor dem Stichdatum erschienene Arbeiten übersehen wurden. So verführerisch es oft erschien, die prosperierende Reiseliteraturforschung der Germanistik weiter zu verfolgen, so sehr standen praktische Erwägungen dem entgegen. Die Reiseliteraturforschung zumindest der Germanistik ist kaum älter als zwei Jahrzehnte. Nur in wenigen Ausnahmefällen muß auf Beiträge

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zurückgegriffen werden, die vor 1970 erschienen sind. Gänzlich vernachlässigt werden aber die Arbeiten der Germanistik und der Komparatistik, die um die Jahrhundertwende und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts erschienen sind. Diese Beiträge sind - wohl aufgrund des unbefangeneren Selbstverständnisses der Philologie, die sich in weiten Teilen noch als Kulturwissenschaft begriff - zahlreich und nicht immer unwichtig; zumindest stellen sie häufig heute noch relevantes philologisches, bibliographisches und kulturhistorisches Material bereit, auch wenn sie in der Regel methodisch veraltet, weil nach positivistischen Prinzipien angelegt sind. Ein Rückgriff auf solche Arbeiten ist - mit dieser Einschränkung - in vielen Fällen lohnend, ihre Einbeziehung in den Bericht aber nicht praktikabel. Die Darstellung folgt dem Prinzip des strukturierenden Referats; polemische Auseinandersetzungen werden, soweit das irgend möglich ist, vermieden. Die Anordnung des Materials ergibt sich aus den Intentionen der Darstellung. Die strukturierenden Komponenten werden aus dem Material als Vorgriff auf eine Strukturierung der Gattungsgeschichte entwickelt. Grundsätzlich folgt die Anlage der Chronologie, die aber nicht rein annalistisch aufgefaßt wird. Sie lehnt sich vielmehr, so weit das sachlich zu rechtfertigen ist, an die etablierten Kategorien der neueren literarhistorischen Epochengliederung mit ihren Gleichzeitigkeiten, Diskontinuitäten und Überschneidungen an.34 Dieses Verfahren ist für einen Forschungsbericht nicht unproblematisch, da es zur Konkurrenz zweier Darstellungsprinzipien führt: Die Erfordernisse des Forschungsreferates kollidieren oft mit denen der Gattungsgeschichte - immer dann nämlich, wenn in einem wissenschaftlichen Text epochenübergreifende Probleme bearbeitet werden. In einem solchen Fall wird die materiale Darstellung des Textes auseinandergerissen und auf verschiedene Kapitel verteilt, was den Texten in der Regel keinen großen Schaden zufügt. Zusammenfassende Würdigungen der methodischen Leistungen und des forschungsgeschichtlichen Standards einer Arbeit finden sich in einem solchen Fall bei ihrer ersten oder letzten Erwähnung. Vom Prinzip der Epochenchronologie wird abgewichen, wo dies sachlich gerechtfertigt erscheint: wenn bestimmte gattungsgeschichtliche Erscheinungen einer Epoche eindeutig zuzuordnen sind und die Darstellung ihrer Vorgeschichte und ihrer Nachwirkungen nicht aus diesem Zusammenhang herausgerissen werden soll. Die zweifache Zielsetzung des Berichtes führt zu einer doppelten Darstellungsform: Die informierenden Passagen wählen die Form des RefeZu den Periodisierungsproblemen der Literaturgeschichtsschreibung, die in vielen Aspekten denen der Gattungsabgrenzung verwandt sind, vgl. Voßkamp, Literarische Gattungen und literaturgeschichtliche Epochen, S. 67-70. 16

rats; sie werden eingebettet in systematische und nicht unbedingt an der Forschung zum Reisebericht orientierte Überlegungen, die sich aus der monographischen Absicht der Arbeit ergeben. Abschließend sei - mit der Bitte um Nachsicht - auf das stilistische Problem repetierender Monotonie aufmerksam gemacht, das bei Forschungsreferaten wohl nicht zu lösen ist: Der Zwang zur Darstellung des immer wieder Gleichen läßt nur begrenzt variierende Formulierungen zu, da auch der Wortschatz der Wissenschaftssprache beschränkt ist.

*** Daß eine Darstellung dieser Art Fehler enthält, läßt sich wohl kaum vermeiden - auch die Philologie ist nur Menschenwerk. Daß sie aber möglicherweise Fehler enthält, die dem Außenstehenden vermeidbar erscheinen mögen, hat institutionelle Gründe: Der Forschungsbericht ist das Werk eines einzelnen, der alle Arbeiten von der Literaturermittlung und -beschaffung über die Reinschrift bis zum Korrekturlesen und der Erstellung der Druckvorlagen selbst zu tragen, zu finanzieren und in Einklang mit den zahlreichen Pflichten des Privatdozenten an einer bundesdeutschen Hochschule zu bringen hatte. Diese Pflichten ließen eine Arbeit an dem Forschungsbericht nur in den Mußestunden zu. Dies und die zu Beginn der Arbeit unübersehbaren und ungeplanten Ausmaße, die der Forschungsbericht schließlich angenommen hat, mag erklären, daß die Arbeit an ihm gegen den Willen des Verfassers mehr als vier Jahre in Anspruch genommen hat. Die Hilfe einer Institution ist der Arbeit nicht zuteil geworden. Desto dankbarer sei die Unterstützung einzelner vermerkt: Die eigentliche Anregung geht auf Wolfgang von Ungern-Sternberg in Regensburg zurück, der auch große Teile kritisch gelesen und kommentiert hat. Die IASL· Redaktion in München war in vielfältiger Hinsicht hilfreich. Georg Jäger hat die Arbeit ermuntert, unterstützt und kritisch begleitet, seine Mitarbeiter haben das Manuskript einer Durchsicht unterzogen; Frau Brigitte Schillbach war bei der Beschaffung neuerschienener und in Bibliotheken noch nicht zugänglicher Literatur behilflich. Frau Birgitta Zeller vom Lektorat des Niemeyer Verlags hat sich bei der Fertigstellung der Druckfassung in einem Umfang engagiert, der weit über das übliche Maß hinausging. Bei der Erstellung der Druckvorlage haben Wilhelm Fleischmann vom Rechenzentrum und Josef Mittlmeier vom Lehrstuhl für Kunsterziehung an der Universität Regensburg mitgearbeitet. Frau Angela Enders in Regensburg war bei der Manuskriptherstellung, der Erarbeitung der Register und der Endredaktion eine große Hilfe. Verlage stellten Bücher zur

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Verfügung, ohne unbedingt mit einem positiven Urteil rechnen zu können; etliche der Kollegen, die an dem Sammelband zum Reisebericht beteiligt waren, stellten bibliographisches Material bereit und trugen in einer umfangreichen Korrespondenz zur Klärung gattungsgeschichtlicher Fragen bei. Ihnen allen sei dafür gedankt. Lorenzen bei Regensburg, im Juli 1990

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I. THEORIE, METHODOLOGIE UND GESCHICHTE DES REISEBERICHTS

1. Gattungsprobleme Die neuere Reiseliteraturforschung hat sich bis in die jüngste Zeit fast ausschließlich darauf beschränkt, Reiseberichte unter text- und autororientierten Gesichtspunkten auszuwerten, zu analysieren oder zu interpretieren. Gegenüber diesem Forschungsinteresse sind literatur- und gattungstheoretische Probleme ebenso in den Hintergrund getreten wie die Erforschung der Einbindung von Reiseliteratur in ihre vielfältigen historischen und sozialen Kontexte. Schon die poetologische Komponente des Reiseberichts ist bislang nur unzureichend erforscht. Die Rekonstruktion der »Poetik« des Reiseberichts und seiner konstituierenden wie differenzierenden literarischen Merkmale ist bisher nur zögernd und diskontinuierlich in Angriff genommen worden. Auch die weiteren literarhistorischen und -soziologischen Kontexte der Gattungsentwicklung wurden kaum untersucht. Nur selten und oft außerhalb oder am Rande des universitären Betriebs wurden Versuche unternommen, die Grundzüge der Gattungsgeschichte zu umreißen und die literatursoziologischen Bedingungen der Produktion wie Rezeption von Reiseliteratur in der Geschichte zu untersuchen. Erst recht wurde es weitgehend versäumt oder erst in vereinzelten Ansätzen der neuesten Zeit unternommen, die außerliterarischen Aspekte des Reiseberichts zu betrachten. Diese Aspekte sind nicht nur außerordentlich vielfältig, sondern sie stellen sich sowohl epochen- wie autorspezifisch in jeweils eigener Weise dar, so daß eine allgemein angelegte Darstellung kaum erfolgreich sein dürfte. Dennoch lassen sich einige reiseberichtspezifische Einflüsse der Geistes- und Sozialgeschichte herauspräparieren, die bei anderen literarischen Gattungen eine nur geringe oder überhaupt keine Rolle spielen. Zu den wichtigsten mentalitäts-, ideen- und geistesgeschichtlichen Einflußbereichen gehört jener Komplex, der sich um das Problem der Erfahrung und literarischen Darstellung des »Fremden« gruppiert. Die Erforschung dieses Problems hat in der Literaturwissenschaft eine lange Tradition, und in neuerer Zeit ist es wieder deutlicher ins Zentrum der germa-

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nistischen und komparatistischen Diskussion getreten, auch wenn reiseliteraturspezifische Fragen dabei keine größere Rolle gespielt haben. Daneben ist Reiseliteratur auf eine charakteristische Weise in sozialgeschichtliche Entwicklungen im engeren Sinn eingebunden. Eine solche Einbindung läßt sich gewiß für jede Form von Literatur konstatieren, aber bei der Reiseliteratur nimmt sie eine spezifische Gestalt an, die neben den allgemeinen Fragen des Verhältnisses von literarischem Text und sozialem Umfeld die Einbeziehung konkreter sozialgeschichtlicher Entwicklungen sinnvoll erscheinen läßt. Die historischen Erscheinungsformen des Reisens mit dem gesamten soziokulturellen und politischen Umfeld, in das sie eingebettet sind, haben ihre Spuren in der literarischen Gattung hinterlassen. Auch wenn diese Spuren von Epoche zu Epoche und Autor zu Autor unterschiedlich stark ausgeprägt sind, so läßt sich doch stets ein Zusammenhang zwischen Verkehrs- und Reisegeschichte mit ihren vielfältigen technikgeschichtlichen, juristischen, politischen, organisatorischen und infrastrukturellen Facetten auf der einen und der literarischen Gattungsentwicklung auf der anderen Seite konstatieren. Diese Fragen sind erst in jüngster Zeit von der Literaturwissenschaft wahrgenommen worden, während sie von anderen historisch orientierten Fächern längst intensiv erforscht wurden. Diese Problemkreise wären in eine Diskussion über die Poetik und die Methodologie der Reiseliteratur einzubeziehen, um zu einer historisch fundierten Theoriebildung zu gelangen. Die Germanistik hat sich allerdings mit diesen Fragen bisher nur am Rande befaßt. Das theoretische Interesse konzentrierte sich auf den einen Problemkomplex der Definition, der Abgrenzung und der Terminologie. Im Zentrum dieser Diskussionen hat für lange Zeit die Frage nach der Möglichkeit einer Abgrenzung von »literarischen« und »nicht-literarischen« Formen des Reiseberichts gestanden. Einen viel zitierten und insofern bahnbrechenden Versuch der terminologischen und sachlichen Differenzierung der verschiedenen Formen von Reiseliteratur hat schon früh Manfred Link unternommen. Es ist kaum übertrieben zu sagen, daß Link mit seiner Arbeit am Anfang der neueren germanistischen Reiseliteraturforschung steht. Link unterscheidet innerhalb der Reiseliteratur zwischen Reiseführern und Reisehandbüchern, wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Reiseschriften, Reisetagebüchern, Reiseberichten, Reisebeschreibungen, Reiseschilderungen und Reiseerzählungen.1 Zur Abgrenzung dieser verschiedenen Untergattungen sowie zu ihrer Bündelung in verschiedene Gruppen bediente er sich der damals avanciertesten Mittel der Erzähltheorie: 1

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Vgl. Manfred Link, Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine, phil. Diss. Köln 1963, S. 7.

Die von ihm ausgemachten vier Grundformen der Reiseliteratur werden unter Rückgriff auf Herman Meyer und Kate Hamburger differenziert nach den Kriterien der »epischen Integration« und der »Fiktionalisierung«. Sie unterscheiden sich dadurch, daß der »Grad der Faktizität, die Objektivität und Aktualität immer geringer« werden.2 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist ein solcher Ansatz plausibel. Er faßt die Reiseliteratur prinzipiell als eine Form des Erzählens auf, die entsprechend mit dem Instrumentarium der Erzählforschung untersucht werden kann. Allerdings bedeutet das für den Literaturwissenschaftler eine Einengung des Forschungsbereichs, wie sie charakteristisch für die Zeit ist, in der Link seine Dissertation vorgelegt hat. Als eigentlicher Gegenstand kommt nach diesen Kriterien für den Philologen nur jene dritte Gruppe der Reisetagebücher, Reiseberichte, Reiseschilderungen und Reiseerzählungeri in Frage, die noch nicht reine Fiktion und nicht mehr reine Information ist. In der Folgezeit ist die Diskussion nicht sehr weit über Link hinausgekommen. In den wenigen poetologischen Betrachtungen zur Gattung werden zwar gelegentlich konkurrierende Gliederungsprinzipien entwickelt; grundsätzlich blieb Links Frage nach der Gattungsabgrenzung aber im Mittelpunkt der poetologischen Diskussion. Zlatko Klätik folgt einem ähnlichen Muster, wenn er - unter flüchtiger Heranziehung zahlreicher Beispiele aus der europäischen Literatur - den Reisebericht von fiktionalen literarischen Formen abgrenzen will. Im Zentrum seiner Unterscheidung steht die Position des erzählenden Subjekts, die eine Differenzierung zwischen dokumentarischem und ästhetischem Reisebericht erlauben soll. Zu einem Gattungsmerkmal der Reisebeschreibung wird dadurch die »Identität des Autors mit dem Erzähler«.3 Der Autor ist das »integrierende Prinzip« der Reisebeschreibung. Aus seiner Stellung zur Wirklichkeit und der Art, wie er ihre Darstellung in ein »episches Ganzes organisiert«,4 läßt sich eine typologische Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Reiseliteratur bis hin zum fiktionalen Reiseroman vornehmen. Klätik ergänzt diese Feststellungen zum Problem des Autors und des Erzählers durch Überlegungen zur Funktion der Handlung, des Raums und der Zeit in der Reisebeschreibung und in der fiktionalen Prosa. Seine Beobachtungen, daß die Bedeutung der Handlung in der Reisebeschreibung zurück- und die des Raums hervortritt, daß die Reisebeschreibung zudem weitgehend an die Chronologie des Reiseablaufs ge2

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Ebd., s. 10. Zlatko Klätik, Über die Poetik der Reisebeschreibung, in: Zagadnienia Rodzajow Literackich 11 (1969), S. 126-153; hier S. 136. Ebd., S. 139.

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bunden ist, bewegen sich hart am Rande der Banalität. Für die praktische Erforschung der Reiseliteratur dürften sie kaum relevant werden. Die Definition Klätiks, daß das »dokumentarische Modell einer Reisebeschreibung den Typus der deskriptiv-narrativen Prosa« darstelle, »in der das Beschreiben den entfalteten und das Erzählen den reduzierten, eingeschränkten Bestandteil« bilde,5 führt ebenfalls kaum über das hinaus, was fast schon per definitionem als selbstverständlich jeder philologischen Untersuchung von Reiseliteratur zugrunde gelegt werden muß. Die gleiche Problemstellung betrachtet unter anderer Perspektive und mit Material aus der englischen Literatur Hans-Joachim Possin. Nach der Ablehnung von inhaltlichen und formalen Unterscheidungskriterien verfolgt er das Ziel, »auf der Ebene des Thematischen einen bislang unbeachtet gebliebenen Wesenskern als spezifischen künstlerischen Integrationsfaktor freizulegen, der für diesen Typus konstitutiv ist, und der allen Ausprägungen der Literatur des Reisens gemeinsam ist.«6 Die ontologisierende Redeweise vom »Wesenskern« deutet darauf hin, daß es Possin um eine Enthistorisierung des Genres zu tun ist. Die philologische Untersuchung soll die literarische Gestaltung der Reise als einen »immer wieder ästhetisch wirksamen, menschlich bedeutungsvollen Vorgang« in den Blick nehmen.7 Die »Reisedarstellung« wird als ein formales Gestaltungsmittel begriffen, das als zeitloses Darstellungsprinzip sowohl in der fiktionalen wie in der authentischen Reisebeschreibung realisiert wird. Das Problem der Abgrenzung verschiedener Typen der Reiseliteratur löst sich von selbst auf, wenn auf diese Weise das Reisemotiv einfach als literarisches Strukturprinzip definiert wird. Aber der Preis, den Possin dafür zahlen muß, ist zu hoch: Zwar bedarf es keiner Rechtfertigung der Reiseliteratur als eines Gegenstandes der Philologie mehr, aber die eigentlich erkenntnisträchtigen Probleme der Reiseliteraturforschung werden eliminiert. Possins Ansatz verzichtet auf die in philologischer Hinsicht höchst bedeutsame Erörterung der Frage, wie Wirklichkeitserfahrung in literarische Gestaltung umgesetzt wird, und er verzichtet erst recht darauf zu ermitteln, welche kulturellen, sozialen und historischen Einsichten sich aus der Entwicklung dieser Gestaltungsformen ergeben. Eine Vereinnahmung der Reiseliteratur durch eine nur an Strukturprinzipien interessierte Literaturwissenschaft bedeutet einen Rückschritt selbst gegenüber jenen Fragestellungen, die sich - allerdings oft mit unzureichenden theoretischen Mitteln - um eine Abgrenzung von »authentischer« und »fiktio5

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Ebd., S. 141. Hans-Joachim Possin, Reisen und Literatur: Das Thema des Reisens in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1972 (= Studien zur englischen Philologie, NF 15), S. 14. Ebd., S. 15.

naler« Reiseliteratur bemühen und damit jener zumindest ein eigenes Existenzrecht, wenn auch nicht im Rahmen der Philologie, zugestehen. Die jüngste Diskussion hält an dieser Problemstellung fest, ohne allerdings zu überzeugenden Lösungen zu kommen. Etwas heterogen und apodiktisch angelegt ist die Arbeit von Marian Stepien. Nach einer sehr eingeengten und unbegründeten Definition, die als »Reise« nur einen Vorgang gelten lassen will, der auf freier Wahl beruht und zurück zum Ausgangspunkt führt, wird der »literarische« Reisebericht bestimmt als die Erschließung der Welt im »existenziellen und metaphysischen Sinne, einer Entdeckung seiner selbst in der Welt«,8 die mit der romantischen Epoche begonnen habe. Sodann unterscheidet Stepiefi mit der informativen, der publizistischen und der kulturellen drei »Hauptfunktionen der literarischen Reiseberichte«9 - auch das ist kein Beitrag zur Bestimmung der Gattung, der sonderlich originell und weiterführend wäre. Wie unergiebig die ganze Diskussion um die Reiseliteratur als Gegenstand der Philologie verlaufen ist, zeigen die beiden Beiträge von Joseph Strelka zum Thema, die - jeweils unter dem Titel »Der literarische Reisebericht« - im Abstand von 15 Jahren die gleiche These vertreten: Es wird versucht, den literarischen vom nicht-literarischen Reisebericht abzugrenzen durch die »gewisse Sprachkraft«, die jenen auszeichnen müsse10 und die ihn in die Nähe essayistischer Gestaltung rücke. Der ideale Reisebericht wäre danach »geprägt von einer essayistisch-subjektiven Kunstform«,11 für die die Reisewerke Forsters, vor allem aber die »Gipfelleistung der deutschen Reisebeschreibung, Goethes Italienische Reise«, das Modell abgeben.12 Mit solchen Bestimmungen wird theoretisch kaum etwas gewonnen. Es ist unmittelbar einsichtig, daß in der Reiseliteratur wie in jeder anderen literarischen Gattung - Unterschiede in der »Sprachkraft« und in der literarischen Gestaltungsfähigkeit der Autoren festzustellen sein werden. Sie können aber eher intuitiv konstatiert als wis-

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Marian Stepietf, Literarische Reiseberichte, in: Gebrauchsliteratur, Interferenz, Kontrastivität. Beiträge zur polnischen und deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft. Materialien des Germanistisch-polonistischen Symposiums. Regensburg, 22.-27. Oktober 1979, hg. v. Bernhard Gajek/Erwin Wedel, Frankfurt a.M./Bern 1982 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 21), S. 99-104; hier S. 101. Ebd., S. 102. Joseph Strelka, Der literarische Reisebericht, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 3 (1971), S. 63-75; hier S. 64. Joseph Strelka, Der literarische Reisebericht, in: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, hg. v. Klaus Weissenberger, Tübingen 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 34), S. 169-184; hier S. 172. Ebd., S. 174.

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senschaftlich begründet werden und vermögen allenfalls Qualitäts-, nicht aber Gattungsunterschiede zu fixieren.13 Einen späten Nachtrag zu dieser Diskussion um die Literarität des Reiseberichts hat Uwe Ebel im Zusammenhang mit Studien zur skandinavischen Reiseliteratur vorgelegt. Sein Ziel ist es, einen spezifisch literaturwissenschaftlichen Teilaspekt aus dem Gesamtkomplex der im Bereich der Reiseliteraturforschung relevanten Fragestellungen herauszuarbeiten. Er stellt wie vor ihm schon Strelka die Frage nach der »Art und Funktion der sprachlich-gestalterischen Mittel wie nach ihren literarhistorischen Bedingungen« bei einer Gattung, die ursprünglich »nicht dem Bereich der Dichtung zuzurechnen« ist, von einzelnen Autoren mit dichterischen Ambitionen und Qualitäten aber in die Nähe dieses Bereichs gerückt wird.14 Damit will Ebel die Reisebeschreibung als eine eigenständige literarische Gattung in der philologischen Forschung rehabilitieren. Unabhängig von solchen legitimatorischen Überlegungen ist sein Ansatzpunkt sinnvoll gewählt. Ebel bestimmt die Gattung durch ihren Anspruch, »reisend erfahrene Realität authentisch, aber als persönlich erlebt wiederzugeben«.15 Der im Einzelfall nicht notwendig verifizierbare, aber in die Struktur der Texte eingehende Authentizitätsanspruch hebt die Reiseliteratur von der fiktionalen Literatur prinzipiell ab. Die Gestaltungsweisen können die Gattung wieder in die Nähe der Dichtung rücken, weil die Autoren oft zur stilistischen und kompositorischen Originalität gezwungen sind, dann nämlich, wenn sie über längst bekannte Gegenstände schreiben.16 Besonders diesen letzten Aspekt untertfucht Ebel in seinen Studien. Er richtet den Blick auf die literarischen Gestaltungsweisen, mit denen die Autoren ihre authentische Erfahrung überformen, und stellt die Frage, wie diese Gestaltungsweisen von ihrem literarhistorischen Umfeld abhängen. Für die literaturwissenschaftliche - das heißt für ihn die komparatistische Forschung - hat schließlich Thomas Bleicher einige definitorische und sachliche Probleme knapp umrissen, wobei er vom sozialen Vorgang des »Reisens« ausgeht. Er grenzt verschiedene »literarische Aspekte des 13

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Einen anderen stil- und strukturanalytischen Ansatz zur Analyse von Reiseberichten, der sich auf Kategorien wie den Standpunkt des Erzählers als Außenseiter, die ästhetische Distanz, die Charakterisierung von Personen und schließlich das Thema stützt, entwickelt die amerikanistische Dissertation von Patricia McClintock Medeiros, The Literature of Travel of Eighteenth Century America, Ph. D. University of Massachusetts 1971, S. 8-14. Uwe Ebel, Studien zur skandinavischen Reisebeschreibung von Linnd bis Andersen, Frankfurt a.M. 1981, S. 10. Uwe Ebel, Die skandinavische Reisebeschreibung von Linno bis Andersen im Kontext der europäischen Literatur, in: Neohelicon 11 (1984), S. 301-322; hier S. 302. Vgl. ebd., S. 304f.

Reisens« voneinander ab, so die »Reise« als literarisches Strukturelement, als Thema, als gattungstheoretisches und stilistisches Problem.17 Er erwähnt die besonderen Situationen, in die der Reisende - der nicht immer Autor des Berichts sein muß - eintreten kann, und geht auf die Funktionen der Reiseliteratur ein, die konstituiert werden durch den Kontrast von »Heimat und Fremde«.18

2. Die Erfahrung des Fremden Die philologisch orientierte Forschung zum Reisebericht hat sich von vornherein methodische Beschränkungen auferlegt, die in der neueren Diskussion in aller Regel nicht mehr übernommen werden. Das Paradigma der Forschung hat sich nachhaltig dadurch verändert, daß andere, überwiegend nicht-philologische Disziplinen sich des Themas angenommen haben. Starke Impulse für diese Verschiebung der Forschungsinteressen sind allerdings schon von der Vergleichenden Literaturwissenschaft ausgegangen, die sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts der Erforschung des »Bildes vom anderen Land« zugewandt und auch die Reiseliteratur berücksichtigt hat.19 Die dabei entwickelten Fragestellungen wurden von Hugo Dyserinck und seinem »Aachener Programm« wieder aufgegriffen und weitergeführt.20 Dyserinck rechtfertigt die Relevanz, die die Erforschung der »images« - eben der Bilder einer Nation von sich und anderen - für die Literaturwissenschaft im engeren Sinne haben kann. Sie kann vor allem Auskünfte geben über die Bedingungen, denen die Verarbeitung und die Rezeption von literarischen Werken bei fremden Nationen unterliegen,21 und solche Fragestellungen können, wie Dyserinck anregt, über die Literatur hinaus weiter bis in den politischen und soziologischen Bereich verfolgt werden.22 Peter Boerner hat zu der nämlichen Problematik ebenfalls einige knappe methodologische Überlegungen angestellt. Er spricht den Ergebnissen imagologischer Untersuchungen einen »heuristischen Wert« zu sowohl für das Verständnis der historischen Epochen als auch für das Selbstverständnis eigener literarischer Traditionen, die aus der Perspek-

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Thomas Bleicher, Elemente einer komparatistischen Imagologie, in: Korn parat ist ische Hefte, H. 2 (1980), S. 12-24. Ebd.,S.6f. Vgl. zur Geschichte dieser Forschungsrichtung Hugo Dyserinck, Komparatistik. Eine Einführung, Bonn 1977 (= Aachener Beiträge zur Komparatistik 1), S. 126f. Hugo Dyserinck, Komparatistische Imagologie zwischen »Werkimmanenz« und »Werktranszendenz«, in: Synthesis (Bucarest) 9 (1982), S. 27-40; hier S. 30. Vgl. Dyserinck, Komparatistik, S. 128.

Vgl. ebd., S. 130.

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tive anderer Völker in einem anderen Licht erscheinen können.23 Daß bei solchen Untersuchungen die Literatur über Reisen in fremde Länder einen besonderen Stellenwert einnehmen muß, liegt auf der Hand. In die gleiche Richtung zeigen die allerdings recht diffusen Hinweise von Thomas Bleicher, der auf die nicht nur kenntnis-, sondern auch erkenntnisvermittelnde Funktion der Gattung des Reiseberichts verweist, die sie durch die Konfrontation des Reisenden wie des Lesers mit dem »Fremden« besitzt: Die Erfahrung des und die Auseinandersetzung mit dem Fremden kann für den Reisenden wie für den Leser »Innovationscharakter besitzen und zu künstlerischen und geistigen Entwürfen anleiten«; die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind nicht immer nur rational, sondern auch »schon zugleich ästhetisch«, da sie Entwurfscharakter besitzen.24 Mit derartigen Überlegungen weiten die »Imagologie«25 und überhaupt die diversen Theorien der Fremderfahrung die genuin literaturwissenschaftliche Fragestellung aus und lenken den Blick auf einige grundsätzliche Probleme. Sie betreffen zunächst die Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung des Fremden. Michael Harbsmeier hat hierzu einige Überlegungen angestellt. Der Begriff des »Fremden« oder der »Andersartigkeit« bedarf danach, soll er wissenschaftlich fruchtbar angewendet werden, einer präzisen Definition, was bisher kaum gesehen wurde. Nicht alles, was anders ist als das Vertraute, fällt ohne weiteres schon unter die Kategorie des Fremden als des »kulturell Andersartigen«. Harbsmeier hat einen ersten, zwar noch recht unsystematischen aber doch diskutablen Versuch dieser Präzisierung unternommen. Als »kulturelle Andersartigkeit« sollten nur Abweichungen in jenen elementaren Bereichen verstanden werden, die die »Weisen des menschlichen Umgangs mit der Natur« und die gesellschaftlichen »Relationen der nach Alter, Geschlecht, Stand, Rang, Prestige etc. differenzierten Individuen« betreffen, sofern diese Umgangsformen und Relationen als mögliche sowie biologisch oder gesellschaftlich reproduzierbare dargestellt und aufgefaßt werden. Nur wenn diese Voraussetzungen ganz - was selten der Fall ist oder teilweise erfüllt sind, läßt sich von einer »Darstellung so-

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Vgl. Peter Boerner, Das Bild vom anderen Land als Gegenstand literarischer Forschung, in: Deutschlands literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur AmerikaRezeption der deutschen Literatur, hg. v. Alexander Ritter, Hildesheim/New York 1977 (= Germanistische Texte und Studien 4), S. 28-36; hier S. 33. Thomas Bleicher, Einleitung: Literarisches Reisen als literaturwissenschaftliches Ziel, in: Komparatistische Hefte, H. 3 (1981): Reiseliteratur, S. 3-10; hier S. 8. Mit diesem Begriff bezeichnet Dyserinck die Forschung über das Bild vom anderen Land; zur Begriffsgeschichte vgl. Dyserinck, Komparatistische Imagologie, S. 40.

zio-kultureller Andersartigkeit« in den Reiseberichten ausgehen.26 Nur dann nämlich erscheint das Andere nicht nur als zufällige und ephemere Abweichung vom Vertrauten, sondern wird als mehr oder weniger geschlossenes System mit eigenem Anspruch erfahren. Daß die Erfahrung des Fremden ein kulturelles Grundmuster ist, das sich historisch weit zurückverfolgen läßt, hat August Nitschke gezeigt. An drei historischen Fallstudien arbeitet er heraus, daß die Einstellung zum Fremden als einer elementaren Erfahrung aller Epochen in ihrer konkreten Ausgestaltung historisch und gesellschaftlich gebunden ist. Je nach den spezifischen Voraussetzungen wird die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden nach anderen Kriterien gezogen, die sich in politischen oder ideologischen Theoriesystemen kristallisieren.27 Die unreflektierte Voraussetzung der Ausgangskultur als wahrnehmungs- und urteilskonstituierendes Muster bei der Erfahrung des Fremden hat Alois Wierlacher thematisiert und sogar zu einer eigenen Wissenschaft der »Interkulturellen Germanistik« aufgebaut. Wierlacher wirft die Probleme einer »Hermeneutik des Fremden« auf, die sich als »ästhetische Erfahrung des kulturell Unvertrauten« darstellt.28 Diese Theorie entwickelt er unter anderem in einer Kritik der traditionellen Verfahren der Hermeneutik von Schleiermacher bis Gadamer, welche die Erfahrung des Fremden nur als die Verwandlung in das Eigene verstehen will.29 Solche Überlegungen können, bei aller theoretischen Defizienz, die ihnen in den Formulierungen Wierlachers anhaftet, das Bewußtsein dafür schärfen, daß bei der Erforschung der Reiseliteratur die fremde Kultur stets als eigenständige und nicht nur, mit dem Blick des Reisenden, schon als anverwandelte gesehen werden muß. Der Kulturgrenzen überschreitende Reisebericht steht im Spannungsfeld zwischen Ausgangsund Zielkultur; und beiden begegnet er in der Regel naiv. Daß diese Thematik Konjunktur hat, zeigen zwei jüngere Arbeiten, die sich dem Problem der Fremderfahrung zuwenden. Auf der Basis einer historisch angelegten Untersuchung über die Entdecker- und Eroberer-

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Michael Harbsmeier, Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, hg. v. Antoni Maczak/Hans Jürgen Teuteberg. Wolfenbüttel 1982 (= Wolfenbütteler Forschungen 21), S. 1-31; hier S. 15. Vgl. August Nitschke, Das Fremde und das Eigene, in: Funk-Kolleg Geschichte, Bd. I, hg. v. Werner Conze/Karl-Georg Faber/August Nitschke, Frankfurt a.M. 1981, S. 236262; hier S. 257. Alois Wierlacher, Mit fremden Augen. Vorbereitende Bemerkungen zu einer interkulturellen Hermeneutik deutscher Literatur, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 9 (1983), S. 1-16; hier S. 7. Vgl. ebd., S. 5f.

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literatur des 16. und 17. Jahrhunderts entwirft Frauke Gewecke einen theoretischen Umriß der »Begegnung mit dem Fremden«, der allerdings eher als eine Art Forschungsbericht zu lesen ist. Sie verweist auf die »Stereotypen«-Forschung der Psychologie und rekonstruiert die psychologischen, soziologischen und kulturellen Bedingungen, unter denen ethnische Stereotypen entstehen.30 Die zentrale Kategorie dieser Überlegungen ist der »Ethnozentrismus«, der als eine »Konstante menschlicher Wahrnehmung und Urteilsfindung« begriffen wird31 und als solche sowohl wahrnehmungs- wie einstellungssteuernde Dispositionen gegenüber dem Fremden hervorruft. Die Überlegungen Geweckes geben einen guten Überblick über den aktuellen Stand eines Teilbereichs der interkulturellen Diskussion, sie führen allerdings über diesen Stand nicht hinaus. Petra Dietsche widmet sich in einer literaturwissenschaftlichen Studie ebenfalls dem Problem der Fremdwahrnehmung. In ihrer Untersuchung über Erfahrungsformen des »Fremden« will sie die Naivität nicht nur des Reisenden, sondern auch die seines Interpreten überwinden. Die Einleitung legt ein ambitioniertes Programm vor: Dietsche will »Reiseberichte aus der Perspektive der 'Erfahrung der ethnographischen Entdeckung' betrachten«, um auf diese Weise den Eurozentrismus zu überwinden. Das »Erstaunen über das Fremde«, in dem der Reisende seine innere Berührung durch die andere Kultur bekundet, wird dabei zum Schlüssel, der ein angemesseneres Verständnis ermöglichen soll.32 Vier Modellstudien, »an denen typische Mechanismen der Verkennung des Fremden evident werden können«, sollen dieses Programm einlösen.33 Der Ertrag der Untersuchungen wird allerdings den ambitionierten Formulierungen und dem ebenso ambitionierten Rückgriff auf Roland Barthes, der das nichtaneignende Lesen von Texten gelehrt habe,34 nicht gerecht. Tatsächlich kommen die vier Studien nicht über das hinaus, was die Ethnologie und die Literaturwissenschaft schon seit etlichen Jahrzehnten betreiben. Daß die Bereitschaft, sich auf das Fremde neugierig einzulassen, zu den Voraussetzungen seines Verstehens gehören, ist eine seit langem bekannte und in der Reiseliteraturforschung akzeptierte Tatsache. Daß Dietsche sich auf vertrauten Pfaden bewegt, belegen ihre Untersuchungen am Textmaterial. Originell ist zweifellos der Rückgriff auf Berichte von Weltumsegiern des 20. Jahrhunderts ebenso wie die - freilich etwas 30 31

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Frauke Gewecke, Wie die neue Welt in die alte kam, Stuttgart 1986, S. 275-284. Ebd., S. 291. Petra Dietsche, Das Erstaunen über das Fremde. Vier literaturwissenschaftliche Studien zum Problem des Verstehens und der Darstellung fremder Kulturen, Frankfurt a.M./Bern/New York/Nancy 1984 (= Europäische Hochschulschriften 1/748), S. 9. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 11.

künstlich, durch Exkurse zur Ethnologie des 19. Jahrhunderts themenspezifisch gewendete - Interpretation von Stifters Nachsommer unter diesem Gesichtspunkt. In der Sache freilich gehen die Untersuchungen über den bekannten methodischen Standard nicht hinaus. In ihrer Neigung zur Banalität - die sich besonders dort zeigt, wo die bekannten Texte Alexander von Humboldts, Georg Forsters und James Cooks interpretiert werden - fallen sie eher dahinter zurück. Kaum literaturwissenschaftlich orientiert sind die Überlegungen von Egon Schwarz zum Problem der Fremdwahrnehmung. In einigen weniger theoretisch abgesicherten als intuitiven Ausführungen betrachtet er die Bedingungen, denen die Naivität der Fremdwahrnehmung unterliegt, und ihre Folgen für die Reiseliteratur. Er verweist darauf, daß sich die Wahrnehmung des Fremden meist im Rahmen eines »Gruppendenkens« vollzieht, das in jüngerer Zeit besonders durch die Zugehörigkeit zu einer Nation bestimmt wird, das aber schon vor der Ausbildung nationaler Identifikationsmuster in anderen Formen wirksam war. Wie immer sich diese Identifikation des einzelnen mit seinem Kulturkreis inhaltlich ausgestaltet - ihre Folge bleibt meist die gleiche. Sie läßt sich insbesondere beim Reisenden und in der Reiseliteratur beobachten: »der oberflächliche Reisende identifiziert automatisch das von seiner Erfahrung Abweichende als das für die fremde Nation Bezeichnende und interpretiert es gleichzeitig als das Inferiore.«3·* Das Gruppendenken ist zwar häufig, aber keinesfalls ausschließlich durch die »Nation« bestimmt. Es kann ebensogut, wie Wolfgang Kessler in anderem Zusammenhang ergänzt, durch andere gesellschaftliche, etwa durch den sozialen Status definierte, Bezugsgruppen geprägt werden.36 Diese gesellschaftlichen und historischen Voraussetzungen der Wahrnehmung und ihrer Beschreibung implizieren für die Reiseliteraturforschung die Forderung nach einer Untersuchung der Kulturmuster, der Wahrnehmungsmuster und der mentalitätsgeschichtlich bedingten Dispositionen, die in die Wahrnehmung und Beschreibung von erfahrener fremder Wirklichkeit eingehen. Inhalt und Form von Reiseberichten sind danach zu verstehen als Ausdruck einer kultur- und zeitspezifischen Men35

Egon Schwarz, Die sechste Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit. Zum Gruppendenken in Leben und Literatur, in: Die USA und Deutschland. Wechselseitige Spiegelungen in der Literatur der Gegenwart zum zweihundertjährigen Bestehen der Vereinigten Staaten am 4. Juli 1976, hg. v. Wolfgang Pauken, Bern/München 1976, S. 11-26; hier S. 13. Vgl. Wolfgang Kessler, Kulturbeziehungen und Reisen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Festschrift für Heinz Ischreyt zum 65. Geburtstag, hg. v. Wolfgang Kessler /Henryk Rietz/Gert Robel, Berlin 1982 (= Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 9), S. 263-290; hier S. 265. 29

talität, und sie erlauben umgekehrt die Rekonstruktion solcher Mentalitäten. Die nicht-philologischen Studien zur Reiseliteratur sind in dieser Richtung weiter fortgeschritten. Michael Harbsmeier verweist in seiner Untersuchung - mit dem Blick auf frühneuzeitliche Reiseberichte - darauf, daß diese Texte als eine »Art unfreiwilliger kultureller Selbstdarstellung der Ausgangskultur verstanden werden« können37 und damit einen Beitrag zur Erforschung »kultureller Selbstverständlichkeiten« leisten.38 Die Reiseberichte über fremde Länder und Kulturen beziehen sich meist stillschweigend und unreflektiert auf konkrete Verhältnisse im eigenen Land, welche als Folie für die Wahrnehmung des Fremden und die Urteile darüber fungieren. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die Verhältnisse der Ausgangskultur - eine Fragestellung, die von der Reiseliteraturforschung bisher kaum berücksichtigt wurde.39 Nach diesen Überlegungen lassen sich Reiseberichte nicht als realistische Wiedergabe der Wirklichkeit lesen. Wenn sie - was die neuere historische Forschung gerne unternimmt - als Quellen ausgewertet werden sollen, müssen zunächst die individuellen sowie die zeit- und kulturspezifischen Voraussetzungen der Wahrnehmung rekonstruiert werden. Es müssen also, wie Gerhard Huck zusammenfassend feststellt, die »ideologischen Fesseln, denen ganze Epochen, ganze Nationen oder soziale Schichten unterliegen, in ihrer Wirkung auf den Realitätsgehalt der Reiseliteratur herausgearbeitet« werden.40 Im gleichen Maße und eng damit zusammenhängend müssen die persönlichen Dispositionen des Reisenden in den Blick genommen werden: Seine Darstellung hängt von seiner »Einstellung gegenüber dem Leben, vor allem aber der sozialen Lage, dem Niveau von Bildung und Erziehung, den beruflichen Interessen, den politischen Ansichten, religiösen und schließlich von den persönlichen Eigenschaften (Charakter, Temperament, Wahrnehmungsfähigkeit) ab«.41 37 38

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Harbsmeier, Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen, S. 2. Ebd., S. 7. Einen Versuch in dieser Richtung unternimmt Knud Rasmussen, »Hodoeporicon Ruthenicum« von Jacob Ulfeldt - eine Quelle zur russischen oder zur dänischen Geschichte?, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, S.177-192; hier S. 188. Gerhard Huck, Der Reisebericht als historische Quelle, in: ... und reges Leben ist überall sichtbar! Reisen im Bergischen Land um 1800, hg v. Gerhard Huck/Jürgen Reulecke, Neustadt an der Aisch 1978 (= Bergische Forschungen 15), S. 27-44; hier S. 32. A.S. MyPnikov, Die slawischen Kulturen in den Beschreibungen ausländischer Beobachter im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung, hg. v. B. I.

3. Zur Geschichte der Reiseliteratur und des Reisens Zu den komplexen kulturellen, sozialhistorischen und schließlich individuell-biographischen Voraussetzungen der Erforschung der Reiseliteratur treten weitere. Sie betreffen zunächst die Entwicklung der Gattung selbst, deren Selbstverständnis und deren Gestaltungsformen sich im Laufe der Jahrhunderte wesentlich gewandelt haben, und sodann betreffen sie die Geschichte des Reisens, die aufs engste mit der Gattungsgeschichte verbunden ist. Die Geschichte des Reiseberichts vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert wurde mit einigen pauschalen, aber dennoch heuristisch brauchbaren Kategorien von Gerhard Huck beschrieben. Vom Spätmittelalter bis zum 16. Jahrhundert sieht er eine Entwicklung, die auf eine bewußtere Strukturierung der Texte, eine stärkere Empirieorientierung der Darstellung und eine deutlichere Hervorhebung des berichtenden Subjekts hinausläuft.42 Die Kavalierstouren des 17. Jahrhunderts und die daraus hervorgehenden Reisetagebücher bringen eine Konventionalisierung des Reisens und einen damit einhergehenden Verfall der entsprechenden literarischen Gattung mit sich.43 In der Aufklärung hingegen läßt sich eine Emanzipation von solchen Konventionen feststellen, die sich vor allem im Bereich der wissenschaftlichen Reise vollzieht und die eine Differenzierung der verschiedenen Formen des Reisens und des Reiseberichts mit sich bringt.44 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schließlich konstatiert Huck einen »Niedergang der Reiseliteratur«, der mit den vielfältigen technischen Erleichterungen des Reisens zusammenhängen mag.45 Dieser historische Überblick ist gewiß etwas großflächig gehalten, er gibt aber ein Raster, auf das sich quellennähere Untersuchungen differenzierend, modifizierend und korrigierend beziehen können. Im Rahmen der allgemeinen Studien zur Reiseliteraturgeschichte sollte die kleine Schrift Karl E. Ficks am Rande erwähnt werden, die eigentlich der Didaktik des Erdkundeunterrichts gewidmet ist. Fick untersucht die Gründe für das Interesse am Reisebericht, für das er im wesentlichen drei Faktoren ausmacht: die Zunahme der Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen, das Informationsbedürfnis über historische Entwicklungen, das durch den Prozeß der »Enteuropäisierung der Erde« her-

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Krasnobaev/Gert Robel/Herbert Zeman, Berlin 1980 ( = Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 6), S. 143-164; hier 159. Vgl. Huck, Der Reisebericht als historische Quelle, S. 33f.

Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 39f. Ebd., S. 43. Einen ähnlichen Überblick über die historische Entwicklung von Reiseund Reiseberichtsformen gibt Urs Bitterli, Der Reisebericht als Kulturdokument, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 24 (1973), S. 555-564; hier S. 559-563.

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vorgerufen wurde, und die Krise des Fortschrittsglaubens, die die »Eigenkräfte der überseeischen Völker«46 zu respektieren gelehrt habe. Ebenfalls mehr als nur ein rein didaktisches Interesse darf Ficks Versuch einer Auffächerung der Gesichtspunkte beanspruchen, unter denen Reisetexte betrachtet werden können. Eine Untersuchung der Gattung kann die Landschafts- und Naturschilderungen betrachten, die Entwicklung des Raumbewußtseins und der Instrumente zur Durchdringung des Raums rekonstruieren, die Kontakte mit der Naturbevölkerung thematisieren oder den Wandel von Kulturlandschaften in den Blick nehmen. Für diese Themenkreise liefert die Gattung des Reiseberichts reiches Anschauungsund Untersuchungsmaterial unter historischer Perspektive, das von Fick ausführlich in Textauszügen vorgestellt wird und das nicht nur im Schulunterricht - für den Fick spezielle Arbeitsaufgaben zusammenstellt - anregend für die Herausbildung von gattungsspezifischen Fragestellungen sein kann. Der Katalog von Ursula Degenhard gibt ebenfalls einen guten, allerdings ganz anders angelegten Überblick über die Entwicklung der außereuropäischen Reisen von der Frühzeit bis ins 18. Jahrhundert. In einer Fülle von Bilddokumenten und summarischen Darstellungen spiegelt sie die Entwicklung des Weltbildes vom Altertum über das Mittelalter und das Zeitalter der Entdeckungen bis zu den großen Weltumsegelungen der Aufklärung und den Forschungsreisen des 19. Jahrhunderts. Der Katalog läßt sich als Dokumentation der zunehmenden Empirisierung und Präzisierung der Welterfahrung lesen. Er zeigt einerseits die immer genauere kartographische Erschließung der Welt und andererseits die verschiedenen Formen des Umgangs mit dem Exotischen der fremden Natur und fremder Völker. In den Illustrationen zeigt sich so die Entwicklung der exotischen Welterfahrung, die in ihrer Frühphase geprägt ist von der Abhängigkeit von phantastischen und mythischen Vorstellungen und die sich im Laufe der Jahrhunderte zur wissenschaftlichen Erforschung fremder Wirklichkeit durch Ethnographie und Naturwissenschaft wandelt. Der Katalog belegt damit in buchgeschichtlicher Darstellung, wie sich langsam ein »die ganze Erde umfassendes 'Weltbild'« durchsetzt, »das gleichermaßen im zuverlässigen Wort wie in der naturgetreuen Illustration seinen Ausdruck fand.«47

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Karl E. Fick, Geographische Reisebeschreibungen im Unterricht der Erdkunde und Gemeinschaftskunde, Stuttgart 1968 (= Der Erdkundeunterricht 7), S. 10. Ursula Degenhard, Exotische Welten - Europäische Phantasien. Entdeckungs- und Forschungsreisen im Spiegel alter Bücher, Stuttgart 1987, S. 7. - Einen sehr summarischen Abriß gibt auch Ursula Degenhard, Die Entdeckungsgeschichte der Erde Quellen europäischen Wissens, in: Exotische Welten - Europäische Phantasien. Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen und des Württembergischen Kunstvereins im Kunstgebäude am Schloßplatz, 2. September bis 29. November 1987 in Ver-

Der Katalog verweist auf einen Komplex, der bei der Reiseliteraturforschung ebenfalls zu berücksichtigen ist: auf die Entwicklung des Reisens selbst. Umfassendere neuere Darstellungen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, liegen dazu noch nicht vor. Uli Kutter hat die Ergebnisse der älteren und neueren kulturhistorisch orientierten Versuche zur Reisegeschichtsforschung zusammengestellt und auf diese Weise, auch wenn er keinen eigenen Forschungsbeitrag leisten will, einen brauchbaren Überblick über die vielfältigen Aspekte des Reisens vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gegeben.48 Weniger historisch als kategorial angelegt sind die Darlegungen Wolfgang Kesslers. Er kategorisiert zunächst, im Anschluß an Link, aber weit über ihn hinausgehend, verschiedene Typen des Reiseberichts,49 er verweist auf das soziale »Beziehungsgefüge«, in das der Reisende eintritt,50 ebenso wie auf die verschiedenen Motive, die einer Reise zugrunde liegen können.51 Daneben erwähnt er die kulturellen Voraussetzungen, das soziale Umfeld und die Traditionen, in denen der Reisende steht und die seine »Sichtweisen und Einstellungen« präformieren,52 und schließlich geht er auf die Formen des Reiseberichts und die Möglichkeiten seiner Rezeption ein.53

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bindung mit der Ausstellung Zeichnungen und Druckgraphik vom 16. bis 19. Jahrhundert in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart, 2. September bis 8. November 1987, Stuttgart 1987, S. 54-59. Uli Kutter, Zur Kulturgeschichte des Reisens, in: Niedersachsen in der Reiseliteratur vergangener Jahrhunderte. Ausstellung im Niedersächsischen Landtag (Katalog), Göttingen 1980, S. 11-20. Einen ähnlich umfassenden, international orientierten Überblick über die Reiseliteratur mit dem Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit gibt Nico Israel, Die Reiseliteratur des 15. bis 19. Jahrhunderts. Eine Übersicht, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (Frankfurt), Nr. 103/104 vom 29. Dez. 1978, Beilage »Aus dem Antiquariat«, S. A 453-A 461. - Als interessante und amüsante Einführung läßt sich die reich bebilderte kulturhistorische Dokumentation von Löschburg lesen, die aber keine wissenschaftlichen Absichten verfolgt; vgl. Winfried Löschburg, Von Reiselust und Reiseleid. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 1977. - Ebenfalls unverächtlich als Informationsquelle ist die umfangreiche Einleitung, die Rudolf W. Lang seiner kompetenten Sammlung von Textauszügen aus der Reiseliteratur von Montaigne bis Otto Julius Bierbaum vorausschickt. Die Einleitung informiert, allerdings überwiegend auf der Basis literarischer Quellen und ebenfalls ohne wissenschaftliche Ambitionen, über die Entwicklung des Reisens und seiner Rahmenbedingungen vor allem im 18. und 19. Jahrhundert; vgl. Rudolf W. Lang, Notizen zum Thema, in: Reisen anno dazumal. Literarische Notizen, hg. v. Rudolf W. Lang, München 1979 (zuerst 1971), S. 17-140. Vgl. Kessler, Kulturbeziehungen und Reisen, S. 270-273. Ebd.,S.275f. Vgl. ebd., S. 277f. Ebd., S. 276. .. Vgl. ebd., S. 278. - Ahnliche Kategorien entwickelt, aus dem gleichen Diskussionszusammenhang heraus, Heinz Ischreyt, Reisen und Reisebeschreibungen als Quellen der Kulturbeziehungsforschung. Bericht über die 10. Konferenz des Studienkreises für

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Feuilletonistisch angelegt ist der reisegeschichtliche Überblick in Wulf Schadendorfs kleinem Bildband. Er gibt eine historische Darstellung, die ihren Wert schon darin hat, daß sie die sehr verschiedenen Typen des Reisens und der Antriebe zum Reisen klar voneinander abgrenzt und ihren historischen Ort bestimmt. Die Darstellung reicht von den schon früh nachweisbaren Berufsreisen der Handwerker, Kaufleute und Soldaten über das Pilgerwesen, die Kaiserreise, die Bildungs- und Vergnügungsreise, den Reisenden in der Aufklärung und der Romantik bis hin zum Tourismus. Daneben berücksichtigt Schadendorf die materiellen Aspekte des Reisens, indem er auf die frühe Kommerzialisierung schon bei den Römern54 und auf die Entwicklung des Straßenbaus und der Verkehrsmittel verweist. Eine solche - offensichtlich auf guter, wenn auch im einzelnen nicht nachgewiesener Materialkenntnis beruhende Darstellung ist trotz ihrer Gedrängtheit nicht überflüssig. Sie belegt die mannigfachen Zusammenhänge, in denen das Reisen steht, und öffnet den Blick für die außerordentliche historische Vielfalt dieses Phänomens. Erhellend ist das reichhaltige Bildmaterial des kleinen Bandes, in dem die verschiedenen Facetten des Reisens optisch dokumentiert werden durch Abbildungen von Orientierungsmitteln, Reiseausrüstungen, Kutschen oder Gaststuben. Fick, Degenhard, Kutter und Schadendorf deuten die Aspekte an, mit denen die Forschung zum Reisebericht sich zu befassen hätte. Das weite technische und organisatorische Umfeld des Reisens wäre bei konkreten Untersuchungen zu einzelnen Reiseberichten immer mit zu berücksichtigen - ein Anspruch, dem sich die neuere literaturwissenschaftliche Forschung im zunehmenden Maße zu stellen versucht. Einen kleinen Einblick in die entsprechenden Ergebnisse der kultur-, sozial-, wirtschaftsund technikgeschichtlichen Forschung gibt Klaus Beyrer in der Einleitung seiner Studie zur Postkutschenreise. Er arbeitet »ideologische Muster« in der »Verkehrsgeschichtsschreibung« heraus, die im polarisierenden Gegensatz von fortschritts- und traditionsorientierten Darstellungen virulent werden, wie sie besonders in der Entgegensetzung von »Postkutsche« und »Eisenbahn« auftreten.55 Außerdem sichtet er verschiedene Konzepte der »Postgeschichtsschreibung«56 und der »literaturwissenschaftlichen Reise-

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Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa vom 26. September bis 1. Oktober 1978 im BUdungsbaus Salzburg-St. Virgil, in: Deutsche Studien 16 (1978), S. 401-416; hier S. 405-415. Vgl. Wulf Schadendorf, Zu Pferde, im Wagen, zu Fuß. Tausend Jahre Reisen, München, 2. Aufl. 1961, S. 9. Klaus Beyrer, Die Postkutschenreise, Tübingen 1985 (= Untersuchungen des LudwigUhland-Instituts der Universität Tübingen 66), S. 12-18.

Ebd., S. 20-22.

theorie«,57 bevor er auf »Aspekte kulturwissenschaftlicher Reisetheorie« eingeht.58 So gibt er einen zwar recht reduzierten, aber methodisch sehr reflektierten Überblick über die diversen Probleme einer »Reisekulturforschung« und ihre Lösungsansätze in verschiedenen Disziplinen. Für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen wären vor allem die Ansätze zu einer verkehrsgeschichtlichen Theorie im Rahmen der Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Hier hat Werner Sombart Pionierarbeit geleistet, der in seiner großen Studie über den »modernen Kapitalismus« reisegeschichtliche Probleme intensiv mitberücksichtigt hat. Neben dem historischen Material, das er für die einzelnen Epochen aufarbeitet, sind sein verkehrstheoretisches Modell und seine Definitionen relevant: »Verkehr« wird bestimmt als Ortsveränderung von Personen oder Sachgütern, die sich mit Hilfe der Verkehrstechnik, also den Verkehrswegen und -mittein, vollzieht, welche im Rahmen einer Verkehrsorganisation bereitgestellt werden. Die Verkehrseinrichtung kann passiv ausgelegt sein, wenn sie nur auf Verlangen in Gang gesetzt wird, oder aktiv, wenn sie regelmäßig, unabhängig vom aktuellen Bedarf, betrieben wird.59 Mit diesen Defitionen gibt Sombart ein mit wirtschaftswissenschaftlichen Kategorien angelegtes Raster, das eine erste Kategorisierung des Reisens und des amorphen historischen Materials ermöglicht. Auf der Grundlage dieser Bestimmungen arbeitet Sombart jeweils umfangreiche Kapitel zur Verkehrsorganisation, -politik und -technik der jeweiligen Epochen in den Gang seiner wirtschaftsgeschichtlichen Darstellung ein. Er liefert damit unverzichtbares Material, zu dem auch Reisebeschreibungen als Quellen gehören.60 Sombart berücksichtigt das Verkehrs-, Transport- und Reisewesen vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. In bezug auf das Mittelalter werden allerdings nur kurz der Gütertransport und das Pilgerwesen erwähnt.61 Sehr ausführlich widmet sich Sombart hingegen dem Verkehrswesen jenes Zeitraums, in dem die Grundlagen gelegt wurden für die mo57 58

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Ebd., S. 27-31. Ebd., S. 31-36. Vgl. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. II: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert, München/Leipzig, 2., neugearb. Aufl. 1916, S. 232-235. Zum historischen Quellenwert von Reisebeschreibungen vgl. ebd., S. 236 und S. 254. Vgl. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. I: Einleitung - Die vorkapitalistische Wirtschaft - Die historischen Grundlagen des modernen Kapitalismus, München/Leipzig, 2., neugearb. Aufl. 1916, S. 8890. Vgl. auch die knappen Bemerkungen zu Pilgertransport und -beherbergung; Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. II, S. 256 und 272.

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derae Verkehrsentwicklung. Er untersucht die Transporttechnik des Frühkapitalismus im 17. Jahrhundert;62 er stellt die Verkehrspolitik des 17. und 18. Jahrhunderts dar63 und dokumentiert umfassend den Personen-, Güter-, Post- und Nachrichtenverkehr vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.64 Für das 19. Jahrhundert gibt Sombart wiederum fast ausschließlich einen Überblick über die Entwicklung des Güterverkehrs und des Transportgewerbes.65 Die Entwicklung des eigentlichen Reisens wird unter dem interessanten Gesichtspunkt der Wirtschaftspsychologie betrachtet: Die technische und organisatorische Erleichterung des Reisens trägt zur Ausweitung, Vereinheitlichung und »Erhellung« der Märkte bei.66 Wie Sombart in seinem Modernen Kapitalismus widmet sich auch Kellenbenz in seiner jüngeren, auf die deutsche Entwicklung konzentrierten wirtschaftsgeschichtlichen Darstellung den Erscheinungen des Verkehrswesens. Obwohl Kellenbenz sich bei der Strukturierung seiner Darstellung wohl von Sombart hat inspirieren lassen, ist sein Ansatz nicht so stark theoretisierend angelegt wie der Sombarts. Kellenbenz beschränkt sich eher auf eine pragmatische, an den historischen Fakten orientierte Darstellung des deutschen Verkehrs- und Nachrichtenwesens in den einzelnen Epochen der deutschen Geschichte. In acht Kapiteln beschreibt er in unterschiedlicher Ausführlichkeit die einzelnen Aspekte des Verkehrswesens von der Zeit Karls des Großen bis 1945.67 Die Darstellung der einzelnen Epochen erfolgt in der Regel nach dem gleichen Schema. Kellenbenz resümiert jeweils knapp den Ausbau der Verkehrswege, die Entwicklung der einzelnen Verkehrs- und Fahrzeugformen, also den Straßen- und Schiffahrts-, später auch den Schienen- und den Luftfahrtsverkehr, wobei er in die sehr summarische Darstellung gelegentlich genauere Zahlenangaben über die Entwicklung einzelner Teilbereiche einfügt. Daneben gibt er begleitende Informationen über Organisationsformen des Verkehrswesens, über seine wirtschaftliche Be62 Vgl. Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. I, S. 510-512. 63 64

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Vgl. ebd., S. 394-397. Vgl. Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. II, S. 254-395. Vgl. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. III: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, München/Leipzig 1927, S. 273-303. Vgl. ebd., S. 650f. Vgl. Hermann Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. I: Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 1977: S. 68 (8. und 9. Jahrhundert); S. 115f. (12. und 13. Jahrhundert); S. 171-178 (15. Jahrhundert); S. 258-262 (16. und 17. Jahrhundert); S. 340-343 (18. Jahrhundert); Bd. II: Vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, München 1981: S. 108-119 (19. Jahrhundert); S. 273-280 (1870-1914); S. 414-422 (1915-1945).

deutung für den Handel, die Kosten für Transport und Zölle und - in bezug auf die jüngeren Epochen - über seine Funktion als Teil des Dienstleistungsbereichs der modernen Gesellschaft. Wie Sombart betrachtet Kellenbenz alle diese Phänomene mit dem streng begrenzten Blick des Wirtschaftshistorikers. Während aber die einschlägigen Passagen von Sombarts Werk methodisch wie stofflich eine unverzichtbare Grundlage für eine Erforschung der Kulturgeschichte des Reisens bilden, bleibt Kellenbenz in seiner Darstellung sehr knapp und wenig materialreich. Sie ist deshalb nur als erste und sehr großflächige Einführung in das Verkehrswesen einer Epoche zu benutzen. Ebenfalls unter wirtschaftswissenschaftlichem Gesichtspunkt, aber stärker systematisch konzipiert ist die große Untersuchung von Fritz Voigt. Im ersten, theoretisch ausgelegten Band gibt er eine umfassende Analyse aller Faktoren der »Verkehrswirtschaft«, die für die Reiseliteraturforschung wohl kaum fruchtbar gemacht werden kann. Dem Kulturwissenschaftler eher kurios erscheinen mag der Versuch, Widerstände gegen das Reisen - ein an sich durchaus beachtenswerter Aspekt in historischen Untersuchungen - in eine mathematische Formel zu fassen und damit als Wirtschaftsfaktor berechenbar zu machen.68 Kulturhistorisch leichter umzusetzen ist dagegen vielleicht der Ansatz, die Reiseneigung verschiedener Epochen oder Personenkreise unter wirtschaftlichem Aspekt, als eine Funktion von Einkommen und Preisen, zu sehen. Aber auch das ist ein Verfahren, das - soweit es quantifizierend betrieben wird nicht sehr viel weiter führt. Der Wirtschaftshistoriker kann eigentlich selbst nur sein Scheitern feststellen, wenn er konstatieren muß, daß es stets Reisende gab, »die als Wanderer in der Welt umherstreiften ohne Rücksicht auf ihr Vermögen, auf Einkommen und Bedürfnisse, die für andere Menschen unabdingbar erschienen.«69 Dem Kulturhistoriker können solche resignierenden Feststellungen des Wirtschaftswissenschaftlers Ansporn sein zu Untersuchungen, die den Bereich des Wirtschaftlichen nicht vernachlässigen, wohl aber überschreiten. Der zweite Band von Voigts Darstellung gibt umfassendes Material zur Geschichte des Verkehrswesens, ohne daß damit allerdings historische Absichten verfolgt würden. Es geht Voigt vielmehr darum, nachzuprüfen, »ob und inwieweit die Ergebnisse der theoretischen Analyse in historischen Abläufen erkennbar sind.«70 Der Band folgt eher einer systematischen als einer historischen Konzeption. Dennoch wird wertvolles Material mitgeteilt, das fallweise für die Reiseliteraturforschung interes68

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Vgl. Fritz Voigt, Verkehr, Bd. I: Die Theorie der Verkehrswirtschaft, Berlin 1973, S. 452. Ebd., S. 409. Ebd., S. 3.

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sant sein kann. Voigt stellt jeweils umfassend die historische Entwicklung der Schiffahrt, des Straßen-, Schienen- und Luftverkehrs dar; außerdem berücksichtigt er das Post- und Nachrichtenwesen und schließlich sogar den Energietransport. Zu allen diesen Bereichen werden ausführliche Literaturangaben gemacht, so daß der zweite Band in dieser Hinsicht als ein unentbehrliches Kompendium für die Reiseliteraturforschung gelten darf.71 Eine umfassende, wieder stärker kultur- als wirtschaftstheoretisch angelegte Geschichte des Verkehrs hat Friedrich Rauers vorgelegt, allerdings nicht mehr selbst publizieren können. Sie wurde von Joachim Vosberg unter einem zu populistischen Titel vorgelegt, der den wissenschaftlichen Charakter der Arbeit eher zu unterschlagen trachtet. Theoretische Gesichtspunkte liegen der Arbeit fern. Sie ist im wesentlichen eine mit reichen Zitaten versehene Materialsammlung zur Geschichte des Verkehrs bei allen Völkern und zu allen Zeiten. Trotz dieses naturgemäß uneinlösbaren universalen Anspruches findet sich für viele Teilaspekte der Reisegeschichte wichtiges, wenn auch kaum aufgearbeitetes Material, das für weiterführende Studien fruchtbar gemacht werden kann. Interessant sind die zahllosen Begleitumstände der Verkehrsorganisation, die ausführlich gewürdigt werden - so Fragen des Gastrechts, des Zoll- und Geldwesens, der Nachrichtentechnik, der juristischen Dimension des Reisens, der Straßen- und Verkehrsmittelentwicklung und der Reiseorganisation.72 Einen kleinen und speziellen Teilabschnitt der Verkehrstechnik behandelt Wilhelm Treue. Er stellt die Entwicklung der Wagentechnik von den Anfängen bis zur Gegenwart unter technik- und kulturgeschichtlichen Aspekten dar. Dabei werden wichtige Zusammenhänge zwischen Reisekultur und technischen Neuerungen sichtbar. Insbesondere die Federungs- und Lenkungsmechanismen der - im 15. Jahrhundert neu erfundenen Kutsche73 - führten dazu, daß dieses Verkehrsmittel das europäische Verkehrswesen vier Jahrhunderte lang prägen konnte. Treue stellt in seiner reichbebilderten Studie diese Karriere der Kutsche unter detaillierter Rekonstruktion der technischen Entwicklung, aber auch unter Berücksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Implikationen dar und zieht dabei ausführlich Quellen aus der Reiseliteratur und -theorie 71 72

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Vgl. Fritz Voigt, Verkehr, Bd. II: Die Entwicklung des Verkehrssystems, Berlin 1965. Vgl. Friedrich Rauers, Vom Wilden zum Weltraumfahrer. Die Geschichte des Verkehrs von den Anfängen bis zur Gegenwart, bearb. v. Joachim Vosberg, Bad Godesberg oJ. (um 1962). Rauers hat das von Vosberg bearbeitete Material bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gesammelt; vgl. ebd., S. 6f. Vgl. Wilhelm Treue, Achse, Rad und Wagen. Fünftausend Jahre Kultur- und Technikgeschichte, hg. im Auftrag der Bergischen Achsenfabrik Fr. Kotz & Söhne in Wiehl, München 1965, S. 212.

heran. Für die Literaturwissenschaft sind seine leider sehr knappen Betrachtungen zu »Rad und Wagen als Symbol« interessant. Sie bringen einen tow d'horizon zu diesem Komplex vom 1. Jahrtausend v. u. Z. bis zu Goethe.74 Ohne wissenschaftliche Ambitionen konzipiert ist der Band von Rolf L. Temming, der aber dennoch einen anregenden und mit reichem Bildmaterial versehenen Überblick über die Entwicklung des Straßenverkehrs gibt.75 Einen anderen wesentlichen Teilbereich einer Kulturgeschichte des Reisens stellt Rauers mit seiner Kulturgeschichte der Gaststätte umfassend dar. Auch diese Untersuchung ist universal angelegt. Sie verfolgt ihr Thema zunächst unter Wirtschafts- und Marktgesichtspunkten, indem sie im ersten Teil den Wandel von der Naturalwirtschaft und der Vorherrschaft des Gastrechts zum Gaststättenwesen als Gewerbe darlegt. Die Geschichte des eigentlichen - gewerblichen - Gasthofs wird ausführlich und geographisch ziemlich umfassend vom 16. bis zum 20. Jahrhundert verfolgt. Neben diesem institutionellen Aspekt werden einzelne Facetten der Reisegeschichte, der Geschichte des Fremdenverkehrs sowie Gasthofbräuche dargestellt. Die umfangreiche Studie liefert historisches Material, das für die Reiseliteraturforschung gut zu verwerten ist, auch wenn es eher feuilletonistisch als theoretisch-systematisch verarbeitet wird und das ganze Werk einige unerfreuliche Spuren seiner Entstehungszeit trägt.76 Eine neuere Untersuchung zum gleichen Thema hat Moritz Hoffmann vorgelegt. Hoffmanns Studie - die mit einem Vorwort des Präsidenten des »Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes« versehen ist - verfolgt, unter Beschränkung auf den deutschsprachigen Kulturraum, Entstehung und Wandel des Hotels und seiner Vorformen vom 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Sie stellt die organisatorische und die rechtliche Entwicklung des Beherbergungswesens dar, wobei sie zahlreiche Quellen aufarbeitet. Hoffmann sieht die Herausbildung des Gaststättenwesens in größeren Zusammenhängen und geht deshalb breit auf reisegeschichtliche Entwicklungen und auf die Herausbildung des Fremdenverkehrs ein, wobei er recht ausführlich Texte aus der Geschichte des Reiseberichts heranzieht. In seiner Darstellung finden sich längere Abschnitte, in denen Rei74 75 76

Vgl. ebd., S. 294-302. Vgl. Rolf L. Temming, Illustrierte Geschichte des Straßenverkehrs, o.0.1978. Vgl. Friedrich Rauers, Kulturgeschichte der Gaststätte, 2 Bde., Berlin 1941 (= Schriftenreihe der Hermann Esser Forschungsgemeinschaft für Fremdenverkehr 2). Das Werk ist Hermann Esser gewidmet, »dem Schöpfer des großdeutschen Fremdenverkehrs«; in der Vorrede klagt Rauers über den Verfall der Gasthofsitten vor 1933, als an »Stelle der Bindungen des Gemeinschaftslebens« der »überbetonte Einfluß des Einzelnen« herrschte (ebd., Bd. I, S. VII); an anderer Stelle heißt es in bezug auf die Unsicherheit der Straßen: »Erst die allerneueste Zeit schuf völlige Sicherheit mit schärfstem Durchgreifen.« Ebd., Bd. II, S. 818.

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seberichte des 16. Jahrhunderts,77 die Kavaliersreisen des 17. Jahrhunderts78 und die Fußwanderungen des späteren 18. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt des Themas ausgewertet oder zumindest ausführlicher zitiert werden.79 Der größere Teil der Arbeit ist dem 19. und 20. Jahrhundert gewidmet. Hoffmann stellt den Einfluß dar, den die Entstehung des modernen Tourismus mit seinen Begleiterscheinungen wie Bäderwesen oder Reisebüros auf die Struktur des Fremdenverkehrs und damit auf die des Hotelwesens gehabt hat. Obwohl die Darlegungen leider - abgesehen von einem schmalen Literaturverzeichnis - nicht mit einem wissenschaftlichen Apparat abgesichert sind, beleuchtet Hoffmanns Studie einen wichtigen Aspekt der Infrastruktur des Reisens zumindest in großen Umrissen und gibt allerlei kulturhistorisch interessante Details. Der Überblick über die verschiedenen Bereiche der Reiseliteratur- und Reiseforschung in und außerhalb der Germanistik zeigt die Fülle der Aspekte und Probleme, mit denen sich eine fundierte wissenschaftliche Untersuchung von Reiseliteratur auseinanderzusetzen hat. Bedauerlich ist, daß sich in diesem Bereich noch nicht einmal ein kontinuierlicher Diskussionszusammenhang herausgebildet hat, aus dem zumindest eine Verständigung über grundlegende Problemstellungen hätte hervorgehen können. Die bisherigen germanistischen Forschungsergebnisse zeigen eine zögernde, allerdings deutlich steigende Bereitschaft, sich auf die Ergebnisse der kulturhistorischen Forschung einzulassen und sie für die Interpretation von Texten zu nutzen. Wo dies nicht geschieht und sich die Germanistik mit ihren traditionellen poetologischen Fragestellungen begnügt, läßt sich kaum ein wissenschaftlicher Fortschritt konstatieren. Hier bleiben die Ergebnisse weitgehend spekulativ. Aber auch wo dieser Problemhorizont überschritten wird, hat die germanistische Reiseliteraturforschung als Ganze noch nicht jenen Standard erreicht, der ihr möglich wäre. Dies dürfte vor allem daran liegen, daß die Forschungen weitgehend epochen- und autorspezifisch disparat und ohne Bezugnahme aufeinander betrieben werden. Dieser Zustand läßt sich nur überwinden durch eine inhaltliche Neuorientierung der Forschung, die die eigenen Fachgrenzen zu überschreiten bereit sein muß und die vielleicht auch neue organisatorische Formen entwickeln sollte, um den vielfältigen Problemen des literaturwissenschaftlichen Gegenstandes »Reisebericht« gerecht werden zu können.

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Vgl. Moritz Hoffmann, Geschichte des deutschen Hotels. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Heidelberg 1961, S. 60-78. 78 Vgl. ebd., S. 99-102. 79 Vgl. ebd., S. 130-134.

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II. REISEBERICHTE IM SPÄTMITTELALTER

1. Die Entwicklung der Pilgerreisen und die Entstehung einer Reisekultur Die Entwicklung des Reisens im europäischen Mittelalter hat ihre entscheidenden Impulse durch die Pilgerfahrten erhalten. Mit ihren spezifischen Bedürfnissen trugen sie zur Herausbildung einer Reisekultur bei, die durch das Zusammenspiel von verkehrsorganisatorischen Maßnahmen und theologischen oder populärreligiösen Strömungen ihre charakteristische Ausformung erhielt. Beide Momente sind von der geschichtswissenschaftlichen Forschung untersucht worden, die damit das Umfeld für die Entstehung der mittelalterlichen Reiseliteratur intensiv beleuchtet hat. Unter den neueren Arbeiten ragen die Studien von Ludwig Schmugge zum spätmittelalterlichen Pilgerwesen hervor, die alle Aspekte dieses Problemfeldes umfassend erschließen, während die Vorgeschichte der Pilgerreise noch recht unzureichend erforscht zu sein scheint. Einen gerafften Überblick über die frühe Geschichte des Pilgerwesens vom 4. bis zum 7. Jahrhundert und seine theologische Fundierung gibt Herbert Donner in der Einleitung eines Sammelbandes mit einschlägigen Texten. Er verweist darauf, daß die Pilgerschaft im 4. Jahrhundert nicht unstrittig war, von prominenter Seite vielmehr auch gravierende Einwände vorgebracht wurden, die sich indes nicht durchsetzten.1 Als theologische Motivation von Pilgerfahrten macht er ein Bündel von Gründen aus, das sich auf den »Generalnenner des religiösen Sicherheitsbedürfnisses« bringen läßt.2 Daß geographisch seit dem 4. Jahrhundert Palästina zu einem bevorzugten Ziel der Pilgerreisen werden konnte, ist ebenfalls eine Folge theologischer Entwicklungen, in deren Verlauf Jerusalem zur »Heiligen Stadt« avancierte.3 Donners Darlegungen geben ein grobes Raster zur Frühgeschichte des okzidentalen Pilgertums, aber sie sind zu oberflächlich und zu sehr von einer theologischen, zu wenig von einer sozialge-

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Vgl. Herbert Donner, Einleitung. Pilgerfahrt ins Heilige Land, in: Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.-7. Jahrhundert), hg. v. Herbert Donner, Stuttgart 1979, S. 13-35; hier S. 15. Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 29.

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schichtlichen Perspektive geprägt, als daß sie die Reiseliteraturforschung befruchten könnten. Donners Textsammlung frühester Pilgerliteratur mag aber immerhin deshalb einiges Interesse beanspruchen, weil sie die Anfänge jener Tradition dokumentiert, auf die sich die späteren Texte des deutschsprachigen Kulturraums beziehen. In dieser Periode werden die Stereotypen geprägt, die lange Zeit auch dann noch wirksam bleiben, wenn das »Schema und die Norm« in den Pilgerberichten »zu einem guten Teile die lebendige Anschauung« ersetzt haben.4 Die wichtigsten neueren Beiträge zur sozialgeschichtlichen Einordnung und Charakterisierung des mittelalterlichen Pilgerwesens hat Ludwig Schmugge in einigen Studien vorgelegt, die sehr viel weiter über das unmittelbare theologische Umfeld der Pilgereisen hinausgreifen und ausführlich die Organisation und die Infrastruktur des mittelalterlichen Pilgerwesens rekonstruieren. Die andernorts aufgestellte - unbelegte Behauptung, daß nahezu jedermann »mindestens eine größere Wallfahrt in seinem Leben« antrat, die »ihn je nach Vermögen zu mehr oder weniger fern gelegenen Heiligtümern führte«,5 dürfte um einiges übertrieben sein und wird durch Schmugges Untersuchungen spezifiziert. Schmugge beschreibt zunächst die chronologische Entwicklung: Erste kontinuierliche Pilgerreisen lassen sich bereits in der Zeit vom 7. bis zum 9. Jahrhundert nachweisen;6 zu einer »Massenbewegung« werden die Pilgerfahrten um die Jahrtausendwende,7 und diese Tendenz setzt sich bis in das 11. und 12. Jahrhundert fort.8 Bei dieser über Jahrhunderte währenden Massenbewegung mußten erhebliche reisetechnische und infrastrukturelle Probleme, insbesondere in bezug auf die Unterbringung und soziale Betreuung der Pilger, bewältigt werden. Diese Aufgaben wurden traditionell von der Kirche übernommen, welche während des ganzen Mittelalters ein Viertel ihrer Einkünfte für die »Sozialfürsorge« bereitstellte, die schon seit dem 4. Jahrhundert von eigenen Institutionen gewährleistet wurde. Im karolingischen Reich bestand dann bereits ein ausgebautes, von den rund 650 Klöstern getragenes System der öffentlichen

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Ebd., S. 32. Claudia Zrenner, Die Berichte der europäischen Jerusalempilger (1475-1500). Ein literarischer Vergleich im historischen Kontext, Frankfurt a.M./Bern 1981 (= Europäische Hochschulschriften 1/382), S. 146. Ludwig Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 64 (1984), S.l83; hier S. 5. Vgl. ebd., S. 8f. Vgl. ebd., S. lOf. und Robert Plötz, Strukturwandel der peregrinatio im Hochmittelalter. Begriff und Komponenten, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 26/27 (1981/82), S. 129-151; hier S. 130.

Armenfürsorge.9 Eine recht gut entwickelte Infrastruktur läßt sich, trotz des Fehlens detaillierter Quellen, für die Romfahrten des 8. und 9. Jahrhunderts nachweisen.10 Zum ernsthaften Problem wird die Frage der Betreuung von Pilgern im 11. Jahrhundert. In dieser Zeit wurde das Pilgerwesen zu einer Massenbewegung, und das hängt sicherlich mit einem ganzen Komplex von Entwicklungen zusammen, die kommerzieller, religiöser und sozialgeschichtlicher Natur sind; auch religionsgeschichtliche Entwicklungen wie die Entstehung von Armutsbewegungen im 11. Jahrhundert dürfen dabei nicht vernachlässigt werden.11 Zunächst dürften religiöse Motive eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Pilgerreise konnte als Sühneoder Bußwallfahrt unternommen werden;12 sie ist aber vor allem Folge eines allgemeinen Heiligen-, Reliquien- und Wunderglaubens, der durch entsprechende Berichte systematisch propagiert wurde.13 Nicht zuletzt ist sie inspiriert von einer religiösen Denktradition, die das Leben als »Pilgerfahrt« auffaßte.14 Mit diesen religiösen Motiven vermischen sich von Anfang an profane. Die Pilgerreise wurde immer mehr zu einer weltlichen; eine Entwicklung, die schließlich spätestens seit dem 15. und 16. Jahrhundert zur Herausbildung eines regelrechten »Sakraltourismus« führte.15 Schließlich geht das Pilgerwesen als Massenbewegung einher mit und wird gefördert von neuen theoretischen Vorstellungen über den Status der Armut im Christentum und trifft zusammen mit einer verbreiteten realen Armut in den Städten wie auf dem Lande.16 Auch andere Faktoren allgemeinen sozialen Wandels spielen eine Rolle: Die wachsende Mobilität hing zusammen mit einer Bevölkerungsvermehrung, die Freistellung von Arbeit in größerem Umfang ermöglichte. Außerdem wirkten lokale

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Vgl. Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter, S. 4; und Ludwig Schmugge, Zu den Anfängen des organisierten Pilgerverkehrs und zur Unterbringung und Verpflegung von Pilgern im Mitelalter, in: Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter, hg. v. Hans Conrad Peyer unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München/Wien 1983 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 3), S. 37-60; hier S. 39. Vgl. Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter, S. 6. Vgl. Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs, S. lOf. Vgl. Ludwig Schmugge, »Pilgerfahrt macht frei«. Eine These zur Bedeutung des mittelalterlichen Pilgerwesens, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 74 (1979), S. 16-31; hier S. 27; vgl. auch Plötz, Strukturwandel der peregrinatio im Hochmittelalter, S. 129-151; hier S. 139. Plötz, Strukturwandel der peregrinatio im Hochmittelalter, S. 157f. Klaus Herbers, Der Jakobsweg. Mit einem mittelalterlichen Pilgerführer unterwegs nach Santiago de Compostela, Tübingen 1986, S. 32f. Plötz, Strukturwandel der peregrinatio, S. 137; Schmugge setzt diesen Wandel schon vorher, im 12. und 13. Jahrhundert, an; vgl. Schmugge, »Pilgerfahrt macht frei«, S. 26. Vgl. Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs, S. lOf.

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Katastrophen, Seuchen, Hungersnöte oder als unzuträglich empfundene soziale Verhältnisse ebenfalls mobilitätsfördernd.17 Schließlich dürften juristische Absicherungen eingewirkt haben, die den Pilgern Privilegien auf der Reise gewährleisteten und ihren rechtlichen Status in der Heimat garantierten.18 Für die Jerusalempilger lassen sich weitere Reisemotivationen ausmachen. Die Orientreise kann hier, unter dem Vorwand der Pilgerfahrt oder im Verein mit ihr, zu einem »Erkundungsunternehmen« werden, das im Auftrag europäischer Herrscher Informationen über den Orient liefern sollte - ein Motiv, das sich in den Reisen Wilhelms von Boldensele, Ghilleberts von Lannoy und Bertrandons de la Broquiere unterstellen läßt. Sie unternahmen alle ihre Reisen im französischen Auftrag, und die Anlage ihrer Berichte legt die Vermutung nahe, daß ihr hauptsächliches Ziel eine »Gesamterkundung des nahöstlichen Terrains« gewesen ist.19 Ein weiteres spezielles Motiv für adelige Jerusalempilger war die Erlangung der Ritterschaft vom »Heiligen Grab«; ein Vorgang, der zuerst von Wilhelm von Boldensele20 und im Anschluß daran von einigen weiteren Autoren, am ausführlichsten von Felix Fabri, beschrieben wurde.21 Mit der Herausbildung der Pilgerfahrten zu einer Massenbewegung wurden dem Beherbergungswesen Aufgaben gestellt, die durch eine Ausdifferenzierung der entsprechenden Institutionen bewältigt werden sollten. Da sich das ursprüngliche »Hospitium« der Klöster zunehmend mehr der Unterbringung vornehmer - und zahlungskräftiger - Gäste zugewandt hatte, entwickelt sich wohl im 11. Jahrhundert ein eigenes, speziell auf die Pilgerbetreuung ausgerichtetes kirchliches Beherbergungswesen, das weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, entlang der großen Pilgerstraßen nach Jerusalem, Rom und Santiago entstand.22

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Vgl. Schmugge, Zu den Anfängen des organisierten Pilgerverkehrs, S. 41. Schmugge, »Pilgerfahrt macht frei«, S. 21f. Herbert Kolb, Kreuzzugsliteratur - Das Wunderbare und die Reichtümer des Orients, in: Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt, Bd. II: Die mittelalterliche Welt 600-1400, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982, S. 483503; S. 523; hier S. 499; vgl. auch den Kontext S. 469-499. Auf diesen Aspekt geht auch Zrenner kurz ein; vgl. Zrenner, Die Berichte der europäischen Jerusalempilger, S. 119. Wilhelm von Boldensele wurde von der neueren Forschung fast völlig vernachlässigt; eine Ausnahme bildet der Beitrag von Beckers, der sich einem speziellen Überlieferungsaspekt widmet: Hartmut Beckers, Der Orientreisebericht WÜhelms von Boldensele in einer ripuarischen Überlieferung des 14. Jahrhunderts, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 44 (1980), S. 148-166. Vgl. Kolb, Kreuzzugsliteratur, S. 500; vgl. auch den Kontext S. 499-503. Auch Strachan geht kurz darauf ein; vgl. Diane Summerhays Strachan, Five Fifteenth Century German Reisebeschreibungen. A Study in Genre, Ph. D. University of Utah 1979, S. 99f. Vgl. Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter, S. llf. Vgl. auch Norbert Ohler, Reisen im Mittelalter, München 1986, S. 116-137.

Der Haupttyp der Pilgerherberge war das städtische Hospital. Daneben finden sich aber an markanten Teilstrecken und Punkten der Pilgerstraßen auch außerhalb der Städte Pilgerherbergen. Von besonderer Bedeutung waren die vom 11. bis 13. Jahrhundert an allen wichtigen Gebirgszügen entstandenen Alpenhospitäler, durch die die Überquerung der Alpen für größere Menschenmengen überhaupt erst möglich wurde.23 Entsprechendes gilt für die Hospitäler an Brücken, die den ansonsten schwierigen Flußübergang erleichterten.24 Alle Hospitäler standen unter kirchlicher Leitung, auch wenn sie oft von Laien gestiftet und dann unter kirchlichen Schutz gestellt wurden. Im 11. Jahrhundert waren sie überwiegend Bestandteil von Benediktinerabteien; später übernahmen auch andere Mönchsgemeinschaften Schmugge stellt sie in einem eigenen Abschnitt ausführlich dar25 - oder karitativ aktive, finanzkräftige Laien den Unterhalt der Hospitäler. Finanziell abgesichert waren sie durch »Schenkungen, Grundbesitz und Almosen«.26 Die Aufnahmekapazität der Hospitäler ist schwer zu ermitteln. Die häufig genannte Zahl von zwölf Betten ist wohl oft nur symbolisch zu verstehen, zumal mit der Zahl der Betten nicht auch schon die Zahl der möglichen Gäste benannt wird. Die Pilgerhospitäler waren jedenfalls den Belastungen des ständig ansteigenden Pilgerstroms nicht gewachsen. Die Beanspruchung durch kostenträchtige soziale Leistungen, wie die Speisung von armen Pilgern - die allerdings keinen sehr großen Anteil der Gesamtpilgerzahl ausgemacht haben dürften27 -, beeinträchtigte die lokale Armenfürsorge und war auf Dauer nicht durchführbar. Das führte im Laufe des 12. Jahrhunderts an den großen Pilgerwegen zum Ausbau von Beherbergungseinrichtungen neben den Klöstern.28 Schmugge nennt unter Rückgriff auf die Quellen eine ganze Reihe von Möglichkeiten für die Pilger, zu einem Nachtquartier zu kommen. Eine große Bedeutung hatte dabei die private Unterkunft, als deren Motiv sich »durohaus die christliche Nächstenliebe erkennen« läßt.29 Auch die Spei23

24 fyf

26 27

Vgl. Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter, S. 40-46. Zur besonderen Rolle der Alpen beim mittelalterlichen Reisen vgl. auch Ohler, Reisen im Mittelalter, S. 165-172. Zur verkehrtechnischen Erschließung der Alpen seit dem Mittelalter vgl. den reichillustrierten Begleitband zur Münchener Ausstellung von 1986: Uta Lindgren, Alpenübergänge von Bayern nach Italien, 1500-1850. Landkarten Straßen - Verkehr. Mit einem Beitrag von Ludwig Pauli, München 1986; speziell zu den Gasthöfen und Hospitälern vgl. S. 179f. Vgl. Ohler, Reisen im Mittelalter, S. 46-51. Vgl. Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter, S. 57-62. Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 3.

28

Vgl. ebd., S. 54-57.

29

Schmugge, Zu den Anfängen des organisierten Pilgerverkehrs, S. 50. 45

sung der Pilger wurde zunehmend privatisiert; offensichtlich war es kein Problem, sich außerhalb der Klöster in Gasthöfen selbst zu versorgen.30 Spätestens seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts entstand das kommerzielle Gasthaus, das sowohl Quartier wie Beköstigung bieten konnte.31 Die Beziehungen zwischen den Pilgern und ihren klösterlichen oder kommerziellen Herbergsgebern wurden im kirchlichen und weltlichen Recht geregelt; die ersten Gesetze finden sich im 12. Jahrhundert in Spanien. In ihnen werden wie kurz darauf in den anderen Ländern mit ausgedehntem Pilgerverkehr Bestimmungen getroffen, die die Sicherung des Anspruchs der Pilger auf Herberge und ihren Schutz vor räuberischen Übergriffen oder Übervorteilung zum Ziel hatten.32 Die Entstehung einer kommerziellen Herbergsstruktur ist Ausdruck einer allgemeinen Kommerzialisierung des Pilgerwesens. Es läßt sich eine Symbiose feststellen zwischen religiösen und merkantilen Interessen - nicht nur in bezug auf die Herbergen, sondern auch für die Pilger selbst, die ihre Wallfahrt oft mit Handelsinteressen verbunden haben.33 Schmugge benennt daneben weitere kommerzielle Aspekte des Pilgerwesens: Seit dem 12. Jahrhundert gibt es für einzelne Wallfahrtsorte Pilgerabzeichen, die als sichtbarer Ausweis der Pilgerfahrt getragen wurden. Aus diesem Abzeichenwesen entwickelt sich bald eine regelrechte Souvenirindustrie, was zu Konflikten zwischen verschiedenen kirchlichen Einrichtungen über das lukrative Herstellungs- und Verbreitungsrecht führte.34 Schmugge zeichnet den Gesamtkomplex dieser Entwicklungen mit einer Fülle von Details nach, wobei er sich auf Italien, Frankreich - das das dichteste Pilgerstraßennetz hatte35 - und Spanien konzentriert. Die von ihm zusammengestellten Fakten belegen die These, daß sich im 11. Jahrhundert - in Frankreich etwas weiter ins 12. Jahrhundert hinein verschoben36 - eine umfassende Infrastruktur herausgebildet hatte, die in der Lage war, die Pilgerströme organisatorisch zu bewältigen. Leider nur kurz geht Schmugge auf einen literarischen Aspekt der Pilgerreisen ein. So beschreibt er knapp die » Reiseführer« als »eine eigene Literaturgattung«,37 die mit wichtigen Pilgerinformationen, aber auch mit

30 31

32 33

35 36 37

46

Vgl. ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 56-59. Vgl. ebd., S. 59. Vgl. Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter, S. 62-67. Vgl. ebd., S. 21f. Vgl. ebd., S. 22. Ebd., S. 67.

Propaganda für einzelne Wallfahrten und »deftigen Urteilen über Land und Leute« angereichert war.38 Für das Abflauen der Pilgerfahrten im 13. Jahrhundert kann Schmugge vielfältige Gründe anführen;39 er zeigt aber auch, daß diese Tendenz später wieder durch Innovationen und Strukturwandlungen im Pilgerwesen aufgefangen wurde. Besonders das Verleihen von Ablässen an den Pilgerorten und die Erfindung der periodischen Wallfahrten, etwa der »Heiligen Jahre« im Jahre 1300, bewirkten ebenso eine Neubelebung40 wie die »Bußpilgerfahrten«, die im 14. und 15. Jahrhundert dramatisch zunahmen, und die organisierten Pilgerfahrten ins heilige Land, die im Spätmittelalter einige hundert Pilger pro Jahr anzogen.41 Die spätmittelalterliche Entwicklung des Pilgerwesens hat Schmugge in einer eigenen Studie untersucht. In ihr beschreibt er die mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen für die neuerliche Zunahme der Pilgerfahrten in dieser Zeit. Die Zunahme ist einerseits gegründet auf »Heiligenverehrung und fromme Mobilität«, andererseits auf einem Wandel in der Form der Reise selbst, der den Reiseentschluß erleichterte: Die Pilgerfahrt des Spätmittelalters war berechenbar geworden, und diese Entwicklung kam der Bereitschaft zum Pilgern beim »Bürgertum und beim ritterlichen Adel« entgegen, da hier ein »Hang zur Kalkulierbarkeit, zur Vermeidung großer Risiken« zur Lebenshaltung gehörte.42 Die Pilgerfahrten des Spätmittelalters lassen sich deutlich typologisieren. Zur wichtigsten Kategorie gehören die »peregrinationes maiores« also die großen Pilgerfahrten nach Rom, die durch die »Heiligen Jahre« neuen Aufschwung erhielten, nach Jerusalem, das erst seit der Mitte des 14. Jahrhunderts wieder regelmäßig besucht wurde, und nach Santiago.43 Eine andere Gruppe umfaßt jene Pilgerfahrten, die sich anderen überregionalen Zielen zuwandten. Ihr Ziel waren zahlreiche »Marien-, Hostienund Heiligblutwallfahrtsorte«, die »als Ausdruck der gesteigerten Eucharistiefrömmigkeit« im 14. und 15. Jahrhundert neu entstanden waren.44 Eine merkwürdige Verbindung von ökonomischen und religiösen Motiven findet sich bei den »Pilgerfahrten auf Grund von Gelübden und Testa38

39 40

42

Ebd., S. 69. VgLebd. Vgl. ebd., S. 69-78; vgl. auch Ludwig Schmugge, Die Pilger, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, hg. v. Peter Moraw, Berlin 1985 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 1), S. 17-47; hier S. 21-24. Vgl. Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs, S. 79-82. Schmugge, Die Pilger, S.19.

43

Vgl. ebd., S. 21-27.

44

Ebd., S. 27; vgl. auch den Kontext S. 27-30.

47

menten«, bei denen »Söldnerpilger« angeheuert wurden, um für andere oft bereits Verstorbene - Pilgerreisen zu übernehmen.45 Kommerzielle Motive finden sich auch bei den lokalen Wallfahrten, die in der Regel mit Ablässen verbunden waren und manchmal Pilgerströme epidemischen Ausmaßes zu einzelnen Wallfahrtsorten führten, die aber ebenso schnell wieder abflauen konnten.46 Ebenfalls ein charakteristisches Phänomen des Spätmittelalters sind die irrationalen und impulsiven Massenwallfahrten, die gelegentlich psychotische Züge annahmen, aber manchmal auch revolutionäre mit religiösen Motiven verbanden, wobei die Abgrenzung zwischen Pilgerfahrt und Aufruhr kaum möglich ist.47 Eine wichtige Rolle spielen schließlich die Büß- und Strafwallfahrten, die wiederum den Charakter von Massenbewegungen haben konnten.48 Die Strafwallfahrten als eine spezielle Form der »unblutigen städtischen Sozialhygiene« machten »einen markanten Teil der spätmittelalterlichen Pilgerschaft aus, was nicht ohne Folgen für das zunehmend negativer bewertete Bild des Pilgers blieb.«49 Schmugges ausführliche Darstellung von Forschungsergebnissen zum mittelalterlichen Pilgerwesen gibt eine wohlfundierte Übersicht über die organisatorischen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen, daneben aber auch über Motive und Entwicklungen der Pilgerreise im Mittelalter. Er kann dabei einen Wandel im Pilgerwesen konstatieren, der sich mit dem Begriff einer »Verbürgerlichung« umschreiben läßt: Er bezeichnet das Streben nach einer immer größeren Sicherheit des Reisens durch seine Institutionalisierung. Auch die Reisemotive wandeln sich. Säkulare Interessen wie Neugierde spielen neben den traditionellen religiösen eine größer werdende Rolle. Insgesamt, so hält Schmugge fest, kommt das »Phänomen des periodischen Wallfahrern« dem »modernen Urlaubsgedanken« nahe.50 Auf die mentalitäts- und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen wie auf die Infrastruktur der Pilgerreisen geht auch Christiane Hippler im ersten Teil ihrer Arbeit über Pilgerberichte des Spätmittelalters ausführlicher ein. Sie beschränkt sich allerdings - ohne die Studien Schmugges schon zu kennen - im wesentlichen auf eine Wiedergabe des Forschungsstandes und fügt nur gelegentlich eigene Quellenbelege aus Pilgerberichten ein. In ihrem Überblick geht sie bis zu den Anfängen der christlichen Wall45 46

Vgl. ebd., S. 30-33. Vgl. ebd., S. 39-42.

47

Vgl. ebd., S. 33-38.

48

Vgl. ebd., S. 42-47. Ebd.,S.46f. Vgl. Ludwig Schmugge, Zusammenfassung, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, S. 105-108; hier S. 105.

49

48

fahrtstradition im 2. und 3. Jahrhundert zurück, die ihre entscheidenden theologischen Impulse durch Origines erhalten hat.51 Zu den von Schmugge detaillierter beschriebenen Voraussetzungen der Pilgerreisen fügt Hipller nur weniges hinzu. Sie gibt einige weitere Hinweise zur rechtlichen Stellung der spätmittelalterlichen Pilger auf der Reise und in der Heimat52 und widmet sich besonders den Motiven für die Pilgerschaft. Von wesentlicher Bedeutung scheinen die versprochenen »vollkommenen Ablässe« gewesen zu sein, von denen allerdings nur sieben belegt sind.53 Daneben sind im späten Mittelalter weltliche Motive in den Vordergrund getreten. Fürstliche und bürgerliche Ritterfahrten nach Palästina waren nach Ausweis der Pilgerbücher des 15. Jahrhunderts vornehmlich durch das Prestigebedürfnis angeregt, das durch die Ritterschaft vom Heiligen Grab befriedigt werden konnte, die bald zum »Hauptziel der Fahrt« wurde.54 Einen eigenen Aspekt gewinnt Hippler dem Thema durch ihren Hinweis auf die Kritik an den Pilgerfahrten ab, die schon bei den Zeitgenossen laut wurde. Sie zielte vor allem auf die Begleiterscheinungen der Verweltlichung der Pilgerfahrten. Die Kritiker wie Geiler von Kaysersberg und später Erasmus von Rotterdam oder Martin Luther beklagten, daß die zunehmende Welterfahrung der Reisenden zur Vernachlässigung der religiösen Pflichten führe. Andere Autoren beanstanden die Mißachtung der Pflichten gegenüber der eigenen Familie oder das Reputationsbedürfnis der heimgekehrten Reisenden, das auch in ihrer mit orientalischen oder italienischen Elementen durchsetzten Sprache zum Ausdruck komme.55 Wie andere Forscher vor ihr insbesondere Sommerfeld, auf den sie sich ausdrücklich beruft56 - geht auch Hippler von einer zunehmenden Verweltlichung der Pilgerreisen aus. Die Lust am Reisen und das Interesse an der Welt werden immer mehr zum treibenden Motiv, und oft dient das religiöse Interesse nur noch als Vorwand für säkulare Reisen.57 Das »Gruppenerlebnis« der spätmittelalterlichen Pilger läßt sich so insgesamt mit der von Georg Schreiber entlehnten Formel von »Weltoffenheit und Weltflucht« beschreiben.58 51

52 53 54

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57 58

Vgl. Christiane Hippler, Die Reise nach Jerusalem. Untersuchungen zu den Quellen, zum Inhalt und zur literarischen Struktur der Pilgerberichte des Spätmittelalters, Frankfurt a.M./Bern/New York 1987 (= Europäische Hochschulschriften 1/968), S. 43. Vgl. ebd., S. 57-65. Vgl. ebd., S. 69f. Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 80-85. Vgl. ebd., S. 29f. Vgl. ebd., S. 77-80. Ebd., S. 85. 49

Die mittelalterlichen Pilgerreisen haben sich vor allem - neben vielen lokalen Wallfahrtsorten, die keine nennenswerte Berichterstattung hervorgebracht haben - den drei Fernzielen Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela zugewandt. Am wenigsten beachtet wurden von der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung die Reiseberichte über Rom;59 ausführlich untersucht sind dagegen - auch von der Germanistik - die Pilgerreiseberichte nach Jerusalem.60 Das dritte große Ziel, das im 12. Jahrhundert »den Rang der bisherigen Ziele für eine Ferawallfahrt, Rom und Jerusalem« erreicht, nämlich das spanische Santiago de Compostela,61 wurde von Klaus Herbers untersucht; seine Studien erbringen aufschlußreiche und für die Reiseliteraturforschung wichtige Ergebnisse über das mittelalterliche Pilgerwesen. Herbers untersucht in seiner Studie über den Jakobuskult und den Liber Sancti Jacobi unter ausdrücklich »mentalitätsgeschichtlicher« Perspektive62 nicht nur den allgemeinen Zusammenhang zwischen Religion und Gesellschaft des Spätmittelalters, sondern auch die speziellen Aspekte der Pilgerreise, wie sie sich im Rahmen dieses Komplexes darstellen. Der Liber Sancti Jacobi - eine um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandene und wohl von einem Kanoniker zusammengestellte Textkompilation63 ist in seinem fünften Buch ein »Pilgerführer«;64 auch aus den anderen Büchern lassen sich, wie Herbers darlegt, Hinweise auf die Motivation und die Durchführung der Jakobus-Wallfahrten entnehmen - so den »Mirakelberichten«, in denen auf die Gefahren eingegangen wird, die den Pilgern bei der Wallfahrt drohen.65 Herbers versucht die Jakobuswallfahrt unter drei Aspekten anhand der Aussagen des Liber zu charakterisieren. Er kommt dabei zu Feststellungen, die sicherlich cum grano sails für das Pilgerwesen des späten Mittelalters generelle Bedeutung haben: Die Pilgerfahrten sind motiviert durch

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50

Vgl. allerdings den Artikel über die Mirabilia Romae; Volker Honemann, (Art.) Mirabilia Romae, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. VI, Berlin/New York 1986, Sp. 602-606. Einen Überblick über die neueren Forschungsergebnisse gibt Dietrich Huschenbett, Die Literatur der deutschen Pilgerreisen nach Jerusalem im späten Mittelalter, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 29-46. Vgl. Herbers, Der Jakobsweg, S. 15f.; zu den Pilgerfahrten nach Santiago und Jerusalem vgl. auch Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, Bd. I: 8001197, München 1972, S. 135-140. Klaus Herbers, Der Jakobuskult des 12. Jahrhunderts und der »Liber Sancti Jacobi«. Studien über das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft im hohen Mittelalter, Wiesbaden 1984 (= Historische Forschungen 7), S. 52f. Vgl. ebd., S. 197. Vgl. ebd., S. 20.

Vgl. ebd., S. 120.

die Suche nach dem Heil und werden teilweise als Strafwallfahrten und teilweise als Devotionsübungen durchgeführt; ihr Hauptanstoß ist die Wundergläubigkeit, die im Liber in populärreligiöser Weise propagiert wird; dazu treten außerreligiöse Motive wie Reiselust und Fernweh.66 Der Liber gibt den potentiellen Pilgern Anweisungen für die seelische und praktische Vorbereitung der Reise und macht Mitteilungen über die rituellen Praktiken und Gepflogenheiten nach der Ankunft am Wallfahrtsort.67 Schließlich lassen sich ihm - allerdings nur sehr zurückhaltende Auskünfte entnehmen über die Verflechtung von Wallfahrt und Ökonomie, aus denen deutlich wird, daß dem Pilgerwesen im allgemeinen eine große wirtschaftliche Bedeutung im Spätmittelalter zukam. Die Bedeutung des Liber Sancti Jacobi als eines »Pilgerführers« wird dadurch erkennbar. Er »berichtet nicht nur von der Größe und den wunderbaren Taten des Apostels, sondern will auch die Angst vor einer Pilgerfahrt nehmen«.69 Der Text, der den meist leseunkundigen Pilgern durch die Vermittlung von Klerikern zugänglich wurde,70 verfolgte die Absicht, durch Beschreibung, Ratschläge, moralische Appelle und Vorschriften den »Vollzug künftiger Pilgerfahrten in angemessene Formen zu lenken«.71

2. Die Profanisierung des Reisens und der Ausbau der Reisekultur Im Laufe der Entwicklung führte die zunehmende Profanisierung des Pilgerwesens zu einem Wandel in der sozialen Zusammensetzung der Pilger: Während sich die Pilgerschaft im 10. und 11. Jahrhundert überwiegend aus hochadligen Reisenden rekrutierte, setzte sie sich im weiteren Verlauf der Entwicklung immer stärker aus anderen sozialen Schichten 66 67 68

69 70

71

Vgl. ebd., S. 165-170. Vgl. ebd., S. 170-181. Vgl. ebd., S. 192 und den Kontext S. 181-192. Herbers, Der Jakobsweg, S. 18. Vgl. ebd., S. 30. Ebd., S. 24. Zur Entstehung, den Adressaten und dem Inhalt des Liber vgl. ebd., S. 1930; und Herbers, Der Jakobuskult, S. 33-47. Herbers gibt auch eine umfängliche interdisziplinäre Bibliographie zum »Jakobsweg« und zum mittelalterlichen Pilgerwesen überhaupt; vgl. ebd., S. 211-240. In seiner Edition Der Jakobsweg gibt Herbers eine Zusammenfassung seiner Ergebnisse und darüber hinaus eine übersetzte Auswahl aus dem Liber Sancti Jacobi. - Zu Santiago als Pilgerort vgl. auch die Untersuchung von Mieck, der die Entwicklung des Wallfahrtswesens bis in die Gegenwart verfolgt und dabei besonders auf die politischen Aspekte im 20. Jahrhundert hinweist. Ilja Mieck, Kontinuität im Wandel. Politische und soziale Aspekte der Santiago-Wallfahrt vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 299-328.

51

zusammen, im Spätmittelalter vor allem aus Bürgern und ritterlichen Pilgern.72 Die Pilgerreise ermöglichte eine Mobilität, die oft einen Ausbruch aus der statischen Gesellschaft des Mittelalters und gelegentlich einen sozialen Aufstieg bedeutete.73 Wenn das Hochmittelalter »eine Epoche großer Beweglichkeit und Umwandlungen« für den Okzident darstellte, dann ist das Pilgerwesen dieser Zeit eines der gewichtigsten Indizien für diese These.74 Der Blick auf das Reisen im Mittelalter hat sich weitgehend auf die Pilger konzentriert. Daß es daneben - zumindest im Spätmittelalter - auch andere Typen des Reisenden gab, wurde in neuerer Zeit wieder in Erinnerung gerufen. In der Einleitung eines Sammelbandes über Unterwegssein im Spätmittelalter geht Knut Schulz auf einige Aspekte der Erforschung dieses Problemfeldes ein. Er wirft die Frage auf, ob »Unterwegssein ein Charakteristikum des Spätmittelalters gewesen« sei und welchen sozialen und mentalen Bedingungen es unterlag.75 Mit dem Begriff des »Unterwegsseins« soll dabei der spezielle Aspekt der Bewegung, nicht der Ortswechsel oder der längere Aufenthalt erfaßt werden.76 Schulz kann eine ganze Anzahl von Gruppen ausmachen, die im Spätmittelalter in diesem Sinne »unterwegs« waren. Dazu gehören die Herrscher mit ihrem Gefolge; die Söldner der Fehden und Kriege; der Adel und der Klerus; schließlich das Bürgertum, in dem zu dieser Zeit die Badereise *n zur modischen Erscheinung wurde.'' Vier dieser mobilen Gruppen werden in dem Sammelband genauer beschrieben. Neben den Pilgern gehörten die Studenten dazu, die eine spezifische Form des »Unterwegsseins« realisierten, da sie in der Regel nach einem Ortswechsel jahrelang an dem neuen Ort verblieben.78 Allerdings ist hier zu differenzieren: Das Verbleiben am gleichen Ort findet sich, nach den Darlegungen Miethkes, vor allem bei den jüngeren Studenten, während bei den älteren das Reisen von einer Universität zur anderen oft geradezu zu einer Bedingung ihrer Studien werden konnte.79 Diese Reisen wurden in der Regel in kleineren Gruppen unternommen, mit denen das »soziale System der Heimat« in die Fremde transportiert und so die Gefahren der 72

Vgl. Schmugge, »Pilgerfahrt macht frei«, S. 26f.

73

Vgl. ebd., S. 31.

74

Plötz, Strukturwandel der peregrinatio, S. 151. Knut Schulz, Unterwegssein im Spätmittelalter. Einleitende Bemerkungen, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, S. 9-15; hier S. 15. Vgl. ebd., S. 10.

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76

77

Vgl. ebd., S. 11-14.

78

Vgl. Jürgen Miethke, Die Studenten, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, S. 49-70; hier S. 52.

79

Vgl. ebd., S. 58f.

52

Mobilität etwas gemildert wurden.80 Miethkes Untersuchung zur Mobilität der Studenten im Spätmittelalter läuft auf eine gewisse Revision des tradierten romantischen Klischees vom »fahrenden Scholaren« hinaus. Das ständige ungebundene Umherschweifen gehörte nicht zur Erscheinungsform des typischen spätmittelalterlichen Studenten; wenn es sich findet, ist es auf eine Verschiebung des sozialen Typus zurückzuführen: »Wo Scholaren zu 'Fahrenden' wurden, sind sie es als Randexistenzen« geworden.81 Eine noch stärker als die Studenten auf das Reisen verwiesene Gruppe waren die Handwerksgesellen, die Knut Schulz in seinem Beitrag betrachtet. Das dann viele Jahrhunderte lang andauernde »Gesellenwandern« läßt sich seit dem Ende des 14. Jahrhunderts nachweisen und nimmt bald, bei unterschiedlicher regionaler Verteilung, große Ausmaße an.82 Schulz erklärt dieses Phänomen mit Entwicklungen, die denen der späteren Jahrhunderte diametral entgegengesetzt sind. Nicht die Sorge um den Erwerb, sondern im Gegenteil ein »Faktor des verringerten Risikos« war wohl verantwortlich für das Ansteigen des Gesellenwanderns: Die Gesellen konnten sicher sein, überall Arbeit und ihr Auskommen zu finden.83 Befördert wurde das Wandern durch die zunehmende Spezialisierung der Handwerke, die einen gewissen Qualifikationsdruck und damit das Bedürfnis hervorrief, auswärts Erfahrungen zu sammeln. Schließlich bewirkten politische und soziale Umbrüche ein neues Selbstverständnis und Selbstbewußtsein der Gesellen, die zur Ausbildung größerer Gesellenorganisationen führten und die Wanderlust beförderten; offensichtlich stieg mit der Erweiterung des räumlichen Horizontes das politische Bewußtsein an.84 Neben diesen verschiedenen Faktoren sprechen die Quellen gelegentlich ganz allgemein vom Motiv »der Neugier und des Fernwehs«, das die Aufbruchsstimmung veranlaßt habe.85 Schulz untersucht auch die - quellenmäßig nur partiell erfaßbare - regionale Ausdehnung der Wanderungsbewegung. Sie führte zu einem guten Teil ins Ausland,86 und die Auswahl der bevorzugten Orte bestimmte sich prinzipiell nach Voraussetzungen des jeweiligen Gewerbes und nach dem Ansehen der Stadt und des Gewerbes in ihr.87 Im 16. 80 81

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87

Ebd., S. 65. Ebd., Ebd., S. 70. Vgl. Knut SSchulz, Die Handwerksgesellen, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, S. 7192; hier S. 73. Ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 76-78 und S. 81f. Ebd., S. 79. Schulz gibt für einige exemplarische Gewerbe die bevorzugten Länder an; vgl. ebd., S. 84-91.

Vgl. ebd., S. 81. 53

Jahrhundert lassen sich deutliche Veränderungen im Wanderverhalten registrieren: Die Auslandswanderung ging zurück und es bildete sich eine Unterscheidung zwischen gewanderten und ungewanderten Gesellen heraus.88 Die Gesellen formten also insgesamt eine wichtige Gruppe von Reisenden im Spätmittelalter, die allerdings keine greifbaren Spuren in der Literaturgeschichte hinterlassen hat. Die letzte wichtige Gruppe von habituellen »Reisenden« wird von den Außenseitern oder »Randständigen« gestellt, die soziologisch eine nicht immer präzis abgrenzbare Schicht bildeten.89 Einige Gruppen lassen sich indes abgrenzen: jene, die aus Tradition einer »unsteten Lebensweise« verhaftet waren; daneben diejenigen, die größere soziale Sicherheit auf Reisen zu finden hofften; schließlich jene, die aus rechtlichen Gründen zum Reisen gezwungen wurden.90 Das Vagabundentum wurde zu einer europäischen Massenerscheinung seit der ökonomischen Krise im 14. Jahrhundert; und seit dieser Zeit gab es Regelungen, die es rechtlich in den Griff zu bekommen versuchten, parallel zu den Versuchen, die ökonomischen Ursachen durch karitative Maßnahmen abzumildern.91 Ludwig Schmugge faßt die Ergebnisse der vier Untersuchungen des Sammelbandes über das Untenvegssein im Spätmittelalter knapp zusammen und richtet dabei das Augenmerk auf den Wandel, der sich im Spätmittelalter vollzogen hat. Er kann dabei die Ausgangsfrage von Schulz beantworten und festhalten, daß »Unterwegssein« ein »unbestrittenes Charakteristikum des spätmittelalterlichen Lebens« gewesen ist, das alle Bevölkerungsschichten erfaßte, dessen Ursachen aber weitgehend im Dunkeln liegen.92 Die Untersuchung dieser vier Gruppen, die - neben anderen - im Spätmittelalter »unterwegs« waren, läßt einiges von den sozialen Konturen und den verschiedenen Gründen deutlich werden, die die sehr heterogene »Reisekultur« dieses Zeitraums prägten. Die ausgedehnte Reisetätigkeit setzte eine entsprechende organisatorische und technische Infrastuktur voraus. Mit dem Hospitalwesen hat Schmugge eine wesentliche Einrichtung beschrieben, die das Pilgern als Massenbewegung überhaupt erst ermöglicht haben. Weitere Voraussetzungen der neuen Reiselust, die einen zunehmenden Ausbau der Straßenwie überhaupt der Kommunikationsverhältnisse zur Ursache wie auch

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54

Vgl. ebd., S. 92. Vgl. Frantisek Graus, Die Randständigen, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, S. 93104; hier S. 95. Vgl. ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 102-104. Vgl. Schmugge, Zusammenfassung, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, S. 105-108; hier S. 109.

wieder zur Folge hatte, wurden in einer summarischen Untersuchung von Karl Bosl dargestellt.93 Einen populär geschriebenen, aber sachlich fundierten Überblick über den aktuellen Wissensstand zum mittelalterlichen Reisen gibt Norbert Ohler. Der »strukturgeschichtlich ausgerichtete Querschnitt«54 des ersten Teils rekonstruiert besonders die technischen Voraussetzungen des Reisens im Mittelalter im weitesten Sinne. Er beschreibt die Entwicklung des Landverkehrs und der entsprechenden Verkehrsmittel, die in Zug- und Reittieren der verschiedensten Arten bestanden. Seit der Jahrtausendwende läßt sich eine erhebliche Verbesserung dieses Verkehrsbereichs, der lange Zeit gegenüber dem antiken Standard weit zurückgefallen war,95 konstatieren. An dieser Verbesserung waren eine ganze Reihe von Entwicklungen beteiligt. Sie reichten vom technischen Detail über infrastrukturelle Maßnahmen bis hin zu sozialen und politischen Veränderungen, zu denen die allgemeine Verwandlung der Natur- in eine zusehends stärker besiedelte und mit einem Wegenetz verbundene Kulturlandschaft gehörte.96 Ein wesentlicher Faktor war zweifellos die Expansion von Handel und Verkehr, die seit der Jahrtausendwende zum zunehmenden »Straßenbau durch kirchliche und weltliche Machthaber« führte.97 Daß dennoch das Reisen beschwerlich blieb, zeigen Ohlers Angaben über die Reisegeschwindigkeit, die mit den verschiedenen Verkehrsmitteln erzielt weren konnte.98 Insgesamt kann Ohler feststellen, daß sich »eigenständige Entwicklungen des Mittelalters«, die zur Verbesserung des Reisestandards dienten, im wesentlichen auf die Bereiche »Eisenbearbeitung, Pferdezucht und Schiffbau« bezogen.99 Von größerer Bedeutung war die als Transportmittel wesentlich billigere Binnen- und Seeschiffahrt, die ebenfalls durch technische Entwicklungen und gelegentlich sogar durch den Bau künstlicher Wasserstraßen gefördert wurden,100 während das Navigationswesen viel zu wünschen übrig ließ: Die meisten Schiffe werden »statt mit Instrumenten mit der Erfahrung des Steuermanns und dem Vertrauen in Gottes Hilfe gefahren 93

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Vgl. Karl Bosl, Die horizontale Mobilität der europäischen Gesellschaft im Mittelalter und ihre Kommunikationsmittel, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 35 (1971), H. l, S. 40-53; hier S. 51. Ohler, Reisen im Mittelalter, S. 9. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 76-81. Ebd., S. 48; zu den rechtlichen und wirtschaftlichen Implikationen des Straßenbaus vgl. ebd., S. 145-150. Vgl. ebd., S. 138-144. Ebd., S. 172.

Vgl. ebd., S. 56. 55

sein«.101 Im Bereich der Seeschiffahrt und der Fernreisen drohten die größten Gefahren beim Reisen. Zu den Problemen mit den Naturgewalten traten die ständige Bedrohung durch Seuchen, Skorbut, Meuterei und den Konflikt zwischen Christen und Muslime im Mittelmeer.102 Diesen Gefahren des Reisens begegneten »Verkehrserleichterungen« in den verschiedensten Formen. Zu ihnen gehört die lange Tradition der Gastfreundschaft ebenso wie das kirchliche oder kommerzielle Beherbergungswesen, zu dem Ohler allerlei interessante und amüsante Details anführen kann.103 Es gehören weiterhin dazu Einrichtungen wie Fähren und Brücken sowie rechtlich-organisatorische Maßnahmen, wie die Fixierung von Verkehrsregeln im Sachsenspiegel aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts.104 Neben solchen institutionellen Begleiterscheinungen des Reisens verweist Ohler auf Sitten und Gebräuche, die den Reisenden mental unterstützten: Religiöses Brauchtum ebenso wie Zeremonien bei den weltlichen Herrschern, aber auch einfache Abschieds- und Ankunftsoder Beerdigungsbräuche mögen den Entschluß zum Reisen und die Reise selbst erleichtert haben.105 Unter den äußeren Anregungsmitteln für das Reisen war die christliche Kirche ein wichtiger Anregungsfaktor, auch wenn sie theoretisch dem Reisen ambivalent gegenüberstand. Daneben spielte auch bei anderen Religionen, im Islam und im Judentum, das Reisen oder Wallfahren eine große Rolle.106 Großen Einfluß auf die Mobilität hatte zudem der Handel, der partiell eng mit der Kirche zusammenhing. Durch ihre Nachfrage nach bestimmten kultisch verwendbaren Produkten entstand so etwas wie ein rudimentärer »einheitlicher Wirtschaftsraum« in Europa, der über kulturelle, sprachliche und teilweise auch religiöse Grenzen hinwegging,107 wie überhaupt der Fernhandel solche Tendenzen beförderte.108 Andererseits wurden freilich durch das Reisen nicht nur Gemeinsamkeiten befördert. Ohler verweist im Zusammenhang mit dem Problem der sprachlichen Verständigung darauf, daß sich Belege für einen Fremdenhaß gegenüber den Angehörigen anderer Volks-, Religions- oder Sprachgruppen finden.109

101 102

Ebd., S. 67.

Vgl. ebd., S. 68-75. Vgl. ebd., S. 113-137. 104 Vgl. ebd., S. 158-161. 105 Vgl. ebd., S. 183-193. 106 Vgl. ebd., S. 82-84. 107 Ebd., S. 90. 108 Vgl. ebd., S. 92. 109 Vgl.ebd.,S.lllf. 103

56

Im zweiten Teil seiner Darstellung wertet Ohler »Quellen und Zeugnisse« zu den verschiedenen Typen des Reisens im Mittelalter aus. Er beschreibt, kommentiert und zitiert Texte über die Reisen der Herrscher wie über die der Mönche und Missionare; er geht auf die bewaffneten und die nicht-bewaffneten Wallfahrten ein; und er behandelt die nichtreligiösen Fernreisen: die Reisen der Wikinger und die Entdeckungsfahrten eines Marco Polo oder Columbus; zudem die Kaufmanns- und Handwerks-, die Künstler-, Bibliotheks- und Bildungsreisen. Mit dieser Darstellung komplettiert er seine Betrachtung des umfangreichen Komplexes »Reisen im Mittelalter« aus einer anderen Perspektive. Er gibt dabei sowohl viel Material an die Hand wie auch ein grobes Raster, das für die Erforschung mittelalterlicher Reiseliteratur über die Texte der Pilger hinaus anregend wirken könnte. Sein Buch entwirft dann ein umfassendes Panorama des »Reisens im Mittelalter«, das sich durch seine kulturgeschichtliche Detailfreudigkeit auszeichnet und ein plastisches Bild von den Reisebedingungen der Zeit vor Augen stellt. Allerdings verzichtet Ohler völlig auf eine theoretische Grundlegung und Reflexion. Er zeichnet äußere Verhältnisse nach, aber er dringt nicht in die Struktur dieser Verhältnisse ein. Ebensowenig entfaltet er ein begriffliches Modell, das zum Verständnis für die Gründe dieser ausgedehnten Reisetätigkeit im Mittelalter und ihrer Entwicklung beitragen könnte. Es ist charakteristisch für den theoriefernen Ansatz Ohlers, daß sich dort, wo solche Reflexionen angebracht wären, nur unverbindliche Leerformeln finden. So ist es wenig erhellend, vom »Urerlebnis der Fremde«110 oder einem »Urerlebnis der Ohnmacht«111 zu sprechen, wo es darauf ankäme, solche »Urerlebnisse« präzise an ihrem sozialen, politischen, historischen und geistesgeschichtlichen Ort zu situieren. Trotz dieses entschiedenen Mangels ist Ohlers Darstellung aber eine gute Einführung in das Thema, die auch für den Literaturwissenschaftler aufschlußreich ist.

3. Die Reiseberichte Die offensichtlich umfangreiche Reisetätigkeit im Spätmittelalter hat sich nur partiell, begrenzt auf bestimmte Bereiche, in literarischen Produkten manifestiert; zu ihren wichtigsten Zeugnissen gehören die zunächst überwiegend in lateinischer Sprache abgefaßten Pilgerberichte. Die Anfänge der deutschsprachigen Pilgerliteratur liegen in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Um diese Zeit entstanden und kursierten in Handschriften die er110

Ebd., S. 13.

111

Ebd., S. 112.

57

sten deutschen Übersetzungen solcher Texte. Eine dieser Übersetzungen wurde möglicherweise vom Verfasser des Originals, Ludolf von Sudheim, selbst angefertigt; diese »deutsche Fassung könnte dann den Anspruch auf den frühesten deutschen Text eines vom Reisenden selbst verfaßten Berichts« erheben.112 Wie immer aber diese Frage der historischen Datierung des Gattungsbeginns zu lösen ist, fest steht, daß aus dem 14. und vor allem aus dem 15. Jahrhundert eine ganze Reihe von - in der Regel ursprünglich lateinischen und dann häufig ins Deutsche übertragenen Texten überliefert ist, die über Reisen von Pilgern aus dem deutschsprachigen Kulturraum vor allem ins heilige Land berichten. Die germanistische Forschung hat sich, nach bibliographisch wichtigen Vorarbeiten vom Ende des 19. Jahrhunderts, in neuerer Zeit dieses Textkorpus wieder angenommen und eine Anzahl von Studien zur Biographie einzelner Autoren, zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Texte wie auch ihrer Inhalte und literarischen Strukturen vorgelegt. Einen aufschlußreichen kleinen Überblick über die germanistische Forschungsgeschichte gibt Christiane Hippler als Einleitung zu ihrer Arbeit zu den Pilgerberichten des Spätmittelalters. Sie verweist auf das allgemeine Mittelalterinteresse der Romantik, das aber keine spezielle Forschung zu den Reiseberichten hervorgebracht hat. Gervinus scheint als erster in seiner großen Literaturgeschichte die Pilgerberichte als eine eigenständige Gattung wahrgenommen zu haben; eine systematische Erforschung setzte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit den Editionen und Untersuchungen von Tobias Tobler, Reinhold Röhricht und Hermann Meisner ein. Damit wurden die Grundlagen für die spätere Forschung gelegt wurden, deren wichtigste Etappen bis zur Gegenwart Hippler knapp charakterisiert.113 Nicht unwichtig für das Verständnis der Forschungsgeschichte sind Hipplers ergänzende Hinweise auf ereignis- und institutionsgeschichtliche Begleiterscheinungen, die der Forschung Impulse gegeben haben; dazu gehört der Brand der Grabeskirche in Jerusalem im Jahre 1808 oder die Gründung von Vereinigungen wie der »Deutschen Morgenländischen Gesellschaft« von 1845.114 Einen ganz groben Überblick über den spätmittelalterlichen Pilgerbericht des deutschsprachigen Kulturraums gibt Hans Rupprich, der die großen Gruppen der weltlichen und der religiösen Reiseliteratur unterscheidet. Die weltliche Reiseliteratur diente der Vermittlung topographischer Kenntnisse über fremde, insbesondere über orientalische Länder. Huschenbett, Die Literatur der deutschen Pilgerreisen nach Jerusalem im späten Mittelalter, S. 34. Vgl. auch Reiner Moritz, Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen des 14.-16. Jahrhunderts, phil. Diss. München 1970, S. 114. 113 Vgl. Hippler, Die Reise nach Jerusalem, S. 22-36. 114 Vgl. ebd., S. 19-21.

58

Hier finden sich neben den bekannten Texten Marco Polos und dem fiktiven Reisebericht Mandevilles eine Reihe von deutschen Autoren, die teilweise im Auftrag großer Handelshäuser reisten.115 Auch die Reisen deutscher Pilger des 14. und 15. Jahrhunderts sind in einer Fülle von Texten dokumentiert.116 Sehr viel ausführlicher hat Hans-Joachim Lepszy 1952 mit einer ersten größeren Monographie das Interesse wieder neu belebt, nachdem die seit dem späten 19. Jahrhundert vorgelegten editorischen, bibliographischen und interpretatorischen Ergebnisse in der Germanistik fast schon in Vergessenheit geraten waren. Lepszys recht heterogen konzipierte Studie ist im wesentlichen als Sammlung und Weitergabe von Informationen angelegt. Ihr Gegenstand sind die Reiseberichte des 14. bis 16. Jahrhunderts, wobei sie gelegentlich über diesen Zeitraum hinausgreift.117 Nach einer Auseinandersetzung mit der Forschung118 und einer wortgeschichtlichen Betrachtung der Zentralbegriffe »pilgern« und »wallfahrten«119 gibt Lepszy einen sehr ausführlichen personenorientierten Überblick über die Entwicklung der Gattung im fraglichen Zeitraum. Er betrachtet insgesamt 25 Autoren - und zusätzlich die Familie Rieter, die eine ganze Anzahl von Reisenden über mehrere Generationen hinweg stellte120 - von Wilhelm von Boldensele, der 1333 nach Jerusalem reiste,121 bis zu Henrich Maundrells Bericht über seine Jerusalemreise im Jahre 1700.122 Lepszy erstellt für jeden Reisenden so etwas wie eine Monographie en miniature. Er versammelt biographische Informationen, gibt Hinweise zur Entstehungs-, Druck- und Rezeptionsgeschichte der Texte und versucht sie durch sehr knappe charakterisierende Bemerkungen in den Kontext der Gattungsgeschichte einzuordnen, ohne aber eine ausführlichere Interpretation anzustreben. In diesen monographischen Abschnitten löst er sein Programm, die Wahrnehmungs- und Darstellungsformen fremder Wirklichkeit zu beschreiben,123 kaum einmal ein. Seine Feststellungen zum »Humor«, zur Zuverlässigkeit oder zur 115

Vgl. Hans Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, 1. Teil: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1370-1520. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Helmut de Boor/Richard Newald, Bd. IV/1, München 1970, S. 159-161. 116 Vgl. ebd., S. 162f. 11 Vgl. Hans-Joachim Lepszy, Die Reiseberichte des Mittelalters und der Reformationszeit, phil. Diss. Hamburg 1952 (masch.), S. 4f. 118

Vgl. ebd., S. 6-15.

119

Vgl. ebd., S. 16-23. Vgl. ebd., S. 69-72. 121 Vgl. ebd., S. 25. 122 Vgl. ebd., S. 84-86. 120

123

Vgl. ebd., S. 6. 59

Beobachtungsgabe einzelner Reisender bleiben in der Regel sehr summarisch und werden an den Texten nicht ausgewiesen. Einzelne Hinweise sind indes wichtig und wären es wert, einer genaueren Betrachtung unterzogen zu werden, da sie auf gattungsgeschichtlich relevante Phänomene aufmerksam machen. Dazu gehört etwa die Beobachtung, daß sich im Reisebericht von Sebald Rieter sen., der von 1450-1464 die großen Wallfahrtsorte besuchte, bereits eine starke Tendenz zur quantifizierenden Wirklichkeitsbeschreibung feststellen läßt.124 Lepszys Interesse gilt auch der wichtigen Frage nach dem Wandel in der Auffassung von der Pilgerschaft. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist die »Pilgertradition« offensichtlich im Verfall begriffen. Lepszy führt als Beleg den Bericht des reformierten Henrich Myrike über seine 1684 unternommene Reise an, in der die katholische Pilgertradition mit ihren Legenden- und Wunderberichten nur noch skeptisch gesehen wird.125 Neben den Pilgern betrachtet Lepszy auch die Reisenden in die Neue Welt, wie Ulrich Schmidel,126 Nicolaus Federmann und Hans Staden,127 die wichtige geographische und ethnologische Informationen nach Europa übermittelten. In diesen Zeitraum fallen auch die ersten Versuche, die Informationsfunktion des Reiseberichts zu systematiseren. Eine Hauptrolle spielen dabei verlegerische Unternehmen wie die von Theodor de Bry vorgelegte Sammlung von Reiseberichten, die Kenntnisse über die Neue Welt und den Orient an ein breites Publikum vermittelte.128 Als wichtigste der Reisesammlungen des 16. Jahrhundert hebt Lepszy Feyrabends Reyssbuch von 1594 hervor. Diese Sammlung enthielt insgesamt 21 Reiseberichte, die Lepszy auflistet und teilweise kommentiert.129 In einer sehr summarischen Darstellung verfolgt Lepszy die Entwicklung des Pilgerwesens von den ersten okzidentalen Palästina-Pilgern des 4. Jahrhunderts über einen Höhepunkt, der mit den Kreuzzügen des 11. Jahrhunderts erreicht wurde, bis zur »Verweltlichung«130 der Pilgerfahrten, die zunehmend weniger religiösen als repräsentativen oder kommerziellen und gelegentlich auch schon prä-wissenschaftlichen Zwecken dienten.131 Die Entwicklung der spätmittelalterlichen Reiseliteratur versucht 124

Vgl. ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 72-74. 126 Vgl. ebd., S. 62-64. 127 Vgl. ebd., S. 78-80. 128 Vgl. ebd., S. 93. 129 Vgl. ebd., S. 88-107. 125

llfl 131

60

Zur Kritik an diesem Begriff vgl. allerdings ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 110-131. Die »Verweltlichung« in Richtung auf mehr »Beobachtung und eigene Wahrnehmung« und eine Zurückdrängung erbaulicher Motive konstatiert auch

Lepszy durch eine tabellarische Gruppierung nachzuzeichnen: Die lateinischen Berichte vor der Jahrtausendwende waren reine Pilgerführer, die später mit weiteren Stoffen angereichert wurden. Auch die mittelhochdeutschen Pilgerberichte waren zunächst reine Führer; in ihnen zeigt sich zusehends stärker ein subjektives Moment in der Beobachtung und der Darstellung. Im Zeitalter der Entdeckungsreisen werden die Reiseberichte kritischer und verlieren ihre religiöse Fundierung, in der Reformationszeit schließlich tritt das Subjekt wieder in den Vordergrund, auch der Landschaftsbeschreibung wird oft breiter Raum gegeben.132 Nach dieser etwas groben chronologischen Rasterung untersucht Lepszy den stofflichen Gehalt der Reiseberichte, wobei er sich auf die Pilgerberichte konzentriert. Mit breiten Quellenzitaten dokumentiert er das ganze inhaltliche Spektrum der Texte; ihre Aussagen über die Reisemotive ebenso wie die zahlreichen Informationen über den Verlauf der Reise, die Vorbereitungen, Reisekosten, Beherbergung, Reiserouten und Verkehrsmittel; die Auskünfte über das heilige Land und die Aktivitäten der Pilger nach ihrer Ankunft dort.133 Eine ähnliche, allerdings knapper angelegte Belegsammlung gibt Lepszy für die geographischen Angaben in den Reiseberichten. Hierzu konstatiert er, daß einerseits ein wissenschaftlich abgesichertes geographisches Weltbild noch nicht existierte, so daß biblischen Traditionen ebenso wie der Phantasie noch breiter Spielraum gegeben war, daß andererseits aber schon das Bemühen erkennbar wird, zu einem sachlich fundierten Weltbild vorzudringen.134 Ganz analog schließlich sind die Ausführungen Lepszys über den historischen, kulturgeschichtlichen, kunstgeschichtlichen und ethnologischen Ertrag der Reiseberichte angelegt. Auch hier geht es im wesentlichen um den historischen Quellenwert der Reiseberichte. Lepszy sammelt wiederum beliebige Aussagen der Pilger über die verschiedensten Phänomene und stellt sie weitgehend kommentarlos als Zitate nebeneinander.135 Mit seinen Zitatensammlungen stellt Lepszy ein recht buntes Sammelsurium von Details hintereinander, die im Einzelfall recht interessant sind, deren wissenschaftlicher Wert aber gering ist, da Lepszy auf jeden Versuch einer Auswertung durch Interpretation oder auch nur der Zusammenfassung von Tendenzen verzichtet. Das ist anders bei dem umfänglichen Kapitel, das Lepszy der Naturdarstellung widmet. Hier ist es ihm um eine Rehabilitation der frühen Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, 1. Teil, S. 163. 132 Vgl. Lepszy, Die Reiseberichte des Mittelalters und der Reformationszeit, S. 135. 133 Vgl. ebd., S. 157-181. 134 Vgl. ebd., S. 213-230. 135 Vgl. ebd., S. 230-246. 61

Reiseberichte zu tun: Er will den Nachweis führen, daß entgegen hergebrachter Forschungsmeinung die Pilger »durchaus ein Organ für die Naturschönheiten« hatten.136 Dem Beleg dieser These wird ein ausschweifender Überblick über die Entwicklung des abendländischen Naturgefühls vorangestellt, das in eine siebenstufigen, an Julius Böheims Forschungsarbeiten über das »Landschaftsgefühl des ausgehenden Mittelalters« von 1930 angelehnten Tabelle mit etwas kuriosen Kategorien mündet.137 Die materielle Fundierung der These besteht wiederum in einer nach Themenbereichen - Alpen, Meer, Flora und Fauna, Mensch - geordneten Zitatensammlung aus spätmittelalterlichen Texten, die eine mehr oder weniger starke Berücksichtigung der Natur bei den Reisenden dokumentiert.138 Lepszy will damit den Nachweis führen, daß auch der mittelalterliche Reisende durchaus zur Wahrnehmung der Natur fähig war, daß es sich dabei aber um ein spezifisch mittelalterliches »Naturerlebnis« handelt.139 Die nur beschränkte Beachtung der Natur in den Reiseberichten führt er auf äußere Gründe zurück, insbesondere auf ein biblisch fundiertes Weltbild, in dem die Natur - ebenso wie die Individualität - keinen legitimen Platz hatte und deshalb von den Reisenden in ihren Beschreibungen vernachlässigt werden mußte.140 Den Quellen- und Aussagewert der Reiseberichte versucht Lepszy gleichfalls aus dem mittelalterlichen Verständnis heraus zu begründen. Die mittelalterliche Auffassung von Wahrheit führte zu einer Wirklichkeitsauffassung, die durchaus eine Vermischung von Phantasie und Realität zuließ; dennoch kann Lepszy schon in diesen Reiseberichten oft eine kritische Haltung gegenüber dem Wunder- und Reliquienglauben konstatieren.141 Für die Literaturwissenschaft interessant ist Lepszys Seitenblick auf die stofflichen Einflüsse der Reiseberichte auf Autoren wie Walther von der Vogelweide, Oswald von Wolkenstein oder Hartmann von Aue; derartige Beeinflussungen lassen sich bis in die Romantik mit ihrer lebhaften Rezeption der Pilgerliteratur feststellen.142 Das wesentliche Verdienst Lepszys besteht darin, sich dem Thema der spätmittelalterlichen Reiseberichte neuerlich zugewandt zu haben und eine Reihe vom Informationen darüber zu vermitteln. Ansonsten aber ist die Arbeit geprägt durch eine Konzeptionslosigkeit, wie sie selbst bei Dissertationen selten ist. Lepszy verschenkt die Themen, die in seinem 136

137

Ebd., S. 185.

Vgl. ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 194-202. 139 Ebd., S. 202. 140 Vgl. ebd., S. 182-185. 141 Vgl. ebd., S. 202-207. 142 Vgl. ebd., S. 207-213. 138

62

Gegenstand angelegt sind. Zweifellos bietet sich eine Untersuchung dieser Texte an, um den okizidental-orientalischen Kulturkontakt im Spätmittelalter zu rekonstruieren, um das mittelalterliche »Lebensgefühl« sichtbar zu machen143 und über die Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmung des Fremden zu reflektieren.144 Von diesen Ansprüchen löst Lepszy allenfalls - und mit großen Abstrichen - das Versprechen ein, die Form und den Wandel der Naturwahrnehmung in den Pilgerreiseberichten herauszuarbeiten. Nur in diesem Kapitel läßt sich eine einigermaßen klare Fragestellung und eine durchgehende Interpretationslinie erkennen. In allen anderen Bereichen gibt er nur eine handbuchartige Zusammenstellung von Zitaten und Informationen, die nicht einmal in einer vernünftigen Weise angeordnet sind und deren interpretatorische Aufarbeitung dem Leser überlassen bleibt.145 Nach Lepszys Untersuchung hat die Erforschung der Pilgerberichte und ihrer Rahmenbedingungen einen bedeutenden Aufschwung erfahren, wie überhaupt die mittelalterliche »Gebrauchsliteratur« - zu der neben den Reiseberichten auch Biographien, Autobiographien, Tagebücher und ähnliche Texte gehören - für die Mediävistik stets ein selbstverständlicher Gegenstand der Forschung gewesen ist. Der literarhistorisch relevante Ertrag des mittelalterlichen Pilgerreisens wurde in einer Reihe neuerer germanistischen Arbeiten untersucht, die sich dem Inhalt und der Struktur der Reiseberichte einzelner Autoren, teilweise unter sehr speziellen Aspekten, zuwenden. Den aktuellen Stand dieser Forschung hat Dietrich Huschenbett, in bezug auf die Pilgerberichte über Jerusalem, zusammengefaßt. Er gibt einen literarhistorischen Überblick und verweist auf die sehr verstreuten Bibliographien und Editionen - meist älteren Datums zum Thema. Vor allem aber formuliert er die methodischen Probleme und Aufgaben künftiger Forschung: Zu untersuchen wären die Organisationsprinzipien der Texte, das Problem ihrer Authentizität, das eine besondere Rolle spielt angesichts der Tatsache, daß die Verfasser oft zur Kompilation fremder Texte und eigener Erlebnisse neigten. Schließlich wären die Quellenproblematik, die Bearbeitungstechnik und die Intentionen einzelner Verfasser zu berücksichtigen.146 143

Vgl. ebd., S. 250f. Vgl. ebd., S. 6. 145 Von einigem Gebrauchswert sind die Anmerkungen zu Bibliographien und Textsammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Lepszy charakterisiert knapp das Standardwerk von Gottlieb Heinrich Stuck von 1784, eine anonyme, 1793 bei Johann Herrl erschienene Sammlung, Job. Beckmanns Bibliographie von 1808 und 1810, Friedrich Embachers Lexikon der Reisen und Entdeckungen von 1882 und schließlich Viktor Hantzschs 1895 erschienene Studie über die Reisenden des 16. Jahrhunderts. Vgl. ebd., S. 107-110. 144

146

Vgl. Huschenbett, Die Literatur der deutschen Pilgerreisen, S. 38-42.

63

Einige dieser Aufgaben wurden für einzelne Autoren bereits in Angriff genommen. Besondere Bedeutung hat der Ulmer Dominikanermönch Felix Fabri, der zwei Orientreisen unternommen und beschrieben hat und dessen Aufzeichnungen »zu den meistverbreiteten Pilgerberichten des 15. Jhs.« gehören.147 Einen Überblick über sein Leben und Werk gibt Herbert Wiegandt in einem monographischen Abriß, in dem er die wichtigsten Charakteristika von Fabris Evagatorium hervorhebt.148 Wesentlich detaillierter wird das Evagatorium in der Dissertation von Herbert Feilke untersucht. Allerdings ist Feilke an dem Text weniger in seiner spezifischen Eigenart als Reisebericht interessiert. Er behandelt ihn vielmehr mit den traditionalistischen Verfahren der Philologie und widmet sich besonders der Frage, welcher Quellen sich Fabri bedient hat und auf welche literarischen und geistesgeschichtlichen Traditionsströme er im Detail zurückgreift. So untersucht er etwa die Einflüsse des Alexander- und des Trojaromans sowie der Katharinenlegende oder der Amazonensage auf den Text und Fabris Umgang mit diesen Stoffen. Weitere von Feilke untersuchte Themenkomplexe sind der Besuch des »Balsamgartens« und die ihn umspinnenden Legenden; die Schilderung der - realen wie fiktionalen - exotischen Tierwelt, die Darstellung des Phantastischen, des Volksaberglaubens sowie der orientalischen Religionen und Sprachen. Interessant für die Reiseliteraturforschung sind diese sehr ausführlichen und ins Detail gehenden Untersuchungen dort, wo sie erkennen lassen, wie sich real Erlebtes mit den jeweiligen Überlieferungen in der Darstellung Fabris vermischt, auch wenn solche Einsichten von Feilke eher beiläufig formuliert werden. Dennoch wird deutlich, daß die kirchlichen Autoritäten und die Bibel für Fabri das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung der Wahrheit oder Falschheit von Mythen und Legenden sind, während die antiken Autoritäten zwar ausführlich, aber mit deutlicher Distanz referiert werden.149 Fabri benutzt dabei gerne die kirchlichen Legenden, die die von ihm besuchten Orte umgeben oder in dem entsprechenden Kulturraum kolportiert werden, als »lehrhafte Beispiele,

147

Zrenner, Die Berichte der europäischen Jerusalempilger, S. 42. Vgl. Herbert Wiegandt, Felix Fabri. Dominikaner, Reiseschriftsteller, Geschichtsschreiber. 1441/42-1502, in: Lebensbilder aus Schwaben und Franken, hg. v. Robert Uhland, Bd. XV, Stuttgart 1983, S. 1-28; hier S. 10-16; vgl. auch Zrenner, Die Berichte der europäischen Jerusalempilger, S. 41-51; Strachan, Five Fifteenth Century German Reisebeschreibungen, S. 27-33; Kurt Hannemann, (Art.) Fabri, Felix, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. II, Berlin/New York 1980, Sp. 682-689. 149 Herbert Feilke, Felix Fabris Evagatorium über seine Reise in das Heilige Land. Eine Untersuchung über die Pilgerliteratur des ausgehenden Mittelalters, Frankfurt a.M./Bern 1976 (= Europäische Hochschulschriften 1/155), S. 107; S. 122; S. 126. 148

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durch die die Menschen in ihrer christlichen Gesinnung bestärkt werden sollten.«150 Erwähnenswert sind einige Ergebnisse in bezug auf die Struktur des Evagatoriwns. Feilke zeigt, daß der Text zum großen Teil aus »Abschweifungen, Anekdoten, Randgeschichten, Erklärungen und Anmerkungen« besteht, die durch den Reiseverlauf und die Wahrnehmungen oder Erlebnisse des Autors veranlaßt werden und in denen dieser sein »Wissen aus den verschiedenen, ihm zugänglichen Quellen zusammenträgt.«151 In diesen Zusammenhang gehört eine Beobachtung über den Unterschied zwischen der lateinischen und der deutschen Fassung des Textes:152 Die lateinische Fassung ist bei der Wiedergabe von Traditionsbeständen oft wesentlich ausführlicher, während die deutsche eher in Tagebuchform gehalten ist. Das läßt darauf schließen, daß jene für das gebildete Publikum, diese hingegen für Edelleute geschrieben wurde.153 Auf der Basis dieser umfänglichen Untersuchungen versucht Feilke, Fabris Stellung in der Geistes- und in der Literaturgeschichte zu bestimmen, wobei er allerdings zu widersprüchlichen Aussagen kommt. Einerseits erscheint ihm Fabri als ein Repräsentant des Frühhumanismus; eine Einschätzung, die er vor allem damit begründet, daß Fabri sich zwar von den Überlieferungsketten nicht löse, sie aber prüfe und relativiere154 und sich so überhaupt von der mittelalterlichen Tradition freimache.155 Andererseits zeigen jedoch etliche der von Feilke angeführten Beispiele, daß eben dies nicht der Fall ist: Aus der »Wahl seiner Quellen geht hervor, daß er von den bedeutenden Werken des Mittelalters geprägt ist.«156 Auch die Bindung an die kirchlichen Autoritäten und überhaupt an das christliche Weltverständnis sowie die skeptische Behandlung der lateinischen Antike - die griechische war Fabri, der wahrscheinlich die Sprache nicht beherrschte, kaum unmittelbar vertraut157 - sprechen eher gegen als für die Einordnung des Dominikanermönches in die frühhumanistische Strömung. Ähnlich ungenau ist die Argumentation Feilkes für seine abschließende These, mit der er den literarhistorischen Ort Fabris bestimmen will: Fabri habe sich von der »mittelalterlichen Literaturprägung«

150

Ebd., S. 164.

151

Ebd., S. 198. Vgl. ebd., S. 209. 153 Vgl. ebd., S. 108. 154 Vgl. ebd., S. 107. 155 Vgl. ebd., S. 212. 156 Ebd., S. 119. 157 Vgl. ebd., S. 178. 152

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gelöst und beginne als »Individuum zu schreiben und zu sprechen«.158 Den stützenden Hinweisen, daß Fabri »selber als handelnde Person in die Gestaltung seines Werkes eingriff« - was immer das heißen mag -, »Stellung bezog und einen nicht zu verachtenden Humor zeigte, der ihn nie die nötige Distanz zu seinem Werke verlieren ließ«,159 widerspricht das zentrale von Feilke herausgestellte Strukturelement des Textes: In den dominierenden Exkursen folgt Fabri der »mittelalterlichen Gepflogenheit, hinter seinem Werke zurückzustehen, indem er auf Individualität und Originalität verzichtet«.160 Dieser Widerspruch bedürfte noch einer gründlicheren Klärung; allerdings scheint in der Tat, wie auch Khattab geltend macht, bei Fabri bereits eine »persönliche Note« den Ton des Berichts zu bestimmen.161 Diese gewiß wichtigen Fragen werden von Feilke nur andeutungsweise behandelt und treten zurück hinter die ausführliche Rekonstruktion der Quellen, die Fabri benutzt hat. Feilkes Untersuchung wirft allerdings Probleme auf, deren angemessene Behandlung weitergehende Einblicke in die Geschichte der Reiseliteratur verspricht - vor allem die Frage nach der Einordnung des Autors in den Kontext von Spätmittelalter und Frühhumanismus, die sich nur bei einer gründlicheren Einbeziehung sozialgeschichtlicher und literatursoziologischer Methoden beantworten ließe. Feilkes Exkurs zum Ulmer Frühhumanismus ist in dieser Beziehung völlig unzulänglich162 und die Problematik der individuellen Darstellungstechnik würde speziellere Betrachtungen verdienen. Eine weitere monographische Arbeit zu einem einzelnen Autor legt Gabriele Ehrmann mit ihrer Studie über Georgs von Ehingen Reisen nach der Ritterschaft vor. Sie beschränkt sich allerdings im wesentlichen auf eine genaue Beschreibung der Handschrift und auf einen Kommentar. Ergänzend gibt sie einige Bemerkungen zu Sprache, Wortschatz und Form des Textes und widmet sich dem traditionellen mediävistischen Problem einer Darstellung der Ritterschaft im Reisebericht, bevor sie ausführlich die Biographie Georgs von Ehingen rekonstruiert. Ein eigener Beitrag zur Erforschung der spezifischeren Probleme mittelalterlicher Reiseliteratur wird dabei nicht geleistet und auch nicht angestrebt.163 158 159

Ebd., S. 214.

Ebd., S. 213. Ebd., S. 209. 161 Aleya Khattab, Das Ägyptenbild in den deutschsprachigen Reisebeschreibungen der Zeit von 1285-1500, Frankfurt a.M./Bern 1982 (= Europäische Hochschulschriften 1/517), 195; vgl. auch S. 336. 162 Feilke, Felix Fabris Evagatorium, S. 136-138. 163 Gabriele Ehrmann, Georg von Ehingen. Reisen nach der Ritterschaft. Edition, Untersuchung, Kommentar. Teil I: Edition; Teil II: Untersuchung, Kommentar, Göppingen 1979 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 262 l/U); zu Georg von Ehingen vgl. 160

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Einen speziellen Aspekt dieses Texts betrachtet Donald K Rosenberg. Er untersucht den möglichen Einfluß dieses Reiseberichts auf die Reiseschilderung im Schleiertüchlein Hermanns von Sachsenheim. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß gewisse inhaltliche Parallelen, nämlich die Ähnlichkeit der besuchten Orte und der dargestellten Erlebnisse sowie vor allem die wahrscheinliche persönliche Bekanntschaft der beiden Autoren einen direkten Einfluß des authentischen auf den fiktionalen Reisebericht plausibel machen; ein Resultat, das Rosenberg für die Interpretation des Schleiertüchleins fruchtbar zu machen versucht.164 Ebenfalls zur spätmittelalterlichen Reiseliteratur gehört die Beschreibung der Reise, die Arnold von Harff von 1496 bis 1498 durch Südeuropa und den Orient unternahm.165 Volker Honemann hat die Überlieferungsgeschichte des Textes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert beschrieben und daraus einige Schlüsse auf die Rezeption gezogen. Der Text dürfte danach überwiegend von Lesern rezipiert worden sein, die dem mittleren und höheren Adel angehörten. Die Überlieferungsgeschichte zeigt darüber hinaus einerseits das langanhaltende Interesse an einem Text, der »seinem Wesen nach stark dem Mittelalter« angehört, andererseits belegt sie einen »Überlieferungsstrom mittelalterlicher Literatur, für den die Epochengrenze Mittelalter/Neuzeit schlechthin nicht existiert«.166 Arnolds von Harff Reise fällt in literatur- und kulturgeschicht-

auch Strachan, five Fifteenth Century German Reisebeschreibungen, S. 15-33; Gabriele Ehrmann, (Art.) Georg von Ehingen, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. II, Berlin/New York 1980, Sp. 1200f. 164 Donald K. Rosenberg, Hermann von Sachsenheim's Schleiertüchlein: The Pilgerbericht and Ehingen's Reisen nach der Ritterschaft, in: Wege der Worte. Festschrift für Wolfgang Fleischhauer, hg. v. Donald C. Riechel, Köln/Wien 1978, S. 210-220; hier S. 218. Die gleiche Argumentation trägt Rosenberg auch in der Einleitung des Schleiertüchleins vor; vgl. Donald K. Rosenberg, The Schleiertüchlein of Hermann von Sachsenheim. A Critical Edition with Introduction and Notes, Stuttgart 1980 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 260), S. 44-54. Zu Arnold von Harff vgl. Volker Honemann, (Art.) Arnold von Harff, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. I, Berlin/New York 1978, Sp. 471f. - Die in der Forschung gelegentlich erwähnte ungedruckte Monographie von Ph. Kohler, Arnold von Harff (1471-1505), Universito de Bordeaux III, 2 Bde., 1974, war nicht zugänglich. Volker Honemann, Zur Überlieferung der Reisebeschreibung Arnolds von Harff, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 107 (1978), H. 2, S. 165-178; hier S. 178. In Ergänzung zu den von Honemann identifizierten Handschriften verweist Beckers noch auf weitere; vgl. Hartmut Beckers, Zur Reisebeschreibung Arnolds von Harff. Bericht über zwei bisher unbekannte Handschriften und Hinweise zur Geschichte dreier verschollener Codices, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 182 (1979), S. 89-98 und Hartmut Beckers, Neues zur Reisebeschreibung Arnolds von Harff. Die Handschrift Dietrichs V. von Millendonk-Drachenfels und ihre

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lieber Hinsicht etwas aus dem Rahmen der üblichen Pilgerfahrt. Auch wenn er sich selbst als Pilger versteht, so weist sein Werk doch darüber hinaus und nimmt in mancher Hinsicht die weltoffenere Haltung der späteren Bildungstouren vorweg.167 Sein Text ist - wie andere aus dieser Zeit - auch insofern mehr als nur ein Reisebericht. Er überschreitet oft die Grenzen zwischen Realität und Dichtung, und der Autor arbeitet häufig schriftliche Quellen in seinen Text ein.16* Für eine Art prä-wissenschaftliches Interesse zeugen die Bemühungen Arnolds um die Sprachen der bereisten Länder, von denen er nach bestimmten Schemata angefertigte Wortlisten als Proben in seinen Bericht aufnimmt.169 Ebenfalls unter einer kulturgeschichtlichen Fragestellung untersucht Ahmad Haydar einen anderen wichtigen deutschen Pilgerbericht. Ihn interessiert die Darstellung Muhammeds in der Reisebeschreibung Bernhards von Breidenbach. Seine Studie greift dabei weit über den eigentlichen Reisebericht hinaus und gibt eine geistesgeschichtlich informative Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam seit dem 8. Jahrhundert. Haydar zeigt, daß Bernhard in seiner Darstellung Muhammeds völlig jenem christlich-mittelalterlichen Traditionsstrang verhaftet ist, der ein polemisches Bild des Islam zeichnete und über »dessen Stifter, auf unzuverlässige Gewährsmänner oder auf eigene Erfindungen gestützt, die ärgsten Fabeln und gehässigsten Verleumdungen« verbreitete.170 Mit Bernhards Reisebericht ist ein Höhepunkt der Schmähungen Muhammeds und des Islam erreicht. Bernhard kolportiert die Klischees und die Legenden des Mittelalters, ohne sich auf eigene Anschauungen oder Studien stützen zu können, mit dem Ziel einer »Verteufelung des arabischen Propheten.«171 Haydars Studie gibt einen interessanten und informativen Einblick in die religionspolitischen Rahmenbedingungen der Pilgerliteratur über das heilige Land, ohne aber spezielle Fragestellungen der Reiseliteraturforschung zu verfolgen. Bedeutung für die Rezeptions- und Überlieferungsgeschichte, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 102-111. 16 Honemann, Zur Überlieferung der Reisebeschreibung Arnolds von Harff, S. 167. 168 Vgl. ebd., S. 168. 169 Vgl. Hartmut Beckers, Zu den Fremdalphabeten und Fremdsprachenproben im Reisebericht Arnolds von Harff (1496-98), in: Collectanea Philologica. Festschrift für Helmut Gipper zum 65. Geburtstag, hg. v. Günter Heinz/Peter Schmitter, Bd. I, Baden-Baden 1985 (= Saecula Spiritalia 14), S. 73-86; hier S. 76. zu Arnolds wissenschaftlichen Interessen vgl. auch Hans-Rudolf Singer, Deutsche Forschungsreisende in arabischen Ländern, in: Araber und Deutsche, Tübingen 1974, S. 217-242; hier S. 219f. 170 Ahmad Haydar, Mittelalterliche Vorstellungen von dem Propheten der Sarazenen mit besonderer Berücksichtigung der Reisebeschreibung des Bernhard von Breidenbach (1483), phil. Diss. FU Berlin 1971, S. 156. 171 Ebd., S. 161. 68

Die Untersuchung von mittelalterlichen Reiseberichten weiterer Autoren aus dem deutschsprachigen Kulturraum erfolgt ansonsten im Rahmen umfassenderer Darstellungen, die ihr Augenmerk vor allem auf die Inhalte, die Kompositionsprinzipien und die literarische Qualität sowie gelegentlich auf den sozialhistorischen Kontext der Texte richten. Recht ertragreich ist die leider etwas unstrukturierte Arbeit von Christiane Hippler. In ihrem Kernteil will sie im Anschluß an den Aufsatz Sommerfelds den Nachweis erbringen, »daß die spätmittelalterlichen Pilgerberichte als eine Textsorte mit eigener Tradition und eigenständiger Entwicklung« aufzufassen sind.172 Dazu gibt sie nach den umfangreichen Vorüberlegungen über die Forschungs- und Reisegeschichte eine Reihe von Biogrammen etlicher Autoren des 14. und 15. Jahrhunderts, die im wesentlichen der sozialen Schicht der Geistlichen, Adligen und Patrizier entstammten.173 Bei der Untersuchung der Texte entwickelt Hippler die plausibel begründete und belegte These, daß sich vom 8. bis zum 13. Jahrhundert Konventionen und Schemata herausgebildet haben, denen auch die spätmittelalterlichen Pilgerberichte lange Zeit verpflichtet blieben. In diesem Zeitraum finden sich - und mit dieser Beobachtung weicht Hippler von den gängigen Vorstellungen der Forschung ab - häufiger individuelle Elemente in den Beschreibungen, die erst später, als sich die Pilgerfahrten zu Massenreisen ausbildeten, wieder zurückgedrängt werden.174 Auch auf die »Wissenschaftsliteratur« geht Hippler kurz ein. Diese Textsorte hat im Zuge des steigenden Interesses am heiligen Land zugenommen; sie bleibt aber stark phantastischen Traditionen der Orientbeschreibung verpflichtet und läßt erst spät den Einfluß autoptischer Beobachtung erkennen.175 In den Pilgerliteratur des 14. und 15, Jahrhunderts dominieren ebenfalls die überkommenen Schemata, die Hippler mit einer Untersuchung der Texte von Wilhelm von Boldensele, Ludolf von Sudheim und Jakob von Verona aus dem frühen 14. Jahrhundert beschreibt.176 Gegen Ende des 14. Jahrhunderts wandelt sich die Struktur der Pilgerreise und mit ihr auch die Struktur der Berichte. Jetzt steht nicht mehr das heilige Land im Mittelpunkt der Betrachtung der Reisenden, »sondern die Reise und die Reisestationen, die Tatsache, das Mittelmeer überquert und die heiligen Stätten mit eigenen Augen gesehen zu haben, gewannen zusehends an Bedeutung.«177 Auch diese neue Struktur ist bald zum Schema geworden, dem Reisende wie Bernhard 172

Hippler, Die Reise nach Jerusalem, S. 38. Vgl. ebd., S. 88-%. 174 Vgl. ebd., S. 118. 175 Vgl. ebd., S. 118-124. 176 Vgl. ebd., S. 130-138. 177 Ebd.,S.138f. 173

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von Breidenbach, Felix Fabri, Hans Tucher, Hans Schiltberger und andere weitgehend verhaftet bleiben. Als strukturierendes Element liegen ihren Berichten die Ablaßregister zugrunde, und sie schildern immer wieder die gleichen Reisestationen und die gleichen Sehenswürdigkeiten.178 Später finden sich Versuche, das Schema zu umgehen durch Schilderung von persönlichen Reiseumständen und -beschwerden. Felix Fabri zeigt entsprechende Anklänge, und auf andere Weise spiegelt sich bei Arnold von Harff der Strukturwandel der Reisen ins heilige Land, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts mehr zu »Kaufmanns- und Bildungs- denn Pilgerfahrten« wurden.179 Im 16. Jahrhundert lösen sich die Reiserichte langsam von den Konventionen, denen sie allerdings immer noch in mancher Hinsicht verhaftet bleiben. Bei Leonhard Rauwolff und Samuel Kiechel treten neue Elemente in den Bericht ein, der jetzt auch »Individuelles erkennen« läßt.180 In den abschließenden Kapieln ihrer Untersuchung betrachtet Hippler die bürgerlichen Pilgerberichte des 14. und 15. Jahrhunderts in ihren sozialen Zusammenhängen. Sie kann plausibel machen, daß diese Textsorte nicht isoliert zu betrachten ist, sondern deutliche stilistische Affinitäten zu den Familien- und Hausbüchern der Kaufmannsschicht aufweist. Die strukturellen Analogen sind unübersehbar. In den Pilgerberichten der Kaufleute Hans Tucher oder Sebald Rieter jun. spielt die Auflistung der Reisekosten eine große Rolle; als Darstellungsprinzip bevorzugen diese wie andere Autoren die Form der nüchtern reihenden Chronologie, wie sie durch die Familienbücher vorgegeben war. Der Reisebericht erfüllt in diesem Kontext deutlich zu erkennende soziale Funktionen. Er dient der Rechenschaftslegung und der Erinnerung; auch repräsentative Bedürfnisse werden mit ihm befriedigt. Die Reisenden schildern gerne die Erlangung der Ritterschaft vom Heiligen Grab oder die mutig überstandenen Gefahren; schließlich werden in einer Art »geistlicher Buchführung« die religiösen Verdienste, inbesondere die erhaltenen Ablässe, aufgelistet.181 Mit diesen Untersuchungen, die auf einer breiten Textbasis beruhen, gewinnt Hippler dem Thema der spätmittelalterlichen Pilgerberichte einige neue Aspekte ab, und sie korrigiert oder modifiziert manche der in der Pilgerberichtforschung üblichen Vorstellungen. In ihrem Anhang gibt sie zudem eine breit angelegte Dokumentation von Textstellen zu einzelnen Themenbereichen der Pilgerberichte182 sowie eine verdienstvolle Bibliographie der einschlägigen Texte von 1333 bis 1625. 178

Vgl. ebd., S. 138-161. Ebd., S. 173. 180 Ebd., S. 175. 181 Vgl. ebd., S. 180-210. 182 Vgl. ebd., S. 215-301. 179

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Obwohl die Strukturierung von Hipplers Arbeit manche Wünsche offen läßt, hat sie doch einen Standard gesetzt, hinter dem die meisten der in neuerer Zeit erschienenen Arbeiten zu diesem Textkorpus deutlich zurückbleiben. Aleya Khattab untersucht 15 deutschsprachige Reiseberichte über Reisen zwischen 1283 und 147l.183 Dabei konzentriert sie sich auf die Aussagen über Ägypten, die sich in den Pilgerberichten finden. Sie deutet die Tatsache des Agyptenbesuchs als Hinweis darauf, daß die Pilger auch von anderen als von religiösen Motiven geleitet wurden.184 In ihrem Kernteil ist die Arbeit methodisch anspruchslos. Sie gibt einen »Sachkatalog«, der sich an dem länderkundlichen Schema Alfred Hettners orientiert: Zu »jedem Bericht wurden alle Sachverhalte auf Karteikarten notiert (mit genauer Seitenangabe). Das ergab eine beträchtliche Menge an Karteikarten. Dann wurden die Karteikarten zu der betreffenden Kategorie des Systems chronologisch zusammengestellt.«185 Auf diese Weise werden stichwortartig alle Aussagen der Autoren über Natur, Geographie, Bevölkerung, Wirtschaft, Verkehr und Städte erfaßt.186 In einer etwas zusammenhängenderen Darstellung informiert Claudia Zrenner über die Berichte von europäischen Jerusalempilgern. Der größte Teil ihrer Arbeit besteht aus einer Inhaltsangabe von 14 europäischen Reiseberichten und biographischen Angaben über die Verfasser.187 Schließlich stellt Reiner Moritz die Berichte von zwei Pilgern - Georg von Ehingen und Bernhard von Breidenbach - und einem Überseereisenden - Hans Staden - ausführlich unter inhaltlichen und stilistischen Gesichtspunkten vor.188 Die Ausführungen in allen drei Arbeiten sind unter literarhistorischen und biographischen, bei Khattab auch unter imagologischen Gesichtspunkten informativ, aber in ihrer methodischen Anlage belanglos und wenig ertragreich. Immerhin geben vor allem Khattab und Zrenner durch ihre breiten Inhaltsangaben einen Einblick in das, was von den Pilgern an Fakten wahrgenommen und für berichtenswert gehalten wurde. Khattab untersucht die Aussagen über die faktischen Gegebenheiten des bereisten Landes und kommt zu dem Schluß, daß das zunehmende Interesse daran eine »thematisch-stoffliche Bereicherung in den Reiseberichten« zur Folge hat, die »wesentlich durch die aufstrebenden weltli-

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Biographische Angaben zu den Autoren gibt Khattab, Das Ägyptenbild, S. 21-40. 184 Vgl. ebd., S. 16. 185 Ebd., S. 44. 186 Vgl. ebd., S. 46-123. 1 Vgl. Zrenner, Die Berichte der europäischen Jerusalempilger, S. 15-107. 1 Vgl. Moritz, Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen, S. 59100.

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eben Wissenschaften im Gefolge des Humanismus angeregt« wurde.189 Zu einem entsprechendem Ergebnis kommt Zrenner, die die »naturkundlichen Vorstellungen« der Pilger in den Bereichen Geographie, Astronomie, Medizin und Botanik untersucht und die geistes- wie wissenschaftsgeschichtlichen Ursachen dieser Vorstellungen rekonstruieren will. Es zeigt sich ihr dabei, daß der Einfluß der unmittelbaren Wahrnehmung auf diese Vorstellungen gering ist; sie sind »eine Mischung aus einem geringen Anteil empirischer Beobachtungen und einer bunt zusammengewürfelten Menge von antikem, christlichem und populärem Gedankengut«.190 Einen besonderen inhaltlichen Aspekt in den Pilgerberichten von acht deutschen Reisenden des 14. bis 16. Jahrhunderts untersucht Annie Faugere. Sie betrachtet das Interesse, das die Reisenden nicht der »biblischen«, sondern der ägyptischen, griechischen und römischen Antike an den einschlägigen Reiseorten entgegenbringen. Dabei kann sie feststellen, daß diese Antike von den älteren Reisenden vollkommen ignoriert wird, während die jüngeren gelegentlich, wenn auch nur flüchtig, darauf eingehen. Den Grund dafür sieht sie darin, daß es sich bei den Reisenden um Geistliche handle, die die Zeugnisse der heidnischen Zivilisation in der Regel mit Schweigen übergehen.191 In der Fragestellung interessant, aber zumindest für die deutsche Literaturgeschichte weitgehend - von einzelnen Passagen abgesehen - unergiebig ist die Untersuchung von Götz Pochat über den »Exotismus« in der abendländischen Geistes- und vor allem der Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Das Problemfeld »Exotismus« taucht immer wieder in den mittelalterlichen Pilgerberichten auf. Es stellt sich als die Frage nach der Möglichkeit einer Erfahrung des Exotischen, des Wunderbaren, des Phantastischen oder des Monströsen. Die Erfahrung dieser Gegenstände als »exotisch« kann nur in Abhebung von einer stillschweigend vorausgesetzten Ordnung gemacht werden, die »aus der religiösen Anschauung der geordneten Welt, aus einer festgefügten literarischen Tradition oder dem Aufbau des Kunstwerks selbst erwachsen« mag.192 189

Khattab, Das Ägyptenbild, S. 274. Zrenner, Die Berichte der europäischen Jerusalempilger, S. 144. Einige allgemeinere Bemerkungen zum Orientbild des mittelalterlichen Okzidents und seine »aneignende« Betrachtungsweise finden sich bei Kolb, Kreuzzugsliteratur, S. 483-487. 191 Annie Faugere, L'Antiquitd dans les rocits de voyage, in: La Ropresentation de l'antiquito au moyen äge. Actes du colloque des 26, 27 et 28 Mars 1981, hg. v. Danielle Buschinger/Andro Crepin, Wien 1982 (= Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 20), S. 79-89; hier S. 88. 192 Götz Pochat, Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance. Voraussetzungen, Entwicklung und Wandel eines bildnerischen Vokabulars, Stockholm 1970 (= Acta Universitatis Stockholmiensis 21), S. 17. 190

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Daß eine solche Fragestellung für die Reiseliteratur von größter Bedeutung ist, liegt auf der Hand; der »Exotismus« ist schließlich eng mit der »allmählichen Entdeckung und Eroberung der Welt seit dem Mittelalter« verbunden.193 Pochat verfolgt diese Problematik leider kaum bis in die Literatur, sondern bezieht sich überwiegend auf Zeugnisse der bildenden Kunst. Seine Analysen - etwa der Hinweis auf die fremde Fauna als konstantes Element des europäischen Exotismus194 - können aber durch Übertragung auf die entsprechenden Texte auch für die germanistische Reiseliteraturforschung fruchtbar gemacht werden. Allerdings nutzt Pochat in seinem Bereich kaum die Möglichkeiten, die das Thema bietet, da er sich bei der Bearbeitung seines Materials weitgehend auf eine referierende Wiedergabe beschränkt. So ist sein Buch auch durch das breit wiedergegebene Bildmaterial - für die Ikonologie des Exotismus in der europäischen Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit informativ, ohne aber das Potential des Themas interpretatorisch auszuschöpfen.

4. Philologische Probleme: Struktur und Stil Bei den bisher betrachteten Arbeiten steht die Inhaltsanalyse der Texte im Mittelpunkt; dennoch werden dabei explizit oder implizit ständig Probleme der literarischen Gestaltung und Strukturierung des Wahrgenommenen sowie der Stilhaltung der Autoren angesprochen. Die Arbeiten geben so zum Teil Einblicke in die Geschichte der Reiseliteratur als einer literarischen Gattung. Konventionelle literaturwissenschaftliche Fragestellungen verfolgt besonders Reiner Moritz. Er untersucht die Reiseberichte in bezug auf »Stil und Eigenständigkeit« und will zeigen, »daß diese Sondergattung der artes-Literatur über das Fachliche hinausreicht und die Literatur der folgenden Jahrhunderte bis in die Neuzeit nachhaltig beeinflußt, in ihren besten Zeugnissen sogar selbst Literatur geworden ist.«195 Mit dieser Frage ist Moritz den Legitimationsmustern der Germanistik verhaftet. Es geht ihm vor allem um den Nachweis, daß die »Reisemechanik« als literarisches Darstellungsmittel, wie es sich schon bei Chrestien, Hartmann und im Nibelungenlied findet,196 von der authentischen Reiseliteratur in der weiteren Entwicklung beeinflußt wurde. Im 16. und 17. Jahrhundert, bei Wickram etwa oder bei Zigler, werden die von der Reiseliteratur bereitgestellten Formen und Stoffe von der fik193

Ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 66f. Moritz, Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen, S. 5f. 196 Vgl. ebd., S. 20-27. 194

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tionalen Literatur aufgegriffen und verarbeitet.197 Trotz dieser eher auf fiktionale Literatur gerichteten Untersuchungsabsicht erbringt die Arbeit einige Ergebnisse für die authentische Reiseliteratur. Es wird gezeigt, mit welchen kompositorischen und sprachlichen Mitteln die verschiedenen Berichte ihre Erfahrungen verarbeiten. Das frühe Itinerar Ludolfs von Sudheim steht noch ganz im Rahmen der Tradition, vermischt geographische und biblische Quellen und verzichtet auf die Darstellung eigenen Erlebens in persönlicher Sprache.198 Dem weitgehend biographisch angelegten Bericht Georgs von Ehingen läßt sich dagegen vor allem als sprachliche Leistung Interesse abgewinnen.199 Bernhard von Breidenbach legt sein Pilgerbuch wieder konventionell, unter Heranziehung von Quellen an und meidet Persönliches,200 während Hans Staden - der nicht in den Kontext der Pilgerreisenden gehört - neue Darstellungsformen sucht.201 Moritz' Untersuchung dieser Reiseberichte folgt der Frage, in welchem Ausmaß sie sich von konventionellen Darstellungsmustern lösen konnten und eine individuell geprägte Darstellungs- und vor allem Sprachform fanden. Er kommt zu dem Ergebnis, daß im Verlauf der Entwicklung »die Reiseberichte von der unpersönlichen Erzählung und Reihung bekannter Tatsachen zu individueller Aussage fortschreiten und eine Technik entwickeln, die die Wirklichkeit so wiedergibt, wie sie jenseits alles Ständischen und aller besonderen Bildung von dem jeweiligen Schreiber erlebt wird.«202 In der Auswertung ihrer Karteikartensammlung kann Aleya Khattab weitere solcher Ergebnisse erbringen, indem sie das Eindringen von »Subjektivität« in die Reiseberichte verfolgt. Generell kommt sie zu dem Schluß, daß die objektive Registrierung von »Faktizität« im Laufe der Entwicklung der Reiseliteratur immer stärker subjektiviert wird; es läßt sich das »langsame Aufkommen eines Dualismus von Sachlichkeit und persönlicher Haltung« feststellen.203 Allerdings sind die Kriterien, an denen sie diese Subjektivität mißt, nicht immer stichhaltig: Fabris Kritik 197

Vgl. ebd., S. 126-137; zum Einfluß der Reisebeschreibung auf die fiktionale Literatur vgl. auch Zrenner, Die Berichte der europäischen Jerusalempilger, S. 147. 198 Vgl. Moritz, Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen, S. 27-36; zu Ludolf v. Sudheim vgl. auch Luise Bulst-Thiele, (An.) Ludolf von Sudheim, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a. Bd. V, Berlin/New York 1985, Sp. 984-986. 1 Vgl. Moritz, Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen, S. 69. 200 Vgl. ebd., S. 89. Zu Breidenbach vgl. auch Dietrich Huschenbett, (Art.) Bernhard von Breidenbach, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a., Bd. I, Berlin/New York 1978, Sp. 752-754. 1 Vgl. Moritz, Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen, S. 100. 202 Ebd., S. 109. 203 Khattab, Das Ägyptenbild, S. 205.

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am Islam etwa muß nicht Ausdruck der Autorsubjektivität sein,204 sondern kann ebenso sehr dem christlichen »spätmittelalterlich geformten Weltbild« entspringen, dem er verhaftet war.205 Auch der bei den meisten Autoren ausgeprägte Hang zum Fabulieren muß nicht als Artikulation »eines manchmal schrankenlosen, ungehinderten Subjektivismus« gedeutet werden;206 hier handelt es sich vielmehr um eine konventionelle Form der Darstellung, die zur Tradition der Gattung gehört. Trotz dieser Einwände ist Khattabs These einer allgemein feststellbaren Tendenz in der Entwicklung der Pilgerberichte plausibel: »Mit der Einführung der persönlichen Färbung, der Subjektivität, der Gefühlsäußerungen, der stilistischen Verbesserungen, der korrelativen Beziehung zwischen dem Autor und dem Leser, der Spannung, der Illustrierung (Verwendung sprachexterner Mittel), der Vermischung von Wunderbarem und der Fiktionalisierung erhalten die Reiseschriften einen neuen Charakter«.207 Neben dieser Untersuchung des Verhältnisses von Objektivität und Subjektivität der Darstellung erbringt Khattab ein weiteres Ergebnis durch den Vergleich einzelner Texte. Sie sucht nach dem Grund für die »Ähnlichkeit des Ägyptenbildes bei allen Schriftstellern«208 und führt sie auf eine gemeinsam benutzte »Schablone« zurück, die von den Autoren vor allem in der »zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit zusätzlichen Nachrichten, persönlichen Aufzeichnungen und Anmerkungen aufgefüllt und erweitert« wurde.209 Die Abhängigkeit vieler Reiseberichte voneinander, die teilweise bis in die sprachlichen Formen hineinreicht, wird durch einen - allerdings unnötig ausführlichen, durch synoptische Textgegenüberstellungen dokumentierten - Vergleich einzelner Werke belegt. Khattabs Studie stellt viel Material bereit. Sie liefert hinsichtlich der Darstellungs- und Kompositionsformen der Texte Interpretationsansätze, die im einzelnen zwar anfechtbar sein mögen, auf jeden Fall aber ein Modell für die weitere Betrachtung der Pilgerreiseberichte geben, das über den speziellen Aspekt des »Ägyptenbildes« hinaus tragfähig sein kann. Das allerdings gilt nur für den zweiten, interpretatorisch angelegten Teil der Arbeit, während die Karteikartensammlung des ersten Teils sachlich wie methodisch nicht weiterführt. Insgesamt beschränkt Khattab sich auf eine Analyse der Texte selbst und verzichtet darauf, das sozialhistorische Umfeld einzubeziehen.

205

Wiegandt, Felix Fabri, S. 26. Khattab, Das Ägyptenbild, S. 246. 207 Ebd., S. 250. 208 Ebd., S. 128. 209 Ebd., S. 136. 206

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Dieser Aspekt bildet den Schwerpunkt der komparatistischen Untersuchung von Claudia Zrenner, die lateinische und volkssprachliche Pilgerreiseberichte zwischen 1475 und 1500 behandelt. Ihr Hauptanliegen ist die Ermittlung des Einflusses des sozialen Status und der regionalen Herkunft der Autoren auf deren Texte; außerdem will sie auf den »historischen Kontext« eingehen, »in den die Texte eingebettet sind«.210 Die Autoren werden in drei Gruppen eingeteilt, die sich als ziemlich homogen darstellen: geistliche, adlige und bürgerliche Pilger. Es zeigt sich, daß sich innerhalb dieser Gruppen die Reiseberichte inhaltlich wie formal stark ähneln. Die Reiseberichte der geistlichen Pilger sind von theologischen Interessen und vom Missionierungseifer geprägt;211 die Interessen der Adligen sind säkularer Natur und richten sich auf die Beschreibung der profanen Fakten der fremden Umgebung und Gesellschaft, wobei sie sich durch eine tolerante Haltung auszeichnen.212 Die Berichte der bürgerlichen Pilger schließlich »erfüllen die Funktion von Pilgerratgebern, haben den nüchternen Charakter von Fachbüchern und spiegeln die allgemeine Toleranz wie auch die handelsbezogenen Interessen ihrer Verfasser wider«.213 Die Homogenität der Gruppen wird durch den sozialen Status der Autoren bestimmt. Die unterschiedliche nationale oder regionale Herkunft scheint dagegen keine wesentliche Rolle zu spielen.214 Die von Zrenner erzielten Ergebnisse sind nicht unbedingt überraschend, sie entsprechen dem, was sich von den einzelnen Autorengruppen erwarten ließ. Methodisch ist die Arbeit nicht ganz überzeugend, da sie auf eine präzise Bestimmung ihrer sozialhistorischen Grundlagen verzichtet und fast schon zirkulär in der Argumentation verfährt: Die einzelnen sozialen Gruppen werden nur sehr pauschal nach dem Berufs- und Bildungsstand bestimmt; die Charakteristika werden dabei den Reiseberichten selbst entnommen. Auch dürfte die Textbasis zu klein sein, um wirklich verläßliche Aussagen über den Einfluß des sozialen Status der Autoren auf Inhalt und Struktur der Reiseberichte abzuleiten. In diesem Problemfeld der sozialhistorischen Einbettung mittelalterlicher Pilgerberichte wären jedenfalls weitaus gründlichere Untersuchungen notwendig. Die ausführliche Untersuchung von Inhalt und Struktur der Pilgerberichte, wie sie von den drei Arbeiten vorgenommen wurde, bestätigt im wesentlichen die Aussagen, die Martin Sommerfeld bereits 1924 in seinem immer noch lesenswerten Aufsatz über diesen Gegenstand treffen konnte: Die Entwicklung der mittelalterlichen Pilgerreiseberichte ist geZrenner, Die Berichte der europäischen Jerusalempilger, S. 14. Vgl. ebd., S. 117. 212 Vgl. ebd., S. 118. 213 Vgl. ebd., S. 122. 214 Vgl. ebd., S. 146. 211

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prägt von zunehmender Verweltlichung,215 von einer gesteigerten Aufmerksamkeit der Autoren auf die faktischen Gegebenheiten der fremden Umgebung216 und einer immer stärkeren Episierung. Ebenfalls unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, aber mit anderen Kategorien untersucht Diane Summerhays Strachan fünf deutschsprachige Reiseberichte des 15. Jahrhunderts. Ihr Interesse gilt den Strukturprinzipien der Darstellung und den literarischen Traditionen, auf die sie zu beziehen sind. Für Georgs von Ehingen Reisebericht konstatiert sie eine - eigentlich schon obsolete - Bindung an das Modell des Artus-Romans mit höfischen und ritterlichen Idealen, die die Struktur der Handlung prägen.217 Dem Modell der Chronik verpflichtet sind die Reiseberichte Hans Schiltbergers und Georgs von Ungarn,218 in denen sich sowohl Beschreibungssequenzen wie auch die Darstellung persönlicher Erfahrungen finden.219 Fabri und Breidenbach schließlich benutzen die Form des Tagebuchs, in der dem Autor eine größere Bedeutung zukommt und die zugleich eine stärkere Betonung erzählerischer Techniken - wie der Spannung und der Vorausdeutung - erlaubt.220 Nach ihrem hauptsächlich stilanalytisch angelegten221 Durchgang durch die fünf Reiseberichte bestimmt Strachan drei Charakteristika, die potentiell auch für andere Reiseberichte gelten sollen: Die Reiseberichte sind zyklisch strukturiert, da sie Ausreise, Reiseverlauf und Rückkehr darstellen;222 in ihnen sind Autor und Held der Erzählung identisch, und sie beziehen sich auf eine Wirklichkeit, deren Faktizität im authentisch Erlebten verbürgt sein soll.223 Der eigentliche Ertrag der Arbeit Strachans liegt allerdings weniger in der Herausarbeitung dieser allgemeinen Strukturelemente und auch nicht in der vagen historischen Einordnung, die die Entwicklung der 215

Vgl. Martin Sommerfeld, Die Reisebeschreibungen der deutschen Jerusalempilger im ausgehenden Mittelalter, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (1924), S. 816-851; hier S. 822. 216 Vgl. ebd., S. 838. 217 Vgl. Strachan, Five Fifteenth Century German Reisebeschreibungen, S. 52f. "?1ft Biographische wie forschungs- und werkgeschichtliche Auskünfte finden sich ebd., S. 415; vgl. zudem Peter Johanek, (Art.) Georg (Jörg) von Ungarn, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Kurt Ruh u.a. Bd. II, Berlin/New York 1980, Sp. 1204-1206; Eduard Brodführer, (Art.) Schiltberger, Hans, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, hg. v. Karl Langosch, Bd. IV, Berlin 1953, Sp. 69-71. 219 Strachan, Five Fifteenth Century German Reisebeschreibungen, 72. 220 Vgl. ebd., S. 106f. Dabei stützt sich Strachan vor allem auf die von Klätik entwickelten Kategorien; vgl. Strachan, Five Fifteenth Century German Reisebeschreibungen, S. 90. 222 Ebd., S. 148. 223 Vgl. die Zusammenfassung ebd., S. 168f. und Klätik, Über die Poetik der Reisebeschreibung, S. 136f; S. 130f.

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Reiseliteratur in den Zusammenhang einer Entwicklung des spätmittelalterlichen Menschen zu größerer Offenheit gegenüber der äußeren Welt stellt;224 ihr Ertrag liegt eher in den Einzelbeobachtungen an den Texten und in den stilanalytischen Untersuchungen, deren Ergebnisse sich allerdings nicht immer in die schematische Struktur fügen, die Strachan vorgibt. Auf einen Nachklang der spätmittelalterlichen Pilgerliteratur verweist Karin Unsicker. Sie untersucht den Reisebericht von Heinrich Rantzau, der 1623 nach Jerusalem, Kairo und Konstantinopel gereist war und dessen Reisebericht erstmals 1669, dann 1704 erneut in einer veränderten Fassung erschienen ist. Schon das späte Datum der Reise zeigt, daß es sich kaum um einen Pilgerbericht im engeren Sinne handeln wird, zumal Rantzau Protestant war. Dennoch verweisen die Reiseroute und der Beschreibungsstil auf die lange Tradition der Gattung des Pilgerreiseberichts.225 Andererseits jedoch löst sich Rantzau von dieser Tradition: Das heilige Land ist nicht mehr der alleinige Schwerpunkt der Reise und ihrer Beschreibung, und das Interesse richtet sich weniger auf die religiösen Implikationen der besuchten Stätten als vielmehr auf die allgemeine Besichtigung einer fremden Welt. Die Reise ist so »eher als eine Fortsetzung seiner adligen Kavalierstour zu sehen, als abenteuerliche Ausdehnung aus Freude am Reisen denn als Reise aus Bildungshunger oder Frömmigkeit.«226 Signifikant sind die Bearbeitungen, die für die nach dem Tode Rantzaus erschienene - zweite Fassung des Berichts vorgenommen wurden. Sie zeigen, daß die ursprüngliche Darstellungsabsicht und der Duktus von Rantzaus Bericht im frühen 18. Jahrhundert nicht mehr verstanden und von einem unbekannten Bearbeiter entsprechend redigiert wurden. Der Vergleich zwischen den beiden Fassungen macht deutlich, daß dieser Reisebericht, »etwa 1625 entstanden, 1668 gedruckt, 1704 verändert neuaufgelegt, literatur- und stilgeschichtlich bemerkenswerte Verschiebungen markiert.»227 Der Hinweis auf dieses Buch zeigt aber auch, daß im 17. Jahrhundert die Zeit der eigentlichen Pilgerreisen vorbei war und die Reisen ins heilige Land in der Regel von anderen Absichten geleitet waren, auch wenn die Tradition der Pilgerreisen, vor allem in der Wahl der Reiseroute, offensichtlich lange nachwirkte. Diese Hinweise belegen die Feststellung Huschenbetts, daß es sich bei der deutschsprachigen Pilgerliteratur um ein »durch Jahrhunderte kontinuierlich, auch über die Zeitenwende hinweg fortwirkendes Schrifttum 224

Vgl. Strachan, Five Fifteenth Century German Reisebeschreibungen, S. 169. Karin Unsicker, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein, Neumünster 1974 (= Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 10), S. 65. 226 Ebd., S. 67. 227 Ebd., S. 74. 225

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handelt, das sich selbst seiner Tradition auch bewußt ist«.228 Tatsächlich reicht diese Tradition - mit den angesprochenen Modifikationen und Weiterentwicklungen des ursprünglichen Typus - bis ins 20. Jahrhundert. Das zeigt das Vorwort von Editha Wolf-Crome zu ihrer Edition von Textauszügen, die das Interesse von Pilgern und Forschern am heiligen Land bis in die Gegenwart belegen. Diese Edition - und die etwas summarische Kommentierung der Texte im Vorwort - dokumentiert zugleich den Wandel der Blickrichtungen und Darstellungsformen und deren Abhängigkeit sowohl vom gesellschaftlichen als auch vom geistes- und literarhistorischen Umfeld. Die Reiseberichte verlieren zusehends ihren religiösen Charakter. Sie werden seit dem 18. Jahrhundert stärker von naturkundlichen und geographischen Fragestellungen beeinflußt, und im 19. Jahrhundert »schwillt der Strom der Orientreisen, vermutlich durch die von der Romantik beeinflußte Vorliebe für das Orientalische schlechthin hervorgerufen, gewaltig an.«229 Der Schwerpunkt verlagert sich spätestens in dieser Zeit; die »Sehnsucht nach dem 'heiligen Lande'« ist jetzt weniger religiös motiviert, sondern entspringt »einer durch die Romantik stark beeinflußten Gefühlswelt«,230 so daß die Reisen ihren Charakter als Pilgerfahrten endgültig verloren haben.

«

Huschenbett, Die Literatur der deutschen Pilgerreisen, S. 45. Editha Wolf-Crome, Vorwort, in: Pilger und Forscher im Heiligen Land. Reiseberichte aus Palästina, Syrien und Mesopotamien vom 11. bis zum 20. Jahrhundert in Briefen und Tagebüchern, hg. v. Editha Wolf-Crome, Gießen 1977, S. XIX-XXXIX; hier S. XXXI. 230 Ebd., S. XXXVI.

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III. DIE REISELITERATUR DER FRÜHEN NEUZEIT UND DES BAROCK

1. Europäische Reisen Die Epochenschwelle vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit ist für die Germanistik lange Zeit ein unerschlossenes Gebiet geblieben; erst in den letzten Jahren hat eine Reihe von Untersuchungen gezeigt, daß diese Periode eine eigenständige und unter vielen Aspekten höchst interessante Literatur auch im deutschsprachigen Kulturraum hervorgebracht hat. Die allgemeinen literatur- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen dieser Umbruchszeit lassen sich auch an den Reiseberichten ablesen, die in dieser Zeit entstanden sind; sie beziehen ihren besonderen Reiz aus der Spannung zwischen Tradition und Innovation, wie sie für diesen Zeitraum überhaupt charakteristisch ist. Auf einen umfangreichen, bislang wenig beachteten Komplex der Gattungsentwicklung in dieser Zeit hat jetzt Hermann Wiegand aufmerksam gemacht. In seiner Monographie untersucht er die neulateinische Reisedichtung des 16. Jahrhunderts im deutschen Kulturraum. Mit seinem aufwendigen Unternehmen erschließt er neulateinische Gedichte über authentische Reisen von knapp 50 Autoren, die er in einem bio-bibliographischen Anhang zusammenhängend vorstellt.1 Die Darstellung der historischen Entwicklung der Gattung kann nicht nur zeigen, »daß die Hodoeporica zu einer vor allem seit den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts sehr beliebten Gattung der neulateinischen Dichtung wurden, sondern auch, daß im Rahmen einer durch eine Reihe von gemeinsamen Motiven konstituierten Homogenität eine große Variationsbreite an Sichtweisen und Interessen deutlich« wird.2 Diese Homogenität wird zum Teil durch die Bezugnahme auf eine antike Tradition gestiftet, die auf Horaz und Ovid zurückgeht.3 Viele der neulateinischen Reisegedichte übernehmen von diesen klassischen Autoren ihre kompositorische Anlage und bestimmte traditionelle Motivkomplexe wie die Betonung der Freundschaft, die Schilderung von einzelnen Reisesituationen und von Beschwerlichkeiten oder Gefahren der Reise, oft auch die sati-

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Vgl. Hermann Wiegand, Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16. Jahrhundert. Mit einer Bio-Bibliographie der Autoren und Drucke, Baden-Baden 1984 (= Saecula Spiritualia 12), S. 441-534. Ebd., S. 317. Vgl. ebd., S. 21-24.

risch-ironische Tonart in der Beschreibung des Erlebten. Allerdings gibt die antike Tradition nur den äußeren Rahmen der Gattung ab, in dem sich das neulateinische Hodoeporicon durchaus selbständig entwickeln und einen eigenständigen Traditionszusammenhang konstituieren kann, der sich in der Bezugnahme einzelner Autoren auf ihre zeitgenössischen Vorläufer bis hin zur Epigonalität entfaltet. Wiegand kann bei der Betrachtung der Gattungsentwicklung in der Stilhaltung der Autoren einen Bruch feststellen, der gegenüber den Forschungsergebnissen über die Pilgerliteratur eine umgekehrte Entwicklung anzeigt: Während bei der Pilgerliteratur ein immer stärkeres Eindringen des persönlichen Elements in den Bericht konstatiert wurde, vollzieht sich der Fortschritt in den Hodoeporica gerade durch die Orientierung eher an einer »sachbezogenen Darstellungsweise als an der mehr persönlich gefärbten Art«, die in den früheren Exemplaren der Gattung dominierte.4 Die Zäsur wird markiert durch das Reisehandbuch von Georg Fabricius, das erstmals 1547 erschien und das die weitere Entwicklung wesentlich in dem Sinne beeinflußte, daß die Berichte einer »gewissen Stereotypie verfallen« und »oft jede individuelle Tönung« verlieren.5 In seiner ausführlichen Darstellung der einzelnen Autoren und Berichte zeichnet Wiegand das breite Spektrum der Reiserouten und -ziele sowie der inhaltlichen Motive der Gattung nach. Die Reisenden besuchten fast alle europäischen Länder und viele deutsche Städte, so daß sich ihren Berichten geographic- und kulturhistorische Detailinformationen entnehmen lassen. Eine gewisse Präferenz läßt sich, für Italien feststellen, das seiner klassisch-antiken Stätten wegen besonders in der Zeit zwischen 1535 und 1573 zum Ziel von Bildungs- und Studentenreisen wird. In den entsprechenden Berichten ist die ausführliche Kritik am gegenwärtigen Zustand des Landes und seiner Bewohner verbunden mit einem steten Vergleich mit deutschen Verhältnissen, der in der Regel zugunsten der Deutschen ausfällt. Einige von den Hodoeporica behandelte thematische Aspekte verdienen hervorgehoben zu werden, da sich in ihnen geistes- und realgeschichtliche Entwicklungen spiegeln, deren Herausarbeitung teilweise neue Akzente gegenüber den bisherigen Forschungsergebnissen über die Geschichte der Reiseliteratur setzen kann. Konventionell und den Erwartungen entsprechend sind die Bezugnahmen auf die religiöse Situation in Deutschland. Bei vielen Autoren findet sich eine deutliche Kritik am Katholizismus und insbesondere am Mönchstum. Die meisten lutheranischen oder lutherisch orientierten Autoren - Wiegand hat nur ein »Reiser gedieht eines katholischen Autors deutscher Herkunft, Johannes Aur4

Ebd.,S.90f.

5

Ebd., S. 91. 81

pachs Iter Patavium«, ermittelt6 - nutzten die Gattung dazu, anläßlich ihrer Reisebeobachtungen und -erlebnisse einen Beitrag zu den konfessionellen Auseinandersetzungen der Zeit zu leisten.7 Mit der Katholizismuskritik wird ein Motiv angeschnitten, das in anderer Form in der aufgeklärten Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts wiederkehren wird. In noch stärkerem Maße zukunftsorientiert ist das Augenmerk, das einige Autoren auf bestimmte wirtschaftliche und naturwissenschaftliche Phänomene richten, die sie teilweise zum Gegenstand gezielter Nachforschungen auf ihren Reisen machten. Die Aufmerksamkeit auf die Wirtschaft konzentriert sich dabei auf den Bergbau. An diesem Motiv, das eine eigene Untersuchung verdiente, ist die historische Stellung des 16. Jahrhunderts zwischen Mittelalter und Neuzeit auf signifikante Weise abzulesen. Die Berichte über Bergwerksbesichtigungen sind geprägt vom »antiken Zurückschaudern« vor dem Eindringen in die Eingeweide der Erde.8 Sie bekunden aber zugleich die »Bewunderung für die technischen Einrichtungen des Bergwerks« und das »Interesse an der Nutzbarkeit der unterirdischen Gruben«9, eine Einstellung, die sich gegen Ende des Jahrhunderts verstärkt.10 Im modernen Sinne naturwissenschaftlich zu nennende Einzelbeobachtungen finden sich bei Autoren wie dem Belgier Franciscus Modius. In seinem Hodoeporicum von 1583 zeigt sich »neben der Aufnahme traditioneller Strukturelemente der Reisedichtung das durchgängige wissenschaftliche Interesse des Autors in schon eher modernem Sinn.« Sein Reisegedicht bildet »damit einen ersten, wenn auch noch sehr bescheidenen Anfang der wissenschaftlichen Reisebeschreibung«.11 Auf die spätere Entwicklung der Reisebeschreibung verweist auch die Einstellung zur Natur in einzelnen Hodoeporica Schweizer Autoren. Entgegen der verbreiteten Ansicht, die landschaftliche Schönheit der Bergwelt sei erst eine Errungenschaft des 18. Jahrhunderts, speziell Albrecht von Hallers, kann Wiegand bereits auf Vorläufer dieser Naturauffassung im 16. Jahrhundert verweisen.12 Unter Rückgriff auf rhetorische Traditionen der Antike und in bukolischer Einkleidung stellen einzelne Autoren, in besonders starkem Maße Theodor Collinus, die Schönheit der 6

Ebd., S. 319.

7

Vgl. ebd., S. 254-270; S. 288f. Ebd., S. 319. Ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 279f. Ebd., S. 283. Strachan gibt allerdings schon für Fabris Evagatorium einen Beleg, der auf eine solche Sicht der Alpen hinweist; vgl. Strachan, Five Fifteenth Century German Reisebeschreibungen, S. 136.

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Schweizer Bergwelt dar, deren Anblick sie zur »Bewunderung der Schönheit der Schöpfung« begeistert.13 Dabei findet sich schon »ein Interesse an der Bergbesteigung, das aller Ängstlichkeit entkleidet ist«.14 Damit wird beiläufig ein Teilaspekt in der Geschichte der Reiseliteratur angeschnitten, der im Umfeld der Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca am 26. April 1336 diskutiert wurde. Die Bergbesteigung läßt sich deuten als einer der ersten Versuche zur Aufwertung der theoretischen Neugierde, die Augustinus in den Lasterkatalog aufgenommen hatte.15 Diese neuzeitliche Komponente der Bergbesteigung wird von Petrarca freilich weniger betont als die mittelalterliche. Die Augustinus-Lektüre auf dem Gipfel weist seine kleine Reise eher als eine Reise ins Innere denn als Akt einer der Naturbetrachtung gewidmeten Neugierde aus.16 Es gibt also Anhaltspunkte dafür, nicht schon in Petrarca, sondern erst in Konrad Gesner und Theodor Collinus die Entdecker von Naturschönheit zu suchen.17 Diesen Aspekt der Bergbesteigung hat Adolf Haslinger um einige Jahrzehnte weiterverfolgt. Aus dem 1610 erschienenen Kompendium Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts von Hippolytus Guarinonius druckt er die kurze Beschreibung einer Hochgebirgsbesteigung ab,18 die der Autor im Jahre 1607 mit drei Freunden unternommen hatte. Seine Schilderung hat im Rahmen des Kompendiums eine rhetorische Funktion: Sie ist dem Autor Argument zum »Lob des Gebirges« in der »Form der persönlichen Erlebnisschilderung«.19 Die Hinweise Wiegands und Haslingers auf das Natur- und besonders das Bergerlebnis neulateinischer und frühbarocker Autoren bezeugen, daß sich in der Reiseliteratur 13

Wiegand, Hodoeporica, S. 195.

14

Ebd., S. 194.

15

Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, dritter Teil, Frankfurt a.M.

1973, S. 142. 16

17 18

19

Billanovich hat plausibel gemacht, daß Petrarcas Bericht über die Besteigung in starker Anlehnung an entsprechende antike Vorbilder stilisiert und daß wahrscheinlich auch das Datum der Bergbesteigung fingiert ist; vgl. Giuseppe Billanovich, Petraraca und der Ventoux, in: Petrarca, hg. v. August Bück, Darmstadt 1977 (= Wege der Forschung 353), S. 444-463. Dazu Karlheinz Stierle, Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung, Krefeld 1979 (= Schriften und Vorträge des PetrarcaInstituts Köln 29), S. 22-33. Vgl. Wiegand, Hodoeporica, S. 191. Adolf Haslinger, Die erste Schilderung einer Hochgebirgsbesteigung in Tirol, in: Tradition und Entwicklung. Festschrift Eugen Turnher zum 60. Geburtstag, hg. v. Werner M. Bauer/Schim Masser/Guntram A. Plangg, Innsbruck 1982 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 14), S. 211-222. Einige Zitate aus der Reiseliteratur zur Einschätzung der Alpen als Reiseweg von Montaigne bis ins 18. Jahrhundert finden sich bei Lindgren, Alpenübergänge von Bayern nach Italien, S. 125-134.

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Spuren einer Einsicht in die Naturschönheit finden, die gemeinhin erst dem 18. Jahrhundert zugeschrieben werden. Die Arbeit Wiegands ist die einzige neuere Studie, die einen zusammenhängenden Komplex der Reiseliteratur im deutschen Kulturraum des 16. Jahrhunderts systematisch in den Blick nimmt. Ihre Ergebnisse lassen vermuten, daß eine genauere Untersuchung auch der - erst noch bibliographisch zu erschließenden - deutschsprachigen Reiseliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts wertvolle Einsichten in geistes- und mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen vermitteln könnte. Chronologisch wie geographisch eine Zwischenstellung ein nimmt die Reise, die der Humanist Lobkowicz von Hassenstein 1490 antrat und die ihn nach Italien sowie in große Teile des Mittelmeerraumes führte. Wolfgang Neuber untersucht am Beispiel dieser Reise die Bedingungen, welchen die Wahrnehmung des Fremden an der Schwelle zur Neuzeit unterliegt. Dabei kann Neuber plausibel machen, daß allem scheinbaren empirischen und ethnographischen Interesse zum Trotz der Reisende fest eingebunden ist in Perzeptionsmuster, die von antiken Topoi und konfessionspolitischen Erwägungen - Lobkowicz war orthodoxer Katholik - determiniert sind. Lobkowicz kann die fremde Kultur und überhaupt die fremde Wirklichkeit nicht unbefangen wahrnehmen. Der Blick auf sie ist ihm verstellt durch die antike Bildungstradition, deren ständiges Zitieren ihm zugleich dazu dient, die Bedrohung der christlichen Welt sowohl durch den inneren Feind eines zu laxen Papsttums als auch den äußeren des Islam abzuwehren.21 Neubers kleine Studie benennt an einem Beispielfall die Voraussetzungen, denen die Wahrnehmungen eines Reisenden an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit unterliegen können; sie zeigt zugleich, daß Lobkowicz als traditionsgebundener humanistischer Reisender bald zu einer Ausnahmeerscheinung werden mußte. Die Reisebeschreibungen der frühen Neuzeit werden von einem anderen Typus beherrscht: von Reisenden, die ihrer beruflichen und sozialen Ausprägung nach fremden Kulturen offener gegenüberstanden und die deshalb die fremde Wirklichkeit wenn nicht realitätsnah, so doch zumindest unbefangener beschreiben konnten.22

20

EM., S. 215.

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Vgl. Wolfgang Neuber, Bohuslav Lobkowicz von Hassenstein. Zum Problem von Reiseperzeption und humanistischer Bildung, in: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050-1750), unter Mitwirkung von Fritz Peter Knapp (Mittelalter) hg. v. Herbert Zeman, Teil II, Graz 1986, S. 833-844; hier S. 842. Vgl. ebd., S. 843f.

22

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Neubers Rekonstruktion der Wahrnehmungsvoraussetzungen eines Reisenden im späten 15. Jahrhundert bleibt eine Ausnahme. Die Literatur des folgenden Jahrhunderts ist hingegen recht gut erforscht, wobei allerdings Detailuntersuchungen zu einzelnen Autoren oder Reisezielen dominieren. Einen als Kompendium ganz nützlichen Überblick über die Gattung von 1580 bis 1700 gibt Mirco Mitrovich. Seine Darstellungen zeichnen sich zwar nicht durch vertiefte Interpretationen oder einen reflektierten methodischen Ansatz aus, aber sie vermitteln einiges Material, vor allem eine Fülle von Informationen zu einzelnen Autoren und Texten. Mitrovich beschränkt sich im wesentlichen auf eine Inhaltsangabe und allgemeine Charakteristik der Texte und gelegentliche, sehr summarisch gehaltene Zusammenfassungen. Für den Zeitraum zwischen 1580 und 1680 betrachtet er 17 Autoren, die innerhalb Europas reisten - darunter drei Adlige auf Bildungsreise -, und zusätzlich die beiden Weltreisenden Josua Ulsheimer und Bernhard von Miltitz. Die Motive für solche Reisen sind so vielfältig, daß sich eine Kategorisierung kaum lohnt; Mitrovich führt die »geschäftlichen, religiösen, abenteuerlichen, beruflichen, diplomatischen, politischen, wissenschaftlichen, erzieherischen und wanderlustigen« Gründe an, durch welche die Reisen veranlaßt wurden.23 Das Schema, das sich bei der Darstellung dieser Reiseberichte ergibt, ist fast durchgehend das gleiche: Als Reiseziel wird vornehmlich der südeuropäische Raum gewählt, mit Samuel Kiechel findet sich aber auch ein Rußland-Reisender.24 Die Texte sind episodisch organisiert; die Autoren berichten ohne große stilistische oder überhaupt literarische Ambitionen über Erlebnisse und Detailbeobachtungen, die sich auf fremde Sitten und Gebräuche, Sprachen und Sehenswürdigkeiten richten können. Hervorzuheben sind die Texte, deren Autoren sich mit genuin neuzeitlichen Erscheinungen beschäftigen. So finden sich bei Paul Hentzner nicht nur Bemerkungen, aus denen Mitrovich eine enge Verbundenheit von Mensch und Natur abliest, der Reisende zeigt sich zudem beeindruckt von der Naturbeherrschung, die er in den Glaswerken im italienischen Murano beobachten kann.25 Ähnliches gilt für den italienischen Reisebericht Arnolds von Holten, der sich allgemein an den wirtschaftlichen Verhältnissen und besonders der maschinellen Produktion interessiert zeigt.26 Solche spezifischen Interessen bleiben aber Ausnahmen; insgesamt sind die Autoren einem Schema der Wahrnehmung wie der Beschreibung verhaftet, das kaum Spielraum für individuelle Ausprägungen läßt.

24 25

26

Mirco Mitrovich, Deutsche Reisende und Reiseberichte im 17. Jahrhundert. Ein kultur-historischer Beitrag, Ph.D. University of Illinois Urbana 1963, S. 79. Vgl.ebd,S.32f. Vgl. ebd., S. 56f. Vgl. ebd., S. 60-64.

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Der Zeitraum von 1580 bis 1618 stellt eine Art Vorgeschichte des barocken Reisens dar. Mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges setzt für Mitrovich eine neue Epoche ein, da die Kriegserfahrung die Gattung nachhaltig geprägt habe. Mitrovich beschreibt zunächst die allgemeinen Auswirkungen des Reisens auf die deutsche Kultur dieser Zeit. Auch wenn es vereinzelt Stimmen gegeben hat, die sich wie etwa Moscherosch gegen das Reisen wandten,2' so kann Mitrovich doch einen befruchtenden Einfluß des Reisens auf das kulturelle Leben feststellen. Durch den Kontakt mit fremden Völkern und Ländern sowie durch die Vermittlung der entsprechenden Erfahrungen und Informationen wird nicht nur das Wissen bereichert, sondern es bildet sich zugleich ein neuer »Humanismus« aus: »das Denken und die Lebensphilosophie überhaupt scheinen neue Wege einzuschlagen.«28 Ein Überblick über die Reiseberichte von sechs Autoren aus der Zeit von 1618 bis 1632 sowie über acht Reisende der Zeit von 1633 bis 1650 soll diese These bestätigen, wobei sich in dieser zweiten Periode mit den Orient-Reisenden Olearius, Fleming, Mandelsloh, Andersen und Iversen sowie mit Zeiller als dem Verfasser einer Art frühen Reiseführers alle wichtigen Barock-Reisenden finden. Die Zeit der Nachkriegsperiode bis zum Ende des Jahrhunderts ist nach Mitrovich gekennzeichnet durch einen gewissen Rückgang der Reiseberichte, deren Informationsfunktion teilweise durch Medien wie die Zeitung ersetzt wurde. Generell läßt sich in den vorhandenen Berichten eine Tendenz feststellen, die Mitrovich dadurch charakterisiert sieht, daß »der Begriff 'Mensch' ständig an Wichtigkeit zunimmt« und der »Gesichtskreis des Menschen wächst und sich über die nationalen Grenzen hinwegsetzt.«29 Von den dreizehn Reisenden dieser Periode, die Mitrovich behandelt, sind nur wenige aufgrund ihrer besonderen Merkmale hervorzuheben: Ein herausragender Sonderfall ist zweifellos der wissenschaftlich orientierte Asien-Reisende Engelbert Kaempfer; die Berichte von Otto von der Groben und Franz Ferdinand von Troilo können deshalb als Ausnahmen gelten, weil sich in ihnen der Typus des Abenteurers literarisch manifestiert;30 als eher rückständig erscheint Johann Kaspar Schillinger, in dessen Bericht religiöse Betrachtungen dominieren und der durch die »neuen Entdeckungen und Aufassungen der Zeit« nicht besonders beeinflußt wurde.31 Mitrovich weist auf einen konfessionellen Aspekt hin, der noch der genaueren Untersuchung bedarf. In Joseph Stöckleins Reisesammlung vom 27

Vgl.ebd.,S.84f.

28

Ebd., S. 87.

29

Ebd., S. 151. Vgl. ebd., S. 167. Ebd., S. 171.

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Ende des 17. Jahrrhunderts findet sich eine große Anzahl von Reiseberichten katholischer Missionare. Es wäre zu prüfen, inwieweit die Form der Wahrnehmung und der Darstellung fremder Kulturen von konfessionellen Vorgaben beeinflußt wurde und ob nicht institutionelle Vorgaben eine große Rolle dabei gespielt haben. Jedenfalls kann Mitrovich aus einer Vorreden-Bemerkung Stöckleins schließen, daß die Veröffentlichung von Reiseberichten durch Papst Urban VIII. in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verboten worden war.32 Mitrovichs Untersuchung ist die einzige, die eine umfassende Darstellung der Reiseliteratur dieses Zeitraums unternimmt. Ansonsten wurden bisher nur vereinzelte Studien vorgelegt, die meist an bestimmten Reisezielen oder an bestimmten Autoren interessiert sind. Einen gewissen wohl eher zufälligen - Schwerpunkt der Forschung bilden die Reisen nach England und, am Rande, auch die reisenden Engländer im 16. und 17. Jahrhundert. Die verschiedenen Phasen in der Entwicklung des deutschen Englandbildes von der Reformation zur Aufklärung untersucht, unter Anführung vieler Details, Hans Jürgen Teuteberg. Im späten Mittelalter, so legt er dar, sind die deutschen Kenntnisse über die kaum bereiste Insel außerordentlich gering; sie erscheint »im trüben Spiegel halblegendärer Hof-, Ritter- und Pilgerreisen«.33 Mit der Reformation steigert sich das Interesse an England, dem sich Humanisten und Theologen als dem »Hort der neuen Lehre«34 zuwandten. In diesem Zusammenhang entwikkelte sich eine rege Reisetätigkeit, die der Dreißigjährige Krieg wieder unterbrach. Erst nach der Glorious Revolution werden die Reisen wieder aufgenommen; und erst in dieser Zeit bildet sich ein selbständiges, nicht durch stilisierte Wahrnehmungsmuster formiertes deutsches Englandbild heraus, das maßgeblich durch den Austausch von Gelehrten beeinflußt wurde. Im 15. und 16. Jahrhundert profitierte das englische Geistesleben von diesem Austausch, in den beiden folgenden Jahrhunderten kehrte sich dieses Verhältnis um. England als eines der Zentren der modernen, empirisch orientierten naturwissenschaftlichen Forschung wird zum Anziehungspunkt für deutsche Gelehrte wie Leibniz, der 1672-73 eine Reise nach London machte, um Newton zu sehen.35 Mit der Aufklärung 32

4

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Vgl. ebd., S. 245. Hans J. Teuteberg, Der Beitrag der Reiseliteratur zur Entstehung des deutschen Englandbildes zwischen Reformation und Aufklärung, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, S. 73-113; hier S. 76. Der erste detaillierte deutschsprachige Reisebericht über die Insel ist aus der Reise des böhmischen Ritters Leo von Rozmital im Jahre 1466 hervorgegangen. Vgl. W. D. Robson-Scott, German Travellers in England. 1400-1800, Oxford 1953, S. 5-11. Teuteberg, Der Beitrag der Reiseliteratur zur Entstehung des deutschen Englandbildes, S. 77. Vgl. ebd., S. 92.

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wird das zunächst »vorwiegend religiös geprägte deutsche Englandverständnis erst definitiv verweltlicht«, und sie schärft den »Blick für die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände des Inselreichs«.36 Der summarische Überblick Teutebergs über die Entwicklung des deutschen Englandbildes, der sich weniger auf Reiseberichte als auf die allgemeine Geschichte der Reisen zwischen den beiden Ländern stützt, wird ergänzt durch eine speziellere Betrachtung Joan Thirks', die »ausländische Wahrnehmungen des englischen Landlebens« im 16. und 17. Jahrhundert untersucht. Sie notiert ein großes Interesse der kontinentalen Reisenden an den englischen Methoden des Land- und Gartenbaus und der landwirtschaftlichen Organisation, das allgemein zu weniger stereotypen Kommentaren geführt habe als die Wahrnehmung der Städte und der historischen Gebäude.37 Der Aufsatz - der zum großen Teil aus einer anekdotischen Häufung gartenbautechnischer Details besteht kommt zu dem von der methodischen Durchführung der Argumentation nicht eingelösten Schluß, daß die »Wahrnehmungen der Ausländer über das englische Landleben im 16. und 17. Jahrhundert« als »Widerspiegelungen weltmännischer Oberschichten im weitesten Sinne und zugleich als Abbild der Hauptbeschäftigungen und häuslichen Interessen ihrer englischen Gastgeber« zu verstehen sind.38 Über einige Reisende, die im Namen der »Kavalierstour« England besuchen, berichten James Cameron, F. J. M. Blom und Jill Kohl. Cameron teilt die Entdeckung eines Reiseberichts mit, in dem der Tutor und Begleiter Johann Peter Hainzels von Degerstein, Caspar Waser, über eine England-, Schottland- und Irland-Reise in den Jahren 1591-92 berichtet. Cameron gibt biographische Informationen über den Augsburger Degerstein und zeichnet den Reiseverlauf in detaillierter Chronologie nach; anschließend druckt er Auszüge aus der lateinischen und deutschen Fassung des Reisetagebuchs mit Kommentar ab.39 Monographisch angelegt ist die Studie von F. J. M. Blom, in der er die Biographie und speziell die Englandaufenthalte von zwei Nürnberger Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts untersucht. Es handelt sich um Christoph Arnold, der 1651, und um seinen Sohn Andreas Arnold, der 1681-82 England besuchte. Beide kommen im Rahmen von Studienreisen 36

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Ebd., S. 93. Joan Thirks, Ausländische Wahrnehmungen des englischen Landlebens im 16. und 17. Jahrhundert, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, S. 115-129; hier S. 117. Ebd., S. 127. James K. Cameron (Hg.), The British Itinerary of Johann Peter Hainzel von Degerstein of Caspar Waser, in: Zwingliana 15 (1979-1982), S. 259-295.

auf die Insel; Blom kann anhand ihrer Autographensammlungen den Reiseweg und die Begegnungen mit Gelehrten rekonstruieren. Gedruckte Reisewerke haben beide nicht hinterlassen; für die Geschichte des Reisens ist Bloms Studie dennoch aufschlußreich, weil er mit seiner recht detaillierten Untersuchung die spezifischen Interessen von deutschen Englandreisenden dieser Zeit darstellen kann und damit einen Blick in das Geistesleben der Zeit erlaubt. Er zeigt das Interesse, das Christoph Arnold an den englischen Angelegenheiten - gerade zwei Jahre nach der Enthauptung Charles I. - nahm; und er kann aufgrund eines langen Briefes nach Deutschland demonstrieren, daß sich der Autor nur vage mit der politischen, ausführlicher mit der religiösen Situation des Landes, besonders aber mit gelehrten und wissenschaftlichen Problemen befaßt.40 Auch der Sohn ist überwiegend an Bibliotheksbesuchen in Oxford und Cambridge zur Vorbereitung einer Edition griechischer Texte interessiert und vernachlässigt die sozialen und politischen Probleme des Landes. Bei diesen beiden England-Reisenden handelt es sich offensichtlich um typische Repräsentanten der Gelehrtenreise. Einen anderen Aspekt zeigt Jill Kohl in einer kleinen Untersuchung über den London-Aufenthalt von Ferdinand Albrecht, Herzog von Braunschweig-Lüneburg in den Jahren 1664-65 auf. Sie verzichtet auf eine Betrachtung der zeit- und standesüblichen Beschäftigungen, denen sich der Herzog in London gewidmet hat dazu gehören seine Mitgliedschaft in der Royal Society, sein Interesse für Statistiken und politische wie religiöse Informationen sowie seine Sammlung von Stichen und Gemälden -, und untersucht stattdessen sein Interesse für englische Zeitungen, das Theater und für Kriminelle.41 Bemerkenswert ist seine für Reisende auf der »Kavalierstour« ziemlich untypische Anteilnahme am englischen Schauspiel dieser Zeit, die sich in der Sammlung von Dramen und wohl auch im Besuch von Theateraufführungen zeigte und die möglicherweise durch die politische Thematik einiger dieser Stücke motiviert war.42 Nicht minder ungewöhnlich dürfte Ferdinand Albrechts Interesse an den Biographien englischer Krimineller des 17. Jahrhunderts gewesen sein, von denen er zumindest eine, nämlich die der Mary Carleton, erworben hat.43 Diese Hinweise Kohl auf eher unübliche Neigungen eines EnglandReisenden im 17. Jahrhundert sind etwas rhapsodisch und von der Lust am Kuriosen bestimmt; immerhin de-

42 43

Vgl. Franciscus Joannes Maria Blom, Christoph & Andreas Arnold and England. The Travels and Book-Collections of two Seventeenth-Century Nurembergers, phil. Diss. Kath. Univ. Nijmegen 1981, S. 52-55; der Brief ist abgedruckt ebd., S. 62-75. Vgl. Jill Kohl, The Curious Traveller: Literary and Non-Literary Documents of a Visit to Restauration London, in: German Life and Letters 36 (1982/83), S. 219-231. Vgl. ebd., S. 225. Vgl. ebd., S. 228. 89

monstrieren sie, daß sich die Kavalierstour deutscher Adliger nicht unbedingt auf die Wahrnehmung der vorgeschriebenen - meist politischen Bildungsgüter beschränken mußte, sondern daß die Reisenden gelegentlich etwas abgelegeneren Interessen folgen konnten. Das Pendant zu diesen Englandreisenvon Kontinentaleuropäern bilden die Kontinentreisen von Engländern im 17. Jahrhundert. John Stoye untersucht an drei Beispielen aus verschiedenen Phasen des Jahrhunderts die äußeren Umstände solcher Reisen und die persönlichen Motive der Reisenden in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Dabei wird deutlich, daß die religionspolitischen Verhältnisse der Zeit einen großen Einfluß auf das Reisen von Engländer gehabt haben: Einerseits galten Kontinentreisen als verpönt und als Akt der Illoyalität, weil sie zu Kontakten in katholischen Regionen führen konnten; andererseits stellte gerade dies für die wenigen englischen Katholiken einen besonderen Anreiz zur Reise dar.44 Die religiösen und staatspolitischen Spannungen überschatteten die Reisetätigkeit der Engländer im 17. Jahrhundert. Dennoch finden sich in dieser Zeit Reisende, die die lange Tradition der englischen Kontinentreisen begründeten und im Prinzip das »gewöhnliche Programm der reisenden Engländer in den nächsten 150 Jahren« vorwegnahmen.45 Neben dem politischen Umfeld der Reisen und den üblichen Reiserouten untersucht Stoye die Wahrnehmungsgewohnheiten der Reisenden. Er zeigt, daß die Reiseberichte eine Mischung darstellen von vorbereitender Lektüre und eigener Beobachtung: »Im 17. Jahrhundert nahm der Engländer vor allem seine klassische humanistische Bildung mit auf das europäische Festland.«46 Letztlich waren diese Reisenden aber trotz solcher Beschränkungen am besten geeignet, »europäische Einflüsse nach England zu transferieren.«47 Ein harsches Urteil fällt Heinz-Joachim Müllenbrock über die englischen Reiseberichte, wenn er konstatiert, »daß Emotionen und Unduldsamkeit gegenüber dem Andersartigen, verbunden mit nationaler Egozentrik [...] weitgehend das Erscheinungsbild der Gattung« bestimmen,48 was er als Ausdruck »der nach außen wie innen gerichteten politischen

44

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John Stoye, Reisende Engländer im Europa des 17. Jahrhunderts und ihre Reisemotive, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, S. 131-152; hier S. 123f. Ebd., S. 139. Ebd., S. 147. Ebd., S. 150. Heinz-Joachim Müllenbrock, Die politischen Implikationen der »Grand Tour«. Aspekte eines spezifisch englischen Beitrags zur europäischen Reiseliteratur. der Aufklärung, in: arcadia 17 (1982), S. 113-125; hier S. 114.

Selbstbehauptung Englands« im Zusammenhang mit den religiösen Auseinandersetzungen deutet.49 Neben England rückt im 16. Jahrhundert ein anderes europäisches Reiseziel ins Blickfeld, das seine eigentliche Bedeutung freilich erst im 17. und 18. Jahrhundert erhalten wird: Es erscheinen die ersten Berichte deutscher Italienreisender. Im gesamteuropäischen Kontext der Italienreisen werden sie in der grundlegenden Studie von Ludwig Schudt behandelt, die freilich mehr und anderes zu sein beansprucht als eine Gattungsgeschichte des Reiseberichts über Italien. In einem ersten Durchgang behandelt er die Geschichte der Italien-Reiseführer, deren erster wohl 1518 von dem Franzosen Jacques Signot vorgelegt wurde.50 Schudt charakterisiert und typologisiert eine ganze Reihe von Nachfolgeschriften bis ins 18. Jahrhundert, die als Reiseführer im weitesten Sinne zu verstehen sind und teilweise - wie etwa die Kunst- oder Inschriftenführer - schon recht spezialisierten Interessen dienten. Reiseberichte im eigentlichen Sinne behandelt Schudt im zweiten Kapitel. Als Durchgangsland auf den Fahrten ins heilige Land war Italien schon in Pilgerberichten beschrieben worden, so etwa von Felix Fabri und Bernhard von Breidenbach. Die erste zusammenhängende Darstellung einer Italienreise geben die 1536 entstandenen Aufzeichnungen des Deutschen Johann Fichard, der sich schon einläßlich mit den italienischen Kunstdenkmälern befaßte.51 Mit ihm beginnt eine langandauernde europäische Tradition, die Schudt bis zur Mitte des 18. Jahrhundert verfolgt. In breit ausgeführten Charakteristiken und Inhaltsangaben der Texte arbeitet Schudt das Spektrum an formalen und thematischen Möglichkeiten heraus, das die Autoren in diesem langen Zeitraum ausgebildet haben. Es beginnt mit Bartholomäus Sastrow, der bald nach Fichard Italien besuchte und aufgrund seines Auftretens von Schudt als der »Urahn aller deutschen Spießer, die durch die Jahrhunderte Rom besucht haben«, charakterisiert wird.52 Literarische Maßstäbe setzte Montaigne, der in einer »ersten lebendigen Darstellung Italiens« seine Reise am Ende des 16. Jahrhunderts beschreibt.53 Mit ihm setzt die freilich keineswegs ungebrochene Tradition anspruchsvoller Reiseberichte aus Italien ein, die eine »gewisse Erweiterung des Gesichtskreises« mit sich bringen.54 Schudt verfolgt diese Entwicklung bei einer ganzen Anzahl von Reisenden aus 49

Ebd., S. 117.

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Vgl. Ludwig Schudt, Italienreisen im 17. und 18. Jahrhunden, Wien/München 1959 (= Veröffentlichungen der Bibliotheca Hertziana 15), S. 18. Vgl. ebd., S. 44 und S. 263-267. Ebd., S. 46. Ebd., S. 49. Ebd.

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Deutschland und anderen europäischen Ländern. Er kann in seiner Untersuchung zeigen, daß sich im Laufe der Zeit ein Arsenal von Topoi herausbildet, dem die Autoren nur selten individuelle Gesichtspunkte der Darstellung abgewinnen können. Als »Wendepunkt in der deutschen Italienliteratur« stellt er den 1701 erschienenen Reisebericht von Heinrich von Huyssen heraus, der erstmalig ernsthaft versucht habe, sich ein eigenständiges Bild von dem Land, seiner Bevölkerung, seinen Sitten, seiner Kunst und Kultur zu machen und der damit zum Vorläufer des wirkungsträchtigen Reiseberichts von Georg Keyßler wurde.55 Beide Autoren freilich legen ihre Darstellung kompilatorisch an; aber bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts finden sich, beginnend mit Adam Ebert, die ersten deutschen Berichte, die ein erlebnishaft-individuelles Gepräge tragen.56 Schudt gliedert die Fülle seines Materials zur Gattungsgeschichte nach einigen äußeren Ordnungskategorien. Er arbeitet die Unterschiede zwischen den Nationalitäten der Reisenden heraus; er differenziert zwischen Autoren, die ausschließlich Italien bereist, es nur als Durchgangsland besichtigt oder aber sich dort niedergelassen haben; schließlich unterscheidet er nach den Reisezwecken und -typen zwischen Kavaliers- oder Bildungsreise und individueller Reise. Die Vielfalt der Texte, Gesichtspunkte und Gliederungskategorien, die Schudt diesem ersten, historisch angelegten Teil seiner Untersuchung zugrundelegt, ergibt ein wenig griffiges Bild seines Gegenstandes. Seine Darstellung bleibt heterogen. Sie ist manchmal tiefergreifend, aber oft recht oberflächlich, summarisch und sprunghaft, so daß sie sich häufig eher wie eine Akkumulation von literarhistorischen Fakten liest denn als eine klar konturierte Geschichte der europäischen Italien-Reiseberichte. Schudt tritt zudem seinen Texten mit stark wertenden Urteilen gegenüber, deren Kriterien einem, wohl von Johann Wolfgang Goethe geprägten Stilideal entnommen sind, vor dem Charles de Brosses' Reisebericht am besten abschneidet.57 Der zweite, wesentlich umfangreichere Teil seiner Darstellung verzichtet dagegen auf eine historische Rekonstruktion von Entwicklungen und ist systematisch angelegt. Unter dem lapidaren Titel »Reiseeindrücke« wertet er die Berichte in bezug auf ihren kultur- und zeitgeschichtlichen Quellenwert aus und konturiert das in ihnen entworfene Italien-Bild.58 Er untersucht die äußeren Bedingungen des Reisens, die Reisezwecke, -mittel und -kosten, die Informationsquellen und persönlichen Kontakte, auf die die Reisenden zurückgreifen konnten, und stellt die langsame Entstehung eines Sinns für die italienische Landschaft dar. Bei dem Blick 55 56 57

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Ebd., S. 69. Vgl. Ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 121. Vgl. ebd., S. 171.

auf die Kultur des Landes, wie sie sich in den Reiseberichten spiegelt, legt er erklärtermaßen den größten Nachdruck auf kunstgeschichtliche Phänomene,59 indem er detailliert die Rezeption der italienischen Architektur, Plastik und Malerei bei den Reisenden rekonstruiert. Aufgrund seiner klassizistischen Prämissen kommt er abschließend zu einem wenig schmeichelhaften Urteil über die Italien-Reisenden dreier Jahrhunderte: Er hält ihnen die Uniformität und mangelhafte Urteilskraft, die Nüchternheit und Faktenfixiertheit ihrer Darstellungen Italiens vor und kann selbständiges Denken nur bei »einigen überlegenen Geistern«, insbesondere bei Montaigne, konstatieren. Gegenüber dieser harschen Kritik verblaßt die abschließende Würdigung der Gattung, der er immerhin zugesteht, »reiche Belehrung« über die Schönheiten Italiens vermittelt zu haben.60 Schudts Studie läßt sich nur mit Einschränkungen als Beitrag zur Geschichte des Italien-Berichts lesen. Sie ist in ihrer Konzeption eher ein unhistorisch angelegter und wertender Abriß über die Italienbilder dreier Jahrhunderte, auch wenn sie im Detail umfangreiches und wichtiges Material über die unterschiedlichsten Texte und Autoren vermittelt. Andere europäische Reiseziele des 16. und 17. Jahrhunderts sind von der neueren Forschung nur sporadisch in den Blick genommen worden. Eszter Kisbän untersucht summarisch die Darstellung Ungarns in europäischen Reiseberichten vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Dabei beschränkt er sich darauf, eine Typologie dieser Berichte zu entwerfen, die von Privatbriefen reisender Studenten über Diplomatentagebücher und Memoiren bis zur Entwicklung der selbständigen Gattung »Reisebericht« reicht.61 Einen kurzen Hinweis auf die Reise des französischen Diplomaten Jacques de Bongars, der 1585 von Wien nach Konstantinopel fuhr und Wissenswertes über die bereisten Länder publizierte, gibt Roman Schnur. Seine Darstellung beschränkt sich aber ohne größere Ambitionen auf biographische Informationen und die Schilderung des geographischen Reiseverlaufs.62 Sehr viel stärkeres Interesse haben in neuerer Zeit Reiseberichte und überhaupt Schriften über das Rußland des 16. und 17. Jahrhunderts gefunden. Walter Leitsch zeigt die kulturellen und politischen Schwierigkeiten, die den westeuropäischen Reisenden durch behördliche Informationsverweigerung entstanden sind. Dabei geht er besonders auf den ersten Bericht eines Rußlandreisenden ein: Sigismunds von Herberstein 1549 er59 60

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Vgl. ebd., S. 390. Ebd.,S.396f. Eszter Kisbän, »Europa et Hungaria« in Reiseberichten der frühen Neuzeit, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, S. 193-199. Vgl. Roman Schnur, Eine Reise nach Konstantinopel vor vierhundert Jahren, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 34 (1985), S. 44-48.

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schienene Moscavia, die lange Zeit ein Vorbild für alle weiteren Rußlandschriften darstellte. Die Untersuchung späterer Berichte von Olearius, Giles Fletcher und Johann Georg Korb zeigt, daß Herberstein in bezug auf die Sachlichkeit der Darstellung lange Zeit unerreicht blieb: Er »war in seinen Urteilen über Lebensstil, Moral und Bildungsniveau der Moskauer eher milde und vorsichtig. Fast alle späteren Autoren haben hingegen mit merkbarem Vergnügen die Moskauer als Barbaren hingestellt und sich über Schwächen und Bildungslücken lustig gemacht.«63 Herberstein hat das Rußlandbild Westeuropas lange Zeit geprägt; er ist für Olearius, der rund hundert Jahre später reiste und erstmals genaue Informationen über das untere Wolgagebiet mitteilte, der wichtigste und meistzitierte Gewährsmann.64 In einem anderen Beitrag über Herberstein beschränkt sich Walter Leitsch darauf, einige Angaben zur Biographie des Autors zu machen, der sich 1517-18 und 1526-27 in Moskau aufgehalten hatte.65 Ansonsten gibt Leitsch hier nur eine Sammlung von Textauszügen aus der deutschen Übersetzung von 1563, in denen Aussagen Herbersteins über Geschichte, Sprache und Sitten enthalten sind. Einen Überblick über die Frühphase deutsch-russischer Kontakte gibt Frank Kämpfer mit seiner Darstellung deutscher Berichte über das Moskauer Reich in der »Zeit der Wirren« um 1600. Diese Kontakte wurden im wesentlichen von drei Typen deutscher Reisender aufrechterhalten: durch Diplomaten wie Herberstein oder Heinrich von Logau; durch Händler wie Hans Georg Peyerle und durch Abenteurer wie Heinrich von Staden und Konrad Bussow.66 Von allen drei Gruppen liegen Reiseberichte vor, die Informationen über die Zustände des russischen Reiches überliefern. Kämpfer untersucht die Berichte von Bussow und Peyerle etwas ausführlicher. Peyerles nicht zur Publikation bestimmtes Tagebuch stellt sich aufgrund des engen Beobachtungshorizontes als ziemlich unergiebig in bezug auf Informationen über Rußland heraus und verzichtet 63

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Walter Leitsch, Westeuropäische Reiseberichte über den Moskauer Staat, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, S. 153-176; hier S. 162. Dieter Lohmeier, Nachwort, in: Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung Der Mucowitischen vnd Persischen Reyse. Schleswig 16S6, hg. v. Dieter Lohmeier (refjrograph. Nachdruck) Tübingen 1971 (= Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 21,), S. 3*-60*; hier S. 48*. Vgl. Walter Leitsch, Das erste Rußlandbuch im Westen - Sigismund Freiherr von Herberstein, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 9.-17. Jahrhundert, hg. v. Mechthild Keller unter Mitarbeit von Ursula Dettbarn/Karl-Heinz Korn, München 1985 (= West-östliche Spiegelungen A 1), S. 119-149; hier S. 118-121. Vgl. Frank Kämpfer, Deutsche Augenzeugenberichte über die »Zeit der Wirren«, in: Reiseberichte von Deutschen über Rußland und von Russen über Deutschland, hg. v. Friedhelm Berthold Kaiser/Bernhard Stasiewski, Köln/Wien 1980 (= Studien zum Deutschtum im Osten 15), S. 24-42; hier S. 26f.

auf alle Effekte, die eine Lektüre für einen zeitgenössischen Leser hätten interessant machen können.67 Bussows Bericht hingegen vermittelt eine Fülle von wissenwerten Informationen, die sich aus einem langjährigen Aufenthalt in Rußland ergeben; er ist zudem um eine publikumswirksame Aufbereitung bemüht.68 Bussow entwirft ein alles in allem genommen recht negatives Bild der Russen, die als »stumpfe, verräterische, feindselige Masse« den »redlichen, treuen und tüchtigen Deutschen« gegenübergestellt werden, aber er ist auch um Verständnis für die besondere politische und soziale Lage des Volkes in dieser Zeit bemüht.69 Für Kämpfer sind die beiden Texte nicht nur wichtige historiographische Informationsquellen, sondern auch signifikante Zeugnisse für die Geschichte der Reiseliteratur und die Mentalitätsgeschichte des Bürgertums: »Wir sehen Vertreter des deutschen Bürgertums, wie sie die Konfrontation mit dem Unbekannten und dem Unvertrauten bestehen.«70 Auch Andreas Kappeier betrachtet die deutschen Rußlandschriften in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Er geht dabei davon aus, daß in dieser Periode sich »eine Sichtweise und Grundmuster von Werthaltungen herausgebildet haben, die auch in der Folgezeit das deutsche Rußlandbild mitgeprägt haben.«71 Dieses Bild entstand vor allem durch Rußlandbücher, die nur zum Teil Augenzeugenberichte waren, und durch Flugschriften. Beide Textgruppen waren allerdings in der Regel durch die Kriegsgegner Rußlands initiiert, so daß sie von vornherein ein verzerrtes Bild der Verhältnisse liefern wollten.72 Im Zentrum dieser Texte standen der Krieg und die Einschätzung der Russen als asiatisch und barbarisch.73 Dieses traditionelle Bild des Russen wird verschärft durch die Berichte über den Charakter Ivans des Schrecklichen, dem überwiegend negative Eigenschaften zugeschrieben werden.74 Kappeier kann konstatieren, daß in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts dieses negative Bild sich in den deutschen Rußlandschriften endgültig durchgesetzt hat. Erst die Person Peters des Großen hat wieder zu positiven Modifikationen geführt, ohne daß sich dadurch aber das populäre Rußland-Bild grundsätzlich gewandelt hätte.75 67 68 69 70

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Vgl. ebd., S. 28-31. Vgl. ebd., S. 31-34. Ebd.,S.37f. Ebd., S. 39. Andreas Kappeier, Die deutschen Rußlandschriften der Zeit Ivans des Schrecklichen, in: Reiseberichte von Deutschen über Rußland und von Russen über Deutschland, S. 1-23; hier S. 3. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 13f. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 18f. 95

Einen anderen Aspekt der Rußland-Reisen betrachtet Nobert Angermann, der den Blick auf die ersten deutschen Berichte über Sibirien richtet, das seit dem späten 16. Jahrhundert von Rußland erobert worden war. Ein früher Text stammt bereits von Hans Schiltberger, der um 1400 als Teilnehmer eines Feldzuges in diese Region gekommen war.76 Dieser Bericht bleibt aber eine Ausnahme; weitere deutsche Mitteilungen über das Land, das selbst den Russen weithin unbekannt war, finden sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Herberstein und Olearius überliefern in ihren Berichten Informationen, die sie aus zweiter Hand erhalten haben und die im Falle Herbersteins geprägt sind von der Unkenntnis, die im Rußland des frühen 16. Jahrhunderts über Sibirien verbreitet war.77 Authentische Erfahrungen wurden erst in Berichten des späteren 17. Jahrhunderts niedergeschrieben. Ihre Autoren waren deutsche Soldaten in russischen Diensten, die zur Eroberung Sibiriens eingesetzt worden waren.78 Zuverlässige Informationen geben aber erst die Reiseberichte von Eberhard Isbrand und Adam Brand, die in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts als Kaufleute durch Sibirien nach China gereist waren und in ihren Berichten für »eine ganze Reihe von sibirischen Völkern« die »frühesten oder die ersten ethnographischen Beschreibungen« lieferten.79 Auf diese beiden Rußland- und Chinareisenden geht auch Karin Unsicker kurz ein. Aufschlußreich ist ihr Vergleich der Schilderung der gleichen Reise durch die beiden Autoren. Unsicker bringt die Unterschiede auf den etwas pointierten Begriff, daß beim eher nüchtern angelegten Reisebericht Isbrands das »prodesse« dominiere, während der eher anekdotisch-erzählend angelegte Bericht Brands mehr zum »delectare« neige, was durch die Analyse einiger Details belegt wird.80 Isbrand und Brand bringen erste zuverlässige Informationen über Sibirien nach Westeuropa; eine systematische wissenschaftliche Erforschung Sibiriens, an der von Anfang an Deutsche beteiligt waren, beginnt aber nicht vor den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Einen kurzen Einblick in Adam Olearius' Beitrag zum Rußland-Bild gibt Mitrovich in seinem Überblick über Reisende des 17. Jahrhunderts. Mitrovich hebt das Autopsie-Prinzip hervor, dem Olearius in seiner Dar-

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Vgl. Norbert Angermann, Die ersten deutschen Reiseberichte über Sibirien, in: Reiseberichte von Deutschen über Rußland und von Russen über Deutschland, S.4357, S. 44. Vgl. ebd., S. 45-48. Vgl. ebd., S. 48-50. Ebd., S. 53. Vgl. Unsicker, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein, S. 97.

Stellung folgt,81 und er stellt die wesentlichen Inhalte der Rußland-Beschreibung heraus. Für Olearius ergibt seine Betrachtung der russischen Sitten und Gebräuche das Bild einer fremden Welt; für ihn »beginnt Asien mit Rußland, weil die Auffassungen des Rechtes, der Gerechtigkeit, des Lebens und Todes sich von denen in Europa unterscheiden«.82 Wesentlich detaillierter ist die Untersuchung von Uwe Liszkowski über Olearius' Einfluß auf die Rußlandkenntnisse des 17. Jahrhunderts. Olearius hat Rußland insgesamt dreimal, in den Jahren 1634, 1636/39 und 1643, besucht.83 Liszkowski erläutert die etwas prekären, von Olearius in seiner Reisebeschreibung verschwiegenen politischen Hintergründe der Reise und beschreibt die Entstehung und die außerordentlich große, europaweite Wirkungsgeschichte des Textes.84 In seinen Aufzeichnungen ist Olearius darum bemüht, alle wesentlichen Facetten der russischen Kultur zu erfassen. Er geht auf »Geschichte, Klima und Fruchtbarkeit« ein, äußert sich zu den »Sitten und Lebensgewohnheiten« und zum Bildungswesen und fügt ein kleines Porträt des Zaren Ivan IV. ein.85 Liszkowski rekonstruiert die Prinzipien, denen diese Beschreibung folgt: Wesentlich ist Olearius' Berufung auf die eigene Erfahrung, die freilich oft zu einer Dominanz des Details führt. Daneben greift er auf deutsche und russische Informationen sowie auf die westeuropäische Literatur zum Thema zurück, wodurch das Autopsieprinzip teilweise wieder unterlaufen wird; zu Fehlern in der Darstellung führt seine mangelnde Kenntnis der russischen Sprache.86 Liszkowski konstatiert ein insgesamt verzerrtes Bild des russischen Reiches, bedingt durch Olearius' Urteilskriterien, die er als gebildeter Westeuropäer immer der eigenen Kultur entnimmt. Olearius eignet sich vieles aus dem etablierten Rußlandbild mit seiner negativen Charakteristik des russischen Volkes, seiner Bildung, seiner Sitten und seiner religiösen Bräuche an. Eine kohärente und vorurteilsfreie Darstellung entsteht so bei aller Empiriebemühtheit des Autors nicht; »Olearius übernahm aus der westlichen Rußlandliteratur die Stereotyen über die autokratische Tyrannei, die Sklavennatur, die Äußerlichkeit des orthodoxen Glaubens und das rohe Barbarentum der Russen.«87 81 82

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Vgl. Mitrovich, Deutsche Reisende und Reiseberichte im 17. Jahrhundert, S. lOOf. Ebd., S. 108. Vgl. Uwe Liszkowski, Adam Olearius' Beschreibung des Moskauer Reiches, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht, S. 223-247; hier S. 223. Einen kurzen biographischen Abriß mit umfangreicher Quellen- und Forschungsbibliographie zu Olearius gibt Wolfgang Neuber, (Art.) Olearius, Adam, in: Archiv für Geschichte der Naturwissenschaften 14/15 (1985), S. 723-728. Vgl. Liszkowski, Adam Olearius' Beschreibung des Moskauer Reiches, S. 225-231. Ebd., S. 234. Vgl. ebd., S. 235-237. Ebd.,S.244f.

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Dieser Rußland-Schilderung stellt Liszkowski die des Dichters Paul Fleming gegenüber, der Teilnehmer der zweiten holsteinischen Gesandtschaft gewesen war und von dem Olearius ein Rußland-Gedicht in seinen Reisebericht aufgenommen hat. Ganz im Gegensatz zu Olearius' eigener Darstellung äußert Fleming sich ausgesprochen positiv über die Russen. Er schildert ihr Leben in stilisierter Verklärung in Anlehnung an die Idyllentradition und nimmt insgesamt eine »tolerante, aufgeschlossene, rußlandfreundliche Einstellung« ein, die im 18. Jahrhundert von Leibniz über Schlözer und Herder weiter tradiert wird.88 Deutsche Reiseberichte über Rußland haben eine sehr lange Tradition. Mit Blick auf Kiev, die Hauptstadt Altrußlands, wird sie rekonstruiert von G. Mühlpfordt, der erste Zeugnisse schon um das Jahr 1000 ausmachen kann. Das Interesse an Kiev hat sich dann über die Jahrhunderte hinweg erhalten. Es wurde inspiriert durch die kirchlichen und weltlichen Gebäude sowie durch seinen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Rang89 und erreichte - parallel zur zunehmenden Bedeutung der Stadt einen Höhepunkt im 17. Jahrhundert. Im letzten Viertel dieses Jahrhunderts wurde Kiev Reisenden besucht, die sich ihm unter aufklärerischen Gesichtspunkten näherten. Alte Legenden und übertriebene Darstellungen wurden skeptisch geprüft und revidiert; eine Haltung, die sich erstmals bei Johann Herbinius in seinem 1675 erschienenen Kiev-Buch durchsetzte, das besonders dem »unterirdischen Kiev« gewidmet war. Diese etwas merkwürdige Akzentsetzung begreift Mühlpfordt als spezifisch aufklärerischen Grundzug - als Ausdruck des allgemeinen aufklärerischen Erkenntnisinteresses, das »namentlich die Geheimnisse des Erdinnern aufzudecken suchte.«90 Mühlpfordt beschreibt die reise- und geistesgeschichtlichen Traditionen, aus denen Herbinius schöpfte und um deren kritisch-realistische Korrektur er bemüht war, wobei er sich schon durchaus avancierter Methoden, wie etwa der Auswertung der »Sprache als Geschichtsquelle«, bediente.91 Herbinius hat eine nachhaltige Wirkung hinterlassen, die das deutsche Kiev-Bild lange Zeit bis in Enzyklopädien hinein geprägt hat.92 Er steht damit wohl am Anfang der aufklärerischen Rußland-Rezeption in deutschen Reiseberichten. Auch wenn er mit einer einzelnen Stadt nur einen sehr schmalen geographischen Aus* Ebd., S. 247. Vgl. G. Mühlpfordt, Deutsche über Kiev. Herbinius und seine Vorgänger, in: Literaturbeziehungen im 18. Jahrhundert. Studien und Quellen zur deutsch-russischen und russisch-westeuropäischen Kommunikation, hg. v. Helmut Graßhoff, Berlin (DDR) 1986, S. 13-37; hier S. 16. 90 Ebd., S. 25. 91 Ebd., S. 30. 92 Vgl.ebd,S.31f. 98

schnitt erfaßte, so ist sein Werk doch so konzipiert, daß es methodisch anregend wirken konnte. Kurze Hinweise auf weitere Berichte über innereuropäische Reisen im 17. Jahrhundert gibt Karin Unsicker im Rahmen ihrer Studie über die Barockprosa in Schleswig-Holstein. Eine späte »peregrinatio academica« unternahm Jacob von Meile mit seiner Bildungsreise durch Holland, England und Frankreich im Jahre 1683, deren Verlauf er in einem 1713 eher zufällig gedruckten Tagebuch festhält. Das Tagebuch verzeichnet den typischen Ablauf der Reise eines späthumanistischen Gelehrten: von Meile und sein Begleiter Postel interessierten sich »für die Universitäten, ihre Lehrer und ihre Bibliotheken«;93 und wie die Englandreisenden Christoph und Andreas Arnold sammelten sie möglichst viele Autographen berühmter Gelehrter in ihren Stammbüchern. Ansätze subjektiv geprägter Beschreibung treten in den Tagebüchern zurück; der »objektivierende, neutrale Beschreibungsstil überwiegt«.94 Während diese Reise von Melles einer langen Tradition verpflichtet ist, finden sich beim Skandinavienreisenden Johann Daniel Major bereits Ansätze, die auf die künftige Entwicklung der Reisegeschichte vorausweisen. Die im Jahre 1693 unternommene Reise repräsentiert den zu dieser Zeit seltenen - und vielleicht singulären - Fall einer innereuropäischen Forschungsreise. Vor allem durch die archäologische Untersuchung von frühgeschichtlichen Gräbern sowie durch den Kontakt mit Gelehrten und durch die Besichtigung von Bücher- und Antiquitätensammlungen will er seine »These von der Herkunft der alten Cimbern« belegen.95 Trotz dieser thematischen Beschränkung ist sein Werk, dem Zug der Zeit folgend, universal ausgerichtet; es wendet sich entsprechend nicht an das breite Publikum, sondern an einen engen Kreis von Gelehrten.96 Zu erwähnen ist schließlich ein weiteres Randgebiet Europas, das im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit offensichtlich einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Zoran Konstantinovii hat die Entstehung eines deutschen Bildes von Serbien und Montenegro in Reisebeschreibungen bis zu seinen Anfängen im 9. Jahrhundert zurückverfolgt.97 Für die erste Periode der deutschen Reisen kann er die Herausbildung eines negativen Serbien-Bildes konstatieren;98 im 13. und 14. Jahrhundert finden sich trotz allgemein reger deutsch-serbischer Beziehungen überhaupt 93 94 95 96

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Unsicker, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein , S. 77f. Ebd., S. 80. Ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 112. Vgl. Zoran Konstantinovif, Deutsche Reisebeschreibungen über Serbien und Montenegro, München 1960 (= Südosteuropäische Arbeiten 56), S. 7f. Vgl. ebd., S. 11.

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keine bedeutenden Berichte über diese Region. Konstantinovic' führt das auf die politischen und geistigen Krisenerscheinungen im Deutschland dieser Zeit zurück, durch die sich kein Interesse für fremde Länder habe entwickeln können." Im 15. und 16. Jahrhundert schließlich kann er wieder eine zunehmende Aufmerksamkeit beobachten. Freilich dokumentiert sie sich durchgängig nicht in Reiseberichten, die ausschließlich Serbien gewidmet wären. Es handelt sich vielmehr immer nur um Episoden, in denen Serbien als Durchgangsland für andere Reiseziele behandelt wird. Zu den wichtigsten Reisenden, die Serbien im 15. Jahrhundert beschreiben, gehören Oswald von Wolkenstein, Hans Schiltberger, Michel Beheim und Arnold von Harff.100 Sie erweitern das in Deutschland bereits vertraute Serbien-Bild nur punktuell; von Bedeutung ist Harffs Versuch, erste Eindrücke von der Sprache des Landes zu vermitteln.101 Eine rege Anteilnahme an Serbien entwickeln die deutschen Humanisten. Konstantinovic* kann 15 gedruckte oder in Handschriften zirkulierende Texte des 16. Jahrhunderts anführen.102 Gegenüber dem vorhergehenden Jahrhundert ist das Themenspektrum deutlich breiter. Die Reisenden betrachten neben der Sprache die Religion und unternehmen erste Ansätze zu einer ethnographischen Beschreibung des serbischen Volkes; interessant sind für sie besonders die griechischen und römischen Inschriften, die sich in diesem Raum finden ließen.103 Trotz der offensichtlich erhöhten Aufmerksamkeit auf das Land und das Volk setzt sich aber die alte Tradition fort; das Serbienbild dieser Reisebeschreibungen ist weiterhin »trostlos«.104 Merkwürdigerweise scheinen Reisen innerhalb Deutschlands im 16. und 17. Jahrhundert keine nennenswerte Rolle gespielt zu haben; jedenfalls existiert hierzu keine einschlägige Forschung. Nur einen winzigen Hinweis, der sich weitgehend auf die Wiedergabe von Textauszügen beschränkt, gibt Alfons Beckenbauer. Er verweist auf das Manuskript des Bildhauergesellen Ferdinand Ertinger. Ertinger unternahm von 1690 an eine siebenjährige »Handwerksreise« durch Niederbayern, Österreich, Mähren, Schlesien und Böhmen, wobei er offensichtlich ziemlich genau dem Reiseführer Joachims von Sandrat folgte.105 Es ist zu vermuten, daß 99

Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 16-20. 101 Vgl. ebd., S. 21. 102 Vgl. ebd., S. 24-26. 103 Vgl. ebd., S. 33-37. 104 Ebd., S. 30. 105 Vgl. Alfons Beckenbauer, Zweimal Reisen durch Niederbayern. Zwei unveröffentlichte Reiseberichte aus verschiedenen Zeitepochen, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 104 (1978), S. 5-9. 100

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eine Fülle solcher ungedruckter und vielleicht auch gedruckter Texte existiert, die sicherlich vielfältige Aufschlüsse sowohl über die Kulturgeschichte des Reisens wie über die Gattungsgeschichte geben könnten. Die Präferenz für die Kavalierstour und für die außereuropäischen Entdekkungsfahrten hat andere Reiseformen aber bis jetzt noch nicht ins Blickfeld der Forschung treten lassen. Ein Randaspekt der frühneuzeitlichen Reiseliteratur wird in medizingeschichtlichen Beiträgen untersucht. Hannes Kästner beschreibt das »höchst komplexe Verhältnis des Ärztestandes zur Kosmographie/Geographie« in der Zeit von 1470 bis 1570.106 In diesem Zeitraum scheinen enge Beziehungen zwischen den beiden Wissensgebieten bestanden zu haben, wie Kästner in seinen Ausführungen plausibel machen kann: Sie ergeben sich aus der anthropologischen Auffassung der Renaissance, nach der in der ärztlichen Therapie astronomische oder astrologische Konstellationen zu berücksichtigen waren. Das verlangte den Ärzten entsprechende Kenntnisse ab und ließ sie auf neue Entdeckungen - zumal wenn sie das traditionelle Weltbild bedrohten - sensibel reagieren.107 Kästner stellt zunächst die Entwicklung des geographischen Wissens der Zeit dar: Das im 15. Jahrhundert zunächst dominierende ptolemäische Weltbild108 mußte zusehends einer realistischeren, durch die Kartographie und durch Reiseberichte - auch von Ärzten - vermittelten Perspektive weichen.109 Auch an der Vermittlung von Kenntnissen über die Neue Welt an breitere Volksschichten waren Ärzte maßgeblich beteiligt.110 Kästner kann eine Anzahl von Ärzten anführen, die an der Entstehung und an der Verbreitung eines neuzeitlichen Weltbildes teilhatten und die unmittelbar an dessen kartographischer Darstellung mitgewirkt haben. Kästner macht so plausibel, daß beide Wissensgebiete sich wechselseitig gefördert haben; die Entwicklung der empirischen Geographie steht in einem signifikanten Zusammenhang mit der Entstehung einer »neuen, nichtscholastischen Medizin«. Auch wenn wiederentdeckte antike Autoritäten zunächst hemmend wirkten, leiteten geographische Forschungen im Verein mit neuen Entdeckungen der Anatomie eine Wende im Denken

106

Hannes Kästner, Der Arzt und die Kosmographie. Beobachtungen über Aufnahme und Vermittlung neuer geographischer Kenntnisse in der deutschen Frührenaissance und der Reformationszeit, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Symposion Wolfenbüttel 1981, hg. v. Ludger Grenzmann/Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (= Germanistische Symposien. Berichtsbände S), S. 504531; hier S. 504.

107

Vgl. ebd., S. 507. Vgl. ebd., S. 509. 109 Vgl. ebd., S. 510f. 110 Vgl. ebd., S. 513-519. 108

101

ein.111 Kästners Beitrag ist nicht nur wichtig durch die Darstellung solcher Zusammenhänge. Er gibt zudem aufschlußreiche weiterführende Informationen zum geographischen Weltbild der Zeit überhaupt und zur Entwicklung der Medizin als einer modernen wissenschaftlichen und sozialen Institution; zu einem Prozeß also, der schließlich zur Emanzipation von den Beschränkungen der ständischen Kultur beigetragen hat.112 Ebenfalls im Bereich der Medizingeschichte angesiedelt ist der Beitrag von Hans J. Vermeer, der auf einen wichtigen Teilbereich der Reiseliteratur aufmerksam macht: das »Reisekonsilium«. Vermeer ediert und beschreibt den Text des Nürnberger Stadtarztes Johann Lochner, den dieser anläßlich einer Romreise 1480 verfaßt und seinem gleichnamigen Sohn zugesandt hatte. Darin gibt Lochner medizinische Ratschläge, die bei einer Reise zu berücksichtigen sind. Der teils deutsch, teils lateinisch verfaßte Text gibt allgemeine Verhaltensmaßregeln zur Hygiene, zur Wohnung, zur Ernährung und behandelt besonders ausführlich Vorsichtsmaßregeln zur Vermeidung der Pest. Vermeer zeigt, daß Lochner sich an eine ältere Tradition der Gattung, insbesondere an die »Pestregimina«, anlehnt.113 Die - mit hilfreichen Zwischenüberschriften versehene - Edition des recht kurzen Textes114 wird abgerundet durch eine Wiedergabe der Lebensdaten der Familie Lochner^* und durch eine umfangreiche Bibliographie der Forschungsliteratur.116 Einen großflächigen, gleichermaßen zusammenfassenden wie methodisch weiterführenden Überblick über die Problematik des Reisens und des Reiseberichts beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit gibt Gerd Tellenbach. Dieser Überblick ist zwar wenig systematisch angelegt; aber er schärft dennoch den Blick für relevante Fragestellungen. Mit seiner Rekonstruktion dessen, was jeweils von den Reisenden wahrgenommen und als berichtenswert empfunden wurde,117 entfaltet Tellenbach ein breites Panorama abendländischer Reisetätigkeit und legt den Schwerpunkt auf die Seereisen. Am Beispiel auch etlicher deutscher Reisender vom 14. bis zum 16. Jahrhundert zeigt er, wie die Beschwerlichkeiten die111

Ebd., S. 520.

112

Vgl. ebd., S. 505. Auch der umfangreiche Anmerkungsapparat, der ausführlich Quellen und Forschungsliteratur zum Thema anführt, ist ein wichtiges Hilfsmittel für die Reiseliteraturforschung über diese Zeit. 113 Vgl. Hans J. Vermeer, Johann Lochners »Reisekonsilia«, in: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 56 (1972), S. 145-196; hier S. 150-153. 1M Vgl. ebd., S. 157-192. 115 Vgl. ebd., S. 153-156. 116 VgL ebd., S. 192-196. 117 Vgl. Gerd Tellenbach, Zur Frühgeschichte abendländischer Reisebeschreibungen, in: Historia integra. Festschrift für Erich Hassinger zum 70. Geburtstag, hg. v. Hans Fenske/Wolfgang Reinhard/Ernst Schulin, Berlin 1977, S. 51-80; hier S. 75. 102

ser Reiseform in die Berichte eingehen. Er kann nachweisen, daß die Wahrnehmungsfähigkeit der Autoren sehr unterschiedlich entwickelt ist und daß diese Fähigkeit im Laufe der Zeit zunimmt: Es läßt sich eine »zunehmende Wachheit, Aufmerksamkeit und Erlebnisfähigkeit« beobachten118 - ein Befund, der zu den prinzipiellen Einsichten der Reiseliteraturforschung über diese Zeit gehört. Tellenbach sieht auch die persönlichen Grenzen des Wahrnehmungshorizontes, der beeinflußt wird durch individuelle Interessen, wie sie etwa durch die Berufstätigkeit der Reisenden vorgegeben sind.119 Bei seiner Durchsicht des Materials kommt Tellenbach zu einigen Ergebnissen, die er leider nur andeutet, die aber plausibel und für weitere Forschungen fruchtbar erscheinen: Die Zunahme an Beobachtungsfähigkeit sieht er in Verbindung mit der Ablösung von religiösen Kontexten und einer stärkeren »Hinwendung zur irdischen Wirklichkeit«, deren Anfänge er im 12. Jahrhundert ansetzt.120 Diese Entwicklung wurde durch den Humanismus gefördert, ist aber nicht auf ihn allein zurückzuführen. Auch ist sie differenziert zu betrachten: Sie ging lange Zeit noch Hand in Hand mit einer Neigung zum Glauben an das Okkulte und Wunderbare.121 Sodann - dies wurde von der Forschung noch nicht gesehen - bewirkte der Drang nach der Ferne zugleich eine Sensibilisierung für die eigene Heimat und die Nachbarländer.122 Schließlich beobachtet Teilenbach, wie sich ein elementares Verfahren des Reiseberichts als Gattung immer stärker herausarbeitet: »das Vergleichen des Fremden mit Bekanntem.«123 Alle diese Feststellungen, die offensichtlich auf der Grundlage breiter, wenn auch im Text wenig entfalteter Kenntnis des Materials getroffen wurden, sind von grundsätzlicher methodischer Bedeutung für die Erforschung des Reiseberichts dieser Zeit. Sie lassen sich verstehen als Beiträge zur »Geschichte der Öffnung der irdischen Welt«, deren Anfänge im behandelten Zeitraum zu konstatieren sind und die sich am deutlichsten in der Gattung des Reiseberichts reflektieren.124 Teilenbachs Überlegungen bilden mit ihrer weit ausholenden Fragestellung eine Ausnahme in der Forschung zur Reiseliteratur zwischen dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Dennoch ist die Reiseliteratur über die verschiedenen Regionen durch eine Fülle von Einzelstudien recht gut erschlossen, die sich methodisch allerdings auf einem

119

VgI.ebd.,S.78f. Ebd., S. 51. 121 Vgl. ebd., S. 57f. 122 VgI.ebd.,S.51f. 123 Ebd.,S.76f. 124 Ebd., S. 80. 120

103

höchst unterschiedlichen Niveau bewegen und sich meist auf Informationsvermittlung beschränken. Es dürfte kaum einen wichtigen innereuropäischen Reisenden dieses Zeitraums geben, der nicht auf die eine oder andere Weise erfaßt wurde, so daß die Forschungsübersicht einen wohl insgesamt weitgehend vollständigen Einblick in wesentliche Stationen der Gattungsentwicklung gibt. Allerdings leidet die Forschung unter ihrer mangelnden methodischen Reflexion und der punktuellen Orientierung der Fragestellungen, die zwar ein wohlinformiertes, aber kein kohärentes Bild der Gattung in dieser Epoche wiedergeben. Auch dort, wo eine größere Zahl von Untersuchungen in einem Sammelband zusammengefaßt wird, lassen sich keine klaren Konturen erkennen, die durch eine Abstimmung in bezug auf gemeinsame Fragestellungen, methodisches Vorgehen und die Untersuchung von Motivkomplexen hätten gezeichnet werden können.125 Im Zentrum solcher Untersuchungen stehen überwiegend die Reiseberichte als historische Quelle, wobei die Auswahl der Texte meist von speziellen Interessen der Forscher bestimmt ist. Nur gelegentlich werden übergreifende Einsichten von grundsätzlicher Bedeutung erzielt oder auch nur angestrebt; Probleme der Wahrnehmungsformen sowie ihrer Voraussetzungen wie solche der literarischen Gestaltung der Reiseerfahrungen werden allenfalls am Rande behandelt. Die spezifischen Möglichkeiten einer Untersuchung der Reiseliteratur dieser Zeit sind noch kaum genutzt. Antoni Maczak hat aus der Sicht des Historikers einige Überlegungen zum Quellenwert und Informationsgehalt von Reiseberichten der Frühen Neuzeit angestellt: Die »typische Freimütigkeit in den Reiseberichten«, die durch die »Andersartigkeit der neuen Umgebung« provoziert wird,126 kann Informationen liefern, die sich in anderen Quellentypen nicht finden. Die Reisenden stehen, dank ihrer Konfrontation mit fremden Eindrücken, die zur Überprüfung ihrer tradierten Denkmuster anregt, oft »an der Spitze des Zeitgeistes«; ihre Berichte können Einblicke in kultur-, geistes-, politik- oder wirtschaftsgeschichtliche Entwicklungen geben, die sonst kaum möglich wären.127 Auch lassen sich in den Berichten »Archetypen« studieren, die das Bewußtsein und die Wahrnehmungsformen einer Zeit prägten.128

125

Vgl. den Sammelband Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Antoni Maczak, Zu einigen vernachlässigten Fragen der Geschichtsschreibung über das Reisen in der frühen Neuzeit, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, S. 315-323; hier S. 316. 127 Ebd., S. 318. 128 Vgl. ebd., S. 319. 126

104

2. Die Institutionalisierung des Reisens: Kavalierstour, Apodemiken, Formen des Kulturkontaktes Die Rahmenbedingungen neuzeitlichen Reisens bis ins 18. Jahrhundert hinein sind bisher für zwei Teilkomplexe erschlossen worden. Norbert Conrads untersucht in seinem Aufsatz die Frage, »unter welchen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Bedingungen es zur Ausbildung und Institutionalisierung der Bildungsreise kam und warum diese Bildungseinrichtung wieder aufgegeben wurde.«129 Er verfolgt dieses Problem über drei Epochen des Reisens hinweg. Vom frühen Mittelalter bis zum Humanismus war der Besuch fremder Universitäten Anlaß für die »peregrinatio academica« der Studenten; in der Mitte des 15. Jahrhunderts löste sich der Adel aus der Gruppe dieser Reisenden heraus und ging seinen eigenen Bildungsidealen in den komplementären Institutionen der Ritterakademien und der Kavaliersreise nach; schließlich änderte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der Charakter dieser Kavalierstouren entsprechend den Bedürfnissen des aufgeklärten und sich verbürgerlichenden Zeitalters.130 In der Frühen Neuzeit handelte es sich bei der Bildungsreise um eine privilegierte und allgemein akzeptierte Reiseform, die bereits 1155 durch das »Scholarenprivileg« Friedrich Barbarossas sanktioniert wurde.131 Durch die europäischen Kriege und mit der Ausbildung der auf ihre Souveränität bedachten Territorialstaaten im Verein mit der Entwicklung des Paßwesens wurde das Privileg für die Bildungsreisen allerdings rechtlich wie praktisch eingeschränkt. Zudem beeinträchtigten die Kriegshandlungen das Reisen überhaupt, da im 17. Jahrhundert der »Reiseverkehr und folglich auch die Möglichkeit der Kavalierstouren« zusehends stärker staatlichen Bestimmungen unterlag, die »Handel und Kriegswerbung mit Reichsfeinden unterbinden« sollten.132 Schließlich wurde das Reisen durch steuerliche Maßnahmen und andere Beschränkungen erschwert, die sich auf merkantilistische und bildungspolitische, später auch auf religionspolitische Vorbehalte gründeten.133 Die reale Wirksamkeit solcher rechtlicher Eingriffe läßt sich nicht genau feststellen; jedenfalls dürfte sie nicht so groß gewesen sein, daß das Reisen ganz unterbunden worden wäre, zumal den einschränkenden Maßnahmen Bemühungen entNorbert Conrads, Politische und staatsrechtliche Probleme der Kavalierstour, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, S. 45-64; hier S. 45. 130

Vgl. ebd., S. 46t. Vgl. ebd., S. 49. 132 Vgl. ebd., S. 54. 133 Vgl. ebd., S. 55-57. 131

105

gegenstanden, »mit denen Staat und Obrigkeiten Bildungsreisen subventionierten oder politisch absicherten.«134 Unter einem wissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkt hat Justin Stagl die Rahmenbedingungen des frühneuzeitlichen Reisens untersucht. Mit der Durchsetzung des Erfahrungsprinzips in der Wissenschaft allgemein und des Autopsieprinzips im Reisebericht im besonderen stellte sich das Problem des systematischen Erwerbs und der Verarbeitung von Wahrnehmungen. Innereuropäische und überseeische Reisen waren die Hauptquellen der Information über fremde Länder wie über das eigene Land. Der Umfang des Materials und seine Fremdartigkeit erforderten eine »Methodisierung des Reisens«, die die Sammlung gezielter Informationen für den speziellen Wissensbedarf sowie ihre Ordnung ermöglichen sollte.135 Das Interesse an geordnetem Material war groß - nicht nur auf der Seite der Wissenschaft, sondern mehr noch auf der des Staates, der die von den Reisenden hergebrachten Informationen zu etatistischen Zwecken nutzen konnte. Strategien zur systematischen Sammlung solcher Informationen wurden deshalb schon früh entwickelt; für die innereuropäischen Reisen sind sie in den »Apodemiken« des 16. und 17. Jahrhunderts fixiert, die erste ließ Hieronymus Turler 1574 drucken.136 In diesen Apodemiken wurde den Reisenden eine Methode an die Hand gegeben, mit der sie ihre Beobachtungen durchführen und ordnen konnten; sie geben zudem ganz im Sinne der späteren Reiseführer vorgreifende Informationen über die zu bereisenden Länder und praktische Ratschläge für die Durchführung der Reise selbst.137 Nach Abschluß der Reise stellte sich das Problem der Auswertung des gesammelten Materials, das bald enzyklopädischen Umfang annahm. Auch hierfür geben die Apodemiken Anhaltspunkte. Ihre Schemata für die Rubrizierung des Wissens orientierten sich zunächst an den überlieferten Kategorien der Rhetorik, die allerdings im 16. Jahrhundert schon verfeinert worden waren.138 Besonderen Anteil daran hatte der Sor134

Ebd., S. 56.

135

Justin Stagl, Der wohl unterwiesene Passagier. Reisekunst und Gesellschaftsbeschreibung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als QueUen der Kulturbeziehungsforschung, S353-384; S. 357. Vgl. die Bibliographie Justin Stagl (unter Mitarbeit von Klaus Orda/Christel Kämpfer), Apodemiken. Eine räsonnierte Bibliographie der reisetheoretischen Literatur des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, Paderborn/München/Wien/Zürich 1983 (= Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Staatsbeschreibung und Statistik 2). 136 Vgl. Stagl, Der wohl unterwiesene Passagier, S. 356f. 137 Vgl. ebd., S. 36. Justin Stagl, Die Apodemik oder »Reisekunst« als Methodik der Sozialforschung vom Humanismus bis zur Aufklärung, in: Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16.-18. Jahrhundert. Bericht über ein interdisziplinäres Symposion in Wolfenbüttel, 2S.-28. September 1978, hg. v. Mohammed Rassem/Justin Stagl, Päder-

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bonne-Philosoph Petrus Ramus, der in Deutschland stark rezipiert wurde. Ramus hatte, in einer Wendung gegen den konventionellen Aristotelismus der Zeit, versucht, ein »natürliches System« zur Ordnung aller Dinge zu entwerfen, das sich nicht als logische Konstruktion verstand, sondern den Sachen selbst entsprechen sollte.139 Dieses Verfahren ermöglichte die Durchführung von systematischen Beobachtungen auf Reisen; es gab den Reisenden sowie den Auswerten! der Reiseberichte ein »Gefühl von Sicherheit«, da »alles neu hinzukommende Wissen [...] leicht nach denselben Prinzipien methodisiert werden« konnte.140 Die Methodisierung ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Quantifizierung, die schließlich dazu führt, daß Wissen in Statistiken im modernen Sinne aufgeht.141 Die durch den deutschen Ramismus wesentlich angeregten Verfahren142 richteten sich zunächst unspezifisch auf die Systematisierung von Wahrnehmungen überhaupt. Ein spezifischeres Interesse verfolgten sie dort, wo sie gezielt etatistischen Zwecken dienstbar gemacht wurden, denn in »der vorindustriellen Gesellschaft war das Reisen das wichtigste Mittel zur Gewinnung sozialwissenschaftlich relevanter Daten«.143 Schon sehr früh wurden die »Darstellungsschemata für die Reiseberichte und für die systematische Landes-, Volks- und Staatsbeschreibung«, deren Entwicklung bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht,144 durch standardisierte Fragelisten ergänzt, wie sie wohl schon in den entwickelten Bürokratien der altorientalischen Reiche verwendet wurden.145 Hier wie später in Europa dienten sie insbesondere der »Rekrutierung und Besteuerung«; sie »wurden in großem Umfang vor allem in sozialen Krisensituationen, wie Kolonisation, Krieg, Besitzumverteilung im großen Maßstab durchborn/München/Wien/Zürich 1980 (= Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Staatsbeschreibung und Statistik 1), S. 131-202; Diskussionsbericht S. 203f.; hier S. 141f. Einige Hinweise auf solche Texte gibt Wolfgang Reinhard, Reiseliteratur in der Oettingen-Wallersteinschen Bibliothek - ein Beitrag zu ihrer Erschließung, in: Rieser Kulturtage 4 (1982), Nördlingen 1983, S. 443-457; hier S. 448f. Zu Ramus vgl. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. I, Darmstadt 1974 (zuerst 1911), S. 130-135; Wilhelm Risse, Die Logik der Neuzeit, Bd. 1:1500-1640, Stuttgart/Bad Cannstatt 1964, S. 172-189. 140 Stagl, Der wohl unterwiesene Passagier, S. 359. ** Einen ganz kursorischen Überblick geben Mohammed Rassem/Justin Stagl, Zur Geschichte der Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit. Grundriß für einen Arbeitskreis, in: Zeitschrift für Politik NF 24 (1977), S. 81-86. 142 Vgl. Stagl, Die Apodemik oder »Reisekunst«, S. 142. Justin Stagl, Vom Dialog zum Fragebogen. Miszellen zur Geschichte der Umfrage, in: Köhier Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31 (1979), S. 611-638; hier S. 144

145

611. Ebd., S. 613.

Vgl. ebd., S. 615. 107

geführt«.146 Dieser Verwendungszweck allerdings hemmte die Geschichte des Reisens eher als sie zu fördern, da zum einen die Ergebnisse der Befragungen zu den arcana der Politik gehörten, zum anderen das Sammeln solcher Informationen durch fremde Reisende oft unterbunden wurde. Die Methode des standardisierten Fragebogens wurde auch im wissenschaftlichen Bereich verwendet. Im »Mittelalter und im verstärkten Maße im 16. Jahrhundert zirkulierten in der gelehrten Welt Listen von medizinischen und naturwissenschaftlichen Streitfragen«.147 Dieses Verfahren wurde von den neuzeitlichen Akademien aufgegriffen, die damit die Geschichte des Reisens unmittelbar beeinflußten. Die Royal Society etwa publizierte Fragelisten, die nur durch »Nachforschungen an Ort und Stelle beantwortet werden konnten«.148 Für den Prozeß der Empirisiemng der Wissenschaft waren die innereuropäischen und die überseeischen Reisen, die sich immer mehr zu Forschungsreisen entwickelten, von wesentlicher Bedeutung. Die Priorität bei den überseeischen Reisen lag bei geographischen und botanischen Informationen; ethnologische Fragelisten wurden dagegen kaum berücksichtigt.149 Das von Justin Stagl vorbildlich untersuchte Problem einer Methodisierung des Reisens stellt sich noch dringlicher bei den überseeischen Reisen in der Frühen Neuzeit. Bei innereuropäischen Reisen wurde der Reisende kaum einmal mit dem völlig Fremden konfrontiert. Manches mochte ihm unvertraut erscheinen, aber prinzipiell blieb er in Kontakt mit einem verwandten Kulturkreis. Auf eine eigene Weise gilt das selbst für die spätmittelalterlichen Pilgerreisen ins heilige Land. Wenn hier auch die Umgebung fremd war, so bewegte sich der Reisende doch im geistigen Horizont der christlich-biblischen Überlieferung und im realen Kontext einer Infrastruktur des Pilgerwesens. Beides mußte ihm die Orientierung in der fremden Umgebung wesentlich erleichtern. Anders verhält es sich jedoch bei jenen Reisenden, die sich auf gänzlich unbekanntes Terrain begaben. Der Kontakt mit und die Rezeption von völlig fremden Kulturen stellte ein Problem dar, das als solches von den Zeitgenossen kaum erkannt wurde, das aber ihre Wahrnehmungs- und Beschreibungsfähigkeit wesentlich beeinflußt haben muß. Zentrale Beiträge zu einer 146

Ebd.

147

Ebd., S. 617. 148 Ebd., S. 621. Urs Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1982, S. 34f. Zum Einfluß der Entdeckungsreisen auf die Entwicklung des neuzeitlichen Weltverständnisses vgl. Wolfgang Krohn, Die »Neue Wissenschaft« der Renaissance, in: Gernot Böhme/Wolfgang van den Daele/Wolfgang Krohn, Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt a.M. 1977, S. 13-128; hier S. 73f.

108

Systematisierung dieser Fragestellung hat Urs Bitterli geliefert, der auch einige Hinweise zu den praktisch-technischen Rahmenbedingungen des Reisens in dieser Zeit gegeben hat.150 Bitterli entwickelt eine Typologie von »Grundformen des Kulturkontaktes«, die er unter Heranziehung von Textmaterial aus dem europäischen Kulturraum des 15. bis 18. Jahrhunderts ausbaut und bis in die feinsten Verästelungen verfolgt. Grundsätzlich unterscheidet er zwischen der »Kulturberührung« als das »in seiner Dauer begrenzte, erstmalige oder mit großen Unterbrechungen erfolgende Zusammentreffen einer Gruppe von Europäern mit Vertretern einer überseeischen Kultur«;151 dem »Kulturzusammenstoß«, der zum Konflikt mit den Fremdkulturen führt152 und der die »häufigste Erscheinungsform der europäisch-überseeischen Kontakte vom 15. bis zum 18. Jahrhundert« darstellt;153 schließlich der »Kulturbeziehung«, die ein »dauerndes Verhältnis wechselseitiger Kontakte auf der Basis eines machtpolitischen Gleichgewichts« begründet.154 Diese verschiedenen Formen des Kulturkontakts untersucht Bitterli auf der Grundlage reichen Materials an verschiedenen Beispielen der Begegnung von Europäern mit Nicht-Europäern wie Afrikanern, Asiaten und Indianern. Er stellt den europäischen Umgang mit der fremden Kultur dar, der in den meisten Fällen mit deren Unterwerfung endete: »Missionarisches Sendungsbewußtsein, monopolkapitalistische Wirtschaftsdoktrin und das Bewußtsein der militärischen Überlegenheit waren die entscheidenden Faktoren, welche ein tieferes, verantwortungsbewußteres Verständnis für den eigenständigen Charakter archaischer Kulturen letztlich verhinderten.«155 Allerdings kann Bitterli Ausnahmen von dieser Regel verzeichnen. Es lassen sich - als »Akkulturation« - Prozesse der »gegenseitigen Anpassung« feststellen,156 und der Akkulturationsvorgang kann zur Entstehung einer »Mischkultur« im Zuge der Kulturverflechtung führen.157 Einen Sonderfall stellen die Beziehungen zu China in der Frühen Neuzeit dar. Hier machten die europäischen Reisenden die Erfahrung der Existenz einer eigenständigen traditionsreichen Kultur, die ihr Eigenrecht gegenüber den europäisch kulturellen,

150

Vgl. Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, S. 19-23. Urs Bitterli, Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986, S. 17. 152 Ebd., S. 28. 153 Ebd., S. 4L 154 Ebd., S. 42. 155 Vgl. Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, S. 175. 156 Ebd., S. 162. 157 Ebd., *·»'S. 167. 151

109

politischen und wirtschaftlichen Machtansprüchen zu behaupten und die Kulturbeziehung zu kontrollieren wußte.158

3. Erschließung einer Neuen Welt: Die reale und mentale Vereinnahmung Amerikas Die Reisenden der Frühen Neuzeit haben sich nur zögernd Rechenschaft abgelegt über die Bedingungen, denen ihre Erfahrung der fremden Kultur unterlag. Die europäische Erfahrung völlig fremder Kulturbereiche, insbesondere im Gefolge der Entdeckung Amerikas und der Berichterstattung darüber seit dem frühen 16. Jahrhundert, hat aber erhebliche Auswirkungen auf das europäische Welt- und Selbstverständnis gehabt und erste Anstöße zur Selbstreflexion gegeben. Die Konfrontation mit den »Wilden« forderte oft zum Überdenken des eigenen anthropologischen und sozialen Weltbildes heraus, zumindest führte es zur Entwicklung von Kategorien, mit denen die fremde Kultur geistig verarbeitet werden konnte. Zu den frühesten und nachhaltigsten dieser Kategorien gehören die Stereotypen, mit denen die Europäer den Bewohnern der fremden Welt begegneten. Die Eingeborenen des amerikanischen Kontinents werden zur Gestalt des »Barbaren«, des »Edlen Wilden« oder des »Heiden« stilisiert. Das anthropologische Stereotyp des »Barbaren« dient im System der Kolonialisierungspolitik - nicht nur der Frühen Neuzeit, sondern mindestens bis ins 19. Jahrhundert hinein - legitimatorischen Zwecken, da es die Unterwerfung und im nicht seltenen Extremfall die Ausrottung der fremden Kultur sanktionierte. In dieser Funktion hat es die realgeschichtliche Entwicklung der überseeischen Beziehungen geprägt und eine dramatische praktische Bedeutung erlangt.159 Den globalen geistesgeschichtlichen Rahmen, in dem sich die Erschließung der überseeischen Kulturen durch die Europäer in der Frühen Neuzeit vollzieht, steckt Eberhard Berg mit einem Blick auf Antonio Pigafetta, Jean de Lory, Bartolome" de Las Casas und Bernardino R. de 158

Vgl. Bitterli, Alte Welt - neue Welt, S. 152-177; Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, 55f. Vgl. ebd., S. 367. Die Ausarbeitung dieses legitimatorischen anthropologischen Modells bei dem Spanier Fernandez de Oviedo untersucht Mario Erdheim, Anthropologische Modelle des 16. Jahrhunderts. Über Las Casas, Oviedo und Sahagun, in: Berliner Festspiele. Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas, hg. v. Karl-Heinz Kohl, Berlin 1982, S. 57-67; hier S. 57-59. Zur Geschichte des Gegensatzpaares von »Zivilisierten« und »Barbaren« vgl. Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 211-259; hier S. 218-229.

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Sahagun ab. Er zeichnet die Entwicklung der Wahrnehmung dieser Kulturen knapp nach als fortschreitende Loslösung von sagenhaften und phantastischen Traditionen hin zur Empirisierung und »systematischen wissenschaftlichen Erforschung«,160 bis schließlich durch den Einfluß Montaignes und Francis Bacons zu Beginn des 17. Jahrhunderts die »Festgefügtheit der überkommenen Wertvorstellung endgültig erschüttert« wird.161 Dem gleichen Problem der Entwicklung von Vorstellungen über und der Aufnahme von Informationen aus Amerika im 16. Jahrhundert hat Frauke Gewecke eine eigene Studie gewidmet. Obwohl sie sich auf die romanischen Literaturen beschränkt, liefert sie einen gleichermaßen informativen wie in den Interpretationen meist plausiblen Beitrag zur Erschließung des europäischen Umfelds, in dem sich die Aufarbeitung der Amerika-Erfahrung vollzog. Die Rezeption Amerikas in der Romania dürfte zwar auf die deutschen Reiseberichte des 16. und 17. Jahrhunderts keinen Einfluß gehabt haben; desto größer ist aber die indirekte Wirkung, die die französischen, spanischen und portugiesischen Diskussionen über die Neue Welt im 18. Jahrhundert ausgeübt haben. Einleitend gibt Gewecke eine ausführliche, narrativ angelegte Darstellung der Ereignisgeschichte, in der sie in großen Zügen die Eroberungs- und Besiedlungsgeschichte des neuentdeckten Kontinents nachzeichnet. Diese Geschichte stellt sich als ein Kampf dar zwischen den Entdecker-Nationen Spanien und Portugal und dem zwei Jahrzehnte später in Amerika auftretenden Frankreich. Gewecke schildert nicht nur die amerikanische, sondern auch die europäische Seite der Entdeckungsgeschichte: die Rückwirkungen auf die Beziehungen der drei Großmächte zueinander und die innen-, wirtschafts- und finanzpolitischen Auswirkungen der Entdeckung vor allem in Spanien.162 Geweckes eigentliche Fragestellung ist aber eine andere: Sie zielt auf die Voraussetzungen, denen die Wahrnehmung des Fremden unterliegt. In einem geistesgeschichtlichen Exkurs rekonstruiert sie zunächst das Arsenal okzidentaler Vorstellungen über die Fremde. Diese sind grundsätzlich geprägt von einem Dualismus, der das Fremde immer als Entgegensetzung zum eigenen begreift. Inhaltlich allerdings nimmt der Dualismus unterschiedliche Gestalten an: Das Fremde kann als das »Barbarische« begriffen werden oder aber als das »Irdische Paradies« - beide Traditionen haben die okzidentalen Weltbilder fast von den Anfängen an geprägt Eberhard Berg, Zwischen den Welten. Über die Anthropologie der Aufklärung und ihr Verhältnis zur Entdeckungs-Reise und Welt-Erfahrung mit besonderem Blick auf das Werk Georg Forsters, Berlin 1982, S. 27. 161 Ebd., ·*·» S. 28. 162

Vgl. Frauke Gewecke, Wie die alte Welt in die neue kam, Stuttgart 1986, S. 15-58.

111

und wirken in der Amerika-Rezeption des 15. und 16. Jahrhunderts nach.163 Das zeigt Gewecke in ihrer Untersuchung der ersten Texte, in denen Informationen über die Neue Welt nach Europa übermittelt wurden. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren solche Informationen nur aus den Texten von Columbus, Vespucci, Cortos und Anghiera zu beziehen, die eine außerordentlich große Verbreitung in West- und Mitteleuropa erzielten.164 Columbus' Amerika-Bild ist geprägt von der antiken Tradition des »locus amoenus« und den Vorstellungen, die das Abendland an Indien geknüpft hatte.165 Auch Vespuccis insgesamt recht positives Bild der Kulturen in der Neuen Welt ist von Vorerwartungen gesteuert, die anders als die des Columbus nicht durch legitimatorische Absichten bestimmt sind. Vespucci bezieht sein Wahrnehmungsraster aus der eigenen Kultur; wichtig erscheint ihm das, was an »vertrauten fundamentalen Institutionen und Vorstellungen bei diesen Menschen nicht anzutreffen« war.166 Im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts wurden die von Columbus und Vespucci überlieferten Informationen komplettiert und führten zu einem komplexeren Bild der Neuen Welt. Vespucci selbst hat mit späteren Schriften ebenso dazu beigetragen wie andere Autoren. Dazu gehörte der italienische Humanist Pietro Martire d'Anghiera mit seinem Bericht Oceani Decas, der erstmals 1511 in seiner vollständigen lateinischen Fassung publiziert wurde.167 Anghieras Bericht trägt schon Elemente des literarischen, aus antiken Traditionen gespeisten Klischees vom »Edlen Wilden« vor, das er den Mißständen der eigenen Gesellschaft entgegenstellt. Später aber wird dieses positive Bild wieder zurückgenommen zugunsten des anderen Stereotyps vom »Wilden« als dem Barbaren.168 Obwohl Anghieras Vorstellungen von solchen tradierten Stereotypen geprägt sind, ist er wohl der erste Autor von Americana, der sich Rechenschaft ablegt über die ethnozentrischen Bedingungen der eigenen Wahrnehmung und der die Einsicht in die »Relativität von Urteilen« formuliert.169 Wieder ein anderes Wahrnehmungsmodell realisiert Hernän Cortos, der über Mexiko berichtet. Ihm erscheinen die Mexikaner als eine Hochkultur, in der zwar barbarische Sitten herrschten, die aber prinzipiell mit den Kategorien des eigenen Kulturkreises beschrieben werden konnten.170 163

Vgl. ebd., S. 59-87. Vgl. ebd., S. 89. 165 Vgl. ebd., S. 91-%. 166 Ebd., S. 102. 167 Vgl. ebd., S. 113f. 168 Vgl. ebd., S. 117f. 169 Ebd., S. 123. 170 Vgl. ebd., S. 120-123. 164

112

Auf anderen Voraussetzungen beruht die Auffassung und Beschreibung der Brasilianer durch drei französische Autoren, die ihre Erfahrungen in der 1555 gegründeten Kolonie in der Gegend des heutigen Rio de Janeiro gesammelt hatten.171 Der aus Frankreich importierte rigorose Calvinismus der Kolonisten versperrt zunächst den »Blick auf Einzelerscheinungen sowohl der ideellen als auch der materiellen Kultur dieser Menschen«,172 deren Lebensformen dem moralischen Urteil der Europäer nicht standhalten konnten. Dennoch entwickelt sich in diesem Kreis bald die Fähigkeit zu unvoreingenommener Wahrnehmung, die schließlich sogar ins entgegengesetzte Extrem umschlägt: Andre1 Thevet bleibt zwar dem negativen Urteil über die Eingeborenen treu, dennoch zeigt er eine erstaunliche Fähigkeit zur differenzierten und affektneutralen Wahrnehmung.173 Der berühmteste unter den französischen Autoren dieser Zeit, die über Brasilien berichteten, war Jean de L6ry mit seiner Hi· stoire d'un voyage fait en la terre du Bresil von 1578. Er entwirft, obwohl er der calvinistischen Tradition verhaftet ist, ein ausgesprochen positives Bild der Eingeborenen; möglicherweise ist er sogar der »Erfinder des Topos vom amerikanischen 'guten Wilden'«.174 Bei Lory findet sich eine Sichtweise, die später zum Gemeingut der europäischen Intellektuellen werden sollte: die Kultur des »Guten Wilden« wird vor dem Hintergrund biographischer Erfahrungen nach der Rückkehr aus Brasilien als Gegenbild zur eigenen Zivilisation entworfen.175 Das Bild vom »Edlen Wilden« hat sich in der romanischen Amerika-Literatur der folgenden Jahrzehnte gefestigt. Gewecke macht plausibel, daß es sich dab.ei um einen geistesgeschichtlichen Vorgang handelt, der durchaus als Reaktion auf realgeschichtliche Ereignisse zu begreifen ist. Entscheidende Impulse für die Neubesinnung der europäischen Intellektuellen über die Rolle ihrer Länder im Kolonialisationsvorgang gab das Massaker der Spanier 1665 in Florida. Nicht nur bei den Franzosen176 - als den Konkurrenten Spaniens bei der Kolonialisation des neuen Kontintents -, sondern auch in Spanien selbst regten sich Widerstände gegen eine solchermaßen verfahrende Kolonialisationspolitik. Bartolomo Las Casas macht sich zum Anwalt des Amerikaners und bemüht dabei wiederum den Topos des »Guten Wilden«, um ihn als »unschuldiges Opfer« des »grausamen und goldgierigen spanischen Konquistador« wirkungsvoll in Szene zu setzen und ihm -

171

Vgl. ebd., S. 159. Ebd., S. 163. 173 Vgl. ebd., S. 165-175. 174 Ebd., S. 175. 175 Vgl. ebd., S. 181. 176 Vgl. ebd., S. 194-198. 172

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erfolgreich - Sympathien bei den europäischen Zeitgenossen zu gewinnen.177 Diese Linie der Amerika-Rezeption findet ihren Höhepunkt in den Essais Montaignes, deren erste Ausgabe 1580 erschien. Gewecke hebt ihn als den ersten Europäer hervor, der nicht nur ein positives Bild der Eingeborenen gezeichnet hat, sondern darüber hinaus auf die Relativität und Standortgebundenheit seines eigenen Urteils zu reflektieren vermochte, wie er in seinem berühmt gewordenen Essai Des cannibales demonstriert.178 In dem weniger beachteten Essai Des caches führt er die Auseinandersetzung mit Fremdstereotypen noch weiter, indem er das Verhalten der Europäer gegenüber den Eingeborenen einer kritischen Betrachtung unterzieht.179 Den entscheidenden Fortschritt Montaignes im Umgang mit den bekannten Stereotypen sieht Gewecke darin, daß er diese Stereotypen »innerhalb des sie bedingenden normativen Bezugsrahmens rational zu begründen« versucht, um damit das Entstehen von Wahrnehmungen, Einstellungen und Verhaltensformen als »Produkt von Vorurteil und Ethnozentrismus zu entlarven.«180 Diese Deutung der beiden Essais von Montaigne hat zweifellos einiges für sich, aber sie hätte einer kritischen Befragung bedurft, die den Blick auf Montaignes eigenes Umfeld richten müßte. Denn daß Montaigne sich kritisch auf seine eigene Zivilisation bezieht, erscheint keinesfalls »absurd«, wie Gewecke in bezug auf Montaignes Thematisierung der Armut in der französischen Gesellschaft mient.181 Karl-Heinz Kohl hat vielmehr gezeigt, daß das Bild des »Wilden« bei Montaigne in Des cannibales gebunden ist an die Erfahrungen in Montaignes eigener höfischer Gesellschaft. Kohl hat die Entstehung des Bildes vom »Edlen Wilden« bis zu seinen Ursprüngen bei Columbus zurückverfolgt, der die »wohlgeformte Körperlichkeit und das friedfertige Verhalten der Kariben vor der Szenerie einer in ihm Paradiesesvorstellungen wachrufenden tropisch-üppigen Gartenlandschaft« in seinem Bordtagebuch beschreibt.182 Zu einem Modell wurde es in den idealisierenden Vorstellungen von Las Casas ausgebaut, der sich als Kritiker des spanischen Genozids exponierte und die »Lebensformen der Bewohner der Neuen Welt bewußt denen seiner eigenen Kultur« kon-

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Ebd., S. 203; vgl. den Kontext S. 198-204. Vgl. ebd., S. 234-239. 179 Vgl. ebd., S. 240. 180 Ebd., S. 247. 181 Ebd., S. 239. 182 Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Bück. Das Bild des Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Berlin 1981, S. 12. 178

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frontierte.183 Seine eigentliche, in der europäischen Geistesgeschichte wirksame Bedeutung erlangt der »Edle Wilde« dann bei Montaigne, der dieses Bild zum Medium der Kritik an der eigenen Gesellschaft macht: Die »scheinbar ungebundeneren Lebensformen der Wilden« werden zum »Gegenbild der komplizierten eigenen Lebenswelt«.184 Auch Montaigne bleibt damit, so die Interpretation Kohls, an die Voraussetzungen seiner eigenen Kultur gebunden; von seinen Zeitgenossen unterscheidet er sich nur darin, daß er diese Kultur als negative und nicht als positive dem Bild des Eingeborenen unterlegt. Vor dem Hintergrund solcher stilisierender Wahrnehmung vollzieht sich die Erfahrung fremder Kultur im Zeitalter der Entdeckungen bis ins 18. Jahrhundert hinein, und diese kulturgeschichtlich präformierten Wahrnehmungsformen gehen in die Art der Darstellung ein. Gewecke setzt sich mit Kohls kritischer Interpretation Montaignes nicht auseinander.185 Sie übersieht auch, daß Montaigne durchaus eurozentrischen Kulturvorstellungen verhaftet bleibt, wenn er die Eingeborenen als »Vorbild an Tugend- und Mannhaftigkeit«186 vor Augen führt oder wenn er den Europäern vorhält, ihre »zivilisatorische Mission« nicht erfüllt zu haben.187 Im einen Fall werden Ideale der europäischen Antike - die, so Montaignes Vorwurf, in der europäischen Gegenwart vergessen wurden auf die Eingeborenen projiziert; im anderen macht sich Montaigne zum Anwalt eines Fortschrittsgedankens, der den Europäern die nicht eingelöste Verpflichtung auferlegt, auch den Amerikanern zur Zivilisation und zum Christentum zu verhelfen. Auch wenn Montaigne zweifellos eine Ausnahmestellung innerhalb der Americana-Autoren seines Jahrhunderts einnimmt, so bleibt er dessen Denkweisen doch stärker verhaftet, als es Geweckes Eloge wahrhaben will. Für die weitere Verbreitung von Vorstellungen über die Amerikaner haben, wie Gewecke ausführt, im Frankreich des frühen 17. Jahrhunderts die »Missivschreiben der Missionare und der Roman« gesorgt.188 In den Missivschreiben konnten intime Kenner der Materie differenziert über die Eingeborenen-Kulturen berichten; in den Schreiben der Dominikaner finden sich auch, anders als in denen der Jesuiten, Beschreibungen der exotischen Naturlandschaft.189 Der Roman Polexandre von Marin Le Roy *)

Ebd., S. 13 und Erdheim, Anthropologische Modelle des 16. Jahrhunderts, S. 59-62. Kohl, Entzauberter Bück, S. 26. 1R^ Gewecke führt Kohls Buch zwar in der Bibliographie an, erwähnt es aber im Text nicht. 186 Gewecke, Wie die neue Welt in die alte kam, S. 240. 187 Ebd., S. 241. 188 Ebd., S. 251. 189 Vgl.ebd.,S.252f. 184

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Roy de Gomberville, dessen endgültige Fassung 1637 erschien, verfeinert schließlich das Klischee des »Edlen Wilden« und leistet einen Beitrag zur »Integration des Amerikaners - genauer: des mexikanischen und insbesondere des peruanischen 'Adels' - in die eigene Kultur«; in diesem fiktionalen Text wird gar eine »Amerikanerin als Lehrmeisterin in Fragen von Anstand und Schicklichkeit« vorgeführt.190 Ein eigenes Problem stellen die Formen der Informationsübermittlung aus der Neuen Welt und die Rezeptionsbereitschaft wie -fähigkeit des gelehrten wie ungelehrten Publikums dar. Bereits Vespucci war bei seinen Zeitgenossen mit seinem Amerika-Bild einerseits auf Skepsis gestoßen, da es weder mit den wissenschaftlichen Kenntnissen noch den populären Vorurteilen unbedingt übereinstimmte; andererseits aber befriedigte er das allgemeine Bedürfnis nach Kuriosa.191 Seine Informationen und die der anderen Reisenden wurden in Europa in verschiedenen Medien weitergetragen, die allerdings bei den Gelehrten auf nur geringe Resonanz stießen, da die Neue Welt mit der gerade wiederentdeckten Antike in Konkurrenz treten mußte.192 Kosmographische Gesamtdarstellungen, die die neuen Erfahrungen verarbeiteten, waren zu Beginn des 16. Jahrhunderts zudem selten.193 Auch andere Medien bemächtigen sich der neuen Motive, oft aber ohne ihnen gerecht werden zu können. Das gilt besonders für die Holzschnitte und andere Illustrationen, die kaum als Informationsträger, vielmehr als Dekoration konzipiert wurden und vornehmlich den »ästhetischen und stilistischen Kanon einer europäischen Geistesbewegung« widerspiegeln.194 Illustrationen wurden gezielt zur Affekterregung eingesetzt; in Theodor de Brys Sammelwerk dienen sie der fingierten - Dokumentation der spanischen Verbrechen in Lateinamerika und damit der leyenda negra, die sich seit dem Massaker in Florida verbreitete und dem spanischen Ansehen in Europa erheblichen Abbruch tat.195 Erfahrungen mit der Neuen Welt schließlich ließen sich auch direkt sammeln: durch die mitgebrachten Kuriosa, Kunstwerke und aztekischen Kleinodien, die das Bild vom barbarischen Wilden empfindlich störten,1^" und auch durch die meist gewaltsam nach Europa verschleppten

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Ebd., S. 268. Vgl. ebd., S. 106-108. 192 Vgl. ebd., S. 136. 193 Vgl. ebd., S. 140. 194 Ebd., S. 145. 195 Vgl. ebd., S. 220. 196 Vgl. ebd., S. 150. 191

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Eingeborenen, die wiederum das Bild vom »Barbaren« durch ihre Zurichtung bestärkten.197 Auf die verschiedenen Vermittlungsformen gehen neben Gewecke auch andere Autoren ein. In bezug auf die Illustrationen geben die Arbeiten von Hugh Honour und Bodo-Michael Baumunk einige Anregungen. Honour untersucht ausführlich und mit vielen Bildbeispielen die Darstellung des Exotischen durch europäische Künstler und die Einflüsse, die für die verzerrte bis teilweise phantastische Wiedergabe dieser Gegenstände verantwortlich sind.198 Dabei hebt er den Einfluß der europäischen Kunsttradition hervor, der dazu geführt hat, daß die »Indianer mit dem Körperbau und den Gesichtszügen griechisch-römischer Statuen« gezeigt wurden.199 Für die Darstellung von Monstern und Fabelwesen verweist er ebenfalls auf eine bis in die Antike, etwa auf Plinius, zurückgehende Tradition, die durch Mandeville wiederbelebt wurde.200 Insgesamt haben die Künstler des 17. Jahrhunderts »bereits ein buntes, um nicht zu sagen ziemlich verworrenes Bild von Südamerika entstehen lassen. Es war ein seltsam gemischtes Erzeugnis, das sich aus nach Europa verfrachteten Tieren und Pflanzen, authentischen Gebrauchsgegenständen, Reiseberichten und den Versuchen der europäischen Künstler zusammensetzte, dies alles anschaulich darzustellen«, wobei empirische Anschauung, das Nachwirken der Tradition und nicht zuletzt die künstlerische Phantasie zusammenwirkten.201 Zu etwas anderen Ergebnissen kommt Baumunk bei seiner Untersuchung der exotischen Bilder des Malers Albert Eckhout aus dem 17. Jahrhundert, der im Gefolge von Johann Moritz von Nassau-Siegen die niederländischen Kolonien in Brasilien bereiste. Da Eckhout - im Gegensatz zu den meisten anderen Künstlern seiner Zeit - die Sujets seiner Bilder aus eigener Anschauung kannte, gelingt ihm eine realistischere Darstellung von Flora, Fauna und Menschen. Seine Motive sind »auf den natur- und völkerkundlichen Mitteilungswert der Bilder hin gemalt.«202 Die Schilderung der Eingeborenen ist nicht so sehr durch die europäische Tradition geprägt wie die anderer Künstler. Die Tatsache, daß nicht die »absolute Andersartigkeit der indianischen Wilden« wiedergegeben wird, »an der ein europäischer Betrachter der Bilder den Unterschied zu der 197

Vgl. ebd., S. 152. Vgl. Hugh Honour, The New Golden Land. European Images of America from the Discoveries to the Present Time, New York 1975, S. 28-83. 199 Hugh Honour, Wissenschaft und Exotismus. Die europäischen Künstler und die außereuropäische Welt, in: Berliner Festspiele, S. 22-48; hier S. 22. 200 Vgl. ebd., S. 23. 201 Ebd., S. 42. Bodo-Michael Baumunk, Von Brasilischen fremden Völkern. Die EingeborenenDarstellungen Albert Eckhouts, in: Berliner Festspiele, S. 188-201; hier S. 190.

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eigenen Kultur ablesen könnte«, sondern daß sich schon eine gewisse Europäisierung der »Wilden« zeigt, ist darauf zurückzuführen, daß Eckhout »Stufen der erzwungenen Akkulturation« darstellt.203 Dennoch finden sich in Eckhouts Bildern Nachwirkungen der antiken Tradition und der phantastischen europäischen Vorstellungen von exotischen Ländern.204 Die Rezeption von Reiseberichten des 16. Jahrhunderts über Entdekkungen in der Neuen Welt ist das Thema der schmalen Dissertation von Karin Friedrich. Nach einleitenden umständlichen methodologischen Erwägungen und Definitionen aus der zeitungswissenschaftlichen Forschung gibt sie Auskünfte über Sammlungen von Berichten aus dem frühen 16. Jahrhundert - als eine der ersten benennt sie die von Valentin Fernandez aus dem Jahre 1502 -, über das zeitgenössische Übersetzungsverständnis und die besondere Rolle der Straßburger Drucker. Ein eigenes Kapitel untersucht die Illustrationen der Reiseberichte, ihre bevorzugten Motive und ihre Authentizität. Das Ergebnis - die Illustrationen zeigten eine Vorliebe für die Sitten und Gebräuche der bereisten Regionen und für Darstellungen von Grausamkeiten205 - ist ebenso banal wie die Einsicht, daß die Illustrationen sich häufig eher auf die Phantasie als auf reale Vorlagen stützten.206 Der Kern der Arbeit besteht aus je einem Kapitel über das Bordbuch des Columbus und über den Reisebericht Amerigo Vespuccis. Das eigentliche Ziel, eine irgendwie relevante Auswertung der zeitgenössischen Rezeption, wird völlig vernachlässigtFriedrich beschränkt sich auf Angaben zur Biographie der Autoren und zum Inhalt der Texte; in den abschließenden Kapiteln kommt sie zu dem Ergebnis, daß die Reiseberichte eher als »Sensationsberichte« mit Unterhaltungscharakter zu verstehen sind denn als authentische Auskünfte über die Wirklichkeit fremder Völker und daß die Autoren stärker das Außergewöhnliche zum Ziel ihrer Darstellung machten als die Präzision der Aussage.207 Dieses Ergebnis ist weder überraschend, noch sorgfältig auf einer genaueren Textanalyse fundiert. Friedrich führt zwar 22 Quellentexte vom 16. bis merkwürdigerweise zum 18. Jahrhundert an, ohne sie aber mit einem angemessenen methodologischen und analytischen Instrumentarium zu untersuchen. Die von Friedrich aufgeworfene Frage nach der Rezeption frühneuzeitlicher Reiseberichte über 203

Ebd., S. 19l.

Ebd., S. 195. Einen referierenden Überblick über die Darstellung exotischer Motive in den Buchillustrationen dieser Zeit gibt Pochat, Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance, S. 161-200. Karin Friedrich, Die Reiseberichterstattung zu Beginn der Neuzeit und ihre Ausweitung in den Newen Zeitungen und Relationen des 16. Jahrhunderts, phil. Diss. Wien 1972 (masch.), S. 53-57. 206 Vgl. ebd., S. 57f.