Vergleich in der Weltgesellschaft: Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik [1. Aufl.] 9783839419137

In Niklas Luhmanns Weltgesellschaftstheorie hängt die Ausdehnung und Vernetzungsdichte der Funktionssysteme allein von d

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Vergleich in der Weltgesellschaft: Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik [1. Aufl.]
 9783839419137

Table of contents :
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Vorwort
1 Einleitung
TEIL I: FORSCHUNGSKONTEXT UND THEORETISCHER RAHMEN
2 Das Problem nationaler Grenzen in der Weltgesellschaftsforschung
3 Die stufenförmige Konstitution globaler Funktionssysteme
4 Das Untersuchungsfeld
TEIL II: DIE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG
5 Nationale Grenzen in der Wissenschaft
5.1 Auswahl der Untersuchungszeitschriften
5.2 Die Methode der Zitationsanalyse
5.3 Zusammenfassung und Ergebnisse
6 Nationale Wissenschaft und internationaler Wissenschaftsvergleich
6.1 Internationaler Vergleich in der »deutschen Wissenschaft«
6.2 Internationaler Vergleich in der »Science française«
6.3 Zusammenfassung
7 Nationale Grenzen in der Politik
7.1 Nationale Schließung im Staatsangehörigkeitsrecht Deutschlands
7.2 Nationale Schließung im Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs
7.3 Zusammenfassung
8 Nation und internationaler Vergleich in der Politik
8.1 Nationale Semantik in der politischen Öffentlichkeit Deutschlands
8.2 Nationale Semantik in der politischen Öffentlichkeit Frankreichs
8.3 Zusammenfassung
9 Konklusion
Literatur
Anhang

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Philip Thelen Vergleich in der Weltgesellschaft

Philip Thelen ist Referent für internationale Zusammenarbeit bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Nach dem Soziologiestudium in Bielefeld, Paris und Trier promovierte er an der Fernuniversität in Hagen.

Philip Thelen

Vergleich in der Weltgesellschaft Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Philip Thelen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1913-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Abbildungsverzeichnis | 7 Vorwort | 9 1

Einleitung | 15

TEIL I: FORSCHUNGSKONTEXT UND THEORETISCHER R AHMEN 2

Das Problem nationaler Grenzen in der Weltgesellschaftsforschung | 29

3

Die stufenförmige Konstitution globaler Funktionssysteme | 37

4

Das Untersuchungsfeld | 53

TEIL II: DIE EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG 5

Nationale Grenzen in der Wissenschaft | 63

5.1 5.2 5.3

Auswahl der Untersuchungszeitschriften | 67 Die Methode der Zitationsanalyse | 123 Zusammenfassung und Ergebnisse | 137

6

Nationale Wissenschaft und internationaler Wissenschaftsvergleich | 149

6.1 6.2 6.3

Internationaler Vergleich in der »deutschen Wissenschaft« | 152 Internationaler Vergleich in der »Science française« | 192 Zusammenfassung | 224

7

Nationale Grenzen in der Politik | 233

7.1

Nationale Schließung im Staatsangehörigkeitsrecht Deutschlands | 240 Nationale Schließung im Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs | 257 Zusammenfassung | 270

7.2 7.3

8

Nation und internationaler Vergleich in der Politik | 275

8.1

8.3

Nationale Semantik in der politischen Öffentlichkeit Deutschlands | 280 Nationale Semantik in der politischen Öffentlichkeit Frankreichs | 294 Zusammenfassung | 313

9

Konklusion | 319

8.2

Literatur | 329 Anhang | 365

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1, S. 138: Abbildung 2, S. 139: Abbildung 3. S. 140: Abbildung 4, S. 141: Abbildung 5, S. 142: Abbildung 6, S. 142: Abbildung 7, S. 144: Abbildung 8, S. 144: Abbildung 9, S. 226: Abbildung 10, S. 227: Abbildung 11, S. 228: Abbildung 12, S. 228: Abbildung 13, S. 271: Abbildung 14, S. 272: Abbildung 15, S. 314: Abbildung 16, S. 315:

Nationale Schließung in Physikzeitschriften Deutschlands 95-prozentiges Konfidenzintervall zu Abbildung 1 Nationale Schließung in der Historischen Zeitschrift 95-prozentiges Konfidenzintervall zu Abbildung 3 Nationale Schließung in Physikzeitschriften Frankreichs 95-prozentiges Konfidenzintervall zu Abbildung 5 Nationale Schließung in geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften Frankreichs 95-prozentiges Konfidenzintervall zu Abbildung 7 Nationale Semantik in der Physik Deutschlands Nationale Semantik in der Geschichtswissenschaft Deutschlands Nationale Semantik in der Physik Frankreichs Nationale Semantik in der Geschichtswissenschaft Frankreichs Nationale Schließung im Staatsangehörigkeitsrecht Deutschlands Nationale Schließung im Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs Nationale Semantik in der politischen Öffentlichkeit Deutschlands Nationale Semantik in der politischen Öffentlichkeit Frankreichs

Vorwort

Diese Arbeit hat die Globalisierung von Funktionssystemen zum Thema, die sie vor allem am Beispiel der Wissenschaft untersucht. Sie bewegt sich im abstrakten Feld der soziologischen Systemtheorie, für die die Wissenschaft ein durch Publikation und Zitation hergestellter Kommunikationszusammenhang ist. Mit ihrer Veröffentlichung wird auch diese Studie ein Element der Wissenschaft und darf damit auf Zitierungen in anderen Publikationen hoffen. Für Ihr Gelingen ist jedoch ein ganz anderer Kommunikationszusammenhang relevant, nämlich die Interaktion mit Freunden und Kollegen. Ich habe diese Arbeit als Dissertation bei der Universität Hagen im Fach Soziologie eingereicht. Fertiggestellt habe ich sie begleitend zu meiner Berufstätigkeit in der Geschäftsstelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ich war deshalb auf Kontakte zu einem für mich relevanten wissenschaftlichen Umfeld besonders angewiesen. Ohne die Anmerkungen und Kommentierungen in den zahlreichen persönlichen Gesprächen, die ich in den letzten Jahren über meine Arbeit und darüber hinaus geführt habe, hätte ich sie nicht in der vorliegenden Form fertigstellen und zur Grundlage für eine Publikation machen können. Ich möchte dieser Arbeit deshalb meinen Dank voranstellen. Mein größter Dank gilt Prof. Dr. Uwe Schimank. Seine Betreuung war für mich geradezu ideal. Ich habe mich mit meinem Thema und allen konzeptionellen Fragen immer vollkommen verstanden gefühlt. Meine Vorschläge wurden kritisch, aber sachlich, unverblümt, einleuchtend und immer konstruktiv im Sinne des Forschungsziels kommentiert. Auch Kontakte zu anderen Soziologinnen und Soziologen haben der Arbeit weitergeholfen. Zunächst hat mein Studium der Soziologie in Bielefeld, Paris und Trier die Basis dafür geschaffen, mir dieses Projekt überhaupt vorzunehmen. Hervorheben möchte ich insbesondere die Seminare bei Prof. Dr. Alois Hahn und die Gespräche mit Dr. Christine Weinbach, die mein Interesse am Themenfeld weckten. Mit Blick auf die Arbeit selbst gilt mein Dank Prof. Dr. Bettina

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Heintz, die in zwei persönlichen Gesprächen das Konzept kommentiert hat und mich zu ihrem Doktorandenkolloquium an der Bielefelder Fakultät für Soziologie einlud. Dort traf ich Dr. Tobias Werron, auf dessen Theorie zur Globalisierung von Funktionssystemen diese Arbeit unter anderem aufbaut. Auch ihm möchte ich für ein austauschendes Gespräch herzlich danken. Überhaupt konnte ich von der Teilnahme an Doktorandenkolloquien profitieren. Mein Dank gilt deshalb allen Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums von Uwe Schimank an der Fernuniversität Hagen. Ihnen durfte ich mehrmals den Fortgang meiner Arbeit erläutern und erhielt hilfreiche Kommentare. Danken möchte ich in diesem Zusammenhang besonders Dr. Ute Volkmann für nützliche Hinweise und für die Organisation des Kolloquiums sowie Diana Lindner für motivierende und geistreiche Gespräche am Rande der Treffen. Ich bedanke mich auch bei den Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums des Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (IFQ) in Bonn, insbesondere bei Saskia Ulrich und Jörg Neufeld. Auch sie haben meine Arbeit über weite Strecken begleitet und insbesondere die von mir entwickelte Methode mit ihrem Sachverstand kommentiert. Ich bedanke mich für Hinweise und Rückmeldungen außerdem bei Dr. Sybilla Nikolow, Prof. Dr. Andreas Kleinert und Dr. Jürgen Müller. Mein Dank gilt weiterhin den Physikern, die sich für die Experteninterviews zur Verfügung gestellt haben und Dr. Michael Kleinschmidt für die Kontaktvermittlung. Stefan Kirschbaum danke ich für seine Hilfestellung bei der Programmierung des Zufallsgenerators für die Stichprobenerhebung. Nicht zu überschätzen ist die Bedeutung der alltäglichen Gespräche mit meinen Freunden. Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Tobias Kohl. Er machte sich regelmäßig die Mühe, mir während langer Mittagspausen in der Mensa der Universität Bielefeld genauestens zuzuhören, die Details meiner Argumentation zu verinnerlichen und auf Plausibilität zu überprüfen. Die Gespräche mit ihm waren für mich nicht nur eine Gelegenheit meine Gedanken zu sammeln, sondern auch eine wichtige Quelle für Anregungen und weiterführende Ideen. Ebenfalls ausdrücklich bedanken möchte ich mich bei Dr. Nikolai Klimmek. In zahlreichen Gesprächen bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch unserer gemeinsamen Wohnung in Bielefeld ging es sowohl allgemein um Wissenschaftstheorie, die Unterscheidung gültiger von ungültigen Argumenten und die Bedeutung der Anschauung, als auch konkret um die hier verwendete Statistik. Diese Gespräche kamen der vorliegenden Arbeit zu Gute. Bedanken möchte ich mich auch bei Dr. Jessica Anna Dreas und schließlich, aber im Grunde zuerst, bei meinen Eltern, Gisela und Josef Thelen. Ohne ihre Liebe und Unterstützung, ihr Interesse an meiner Arbeit, ihrem Rat und Zu-

V ORWORT | 11

spruch und die Rückzugsmöglichkeit, die sie mir stets boten, wären weder mein Studium noch diese Arbeit überhaupt möglich gewesen. Ihnen ist sie gewidmet. Bonn, im Juli 2011

Philip Thelen

Meinen Eltern

1 Einleitung

Die Vorstellung von einer Pluralität national oder nationalstaatlich verfasster Gesellschaften scheint sich in der Soziologie als problematisch erwiesen zu haben. Unabhängig davon, ob »Kommunikation« oder »Handlung« als Grundbegriff fungiert, ergibt sich das Problem, dass zum einen ein eindeutiges Kriterium für die Abgrenzung nationaler Gesellschaften untereinander fehlt und zum anderen sich das Geschehen zwischen Gesellschaften nicht mehr als Ereignis in der Gesellschaft analysieren lässt. Eine der Reaktionen auf dieses Problem in der Soziologie ist die Vernachlässigung des Gesellschaftsbegriffs und ein Ausweichen auf Konzepte wie World System oder World Polity. Das Fach verliert damit jedoch einen seiner wichtigsten Grundbegriffe. Will man die Soziologie als eine für die Gesellschaft zuständige Wissenschaft erhalten, erscheint es zweckmäßig, einen anderen Weg zu wählen und den Gesellschaftsbegriff auszudehnen. Die Gesellschaft umfasst dann den gesamten möglichen Objektbereich der Soziologie. Diese Alternative wählt die Bielefelder Systemtheorie. Ihr Gesellschaftskonzept ist für die Soziologie attraktiv, weil der zentrale Grundbegriff erhalten bleibt und sich zudem durch Einfachheit und Stringenz auszeichnet: »Gesellschaft ist danach das umfassende Sozialsystem, das alles Soziale in sich einschließt und infolgedessen keine soziale Umwelt kennt.«1 Die Grenzen der Gesellschaft sind damit durch die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Nicht-Kommunikation eindeutig gezogen. Die Probleme der Abtrennung von und Beziehungen zwischen Gesellschaften wird obsolet, denn jedes soziale Geschehen ist ein Geschehen innerhalb der Gesellschaft. Die Soziologie kann nur diejenige Gesellschaft beobachten, zu deren Bestandteilen sie selbst zählt. Die Konsequenz aus diesem Ansatz ist, dass die so bezeichnete Gesellschaft vollkommen isoliert ist. Eine Pluralität von Gesellschaften ist deshalb nur unter

1

Luhmann 1984: 555.

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der Bedingung vollständiger Isolation möglich, d. h. nur dann, wenn zwischen ihnen kein Kontakt besteht und sie voneinander nichts wissen. Weil unter der Voraussetzung einer vollständigen Entdeckung des Erdballs die Bedingungen für eine solche vollkommene Isolation von Gesellschaften jedoch nicht mehr gegeben sind, kann seither die Gesellschaft nur in der Einzahl vorkommen, nämlich als Weltgesellschaft. Die Erfüllung dieser Voraussetzung datiert Niklas Luhmann auf das 16. Jahrhundert.2 Sieht man einmal davon ab, dass etwa James Cook noch im 18. Jahrhundert zahlreiche Inseln im Pazifik entdeckt hat und sogar noch heute regelmäßig zuvor unbekannte Gesellschaften im schwer zugänglichen Gebiet des Amazonas aufgespürt werden, ist diese Datierung für den größten Teil des globalen Territoriums zutreffend. Die Bedingung für die Existenz der Weltgesellschaft ist damit für Luhmann seither durch eine zweifache Potentialität gegeben. Zum einen ist das die Möglichkeit der kommunikativen Erreichbarkeit der gesamten Welt. Seit der vollständigen Entdeckung des Erdballs besteht rein prinzipiell die Möglichkeit, an jede Kommunikation der Welt anzuschließen, eben ohne dass Gesellschaftsgrenzen dies verhindern könnten. Zum anderen besteht die Weltgesellschaft in der Möglichkeit, auf jede Kommunikation der Welt thematisch Bezug zu nehmen, ohne dass dadurch Anknüpfungsprobleme für die Kommunikation zu erwarten wären.3 Fasst man die Weltgesellschaft als einen solchen Möglichkeitshorizont auf, dürfte an ihrer Existenz kaum Zweifel bestehen. Es ist vermutlich die Missachtung dieser Begriffsfassung, die in der Diskussion um die Weltgesellschaft für Verwirrung sorgt.4 Die Weltgesellschaft als einziges umfassendes Sozialsystem ist intern primär funktional differenziert.5 Die autopoietisch operierenden Funktionssysteme definieren selbst entsprechend ihrer Eigenlogik, die durch ihren jeweiligen Code repräsentiert wird, die Grenzen des Systems zur Umwelt. Über alle Funktionssysteme hinweg sind diese Grenzen damit rein sinnförmig gegeben und lassen sich damit weder über Mitgliedschaft noch über territoriale Integrität definieren. »Systeme, die im Medium Sinn operieren«, hält Luhmann fest, »sind überhaupt nicht im Raum begrenzt, sondern haben eine völlig andere, nämlich rein interne Form von Grenze.«6 Der Anschluss von Kommunikationen der Funktionssyste-

2

Luhmann 1997: 148.

3

Vgl. Luhmann 1975: 53–55.

4

Vgl. insb. Tudyka 1989 u. Wagner 1996, der etwa die Existenz der Weltgesellschaft wegen mangelnder Faktizität abstreitet.

5

Luhmann 1997: 148–149.

6

Luhmann 1997: 76.

E INLEITUNG | 17

me richtet sich demnach nach deren Ausrichtung am Code und keinesfalls nach dem Ort ihres Vorkommens. Das bedeutet in der Konsequenz, dass mit der Entstehung der Weltgesellschaft und der damit verbundenen Möglichkeit weltweit verknüpfter Kommunikation sich die Funktionssysteme als Weltfunktionssysteme etablieren. Denn die Möglichkeit weltweiter Kommunikation in der Weltgesellschaft ist natürlich auch für die Funktionssysteme die Möglichkeit weltweiten Operierens. Weil räumliche oder mitgliedschaftsförmige Grenzen »für die auf Universalismus und Spezifikation angelegten Funktionssysteme keinen Sinn« machen, sondern im Gegenteil »Funktionssysteme zur Globalisierung tendieren«7, fallen ihre Grenzen somit mit den Grenzen des Gesellschaftssystems überein: »Für alle Teilsysteme der Gesellschaft sind Grenzen der Kommunikation (im Unterschied zu Nichtkommunikation) die Außengrenzen der Gesellschaft.«8 Der weltgesellschaftliche Status der Funktionssysteme ist damit gebunden an die Möglichkeit einer weltweiten Vernetzung von Kommunikation. Natürlich ist klar, dass sich diese »Möglichkeit« nicht lediglich im Sinne eines binären Schemas als entweder gegeben oder nicht gegeben denken lässt, sondern die Möglichkeiten weltweiter Kommunikation sich zudem historisch auf einem Kontinuum bewegen. Weltweite Kommunikation ist eine Kommunikation über Raumdistanzen hinweg, für die man »Verbreitungsmedien« benötigt,9 die im historischen Verlauf in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit zur Verfügung stehen. Mit der vollständigen Entdeckung des Erdballs ist natürlich an sich die Möglichkeit gegeben, weltweit zu kommunizieren, ansonsten wäre ja bereits die Entdeckung nicht möglich gewesen. Dennoch ist das Ausmaß der Möglichkeit weltweiten Kommunizierens außerordentlich beschränkt. Für eine Kommunikation, die sich etwa zwischen Europa und China erstreckt, stehen im 17. Jahrhundert als Verbreitungsmedien neben einem Brief oder einem Boten vermutlich allein ein Segelschiff oder ein Transport über den Landweg zur Verfügung, auf die es nur einen außerordentlich begrenzten Zugriff gibt und die zudem zeit- und ressourcenintensiv sind. Aus dieser Theorieanlage, die für Funktionssysteme keine andere als durch Möglichkeiten bzw. Restriktionen dieser Möglichkeiten gegebene Grenze vorsieht, ergibt sich daher nicht nur die Erwartung, dass die letzten Grenzen der Funktionssysteme mit denen der Gesellschaft übereinstimmen. Es folgt auch, dass die faktische Ausbreitung und Reichweite der Kommunikation in Funktionssystemen variiert mit den durch Verbreitungsmedien zur Verfügung gestell-

7

Luhmann 1997: 809.

8

Luhmann 1997: 150.

9

Vgl. dazu Luhmann 1997: 202–315.

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ten Möglichkeiten. Dass noch im 17. Jahrhundert Kommunikationen zwischen Europa und China de facto die Ausnahme sind, schränkt daher das Postulat der auf Potentialität beruhenden Weltgesellschaft nicht ein.10 Allerdings ergibt sich, wie festzuhalten ist, die Erwartung, dass das Ausmaß an tatsächlichen weltweiten kommunikativen Verknüpfungen ansteigt mit den Möglichkeiten ihrer Realisation über Verbreitungsmedien. Die Geschichte der Verbreitungsmedien ist lang und vielschichtig. 11 Luhmann beschränkt seine eigenen Analysen auf die epochalen Errungenschaften wie Sprache, Schrift, Buchdruck und elektronische Medien. 12 Wenn man die Entwicklung der Verbreitungsmedien und auch Luhmanns Analyse dazu umfassend betrachtet, fallen zwei Eigentümlichkeiten auf: Zum einen gleicht die Entwicklung einem stetigen Fortschritt, bei dem zwar zeitlich nicht gleichmäßig, aber doch insgesamt die Entwicklungen aufeinander aufbauen, ohne dass Einbrüche oder Rückschritte zu erkennen wären. Zum anderen fällt die mediengeschichtliche Bedeutung vor allem des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf.13 In dieser Zeit häufen sich die Revolutionen in der Medientechnik zu einem unüberschaubaren Feld und führen zu einer enormen Vergrößerung und Verdichtung der Kommunikationsnetze.14 Besonders entscheidend ist im 19. Jahrhundert zunächst die Loslösung der Kommunikations- von der Verkehrstechnik, durch die die Verbreitung von Kommunikation nicht mehr an den trägen und aufwendigen Transport über Verkehrswege angewiesen ist.15 Spektakulär ist hier sicherlich die Erfindung der optisch-mechanischen Telegraphie nach der Französischen Revolution, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa vorkommt und mit der etwa auf der preußischen Telegraphenlinie bei guten Wetterbedingungen ein Zeichen in weniger als zwei Minuten von Berlin bis nach Koblenz geschickt werden kann.16 Bereits ab 1830 wird diese Technologie von der wesentlich leistungsfähigeren elektromagnetischen Telegraphie abgelöst, für die zunehmend die Welt mit Unterwasserkabeln verbunden wird: Dover–Calais 1850, Algerien– Sardinien 1857, erstes Transatlantikkabel 1858, Lissabon–Rio de Janeiro

10 Vgl. demgegenüber Stichweh 2000a: 248. 11 Vgl. etwa Schanze (Hrsg.) 2001; Hörisch 2004. 12 Luhmann 1997: 202–315. 13 So diagnostiziert Rosa gerade für die Zeit zwischen 1880 und 1920 einen großen Beschleunigungsschub. Vgl. Rosa 2005: 461. 14 Vgl. nur zum 19. Jahrhundert einführend Osterhammel 2009: 1010–1055. 15 Lübbe 1996. 16 Vgl. Wobring 2005: 29–39.

E INLEITUNG | 19

1873/74 usw.17 Auch die Erfindung des Telefons führt zu einer weiteren Loslösung der Kommunikations- von der Verkehrstechnik. Das erste Telefonnetz wird in den USA 1877 eröffnet. 1937 sind bereits 80 Prozent der damals 40 Millionen Telefone in aller Welt untereinander erreichbar.18 Die verkehrslose Kommunikation wird dann durch die Erfindung des Films, des Fernsehens, des Telefax und schließlich natürlich des Computers und des Internets im 20. Jahrhundert immer leistungsfähiger. Neben der Kommunikationstechnik wird gleichzeitig auch die Verkehrstechnik revolutioniert. Durch die Erfindung des Klippers, eines schmalen Segelschiffs mit hohen Masten, zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann die Wegstrecke von New York um das Kap Horn bis nach San Francisco von 150 bis 190 auf 90 Tage reduziert werden. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der privaten Kutschen auf französischen Straßen verdoppelt sich in etwa zwischen 1814 und 1848 von 4,5 auf 9,5 Kilometer pro Stunde.19 Mit der Erfindung der Eisenbahn, später des Automobils und des Flugzeugs reduziert sich die zur Überwindung von Raumdistanzen nötige Zeit noch einmal erheblich. Die Möglichkeiten der Kommunikation über Raumdistanzen hinweg sind davon direkt betroffen, zumal auch die Druckpresse und das Postwesen im 19. Jahrhundert ständig verbessert und ausgebaut werden.20 Durch die Loslösung der Kommunikations- von der Verkehrstechnik und deren ständig anwachsendes Leistungsvermögen werden Raumdistanzen tendenziell nivelliert und es kommt zu einer Zeit-Raum-Kompression.21 Legt man zur Ermessung der Raumkompression allein die Verbesserung der Verkehrstechnik zugrunde, so »verkleinert« sich die Welt im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts um etwa das 70-fache.22 Durch die Verwendung der seit dem 19. Jahrhundert entwickelten Kommunikationsmedien ist die Schrumpfung noch einmal dramatisch höher, denn sie ermöglicht eine weltumspannende Kommunikation in Echtzeit. Betrachtet man diese Entwicklungen zusammen, so kann man Luhmanns Resümee daher nur zustimmen, dass »die noch bestehenden räumlichen (also zeitlichen) Beschränkungen der Kommunikation gegen Null tendieren«.23 Die Erwar-

17 Hiebel et al. 1998: 190. 18 Hiebel et al. 1998: 137, 143. 19 Koselleck 2000: 158f. 20 Hiebel et al. 1998: 59–74. 21 Rosa 2005: 161–175. 22 Vgl. die Graphik bei Harvey 1990: 241. 23 Luhmann 1997: 302.

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tung, die sich aus der Kombination der gegen Null tendierenden räumlichen Beschränkungen und den zur Globalisierung tendierenden Funktionssystemen deshalb hier anschließt, ist, dass die Funktionssysteme diesem Trend einer kumulativen Verbesserung von Kommunikationsmöglichkeiten in der Weltgesellschaft besonders im 19. Jahrhundert auch faktisch folgen und die räumlichen Beschränkungen sich in dieser Zeit nicht nur potentiell, sondern auch tatsächlich auflösen. Auf den Verdacht, dass diese Erwartung möglicherweise empirisch nicht eintritt, macht an prominenter Stelle vor allem Alois Hahn aufmerksam.24 Obwohl der »Funktionsbezug«, wie Luhmann feststellt, »zum ständigen Kreuzen von territorialen Grenzen«25 auffordert und im 19. Jahrhundert dafür die kommunikationstechnischen Möglichkeiten zunehmend verbessert und verbreitet werden, diagnostiziert Hahn gerade für diese Zeit nicht eine Abschwächung von Raumgrenzen, sondern die Etablierung und Verfestigung eigentümlicher SystemUmwelt-Verhältnisse entlang neuer segmentärer, nämlich nationaler Differenzierungen. Hahn unterstreicht seine Argumentation mit Hinweisen auf die nationale Differenzierung von Währungen im Wirtschaftssystem und auf die jeweils nach Nationen verschiedene Repräsentation von Wahrheit durch wissenschaftliche Publikationen. Dieser Verdacht einer zunehmenden Bedeutung segmentärer Kommunikationsgrenzen für Funktionssysteme im 19. Jahrhundert lässt sich auch anderweitig erhärten. In Bezug auf die Wirtschaft machen etwa Jürgen Osterhammel und Niels Petersson darauf aufmerksam, dass wirtschaftliche Transaktionen über politische Herrschaftsgrenzen hinweg selbstverständlich sehr lange in die Geschichte zurückreichende Phänomene sind.26 Sie weisen allerdings auf die Rolle der Nationsbildung im 19. Jahrhundert für Globalisierungsprozesse der Wirtschaft hin. Ab 1878 etablieren die meisten Staaten einen wirtschaftlichen Protektionismus, begrenzen die Einwanderung von Arbeitskräften und erhöhen die Zölle und sorgen damit vermutlich für einen gewissen nationalen Schließungsprozess in der Wirtschaft.27 Paul Hirst und Grahame Thompson vertreten noch in Bezug auf die heutige Situation die These, dass die Weltwirtschaft in deutlichem Maße segmentär differenziert ist. Sie stellen etwa heraus, dass z. B. nationale Grenzen überschreitende Transaktionen lediglich zwischen Staaten der OECD in bedeutendem Maße vorkommen, dass der Anteil des Ex- und Imports der wirt-

24 Hahn: 1993; Hahn: 2000. 25 Luhmann 1997: 809. 26 Osterhammel/Pettersson: 2007. 27 Osterhammel/Pettersson: 2007: 69.

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schaftlich wichtigen Staaten und der Europäischen Union lediglich 10 bis 15 Prozent von deren Bruttosozialprodukt ausmacht und dass transnationale Konzerne eher die Ausnahme von in der Regel lokalen oder nur in wenigen Staaten operierenden Unternehmen sind.28 Vergleichbare Thesen in Bezug auf das Wissenschaftssystem vertreten unter anderem Elisabeth Crawford, Terry Shinn und Sverker Sörlin. 29 Durch einen Vergleich von Nationalisierungs- und Denationalisierungsprozessen gelangen sie zu dem Ergebnis, dass im 19. Jahrhundert internationale Kontakte der Wissenschaft zunehmend über auf nationaler Ebene sich schließenden und sich organisierenden Wissenschaftlergemeinschaften vermittelt werden. Zwar ginge seither die Tendenz in Richtung einer Auflösung nationaler Grenzen, jedoch seien diese nach wie vor maßgebend für wissenschaftliche Zusammenarbeit. Dies beträfe nicht nur die Forschungsförderstrukturen, die mindestens zu 90 Prozent national organisiert seien, sondern auch die wissenschaftliche Kommunikation, für die die Nation in den meisten Ländern und für die meisten Disziplinen nach wie vor das wichtigste Forum des Austauschs bilde.30 Auch in Bezug auf weitere Funktionssysteme lassen sich Hinweise auf segmentäre Strukturbildungen finden. An erster Stelle ist sicherlich das Politiksystem zu nennen, dessen segmentäre Differenzierung in Staaten auch bei Luhmann unstrittig ist.31 Als Folge struktureller Kopplungen mit dem Politiksystem wird auch für weitere Funktionssysteme eine an die nationalstaatliche Differenzierung angepasste Struktur diagnostiziert. Das gilt zunächst für das Rechtssystem.32 Dafür, dass dieses auch segmentär strukturiert ist, stehen die berühmten Äußerungen von Pascal, in denen er beklagt, dass Recht und Unrecht dies- und jenseits von territorialen Grenzen unterschiedlich definiert seien: »Pourquoi me tuez-vous? – Et quoi, ne demeurez-vous pas de l’autre côté de l’eau? Mon ami, si vous demeuriez de ce côté, je serais un assassin et cela serait injuste de vous tuer de la sorte. Mais puisque vous demeurez de l’autre côté, je suis un brave et cela est 33

juste.«

28 Hirst/Thompson 1992. 29 Crawford et al. (Hrsg.): 1993. 30 Crawford et al. (Hrsg.): 1993: 1–6. 31 Vgl. nur Luhmann 2000: 244. 32 Vgl. Stichweh 1990a. 33 Zit. n. Hahn 1993: 196.

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Auch die Beobachtung, dass es eine international vergleichende Rechtswissenschaft gibt, spricht für die nationale Differenzierung des Rechtssystems. Allerdings entsteht im Rechtssystem ein Kollisionsrecht, das beim Transfer von Personen oder Rechtsfällen zwischen nationalen Rechtssystemen Entscheidbarkeit gewährt.34 Daran anknüpfend entwickeln sich das Völkerrecht und die Universalisierung der Menschenrechte, weshalb die Frage nach der Globalisierung des Rechtssystems im Spannungsfeld zwischen diesen Entwicklungen und den nationalen Strukturen des Rechtssystems angesiedelt ist.35 In noch stärkerem Maße als das Rechtssystem erscheint das Erziehungssystem national differenziert. Dessen Pluralität lässt sich neben der Existenz einer international vergleichenden Erziehungswissenschaft etwa an dem Umstand festmachen, dass eine weltweite Organisation des Erziehungssystems sich nicht hat behaupten können.36 Anders als im Rechtssystem fehlen im Erziehungssystem sogar weitgehend nationale Systeme verbindende oder übergreifende Strukturen. Für lange Zeit gibt es nicht einmal Maßstäbe für die gegenseitige Anerkennung von Leistungen der verschiedenen Erziehungssysteme bzw. die Entwicklung solcher Maßstäbe ist mit Blick z. B. auf den erst 1997 einsetzenden Bologna-Prozess zur gegenseitigen Anerkennung nationaler Studienabschlüsse in Europa offensichtlich ein relativ neuartiges Phänomen.37 Solche Indizien für segmentäre, vor allem nationale Strukturbildungen ließen sich sicherlich auch für noch weitere Funktionssysteme finden. Zwar scheinen empirische Untersuchungen weitgehend zu fehlen, die aus systemtheoretischer Perspektive die Strukturdynamiken solcher segmentärer Interdependenzunterbrechungen der Kommunikation in Funktionssystemen systematisch erfassen. Die genannten Hinweise dürften jedoch genügen, um den von Alois Hahn geäußerten Verdacht zunächst zu bekräftigen, dass vor allem im 19. Jahrhundert neue nationale Grenzziehungen für die funktional differenzierten Teilsysteme relevant werden. Das bedeutet natürlich keinesfalls, dass damit nationale Gesellschaften entstehen, die voneinander vollkommen isoliert wären. Kommunikationen können immer auch nationale Grenzen überwinden. Aber es ist gerade erst die relative Schließung, die Prozesse wie etwa die vom Neo-Institutionalismus beschriebene

34 Vgl. Kegel 1987. 35 Vgl. etwa Fischer-Lescano 2005 oder Fischer-Lescano/Teubner 2006. 36 Stichweh 1990a: 259–260. 37 Vgl. Eckardt 2005.

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Diffusion möglich machen.38 Erst mit der Entstehung nationaler Grenzen werden nationale Unterschiede erkennbar, die dann im Prozess der Diffusion kopiert werden können. Eine hohe nationale Schließung drückt sich dann dadurch aus, dass grenzüberschreitende Kommunikation sich vor allem auf solche Kopiervorgänge in Prozessen der Diffusion beschränkt und weniger in Form direkter autopoietischer Anschlüsse vorkommt. Der neo-institutionalistische Befund internationaler Diffusionsvorgänge steht daher der Diagnose bedeutsamer nationaler Grenzen keineswegs entgegen, sondern bekräftigt vielmehr die hier beschriebene empirische Ausgangslage. Das bedeutet aber: Diese neuen räumlich-territorialen Grenzen entstehen im 19. Jahrhundert gerade in einer Zeit, in der sie sich aus systemtheoretischer Perspektive aufgrund der massiven Ausbreitung von Kommunikationstechniken auflösen müssten. Die neuen Verbreitungsmedien sorgen gerade nicht dafür, dass räumliche Beschränkungen gegen null tendieren, sondern sind im Gegenteil als Mittel nationaler Integration mitverantwortlich für das Entstehen neuer Raumgrenzen. In der Systemtheorie wird die Beschreibung solcher nationaler Schließungsprozesse vernachlässigt und entsprechend fehlt es an einer Analyse. Diese Arbeit stellt sich daher die zentrale Frage, auf welches Problem die Gesellschaft mit Prozessen nationaler Schließung reagiert: Welche temporäre Funktion für die Globalisierung von Funktionssystemen nehmen nationale Kommunikationsgrenzen in der Zeit ihres Bestehens ein? Eine Antwort auf diese Frage möchte die vorliegende Arbeit in folgenden Schritten liefern. Der erste Teil der Arbeit beginnt mit einem kurzen Überblick über den Forschungskontext und zeigt zunächst die Ausgangssituation auf (Kapitel 2). Weder wurde in der Soziologie die Dynamik der Entstehung nationaler Kommunikationsgrenzen in Funktionssystemen bisher anhand von empirischen Erhebungen systematisch beschrieben, noch gibt es systemtheoriekompatible Analysen ihrer möglichen Funktionen. Zur Behebung beider Defizite möchte die Arbeit einen Beitrag leisten. Anknüpfend an bisherige systemtheoretische Forschungen zur Globalisierung von Funktionssystemen, insbesondere von Tobias Werron, entwickelt die Arbeit zunächst ein theoretisches Modell, das eine funktionale Analyse für nationale Schließungsdynamiken in globalisierenden Funktionssystemen anbietet (Kapitel 3). Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Modells ist der Hinweis auf ein komplexitätstheoretisches Problem des Modells von Tobias Werron. In Anlehnung an komplexitätstheoretische Arbeiten von Orrin E. Klapp und Herbert A.

38 Vgl. bzgl. des Politiksystems Meyer 2005: 85–132 und bzgl. des Wissenschaftssystems Drori (Hrsg.) 2003.

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Simon wird die These entfaltet, dass nationale Schließungsprozesse eine primitive Selektionsform darstellen, die es erlaubt, Komplexität unter Verwendung geringer Ressourcen zu reduzieren. Für die von Tobias Werron beschriebene globale Expansion von Funktionssystemen ergibt sich erst daraus die Möglichkeit, eigene Komplexität im Einklang mit den vom Funktionssystem vorgegebenen Standards und in globaler Einheitlichkeit aufzubauen. Im Kern stellt sich der Expansionsprozess als ein stufenförmiger Prozess der Konstitution globaler Funktionssystemstandards dar. Nationale Schließung innerhalb von Funktionssystemen erlaubt in einer ersten Stufe trotz der medialen Erreichbarkeit einer nicht zu verarbeitenden Menge an potentiell im System zu behandelnden Kommunikationselementen die Bildung von Funktionssystemstandards auf nationaler Ebene. Mit der auf diese Weise reduzierten Komplexität kann dann in einer zweiten Stufe ein internationaler Vergleich der Standards einsetzen, in dessen Folge sich neue, nationale Differenzierungen übergreifende, also tendenziell globale Standards herausbilden können. Dieser Prozess lässt sich auf zwei Ebenen abbilden, auf der Ebene struktureller Schließung und Öffnung von nationalen Vergleichszusammenhängen einerseits und auf der Ebene des Vergleichs an sich andererseits, also der semantischen Beschreibung dieser Differenzierungsdynamik. Diese Unterscheidung einer strukturellen und einer semantischen Ebene im Prozess der stufenförmigen Globalisierung von Funktionssystemen organisiert die Formulierung der beiden aus dem vorgestellten Argument abgeleiteten Thesen der Arbeit und den weiteren Gang der empirischen Untersuchung. Der erste Teil der Arbeit endet mit der Bestimmung des Untersuchungsfelds für die empirische Analyse (Kapitel 4). Im zweiten Teil folgt die Prüfung der Frage, ob die empirischen Erfordernisse mit einer belastbaren, systematischen und an der hier verwendeten Theorie ausgerichteten empirischen Untersuchung beschrieben werden können. Dazu sollen auf der einen Seite auf struktureller Ebene Prozesse der nationalen Schließung und Öffnung sichtbar gemacht werden. Auf der anderen Seite sollen auf der semantischen Ebene Prozesse der globalen Standardbildung über internationale Vergleiche rekonstruiert werden. Dazu werden für das Wissenschaftssystem – hier für die Disziplinen Physik und Geschichtswissenschaft – und für das Politiksystem zwei Fallstudien durchgeführt, die am Beispiel der Länder Deutschland und Frankreich und über einen das 19. und 20. Jahrhundert umfassenden Untersuchungszeitraum Formen nationaler Strukturdynamiken und international vergleichender Standardbildung exemplarisch illustrieren. Zur Abbildung der nationalen Strukturdynamiken im Wissenschaftssystem führt die Arbeit eine Zitationsanalyse durch, um die durch Publikation und Zitation konstituierte wissenschaftliche Kommunikation adäquat abbilden zu können

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(Kapitel 5). Bisherige bibliometrische Untersuchungen richten sich vor allem auf die Leistungsindikation in der Wissenschaft oder auf Momentaufnahmen der Internationalität wissenschaftlicher Kommunikation. Um langfristige Dynamiken nationaler Schließungs- und Öffnungsprozesse sichtbar machen zu können, wird daher hier erstmals eine empirische Längsschnittuntersuchung nationaler Zitationsstrukturen der Wissenschaft durchgeführt und dafür eine eigene Methode entwickelt. Zur Untersuchung der Standardbildung wird die semantische Entwicklung des nationalen Selbstverständnisses der Wissenschaft und damit eine Dynamik des internationalen Wissenschaftsvergleichs rekonstruiert (Kapitel 6). In der Fallstudie zum Politiksystem werden ebenfalls langfristige Prozesse der Bildung nationaler Strukturen und Semantiken untersucht. Als Indikator für die Darstellung von Nationalisierungs- und Denationalisierungsprozessen politischer Kommunikation wird die Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts in den Untersuchungsländern Deutschland und Frankreich im Hinblick auf Veränderungen ihrer jeweiligen nationalen Schließungskraft untersucht (Kapitel 7). Zur Untersuchung des internationalen Vergleichs in der Politik und als semantisches Pendant zu Staatsangehörigkeitsstrukturen rekonstruiert die Arbeit weiterhin die Entwicklung nationaler Semantik in der politischen Öffentlichkeit Deutschlands und Frankreichs (Kapitel 8). Im Schlusskapitel werden die empirischen Ergebnisse in Bezug auf die Frage bewertet, ob die beobachteten historischen Entwicklungen mit der vorgeschlagenen Funktionsanalyse für nationale Kommunikationsgrenzen in Einklang stehen (Kapitel 9).

Teil I: Forschungskontext und theoretischer Rahmen

2 Das Problem nationaler Grenzen in der Weltgesellschaftsforschung

Mit der Fragestellung nach der Funktion segmentärer Raumgrenzen im Prozess der Durchsetzung der Weltgesellschaft ist das Thema der Arbeit in einem weiten Forschungsbereich angesiedelt, der sich mit globalen oder jedenfalls Regionen übergreifenden Makrostrukturen der sozialen Realität im weitesten Sinne befasst. Zugleich ist die Fragestellung innerhalb eines weltgesellschaftstheoretischen Rahmens Bielefelder Prägung formuliert, die ihren Gegenstand aus der Perspektive einer emergenten, weltweiten Gesellschaftsebene analysiert und sich daher nicht ohne Weiteres an jede andere Forschungsperspektive aus dem breiteren makrosoziologischen oder politikwissenschaftlichen Themenfeld anschließen lässt. Dies gilt zu allererst für das gesamte Feld, das sich unter dem Schlagwort der Globalisierungsforschung zusammenfassen lässt und vor allem mit Namen wie Roland Robertson, Anthony Giddens, Ulrich Beck oder Martin Albrow verbunden ist. Zwar beschreiben Globalisierungsansätze Phänomene der weltweiten Entgrenzung etwa über Mechanismen wie Diffusion oder Vernetzung, jedoch operieren sie weitgehend mit nationalstaatlichen Kategorien und konzipieren insbesondere keine eigene weltweite gesellschaftliche Ebene.1 Gleiches gilt für den Bereich der politikwissenschaftlichen Forschung zum internationalen System oder zu internationalen Beziehungen. In einer weltgesellschaftlichen Perspektive, die eine Pluralität verschiedener Funktionssysteme annimmt, ist die dort vorgenommene Einschränkung auf politische Akteure und die Generierung kollektiv bindender Entscheidungen unzulässig.2

1

Weiterführend hier Dürrschmidt 2002.

2

Weiterführend hier Boeckh 1994.

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Auch die Theorien der Weltgesellschaft im engeren Sinne sind untereinander relativ heterogen und verfolgen unterschiedliche Fragestellungen.3 Die vor allem durch Immanuel Wallerstein vertretene Theorie des World System befasst sich mit der Entstehung der kapitalistischen Weltökonomie und der zyklischen Entwicklungsdynamik zwischen Zentrum und Peripherie und erklärt damit die Weltgesellschaft vor allem durch ein partikulares Funktionssystem und ökonomischpolitische Herrschaftsstrukturen. Ähnlich wie die politikwissenschaftlichen Theorien zum internationalen System vernachlässigt sie damit die Bedeutung anderer Teilsysteme der Weltgesellschaft bzw. fasst diese nicht als eigenständige, selbstreferentiell geschlossene Systeme auf.4 Die Weltgesellschaftstheorie von Peter Heintz konzipiert demgegenüber die Weltgesellschaft als ein äußerst komplexes soziales Gebilde, das sich weder auf Staaten noch auf eine Kultur noch andere Größen reduzieren lässt. Ähnlich wie bei Niklas Luhmann wird die Weltgesellschaft als ein umfassendes System beschrieben. Das Interesse bei Peter Heintz richtet sich jedoch spezifisch auf so genannte Spannungen und Spannungstransfers innerhalb der Weltgesellschaft und auf die Rolle von Verteilungsproblemen und Informationsverarbeitung in Bezug auf das weltweite Entwicklungsschichtungssystem.5 Schließlich ist das vor allem von John Meyer vertretene Konzept der World Society zu nennen, das auf der Schnittstelle der US-amerikanischen Organisationsforschung und des Neo-Institutionalismus angesiedelt ist und der Frage nachgeht, wie sich die Reproduktion einer weltgesellschaftlichen Ordnung über den Zusammenhang zwischen globalen Strukturähnlichkeiten und der Diffusion des westlichen Zivilisationsmodells vollzieht.6 Wie im Folgenden noch zu zeigen ist, scheint die neuere systemtheoretische Forschung auch zur Weltgesellschaft von der Berücksichtigung dieses Ansatzes profitieren zu können.7 In der Systemtheorie selbst wird das Thema nationaler Differenzierungen weitgehend vernachlässigt.8 Weder sind die Nation oder nationale Differenzierungen Teil der umfangreichen Beschreibungen der modernen Gesellschaft innerhalb der Systemtheorie, noch liefert die Systemtheorie eine befriedigende Analyse dieser auffälligen Strukturdynamiken. Luhmann liefert lediglich eine

3

Weiterführend hier Wobbe 2000.

4

Wallerstein 1974.

5

Vgl. vor allem Heintz 1982.

6

Meyer 2005.

7

Zum Verhältnis von Neo-Institutionalismus und soziologischer Systemtheorie vgl. Hasse/Krücken 2005: 94–101.

8

Vgl. zu dieser Diagnose Hahn 1993.

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lapidare funktionale Analyse nationaler Grenzen. Deren Funktion bestehe demzufolge in der Anpassung der Funktionssysteme über strukturelle Kopplung an das segmentär differenzierte Teilsystem für Politik.9 Die Funktion für die segmentäre Differenzierung des Politiksystems bestehe wiederum darin, dessen Funktion und Leistungen an die nach Regionen unterschiedlichen Rahmenbedingungen heranzuführen, die durch die Weltgesellschaft selbst erzeugt würden.10 In der neueren systemtheoretischen Forschung wird man auf das Defizit aufmerksam und versucht, die Theorie Luhmanns entsprechend weiter zu entwickeln. Ein solches Anliegen verfolgt Rudolf Stichweh, der drei verschiedene Mechanismen nennt: Diese sind der vor allem vom US-amerikanischen NeoInstitutionalismus ausgearbeitete Mechanismus der »globalen Diffusion institutioneller Muster«, weiterhin die »globale Interrelation« oder »Vernetzung« und schließlich die »Dezentralisierung in Funktionssystemen«.11 Diese Mechanismen sind sehr abstrakt formuliert, um die Erfassung weltgesellschaftlichen Wandels in seiner gesamten Bandbreite zu ermöglichen. Sie stellen nicht eigens ab auf die Globalisierung von Funktionssystemen oder die Dynamik segmentärer Raumgrenzen der Kommunikation und sind daher dafür auch nicht direkt instruktiv. Globale Diffusion institutioneller Muster etwa ist mit relativ wenig Kommunikation realisierbar und bleibt daher von möglicherweise bestehenden Raumgrenzen solange unberührt, solange sie nicht eine unwahrscheinliche, vollkommene Isolierung herbeiführen.12 Der Mechanismus der globalen Interrelation beruht auf der in der Netzwerktheorie angestellten Überlegung, dass die Mehrheit der globalen Bevölkerung über indirekte ties miteinander vernetzt und sich dessen in konkreten Kommunikationen auch bewusst ist. Durch die Vernetzungsstruktur ist die Menge der indirekten ties für jede Person erheblich höher als die Menge der direkten ties. Die Wahrscheinlichkeit, dass räumliche Grenzen überschritten werden, ist daher auch für indirekte ties höher. Die für die Dynamik von Raumgrenzen entscheidende, aber offenbleibende Frage wäre hier also die nach den Bedingungen für die Erfolgswahrscheinlichkeit der Umwandlung indirekter in direkte ties. Schließlich geht es auch beim Mechanismus der Dezentralisierung von Funktionssystemen nicht um segmentäre, sondern um eine ZentrumPeripherie-Differenzierung, die durch die Mechanismen der Diffusion und Interrelation erodiere.

9

Vgl. Luhmann 1997: 166–167.

10 Vgl. Luhmann 2000: 227. 11 Stichweh 2000a: 254–262. 12 Stichweh 2000a: 256.

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Neben solchen allgemeinen Modellen zum Wandel der Weltgesellschaft gibt es einige Studien, die die regionalen Dynamiken einzelner Funktionssysteme im Kontext der Weltgesellschaft analysieren. Zu nennen ist hier wiederum vor allem Rudolf Stichweh.13 Ausschlaggebend für die vorübergehende Periode nationaler Schließung etwa der Wissenschaft sei zunächst die Durchsetzung der Nationalsprachen als Wissenschaftssprache vor allem im 18. Jahrhundert gewesen. Dieser Trend würde insbesondere unterstützt durch die neue Nützlichkeitsemphase seit der Aufklärung. Wissenschaftliches Wissen wird vermehrt der Erwartung ausgesetzt, einen Nutzen in Bezug auf eine Gruppe potentieller Profiteure darzulegen, für die die international verwendete Wissenschaftssprache möglicherweise nicht verständlich ist.14 Dieses Argument ist zunächst plausibel, scheint jedoch letztlich auf dem bereits von Luhmann vorgeschlagenen Mechanismus der strukturellen Kopplung der Funktionssysteme mit dem in Staaten national differenzierten Politiksystem zu beruhen. Nur wenn das nach Nützlichkeit der Wissenschaft verlangende Publikum seinerseits staatlich entsprechend differenziert ist, erscheint es ja überhaupt erst sinnvoll, den entsprechenden Teil des Publikums durch Verwendung von dessen Sprache gezielt zu adressieren. Eine solche Struktur von Leistungsbeziehungen zwischen Wissenschaft und Politik erscheint daher im Grunde nur unter der Annahme eines segmentär differenzierten Politiksystems plausibel. Wäre das Publikum etwa allein sprachlich differenziert, jedoch als Ganzes adressiert, könnte die Funktion der Vermittlung von Nützlichkeitsleistungen der Wissenschaft durch den Wechsel einer internationalen Wissenschaftssprache zu einer Nationalsprache ja nicht besser erfüllt werden. Vielmehr scheint daher die Wissenschaft mit der Umstellung auf die Nationalsprachen Veränderungen in ihrer Umwelt vor allem im politischen System Rechnung zu tragen. Das vermutlich einzige allgemeine Modell, das bislang im Anschluss an die soziologische Systemtheorie der Weltgesellschaft einen Mechanismus für die Globalisierungsdynamik von Funktionssystemen adressiert und Implikationen für den Wandel segmentärer Grenzziehungen der Kommunikation enthält, ist von Tobias Werron vorgetragen worden.15 Ausgangspunkt ist auch hier wieder ein neo-institutionalistisches Argument. Dieses besagt, dass die Entstehung und Diffusion einer einheitlichen World

13 Zum Rechtssystem Stichweh 1990a, zum Erziehungssystem Stichweh 1991, zum Wissenschaftssystem Stichweh 1999, Stichweh 2000a: 103–145 u. Stichweh 2003 sowie zum Religionssystem Tyrell 2004. 14 Vgl. insb. Stichweh 2003. 15 Werron 2007a; Werron 2007b.

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Polity oder World Culture sich Beobachtern, den so genannten »others«, verdanke. Der bloße Verweis auf diese Beobachtungsinstitutionen führe zu einer Verselbstständigungsdynamik bei der Übernahme von Mustern der World Polity. Die Grundidee dieses Arguments wird für den systemtheoretischen Gebrauch so reformuliert, dass es sich für Operationalisierungen hinsichtlich der jeweils unterschiedlichen Funktionssysteme eignet. Es ist daher der Publikumsbegriff, konzipiert als eine Beobachtungs- oder Selbstbeschreibungsebene, die in den Funktionssystemen in jeweils eigenständiger Form vorliegt, der in das Zentrum des Modells zur Globalisierungsdynamik der Funktionssysteme gerückt wird. Das Publikum ist dabei der zentrale Bestandteil einer Heuristik öffentlicher Vergleichszusammenhänge, die sich aus insgesamt drei zirkulär verbundenen und sich gegenseitig voraussetzenden Faktoren zusammensetzt: Dazu gehört, erstens, die Produktion und Definition von Vergleichsereignissen des Funktionssystems; zweitens, die Erstellung von Kriterien, die für eine Vergleichbarkeit der Ereignisse sorgt; und schließlich, drittens, das Publikum, das anhand der bereitgestellten Kriterien den Vergleich ausführt und dadurch die Ereignisse in einen Vergleichszusammenhang stellt. Zwei Dynamiken dieses Mechanismus scheinen in diesem Zusammenhang zentral zu sein: Erstens ist eine Folge der Vergleichsbestrebungen die Standardisierung bzw. Vereinheitlichung des Vergleichszusammenhangs. Die Voraussetzung für die Vergleichbarkeit von Ereignissen ist nämlich, dass sie sich den gleichen Kriterien und Regeln unterwerfen lassen. Zweitens werden durch die Vergleichsleistungen des Publikums die Universalitätsansprüche der Funktionssysteme verbreitet. Dies führt zu der Tendenz, immer größere Mengen an Vergleichsereignissen in einen Zusammenhang mit jeweils spezifischen Kriterien zu integrieren. Dieses Argument scheint letztendlich die Expansion der Funktionssysteme zu erklären und den Kern des Modells auszumachen. Publika »treiben die Globalisierungsdynamik von Funktionssystemen voran, indem sie deren Universalitätsansprüche global verfügbar machen, einen globalen Vergleichshorizont aufspannen und sich zugleich an der ›temporalisierten‹ Produktion immer neuer lokaler Diversität beteiligen.«16 An dem von Werron gewählten Beispiel des modernen Leistungssports werden diese beiden Dynamiken expandierender Funktionssysteme anschaulich. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass eine Vergleichbarkeit von Sportereignissen nur anhand standardisierter und einheitlicher Regeln und Kriterien möglich wird. Wenn man sich den Sport gleichsam im »Ursprungszustand« vorstellt mit möglicherweise zwar global verstreuten, jedoch lokal jeweils isolierten Sportereig-

16 Werron 2007a (zitiert aus Manuskript, S. 6).

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nissen ohne einen durch das Publikum bereitgestellten Vergleichszusammenhang, dann wäre eine Vergleichbarkeit aller Sportereignisse wohl ein extrem unwahrscheinlicher Zufall. Vielmehr wäre wohl davon auszugehen, dass Regeln der Gegenüberstellung jeweils situationsgebunden, lokalspezifisch und ad hoc generiert würden und deswegen eine im Einzelnen überschaubare, jedoch insgesamt extrem heterogene und komplexe Struktur hätten. Durch die Logik des Sports und dem damit verbundenen Universalitätsanspruch des Systems ergibt sich jedoch aus dem Ergebnis eines solchen lokal stattfindenden Leistungsvergleichs ein Verweis auf weitere sportliche Vergleichsereignisse. Aus der Logik des Sports, die man etwa durch die Formel »Leisten als Leisten«17 beschreiben könnte, ergibt sich eine Steigerungsidee, die nicht bloß auf Pflichterfüllung, sondern auf ein Besserwerden oder Bessersein hinausläuft. Der Universalitätsanspruch des Sportsystems besteht demnach darin, diejenige Person zu ermitteln, die in sozialer Hinsicht die Beste von allen ist, in zeitlicher Hinsicht die Beste aller Zeiten ist und vor allem in räumlicher Hinsicht die Beste auf der ganzen Welt ist.18 Diese soziale, zeitliche und räumliche Ausrichtung des Sports auf Rekorde sorgt bei jedem Vergleich dafür, dass auf einen weiteren Vergleich verwiesen wird, der mit einem weiteren Sportler bzw. einem Sportlerteam zu einem späteren Zeitpunkt und im Vergleich zu vergangenen Ereignissen durchgeführt wird. Im »Ursprungszustand« des Sports führt dies demnach tendenziell zu einer Verbindung von immer mehr Sportereignissen untereinander, die jedoch nur dann sinnvoll sein kann, wenn im Rahmen eines standardisierten Regelwerks, also der jeweiligen Sportdisziplin, Vergleichbarkeit hergestellt ist. Diese Regelvereinheitlichung, bei der ad hoc generierte Regeln in Sportclubs in einheitliche, die einzelnen Clubs übergreifende Regelsysteme integriert werden, lässt sich in der Sportgeschichte des 19. Jahrhunderts für verschiedene Disziplinen eindrücklich nachweisen.19 Diese Logik der Globalisierung lässt sich auch gut anhand des Wissenschaftssystems illustrieren. Der Universalitätsanspruch der Wissenschaft verlangt, dass wissenschaftliche Aussagen wahr sind, unabhängig davon, wer sie in sozialer Hinsicht aufstellt, wann sie in zeitlicher Hinsicht aufgestellt werden, worauf sie sich in sachlicher Hinsicht beziehen und wo sie in räumlicher Hinsicht aufgestellt werden.20 Eine wissenschaftliche Aussage verweist damit automatisch auf weitere wissenschaftliche Aussagen, die sich zu der ersten entweder

17 Stichweh 1990b: 387. 18 Vgl. Werron 2005: 266. 19 Vgl. für einen Überblick Werron 2010 (im Manuskript von 2009: 308–333). 20 Stichweh 2003.

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unterstützend oder konkurrierend verhalten können und das wissenschaftliche Publikum ist die Instanz, die den für eine solche Bewertung notwendigen Vergleich durchführt. Um dies jedoch tun zu können, benötigt das Publikum systemeinheitliche, standardisierte Vergleichskriterien, nämlich Standards der Wissenschaftlichkeit. Die Ausweitung des Vergleichshorizonts und die Standardisierung der Vergleichskriterien sind immer ineinandergreifende Leistungen des Publikums. Gegenüber dem bisherigen Forschungsstand bietet Werrons Modell zwei entscheidende Vorteile. Zum einen erklärt es die Globalisierung der Funktionssysteme anhand deren eigener Bestandteile und kommt damit dem Postulat der Selbstreferentialität sozialer Systeme nach. Das Modell löst sich von Erklärungen über die strukturelle Kopplung, die das Erklärungsproblem letztendlich bloß verschieben. Entscheidend sind darüber hinaus die Implikationen des Modells für die Dynamik von Raumgrenzen. Denn die durch die Universalitätsansprüche und die Vergleichsleistungen des Publikums angetriebene globale Expansion der Funktionssysteme führt tendenziell über jegliche räumlichen Grenzen hinweg. Sobald etwa auf nationaler Ebene der beste Sportler ermittelt ist, schließt sich direkt die Frage an, ob Sportler jenseits der Grenzen vergleichbare Leistungen oder gar bessere Leistungen zu erbringen im Stande sind. Allerdings stellt Werron heraus, dass das Publikum für die räumliche Ausdehnung des Vergleichszusammenhangs von Verbreitungsmedien der Kommunikation abhängig ist.21 Damit schreibt sich das Modell in den übergeordneten systemtheoretischen Rahmen ein, der ebenfalls vom Postulat systemischer Selbstreferentialität ausgeht und ebenfalls die Auflösung von räumlichen Grenzen allgemein von der Verfügbarkeit von Verbreitungsmedien abhängig macht. Das Modell fügt dieser generellen systemtheoretischen Diagnose eines Abbaus von Raumgrenzen der Kommunikation über Verbreitungsmedien also ein dezidiertes Erklärungsmodell bei. Genau wie die Systemtheorie Luhmanns adressiert Werrons Modell damit jedoch nicht eigens die Frage, wie es zu verstehen ist, dass trotz der Universalitätsansprüche der Funktionssysteme, trotz der zur Verfügung stehenden Leistungen des Publikums und seiner tendenziell grenzüberschreitenden Vergleichszusammenhänge und trotz der enormen Ausbreitung von verfügbaren Verbreitungsmedien gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts die unter anderem von Alois Hahn herausgestellten räumlichen Schließungsprozesse entstehen.

21 Werron 2007a.

3 Die stufenförmige Konstitution globaler Funktionssysteme

Diese Arbeit schlägt ein Modell der Globalisierungsdynamik von Funktionssystemen vor, das die räumlich-segmentären Schließungsprozesse der Kommunikation ab dem 19. Jahrhundert nicht als eine globalisierungstheoretische Herausforderung aufgreift, sondern sie über eine funktionale Analyse als Bestandteil der Theorie mit aufnimmt. Die zentrale These der Arbeit besagt, dass ein solches Modell über eine Erweiterung des Publikumsmodells von Werron über die Globalisierung von Funktionssystemen gewonnen werden kann, die das Modell mit der Beobachtung temporärer nationaler Schließungsprozesse kompatibel macht. Der Ausgangspunkt dafür ist der Hinweis auf komplexitätstheoretische Implikationen des Modells. Wie im vorherigen Kapitel ausgeführt sind die Ausweitung des Vergleichszusammenhangs und die Standardisierung der Regeln, anhand derer der Vergleich ausgeführt wird, einander bedingende Prozesse sich globalisierender Funktionssysteme. Deren Universalitätsansprüche treiben die Ausweitung ihres Vergleichszusammenhangs immer weiter voran und stoßen dabei auf Vergleichsereignisse, die zunächst natürlich untereinander höchst heterogen sind. Durch die Revolutionierung der Verkehrs- und Kommunikationstechnik im 19. und 20. Jahrhundert steigt die Menge der prinzipiell in den Vergleichshorizont integrierbaren Elemente rasant an. Durch die dadurch hervorgebrachte Zeit-Raum-Kompression stehen Vergleichselemente in immer größeren Mengen und in immer höherer Geschwindigkeit zur Verfügung.1 Aus einer einfachen komplexitätstheoretischen Überlegung ergibt sich, dass der Prozess der Standardisierung unter diesen Bedingungen sehr schnell überfordert sein muss. Komplexität wird allgemein bestimmt als die Menge der vorhandenen Elemente und die Menge und Beschaffenheit der möglichen Relationen,

1

Rosa 2005.

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die zwischen diesen Elementen bestehen können.2 Ein System wird damit bereits allein durch ein Anwachsen der Anzahl seiner Elemente komplexer. Erschwerend kommt hinzu, dass die Anzahl der möglichen Relationen zwischen Elementen mit deren anwachsender Anzahl in geometrischer Progression zunimmt. Zwischen zwei Elementen ist eine Relation denkbar, zwischen drei Elementen sind drei Relationen denkbar, zwischen vier Elementen sind bereits sechs Relationen möglich, bei fünf Elementen sind es zehn usw. Die Anzahl dieser Kombinationen multipliziert sich noch zusätzlich mit der Menge verschiedenartiger Relationen, die zwischen den Elementen jeweils denkbar wären. Aus dieser einfachen Überlegung heraus ist es offensichtlich, dass mit einer Expansion von Funktionssystemen und der damit verbundenen Vermehrung ihrer Elemente selbst bei einem geringen Ausmaß des Wachstums enorme Komplexitätszuwächse verbunden sind, die an eine Standardisierung entsprechend hohe Anforderungen stellen. Angesichts dieser Erfordernisse liegt die Vermutung nahe, dass globalisierende Funktionssysteme eine Strategie entwickeln müssen, die den Umgang mit derartigen Komplexitätszuwächsen ermöglicht. Aber auf welche Art könnte dies geschehen? Die hier vertretene These besagt, dass entscheidende Hinweise dazu von den komplexitätstheoretischen Überlegungen von Orrin E. Klapp und Herbert A. Simon geliefert werden können. In seiner Theorie zu »Opening and Closing« bietet Orrin E. Klapp ein abstraktes Modell zur Reaktion auf und zum Umgang mit Komplexität3, die er als »social noise« konzipiert. Dieser Begriff dient als Sammelbezeichnung »for the entire mass of extraneous, irrelevant, and useless stimuli from our environment that the mind must negotiate to find what it seeks.«4 Noise wird damit definiert aus der Perspektive des Empfängers und nicht des Senders und ist angesiedelt auf dem einen Ende eines Kontinuums, dessen anderes Ende ein Signal ist. Der Empfänger selbst ist ebenfalls abstrakt gemeint und kann sich nicht nur auf ein Bewusstsein oder eine Person beziehen, sondern auch auf soziale Einheiten oder Systeme. Die Perspektive des Empfängers bestimmt jedoch stets, was noise und was Signal ist: »To those seeking beauty, ugliness is noise; to those seeking harmony, discord is noise; to those who want neatness, clutter is noise; to those trying to make sense, irrelevance is noise; to those concerned about their souls, sin is noise.«5

2

Luhmann 1997: 134–144; Luhmann 1975: 204–220.

3

Klapp 1978.

4

Klapp 1978: 1.

5

Klapp 1978: 5.

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Vier Kategorien von noise werden unterschieden: Noise kann semantisch sein, wenn er aus Ambiguitäten, Missverständnissen, Unachtsamkeit oder Doppeldeutigkeit resultiert; er kann stilistisch sein, wenn er aus Inkompatibilitäten von Werten, Moden oder Identitäten resultiert; er kann ansteckend sein, etwa bei negativen Gefühlen wie Hysterie, Misstrauen, Unzufriedenheit oder Ungerechtigkeit; und er kann resultieren aus bloßer Überflutung mit an sich perfekten Informationen. Aus der Perspektive dieses Ansatzes beträfe das Komplexitätsproblem expandierender Funktionssysteme also vor allem noise aus Überflutung und stilistischen noise, nämlich die schiere Menge an Vergleichsereignissen einerseits und die Inkompatibilität ihrer Standards andererseits. Klapps These ist nun, dass Schließung eine generelle Strategie im Umgang mit noise ist und damit infolge von Überflutung mit zu vielen oder zu verschiedenartigen Informationen eintritt. Der Effekt eines solchen Ausschlusses von Komplexität ist die Herstellung einer internen Ordnung und Übersichtlichkeit, die aus einander kongruenten Informationen zusammengesetzt ist und damit eine positive Resonanz erzeugen kann. Diesen Vorgang nennt Klapp »Good Closing«. Ein »Good Closing« kann in ein so genanntes »Bad Closing« münden, nämlich immer dann, wenn die Schließungstendenz so weit fortgetrieben wird, dass Redundanzgewinn und Informationsverlust in ein ungünstiges Verhältnis treten. Die entstehende Banalität führt zu einer Umkehrung der Pendelbewegung zurück zu mehr Öffnung, die z. B. von Kreativität angetrieben wird und dann ein »Good Opening« bewirkt. Genauso wie Schließungsprozesse können auch Prozesse der Öffnung über das Optimum hinausgehen und dann wiederum zu einem Empfang von noise führen. Dies wäre in Klapps Terminologie dann ein »Bad Opening«.6 Die Schließungs- und Öffnungsprozesse oszillieren stets innerhalb dieses Vierfelderschemas hin und her. Die betreffende soziale Einheit oder das betreffende Bewusstsein unterscheidet sich jeweils nur in der Bandbreite des Oszillierens und in der Lage ihrer/seiner Umkehrpunkte – die Öffnungs- und Schließungsdynamik ist jedoch ein generelles Charakteristikum sozialer Einheiten in einer komplexen Umwelt.7 Klapps Theorie nimmt die Perspektive des Empfängers ein und beschreibt aus dieser Sicht Anlässe und Konsequenzen sozialer Schließungs- und Öffnungsprozesse als interne Angelegenheiten. Noise ist nicht an sich gegeben, sondern entsteht gleichsam als Abfallprodukt einer gezielten Suche des Empfängers. Auch Redundanzeffekte eines »Bad Closing« treten rein intern auf.

6

Vgl. dazu das zusammenfassende Vierfelderschema bei Klapp 1978: 157.

7

Vgl. zu dieser Zusammenfassung der Theorie bes. Klapp 1978: 154–167.

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Etwas aus dem Blick gerät dabei die Frage, welche Konsequenzen Öffnungsund Schließungsprozesse für die Struktur und Komplexität umfassender Systeme oder der Gesellschaft insgesamt haben können. Eine solche ganzheitliche Perspektive nimmt Herbert A. Simon mit seiner Theorie zur Komplexitätsarchitektur ein.8 Simons Ansatz erlaubt, die durch die von Klapp beschriebenen Schließungsprozesse sich konstituierenden sozialen Einheiten als Teile eines Systems zu begreifen und damit in eine systemtheoretische Perspektive zu rücken. Die grundlegende These des Ansatzes besagt, dass alle Systeme aus einer Anzahl von Einzelteilen zusammengesetzt sind, deren Gesamtheit mehr als die Summe ihrer Teile ist. Der Systembegriff ist dabei umfassend und umschließt etwa physikalische, biologische, symbolische und soziale Systeme. Gemeinsam ist allen ihr Aufbau aus einzelnen Subeinheiten. Biologische Systeme etwa sind aus Organen, diese sind aus Gewebe und diese wiederum aus Zellen zusammengesetzt. Ein Diamant ist ein physikalisches System und besteht aus Kohlenstoffatomen, die wiederum aus Protonen, Neutronen und Elektronen aufgebaut sind. Ein symbolisches System wäre etwa ein Buch, das zusammengesetzt ist aus Kapiteln, Abschnitten, Sätzen und Wörtern. Schließlich besitzen auch soziale Systeme die gleiche Eigenschaft wie etwa formale Organisationen mit ihren Abteilungen, aber auch Stämme ließen sich unterteilen in Dörfer und Familien. Das entscheidende Argument Simons ist nun, dass diese Zusammensetzung der Systeme aus Einzelteilen einer hierarchischen Ordnung folgt, bei dem die Elemente des Systems in Subeinheiten zusammengefasst werden, die wiederum als Elemente einer übergeordneten Einheit dienen usw. Ein solcher hierarchischer Aufbau ermöglicht gegenüber einer nicht hierarchischen, direkten Zusammensetzung der Einzelteile eine nachhaltige Stabilisierung des Systems und damit eine schnellere Evolution. Für dieses Argument führt Simon einen mathematischen Beweis an, den er an einem Beispiel zweier Uhrmacher veranschaulicht: Die beiden Uhrmacher »Hora« und »Tempus« stellen beide Uhren aus jeweils 1 000 Einzelteilen her und sie führen beide einen Uhrmacherladen mit jeweils gleich hoher Nachfrage, sie verzeichnen also beide z. B. 100 Nachfragen pro Tag, die entweder in Form von Kunden im Laden oder in Form von Telefonanrufen auftreten. Während Horas Laden expandiert, muss Tempus Einbußen verkraften und schließlich sein Geschäft schließen. Den unterschiedlichen Erfolg der Uhrmacher erklärt Simon folgendermaßen: Hora und Tempus bauen die 1 000 Einzelteile auf verschiedene Weise zu einer Uhr zusammen. Während Tempus seine Uhren direkt aus allen Einzelteilen zu-

8

Simon 1962.

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sammensetzt, folgt Hora dem hierarchischen Ordnungsprinzip komplexer Systeme und fügt jeweils 100 Einzelteile zu 10 Untereinheiten zusammen, die dann zu einer Uhr zusammengesetzt werden. Dieser Unterschied hat weitreichende Folgen. Immer dann, wenn eine Nachfrage auftritt, also ein Kunde den Laden betritt oder das Telefon klingelt, müssen die Uhrmacher ihre Arbeit unterbrechen. Dabei zerfällt jedes Mal die gerade erstellte Einheit in ihre Einzelteile. Zwar verzeichnen beide Läden täglich die gleiche Zahl von Kunden oder Anrufern, die dadurch entstehenden Arbeitsunterbrechungen haben jedoch aufgrund der unterschiedlichen Bauweisen der Uhren andere Folgen. Weil die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass Unterbrechungen durch Kunden immer nur dann erfolgen, wenn eine Uhr fertig ist, zerfallen die von Tempus gebauten Uhren bei den allermeisten Unterbrechung komplett in ihre Einzelteile. Bei Hora hingegen, der ja mit Untereinheiten operiert, die er später zusammensetzt, zerfällt bei jeder Unterbrechung jeweils nur diese aktuell erstellte Untereinheit. Da Horas Uhren aus zehn Untereinheiten bestehen, die zu erstellen jeweils nur ein Zehntel der Bauzeit der gesamten Uhr in Anspruch nimmt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Untereinheit durch eine Unterbrechung in Einzelteile zerfällt, auch zehnmal geringer als im Fall von Tempus Uhren. Tempus ist damit anders als Hora nicht in der Lage, seine Nachfrage nachhaltig zu befriedigen und muss seinen Laden schließen. Welche Konsequenzen sind aus den komplexitätstheoretischen Hinweisen von Klapp und Simon für eine Theorie der Globalisierung von Funktionssystemen zu ziehen? Zunächst ist im Hinblick auf Klapps Argument aufgrund der Komplexitätszuwächse bei der Globalisierung und Expansion von Funktionssystemen mit systeminternen Schließungs- und Öffnungsprozessen zu rechnen. Weiterhin ist mit Blick auf das Argument Simons davon auszugehen, dass eine nachhaltige Stabilität globaler Funktionssysteme durch die Einfügung der sich durch Schließungsprozesse konstituierenden sozialen Einheiten in eine hierarchische Ordnung erbracht wird. Wenn man diese theoretischen Annahmen in Ergänzung zum Publikumsmodell von Werron beherzigt, zeigt sich, dass man mit dem dadurch gewonnenen Theorierahmen die eingangs skizzierten nationalen Schließungsprozesse als Teil der Globalisierung von Funktionssystemen analysieren könnte. Durch die Universalitätsansprüche der Funktionssysteme und mit Hilfe von Publika breitet sich die Reichweite des funktionssystemspezifischen Vergleichszusammenhangs in dem Maße aus, wie Verbreitungsmedien für Vergleiche über Raumdistanzen hinweg zur Verfügung stehen. Mit der Verbesserung und Ausbreitung von immer leistungsfähigeren Verbreitungsmedien wird es zunehmend leichter, immer größere Mengen von Vergleichsereignissen als Elemente des

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Systems kommunikativ zu erreichen. Da die Vergleichsereignisse zunächst untereinander heterogen sind, besteht keine standardisierte Struktur zur Regelung der Verknüpfbarkeit der einzelnen Ereignisse untereinander. Diese Möglichkeiten sind damit kontingent und erzeugen rasch eine hohe Komplexität des Systems. Die Inkompatibilität der Systemelemente, die eine Vergleichbarkeit torpediert, erzeugt für das expandierende Funktionssystem noise. Durch Schließungsprozesse, durch die innerhalb des Funktionssystems eine nicht sinnförmige oder nicht funktionsspezifische Grenze gezogen wird, wird die Menge potentieller Vergleichsereignisse innerhalb der Grenzen reduziert, indem andere gleichermaßen zum Funktionssystem gehörende Elemente ausgeschlossen werden. Diese Multiplikation der Vergleichszusammenhänge macht jeden einzelnen Vergleichszusammenhang wesentlich überschaubarer. Die Wahrscheinlichkeit, dass mit gegebenen Ressourcen eine Standardisierung gelingt, steigt an. Die Folge einer Standardisierung ist jedoch, dass die solcherart vereinheitlichten Vergleichszusammenhänge als solche identifizierbar sind und daher ihrerseits einem Vergleich zugeführt werden können. Findet er statt, eröffnet dies einen neuen übergeordneten Vergleichszusammenhang, für den die zuvor durch Schließung sich konstituierten und vereinheitlichten Vergleichszusammenhänge gleichsam zu Subeinheiten werden und als solche ihrerseits Vergleichselemente darstellen. Insgesamt entsteht damit die von Simon vorhergesagte hierarchische Struktur, die für eine nachhaltige Stabilisierung komplexer Systeme kennzeichnend ist. Das Zusammenspiel der verschiedenen Prozesse in der Globalisierung von Funktionssystemen, wie Expansion, Schließung, Multiplikation und Standardisierung der Vergleichszusammenhänge und schließlich deren Einordnung in einen hierarchischen Aufbau, fügt sich ein in eine Dynamik, bei der sich die Schließungsprozesse schließlich wieder in Öffnungsprozesse umkehren. Diese Umkehrdynamik ist bereits allein aus Klapps Perspektive zu erwarten. Denn eine erfolgreiche Standardisierung erzeugt Resonanz, die bei Klapp die Form eines »Bad Closing« annehmen kann und Ausgangspunkt für eine Öffnung in Richtung eines »Good Opening« ist. Eine solche Umkehrbewegung muss jedoch auch aus der Perspektive der anderen Argumente erwartet werden. Wenn die Integration von Vergleichsereignissen in einen Vergleichszusammenhang zu dessen Standardisierung führt, in deren Folge die einzelnen Vergleichsereignisse den gleichen Vergleichskriterien unterworfen werden und so ihre Vergleichbarkeit untereinander gesichert wird, so gilt dies unabhängig von der Ebene des Vergleichs. Wenn man also annimmt, dass die Vereinheitlichung und Identifizierbarkeit von Vergleichszusammenhängen auf einer höheren Hierarchieebene einen übergeordneten Zusammenhang konstituiert, so unterliegen auch dessen Ereignisse – und das sind eben die sich durch Schließung konstituie-

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renden Vergleichszusammenhänge der ersten Hierarchieebene – einer Standardisierung. Die dadurch erzeugte Vereinheitlichung ermöglicht dann aber ebenso eine gegenseitige Integration der Vergleichszusammenhänge, in deren Folge sich deren Unterscheidbarkeit und gegenseitige Abgrenzung voneinander auflösen. Begleitet davon sind eine Öffnung und ein Abbau von internen Kommunikationsgrenzen. Dieses allgemeine Modell lässt sich an Beispielen verschiedener Teilsysteme konkret erläutern. Leicht anwenden lässt sich das Konzept auf den Spitzensport, den bereits Werron als Ausgangspunkt für seine Theorie wählt. Die Vergleichselemente sind sportliche Leistungen, die in Sportereignissen erzielt und zum Vergleich dargestellt werden. Wenn die Regeln zur Messung der sportlichen Leistungen und zur Erstellung der Vergleiche für jedes Sportereignis unterschiedlich ausfallen, ist die Ausgangslage für die Entstehung von Sportdisziplinen unter der Bedingung eines Vergleichszusammenhangs von globaler Ausdehnung extrem komplex. Durch die Segmentierung der Vergleichszusammenhänge wird die Situation übersichtlicher und eine erfolgreiche Bildung von Standards in den verschiedenen Disziplinen bildet die Grundlage für einen übergeordneten Vergleich, beim dem gewissermaßen durch die Standardisierung der Standardisierung das System global vereinheitlicht werden kann. Ein Blick auf die Sportgeschichte zeigt, wie mit der Ermöglichung einer überregionalen Öffentlichkeit durch Verbreitungstechnologien zum Ende des 19. Jahrhunderts, die regionalen Sportclubs sich nach und nach zunächst überregionalen und schließlich national vereinheitlichen Regeln unterwerfen, und sich so der Vergleichshorizont sportlicher Leistungen in den betreffenden Disziplinen sukzessive ausweitet. Im Baseball bestehen beispielsweise bis in die 1860er Jahre hinein getrennte Sportkulturen des »base ball«, »round ball« oder »townball« vor allem in New York, Philadelphia und Boston. Nachdem man jedoch beginnt große Wettkämpfe zu organisieren wie etwa das »All Star Match« 1858 oder die »City Championship« 1860 verändert sich die Situation und die Clubs übernehmen nach und nach die Regeln der »National Accociation of Baseball Players« (NABBP).9 Im Fußball vollzieht sich eine vergleichbare Entwicklung in England, als die großen Fußballclubs des Landes zur »Football Association« fusionieren und man beginnt die ersten »country matches« auszutragen.10 Spätestens in den 1880er Jahren haben alle Clubs, die am Wettkampbetrieb teilnehmen, die Regeln der Football Association übernommen.

9

Werron 2010 (im Manuskript von 2009: 311); Kirsch 1989: 69f.

10 Werron 2010 (im Manuskript von 2009: 318-324).

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Die Bedeutung nationaler Regelstandardisierung im Sport für die Entstehung global einheitlicher Regeln wird in Wray Vamplews umfassender Betrachtung der Regelevolution deutlich, infolgedessen er folgendes Sieben-Phasenmodell der Entstehung von Standards im Sportsystem aufstellt: 11 »One-off rules for head-to-head contests individually negotiated«, »Rules for head-to-head and allcomers contests using common features«, »Rules for contests using standardized rules«, »Codification of rules by ›national‹ authorities«, »Rules developed to ensure acceptance of the nationally codified rules«, »Codification of rules by ›international‹ authorities«, »Rules developed to ensure acceptance of the internationally codified rules«. Vampleys Studie zur Regelevolution im Sport belegt damit sehr schön die Bedeutung nationaler Grenzen für die Ausrichtung der Gültigkeitsgrenzen von Sportstandards im Laufe ihrer Entwicklung hinzu internationaler Ausdehnung. Ob nationale Schließung und Öffnung im Sport jedoch auch der im hier verwendeten Modell vorgesehenen spezifischen Verlaufsdynamik folgen, müsste natürlich noch genauer untersucht werden. Möglicherweise könnte man anhand historischer Sportstatistiken überprüfen, welche Rolle nationale Grenzen bei der Auswahl von Wettbewerbskontrahenten im Zeitverlauf gespielt haben und ab wann das Sportpublikum beginnt, sportliche Leistungen im internationalen Vergleich zu bewerten. In der Wissenschaft sind die Vergleichselemente die in Publikationen vorgetragenen wissenschaftlichen Wahrheiten. Solange keine Vergleichskriterien vorliegen, wie etwa die Einhaltung wissenschaftlicher Standards oder die Relevanz des Themas für die Fortentwicklung einer Disziplin, ist kaum zu entscheiden, welche Publikationen überhaupt in den Vergleichszusammenhang aufzunehmen sind, und selbst wenn diese Entscheidung gelingt, bleibt die Bewertung dieser Vergleiche schwierig. Diese Lage gestaltet sich umso komplexer, je mehr Publikationen potentiell dem Vergleich zuführbar sind. Eine Segmentierung der Vergleichszusammenhänge mit je reduzierter Anzahl wissenschaftlicher Publikationen erhöht die Wahrscheinlichkeit, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Publikationen festzustellen, sie zu klassifizieren und so vorläufige Standards zu bilden, die dann als Grundlage einer Standardisierung zweiter Ordnung auf tendenziell globaler Ebene dienen können. Der Historiker Gérard Noiriel zeichnet zum Beispiel nach, wie solche Standards der Wissenschaftlichkeit zum Ende des 19. Jahrhunderts in der französischen Geschichtswissenschaft entstehen. Die französische Geschichtswissenschaft ist während des 19. Jahrhunderts in unterschiedliche Sphären unterteilt, in der je eigene Wissenschaftsstandards gelten. Zum einen liegt dies an der Abgeschiedenheit der jeweiligen Forschungszentren

11 Vamplew 2007: 845.

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in der Provinz und dem Fehlen einer einheitlichen Ausbildungsstruktur, zum anderen liegt es daran, dass die Geschichtswissenschaft als Feld politischer Auseinandersetzung in ein royalistisches und ein universitäres Lager geteilt ist, in der je eigene Normen und Prämissen wissenschaftlichen Arbeitens vorherrschen.12 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstehen dann jedoch Standards, die beim Vergleich von Publikationen und der damit gewonnenen Bewertung zunehmend Anwendung finden. Diese Standards entstehen zeitgleich mit den revolutionären Entwicklungen in der Medientechnologie und mit der Etablierung eines regionen- und städteübergreifenden, nationalen Zeitschriftensystems in der französischen Geschichtswissenschaft, durch das sich ein entsprechendes Publikum der Wissenschaft etablieren kann. Sie verbinden sich nach Noiriel zu einem »système de valeurs«, zu dem er die Verwendung einer Methode, die Produktion von Fakten, eine intradisziplinäre Arbeitsteilung, die Verpflichtung zur Objektivität und Bescheidenheit zählt.13 Anhand einer Auswertung von Rezensionen der zentralen Fachzeitschrift der französischen Geschichtswissenschaft, der Revue historique, aus den 1870er und 1880er Jahren zeigt Gabriele Lingelbach, wie die Verwendung dieser Standards für den Vergleich von Publikationen nach und nach verbreitet wird. 14 Geschichtswissenschaftliche Publikationen, die in der Fachgemeinschaft weiterhin akzeptiert werden wollen, müssen sich so diesen Standards unterwerfen. Die Semantikanalyse in Kapitel 6 dieser Arbeit illustriert, wie zur gleichen Zeit Kriterien für den internationalen Wissenschaftsvergleich entstehen, mit dem sich dann ein globaler Standard etablieren kann. Im Politiksystem sind die Vergleichselemente politische Programme von Opposition oder Regierung, in Demokratien Parteiprogramme, die Vorschläge zur Herstellung bestimmter, kollektiv verbindlicher Entscheidungen enthalten. Angesicht der enormen Heterogenität der sozialen und politischen Verhältnisse in der Weltgesellschaft wird die Komplexität anschaulich, die zu bewältigen wäre, wollte man in einem globalen Politiksystem z. B. Parteiprogramme Interessensgruppen zuordnen oder auch nur entscheiden, welche der möglichen kollektiv verbindlichen Entscheidungen insgesamt am angemessensten ist. Durch die Segmentierung des Politiksystems in staatliche Machtbereiche wird jeder in politischen Programmen zu regelnde Sachverhalt erheblich überschaubarer. Angesichts der so eingegrenzten politischen Probleme ist die Bildung politischer Interessengruppen mit je einem eigenen politischen Programm wesentlich einfacher. Es entstehen durch Staaten konstituierte politische Systeme, die auf in Verfas-

12 Noiriel 1990: 58-61. 13 Noiriel 1990: 70ff. 14 Lingelbach 2003: 392-393, vgl. auch Müller 1994.

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sungen kodifizierten Standards beruhen. Eine Globalisierung des Politiksystems kann dann am Vergleich der politischen Systeme und deren Standards ansetzen. Dadurch reduziert sich in einem sich globalisierenden Politiksystem die Komplexität des Vergleichs, dessen Elemente nicht mehr einzelne politische Entscheidungen, sondern Formen der Herbeiführung solcher Entscheidungen sind. Im Wirtschaftssystem sind die Vergleichselemente die zum Verkauf angebotenen Waren und Dienstleistungen und das Ergebnis des Vergleichs soll darüber informieren, welche Transaktion sich am Meisten auszahlt. Ein solcher Vergleich wäre in einem globalen Vergleichszusammenhang angesichts der enormen Vielfalt und Heterogenität der weltweit angebotenen Waren und Dienstleistungen extrem komplex und dürfte kaum zu einem abschließenden Ergebnis führen. Eine durch Segmentierung des Systems herbeigeführte Einschränkung der Waren und Dienstleistungen, die dem Vergleich zugeführt werden, macht eine Zahlungsentscheidung wesentlich einfacher. Im Zuge des so entstehenden Marktes erweisen sich bestimmte Waren und Dienstleistungen als zahlungsrelevant, während andere aus dem Markt heraus gedrängt werden. Dieser Prozess wird eindrücklich von George Ritzer unter dem Schlagwort« »McDonaldisierung« beschrieben. Es bezeichnet eine globale Standardisierung von Waren und Dienstleistungen sowie Produktions- und Arbeitsprozessen. Zu diesen Standards zählt Ritzer grob deren Ausrichtung an Maßgaben wie »Effizienz«, »Kalkulierbarkeit«, »Voraussagbarkeit« und »Kontrolle«. 15 Die Entstehung solcher Standards fällt zeitlich zusammen mit einer »Denationalisierung« der Wirtschaft seit den 1950er Jahren, bei der z.B. die Außenhandelsquoten von Nationalstaaten stetig ansteigen. 16 Dass nationale Grenzen für Standardisierungsprozesse der Wirtschaft möglicherweise eine Bedeutung haben, könnte durch Semantiken wie »Made in Germany« angezeigt werden, die erlauben, Waren in einem internationalen Vergleich nach nationalen Kategorien zu unterscheiden und zu bewerten. Im Zuge der wirtschaftlichen Denationalisierung, der weltweiten Vereinheitlichung von Waren und auch von zunehmend global sich erstreckenden Produktionsketten verlieren solche Semantiken vermutlich immer mehr an Plausibilität. Im Rechtssystem sind die Vergleichselemente Gesetze. Gesetze entstehen ursprünglich, um Konflikte, die lokal auftreten, bewältigen zu können. Im Sinne einer Gerechtigkeit, die die gleiche Behandlung für alle vorsieht, werden im Rechtssystem Gesetze mit dem Ziel miteinander vergleichen, Widersprüche aufzuspüren und das System als harmonisches Ensemble zu erhalten. Es ist leicht einzusehen, dass ein solcher Vergleich auf globaler Ebene angesichts der Vielfalt

15 Ritzer 1993. 16 Zürn 1998: 87-92.

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an Gesetzen an seiner enormen Komplexität scheitern müsste. Eine Segmentierung des Systems ermöglicht hier die Entwicklung von Verfahren, die bei der Gesetzgebung Kompatibilität mit dem entsprechenden Segment des Rechtssystems als Ganzes garantiert. Im Prozess der Globalisierung des Rechtssystems lässt sich gut erkennen, wie solche Standards wiederum zum Objekt einer weiteren Standardisierung werden. Supranationale Rechtsquellen wie etwa das europäische Recht wirken durch Richtlinien auf die nationalen Rechtssysteme ein, die sich durch die Umsetzung dieser Bestimmungen schrittweise den übergeordneten Rechtsstandards anpassen. Möglicherweise ließen sich hier noch weitere Beispiele anfügen, die jedoch vor dem Hintergrund der Neuigkeit des hier vorgeschlagenen Modells und des damit zusammenhängenden Mangels entsprechender empirischer Studien nicht über erste Andeutungen hinaus präzisiert werden könnten. Die Liste der Beispiele genügt jedoch ohnehin, um das vorgeschlagene Modell einer stufenförmigen Konstitution globaler Funktionssysteme zu veranschaulichen. Es wird verständlich, welche Funktion dem Auf- und auch dem Abbau räumlich-segmentärer Kommunikationsgrenzen in Funktionssystemen im Prozess ihrer Globalisierung zukommen kann. Die Beispiele unterstreichen die Relevanz des hier angeführten Arguments, dass Informationsverarbeitung und Stabilitätssicherung bei der Globalisierung von Funktionssystemen, so wie Werron sie anhand der Ausdehnung von Vergleichszusammenhängen beschreibt, zu einem Problem der Überforderung werden können. Die Funktion der Dynamik räumlicher Schließung und Öffnung könnte demnach darin bestehen, zunächst eine Reduktion von Komplexität zu ermöglichen, solange äquivalente Möglichkeiten wie Standardisierung, Selektion oder Ausdifferenzierung aufgrund der Größe des Vergleichszusammenhangs für das System noch zu aufwendig wären. Räumliche Kommunikationsgrenzen unterbrechen die Kommunikation dann aus Sicht der Funktionssysteme gewissermaßen willkürlich, jedenfalls ohne Bedarf an kapazitätsbindenden Vorleistungen des Systems. Diese vorleistungslose Komplexitätsreduktion kennzeichnet die Spezifität der Funktion nationaler Grenzen gegenüber den vielfältigen weiteren Formen der Komplexitätsreduktion in Funktionssystemen. Diese müssen nämlich auf der Ebene der Operationen von Funktionssystemen selbst hergestellt werden. Im Wissenschaftssystem wird Komplexität reduziert z.B. durch die Diversifikation oder Spezifikation von Themen, die Herausbildung von Schulen und Disziplinen oder schlicht durch das Ignorieren von real existierender Komplexität etwa über das Vergessen älterer Publikationen. Allerdings müssen diese Strukturen für die Reduktion von Komplexität eigene Kriterien für die Definition von Vergleichselementen herstellen. Themen, Schulen und Disziplinen müssen intern sinnför-

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mige Kriterien der Abgrenzung gegenüber ihren Pendants festlegen, um entscheiden zu können, welche der erreichbaren und im Prinzip auch vergleichbaren Elemente der Wissenschaft tatsächlich verglichen werden sollen und welche nicht. Das Problem stellt sich auch für das Ignorieren von Elementen innerhalb der Weltgesellschaft. Die Weltgesellschaft konstituiert sich strukturell über ein potentiell globales Kommunikationsnetz und semantisch über ihre Selbstbeschreibung als Weltgesellschaft, d.h. die Gesamtheit aller Elemente der Weltgesellschaft kann in jeder Kommunikation erwartbar sein.17 Unter diesen Rahmenbedingungen können Funktionssysteme nicht einfach von der Mehrheit potentieller Vergleichselemente nicht wissen, d.h. sie brauchen für das Ignorieren dieser Elemente ebenfalls Kriterien. Die Wissenschaft müsste z.B. Standards für die Beantwortung der Frage bereithalten, welche Publikation sie ignorieren soll und welche nicht. Bezogen auf den Spezialfall des Ignorierens älterer Publikationen bedeutet dies, dass eine Zeit definiert werden müsste, jenseits derer Publikationen nicht mehr zur Kenntnis genommen werden. Für diese Definition benötigt das System jedoch Kriterien, die es selbst herstellen müsste, es sei denn, es verwendet dafür eine andere bereits vorhandene Struktur, z.B. irgendeine historische Zäsur. Dies wäre ein funktionales Äquivalent zu nationalen Grenzen, jedoch ist eine solche von außen vorgegebene Zeitgrenze für das Wissenschaftssystem nicht in Sicht. Im Politiksystem, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wird Komplexität über Schemata und Skripte der öffentlichen Meinung reduziert. Sie legen Art und Umfang der zu diskutierenden Themen fest, verändern sie im Wandel der Zeit und konzipieren Entscheidungen, die dann durch das System in kollektiv verbindlicher Form festgelegt werden. Die öffentliche Meinung schließt damit große Mengen möglicher politischer Probleme, über die ebenfalls Entscheidungen gefällt werden könnten, aus und reduziert so Komplexität für das System. Sie ist dennoch nicht funktional äquivalent zu nationalen Grenzen. Im Weltfunktionssystem der Politik kommt überall öffentliche Meinung vor, es besteht eine Fülle möglicher politischer Problemlagen und Interessengruppen, deren regionale Bezüge und Reichweiten variieren, sich teilweise einander abgrenzen, teilweise jedoch auch überlappen können. An sich halten Schemata und Skripte der öffentlichen Meinung keine Kriterien für die Entscheidung bereit, für welche der vielfältigen politischen Kommunikationszusammenhänge der Weltgesellschaft sie relevant sind. Schemata wie »Klimawandel« oder Weltwirtschaftskrise« etwa bezeichnen überregionale oder sogar globale Probleme, die sich von ihrem Thema und den durch sie vermittelten politischen Positionen im Prinzip überall für

17 Luhmann 1975: 53-55.

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politische Entscheidungen eignen würden. Die Politik muss deshalb jeweils selbst bestimmen, welche Sachbestände einer kollektiv verbindlichen Entscheidung zugeführt werden sollen. Nationale Grenzen könnten hier ein Kriterium der Abgrenzung geschaffen haben, durch das diese Zuordnungsleistung erbracht werden kann. Nationale Grenzen können Komplexität jedoch auch dann reduzieren, wenn die Kapazität des Systems z.B. durch eine Überfülle von Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Elementen vollständig ausgelastet ist. Das Funktionssystem kann unter Nutzung nationaler Grenzen dann dennoch die für es typischen Selektions- und Standardisierungsstrukturen in je eigenen Segmenten herausbilden. Diese segmentäre Struktur kann dann zum Gegenstand der Selbstbeschreibung des Systems werden und damit einen übergeordneten Vergleichszusammenhang eröffnen, der sich zwar nicht mehr auf einzelne Ereignisse, sondern lediglich auf die verschiedenen Standards, die für deren Vergleich jeweils verwendet werden, bezieht, sich dafür jedoch global ausdehnt. Entscheidend ist, dass dadurch eine Standardisierung mit einem Aggregationsgrad entsteht, der groß genug ist, alle global vorkommenden Elemente des Systems einem Vergleich zuzuführen. Im Zuge der Entstehung dieser Standardisierung zweiten Grades geht die Funktion der Komplexitätsreduktion auf die neuen Selektionsmechanismen über. Raumgrenzen verlieren ihre Relevanz und ihre Auflösung ist nicht mehr dysfunktional. Das Modell bringt eine Reihe von Faktoren zusammen, in deren Zentrum vor allem die von Werron vorgestellte Heuristik öffentlicher Vergleichszusammenhänge steht. Aus den genannten komplexitätstheoretischen Gründen fügt sich diese Heuristik in ein Stufenmodell der Globalisierung von Funktionssystemen ein, das im Prinzip eine Mehrzahl von Ebenen mit jeweils gleichen Eigenschaften umfassen kann. Auf jeder Ebene findet sich ein Publikum, das anhand von Kriterien einen Vergleich der Elemente des Systems durchführt und einen Vergleichszusammenhang konstituiert. Das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen benötigt eine Dynamik der Öffnung und Schließung, des Auf- und Abbaus von Kommunikationsgrenzen, die durch die Dynamik nationaler Integration bedient worden sein könnte. Dieses Modell lässt sich durch theoretische Erwägung und durch Nutzung und Kombination vorhandener Theorien gewinnen und leitet damit aus bereits bewährter Theorie eine plausible Analyse für das vorliegende Problem ab. Ist dieses Modell jedoch auch empirisch belastbar? Im Rahmen dieser funktionalen Analyse heißt das: Sind die empirischen Voraussetzungen für die Plausibilität des Modells gegeben? Für eine Heranführung an eine empirische Prüfung scheinen zwei Aspekte des Modells wesentlich zu sein. Zum einen kommt es in struktureller Hinsicht zur Etablierung von räumlichen Kommunikationsgrenzen, innerhalb derer sich

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jeweils ein Vergleichszusammenhang konstituiert. In semantischer Hinsicht etabliert das Publikum zum anderen innerhalb des Vergleichszusammenhangs eine Selbstbeschreibungs- oder Beobachtungsebene, die den Vergleich der Ereignisse anhand von Kriterien durchführt. Da beide Prozesse auf allen Ebenen des Stufenmodells vorkommen können, macht sich ein weites empirisches Feld auf. Um einerseits das empirische Feld sinnvoll einzuschränken und andererseits die Pluralität der Ebenen in den Blick zu bekommen, bietet es sich an, die beiden Leitaspekte auf verschiedenen Ebenen zu untersuchen. Der Vorschlag lautet deshalb, die Konstitution des Vergleichszusammenhangs auf einer ersten Ebene zu untersuchen, den Vergleich jedoch auf der hierarchisch darüber liegenden Ebene in den Blick zu nehmen. Demgemäß werden die folgenden beiden Leitthesen für diese Arbeit formuliert. Die Thesen bilden dabei die aus dem Theorierahmen abgeleiteten idealtypischen Verläufe der Schließungs- und Öffnungsdynamik auf beiden Ebenen ab. Vor dem Hintergrund der hier vorgeschlagenen funktionalen Analyse formulieren sie die empirischen Voraussetzungen, die für die Plausibilität des theoretischen Modells gegeben sein sollten: In struktureller Hinsicht kommt es zu einer Ausdifferenzierung interner Vergleichszusammenhänge, deren Abschließung sich am Aufbau segmentärer Kommunikationsgrenzen bemerkbar macht. Dem Schließungsprozess folgt ein Öffnungsprozess, durch den die segmentären Kommunikationsgrenzen wieder abgebaut werden und sich ein übergreifender Vergleichszusammenhang etabliert. In semantischer Hinsicht kommt es mit der Ausdifferenzierung funktionssysteminterner Vergleichszusammenhänge zu einer Selbstbeschreibung des Systems, welche die Vergleichszusammenhänge auf einer hierarchisch übergeordneten Ebene als Gegenstand eines neuen Vergleichs behandelt. Damit setzt ein Standardisierungsprozess zweiten Grades ein, in dessen Vollzug die Unterschiede zwischen den Vergleichszusammenhängen schwinden und damit diese Vergleichssemantik zunehmend wieder verstummt. Vor dem Hintergrund der methodologischen Diskussion über die Reichweite funktionaler Analysen muss genauer spezifiziert werden, welches Problem mit der Prüfung dieser Thesen adressiert wird und welche Probleme ungelöst bleiben.18 Als Fazit dieser verschiedene Interpretationen von Funktionsaussagen zusammenbringenden Diskussion muss festgehalten werden, dass Funktionsaussagen weder zur Erklärung für die Entstehung, noch für das Vorhandensein, noch für das Verschwinden einer Struktur herangezogen werden können. Eine Struk-

18 Vgl. Merton 1949; Nagel 1956; Hempel 1959; Wortmann 2007

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tur kann eine Funktion nur als ihre Wirkung ausüben. Als ihre zukünftige Wirkung kann die Funktion nicht selbst die zeitlich ja vorausgehende Ursache des Entstehens der Struktur sein. Aufgrund dieser logischen Abfolge von erst Ursache, dann Struktur und dann Wirkung bzw. Funktion, führt der Versuch, die Entstehung oder das Vorhandensein oder das Verschwinden einer Struktur über ihre Funktion zu erklären zu einem funktionalistischen Fehlschluss.19 Die hier vorgeschlagene funktionale Analyse verfolgt deshalb keinesfalls einen genetischen Erklärungsanspruch, bei dem die herausgearbeitete Funktion als Grund dafür missverstanden werden könnte, dass sich eine spezifische nationale Strukturdynamik abzeichnen müsse. Sie beschreibt vielmehr, auf welche Weise die hier in den Blick genommene nationale Strukturdynamik zu den jeweils betrachteten historischen Zeitpunkten ihre Funktion erfüllt. Weil, das ist die These der Arbeit, – aus welchen Gründen auch immer - eine spezifische nationale Strukturdynamik vorliegt und diese Strukturdynamik eine bestimmte Wirkung entfaltet, kann die in dem vorliegenden Modell bestimmte Funktion ausgeübt werden. Um diese These der Möglichkeit einer Falsifikation auszusetzen, muss das Vorliegen der Funktionserfordernisse empirisch geprüft werden. Darüber hinaus soll die funktionale Analyse auch nicht erklären, warum die betrachtete Funktion gerade durch eine spezifische Dynamik nationaler Grenzen und nicht durch andere funktional äquivalente Strukturen ausgefüllt wird. Die Dynamik nationaler Grenzen wird als möglicher Funktionsträger und daher als Gegenstand der empirischen Untersuchung aufgrund umfangreicher Hinweise aus der bisherigen Forschung gewählt, die nahe legen, dass diese zur Erfüllung der im Modell angenommen Funktion in Frage kommen könnten.

19 Vgl. etwas ausführlicher Schimank 2000: 101-102.

4 Das Untersuchungsfeld

Für eine Operationalisierung der Thesen muss zunächst das Untersuchungsfeld abgesteckt werden. Es muss festgelegt werden, welche Ebene des Modells in den Blick genommen wird, welcher Untersuchungszeitraum zur Erfassung der Schließungs- und Öffnungsdynamiken gewählt werden sollte, und natürlich muss die Auswahl der zu untersuchenden Funktionssysteme getroffen werden. Die Auswahl der Ebene ist durch die Fragestellung nach der Funktion nationaler Kommunikationsgrenzen bereits festgelegt. Geprüft werden soll damit die Frage, ob und inwiefern die Thesen sich im Hinblick auf nationale Öffnungsund Schließungsprozesse bewähren. Die Etablierung von Vergleichszusammenhängen ist zwar theoretisch auf jeder denkbaren Ebene möglich, es gibt jedoch Grund anzunehmen, dass sich gerade eine Schließung auf nationaler Ebene besonders gut für eine Komplexitätsreduktion von Vergleichszusammenhängen eignet. Zwei Argumente scheinen hier besonders relevant. Ein Argument bezieht sich auf den infolge von Luhmann oftmals beschriebenen Mechanismus der strukturellen Kopplung der Funktionssysteme mit dem segmentär in Staaten differenzierten Politiksystem. 1 Für das Politiksystem ist eine besonders deutliche segmentäre Differenzierung kennzeichnend, und diese liegt in der modernen Gesellschaft in aller Regel als eine nationalstaatliche Differenzierung vor. Diese besonders deutliche segmentäre Differenzierung rührt her von der Besonderheit des auf territoriale Integrität angewiesenen Mediums des Politiksystems. Macht funktioniert als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium nur unter Einbeziehung physischer Gewalt, die bei machtbasierter Kommunikation als »Vermeidungsalternative« fungiert und damit Anschlüsse der Kommunikation sichert. Physische Gewalt bzw. die plausible Symbolisierung der Möglichkeit physische Gewalt auszuüben, ist daher notwendig zur Er-

1

Vgl. Luhmann 1997: 166–167; Luhmann 2000: 227.

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zeugung von Macht.2 Eine solche Plausibilisierung der Möglichkeit von Gewaltanwendung setzt jedoch die Erreichbarkeit von Körpern voraus, an denen die Gewalt gegebenenfalls ausgeübt werden kann. Eine effiziente Gewaltanwendung an Körpern erfordert daher körperliche Kopräsenz und diese eine territoriale Erreichbarkeit.3 Die Leistung, die das Politiksystem durch diese territorial sichergestellte Gewaltandrohung für andere Funktionssysteme vollbringt, besteht daher darin, dass diese relativ gewaltfrei operieren können. 4 Um diese Leistung auch annehmen zu können, liegt es also für die anderen Funktionssysteme nahe, sich der nationalstaatlichen Differenzierung des Politiksystems durch strukturelle Kopplung anzupassen. Ein weiterer mit der segmentären Differenzierung des Politiksystems und entsprechenden strukturellen Kopplungen zusammenhängender Grund für die besondere Eignung nationaler Grenzen für die Konstitution von Vergleichszusammenhängen ist Sprache. Mit der Entstehung von Nationalstaaten und nationaler Integration kommt es zur Ausbildung von einheitlichen Nationalsprachen. In Frankreich z. B. herrscht noch am Ende des 18. Jahrhunderts eine enorme Vielfalt an Dialekten, die in den Grenzregionen teilweise mehr Ähnlichkeiten mit der Sprache des Nachbarlandes als mit dem in Paris gesprochenen Französisch aufweisen. Da die meisten Franzosen Analphabeten sind und auf eine Verständigung über gesprochene Sprache angewiesen sind, ist eine innernationale Kommunikation oft nicht gewährleistet.5 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Verbreitung des Zeitungswesens, zunehmender Teilhabe der Bevölkerung am politischen Geschehen im Pariser Zentrum und vor allem mit der Entstehung des Schulwesens setzt sich das in Paris gesprochene Französisch als einheitliche Nationalsprache in ganz Frankreich durch.6 Die Entstehung einer im Zuge der nationalstaatlichen Integration sich durchsetzenden Nationalsprache markiert in vielen Fällen eine deutlich sichtbare sprachliche Grenze. Da alle Funktionssysteme mit Kommunikation und dadurch mit Sprache operieren, sind diese Sprachgrenzen auch für alle Funktionssysteme relevant. Solche Abgrenzungen segmentärer Kommunikationszusammenhänge innerhalb von Funktionssystemen durch strukturelle Kopplung mit dem Politiksystem und durch Etablierung von Sprachgrenzen dienen gleichsam als »focal

2

Luhmann 2000: 18–68, bes. 47 u. 55.

3

Schimank 2005: 397.

4

Luhmann 2000: 56.

5

Verrière 2000: 246ff.; Noiriel 1992: 93f.

6

Verrière 2000: 258ff.

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point« bei der Entstehung von Vergleichszusammenhängen.7 Ein Siedler in einer Prärie ist z. B. ein »focal point« für nachkommende Siedler, die sich eher in dessen Nähe niederlassen als an einem beliebigen anderen Ort. Es entsteht eine Siedlung.8 Die Nutzung einer bestimmten Struktur für verschiedenartige Funktionen erweist sich als vorteilhaft gegenüber diversifizierten Funktionsbezügen. In diesem Sinne ist zu erwarten, dass gerade Staatsgrenzen, die bereits eine Reihe von Funktionen auf sich vereinen,9 auch für weitere Funktionen, für deren Erfüllung sie sich der Form nach eignen, genutzt werden. Mit dieser Einschränkung auf die nationale Ebene bietet sich jedoch mit den Nationalstaaten der Weltgesellschaft immer noch ein immenses empirisches Feld an. Der Vorschlag ist hier, die Studie exemplarisch auf die beiden Nationalstaaten Deutschland und Frankreich zu konzentrieren. Im Prinzip würden sich natürlich auch andere Nationalstaaten für die Untersuchung eignen, mit Deutschland und Frankreich fällt die Wahl auf zwei der größeren europäischen Nationalstaaten, deren moderne Geschichte gut erforscht ist. Zudem ist die Wahl gerade vor dem Hintergrund der Besonderheit des deutsch-französischen Verhältnisses, das über lange Zeit durch die so genannte »Erbfeindschaft« geprägt ist, interessant. Der Untersuchungszeitraum sollte in etwa das 19. und 20. Jahrhundert umfassen. Die These von Alois Hahn, dass eine Entstehung neuer nationaler Grenzen gerade für das 19. Jahrhundert zu verzeichnen sei, rückt diesen Zeitraum in das Zentrum der Aufmerksamkeit.10 Das 20. Jahrhundert erscheint für viele Globalisierungsansätze als das Jahrhundert einer beschleunigten Globalisierung, Entgrenzung oder Denationalisierung. 11 Für das 20. Jahrhundert scheint daher ein Abbau nationaler Grenzen kennzeichnend. Um die Dynamik des Auf- und Abbaus nationaler Grenzen in den Blick zu bekommen, wird daher ein diese beiden Jahrhunderte umfassender Untersuchungszeitraum notwendig sein. Die weitere Operationalisierung der Thesen hängt ab von der Wahl der Funktionssysteme, für die sie geprüft werden sollen. Wiederum wären im Prinzip alle Funktionssysteme mögliche Kandidaten für eine empirische Untersuchung des Ausgangsmodells. Wie kann hier eine sinnvolle Auswahl getroffen werden? Im Kern des Modells steht die Dynamik vom Auf- und Abbau nationaler Kommunikationsgrenzen. Nationale Grenzen sind jedoch nicht für alle Funkti-

7

Vgl. Schelling 1960: 83–118.

8

Schimank 2002: 223.

9

Schimank 2005.

10 Hahn 1993. 11 Vgl. nur Zürn 1998.

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onssysteme in gleichem Maße bedeutungsvoll. Für das Politik-, Rechts- und Erziehungssystem dürfte die Bedeutung nationaler Grenzen höher sein als für das Wirtschafts-, Wissenschafts-, Religions- oder Kunstsystem. Während z. B. das Politiksystem allein wegen seines Machtmediums auf territoriale Grenzen angewiesen ist, gibt es aus der Logik der Wissenschaft oder Kunst heraus kein Erfordernis für interne Kommunikationsgrenzen. Entscheidend dürfte daher die Frage sein, ob eine Dynamik des Auf- und Abbaus nationaler Kommunikationsgrenzen in Funktionssystemen unabhängig von deren funktionaler Bedeutung für das Operieren des jeweiligen Systems zu verzeichnen ist. Aus diesem Grund erscheint es ratsam, zwei Funktionssysteme für die Untersuchung auszuwählen, für die die Bedeutung interner Kommunikationsgrenzen möglichst stark voneinander abweicht. Ganz allgemein lässt sich die Bedeutung von Raumgrenzen für Funktionssysteme dem Erwartungsstil zuordnen, der in dem jeweiligen Funktionssystem vorherrscht. Luhmann unterscheidet in seiner Analyse zur Weltgesellschaft zwischen normativem und kognitivem Erwartungsstil. 12 Normatives Erwarten ist gegen den Enttäuschungsfall immun. Diese Erwartung wird also aufrechterhalten und auch dann nicht modifiziert, wenn sie in der Realität nicht eintritt. Kognitives Erwarten zeichnet sich hingegen durch Lernfähigkeit aus. Der Enttäuschungsfall führt zu einer entsprechenden Modifikation der Erwartung. Kognitives Erwarten kann sich also selbst an das Objekt der Erwartung anpassen, normatives Erwarten ist demgegenüber starr und angewiesen auf Mittel zur Anpassung des Objektes, auf das sich die Erwartung richtet. Das Paradebeispiel für ein durch normatives Erwarten gekennzeichnetes Funktionssystem ist das Politiksystem. Da politisches Entscheiden kollektiv bindend sein soll, muss es Enttäuschungen der mit den Entscheidungen verbundenen Erwartungen sanktionieren. Zur Durchsetzung der Sanktionen und dem damit verbundenen effektiven Einsatz von Gewalt ist es auf territoriale Grenzen angewiesen, die für kein anderes Funktionssystem daher eine so zentrale Bedeutung zu haben scheinen wie für das Politiksystem. Im Gegensatz zum durch normatives Erwarten geprägten Politiksystem sind durch kognitives Erwarten geprägte Funktionssysteme an keinerlei Macht und territoriale Grenzen gebunden. Im Gegenteil, da kognitives Erwarten modifikationsfähig und auf Lernen angelegt ist und Lernen nicht an territorialen Grenzen aufhört, müssen diese unter Anwendung des kognitiven Erwartungsstils ständig überkreuzt werden.

12 Luhmann 1975: 55–58.

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Das Paradebeispiel für ein durch kognitives Erwarten geprägtes Funktionssystem ist das Wissenschaftssystem. Wissenschaftliche Theorien und Forschungsmethoden bieten als Programme des Wissenschaftssystems eine Struktur, die sich par excellence eignet zur Umsetzung eines kognitiven Erwartungsstils, indem sie Regeln des internen Umgangs mit Erwartungsenttäuschungen bereithalten. Aus der Perspektive dieser Anlage des Wissenschaftssystems ist die Bedeutung von territorialen Grenzen daher als äußerst gering einzuschätzen bzw. sie sollten im Grunde gar nicht vorkommen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen bietet es sich an, das Politiksystem und das Wissenschaftssystem in die Untersuchung einzubeziehen. Die Operationslogik dieser Funktionssysteme lässt eine einander möglichst divergierende Bedeutung interner, segmentär-nationaler Kommunikationsgrenzen erwarten. Wenn dennoch für beide Schließungs- und Öffnungsdynamiken sowie ein hierarchischer Aufbau von Vergleichszusammenhängen diagnostiziert werden können, spräche dies für eine übergreifende Gültigkeit der hier vorgeschlagenen funktionalen Analyse. Es schließen sich deshalb hier zwei Fallstudien – einmal zum Wissenschaftssystem und einmal zum Politiksystem – an, die die aus dem Theorierahmen abgeleiteten Forschungsthesen jeweils in Hinsicht auf die Spezifika dieser beiden Funktionssysteme und in Hinsicht auf nationale Schließungs- und Öffnungsprozesse operationalisieren und empirisch untersuchen. Entsprechend der unterschiedlichen Stoßrichtung der Thesen, deren erste sich auf eine Dynamik der Nationalisierung und Denationalisierung der Strukturen von Vergleichszusammenhängen bezieht und deren zweite auf eine Dynamik des internationalen Vergleichs von semantisch konstruierten nationalen Einheiten abzielt, werden für das Wissenschaftssystem und für das Politiksystem im Folgenden jeweils eine Struktur- und eine Semantikanalyse mit je passenden Methoden durchgeführt. Die Wahl der Funktionssysteme bestimmt auch das jeweilige Design für deren Untersuchung. Die im weiteren Argumentationsgang auszuwählenden Indikatoren struktureller und semantischer Schließung im Wissenschaftssystem, nämlich Strukturen nationaler Zitationszusammenhänge und Semantiken nationaler Selbstbeschreibung der Wissenschaft, sind bislang in der Forschung nicht in einem Ausmaß behandelt worden, das erlauben würde, die Wissenschaft durch eine Metaanalyse als Ganzes in den Blick zu nehmen. Die Arbeit führt deshalb eine eigene Erhebung von Zitationsdaten sowie eine Recherche von Primärmaterial nationaler Semantiken in der Wissenschaft durch. Der damit verbundene Aufwand verlangt allerdings eine weitere Einschränkung des Untersuchungsfelds auf bestimmte, auszuwählende Disziplinen. Der Vorschlag lautet hier, zwei Fachrichtungen auszuwählen, die mit Blick auf die

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spezifische Fragestellung und das spezifische Untersuchungsfeld der Arbeit mehrere Bedingungen erfüllen: Erstens sollen die Disziplinen einen möglichst globalen Charakter haben, d. h. möglichst in vielen verschiedenen Ländern in vergleichbarer Weise vorkommen, so dass von einer internen Segmentierung der Disziplinen in nationale Vergleichszusammenhänge überhaupt sinnvoll gesprochen werden kann. Zweitens sollten die ausgewählten Fachrichtungen sowohl historisch gut erforscht sein als auch für die Untersuchung ausreichend Material zur Verfügung stellen können, d. h., sie sollten zu den großen Disziplinen zählen, die in den Untersuchungsländern Deutschland und Frankreich gut verankert sind und dort jeweils eine starke Basis haben. Drittens sollten sie in Deutschland und Frankreich eine möglichst bis zum Beginn des Untersuchungszeitraums um 1800 zurückreichende Geschichte haben, damit man sie über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg auch sinnvollerweise beobachten kann. Viertens und letztens sollten die ausgewählten Disziplinen im Hinblick auf ihre Affinität zu nationalen Differenzierungen möglichst voneinander unterschiedlich sein, um durch die Auswahl der Fachrichtungen eine gewisse Kontrolle über die Frage zu erlangen, ob Dynamiken nationaler Strukturen und Semantiken möglicherweise disziplinenspezifisch variieren oder eher eine generelle Eigenschaft wissenschaftlicher Disziplinen im Prozess der Globalisierung sind. Diese Vorbedingungen schränken den Kreis möglicher Disziplinen für die Analyse bereits erheblich ein. Ausgeschlossen werden kulturspezifische Fachrichtungen, wie etwa die Volkskunde oder die Germanistik, weil man davon ausgehen kann, dass sie keine vergleichbar starke Basis in verschiedenen Ländern haben. Wegen ihrer zu kurzen Lebensspanne von der Auswahl ausgeschlossen werden weiterhin alle bereits ausgestorbenen bzw. in anderen Disziplinen aufgegangenen Fächer, wie etwa die Staatswissenschaft oder die Tierpsychologie, als auch alle Spezial- oder Subdisziplinen, wie etwa die Technische Chemie oder die Genetik, oder auch relativ junge Disziplinen wie die Theaterwissenschaft oder die Medienwissenschaft. Die beiden Disziplinen, die alle genannten Bedingungen hingegen erfüllen und deshalb für die Untersuchung ausgewählt werden, sind die Physik und die Geschichtswissenschaft. Sie sind global relativ gut verstreut, in Deutschland und Frankreich gut verankert und auch historisch vergleichsweise gut erforscht, sie sind beide relativ alt und differenzieren sich zu Beginn bzw. gegen Mitte des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplinen aus. Schließlich sind sie in ihrem Bezug zum nationalen Raum sehr unterschiedlich. Für die Physik als ideologieferne, formalisierte Wissenschaft ist eine geringere Bedeutung interner nationaler Differenzierung zu erwarten als für die Geschichtswissenschaft, die als Legiti-

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mationswissenschaft für nationale Grenzen und als erzählende Wissenschaft einen stärkeren Bezug zu Nationalkultur und Nationalsprache hat. Im Politiksystem stellt sich die Situation anders dar. Wie im weiteren Argumentationsgang noch genauer zu erläutern sein wird, gibt es mit dem Staatsangehörigkeitsrecht und der Semantik der Nation für das Politiksystem verwendbare Indikatoren struktureller und semantischer Schließung, die erlauben, nationale Segmente des Politiksystems als Ganzes zu untersuchen. Die historische Entwicklung der Staatsangehörigkeit und der politischen Nationssemantik sind geschichtswissenschaftlich relativ gut aufgearbeitete Themen. Eine weitere Einschränkung auf bestimmte Felder der Politik ist daher zur Bewältigung der Forschungsaufgabe nicht notwendig.

Teil II: Die empirische Untersuchung

5 Nationale Grenzen in der Wissenschaft

Dieses Kapitel stellt sich die Aufgabe, die erste Leitthese bezüglich der Strukturdynamiken nationaler Vergleichszusammenhänge im Hinblick auf die wissenschaftlichen Disziplinen Physik und Geschichtswissenschaft für die Länder Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert zu untersuchen. Dafür muss diese These so operationalisiert werden, dass sie eine entsprechende empirische Untersuchung des Wissenschaftssystems anleiten kann. Zentral ist daher zunächst eine operable Definition der Vergleichselemente bzw. des Vergleichszusammenhangs für die Wissenschaft. Der Vergleichszusammenhang konstituiert sich durch den Vergleich der Systemelemente. Als Element des Wissenschaftssystems gilt nicht schlechthin jede wissenschaftliche Kommunikation, also jede Kommunikation, die ihre Umwelt anhand der Unterscheidung zwischen »wahr« und »unwahr« beobachtet. Der Prozess der Forschung und damit zusammenhängende informelle und situationsgebundene Kommunikationen etwa in einem Interaktionszusammenhang der Bewertung oder der Kritik von Forschung stellen streng genommen keine Elemente des Wissenschaftssystems dar, weil sie als solche für die Wissenschaft folgenlos sind. Das Gleiche gilt natürlich für jede wissenschaftliche Diskussion etwa in Universitätsseminaren oder wissenschaftlichen Tagungen. Erst die Möglichkeit einer systemweiten Integration der kommunizierten kognitiven Gehalte macht ein Element wissenschaftlicher Kommunikation anschlussfähig für die Autopoiesis des Wissenschaftssystems. Dafür müssen die Systemelemente eine vom Wissenschaftssystem selbst vorgegebene Form annehmen, nämlich die wissenschaftliche Publikation. Diese kann jederzeit als Anschluss an eine weitere wissenschaftliche Publikation fungieren und damit im Prinzip als ein Element eines systemweiten Kommunikationszusammenhangs dienen.

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Die Elemente der Wissenschaft im Sinne eines autopoietisch geschlossenen Funktionssystems sind damit wissenschaftliche Publikationen.1 Wenn Publikationen die Elemente des Wissenschaftssystems sind, ergibt sich daraus zugleich, dass die Form des Anschlusses dieser Elemente untereinander die Zitation ist.2 Die Zitation innerhalb einer Publikation adressiert eine weitere Publikation und inkludiert sie damit in den Zusammenhang der Autopoiesis wissenschaftlicher Kommunikation. Nur im Zusammenhang mit der Zitation konstituiert sich damit die Publikation überhaupt erst als Element der Wissenschaft, weil Publikationen nur über Zitationen in den Kommunikationszusammenhang des Wissenschaftssystems aufgenommen werden können. Durch die Zitation wird der Elementcharakter der Publikation auch deshalb deutlich, weil sie die Publikation als ein auf den Akt des Zitierens reduzierbares Element behandelt. Obwohl die Publikation selbst natürlich eine komplexe Eigenstruktur hat, geht deren Sinngehalt zum weitaus überwiegenden Teil nicht in die durch die Zitation konstituierte Kommunikation ein. Aus der Konstitution wissenschaftlicher Kommunikation durch Publikation und Zitation folgt weiterhin eine Depersonalisierung der Wissenschaft, weil wissenschaftliche Kommunikation damit nicht mehr adäquat im Sinne einer Vernetzung der wissenschaftlichen Gemeinschaft beschrieben werden kann. Dass dies gilt, wird eindrücklich dadurch belegt, dass Publikationen auch dann noch zitiert werden können, wenn deren Autoren nicht mehr leben. Aus dem Publikation/Zitation-Schema der Autopoiesis wissenschaftlicher Kommunikation ergibt sich insgesamt, dass die Struktur des Wissenschaftssystems über Zitationsanalysen besonders präzise dargestellt werden kann. Die Publikationsform grenzt die autopoietische Kommunikation eindeutig ab von der großen Menge informeller wissenschaftlicher Kommunikationen und Interaktionen, in die Personen direkt inkludiert sind. Die Vernetzungsstruktur von Publikationen ist über Zitationen eindeutig abzulesen, weil sie nur über diese zustande kommt. Eine Besonderheit des Wissenschaftssystems ist das Fehlen einer systeminternen Differenzierung zwischen Leistungs- und Publikumsrollen. 3 Operation und Beobachtung der Wissenschaft vollziehen sich damit uno actu durch Publikation und Zitation. Das wissenschaftsinterne Publikum manifestiert sich gleichsam in Publikationen und Vergleiche, die das Publikum anstellt, können sich damit nur über Zitationen vollziehen. Ein Vergleichszusammenhang der Wissen-

1

Luhmann 1992: 432; Stichweh 1987.

2

Stichweh 1987: 460–464.

3

Luhmann 1992: 623–626; Stichweh 1988.

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schaft ist damit ein Zitationszusammenhang von wissenschaftlichen Publikationen. Ein national eingegrenzter Vergleichszusammenhang würde sich demnach in der Wissenschaft als nationaler Zitationszusammenhang darstellen, der insofern besteht, als es nationale Grenzen für Zitationsbezüge zwischen wissenschaftlichen Publikationen gibt. Mit Blick auf die Leitthese einer Strukturdynamik nationaler Vergleichszusammenhänge der Wissenschaft richtet sich die Frage damit darauf, wie eine Dynamik des Auf- und Abbaus solcher nationaler Grenzen für Zitationen über den Untersuchungszeitraum für Deutschland und Frankreich darstellbar ist. Ein Blick auf den Stand der Forschung zeigt, dass hier eine entsprechende empirische Untersuchung bislang weder durchgeführt wurde noch eine Methode dafür entwickelt worden ist. Analysen zu Nationalisierungs- und Denationalisierungsprozessen der Wissenschaft finden sich bisher vor allem in der Wissenschaftsgeschichte, in der neo-institutionalistischen Wissenschaftsforschung und in der Bibliometrie. Die zahlreichen Studien hierzu aus der Wissenschaftsgeschichte versuchen zumeist auf Grundlage der Auswertung historischer Quellen ein Urteil über die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit einer Disziplin in einem bestimmten Land zu bilden und bedienen sich nicht einer standardisierten Methode wie der bibliometrischen Auswertung von Zitationen. 4 Die neo-institutionalistisch angeleitete Wissenschaftsforschung richtet ihr empirisches Augenmerk vor allem auf organisationssoziologische Aspekte und auf die globale Diffusion und Institutionalisierung von Standards der Wissenschaft und der Wissenschaftspolitik.5 Die Bibliometrie behandelt das Thema schließlich anhand statistischer Verfahren. Weil Daten für historisch weiter zurückliegende Zeiträume entweder nicht vorliegen oder nur mit hohem Aufwand zu erheben sind, konzentriert sich der größte Teil dieser Studien auf die jüngere Vergangenheit. Der Science Citation Index etwa als zentrales Datenarchiv der Bibliometrie erhebt und katalogisiert Zitationen erst ab dem Jahr 1961. Die wenigen bibliometrischen Studien mit historischer Perspektive verwenden für die Messung nationaler Schließung oder transnationaler Vernetzung der Wissenschaft zumeist nicht Zitationen als

4

Vgl. stellvertretend nur Jessen/Vogel 2002; Metzler 2000; Kanz 1997; Crawford/Shinn/Sörlin 1993; Crawford 1992; Desser 1991; Pestre 1984; Pfetsch 1979; Schröder-Gudehus 1966; Beer 1960.

5

Vgl. vor allem Drori et al. (Hrsg.) 2003.

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Indikatoren, sondern wissenschaftliche Kooperationen und Co-Autorschaften und konzentrieren sich zudem auf wesentlich kürzere Zeitabschnitte.6 Vor dem Hintergrund dieses Mangels wird im Folgenden eine eigene passgenaue Zitationsanalyse durchgeführt, die in der Lage ist, die Dynamik nationaler Schließungs- und Öffnungsprozesse bei Zitationszusammenhängen über einen mehrere Jahrzehnte umfassenden Zeitraum abzubilden. Um dies tun zu können, müssen sowohl die relevanten Daten erhoben als auch eine passende Methode zu deren Auswertung entwickelt werden. Die Datenerhebung muss sich ihrerseits auf eine genauere Vorauswahl des Untersuchungsmaterials stützen, weil natürlich nicht alle zu den Untersuchungsdisziplinen zuzuordnenden Zitationen, die über den gesamten Untersuchungszeitraum und in den beiden Untersuchungsländern vorkommen, erhoben und ausgewertet werden können. Es wird also darauf ankommen, ein Sample repräsentativer Daten zu bestimmen. Darauf und mit Blick auf die bereits vorgenommenen Einschränkungen zum Untersuchungsfeld sollten die in das Sample aufzunehmenden Zitationen aus möglichst repräsentativen und zentralen Publikationen, die für das jeweilige Fach und Land zu den verschiedenen Messzeitpunkten bestehen, ausgewählt werden. Wie oben definiert, ist eine Zitation eine Verknüpfung zwischen zwei Publikationen, von denen die eine die zitierende und die andere die zitierte Publikation ist. Um nationale Schließungs- und Öffnungsdynamiken erfassen zu können, müssen daher alle in das Sample aufgenommenen Zitationen ihre zitierende Publikation in dem entsprechenden Untersuchungsland haben. Weiterhin sollte die zitierende Publikation aller in das Sample aufzunehmenden Zitationen eine repräsentative Stellung in der Kommunikationsstruktur der Untersuchungsdisziplin einnehmen. Auch einer Veränderung dieser Kommunikationsstruktur über die Zeit muss die Auswahl des Materials daher Rechnung tragen. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien werden im Folgenden die Zitationen aus für die jeweilige Disziplin und für das jeweilige Land repräsentativen Fachzeitschriften erhoben. Die folgenden Kapitel dienen der Begründung für die engere Auswahl der zu untersuchenden Zeitschriften aus der Reihe der bestehenden Fachzeitschriften der Disziplin und für den mit Blick auf den Wandel der disziplinären Kommunikationsstruktur gegebenenfalls vorzunehmenden Wechsel der Untersuchungszeitschriften während des Untersuchungszeitraums.

6

Vgl. etwa Leclerc/Gagné 1994; Luukkonen/Tijssen/Persson/Sivertsen 1993: Narin/Stevens/Whitlow 1990; Schott 1988; Schubert/Zsindely/Braun 1983; Burke/Price 1981; Beaver/Rosen 1979a; Beaver/Rosen 1979b; Beaver/Rosen 1978; Frame/ Narin/Carpenter 1977.

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5.1 A USWAHL

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5.1.1 Physikzeitschriften in Deutschland Um 1800 findet ein tief greifender Umbruch im Kommunikationssystem der Naturwissenschaften statt. Im Zuge dessen setzt sich vor allem das an Disziplinen orientierte wissenschaftliche Fachjournal gegenüber anderen Publikationsformen durch.7 Preisfragen der Akademien, Bücher, Briefe, allgemeinwissenschaftliche Journale und auch die dem Fachjournal verwandten Gesellschaftspublikationen etwa der Akademien treten in ihrer Bedeutung gegenüber dem Fachperiodikum nach und nach zurück. Die Preisfrage ist ein sehr frühes Medium wissenschaftlicher Kommunikation, mit dem die Akademien Prämien für richtig beantwortete Fragen aus dem Bereich ihrer Forschungen vergeben und so ihre Erkenntnisse weitläufig bekannt machen. Sie verschwindet jedoch um die Wende zum 19. Jahrhundert. Mindestens ebenso wichtig für die wissenschaftliche Kommunikation sind im 17. und 18. Jahrhundert jedoch Buchpublikationen und Briefe. Die ersten Zeitschriften, die Mitte des 17. Jahrhunderts entstehen, können zunächst mit Büchern und Briefen nicht konkurrieren, sondern orientieren sich sogar an diesen. Eine der ersten Zeitschriftentypen ist etwa die sich an Büchern anlehnende periodische Bibliographie, und der Zeitschriftenaufsatz hat noch bis in das 19. Jahrhundert hinein Briefcharakter und enthält Anrede und Schlussfloskel – im Fall der Annalen der Physik ist dies bis zum Jahre 1825 der Fall.8 Mit dem Anwachsen der Wissenschaft aber stellt sich die Kommunikation über Zeitschriften langfristig als das erfolgreichere Konzept heraus. Gegenüber dem Buch mit seiner langen Entstehungszeit ermöglicht die Zeitschrift eine schnellere Mitteilung auch von Teilergebnissen und vorläufigen Erkenntnissen. Im Vergleich zum Brief eröffnet die Zeitschrift die Möglichkeit, die individuelle Begrenzung der Korrespondenzen aufzubrechen und einen offenen Austausch von Erfahrungen, Kenntnissen und Meinungen in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft zu ermöglichen.9 Folgerichtig entstehen noch vor den Zeitschriften, aber deren Prinzip bereits vorwegnehmend, zentrale Sammelstellen für wissenschaftliche Briefe bei so genannten »Polyhistoren«, die die Briefe an interessier-

7

Vgl. zum Folgenden vor allem Stichweh 1984: 394–441. Zur Geschichte naturwissenschaftlicher Zeitschriften s. aber auch McKie 1979; Kronick 1976; Houghton 1975; Meadows 1974: 66–90.

8

Vgl. Hermann 1980: 58.

9

Vgl. Dann 1983: 72.

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te Leser weiterverteilen. Mit Durchsetzung der Zeitschrift wird diese Praxis obsolet.10 Insgesamt setzen sich Zeitschriften als vorrangiges Kommunikationsmittel der Naturwissenschaften durch. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts besteht das Zeitschriftensystem im Wesentlichen aus allgemeinwissenschaftlichen Journalen einerseits und Gesellschaftspublikationen andererseits. Bei Ersteren handelt es sich um private Unternehmungen, die sich durch ihren Erlös selbst finanzieren müssen. Sie orientieren sich deshalb an einem breiteren, zumeist regional begrenzten und nicht gebildeten Publikum und beschränken sich auf die Popularisierung allgemeiner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, ohne sich durch einen disziplinären Zuschnitt thematisch einzugrenzen. Für die wissenschaftliche Forschung besitzen sie kaum Bedeutung. Bei den Gesellschaftspublikationen kann zwischen den Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Bürgervereine einerseits und der Akademien andererseits differenziert werden. Die Vereinszeitschriften drucken im Wesentlichen die in den Versammlungen gehaltenen Vorträge im Nachhinein ab und enthalten zudem Informationen zu Vereinsangelegenheiten und Literaturbesprechungen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie sich vor allem an die jeweiligen Vereinsmitglieder richten.11 Die Bedeutung der Vereine für die Entwicklung der Naturwissenschaft wird insgesamt als eher gering eingeschätzt, da sie zumeist sogar ihre beschränkten wissenschaftlichen Ambitionen in ihren Statuten festhalten und es als Teil ihrer in Abgrenzung zu den Akademien gebildeten bürgerlichen Identität verstehen, nicht nur Fachleute, sondern gerade auch interessierte Laien und Praktiker als Mitglieder aufzunehmen.12 Demgegenüber kennzeichnet die Akademien wissenschaftliches Arbeiten auf höherem Niveau. Aber auch ihre Publikationen dienen vornehmlich dazu, bereits stattgefundene Kommunikation zu dokumentieren. Zudem werden sie den mit dem Wachstum und der inneren Differenzierung der Wissenschaft verbundenen Ansprüchen immer weniger gerecht, auch wenn die Veröffentlichungen gegenüber den populärwissenschaftlichen Journalen und den Vereinsjournalen wissenschaftlich brauchbarer sind. Neben der elitären Mitgliederpolitik der Akademien, die zu Zeiten des Wissenschaftswachstums dafür sorgt, dass immer mehr relevante Autoren von der Veröffentlichung in den Akademiejournalen ausgeschlos-

10 Zum Funktionswandel von Briefen in der Entwicklung der Physik vgl. Hermann 1980. 11 Siefert 1967: 155–159. Vgl. für einen Überblick über die wissenschaftlichen Vereinszeitschriften Müller 1965. 12 Strube 1979: 79–80, 85, 88, 96.

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sen bleiben, und den enormen Verzögerungen von bis zu zehn Jahren zwischen dem Zeitpunkt eines Vortrags und seiner Veröffentlichung scheitert das Akademiejournal vor allem an seiner mangelnden disziplinären Differenzierung. Die in den entstehenden Disziplinen sich spezialisierenden Wissenschaftler interessieren sich zunehmend mehr für die nun entstehenden, an ihrer Disziplin orientierten Fachjournale als für die Akademiepublikationen, deren enorme thematische Heterogenität aus Sicht einer einzelnen Disziplin sich immer weniger in einen sachlich sinnvollen Zusammenhang bringen lässt. Der Prozess der Ausdifferenzierung des Systems wissenschaftlicher Disziplinen, in dessen Verlauf Fachjournale sich zum dominanten Kommunikationsmedium der Naturwissenschaft entwickeln, spiegelt sich in der Entwicklung des Zeitschriftensystems selbst wider. 13 In der Frühphase der Fachjournale zu Beginn des 19. Jahrhunderts bieten diese zwar eine Spezialisierung gegenüber den Akademiepublikationen, jedoch gibt es um 1800 ebenso wenig die Physik als eigenständige Disziplin wie ein spezielles Physikfachjournal. Die Physik differenziert sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts aus der Naturlehre aus, die mit der Mathematik, der auch als »physica« bezeichneten Naturphilosophie und der Naturgeschichte sehr heterogene Teilbereiche umfasst. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeichnet sich zwar bereits die Ablösung dieser traditionellen Dreiteilung der Naturlehre ab, jedoch ist das moderne System naturwissenschaftlicher Disziplinen, das Chemie, Physik und Biologie klar nebeneinanderstellt, noch nicht vollständig etabliert.14 Insbesondere ist die Differenzierung von Physik und Chemie um 1800 noch nicht vollzogen. Sie setzt erst einige Jahre später in der Auseinandersetzung mit der Theorie der Imponderabilien ein, die chemisches Denken in Substanzen und auf Newton zurückgehende Vorstellungen von kleinsten Partikeln noch vereint. Erst als mit Augustin Fresnels Wellentheorie des Lichts 1820 der in der Theorie der Imponderabilien angenommene Zusammenhang von chemischen Substanzen einerseits und physikalischen Vorgängen andererseits in Frage gestellt wird, kommt es zur Ausdifferenzierung von Chemie und Physik aus der Naturlehre. Die zusätzliche Besinnung auf Problembereiche wie »Kraft« und »Bewegung« oder die Verbreitung von Wirkungen im Raum grenzt die Physik dann grundsätzlich gegen die Chemie ab und konstitu-

13 Vgl. zur These der Korrespondenz zwischen der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und den wissenschaftlichen Zeitschriften Meinel 1997: 138. 14 Vgl. zur Ausdifferenzierung der Physik in einer langfristigen Perspektive Krafft 1978. S. auch Jakubowski 1986.

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iert sie als eine Disziplin mit eigener Identität.15 Im weiteren Entwicklungsverlauf kommt es dann ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und in Deutschland verstärkt ab 1900 zu der grundlegenden Binnendifferenzierung in theoretische und experimentelle Physik.16 Die Fachjournale spiegeln diese Entwicklung wider. Der engen Verbindung von Chemie und Physik zu Beginn des 19. Jahrhunderts entspricht, dass sich die zeitgenössischen Fachzeitschriften noch teilweise der Chemie und der Physik gleichzeitig zuordnen. So enthält das von Johann Salomo Christoph Schweigger zwischen 1811 und 1833 herausgegebene Journal für Chemie und Physik, das sich zu einer führenden chemischen Fachzeitschrift entwickelt, ebenso für die Physik relevante Forschungsergebnisse wie die Annalen der Physik, die sich als führendes Organ der Physik etablieren, zu Anfang des 19. Jahrhunderts auch oft Aufsätze zu Themen der Chemie enthalten.17 Die Verbindung von Chemie und Physik äußert sich bei den Annalen zum Teil in der Geschichte ihrer Titel: Ursprünglich vom Haller Professor für Medizin Friedrich Albert Carl Gren 1790 als Journal der Physik gegründet und 1795 in Neues Journal der Physik unbenannt, wird die Zeitschrift ab 1799 von L.W. Gilbert als Annalen der Physik herausgegeben. Ab 1819 erscheint sie dann aber als Annalen der Physik und physikalischen Chemie, bevor 1824 J.C. Poggendorff die Herausgabe übernimmt und die Zeitschrift in Annalen der Physik und Chemie umbenennt. Erst ab 1900 wieder und noch bis heute erscheint sie unter dem Titel Annalen der Physik.18 Zwar rekurriert die Zeitschrift damit fast während des gesamten 19. Jahrhunderts in ihrem Titel auch auf die Chemie, jedoch geschieht dies später zunehmend nur noch aus Traditionsgründen.19 In dem Maße, wie sich die moderne Struktur naturwissenschaftlicher Disziplinen verfestigt, spezialisieren sich die Annalen im Laufe des Jahrhunderts inhaltlich auf die Physik, während sich andere Zeitschriften zunehmend der Chemie als ihrem ausschließlichen Themenbereich zuwenden.20

15 Vgl. zum Prozess der Ausdifferenzierung der Physik im 19. Jahrhundert ausführlich Stichweh 1984, zum Verhältnis der Physik zur Chemie besonders 94–172. 16 Vgl. Kant 1998 u. Hermann 1978 und ausführlich zur Geschichte der theoretischen Physik im 19. Jahrhundert Olesko 1980 u. Olesko 1991 sowie für das 20. Jahrhundert Eckert 1993. 17 Vgl. Meinel 1997: 145. 18 Vgl. Stichweh 1984: 432 u. Jakubowski 1986: 53. 19 Scheel 1925: 46. 20 Vgl. zur Entwicklung der chemischen Fachzeitschriften Harff 1941.

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Die Annalen der Physik sind daher mehr als jedes andere Journal während des gesamten 19. Jahrhunderts die entscheidende Referenz für die Physik in Deutschland. Die Annalen sind von Anfang an als Periodikum mit nationaler Tragweite gut verankert. Bereits der erste Band des Journals der Physik aus dem Jahr 1790 verzeichnet eine bemerkenswerte räumliche Verbreitung ihrer Subskribenten, die das gesamte mittel- und norddeutsche Gebiet sowie Oberschlesien mit Universitätsstädten wie Göttingen, Halle, Breslau, Berlin, Tübingen, Jena, Rostock, Greifswald, Karlsruhe oder Erlangen umfasst.21 Vor allem aber zeichnen sich die Annalen der Physik gegenüber anderen Zeitschriften mit ihrer nunmehr mehr als 200-jährigen Geschichte durch eine enorme Kontinuität aus. Sie kann sich dadurch als eine Instanz in der Physik etablieren, der viele der anderen, nur relativ kurz erscheinenden Zeitschriften des 19. Jahrhunderts keine Konkurrenz machen können. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass die Annalen der Physik bis mindestens zum Erscheinen der Zeitschrift für Physik im Jahr 1920 die zentralen Entwicklungen in der Physik begleiten, indem sie die meisten der für den Fortgang der Physik entscheidenden Aufsätze veröffentlichen. Folgt man der vielleicht einzigen Überblicksdarstellung über die Zeitschriften der exakten Naturwissenschaften in Deutschland von Werner Hollmann, so haben im Zeitraum von 1800 bis 1920 neben den Annalen der Physik noch zwanzig weitere Zeitschriften bestanden, die ihrem Titel nach in irgendeiner Form auf die Physik rekurrieren.22 Bei Hollmann nicht erwähnt sind die 1845 gegründeten Fortschritte der Physik und die 1882 ins Leben gerufenen Verhandlungen, die von der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin und damit einer gegen Ende des 19. Jahrhunderts zentralen Instanz der deutschen Physik herausgegebenen werden. 23 Sieht man bei diesen insgesamt zweiundzwanzig Publikationen aus den oben genannten Gründen von populärwissenschaftlichen Journalen und Gesellschaftspublikation etwa der Akademien ab sowie von allen Zeitschriften, die nur Referate anderweitig erschienener Originalarbeiten oder Übersetzungen enthalten, so bleiben insgesamt zehn Fachzeitschriften im engeren Sinne übrig, die potentiell mit den Annalen in Konkurrenz treten könnten. Dazu zählt die von Schelling und Hegel 1802 gegründete, gegen die experimentelle Physik gerichtete Neue Zeitschrift für spekulative Physik, die wegen ihrer nur drei erschienenen Hefte nicht weiter relevant ist. Das bereits erwähnte,

21 Vgl. Jakubowski 1986: 54. 22 Vgl. zum Folgenden vor allem Hollmann 1937, aber auch Kirchner 1958 u. Kirchner 1962. 23 Vgl. Dreisigacker/Rechenberg 1995.

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von 1811 bis 1833 erscheinende und von Johann Salomo Christoph Schweigger gegründete Journal für Chemie und Physik hingegen ist zumindest ansatzweise mit den Annalen der Physik in ein Konkurrenzverhältnis getreten. 24 Die Zeitschrift verzeichnet nicht nur einen merkbaren wirtschaftlichen Erfolg. Sie veröffentlicht wissenschaftliche Abhandlungen vor allem von führenden Chemikern der Zeit wie Klaproth, Hermbstädt, Berzelius, Gmelin, Oerstedt oder Crell.25 Da auch in den Annalen der Physik zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Chemie, wie erläutert, noch eine starke Bedeutung einnimmt und sie deshalb auch zu den führenden Fachjournalen der Chemie zu diesem Zeitpunkt gezählt wird, befinden sich trotz des chemischen Schwerpunkts von Schweiggers Journal beide Zeitschriften ungefähr im gleichen wissenschaftlichen Feld.26 Allerdings besteht kein Anlass zur Annahme, dass das Journal für Chemie und Physik die Annalen der Physik in ihrer Funktion, die sie für die Physik eingenommen hat, je abgelöst hat. Da das Journal für Chemie und Physik laut Harff die Physik »nur so weit berücksichtigt, als sie direkt in die Chemie übergreift und man letztere Wissenschaft in ihrer Gesamtheit behandeln wollte«27, ist im Gegenteil davon auszugehen, dass die Annalen trotz einer gewissen Konkurrenz zu Schweiggers Journal das wichtigste Forum für physikalische Probleme geblieben sind. Das von 1836 bis 1849 erscheinende Repetorium der Experimental-Physik ist zum größten Teil ein Referateorgan. Da alle hier veröffentlichten Originalarbeiten ausschließlich von ihrem Herausgeber, Gustav Theodor Fechner, stammen, besitzt diese Zeitschrift eine außerordentlich begrenzte Repräsentativität im Hinblick auf die deutsche Physikergemeinschaft. Das Archiv der Mathematik und Physik erscheint zwar von 1841 bis 1920 für einen relativ langen Zeitraum und steht auch thematisch der Physik nahe, zielt jedoch auf einen Gebrauch vor allem im mathematischen und physikalischen Schulunterricht ab und nimmt keinen entscheidenden Einfluss auf die wissenschaftliche Forschung. Die Zeitschrift für Mathematik und Physik hingegen übt größeren wissenschaftlichen Einfluss aus und erscheint ebenfalls von 1856 bis 1913 für einen relativ langen Zeitraum. Anders als der Titel jedoch suggeriert, wird die Physik lediglich am Rande berücksichtigt. Die Zeitschrift ist stark auf die angewandte Mathematik fokussiert. Die 1858 gegründete Kritische Zeitschrift für Chemie, Physik und Mathematik wird ihrer inhaltlichen Entwicklung entsprechend bereits 1860 in Zeitschrift für

24 Gleiche Einschätzung bei Stichweh 1984: 432. 25 Vgl. Harff 1941: 88. 26 Vgl. zur Stellung des Journals der Chemie und Physik und der Annalen der Physik in der Chemie Meinel 1997: 143. 27 Harff 1941: 88.

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Chemie und Pharmazie umbenannt und entfällt mit dieser Neuorientierung als Konkurrentin der Annalen der Physik. 1882 werden die Verhandlungen der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin gegründet, die bald neben den Annalen der Physik zu einem wichtigen Fachorgan avancieren. Ab der Jahrhundertwende verzeichnet die in Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft umbenannte Zeitschrift einen enormen Zuwachs von 404 Seiten im Jahr 1902 auf 1 374 Seiten im Jahr 1913. Damit kündigt sich eine Entwicklung an, im Zuge derer das Nachfolgeorgan der Verhandlungen, die Zeitschrift für Physik, die Annalen als führendes Fachorgan der Physik ablöst. Dies geschieht jedoch erst im Jahr 1920. Bis dahin können die Annalen ihre Führungsposition behaupten.28 Auch die beiden 1887 gegründeten Zeitschriften Gerlands Beiträge zur Geophysik und Zeitschrift für physikalische Chemie entwickeln sich zu renommierten Fachjournalen, besetzen jedoch mit der Geophysik bzw. der physikalischen Chemie lediglich Spezialgebiete der Physik. Diese Ausrichtung schränkt gleichermaßen das Konkurrenzverhältnis zu den allgemeiner ausgerichteten Annalen der Physik als auch ihre Repräsentativität für die Physik als Ganzes ein. Die Physikalische Zeitschrift wird im Jahre 1900 explizit als Ergänzung zu den durch Originalbeiträge gekennzeichneten Annalen der Physik gegründet und enthält Besprechungen, Mitteilungen und Berichte. Sie ist deshalb weder eine Konkurrentin der Annalen noch gehen von ihr entscheidende Impulse für das Fach aus. Diese Entwicklung des deutschen Zeitschriftensystems der Physik, die die Annalen der Physik mit deutlichem Abstand als führendes Fachorgan hervorbringt, deutet bereits darauf hin, dass die wesentlichen Entwicklungsschritte der Disziplin in Ermangelung von Alternativen in dieser Zeitschrift ihren Niederschlag gefunden haben müssen. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass die meisten der Epoche machenden Entdeckungen der Physik im Zeitraum von 1800 bis 1920 in den Annalen bekannt gemacht werden.29 Vereinfachend lassen sich in der Physik dieser Zeit zwei umfassende Forschungsstränge unterscheiden: Zum einen beschäftigt die Physik ein Forschungsfeld um Fragen der Elektrizität und des Magnetismus, aus dem etwa ab der Jahrhundertwende die Relativitätstheorie entsteht. Zum anderen ist die Erforschung der Wärme, die, ebenfalls um die Jahrhundertwende, Ideen anregt, in deren Folge es zur Entwicklung der Quan-

28 Vgl. Dreisigacker/Rechenberg 1995 u. Hund 1990. 29 Hans Schimank behauptet sogar, dass Gilbert, Herausgeber der Annalen von 1799 bis 1824, »alle umwälzenden Ereignisse, die sich in den Bezirken der Physik und Chemie vollzogen, […] aufmerksam verfolgt und in seinen Annalen registriert.« Vgl. Schimank 1963: 370, eigene Hervorhebung.

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tenmechanik kommt, ein großes Thema.30 Zu beiden Forschungssträngen veröffentlichen die Annalen die meisten der wesentlichen und einschlägigen Arbeiten.31 Im Bereich der Elektrizitäts- und Magnetismusforschung sind die um 1800 in den Annalen bekannt gemachten Entdeckungen Luigi Aloisio Galvanis über die »tierische Elektrizität« und die Arbeiten von Johann Wilhelm Ritter, dem Begründer der Elektrochemie, ausschlaggebend. Über Hans Christian Ørsteds Entdeckungen der Ablenkung einer Magnetnadel durch elektrischen Strom und Georg Simon Ohms Abhandlungen über Stromstärke und Spannung wird in den Annalen in den 1820er Jahren berichtet. Michael Faradays Experimentaluntersuchungen über Elektrizität der 1840er Jahre werden ebenso berücksichtigt wie Hermann Günther Graßmanns, Franz Ernst Neumanns und Wilhelm Eduard Webers Beiträge zur elektromagnetischen Kraft der 1850er oder Webers und Friedrich Wilhelm Georg Kohlrauschs Experimentaluntersuchung zum Verhältnis verschiedener elektrostatischer Kräfte im folgenden Jahrzehnt. Die von James Clerk Maxwell verfassten Abhandlungen zu den berühmten nach ihm benannten Gleichungen von 1861, 1862 und 1864 werden zunächst in den Annalen, aber auch überhaupt in Deutschland nicht zur Kenntnis genommen. Erst 1876, 1878 und 1884 setzen sich Hermann von Helmholtz bzw. Heinrich Rudolf Hertz mit ihnen in der Zeitschrift auseinander. Diese in den Annalen verfolgte Beschäftigung mit der Maxwell’schen Theorie bereitet dann den Boden für die Entwicklung der Relativitätstheorie Anfang des 20. Jahrhunderts. Eingeleitet wird diese Entwicklung mit der Reinterpretation der Gleichungen des elektromagnetischen Felds durch Lorentz, Jules Henri Poincaré und Albert Einstein. Für Einstein sind die Annalen das wichtigste Publikationsorgan, das die Entwicklung der Relativitätstheorie begleitet: 1905 veröffentlicht er mit »Zur Elektrodynamik bewegter Körper« den für die spezielle Relativitätstheorie grundlegenden Artikel in den Annalen und 1916 erscheint ebenfalls dort eine zusammenfassende Darstellung der allgemeinen Relativitätstheorie.32 Zwischendurch berücksichtigen die Annalen auch die wichtigen Beiträge anderer Physiker zur Relativitätsproblematik, etwa Hermann Minkowskis Darstellung der Maxwell’schen Theorie in einem mehrdimensionalen RaumZeit-Kontinuum, Max Plancks Arbeiten zur Lorentz’schen Mechanik oder Max Borns Aufsätze über durch die Relativitätstheorie aufgeworfene Einzelfragen.

30 Vgl. zur Ideengeschichte der Physik im entsprechenden Zeitraum Kuhn 2001: 287– 469. 31 Vgl. zum Folgenden Hund 1990 u. Kuhn 2001: 287–469. 32 Vgl. Hilz 2005.

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Im Bereich der Wärmeforschung beschäftigt die Physik um 1800 vor allem der Zusammenhang zwischen der Temperatur eines Körpers und dem in ihm enthaltenden Caloricumsgehalt. Entsprechend sind die Annalen voller Beiträge zu diesem Thema mit Regnault als einem der häufigsten Autoren. Zwar entgehen den Annalen in den 1840er Jahren die wichtigen Beiträge von Julius Robert Mayer zu diesem Forschungsthema, in denen der Begriff des Caloricums zu dem der thermischen Energie weiterentwickelt wird, allerdings berücksichtigen sie 1848 in einer Zusammenfassung James Prescott Joules Anwendung der Theorie. Ebenso werden Nicolas Léonard Sadi Carnots Arbeiten zur Wärmekraftmaschine von 1824 wenig beachtet, jedoch 1834 von Benoît Pierre Émile Clapeyrons in den Annalen konkret erläutert und bekannt gemacht. An die Gedanken Carnots und Joules anschließend veröffentlichen die Annalen dann in den 1850er Jahren Rudolf Julius Emanuel Clausius Entwurf einer Theorie der Thermodynamik und 1865 seine Weiterentwicklung der Theorie und Einführung des Entropiebegriffs. Zeitlich parallel dazu, aber wissenschaftlich einen Schritt voraus, entwickeln Krönig und Clausius die kinetische Gastheorie. Auch diese Entwicklung findet in den Annalen statt. Wiederum nicht in den Annalen vertreten sind Ludwig Boltzmanns Arbeiten zum H-Theorem in den 1870er Jahren. Andere Arbeiten Boltzmanns, etwa zur Geschwindigkeitsverteilung in Gasen oder zur Funktion von Frequenz und Temperatur oder auch Auseinandersetzungen mit seinen Thesen, finden ebenfalls nur zum Teil in den Annalen statt. Die Weiterentwicklung der Boltzmann’schen Theorie durch Wilhelm Wien führt dann in die Nähe der Quantenmechanik. Die Entwicklung der Quantenmechanik wird zum größten Teil von den Annalen begleitet. Dies betrifft die grundlegenden Arbeiten von Planck in den Jahren 1900 bis 1913 ebenso wie die zur Atommechanik sich entwickelnden Ausarbeitungen von Bohr, Sommerfeld, Schwarzschild und Epstein im Jahre 1916. Die durch die Spektralgesetze erreichte Verschärfung der Quantisierungsregeln allerdings, die schließlich zur Quantenmechanik von Werner Heisenberg, Max Born und Ernst Pascual Jordan führt, wird in den Annalen kaum noch registriert. Diese revolutionären Entwicklungen der Physik zu Beginn der 1920er Jahre finden nun vor allem in der 1920 neu gegründeten Zeitschrift für Physik statt. Zwar veröffentlicht Erwin Schrödinger 1926 und 1927 seine weiterführenden Arbeiten zur Quantenmechanik noch einmal in den Annalen der Physik, jedoch bevorzugt vor allem die jüngere Physikergeneration von Born und Heisenberg die Zeitschrift für Physik, die nun die Annalen als führendes Fachorgan der Physik ablöst.33

33 Vgl. Hilz 2005.

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Auch wenn die Annalen der Physik vielleicht nicht, wie Karl Scheel behauptet, »das gesamte physikalische Leben in Deutschland in sich vereinigte«34, so ist das von dieser Zeitschrift abgedeckte Spektrum der physikalischen Forschung in Deutschland enorm und zweifellos mit Blick auf die konkurrierenden Zeitschriften ohne Gleichen. Bis auf einige Ausnahmen sind die relevanten Entdeckungen und Fortschritte der Physik in den Annalen entweder als Originalbeiträge oder in Form von Berichten bzw. Zusammenfassungen vertreten. Das Jahr 1920 wird für die Physik in Deutschland als ein »Jahr der Neuordnung des Zeitschriftenwesens«35 charakterisiert. Tatsächlich findet ein Strukturwandel im System der deutschen Physikzeitschriften statt, der sich allerdings schon seit einiger Zeit angekündigt hat. Vorzeichen des Wandels ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts die zunehmende, gegen die Annalen der Physik gerichtete Kritik aus der deutschen Physikergemeinschaft. Für Unmut sorgt vor allem die lange Zeitspanne von fast drei Monaten, die zwischen dem Einreichen und dem Erscheinen eines Artikels liegt, aber auch die zu geringe Selektivität bei den angenommenen Aufsätzen und deren zu großer Umfang.36 Einstein schreibt 1919 an Sommerfeld: »[D]ie Unzufriedenheit über die Redaktion und über den Verleger der Annalen ist allgemein und berechtigt. Die Annalen drucken langsam, wählen so gut wie gar nicht aus, lassen unnötige Längen zu.«37

Als ersten Effekt dieses Stimmungswandels verzeichnen die von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft herausgegebenen Verhandlungen einen enormen Zuwachs. Ursprünglich gegründet, um Sitzungsberichte und kurze Niederschriften über die in den Versammlungen der Gesellschaft vorgetragenen Mitteilungen zu veröffentlichen, steigt der Anteil an Originalaufsätzen in den Verhandlungen seit der Jahrhundertwende enorm an. Ein wichtiger Grund dafür ist allem Anschein nach der Umstand, dass die Zeitschrift die eingereichten Arbeiten in der Regel in zwei bis drei Wochen zu veröffentlichen verspricht und dies offenbar auch einhält.38 Da, abgesehen von einer Unterbrechung im Ersten Weltkrieg, der Aufstieg der Zeitschrift anhält, denkt man bald daran, den neuen Trend durch Gründung einer Zeitschrift für Originalarbeiten aufzufangen. Die daraufhin 1920

34 Scheel 1925: 46. 35 Dreisigacker/Rechenberg 1995: F-136. 36 Vgl. Holl 1996: 129. 37 Zit. n. Hermann 1968: 60–61. 38 Vgl. die »Ankündigung« in Zeitschrift für Physik 1920, 1, 1, S. 1.

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gegründete Zeitschrift für Physik erscheint deshalb zunächst als »Ergänzung« zu den Verhandlungen.39 Wegen ihres anhaltenden Erfolges aber erscheint sie bereits ab 1921 als eigenständige Zeitschrift des Springer-Verlags. Auf Seiten der Referatezeitschriften wird entsprechend 1920 die Zeitschrift Physikalische Berichte gegründet, die die bis dahin bestehenden deutschen Referatezeitschriften Fortschritte der Physik, Halbmonatliches Literaturverzeichnis und die Beiblätter der Annalen der Physik in einem Organ vereinigt.40 Der neuen Zeitschrift der Physik wollen jedoch nicht alle Physiker die Treue erweisen. Vor allem viele der älteren Physiker fühlen sich den Annalen noch verbunden, wie etwa Arnold Sommerfeld, der die Rücknahme des neuen Titels verlangt, oder Wilhelm Wien, der sogar aus Protest gegen die neue Konkurrenz zu den Annalen der Physik seinen Austritt aus der Deutschen Physikalischen Gesellschaft ankündigt.41 Es bilden sich so in der Physikergemeinschaft zunächst zwei Lager: Auf der einen Seite stehen vor allem die jüngeren und fortschrittlichen, politisch eher im Zentrum anzusiedelnden Wissenschaftler, die der neuen Zeitschrift für Physik wegen ihrer Schnelligkeit den Vorrang geben, und auf der anderen Seite stehen eher traditionell eingestellte, politisch eher dem rechten Lager zuzurechnende Forscher, die sich mit den Annalen verbunden fühlen und die neue Zeitschrift ablehnen.42 Anhand einer Zitationsanalyse lässt sich jedoch zeigen, dass die Zeitschrift für Physik nun wesentlich stärker als die Annalen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Ein für den Zeitraum von 1885 bis 1933 auf der Basis von Zitationshäufigkeiten erstelltes Zeitschriftenranking aus dem Jahr 1935 zeigt diese Entwicklung deutlich an:43 Zunächst können die Annalen der Physik im Zeitraum von 1885 bis 1919 noch mit deutlichem Abstand die meisten der in einer Stichprobe verschiedener Zeitschriften erhobenen Zitationen auf sich vereinigen. Bereits im ersten Erhebungsjahr 1885 werden die Annalen der Physik fast viermal so häufig zitiert wie die auf dem zweiten Platz rangierenden Annales de chimie et de physique. Bis zum Jahr 1914 können die Annalen der Physik die Häufigkeit, mit der sie zitiert werden, mehr als vervierfachen und ihre Führungsposition ausbauen. Zwar fällt ihre Zitierhäufigkeit dann wieder bis zum Jahr 1919 ab, jedoch ohne den deutlichen Vorsprung vor allen anderen der insgesamt 118 bewerteten Zeitschriften einzubüßen. Im Gründungsjahr der Zeitschrift für Physik än-

39 Vgl. Scheel 1925: 46. 40 Vgl. Scheel 1925: 47–48. 41 Forman 1968: 189. 42 Holl 1996: 130–132 u. Forman 1968: 180. 43 Vgl. zum Folgenden Hooker 1935.

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dert sich diese Situation jedoch schlagartig. Im Zeitraum von 1920 bis 1924 erhält die Zeitschrift für Physik fast dreimal so viele Zitationen wie die Annalen der Physik. Die neue Zeitschrift führt damit sofort nach ihrem erstmaligen Erscheinen die Rangliste an und verweist die Annalen der Physik noch hinter die Physical Review und den Proceedings of the Royal Society of London auf den vierten Platz der Rangliste. Die Zeitschrift für Physik avanciert damit innerhalb kürzester Zeit zur bedeutendsten Physikzeitschrift nicht nur Deutschlands, sondern der Welt insgesamt und drängt die Annalen der Physik zurück.44 Diese Entwicklung zeigt sich nicht nur im Hinblick auf die Zitationshäufigkeiten. Während noch bis zu Beginn der 1920er Jahre der Seitenumfang der Annalen der Physik den der Zeitschrift für Physik übersteigt, nehmen die Seitenzahlen Letzterer ab etwa 1922 dermaßen rapide zu, dass in nur kürzester Zeit die Annalen der Physik in ihrem Umfang weit zurückbleiben.45 Die enorme, nicht nur deutschlandweite, sondern internationale Bedeutung der Zeitschrift für Physik wird darüber hinaus am steigenden Anteil ihrer ausländischen Autoren deutlich, der von 31 Prozent im Jahr 1925 bis zu 41 Prozent im Jahr 1930 zunimmt. 46 Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass von den in den 1920er Jahren laut Paul Forman einzigen deutschen Physikzeitschriften, »[that are] devoted solely to pure physics«, nämlich den Annalen der Physik, der Zeitschrift für Physik und der in erster Linie als Referatezeitschrift fungierenden Physikalischen Zeitschrift, die Zeitschrift für Physik ab 1920 die eindeutig dominante und führende Fachpublikation für die Physik in und außerhalb Deutschlands ist.47 Es ist nicht genau festzulegen, wie lange die Zeitschrift für Physik diesen Führungsstatus beibehalten kann. Ohne Frage stellt das Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 für die deutsche Physik den Beginn einer Zäsur dar. In den Fachzeitschriften, die zumeist ihre wissenschaftlichen Standards bewahren können, ist davon jedoch anfangs kaum etwas zu merken. Auch die Zeitschrift für Physik verzeichnet zunächst einen kontinuierlichen Fortbestand und verteidigt auch ihren Führungsabstand zu den Annalen der Physik.48 In seiner Analyse von Physikfachzeitschriften in der Zeit von 1933 bis 1945 stellt Gerhard Simonsohn die qualitative Kontinuität der Zeitschrift für Physik heraus:

44 S. auch Formann 1968: 193–194. 45 Vgl. die Graphik bei Holl 1996: 132. 46 Vgl. Holl 1990: 133. 47 Vgl. Formann 1968: 172. 48 Vgl. Hooker 1935 u. Simonsohn 2006: 258, 265.

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»Allein durch eine Analyse des Inhalts wird es nicht gelingen, eine Zäsur aufzuweisen, die dem politischen Umbruch von 1933 zuzuordnen wäre. Die Zeitschrift wahrte ihren wissenschaftlichen Charakter, öffnete sich nicht für andere Themen. Forschungsgebiete wurden nicht abgebrochen.«49

Demgegenüber kann Simonsohns Feststellung, dass auch der quantitative Umfang der Zeitschrift sich nicht wesentlich verändert, aufgrund der von ihm selbst gelieferten Zahlen nicht gefolgt werden: Während die Zeitschrift für Physik noch vor 1933 etwa zehn Bände pro Jahr veröffentlicht, sinkt die Zahl zwischen 1933 und 1938 auf im Schnitt etwa sechs bis sieben Bände pro Jahr, um danach im Zeitraum zwischen 1938 und 1945 noch weiter auf etwa zwei Bände pro Jahr zurückzufallen.50 Diese Zahlen scheinen eine generelle Abwärtsentwicklung in der deutschen Wissenschaft in der Zeit von 1933 bis 1945 zu reflektieren, die die Kontinuität der Stellung der Zeitschrift für Physik in etwas langfristiger Perspektive auch in qualitativer Hinsicht zweifelhaft erscheinen lassen. Eingeleitet wird diese Abwärtsentwicklung durch das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« im Jahre 1933.51 Dort heißt es: »Beamte, die nichtarischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand […] zu versetzen. […] Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden.«52

Das Gesetz wird durch etliche Durchführungsverordnungen verschärft, welche die betroffene Gruppe über die Hochschullehrer erweitern und zusätzlich alle Dozenten und Privatdozenten mit einschließen. Darüber hinaus wird durch die Nürnberger Gesetze von 1935 nochmals der Kreis derer vergrößert, die laut Definition »nichtarischer Abstammung« sind. Der in der Folge dieser Gesetze eintretende Massenexodus aus deutschen Universitäten trifft insbesondere die Physik, in der mehr jüdische Wissenschaftler als in anderen Fächern vertreten sind, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. In quantitativer Hinsicht wird der Verlust in der Physik auf Grundlage verschiedener Statistiken auf etwa

49 Vgl. Simonsohn 2006: 259. 50 Vgl. zu diesen Zahlen und der überraschenden Schlussfolgerung daraus Simonsohn 2006: 269. 51 Vgl. zum Folgenden vor allem Metzler 2000: 165–169. 52 Vgl. die Paragraphen 3 und 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, Reichsgesetzblatt 1933, I, S. 175f.

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26 Prozent des Personalbestandes geschätzt, was bedeutet, dass mehr als jeder vierte Physiker Deutschland nach 1933 verlassen hat, um seine Forschungen im Ausland fortzusetzen.53 Zwar erscheint der Verlust für die deutsche Physik bereits auf der Grundlage dieser Zahlen erheblich, er wird jedoch noch deutlicher, wenn man die qualitative Dimension mit einbezieht. Denn unter den zwischen 1933 und 1945 emigrierten Wissenschaftlern befinden sich die herausragenden Vertreter der Physik: Es finden sich elf Personen, die entweder bereits den Nobelpreis erhalten haben oder noch erhalten werden, bspw. Albert Einstein, Erwin Schrödinger, Otto Stern, Felix Bloch oder Max Born.54 Zum Verlust an Renommee kommt der Verlust an Potential: Die überwiegende Mehrheit der emigrierten Physiker ist jung, Anfang bis Mitte dreißig, als sie entlassen werden.55 Unter diesen Bedingungen ist es kaum erstaunlich, dass die Zeitschrift für Physik in die Krise gerät, von der unter anderem der geschilderte, abnehmende Umfang der Publikation zeugt. Zum einen fallen viele der emigrierten und teilweisen führenden Physiker als Autoren für die Zeitschrift für Physik aus. Zum anderen sorgt die Auswanderung der renommierten Physiker aus Deutschland für einen erheblichen Reputationsverlust für die in Deutschland verbliebene Physik, unter dem auch die deutschen Physikzeitschriften leiden. Immer weniger ausländische Physiker finden ihren Weg nach Deutschland. Deutsch als Wissenschaftssprache verliert zusehends an Bedeutung. So wechselt man etwa auf den jährlichen, internationalen Konferenzen bei Niels Bohr in Kopenhagen vom Deutschen zum Englischen. Der Reputationsverlust der deutschen Physik äußert sich durch eine zunehmende Isolierung der deutschen Physiker und ihrer Zeitschriften.56 Was das etwa für die Zeitschrift für Physik bedeutet, wird an den Erinnerungen des italienischen Physikers Emilio Segré anschaulich: »Fermi obviously disliked Hitler, but he was more conservative in breaking with the past, and thought we should be publishing in ›Zeitschrift für Physik‹. We said: ›No, let’s publish in an English journal. Let’s start publishing in English and forget the Germans.‹ Well after strong pressure Fermi was persuaded to send his ß-decay article to ›Nature‹ – which promptly rejected it. There was nothing we could do. It was sent to the ›Zeitschrift für Physik‹. But that was the last paper sent to that journal from Rome.«57

53 Vgl. Beyerchen 1982: 72. 54 Auflistung bei Beyerchen 1982: 77 oder Pyenson/Skopp 1977. 55 Vgl. Zahlen bei Rider 1984. 56 Vgl. zur Isolierung deutscher Physiker Beyerchen 1982: 105–114. 57 Zit. n. Metzler 2000: 179.

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Zusätzlich wird die Zeitschrift für Physik durch politische Vorgaben der NSDiktatur geschwächt. 1936 wird zunächst die Besprechung von Werken jüdischer Autoren verboten, später überhaupt sie zu zitieren.58 Unter diesen Bedingungen wird es zunehmend schwieriger in der Zeitschrift für Physik ein hohes wissenschaftliches Niveau und den Anschluss an die rasante Entwicklung insbesondere auf Forschungsfeldern wie etwa der immer wichtiger werdenden Atomund Kernphysik zu bewahren. Die Zeitschrift für Physik und mit ihr die Physik in Deutschland insgesamt sinkt so in der Folge zur Bedeutungslosigkeit herab. Die aus Deutschland emigrierten Physiker flüchten zunächst in die Nachbarstaaten wie Dänemark, die Schweiz, die Niederlande oder Frankreich, meistens jedoch nur, um von dort nach einem kurzen Aufenthalt nach Großbritannien oder die Vereinigten Staaten weiter zu ziehen.59 Es entstehen Hilfsorganisationen für emigrierte Wissenschaftler wie der britische Academic Assistance Council, das US-amerikanische Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars oder die von den deutschen Emigranten selbst ins Leben gerufene »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland«, die den Flüchtlingsstrom deutscher Physiker koordinieren.60 Da die Bedingungen in den europäischen Ländern schwierig sind und es selbst in Großbritannien nur eine limitierte Anzahl von Stellen für die deutschen Physiker gibt, werden die Vereinigten Staaten zum hauptsächlichen Flüchtlingsziel.61 Da das US-amerikanische System die größten Kapazitäten zur Aufnahme der Flüchtlinge hat, flüchten allein 57 Prozent aller aus Deutschland emigrierten Physiker letztlich in die Vereinigten Staaten, nach Großbritannien hingegen nur 11 Prozent.62 Da einerseits sich unter den in die USA emigrierten Physikern einige der besten Vertreter des Fachs befinden und jedenfalls die deutschen Physiker entscheidende Expertise vor allem in der theoretischen Physik mitbringen und andererseits sie in den USA auf eine bereits hervorragend entwickelte institutionelle und intellektuelle Forschungsumgebung treffen, können die Vereinigten Staaten in der Folgezeit Deutschland als weltweites Zentrum der Physik ablösen.63 Diese im Zuge der nationalsozialistischen Diktatur sich vollziehende Verschiebung des Zentrums physikalischer Forschung spiegelt sich in entsprechenden Veränderungen im System wissenschaftlicher Zeitschriften wider. Der oben

58 Vgl. Richards 1990: 243. 59 Kragh 1999: 250. 60 Kragh 1999: 252 u. Metzler 2000: 169–173. 61 Hoch 1983: 230. 62 Kragh 1999: 252. 63 Kragh 1999: 252.

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geschilderte Verlust bei der deutschen Zeitschrift für Physik scheint anderen Physikfachzeitschriften zugutezukommen, vor allem der US-amerikanischen Physical Review, in der nun auch die aus Deutschland emigrierten Physiker veröffentlichen und die unter anderem auch deshalb die Zeitschrift für Physik als führendes Fachorgan innerhalb der Physik ablöst.64 Auf Grundlage der physikhistorischen Literatur ist es wegen unterschiedlicher Einschätzungen schwer, einen genaueren Zeitpunkt für diesen Übergang zu bestimmen. Die von Hooker 1935 durchgeführte Zitationsanalyse spricht dafür, dass dieser Zeitpunkt etwa im Jahr 1933 liegt.65 Die Zeitschrift für Physik verzeichnet in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre einen enormen Erfolg. Gegenüber der ersten Hälfte des Jahrzehnts kann die Zeitschrift, obwohl sie auf der Rangliste bereits Platz 1 von 118 belegt, ihre Zitationshäufigkeit noch einmal fast verfünffachen. Im Jahr 1931 übersteigt die Menge der Zitationen der Physical Review erstmals leicht die der Zeitschrift für Physik, um im Jahr 1932 doch wieder hinter diese zurückzufallen. 1933 jedoch führt wieder die Physical Review die Rangliste an, diesmal mit einem deutlicheren Abstand. Leider bricht Hookers Untersuchung hier ab. Obige Ausführungen lassen jedoch vermuten, dass die Zeitschrift für Physik nie mehr den ersten Platz der Rangliste erreicht hat. Und so findet sie sich auch bei dem von Brown für den Zeitraum von 1942 bis 1944 durchgeführten Ranking nur auf Platz zwei hinter der immer noch führenden Physical Review wieder, einem Ranglistenplatz, der in Anbetracht der in Deutschland herrschenden Bedingungen noch verwundert und vielleicht nicht den qualitativen Bedeutungsverlust der Zeitschrift adäquat widerspiegelt.66 Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass die Zeitschrift für Physik im Zeitraum von 1920 bis etwa 1933 das zentrale Kommunikationsmedium für die Physik im deutschen wie im internationalen Rahmen ist. Das Jahr 1933 stellt für die Physik und ihre Zeitschriften eine Zäsur dar, in deren Folge die Forschungstradition der Physik in Deutschland einbricht und in weiten Teilen sich ins Ausland verlagert. Eine in Deutschland herausgegebene Zeitschrift wird bis heute nicht mehr die Zeitschriftenrankings anführen. Eine Untersuchung aus dem Jahre 1954 listet die Physical Review noch immer auf den ersten Platz, gefolgt von den Proceedings of the Royal Society of London, und immerhin ist die Zeitschrift für Physik neun Jahre nach Kriegsende auf Platz drei. Die Annalen der Physik sind auf Platz vierzehn abgerutscht.67 Auch 1972 rangiert die Physical Review in ei-

64 Vgl. Dreisigacker/Rechenberg 1995: F-138. 65 Vgl. zum Folgenden Hooker 1935. 66 Vgl. Brown 1956: 175. 67 Vgl. Brown 1956: 163.

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nem von Hinrich Dirks angefertigten Ranking mit erheblichem Abstand vor allen anderen bewerteten Zeitschriften auf dem ersten Platz. Die Zeitschrift für Physik hingegen befindet sich nur noch auf Platz acht mit weniger als einem Siebtel der Zitate, die die Physical Review verzeichnen kann.68 Noch eklatanter erscheint der Unterschied zwischen der US-amerikanischen Physical Review und der immer noch wichtigsten in Deutschland herausgegebenen Zeitschrift in einem Ranking von Inhaber aus dem Jahr 1974: Auch dort belegt die Physical Review den ersten Platz, die Zeitschrift für Physik hingegen findet sich auf Platz 72 wieder.69 Natürlich ist klar, dass die Ranglistenplätze auch von der gewählten Methode und den ausgewerteten Stichproben abhängen können. Die hier schlaglichtartig präsentierten Zahlen lassen jedoch die grundlegende Tendenz der Entwicklung physikalischer Zeitschriften in der Nachkriegszeit erkennen. Die Vereinigten Staaten werden zum neuen Zentrum der Physik und die USamerikanische, auf Englisch erscheinende Physical Review wird international zur wichtigsten Fachzeitschrift. Die nationale Fachzeitschrift hat damit nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Bedeutung verloren. Inwiefern die politische Teilung Deutschlands und die gegenseitige Isolierung der Machtblöcke Effekte auf die Kommunikationsstrukturen der Physik nach sich ziehen, ist eine anderweitige Frage. Möglicherweise entstehen hier neue segmentär geschlossene Zeitschriftensysteme entlang des »Eisernen Vorhangs«.70 Zur Eruierung wesentlicher Tendenzen auf dem Zeitschriftenmarkt wurden zusätzlich zur Auswertung physikhistorischer Literatur Interviews mit ausgewiesenen Experten des deutschen physikalischen Zeitschriftenwesens durchgeführt. Mit Hilfe des Referats für Physik der Deutschen Forschungsgemeinschaft konnten eine Reihe von Zeitschriftenexperten aus der Gemeinschaft deutscher Physiker ausgewählt, kontaktiert und schließlich im Juli 2007 telefonisch interviewt werden. Die Fragen des Leitfadeninterviews bezogen sich dabei vor allem auf die Identifizierung der wichtigsten Zeitschriften für die Physiker und auf die Frage nach der Nationalität bzw. Internationalität der Physik in der Nachkriegszeit. Die grundlegende Tendenz einer enormen Internationalisierung in der Nachkriegszeit und eines Bedeutungsverlusts der nationalen deutschen Physik wird in der Expertenbefragung nachdrücklich bestätigt. Die Experten äußern sich folgendermaßen:

68 Vgl. Dierks 1972: 27. 69 Vgl. Inhaber 1974: 40. 70 Diese Untersuchung konzentriert sich auf die Entwicklung im Westen.

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»Bis 1933 gab es noch in Cambridge oder in Oxford Deutschkurse für Naturwissenschaftler, die die Originalliteratur lesen und verstehen wollten, um sie parat zu haben, ohne auf Übersetzungen angewiesen zu sein. Das hat sich dann mit der Naziherrschaft deutlich geändert. Die Kollegen wurden zwangsemigriert beziehungsweise ermordet und damit ist natürlich in Deutschland eine gewisse Kultur in der Physik zerstört worden, die auch nie wieder erlangt worden ist in der Nachkriegszeit und die es so auch nicht wieder geben wird. Von daher sind deutschsprachige Zeitschriften eigentlich international nicht mehr relevant.«

Ein weiterer Experte sagt: »Selbst jüdische Wissenschaftler haben in den 30er Jahren immer noch versucht, ihre Artikel in der Zeitschrift für Physik unterzubringen, sie haben die Zeitschrift nicht boykottiert. Aber dann schlagartig nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zeitschrift nicht mehr so aktuell gewesen. Die Emigranten – und das war ja die Elite –, die haben dann in Physical Review publiziert. Und damit war es hier natürlich zu Ende.«

Zur Situation heute sagt ein Experte: »Heute kann man die Annalen der Physik vergessen, ja, wirklich. Die Zeitschrift für Physik ist in European Physical Journal aufgegangen, das war etwa vor sieben oder acht Jahren. Etwa zur gleichen Zeit haben wir das New Journal of Physics gegründet. Aber eine Erfolgsgeschichte ist es nicht, wenn man die Impact-Faktoren anschaut.«

Auch nach Ansicht der Experten liegt bis heute die Führung eindeutig bei USamerikanischen Zeitschriften. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Physical Review deutlich die dominante Zeitschrift, heute ist die Situation etwas verändert, aber immer noch sind US-amerikanische Zeitschriften dominant: »Heute sind die wichtigsten Zeitschriften von oben angefangen: Nature, Science und Physical Review Letters. […] Dass Nature und Science so dominant wurden, das fing etwa Anfang der 1990er Jahre an, als Physiker anfingen darüber nachzudenken, auch mal was in Nature oder Science zu veröffentlichen.«

Die Experteninterviews geben natürlich nur ein etwas grobes Bild von der Entwicklung der Zeitschriften wieder, die man anhand der Entwicklung von ImpactFaktoren wesentlich genauer analysieren könnte. Diese Informationen reichen jedoch aus, um festzustellen, dass ab spätestens der Nachkriegszeit von einem

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nationalen Kommunikationssystem deutscher Physiker nicht mehr die Rede sein kann. Die Ergebnisse dieses Kapitels zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Annalen der Physik im gesamten 19. Jahrhundert und bis zum Umbruchsjahr 1920 das führende Publikationsorgan für die Physiker in Deutschland sind. Danach werden sie von der Zeitschrift für Physik abgelöst, die jedoch mit den Umbrüchen spätestens während des Zweiten Weltkriegs, als die USA das neue Zentrum einer internationalisierten Physikergemeinschaft wird, ihre Bedeutung für die Physik verliert. 5.1.2 Geschichtswissenschaftliche Zeitschriften in Deutschland In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Geschichtswissenschaft noch nicht vollständig als eigenständige Disziplin etabliert. An den Universitäten ist sie noch bis etwa Mitte des Jahrhunderts in der Regel nur als Hilfswissenschaft vor allem für die Staatswissenschaft verankert. 71 Außerhalb der Universitäten wird Geschichtswissenschaft in zahlreichen bürgerlichen Heimatkundevereinen betrieben. Die Vereinsmitglieder sind in der Mehrheit Laien ohne akademische Ausbildung.72 Die Aktivitäten der Vereine sind daher im Allgemeinen gekennzeichnet von geringer Professionalität, unspezifischen Themen und kurzer Dauer der Unternehmungen, und sie beschränken sich zumeist auf die Sammlung von Quellen und auf die regionale Denkmalpflege.73 Die Beschränkung auf die jeweilige Regionalgeschichte wird bereits an den Namensgebungen deutlich. Zu den relativ frühen Vereinen zählen bspw. der Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens (1824), der Königlich-sächsische Verein zur Erforschung und Erhaltung vaterländischer Geschichts- und Kunstdenkmale (1824), die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte (1833), der Königlich hannöversche historische Verein für Niedersachsen (1835), die Sachsen-Altenburgische Geschichts- und Altertumsforschende Gesellschaft des Oberlandes (1838) oder der Königlich württembergische Altertumsverein (1843). 74 Bis zur Jahrhundertmitte sind etwa 44 solcher Vereine mit ähnlicher Namensgebung gegründet worden, von denen die meisten auch eine eigene Zeitschrift herausgeben.

71 Zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft an der deutschen Universität von ihrer Entstehung im 16. Jahrhundert über ihre Verselbstständigung im 19. Jahrhundert bis zu ihrer Stellung Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. Engel 1959. 72 Vgl. Kunz 2000: 61–62. 73 Vgl. Heimpel 1972: 54–58 u. Heimpel 1959: 189–222. 74 Vgl. Heimpel 1972: 49 u. Obermann 1969a: 186–187.

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Sowohl die Professionalisierung der außeruniversitären Geschichtswissenschaft als auch die Verselbstständigung der Disziplin an den Universitäten setzt erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts langsam ein. 75 Die noch mangelhafte Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft als eigenständige Disziplin zu Beginn des Jahrhunderts spiegelt sich im zeitgenössischen geschichtswissenschaftlichen Publikationswesen vor allem durch das Fehlen eines repräsentativen Fachorgans wider. So ist die Kommunikationsstruktur der deutschen Geschichtswissenschaft einerseits geprägt von vereinzelten Monographien der universitären Hilfswissenschaft und andererseits von den Vereinszeitschriften der lokalen Geschichtsvereine von zumeist geringem wissenschaftlichem Niveau.76 Allerdings gibt es in Ausnahmefällen erste Anzeichen einer sich entwickelnden professionalisierten Geschichtswissenschaft innerhalb einiger begrenzter Unternehmungen. Dies gelingt in Ansätzen in historischen Vereinen mit einem starken Bezug zur ortsansässigen Universität durch die Zusammenwirkung zweier Faktoren: Zum einen wird das wissenschaftliche Niveau der jeweiligen Vereine durch die Mitgliedschaft einer relativ hohen Anzahl von Universitätsprofessoren angehoben, 77 zum anderen kann es außerhalb der akademischen Sphäre gelingen, die Geschichtswissenschaft aus dem Abhängigkeitsverhältnis einer Hilfswissenschaft zu befreien sowie eigenständige Probleme zu definieren und zu bearbeiten. Im Ergebnis lassen sich einige Gesellschaften ausmachen, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts professionell Geschichtswissenschaft betreiben. Zu dieser Gruppe gehört die bereits 1819 gegründete Frankfurter Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, die sich durch ihre wissenschaftlichen Ambitionen und patriotischen Bestrebungen hervortut78 und einen »Markstein in der Geschichte der deutschen historischen Wissenschaften«79 darstellt. Im Kreis der Gesellschaft sind von Beginn an Fachhistoriker nicht nur aus Frankfurt aktiv,80 so dass die Gesellschaft aus der sonst üblichen Regionalität der bürgerlichen Vereine ausbricht. Teilweise gilt die Gesellschaft sogar als Vorläufer der wissenschaftlich arbeitenden und national orientierten Historischen

75 Zum Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozess der Geschichtswissenschaft allgemein s. Pandel 1994. 76 Vgl. Obermann 1969a: 188. 77 Vgl. Kunz 2000: 69. 78 Vgl. Obermann 1969b: 186. 79 Aretin 1957: 329. 80 So bildet sich z. B. eine Münchener Tochtergesellschaft, deren Mitglieder vor allem Fachleute sind. Vgl. Aretin 1957: 352–353.

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Kommissionen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.81 Mit der Herausgabe der deutschen Quellenedition Monumenta Germaniae Historica lanciert die Gesellschaft ein bis heute fortgeführtes nationales Projekt der Geschichtswissenschaft.82 Da die Monumenta Germaniae Historica die kritische Untersuchung der Quellen als zentralen Bestandteil der Geschichtswissenschaft einführt, wird sie mitunter als wichtiges Projekt für die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft betrachtet.83 Im Ausland, etwa in Frankreich, dient sie als Vorbild für eigene nationale Quelleneditionen. Das Interesse an solchen Quelleneditionen und gerade an der Monumenta Germaniae Historica ist charakteristisch für viele Teile der Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bewirkt eine gewisse Dynamik innerhalb des Fachs.84 Darüber hinaus sind die Monumenta und mit ihr die Frankfurter Gesellschaft interessant als Unternehmungen, die von Beginn an auf die Überwindung der Regionalität und die Stärkung einer nationalen deutschen Geschichtswissenschaft abzielen. Dies wird in einem Brief des Initiators Karl Freiherr vom Stein an den Fürstbischof von Paderborn und Hildesheim deutlich: »Seit meinem Zurücktreten aus öffentlichen Verhältnissen beschäftigte mich der Wunsch, den Geschmack an deutscher Geschichte zu beleben, ihr gründliches Studium zu erleichtern und hierdurch zur Erhaltung der Liebe zum gemeinsamen Vaterland und Gedächtnis unserer großen Vorfahren beizutragen«.85

Die Quellenedition der Gesellschaft ist allerdings an sich wenig aussagekräftig im Hinblick auf die Vernetzung der deutschen Historiker, weil sie allein von dem Kreis der Historiker um den Frankfurter Verein herausgegeben wird und ansonsten lediglich auf historische Quellen, vor allem aus dem Mittelalter, aber nicht auf andere wissenschaftliche Publikationen Bezug nimmt. Zwar gibt der Verein auch ab 1819 eine Zeitschrift heraus, das Archiv für Aeltere Deutsche Geschichtskunde zur Befoerderung einer Gesamtausgabe der Quellenschriften deutscher Geschichte des Mittelalters, allerdings ist fraglich, ob diese gegenüber

81 Vgl. Kunz 2000: 56–57. 82 Vgl. Grundmann 1969: 1–2. Zur Geschichte der Monumenta Germaniae Historica insgesamt s. den knappen Überblick bei Fuhrmann 1994, ausführlicher Fuhrmann 1996 und umfassend Bresslau 1921. 83 Vgl. Obermann 1969a: 113, 120 u. Stieg 1986: 20. 84 Vgl. Boer 2001: 139–140. 85 Zit. n. Obermann 1969a: 115.

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den anderen Zeitschriften der Geschichtsvereine eine gesonderte Stellung einnimmt. Es gibt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfältige Zeitschriften, die von zwar einigermaßen professionell arbeitenden, aber doch zumeist nur lokal oder regional verankerten Vereinen herausgeben werden. Dazu zählt z. B. der 1819 in Naumburg gegründete und 1826 nach Halle verlegte Thüringischsächsische Verein für Erforschung des vaterländischen Alterthums und seiner Denkmale, der wegen seiner engen Bindung an die Universität und seiner zunächst auf die ganze deutsche Geschichte gerichteten Pläne – ebenso wie die Frankfurter Gesellschaft – eine gewisse Ausnahmestellung gegenüber den übrigen Vereinen der 1820er und 1830er Jahre einnimmt.86 Allerdings ist auch hier fraglich, ob die Zeitschrift dieses Vereins unter den deutschen Historikern hinreichend zur Kenntnis genommen wird. Dies erscheint nämlich keineswegs als eine zwangsläufige Folge des relativ hohen Professionalisierungsgrades des Vereins. Das bereits ab 1831 erscheinende Archiv für Staats- und Kirchengeschichte der Herzogthümer Schleswig, Holstein, Lauenburg und der angrenzenden Länder und Städte der durch ihre enge Bindung an die Kieler Universität ebenfalls bereits professionell arbeitenden Schleswig-Holstein-Lauenburgische Gesellschaft für vaterländische Geschichte erreicht z. B. gerade in den hier interessanten frühen Jahren ihres Erscheinens nur geringe Bedeutung.87 Insgesamt ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts das System geschichtswissenschaftlicher Zeitschriften stark regional fragmentiert. Der vielleicht erste Versuch die regionalen Publikationsstrukturen zu durchbrechen und ein nationales Fachorgan für die Geschichtswissenschaft zu lancieren, stellt die von dem Historiker Leopold von Ranke gegründete Historisch-Politische Zeitschrift dar. Dass zu ihrer Gründung im Jahr 1832 die Zeit für ein geschichtswissenschaftliches Fachorgan auf nationaler Ebene offensichtlich noch nicht reif ist, zeigt jedoch der Umstand, dass sie bereits zwei Jahre später wieder eingestellt wird und zudem mit nur einigen Ausnahmen guter geschichtswissenschaftlicher Aufsätze zeitgenössische und politische Themen behandelt.88 Der zweite Versuch, elf Jahre später, mit der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ein nationales Fachorgan zu etablieren, ist demgegenüber schon etwas erfolgreicher. Die Zeitschrift nimmt sich vor, ein »Vereinigungspunkt aller Bestrebungen deutschen Geistes auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft« und das »Zentralorgan aller historischen Vereine und Gesellschaften unseres Vater-

86 Heimpel 1972: 49. 87 Vgl. Kunz 2000: 285. 88 Stieg 1986: 22–23.

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landes«89 zu werden und sich damit explizit in das Zentrum einer nationalen Historikerschaft zu stellen. Zwar scheitert auch dieses Projekt 1848 nach nur vier Jahren. Im Unterschied zur Vorgängerin besitzt die Zeitschrift für Geschichtswissenschaft allerdings die Charakteristika eines wissenschaftlichen Periodikums. Mit Grimm, Ranke, Boeckh und Pertz wird sie gleich von mehreren führenden Historikern getragen, die die Zeitschrift wissenschaftlich beeinflussen und dafür sorgen, dass auch weitere einflussreiche Historiker der Zeit wie Giesebrecht, Sybel oder Jaffé in ihr publizieren. Geschichtswissenschaftliche Abhandlungen dominieren so nun über politische Artikel mit zeitgenössischem Bezug. Zudem ist sie die erste nationale Fachzeitschrift, die zusätzlich die Funktion der Bibliographien übernimmt, indem sie Berichte über historische Literatur und Buchrezensionen abdruckt und so ihren professionellen Nutzen steigert.90 Die Zeitschrift kann sich zwar noch nicht als zentrales Organ der deutschen Geschichtswissenschaft durchsetzen, jedoch ist sie ein wichtiger Wegbereiter für die Etablierung einer nationalen Publikationsstruktur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.91 Der Institutionalisierungs- und Nationalisierungsprozess der Disziplin macht im Jahr 1852 einen weiteren Schritt mit der Bildung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine und dem Erscheinen seiner Zeitschrift, dem Correspondenz-Blatt. Als Zweck des Vereins nennt seine Satzung »ein einheitliches Zusammenwirken der einzelnen Vereine zu Erforschung, Erhaltung und Bekanntmachung der vaterländischen Denkmäler«.92 Der Verein erhält zunächst starken Zuspruch der deutschen Historiker. Zu seinen ersten Tagungen im August und September 1852 in Dresden und Mainz sowie im September 1853 in Nürnberg erscheinen prominente Wissenschaftler von deutschen und ausländischen Universitäten, so dass es dem Verein in den Anfangsjahren gelingt, relevante Aufgaben für die Geschichtswissenschaft zu definieren und aufzugreifen. Doch bereits ab 1855 macht sich die abnehmende Bedeutung des Gesamtvereins am Mitgliederschwund und an der geringen Beteiligung der einzelnen Vereine bemerkbar.93 Der relativen Bedeutungslosigkeit des Vereins entspricht die seiner Zeitschrift: So wie es dem Gesamtverein misslingt, die Selbstständigkeit der Mit-

89 Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1, 1844: 560. 90 Vgl. zu den frühen Bibliographien der deutschen Geschichtswissenschaft Stieg 1986: 32. 91 Vgl. Stieg 1986: 23; Schieder 1959: 2; Kunz 2000: 73. 92 Zit. n. Hoppe 1952: 5. 93 Vgl. Hoppe 1952: 1–13; Engel 1952: 238.

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gliedsvereine einzuschränken, so fehlt dem Correspondenz-Blatt ein eigenes wissenschaftliches Thema. Da sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Inhalt der Zeitschrift in Nachrichten und Berichten erschöpft, während wissenschaftliche Abhandlungen und Aufsätze weitgehend fehlen, haben sich die Geschichtswissenschaft und selbst die Landesgeschichte im engeren Sinne im Wesentlichen abseits des Gesamtvereins und seines Correspondenz-Blattes entwickelt.94 Die endgültige Durchsetzung eines repräsentativen nationalen Fachorgans für die Geschichtswissenschaft gelingt erst etwas später mit der Historischen Zeitschrift. Die von Heinrich von Sybel 1859 gegründete und herausgegebene und vom Oldenbourg-Verlag getragene Zeitschrift ist seither in mehrfacher Hinsicht das zentrale Kommunikationsmedium der deutschen Geschichtswissenschaft. Ihre Repräsentativität erfüllt die Historische Zeitschrift in sozialer, sachlicher, organisatorischer und semantischer Hinsicht: Erstens ist die Historische Zeitschrift in sozialer Hinsicht repräsentativ: Sie ist ein zentrales Organ für Fachvertreter der deutschen Geschichtswissenschaft, die nicht umhinkommen, die Zeitschrift zur Kenntnis zu nehmen. »[T]he HZ rapidly achieved a central position in the world of German historians, a position it maintains today. No historian could safely ignore it«.95 Man kann bei der Historischen Zeitschrift daher von einem »thematisch umfassenden, das gesamte nationale Historikerfeld ansprechenden Periodikum«96 sprechen. Auch über den engeren Kreis von Geschichtsforschern hinaus ist die Historische Zeitschrift ein zentrales Kommunikationsmedium, denn sie versteht sich explizit auch als Bildungsquelle für breitere Bevölkerungsschichten, was ihr die Aufmerksamkeit aller historisch interessierten Personen eingebracht und zur Sicherung ihres Absatzes beigetragen haben dürfte. Aber nicht nur ihre Leserschaft, sondern auch ihre Autorenschaft reflektiert ihre Zentralität. In der Historischen Zeitschrift veröffentlichen von Anfang an nicht nur die führenden Historiker, sondern sie kann ebenso aus einem »ständigen Fluß« von Arbeiten aus einem »größeren Kreis von Gelehrten« schöpfen.97 Zweitens ist die Historische Zeitschrift in sachlicher Hinsicht repräsentativ: Sie deckt gemäß ihrer inneren Gliederung standardmäßig die wichtigsten Fachbereiche der Geschichtswissenschaft ab – Alte, Mittelalterliche und Neuere Geschichte – und ist darüber hinaus thematisch insofern repräsentativ, »als sich in ihr die wirksamsten und kräftigsten Tendenzen zum Worte meldeten und sie sich

94 Vgl. Sante 1964. 95 Stieg 1986: 27. 96 Raphael 2003: 38–39. 97 Vgl. Schieder 1959: 31.

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trotz aller Entschiedenheit ihrer Grundrichtung für den breiten Strom historischer Meinungen und Gruppen offenhielt«.98 Sie ist der Ort, an dem die prägenden Debatten der Geschichtswissenschaft ausgefochten werden, etwa die FickerSybel-Debatte um das mittelalterliche Reich, die Debatte um die Ursachen des Siebenjährigen Kriegs, die Debatte über die oppositionellen Gruppen in Preußen und die Auseinandersetzungen über die Kulturgeschichte Karl Lamprechts und über Bismarck.99 Drittens ist die Historische Zeitschrift in organisatorischer Hinsicht repräsentativ: Anders als die Zeitschriften der Geschichtsvereine auf regionaler Ebene und einige ihrer direkten Konkurrentinnen auf nationaler Ebene ist die Historische Zeitschrift stets unabhängig von einzelnen Institutionen oder Kooperationen geblieben. Sie wird finanziell ausschließlich von ihrem Verlag getragen. Diese Unabhängigkeit unterstreicht ihre Position als übergreifendes nationales Kommunikationsmedium für Historiker aus allen deutschen geschichtswissenschaftlichen Institutionen, als »a central organizing point to which all historians could refer«.100 Schließlich ist die Historische Zeitschrift repräsentativ im Sinne ihres Selbstverständnisses als führendes Fachorgan der deutschen Geschichtswissenschaft.101 Nicht nur der Herausgeber Sybel verfolgt mit der Historischen Zeitschrift explizit die Vision eines idealen Kommunikationssystems, in dem es nur eine Zeitschrift für alle deutschen Historiker gibt. Die Historische Zeitschrift versteht es deshalb als ihre Aufgabe, ein zentrales Forum für die deutsche Geschichtswissenschaft zu bieten, sie damit zu integrieren und gegen eine zu starke Fragmentierung anzukämpfen.102 In den ersten Jahren nach ihrer Gründung ist die Historische Zeitschrift als ein national orientiertes allgemeingeschichtliches Organ zunächst noch nahezu ohne Konkurrenz. Diese entsteht erst, als die Historische Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften sich als eine der zentralen und führenden Forschungsstätten der deutschen Geschichtswissenschaft entschließt, ihre Verhandlungen nicht mehr als Beilage zur Historischen Zeitschrift, sondern im Rahmen einer eigenen periodischen Zeitschrift zu veröffentlichen. Die 1862 gegründeten Forschungen zur deutschen Geschichte entwickeln sich allerdings relativ rasch zu einem Spezialorgan für mittelalterliche Geschichte und entfernen

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Schieder 1959: 17.

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Vgl. Schieder 1959: 37–54; Stieg 1986: 38.

100 Stieg 1986: 30. 101 Vgl. Schieder 1959: 10–12; Wiggershaus-Müller 1998: 4. 102 Vgl. Stieg 1986: 34.

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sich damit aus dem Zeitschriftenmarkt einer breiteren Öffentlichkeit und aus einem direkten Konkurrenzverhältnis zur allgemeingeschichtlich orientierten Historischen Zeitschrift. Nach dem Tod des leitenden Herausgebers Waitz im Jahr 1886 findet sich kein Nachfolger. Der Wunsch des Verlages, die Zeitschrift weiterzuführen, wird mit dem bezeichnenden Argument abgelehnt, dass eine einzige geschichtswissenschaftliche Zeitschrift genüge.103 Die 1888 gegründeten Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte beanspruchen einen wichtigen, im Titel ausgedrückten Teilbereich der Historischen Zeitschrift für sich. Ebenso wie die Forschungen zur deutschen Geschichte allerdings scheint sich auch diese Zeitschrift nicht als ein allgemeingeschichtliches Organ gegen die Historische Zeitschrift behaupten zu können. Denn während die Historische Zeitschrift weiterhin ihren Ruf als allgemeingeschichtlich orientiertes Organ behalten kann, werden die Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte verdächtigt, ein »Hort der borussischen Tradition« zu sein.104 Eine weitere Konkurrentin entsteht mit der Gründung der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft im Jahr 1889, die ab 1898 als Historische Vierteljahresschrift erscheint. Aber auch ihr gelingt es bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1938 nicht, der auf Dauer erfolgreicheren Historischen Zeitschrift den Rang abzulaufen.105 Tendenziell wird die Historische Zeitschrift gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den einsetzenden Richtungskämpfen und Spezialisierungen in der Geschichtswissenschaft und der Entstehung eines entsprechend vielfältigen Marktes geschichtswissenschaftlicher Periodika herausgefordert.106 Dass die Historische Zeitschrift dennoch ihre zentrale Stellung wahren kann, ist auch der Sensibilität und Umsicht des Herausgebers Sybels zuzuschreiben, der versucht, die Zeitschrift den Entwicklungen des Fachs anzupassen. Als um die Jahrhundertwende mit der Kulturgeschichte eine neue Forschungsrichtung um Karl Lamprecht an Einfluss gewinnt und das 1903 gegründete Archiv für Kulturgeschichte sich als Organ dieser Richtung zu etablieren beginnt, versucht die Historische Zeitschrift diesen Trend durch eine Erweiterung des Herausgebergremiums einzufangen und sorgt dafür, dass auch kulturgeschichtliche Aufsätze aufgenommen werden.107 Gleiches gilt hinsichtlich der mittelalterlichen Geschichte am Ende der

103 Vgl. Schieder 1959: 10, 17; Schnabel 1958: 55. 104 Schieder 1959: 18. 105 Friedrich 1999: 93–104. 106 Raphael 2003: 39. 107 Vgl. Raphael 2003: 73; Schieder 1959: 19.

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1920er Jahre. Auch hier reagiert die Historische Zeitschrift auf die an sie gerichtete Kritik, sie vernachlässige zu sehr das Mittelalter, und die daraus resultierenden Pläne der Gründung einer Zeitschrift für mittelalterliche Geschichte, mit der Aufnahme des Mittelalterhistorikers Albert Brackmann in das Herausgebergremium und einer stärkeren Berücksichtigung mittelalterlicher Themen.108 Nach 1933 gerät die Historische Zeitschrift durch ihre zentrale Stellung in der Geschichtswissenschaft in den Fokus der nationalsozialistischen Machthaber. Nicht zufällig dürfte das NS-Reichswissenschaftsministerium bei seinen Gleichschaltungsbemühungen auf die Zeitschrift abgezielt haben. In einer Denkschrift über den Aufbau geschichtswissenschaftlicher Forschungsinstitute des Ministeriums von 1935 wird die Historische Zeitschrift als geeignetes Publikationsorgan für das neu zu errichtende Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands vorgeschlagen, der Zentrale für die NS-Geschichtsideologie.109 Zwar bleibt die Historische Zeitschrift vom Reichsinstitut unabhängig, inwieweit allerdings im nationalsozialistischen Deutschland die Gleichschaltung der Historischen Zeitschrift im Besonderen und der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen gelingt, wird unterschiedlich eingeschätzt. Der größere Teil der wissenschaftshistorischen Forschung sieht die Integrität der Historischen Zeitschrift während der NS-Herrschaft in der Tendenz eher bewahrt.110 Ein kleinerer Teil sieht ihre Gleichschaltung demgegenüber als gelungen an.111 Entscheidend ist hier allerdings, dass die Forschungsergebnisse unabhängig von dieser Einschätzung alle in der Diagnose der Kontinuität der Historischen Zeitschrift und ihrer über den Machtwechsel stabil gebliebenen Stellung innerhalb der deutschen Historikerschaft übereinstimmen. Kontinuität bewahrt die Historische Zeitschrift einerseits dadurch, dass sie auch unter den Bedingungen des Nationalsozialismus nicht bereit ist, sich von einer kritischen Auseinandersetzung mit historischen Quellen und den methodischen Grundregeln ihres Fachs zugunsten rassistischer Ideologien zu verabschieden.112 Andererseits besteht ihre Beständigkeit darin, dass die in ihr publizierenden Geschichtswissenschaftler vor und nach 1933 die politische Funktion ihres Fachs erkennen und auch bewusst einsetzen.113 Die politische Relevanz der

108 Vgl. Schieder 1959: 19. 109 Heiber 1966: 279. 110 Vgl. Schieder 1959: 20; Heiber 1966: 279; Schulze 1989: 37; Wiggershaus Müller 1998: 265–268. 111 Etwa Schleier 1965: 297–302. 112 Vgl. Wiggershaus-Müller 1998: 265; Schulze 1989: 37. 113 Vgl. Rippel-Manß 1976: 235.

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Geschichtswissenschaft wird kontinuierlich dazu genutzt, vor allem zutiefst konservative Anschauungen zu transportieren, die eine sprachliche Anpassung an die nationalsozialistische Ideologie ohne weitgehende inhaltliche Inkongruenzen ermöglicht. Vor und nach 1933, so etwa Hans Schleiers These, geben »immer eindeutig die antidemokratischen, später die reaktionären imperialistischen Historiker den Ton an und prägten das Gesicht der Zeitschrift«.114 Interessanterweise wird nicht nur der Historischen Zeitschrift, sondern der deutschen Historikerschaft und Historiographie auch insgesamt eine auffällige Kontinuität zugesprochen, die mindestens durch zutiefst konservative Anschauungen bis hin zu weitreichenden Sympathien für das Programm des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist.115 Karl Ferdinand Werner resümiert in seiner einschlägigen Studie zum NS-Geschichtsbild und der deutschen Geschichtswissenschaft, dass es »einen viel zu breiten, weit zurückreichenden Strom der politischen Übereinstimmung zwischen der konservativ-national geprägten Hochschullehrerschaft im Fach Geschichte (Ausnahmen stets vorausgesetzt) und den ›Idealen‹, die der NS-Staat propagierte«116

gegeben hat. Wenn Wiggershaus-Müller in ihrem Abgleich zwischen dem NSGeschichtsbild und der Geschichtsschreibung der Historischen Zeitschrift zu dem Ergebnis gelangt, dass die Publikation abgesehen von sprachlichen Zugeständnissen an die NS-Machthaber an ihrer konservativen, aber an wissenschaftlichen Standards ausgerichteten Geschichtsschreibung festhält, so deckt sich dieses Ergebnis mit der Einschätzung von Karen Schönwälder über die »Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus« insgesamt, nach der die Mehrheit der deutschen Historikerschaft »dazu bereit war, Forschungsinteressen, Fragestellungen und Deutungsmuster an politische Bedürfnisse anzupassen, ohne dabei den Bezug auf die Realität und die Standards wissenschaftlichen Arbeitens vollständig aufzugeben«.117

114 Schleier 1965: 253. 115 Vgl. die umfangreiche Literatur zum Thema, z. B.: Schulze/Oexle 1999; Schöttler 1997; Lehmann/Horn Melton 1994; Schulze 1989: 40; Schreiner 1985; Faulenbach 1980: 314–315; Schleier 1975: 23; Schumann 1975: 406–411; Faulenbach 1974; Werner 1974: 87; Iggers 1971; Werner 1967. 116 Werner 1967: 97. 117 Schönwälder 1992: 276.

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Es kann festgehalten werden, dass die Forschungsergebnisse insgesamt eine über den Machtwechsel von 1933 hinausgehende Stabilität des Verhältnisses der Historischen Zeitschrift zur zeitgenössischen Historikerschaft diagnostizieren und eine möglicherweise erfolgte Gleichschaltung keinen Umbruch für die Zeitschrift bedeutet haben dürfte. Mit dem Zusammenbruch in Deutschland zum Ende des Zweiten Weltkriegs stellt die Historische Zeitschrift vorübergehend ihr Erscheinen ein. Einige Historiker weichen auf die Publikationsmöglichkeiten der neu entstehenden Kulturzeitschriften und der Tagespresse aus, ohne dass dies jedoch den Austausch über die Fachorgane nur annähernd hätte ersetzen können.118 So gelingt es der Historischen Zeitschrift schon bald nach ihrem Wiedererscheinen im Jahr 1949 trotz der verstärkt einsetzenden Diversifizierung von Forschungsrichtungen und Zeitschriften ihre führende Position mit bis zu 1 000 Abonnenten wieder einzunehmen, was in etwa ihrem Verbreitungsgrad von 1925 bis 1938 entspricht. Auch die unmittelbare Nachkriegsgeschichte der Historischen Zeitschrift, die Vorlaufzeit und Anfänge ihres Wiedererscheinens, bestätigen ihre repräsentative Stellung. So zeigt Winifred Schulze, welche Rolle die exponierte Stellung und Sichtbarkeit der Historischen Zeitschrift für die vorsichtige und zögernde Haltung des Herausgebers Ludwig Dehio beim Wiederaufbau und der Herausgabe des ersten Heftes spielt und wie gut es gelingt, bereits in diesem die drängenden geschichtswissenschaftlichen Fragen der Zeit aufzugreifen. 119 Viele Historiker sehen die Historische Zeitschrift nach wie vor als ihr wichtigstes Fachorgan an.120 Mit dem Wiederaufblühen des deutschen Zeitschriftenmarktes in den 1950er Jahren und der deutschen Teilung entsteht eine neue Situation. In der DDR wird 1953 mit der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ein eigenes Zentralorgan der ostdeutschen Geschichtswissenschaft gegründet. 121 Die Zeitschrift fungiert als Steuerungsinstrument der SED-Wissenschaftspolitik und als Sprachrohr des als offiziell deklarierten Geschichtsdiskurses der DDR. Zwar können ab den 1960er Jahren eine leichte Liberalisierung und ein Rückgang von Autoren aus dem engeren SED-Führungszirkel verzeichnet werden, jedoch bleibt sie an die politisch vorgegebenen Grenzen des Regimes gebunden. Dieser Eindäm-

118 Vgl. Schulze 1989: 80. 119 Vgl. Schulze 1989: 107, 108. 120 Vgl. die Zitate zeitgenössischer Historiker, wie des Herausgebers Dehio selbst, des englischen Historikers Geoffrey Barraclough oder Gerhard Ritters bei Schulze 1989: 106, 93, die dies unterstreichen. 121 Vgl. Sabrow 1999: 297; Klein 1999.

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mung der Pluralität im geschichtswissenschaftlichen Diskurs entspricht die relative Monopolstellung und Allzuständigkeit der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft in der DDR. Neben ihr werden lediglich einige Spezialzeitschriften wie die Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, das Jahrbuch für Geschichte der Länder Ost- und Südosteuropas oder das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte geduldet.122 Die Teilung des Zeitschriftenmarktes in einen west- und einen ostdeutschen Bereich markiert eine Spaltung der west- und ostdeutschen Historikerschaft, die sich auch auf organisatorischer Ebene durch die Neugründung des westdeutschen Verbands der Historiker Deutschlands und des ostdeutschen Verbands der Historiker der DDR sowie durch die selbstverständliche Teilnahme jeweils eigenständiger BRD- und DDR-Delegationen auf den internationalen Historikerkongressen widerspiegelt. Auch inhaltlich kommt es zu Konfrontationen zwischen BRD- und DDR-Historikern, etwa auf dem Trierer Historikertag 1958. Die Kooperationsversuche der Historiker gestalten sich wegen der ideologisch eingefärbten Auseinandersetzungen zunehmend schwierig und gelingen allenfalls in der marxistischen Geschichtswissenschaft.123 Die Spaltung Deutschlands und der Historikergemeinschaft bis zum Jahr 1989 sollte in Erinnerung bleiben, wenn sich die Analyse im Folgenden auf Westdeutschland beschränkt. Auch in Westdeutschland gibt es mit der Historischen Zeitschrift ein zentrales Repräsentationsorgan der Geschichtswissenschaft – allerdings mit stärkeren Konkurrentinnen. Zu diesen gehören im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts Geschichte in Wissenschaft und Unterricht und Geschichte und Gesellschaft, die zwar die Historische Zeitschrift nicht verdrängen können, wohl aber ebenso zu den meistverkauften Fachorganen der Geschichtswissenschaft zählen.124 Die vielleicht letzte und aussagekräftigste Bestätigung der Führungsposition der Historischen Zeitschrift liefert eine systematische Erhebung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bei dieser 2004 durchgeführten Befragung einer repräsentativen Stichprobe DFG-geförderter Wissenschaftler wurde die Historische Zeitschrift am häufigsten als die wichtigste geistes- und sozialwissenschaftliche Fachzeitschrift genannt. 125 Interessanterweise zeigt die Studie weiterhin, dass Zeitschriftenaufsätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften die am häufigs-

122 Vgl. Middel 1999: 235–239. 123 Vgl. Sabrow 2001: 253–341; Schulze 1989: 183–200; Diesener/Middel 1996: 16; Berthold 1989. 124 Vgl. Raphael 1999: 204. 125 Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.) 2005: 33, 36.

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ten genutzte Publikationsform zur Beschaffung aktueller Informationen noch vor Beiträgen in Sammelbänden und Monographien sind, während neue Publikationsformen über »Open Access« von sehr geringer und vernachlässigbarer Bedeutung sind.126 Es ist vor diesem Hintergrund angemessen, gerade Zeitschriftenpublikationen als zentralen Indikator kommunikativer Vernetzung in der Geschichtswissenschaft auszuwählen. Seit ihrer Gründung, so kann zusammengefasst werden, ist die Historische Zeitschrift das zentrale Publikationsmedium für Zeitschriftenartikel in der deutschen Geschichtswissenschaft. Erst durch sie entsteht ein klar erkennbarer nationaler Kommunikationszusammenhang einer deutschen Geschichtswissenschaft. Ihre zentrale Stellung im Fach hat die Historische Zeitschrift im Grundsatz bis heute bewahren können. 5.1.3 Physikzeitschriften in Frankreich Die Entwicklungen des naturwissenschaftlichen Zeitschriftensystems in Frankreich und Deutschland sind in ihrem Zusammenhang mit der Ausbildung des Systems wissenschaftlicher Disziplinen vergleichbar. Der Ausdifferenzierungsprozess der naturwissenschaftlichen Fachrichtungen führt auch in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Etablierung der Physik. Dieser Herausbildungsprozess lässt sich auf semantischer wie auf sozialstruktureller Ebene beobachten. In semantischer Hinsicht zeigt sich die Ausdifferenzierung der Physik in Frankreich an der Veränderung ihres Selbstverständnisses gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in dessen Zuge sich das als »la physique« bezeichnete Interessensfeld der französischen Naturwissenschaftler von einer allgemeinen, naturphilosophischen Wissenschaft zu einer speziellen Disziplin mit einem genau definierten Problemkreis entwickelt.127 Während Sigaud de la Fonds in seinen Élémens de physique théorique et expérimentale 1787 unter dem Begriff der Physik noch alles subsumiert, »which falls under our sens«, und ihr »no other boundaries than that which circumscribes the material universe« zuerkennt,128 beschränkt Mathurin Brisson in seinem Traité élémentaire ou principes de physique den Objektbereich der Physik zwei Jahre später bereits nur noch auf den Himmel, während er

126 Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.) 2005: 9, 22. 127 Vgl. Crosland 1994. 128 Sigaud de la Fond 1787: Élémens de physique théorique et expérimentale 1, S. 1, zit. n. Crosland 1994: 23.

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die Befassung mit der Erde der Naturgeschichte zuschreibt.129 Eine noch konzisere Definition, die schon sehr dem modernen Verständnis der Physik ähnelt, liefert wiederum zwei Jahre später La Métherie. Er registriert das sich verengende Selbstverständnis der Physik und bestimmt 1791 in seiner Zeitschrift Observations sur la physique die Physik als Wissenschaft von den Gesetzen verschiedener Körper, die als Subdisziplinen die Statik, die Hydrostatik, die Optik, die Elektrizität und den Magnetismus umfasst.130 In sozialstruktureller Hinsicht kommt es gegen Ende des 18. Jahrhunderts allmählich auch zu einer institutionellen Verankerung des modernen Disziplinensystems und damit der neu entstehenden Physik.131 Mit einer Reorganisation der königlichen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1785 wird eine eigene Sektion für Physik eingerichtet. Noch repräsentiert diese Abteilung jedoch nicht die Physik im Verständnis des frühen 19. Jahrhunderts. Die Mechanik gehört ihr bspw. noch nicht an, und Coulomb, der herausragende Physiker der Zeit in Frankreich, ist nicht Mitglied der Sektion. Zudem fehlt es noch an einem expliziten physikwissenschaftlichen Forschungsprogramm sowie an einer funktionierenden und kohärenten Gruppe von Physikern. Das nach der Schließung der Akademie 1795 gegründete Nationalinstitut enthält ebenfalls eine Sektion für Physik. Im Vergleich zur Vorgängerabteilung der Akademie sind die Konturen der Physik hier bereits etwas deutlicher zu erkennen. Mit Coulomb, Charles, Brisson und Lefévre-Gineau sind nun die zentralen Repräsentanten der französischen Physik Mitglieder. Die Institutionalisierung der Physik als eigenständige Disziplin wird neben dem Forschungs- auch im Bildungssektor deutlich, wo der Physik zunehmend eigene Kurse gewidmet werden.132 Wie in Deutschland ist mit dem Herausbildungsprozess der einzelnen Naturwissenschaften auch in Frankreich ein Umbruch im naturwissenschaftlichen Publikationssystem verbunden, bei dem zunächst im 18. Jahrhundert das Buch als primäres Kommunikationsmedium der Wissenschaft durch allgemeinwissenschaftliche Zeitschriften abgelöst wird. 133 Mit der Konturierung und Verfestigung der einzelnen Fachdisziplinen entstehen dann vor allem im 19. Jahrhundert disziplinenspezifische Fachjournale, die besser auf die Bedürfnisse der sich ausdifferenzierenden Wissenschaften zugeschnitten sind und die allgemein- und populärwissenschaftlichen Journale allmählich verdrängen.

129 Vgl. Brisson 1789: 1. 130 Observations sur la physique 38, 1791, S. 12. 131 Vgl. dazu kurz Chaline 1986: 173. 132 Crosland 1994: 25–28. 133 Crosland 1994: 1.

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Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sind in Frankreich drei eher allgemeinwissenschaftliche Zeitschriften für die Physik wichtig: das Journal de savants, die Mémoires der königlichen Akademie der Wissenschaften und die Observations et mémoires sur la physique, sur l’histoire naturelle, et sur les arts et métiers.134 Das bereits 1665 gegründete Journal de savants widmet sich der Naturwissenschaft ebenso wie der Literatur und veröffentlicht vor allem Rezensionen über wissenschaftliche Bücher ohne thematische Beschränkungen. Als physikwissenschaftliches Fachjournal kann es daher kaum gewertet werden. 135 Die Akademiezeitschrift Mémoires gilt gegen Ende des 18. Jahrhunderts als das wichtigste wissenschaftliche Fachjournal Frankreichs, hat jedoch die gleichen Nachteile wie die deutschen Akademiejournale. Es umfasst einen beträchtlichen Umfang von Themen und Fachrichtungen, veröffentlicht nur die in der Akademie von Mitgliedern gehaltenen Vorträge und dies vor allem mit Verzögerungen von mindestens zwei Jahren.136 Insbesondere die langen Wartezeiten bis zum Erscheinen der Aufsätze nimmt der Abbé Rozier 1773 zum Anlass, eine Wissenschaftszeitschrift zu gründen, die sich speziell durch schnelleres Publizieren von den Akademiezeitschriften unterscheidet. 137 Seine Observations sur la physique verzeichnen gute Erfolge. Sie besteht größtenteils aus Originalaufsätzen, die Rozier vor allem von Mitgliedern der Provinzakademien, aber auch von Wissenschaftlern aus Paris und dem Ausland zugesendet werden.138 Darunter befinden sich teilweise berühmte Aufsätze wie Lavoisiers »Sur la nature du principe qui se combine avec les métaux pendant leur calcination et qui en augmente le poids« und einflussreiche Arbeiten von Guyton Morveau oder Berthollet.139 Weitere Beitragende sind Wissenschaftler wie Priestley, Macquer, Black oder Scheele.140 Roziers Observations sur la physique markieren damit einen Entwicklungsschritt in Richtung eines neuen Zeitschriftensystems der französischen Naturwissenschaften, in dem sich von privaten Verlagen getragene Zeitschriften gegenüber den Akademiepublikationen in den einzelnen Disziplinen durchsetzen. Die Observations sur la physique sind jedoch noch nicht mit einem disziplinär-

134 Court 1972: 113. 135 Crosland 1994: 54. 136 Grattan-Guiness 1981: 104; Crosland 1994: 49–51. 137 Vgl. das Vorwort zum ersten Band der Observations sur la physique, vollständig zitiert in Kronick 1976: 107–110. 138 Kronick 1976: 106–107. 139 Crosland 1994: 53–54. 140 Kronick 1976: 107.

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spezifischen Fachjournal vergleichbar. Rozier selbst ist eher ein Experte für Landwirtschaft und Weinanbau als für Naturwissenschaften, geschweige denn für die Physik im engeren Sinne.141 Die Zeitschrift umfasst noch Themen aus dem gesamten Bereich der Naturlehre. Die enorme thematische Bandbreite der Aufsätze veranlasst Rozier 1778 dazu, für verschiedene Bände der Zeitschrift Themenschwerpunkte zu setzen.142 Ein auf Disziplinen zugeschnittenes Fachjournal entsteht erst mit den Annales de chimie. Als die Zeitschrift 1789 gegründet wird, hat sich allerdings die Chemie noch nicht als Spezialfach durchgesetzt. Dem zeitgenössischen Disziplinensystem entsprechend repräsentiert die Zeitschrift einen sehr weit gestreuten Themenkreis, der damals zwar als »chimie« bezeichnet wird, aus heutiger Sicht allerdings auch Themen aus den benachbarten Disziplinen umfasst, wie die Elektrostatik, die Meteoritenkunde, Heißluftballons, das Studium natürlicher Eigenschaften von Körpern, die Feuerbekämpfung, das neue metrische System oder die Medizin.143 Das Selbstverständnis der Chemie um 1800 ist noch nicht das einer speziellen Fachdisziplin. Die Chemie gilt als grundlegende Wissenschaft, als die Wissenschaft schlechthin. Eine Chemiezeitschrift wie die Annales de chimie ist deshalb zu Beginn des 19. Jahrhunderts thematisch weit umfassender ausgerichtet als die später entstehenden, rein auf ein Gebiet spezialisierten Fachzeitschriften.144 Neben den aus heutiger Sicht zur Chemie zu zählenden Forschungsgebieten behandelt die Zeitschrift vor allem Fragen der späteren Physik, wie die aufgezählten Themengebiete bereits verdeutlichen. Dass die Zeitschrift eine zentrale Stellung für die zeitgenössische französische Naturwissenschaft einnimmt, zeigt sich durch die enge Verbindung und durch die personellen Überlappungen, die zur Société d’Arcueil bestehen, in der sich die einflussreichsten Wissenschaftler Frankreichs der Zeit zusammenschließen.145 Wie im Kapitel über die deutschen Physikzeitschriften bereits dargestellt, setzt sich die Physik als eigenständige Disziplin vor allem in Abgrenzung zur Chemie etwa um 1820 durch, als die vorherrschende Theorie der Imponderabilien – ausgelöst durch Fresnels Wellentheorie des Lichts – allmählich in Frage gestellt wird.146 In der Folge entsteht ein für die Physik als Disziplin konstituierendes Paradigma, das anstelle von Substanzen und Partikeln auf Kraft, Bewe-

141 Kronick 1976: 106. 142 Crosland 1994: 52. 143 Crosland 1994: 152–156. 144 S. die Inhaltsanalyse bei Court 1972: 124–128. 145 Crosland 1967: 404–406; Taton 1970: 98. 146 Silliman 1974; Fox 1975; Crosland/Smith 1978: 1–9; Stichweh 1984: 94–172.

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gung und Wirkung im Raum abstellt.147 Dieser Verselbstständigungsprozess der Physik, durch den die Chemie einerseits und die Physik andererseits als jeweils eigenständige Disziplinen hervortreten, spiegelt sich in der Geschichte der Annales wider: 1816 wird die Zeitschrift von Annales de chimie in Annales de chimie et de physique umbenannt und es werden zwei Herausgeber bestellt – GuyLussac, zuständig für die Chemie, und Arago, verantwortlich für die Physik.148 Der thematische Zuschnitt der Zeitschrift ändert sich nicht, jedoch ist es nicht mehr länger möglich, die verselbstständigte Physik unter dem Begriff der Chemie zu subsumieren. Mit der Entstehung der Physik in Frankreich beginnt für die Annales eine Phase der Prosperität. Die hohe Reputation der Herausgeber und die Qualität der Aufsätze führen zu einem Anstieg der Verkaufszahlen und machen die Zeitschrift zu einer komfortablen Einnahmequelle.149 Hinzu kommt, dass die wichtigste Konkurrenzzeitschrift, das Journal de physique, 1822 das Erscheinen einstellt. Die Annales avancieren so zur alleinigen Physikzeitschrift von Bedeutung in Frankreich und gelten bald als Modell für die wissenschaftliche Fachzeitschrift überhaupt.150 Als führendes Fachorgan der Physik in Frankreich begleiten die Annales de chimie et de physique wichtige Entwicklungsschritte dieser Wissenschaft. Die für die Entstehung der Physik so relevanten Ideen Fresnels im Bereich der Optik finden durch die Annales in Frankreich Verbreitung. 151 Die Forschungen zum Magnetismus und zur Elektrizität etwa von Oersted werden in den Annales ebenso veröffentlicht wie Ampères Weiterentwicklungen zum Elektromagnetismus, wichtige Arbeiten zur Akustik wie etwa die des Biot-Schülers Felix Savart oder die Untersuchungen zur Wärmeforschung von Fourier oder Poisson und seinen Schülern. Auch die angewandte Physik, etwa Studien über die Dampfmaschine oder über Verbesserungen von Wassermühlen, finden in den Annales Eingang.152 Zwar können die Annales de chimie et de physique für fast das gesamte 19. Jahrhundert ihre vorherrschende Stellung als das für die Chemie und Physik zu-

147 Zeitgleich kommt es zur internen Differenzierung in die theoretische Physik (vgl. z. B. Frankel 1977 oder Grattan-Guinness 1981) und die experimentelle Physik (vgl. z. B. Balpe 1999). 148 Court 1972: 128. 149 Crosland 1994: 216–217. 150 Crosland 1994: 218–219. 151 Fox 1975: 112, 125. 152 Vgl. zu diesem Abriss der physikalischen Themen in den Annales Crosland 1994: 219–228.

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ständige Fachjournal in Frankreich bewahren, jedoch ist sie nicht ohne Konkurrenz.153 Schon zwei Jahre nach der Einstellung des Journal de physique publiziert Baron de Rérussac 1824 den ersten Band des Bulletin des sciences mathématiques, astronomiques, physiques et chimiques. Parallel dazu lanciert er ein weiteres Periodikum für Medizin, Landwirtschaft und Militär. Dieser Ausdifferenzierungsgrad der gewählten Themen erscheint im Verhältnis der tatsächlichen disziplinären Gegebenheiten allerdings sehr ambitioniert, so dass die Zeitschriften sehr bald eingestellt werden. 1835 gründet die hoch angesehene Akademie der Wissenschaften in Paris in Ergänzung zu ihren Mémoires eine eigene naturwissenschaftliche Fachzeitschrift. Die Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’académie des sciences wagen den Schritt, wöchentlich zu erscheinen. Zwar hat die Zeitschrift dadurch und durch das enorme Prestige der Akademie gegenüber der Annales gewisse Vorteile, jedoch treten die beiden Zeitschriften nicht in ein direktes Konkurrenzverhältnis ein: Die Comptes rendus sind kein auf die Chemie oder die Physik spezialisiertes Fachjournal, sondern umfasst alle großen Gebiete der Naturwissenschaft. Zudem werden nur äußerst kurze Artikel von höchstens 3 Seiten für externe Autoren und 6 Seiten für Mitglieder der Akademie zugelassen. Dadurch stellt sich zwischen den Comptes rendus und den Annales ein komplementäres Verhältnis ein, bei dem zunächst Ankündigungen bzw. kurze Zusammenfassungen von Forschungsergebnissen in den Comptes rendus veröffentlicht werden und später der vollständige Artikel in den Annales erscheint. 1837 veröffentlicht Charles Martin das Repertoire de chimie, de physique et d’application aux arts. Als Indiz für die Schwierigkeiten dieser Zeitschrift lässt sich die Änderung des Titels wenig später in Répertoire de chimie scientifique et industrielle bewerten, wovon man sich offensichtlich unterstützendes Interesse von Seiten der Industrie erhofft. Dass diese allem Anschein nach nicht eintritt, zeigt sich nach einer weiteren Titeländerung in Répertoire de chimie et mémorial des travaux étrangers daran, dass das Journal nach nur zwei Jahren wieder eingestellt wird. Ebenfalls 1837 erscheint mit Demarçays Annuaire des sciences chimiques die erste französische Übersetzung von Berzelius jährlichen Berichten. Zwar besitzt Berzelius in Frankreich hohes Ansehen, jedoch bleibt der Erfolg der Übersetzung offensichtlich aus, denn für vier Jahre wird kein weiterer Band übersetzt. Erst 1841 erscheinen wieder weitere Übersetzungen von Plantamour unter dem Titel Rapport annuel sur le progrès des sciences physique et chimiques. Auch

153 Vgl. zu den Konkurrenzzeitschriften der Annales Crosland 1994: 245–252.

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diese Reihe stellt jedoch mit dem Ausbruch der Revolution 1848 das Erscheinen bereits wieder ein. Für den engeren Bereich der Chemie entstehen im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts weitere Konkurrenzzeitschriften für die Annales de chimie et de physique. Dies gilt zunächst vor allem für die 1846 von Gerhardt gegründeten Comptes rendus des travaux chimiques und für die 1845 von Millon und Reiset ins Leben gerufene Annuaire de chimie. Beiden Zeitschriften gelingt es jedoch nicht, Kontinuität herzustellen. Die als Oppositionszeitschrift zum wissenschaftlichen Establishment konzipierten Comptes rendus des travaux chimique überleben nur bis 1852, die Annuaire de chimie sogar nur bis 1851. Ernsthafte Konkurrenz entsteht für die Annales de chimie et de physique erst, als 1864 die drei zentralen Publikationen der nationalen Société chimique in einem Bulletin gemeinsam veröffentlicht werden. Diese Zeitschrift verzeichnet einen enormen Erfolg und wächst bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf einen Umfang von ca. 2 000 Seiten an. Dass sie damit den doppelten Umfang der Annales de chimie et de physique verzeichnet, zeigt einen Führungswechsel im System der französischen Chemiefachzeitschriften an. Auch in der Physik verlieren die Annales de chimie et de physique gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre zentrale Stellung. Ungünstig scheint sich die Politik Berthelots auszuwirken, der ab 1889 führender Herausgeber der Annales ist und seine Stellung dazu benutzt, seine eigenen, oft langen und bereits an anderer Stelle veröffentlichten Arbeiten in den Annales abdrucken zu lassen, ohne sie zuvor einer Begutachtung zu unterziehen. Der Qualitätsverlust der Zeitschrift zeigt sich an der sinkenden Zahl der Abonnementen: 1883 verfügt die Zeitschrift noch über 863 Abonnementen, 1884 über 850, 1887 hat sie 817, 1889 801 und 1900 nur noch 690, was einem Verlust von 20 Prozent über 16 Jahre entspricht.154 Besonders aussagekräftig wird diese Diagnose des Abstiegs der Annales de chimie et de physique vor dem Hintergrund des zeitgleichen Aufstiegs der französischen Wissenschaft und der Physik mitsamt ihrem Publikationsaufkommen während des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts. Diese Entwicklung zeigt sich in mehrfacher Hinsicht: Neben einem starken Anstieg an wissenschaftlichem Personal und an Studenten ist die Zunahme der Staatsausgaben für die Wissenschaft von 1 225 857 Franc im Jahr 1890 auf 2 071 881 Franc nur acht Jahre später besonders auffallend.155 Vor allem jedoch nimmt die Zahl der Veröffentlichungen zu. Allein die Anzahl der Zeitschriftenartikel, die von 372 ausgewähl-

154 Vgl. Crosland 1994: 252–255. 155 Shinn 1979: 330, 331, 304–305; Turner 1995: 285.

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ten, an den naturwissenschaftlichen Fakultäten tätigen Professoren veröffentlicht werden, steigt von 512 im Zeitraum zwischen 1876 und 1880 auf 3 451 im Zeitraum zwischen 1891 und 1895 an.156 Neben der Chemie hat die Physik an diesem Aufstieg den größten Anteil.157 Wie in Deutschland ist mit dem Wachstum der Wissenschaft eine verstärkte interne Differenzierung verbunden, die sich auch an den Veränderungen im System der Physikzeitschriften in Frankreich ablesen lässt.158 Neben verschiedenen Spezialzeitschriften zu Themen wie der Luftfahrt, der Physik der Atmosphäre oder Gewichten und Maßen entstehen eine Reihe verschiedener Zeitschriften zur Elektrizität wie La lumière électrique (1879), L’éclairage électrique (1894), die Revue générale de l’électricité (1917) und schließlich das Bulletin de la Société Française des Électriciens (1919). Weiterhin entstehen das Journal de chimie physique (1903), die Revue d’optique théorique et instrumentelle (1922), die Annales de l’Institut Henri Poincaré (1930) und die Revue générale des industries radio-électriques (1934). All diesen Zeitschriften ist gemeinsam, dass sie eher Spezialgebiete der Physik abdecken und tendenziell nicht einen Bezugspunkt für die gesamte französische Physikerschaft darstellen. Im Bereich der allgemeinen Physikzeitschriften bestehen nach wie vor die geschwächten Annales de chimie et de physique. 1913 wird diese Zeitschrift in die Annales de chimie einerseits und die Annales de physique andererseits aufgespaltet. Auch den auf die Physik ausgerichteten Annales de physique gelingt es jedoch nicht, sich ins Zentrum der Forschungen zurückzubewegen. Sie veröffentlichen relativ wenige Artikel, von denen die meisten lediglich auf Doktorarbeiten zurückgehen.159 Weiterhin bestehen immer noch die Comptes rendus de l’académie des sciences, die relevante Veröffentlichungen zur Grundlagenforschung in der Physik enthält, jedoch selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch immer eine Publikation für die gesamte Naturwissenschaft ist, die Artikel aus der Mathematik ebenso veröffentlicht wie solche aus der Botanik und infolgedessen nach wie vor nur relativ kurze Artikel zulassen kann.160 Seit 1872 besteht mit dem Journal de physique theorique et appliquée neben den Annales de chimie et de physique eine weitere wichtige allgemeine Fachzeitschrift für Physik in Frankreich:161 Diese wird von der Société Française de Phy-

156 Shinn 1979: 328. 157 Shinn 1979: 309. 158 Vgl. zum Folgenden Pestre 1984: 100–101 u. Botter/Lavery/Leach/Marx 2000: 3. 159 Pestre 1984: 73. 160 Pestre 1984: 73. 161 Vgl. Purrington 1997: 18–19.

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sique herausgegeben, einer für die Fachrichtung zentralen Gesellschaft, deren Mitgliederzahl bis 1910 auf 1 558 ansteigt und damit selbst die der Société Chimique de France übertrifft. Mehr als 70 Prozent der Mitglieder sind professionelle Wissenschaftler, die im Universitäts- und Bildungssystem beschäftigt sind. 162 Die Gesellschaft entwickelt zum Ende des 19. Jahrhunderts wichtige Funktionen in Bezug auf Publikations- und Karrieremöglichkeiten französischer Physiker.163 Nach dem Abstieg der Annales de chimie et de physique scheint das Journal de physique dessen Platz eingenommen zu haben und einflussreiche Physiker wie Lippmann, Perrin and Poincaré beginnen in der neuen Zeitschrift zu publizieren.164 Während die Comptes rendus nach wie vor kurze Vermerke über neue Forschungsergebnisse publizieren, werden die vollständigen Artikel nun nicht mehr in den Annales de chimie et de physique, sondern im Journal de physique veröffentlicht.165 Entsprechend nimmt Hookers internationales Ranking für Physikzeitschriften aus dem Jahr 1934 das Journal de physique als das führende französische Periodikum für die Physik in das Sample der Quellenzeitschriften auf. Daneben werden mit Physical Review, Proceedings of the Royal Society of London und Zeitschrift für Physik die jeweils führenden Physikzeitschriften der USA, Großbritanniens und Deutschlands berücksichtigt. Im Ergebnis des Rankings zeigt sich zudem, lässt man die allgemeinwissenschaftlichen Comptes rendus aus den oben genannten Gründen außer Acht, dass das Journal de physique mit seinem elften Rang die meistzitierte französische Physikzeitschrift ist, noch weit vor den Annales de physique, die auf Rang 34 die am zweithäufigsten zitierte französische Physikzeitschrift sind. Diese Rangordnung zeigt sich für den gesamten Zeitraum von der Gründung der Annales de physique im Jahr 1913 bis zum Ende des Untersuchungszeitraums 1933.166 Das gleiche Bild ergibt sich auch in Dierks Ranking von Physikzeitschriften aus dem Jahr 1972. Auch hier wird neben den anderen wichtigen nationalen Physikzeitschriften das Journal de physique als einzige französische Zeitschrift in das Sample der Quellenzeitschriften aufgenommen.167 Im Ranking selbst rangiert das Journal de physique als das meistzitierte französische Fachjournal auf

162 Fox (Hrsg.) 1980: 278–279. 163 Fox (Hrsg.) 1980: 7. 164 Fox (Hrsg.) 1980: 279. Vgl. zu den wichtigsten nationalen Physikzeitschriften um 1900 die Tabelle bei Kragh 1999: 20. 165 Pestre 1984: 73. 166 Hooker 1935. 167 Dierks 1972: 13.

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Platz Nummer 50, während sich die Annales de physique erst auf Platz 66 wieder finden.168 Natürlich ähnelt sich insgesamt die Situation in der Physik im Frankreich und im Deutschland der Nachkriegszeit: Dierks Ranking zeigt, dass das über die verschiedenen Länder hinweg weitaus wichtigste Journal die US-amerikanische Physical Review ist, die fast dreimal so viele Zitationen auf sich vereinen kann wie die am zweithöchsten gerankte, ebenfalls US-amerikanischen Physical Review Letters. Wie sehr sich die Physical Review als das für die internationale Physikergemeinschaft führende Fachjournal durchgesetzt hat, zeigt die hohe Konstanz des Rankings unter Zugrundelegung von Quellensamples aus jeweils nur einem der verschiedenen Länder. So ändert sich an der Führung der Physical Review auch dann nichts, wenn anstelle eines Samples von Quellenzeitschriften aus verschiedenen Ländern etwa nur solche aus Deutschland oder der UdSSR der Analyse zugrundegelegt werden.169 1998 fusioniert das Journal de physique mit der Zeitschrift für Physik zum European Physical Journal zwar mit gewissem Erfolg, jedoch ohne den führenden US-amerikanischen Zeitschriften Konkurrenz machen zu können.170 Wie in Deutschland kann daher auch in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg von einer nationalen Publikations- und Kommunikationsstruktur kaum mehr die Rede sein. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Annales de chimie et de physique über das gesamte 19. Jahrhundert das zentrale Publikationsorgan der Physiker in Frankreich sind. Erst um die Jahrhundertwende wird die Zeitschrift vom Journal de physique in ihrer Führungsposition abgelöst. Die radikalen Umbrüche im Zuge des Zweiten Weltkriegs bewirken auch in Frankreich eine rasche Auflösung nationaler Kommunikationsstrukturen in der Physik, die sich nun stark auf ihr neues Zentrum in den USA und auf die Physical Review ausrichtet. 5.1.4 Geschichtswissenschaftliche Zeitschriften in Frankreich In Frankreich ist die Geschichtswissenschaft – wie in Deutschland – noch während fast des gesamten 19. Jahrhunderts nicht als eigenständige und professionalisierte Disziplin etabliert. Verantwortlich dafür sind die mangelnden institutionellen Grundlagen. Durch Dekrete von 1806 und 1808 werden zwar bereits Gründungen und Neugründungen einer Reihe von Universitäten veranlasst, je-

168 Dierks 1972: 78–85. 169 Dierks 1972: 87–88. 170 Kragh 1999: 399.

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doch handelt es sich dabei praktisch um reine Lehrinstitutionen, die sich auf die Vergabe von Zeugnissen beschränken und keine eigenständigen Forschungsvorhaben verfolgen.171 Die mangelnde disziplinäre Differenzierung der Geisteswissenschaften insgesamt zeigt sich bei den Universitäten anhand ihrer internen Organisationsstruktur, die sich noch nicht durch eine Differenzierung von Facheinheiten auszeichnet. Die geisteswissenschaftlichen Fakultäten in der französischen Provinz bestehen etwa aus jeweils fünf Lehrstühlen, von denen jeder mit der Gesamtheit der bekannten geisteswissenschaftlichen Fächer betraut ist. Die Formierung einer eigenständigen geschichtswissenschaftlichen Fachrichtung wird allerdings nicht nur durch die Vernachlässigung der Forschung und die mangelnde disziplinäre Differenzierung der Universitäten verhindert. Weiterhin fehlt zur Konstitution eines eigenständigen Fachs ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das schon wegen der Vereinzelung der Universitäten und wegen mangelnden Austauschs nicht aufkommen kann. Vor allem aber fehlt es an der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die französischen Universitäten des frühen 19. Jahrhunderts beschränken sich auf die Vergabe von Zeugnissen, vor allem das Baccalauréat. Die Lehrveranstaltungen bleiben thematisch allgemein und richten sich an die breite Öffentlichkeit. Eine wissenschaftliche Ausbildung vermitteln allein die grandes écoles, aber auch hier gibt es keine geschichtswissenschaftliche Spezialisierung.172 Neben solchen institutionellen Defiziten tritt die mangelnde Autonomie der Geschichtswissenschaft als eigenständige, der Objektivität verpflichtete Wissenschaft. Die französische Geschichtswissenschaft dient vor allem als Instrument des politischen Konservatismus und des Katholizismus. Nach dem Sieg der oppositionellen Republikaner in der Revolution von 1848 ist die Geschichtswissenschaft ein Sammelbecken für arbeitslos gewordene Aristokraten, die die Geschichte insbesondere dazu benutzen, Anschuldigungen gegen das Ancien Régime, die Monarchie und die Kirche abzuwenden. Das konservative Milieu scheint die französische Geschichtswissenschaft bis fast ans Ende des 19. Jahrhunderts, als die Dritte Republik massiv wissenschaftspolitisch aktiv wird, zu beherrschen. So dominieren die Konservativen die Mehrheit der relevanten geschichtswissenschaftlichen Institutionen, wie das Comité des travaux historiques, die Société d’Histoire de France sowie die Académie des Inscriptions et Belles-lettres und die Académie française. Entscheidend ist auch, dass die wichtigste der wenigen Institutionen, die lehrend in der Geschichtswissenschaft tätig

171 Dumoulin 1986: 52; Gerike 1999: 64. 172 Noiriel 1990: 59.

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sind und Nachwuchs ausbilden, die École des chartes, sich fest in der Hand der Aristokraten befindet. Diese Situation spiegelt sich im System geschichtswissenschaftlicher Publikationen wider. Noch in den 1870er Jahren stammen lediglich 2 Prozent der 150 000 bis 200 000 Seiten der jährlichen historiographischen Produktion von Universitätshistorikern.173 Dies erscheint symptomatisch auch für die Monographien allein. Insgesamt erscheinen eher wenige Bücher und diejenigen, die es gibt, stammen zumeist von Amateurhistorikern. Noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Anteil der Amateurhistoriker an den Autoren der Monographien sehr hoch.174 Die Monographie avanciert daher nicht zum favorisierten Publikationsmedium akademischer Historiker. Im Gegenteil, noch Mitte des 20. Jahrhunderts kann eine Verdrängung des Buches durch die Fachzeitschrift diagnostiziert werden.175 Dies liegt vor allem daran, dass professionelle Historiker an den Universitäten wegen intensiver Lehr- und Prüfungsbelastungen kürzere Publikationen in Zeitschriften vor typischerweise langen Monographien bevorzugen.176 Den Boer unterscheidet gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwischen vier verschiedenen Typen von Zeitschriften, die als Publikationsorgane für die französische Geschichtswissenschaft dienen: »Allgemeine Zeitschriften« mit einer historischen Rubrik, »lokale Zeitschriften«, »Allgemeine historische Zeitschriften« und »spezialisierte historische Zeitschriften«.177 Bis 1866 bestehen in Frankreich nur lokale und allgemeine Zeitschriften. Die »lokalen Zeitschriften« beschränken sich auf einzelne Regionen und deren Geschichte und werden von den entstehenden Periodika nationaler Reichweite mit der Zeit nach und nach verdrängt. Im Prozess der Professionalisierung der französischen Geschichtswissenschaft spielen sie jedenfalls offenbar keine Rolle. Die allgemeinen, eher populärwissenschaftlich gehaltenen Zeitschriften wie Le Correspondant und Nouvelle Revue sind ebenso wie der Großteil der Monographien meistens Mittel der politischen Auseinandersetzung für die konservative Rechte. 178 Mit der Gründung der Revue des questions historiques im Jahr 1866 erscheint zwar erstmals eine allgemeine geschichtswissenschaftliche Zeitschrift mit dem Anspruch, Aussagen über die Geschichte auf die Basis von Quel-

173 Gerike 1999: 64; Noiriel 1990: 60. 174 Raphael 1993: 115. 175 Raphael 1993: 102. 176 Lingelbach 2003: 375, 380. 177 Aus dem Niederländischen übersetzt aus Boer 1986: 530. 178 Noiriel 1990: 60–61.

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len zu stellen. Das Programm dieser von einer Gruppe katholischer Historiker gegründeten Zeitschrift fügt sich jedoch ebenso wie die herkömmlichen Zeitschriften in die politische Kampagne zur Widerherstellung der Monarchie und Verteidigung der katholischen Kirche ein.179 Der Zeitschrift geht es nicht so sehr um eine nüchterne und distanzierte Betrachtung der Geschichte als vielmehr um die Einnahme eines kompromisslosen politischen Standpunkts.180 An die Stelle eines Vorantreibens der Forschung durch Erschließung neuen Materials setzt man die Reinterpretation der bestehenden historiographischen Arbeiten. 181 An die Stelle einer sachlichen Auseinandersetzung mit konkurrierenden Geschichtsbildern liberaler und antiklerikaler Historiker setzt man deren Verurteilung als eine »long conspiracy against truth«.182 Eines der ersten Anzeichen der einsetzenden Professionalisierung der französischen Geschichtswissenschaft stellt allerdings ebenfalls im Jahr 1866 die Gründung der Revue critique d’histoire et de littérature dar, die sich, ebenso wie die Revue des questions historiques, der allgemeinen Geschichtswissenschaft auf nationaler Ebene widmet. Die Revue critique d’histoire et de littérature verspricht darüber hinaus, »[to] embrace all of the disciplines that dealt with the past«.183 Anders als die Revue des questions historiques wird die Revue critique d’histoire et de littérature jedoch nicht von Amateuren, sondern von einer kleinen Gruppe akademisch ausgebildeter Historiker gegründet. Die Revue critique d’histoire et de littérature nimmt eine initiative Funktion für die Durchsetzung methodischer Standards und damit für die Entstehung der französischen Geschichtswissenschaft als eigenständige Disziplin ein. Die Zeitschrift ist allerdings ein reines Rezensionsorgan, veröffentlicht keine wissenschaftlichen Artikel und überschreitet kaum jemals 20 Seiten Umfang. Die Rezensionen werden gleichwohl von professionellen Historikern verfasst, die in dem Feld des jeweils rezensierten Buches spezialisierte Kenntnisse besitzen. Aufsehen erregt die Zeitschrift vor allem, weil sie, anders als die herkömmlichen Rezensionsorgane wie die Revue des deux mondes oder das Journal des débats, Geschichtsbücher nicht mehr nach ihrem Erzählstil oder ihrem Unterhaltungswert beurteilt, sondern nach der Einhaltung wissenschaftlicher Standards fragt. So schreckt Charles Morel, einer der Mitarbeiter, nicht davor zurück, auch einflussreiche Vertreter des Fachs wie Fustel de Coulanges rigoros zu kritisieren,

179 Carbonell 1976a: 333; Stieg 1986: 41; Gerike 1999: 65. 180 Boer 1986: 540. 181 Siegel 1972: 6. 182 Zit. n. Keylor 1975: 33. 183 Zit. n. Siegel 1972: 5.

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weil seine monumentale Studie über das politische System des alten Griechenlands, Cité antique, eine »serious examination of facts and details«184 missen ließe.185 Dass diese Reform nur an der Oberfläche bleibt und nicht bis in weite Teile der Geschichtswissenschaft durchschlägt, zeigt sich allerdings neben dem auffallend geringen Umfang der Zeitschrift daran, dass der kleine Mitarbeiterkreis die Rolle der Revue critique d’histoire et de littérature offenbar ausschließlich in der Kritik des konservativen geschichtswissenschaftlichen Establishments sieht und sich keinen Erfolg davon verspricht, die Zeitschrift auch für Originalartikel zu öffnen. Auffallend ist zudem, dass die Rezensionen in ihrer Kritik anderer Werke offenbar noch nicht in der Lage sind, auf einen definierten Kanon von Kriterien dessen, was einen wissenschaftlichen Standard in der Geschichtswissenschaft ausmachen könnte, zurückzugreifen. Denn die Rezensionen haben in erster Linie einen verneinenden Charakter. Arbeiten werden wegen ihrer fehlenden Wissenschaftlichkeit einerseits kritisiert, ohne diese andererseits positiv zu explizieren.186 Die Zeitschrift steht offenbar auf einem zu schwachen Fundament, um im ideologisch geprägten Umfeld der französischen Geschichtsschreibung Fuß zu fassen. Die Revue critique scheitert bald und stellt ihr Erscheinen 1870 mit Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs nach nur vier Jahren wieder ein. Die Professionalisierungsversuche der Zeitschrift erscheinen letztendlich als »little more than window dressing that preserved the entrenched system essentially intact«.187 Es verwundert deswegen nicht, dass mit Gaston Paris einer der Herausgeber selbst die Unzulänglichkeit der Revue critique anerkennt und zur Gründung einer zentralen französischen Fachzeitschrift nach dem Vorbild der erfolgreichen Historischen Zeitschrift aufruft.188 Diesem Appell kommt Gabriel Monod mit der Gründung der Revue historique im Jahr 1876 nach. Wie schon bei der Revue critique d’histoire et de littérature entstammt auch diese Zeitschrift dem Milieu professioneller Historiker und wie diese versteht sie sich als Organ der gesamten Geschichtswissenschaft. Die Revue historique wolle »servir de lien entre tous ceux qui consacrent leurs efforts à la vaste et multiple investigation dont l’histoire est l’objet, leur faire

184 Zit. n. Keylor 1975: 30. 185 Keylor 1975: 29–32; Stieg 1986: 41. 186 Lingelbach 2003: 392. 187 Keylor 1975: 34. 188 Revue critique 1867: 19.

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sentir leur solidarité«.189 Monod und Fagniez zählen im Avant-prospos die gesamte europäische Geschichte von 395 bis 1815 zum Themenspektrum der Zeitschrift.190 Bereits 50 der 53 anfänglichen Mitarbeiter der Revue historique sind Berufshistoriker, davon 31 Professoren, 12 Archivare und 7 Bibliothekare.191 Anders als die Revue critique nimmt die Revue historique nicht nur über ihre Rezensionen eine professionalisierende Funktion für die französische Geschichtswissenschaft ein, sondern publiziert darüber hinaus auch Originalaufsätze. Anders auch als die Revue critique avanciert die Revue historique zu einer erfolgreichen Fachzeitschrift mit zunehmend zentraler Bedeutung für die französische Historikerschaft insgesamt: »La revue devient alors tout à la fois l’instrument principal de publication des études originales, un outil bibliographique indispensable, un organe de liaison entre les professionnels dispersés dans tout le pays (diffusant de nombreuses informations sur la vie de la communauté) et un organe d’officialisation des critères scientifiques qui dominent à un moment donné la discipline.«192

Dass die Revue historique auf das Engste mit der Entstehung der geschichtswissenschaftlichen Disziplin in Frankreich verbunden ist, zeigt sich an der Übereinstimmung ihres Selbstverständnisses mit dem der aufkeimenden Geschichtswissenschaft insgesamt.193 Gérard Noiriel stellt die These auf, dass die Mehrheit der Normen, Regeln und Standards, die noch heute das Selbstverständnis der Disziplin prägen, sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich durchgesetzt habe.194 Ihm zufolge gehört dazu an erster Stelle natürlich der Anspruch, dass sich die geschichtswissenschaftliche Forschung auf eine »Methode« zu stützen habe. Damit verbunden ist das positivistische Selbstverständnis der jungen Geschichtswissenschaft, die sich in erster Linie der direkten Aufarbeitung von Originaldokumenten und der Produktion von »Fakten« zu widmen habe. Das Beharren auf den Fakten und die Abscheu gegenüber übergreifenden und abstrakten Thesen muss man vor dem Hintergrund des ideologisch gefärbten Umfelds der zeitgenössischen französischen Geschichtswissenschaft verstehen, die die Ge-

189 Revue historique 1876: 35. 190 Vgl. Stieg 1986: 48. 191 Carbonell 1976a: 336. 192 Noiriel 1990: 68. 193 Vgl. zur Entstehung der Geschichtswissenschaft in Frankreich auch allgemein: Becher 1986. 194 Noiriel 1990: 58.

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schichte ihren Lehrsätzen entsprechend selektiv wahrnimmt und von der man sich abzugrenzen wünscht. Darüber hinaus formiert sich eine disziplinäre Identität der Geschichtswissenschaft über die Vorstellung einer arbeitsteiligen Vorgehensweise, bei der die Studien zu einzelnen Fragen der Geschichte als komplementäre Beiträge zu einem Ensemble geschichtswissenschaftlicher Aufklärung verstanden werden. In Abgrenzung zur ideologisierten Historiographie der konservativen Monarchisten und Katholiken betont die »neue« Geschichtswissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Pflicht zur »Objektivität«, von der man sich die Emanzipation des Fachs von ihrer Instrumentalisierung in politischen Auseinandersetzungen erhofft. Schließlich, und auch das kann man als Abgrenzungsversuch gegenüber einer als zu großspurig empfundenen konservativen Geschichtsschreibung verstehen, gilt es, die Aussagekraft einzelner Arbeiten in Bezug auf die geschichtliche Wahrheit insgesamt mit »Bescheidenheit« zu betrachten.195 Das Selbstverständnis der Revue historique deckt sich weitgehend mit diesen neuen Standards der Geschichtswissenschaft. Gerade dem positivistischen und methodenorientierten Wissenschaftsbild folgt die Revue historique besonders auffällig, indem sie die positivistische Verfassung der Geschichtswissenschaft zu ihrer Doktrin erhebt. Ihre Selbstverortung in einer als positivistisch verstandenen Geschichtswissenschaft ist das primäre Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Revue des questions historiques.196 Im Eröffnungsartikel der ersten Ausgabe der Revue historique schreibt ihr Gründer Gabriel Monod: »L’histoire est une science positive […] On doit s’efforcer d’écarter les causes de prévention et d’erreur pour ne juger les événements et les personnages qu’en eux-mêmes […] Notre Revue se referma dans le domaine des faits et restera fermée aux théories politiques et philosophiques […] Nous prétendons rester indépendants de toute opinion politique et religieuse.«197

Die Verortung der Revue historique in der professionellen Geschichtswissenschaft, die sich durch die genannten Paradigmen – Positivismus, Methodentreue, Arbeitsteilung, Objektivität und Bescheidenheit – kennzeichnet, zeigt sich neben den programmatischen Texten von Monod besonders klar bei den Rezensionen, die zur Formierung dieses Selbstverständnis ganz wesentlich beigetragen ha-

195 Vgl. zu dieser Charakterisierung der frühen Geschichtswissenschaft Noiriel 1990. 196 Carbonell 1976a: 337. 197 Zit. n. Carbonell 1976a: 337–338.

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ben. 198 Nach Gabriele Lingelbachs Auswertung der Rezensionen, die in den 1870er und 1880er Jahren in der Revue historique erscheinen, spiegeln diese eindeutig diejenigen Standards wider, mit denen Gérard Noiriel die zeitgenössische französische Geschichtswissenschaft insgesamt charakterisiert.199 Das positivistische Selbstbild des jungen Fachs und der Anspruch, eine »Methode« geschichtswissenschaftlicher Forschung einzuhalten, drücken sich in Forderungen der Rezensenten aus, Aussagen auf Quellen, wenn möglich neue und unveröffentlichte, zu stützen, einen Anmerkungsapparat mitzuführen, richtig zu zitieren und Sorgfalt bei bibliographischen Angaben zu zeigen. Offenbar mit Blick auf das Ideal einer arbeitsteiligen Wissenschaftsgemeinschaft kritisieren die Rezensenten außerdem teilweise sehr scharf, wenn Autoren die aktuelle Forschungsliteratur der Kollegen nicht rezipieren, ihre Veröffentlichungen dem Wissen der Disziplin keine neuen Erkenntnisse hinzufügen oder gar als Plagiate enttarnt werden. Das Objektivitätsideal wird deutlich, wenn Bücher wegen Parteinahme oder Voreingenommenheit kritisiert werden oder weil sie zu offensichtlich einen Gegenwartsbezug herstellen mit dem Ziel einer politischen Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft. Umgekehrt werden Bücher wegen ihrer Unparteilichkeit gelobt. Schließlich findet sich auch die Mahnung zur »Bescheidenheit« in den Rezensionen der Revue historique wieder, etwa wenn Bücher dafür kritisiert werden, dass sie zu große Themengebiete abdecken oder dafür, dass sie statt in einer nüchternen, klaren und präzisen Sprache in einem zu blumigen, pompösen und subjektiven Stil geschrieben seien. Natürlich ist die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft auch auf andere Faktoren zurückzuführen, vor allem die massive wissenschaftspolitische Unterstützung, die speziell in der Zeit der Dritten Republik einsetzt. Da man sowohl die zentrale legitimatorische Bedeutung der Geschichtswissenschaft als auch deren Beherrschung vom reaktionären, republikfeindlichen Milieu erkennt, versucht man gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Aufklärungs- und Professionalisierungsprozess des Fachs und damit die Unterstützung der Republik in der Bevölkerung mit einer Reihe von wissenschaftspolitischen Maßnahmen zu stärken. Dazu zählen die Verbeamtung der Professoren, die Einrichtung eines ganzen Bündels von Stellen an den Universitäten wie maîtres de conferences, chargés de cours, professeurs adjoints etc., die Formalisierung der geschichtswissenschaftlichen Ausbildung und der akademischen Karriere und die Ersetzung der Publikumskonferenzen durch spezialisierte Seminare.

198 Vgl. zu Monods Bestimmung geschichtswissenschaftlicher Werte und Tugenden Gerike 1999: 68–69. 199 Vgl. die Auswertung bei Lingelbach 2003: 392–393.

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Vor allem aber – denn nur dadurch können die verschiedenen Maßnahmen realisiert werden – kommt es zu einer vermehrten finanziellen Förderung der Wissenschaft und insbesondere der Geschichtswissenschaft, die ihr rasantes Wachstum ab dem Ende des 19. Jahrhunderts ermöglicht. Die Höhe des französischen Wissenschaftsbudgets vervielfacht sich kontinuierlich von 5,7 Millionen Francs im Jahr 1825 auf 344 Millionen Francs im Jahr 1914. Ein sprunghafter Anstieg mit einer Verdopplung des Etats findet dabei in nur kürzester Zeit zwischen 1880 und 1890 statt, als das Budget von 57 auf 137 Millionen Franc anwächst.200 In der Konsequenz wächst der Umfang des Universitätspersonals an, der sich zwischen 1870 und 1914 vervierfacht.201 Auch und vor allem in der Geschichtswissenschaft ist dieses Wachstum spürbar. Die Zahl professioneller Historiker, also derjenigen, die von der Geschichtswissenschaft leben können, steigt von 75 Personen im Jahr 1815 auf mehr als 1 000 Personen im Jahr 1900 an.202 Die Zahl der geschichtswissenschaftlichen Lehrstühle nimmt landesweit von 57 in den Jahren 1895/96 auf 74 in den Jahren 1904/05 zu. Allein die Sorbonne verdoppelt ihre Geschichtslehrstühle zwischen 1870 und 1900. 203 Das besonders starke Wachstum der Geschichtswissenschaft im Vergleich zur Wissenschaft insgesamt zeigt sich auch an ihrem Stellenwert auf dem Büchermarkt. Der Anteil geschichtswissenschaftlicher Bücher steigt von 18,7 Prozent Ende des 18. Jahrhunderts auf 30,3 Prozent im Jahr 1909 an.204 Zwischen 1880 und 1899 ist allein ein Drittel aller thèses d’état der Sorbonne in der Geschichtswissenschaft angesiedelt.205 Das Wachstum der Geschichtswissenschaft hat vor allen Dingen zwei entscheidende Konsequenzen, die ihre Professionalisierung weiter vorantreiben: die Abgrenzung des Fachs gegenüber ihren Nachbardisziplinen einerseits und ihre interne Differenzierung und Spezialisierung andererseits. Bis zur entscheidenden Umbruchsphase gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist die Geschichtswissenschaft Teil eines größeren Disziplinkomplexes der Altertumswissenschaften, in deren Rahmen man gleichermaßen philosophische, literarische und historische Quellen untersucht. Zusammengehalten wird dieses Konglomerat durch seine institutionelle Verankerung in Lehrstühlen und Universitätsabteilungen, die Titel tragen

200 Boer 1998: 52. 201 Noiriel 1990: 61. 202 Rearick 1999. 203 Noiriel 1990: 62. 204 Rearick 1999. 205 Noiriel 1990: 62–65.

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wie Littérature et institutions grecques oder Philologie et antiquités égyptiennes. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts beginnt die entstehende geschichtswissenschaftliche Disziplin auch ihr institutionelles Umfeld immer deutlicher zu prägen: Das Lehrangebot an der Sorbonne wird in drei Untergruppen aufgeteilt, »Philosophie«, »Lettres et philologie« und als eigenständige Sektion »Histoire et géographie«.206 Die Entwicklung der Dissertationsthemen reflektiert ebenso die Auftrennung des alten Disziplinensystems, indem sich die Doktorarbeiten thematisch zunehmend entweder der Philologie oder der Geschichtswissenschaft allein zuordnen lassen.207Am längsten bleibt die Geschichtswissenschaft mit der Geographie verbunden, aber auch hier gibt es einen langsamen Ablösungsprozess, der schon 1812 mit der Einrichtung eines eigenständigen Lehrstuhls für Geographie an der Sorbonne beginnt und mit der besonderen Förderung des Fachs durch einen erstarkten Kolonialismus vor dem Ersten Weltkrieg endet. Auch hier zeigt sich der Differenzierungsprozess der Disziplinen anhand eines Blicks auf die Dissertationen, von denen sich ein Teil ab den 1890 Jahren immer mehr auf die Geographie allein spezialisiert.208 Die Entstehung der Geschichtswissenschaft durch Wachstum und Ausdifferenzierung ermöglicht bald auch die interne Spezialisierung in Subdisziplinen, die sich nach der Jahrhundertwende beschleunigt und unter anderem eine Schließung der professionellen Geschichtswissenschaft gegenüber breiteren, weniger vorgebildeten Leserschichten bewirkt. Die Archäologie, die Kunstgeschichte, die Regionalgeschichte, die historischen Hilfswissenschaften, wie etwa Diplomatik und Numanistik, erhalten nach und nach eine institutionelle Verankerung in Form von Lehrstühlen oder Studiengängen. Zu wichtigen Subdisziplinen entwickeln sich die Alte Geschichte, die Neueste Geschichte, die Zeitgeschichte und die Wissenschaftsgeschichte.209 Jenseits der Universitäten entstehen gelehrte Gesellschaften, die sich ganz bestimmten historischen Aspekten widmen, wie etwa die Société de l’Histoire de la Révolution Française.210 Damit sind aber nur die groben Tendenzen einer immensen Spezialisierung benannt, die sich im Detail in den Publikationen der Geschichtswissenschaft, den Monographien, Dissertationen und Zeitschriftenartikeln gleichermaßen zeigt. Die behandelten Themen beziehen sich auf immer spezifischere Ausschnitte der historischen Wirklichkeit, sei es, dass kleinere räumliche Einheiten zur Untersu-

206 Lingelbach 2003: 577. 207 Boer 1998: 313–317. 208 Lingelbach 2003: 580. 209 Lingelbach 2003: 588–592. 210 Keylor 1975: 103.

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chungsgrundlage gewählt werden oder kürzere Zeitabschnitte. 1912 schreibt A. Crémieux z. B. eine 500-seitige Dissertation über lediglich vier Tage im Februar 1848, eine andere Dissertation widmet allein der »Pariser Kommune« 1 236 Seiten.211 Dieser Trend wirkt sich deutlich auf das System der französischen geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften aus, das nun den vierten von den Boer unterschiedenen Zeitschriftentypus auf den Markt bringt: die geschichtswissenschaftliche Spezialzeitschrift.212 1881 wird die Zeitschrift La Revolution française gegründet, die sich ausschließlich auf den Zeitabschnitt der französischen Revolution beschränkt. Weiterhin werden in den 1880er Jahren gegründet etwa die Revue du seizième siècle, die Revue de la Révolution de 1848, die Revue Bossuet, die Revue Bourdaloue, die Revue d’histoire diplomatique und die Revue d’histoire moderne et contemporaine, die sich allesamt ausschließlich einem speziellen Aspekt der Geschichte widmen.213 Dementsprechend besitzt diese Kategorie von Zeitschriften nur eine beschränkte Repräsentativität für die französische Geschichtswissenschaft insgesamt und tritt nicht in ein Konkurrenzverhältnis zu der »bis zum Zweiten Weltkrieg unangefochten wichtigsten Zeitschrift der universitären Historiographie, der Revue Historique«.214 Das positivistische Paradigma und die damit verbundene Versessenheit auf die Generierung von immer spezielleren Fakten können in der akademischen Historiographie offenbar deshalb so dominant werden, weil die französische Geschichtswissenschaft insgesamt immer noch tief gespalten ist. Auf der einen Seite steht immer noch die außeruniversitäre, meist monarchistisch und katholisch denkende Geschichtswissenschaft, die die Geschichte zur Plausibilisierung ihrer politischen und ideologischen Thesen benutzt. Auf der anderen Seite steht die universitäre Geschichtswissenschaft, die sich mittels besonders nachdrücklicher Emphase auf historische Fakten und der schroffen Ablehnung jeder Theorie gegenüber der traditionellen französischen Geschichtsschreibung abzugrenzen versucht.215 Es ist im Grunde nicht überraschend, dass im immer unübersichtlicher werdenden Feld der universitären Geschichtswissenschaft bald erste Anzeichen einer Gegenbewegung entstehen, die die Generierung theoretischer Modelle auf

211 Lingelbach 2003: 382; Keylor 1975: 103. 212 Boer 1986: 530. 213 S. vollständige Liste von Yves Renouard in Comité français des sciences historiques 1965: 173–201. S. zudem Rousselier 1996: 130 u. Keylor 1975: 103. 214 Raphael 1993: 119. 215 Lingelbach 2003: 474.

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Basis historischer Fakten nicht mehr als unwissenschaftlich disqualifiziert sehen will. 216 Im Gegenteil, die Herstellung einer Ordnung in der geschichtswissenschaftlichen Forschung, die bislang scheinbar willkürlich zu ihren Themen und Subthemen gelangt, erscheint einer kleinen Gruppe von Außenseitern zunehmend als ein wichtiges Kriterium der Wissenschaftlichkeit. Der Vorreiter dieser Schule, Henri Berr, gibt in einem halbautobiographischen, fiktiven Dialog zwischen einem Student und einem Professor aufschlussreiche Motive für seine Konzeption einer theoretisch fundierten Historiographie an: »This immense domain of research that concerns man appeared to me as a somber and inextricable jungle; philology with all its subdivisions, history with all its auxiliary sciences, a prodigious multiplicity of materials, so many centuries, so many people, so many languages, so many facts, and so many works – what were the connections, what was the purpose of all this? […] The meaningless multitude of precise facts, the hazy hodgepodge of general ideas swirling within me; and I felt an extreme weariness.«217

Nachdem Berrs Pläne scheitern, sein Programm durch eine »Université de synthèse« zu institutionalisieren, gründet er im Jahr 1900 eine Zeitschrift, die als Zentrum seines Ansatzes dienen soll, die Revue de synthèse historique. Mit ihrem Anspruch, sich aus einer theoretischen Perspektive für die gesamte Geschichte zu interessieren, tritt sie durchaus in ein Konkurrenzverhältnis zur dominanten Revue historique. Gerade ihr Ziel, die Fragmentierung der Geschichtswissenschaft durch eine umfassende Geschichtstheorie, die Henri Berr die »synthèse historique« nennt, zu überwinden, macht die Zeitschrift zu einem genuin allgemeinhistorischen Fachjournal. Henri Berr und sein Verleger, Léopold Cerf, glauben offenbar mit der Publikation ein nicht geringes Bedürfnis der französischen Historiker anzusprechen, nach Jahren der fleißigen Quellenarbeit über die bloße Sammlung von Fakten hinauszugehen und ein allgemeines Erkenntnisinteresse der Geschichtswissenschaft zu definieren und zu befriedigen. Sie täuschen sich jedoch.218 Deutlich wird dies besonders, als die Revue de synthèse historique im Jahr 1904 eine Meinungsumfrage unter den französischen Historikern bezüglich ihres Forschungsprogramms durchführt und dabei eine Reihe von Fragen zu Forschung und Lehre stellt. Während Berrs Dissertation vom Vorjahr bloß ignoriert wird, zeigen die französischen Historiker nun gegen-

216 Bonnaud 1997: 13–17. 217 Aus Henri Berr, Vie et science: letters d’un vieux philosophe strasbourgeois et d’un étudiant parisien. Zit. n. Keylor 1975: 125. 218 Siegel 1983.

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über der Revue de synthèse historique und dem durch sie vertretenen Forschungsprogramm neben Ignoranz auch offene Kritik. Die Rücklaufquote der Fragebögen bleibt gering. Vor allem gibt es keine Antwort von den wichtigen Institutionen und Persönlichkeiten der französischen Geschichtswissenschaft. Die erhaltenen Antworten zeigen die Distanz der französischen Historikerschaft gegenüber dem Versuch einer theoretischen Fundierung ihres Fachs. Die Frage, ob eine intensivere methodische Ausbildung systematisch in das Geschichtsstudium integriert werden solle, wird bspw. mit dem Argument verneint, dass die Beschäftigung der Studierenden mit Methoden sie zu Theorien verleite, die sie unter Umständen falsch anwenden würden.219 Daneben zeugt auch Berrs zweimalige vergebliche Kandidatur um einen Lehrstuhl am Collège de France – 1903 und nochmals 1912 – von der mangelnden Anerkennung seines Programms. 1903 erhält Gabriel Monod, Chefredakteur der Revue historique und Vertreter der herkömmlichen, positivistischen Geschichtswissenschaft, den Posten. In seiner Antrittsrede unterstreicht Monod, dass man dabei bleibe, »a dégainer la philosophie de l’histoire et l’excès de généralisation.«220 1912 kandidiert neben Berr noch ein weiterer Kritiker der positivistischen Geschichtswissenschaft, der Durkeimianer François Simiand. Auch er wird abgelehnt.221 Die Revue de synthèse historique wird aus der französischen Geschichtswissenschaft heraus gedrängt und entwickelt sich zu einem Fachorgan für Philosophen und vor allem für Soziologen, wie Boutroux, Durkheim und Lacombe. Die Année sociologique veröffentlicht sogar Zusammenfassungen der Leitartikel der Revue de synthèse historique. Die wenigen Historiker, die ihre Publikationen in der Zeitschrift veröffentlichen, sind zumeist Ausländer, wie Karl Lamprecht, die in ihren eigenen Ländern wegen ihrer Gegnerschaft zum positivistischen Paradigma Außenseiterrollen einnehmen.222 Die Revue de synthèse historique ist so nicht in der Lage in Konkurrenz zu treten mit der immer noch dominanten und führenden Fachzeitschrift der französischen Geschichtswissenschaft, der Revue historique. Die Revue de synthèse historique scheitert. Die Grundidee von Berrs Forschungsprogramm ist allerdings ins Leben gerufen und die aufstrebende Soziologie trägt dazu bei, dass die Möglichkeit eines theoretischen Zugangs zur Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Die Revue de synthèse historique ist der Ausgangspunkt für die Entstehung eines neuen Paradigmas, das an die Ideen von

219 Keylor 1975: 137. 220 Zit. n. Siegel 1983: 207. 221 Siegel 1983. 222 Keylor 1975: 135–136.

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Henri Berr anknüpft und sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur wichtigsten und einflussreichsten Bewegung in der französischen Geschichtswissenschaft entwickelt. Diese neue Denkrichtung wendet sich von der bislang dominierenden Geschichte der Politik und ihren Persönlichkeiten ab und interessiert sich auf der Grundlage theoretischer Erwägungen vor allem für die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse als Triebfeder historischer Veränderungen. Die 1908 gegründete Zeitschrift Revue d’histoire des doctrines économiques et sociales, umbenannt 1914 in Revue d’histoire économique, dient als Organ für solcherart geschichtswissenschaftliche Fragen. Sie bleibt allerdings, ebenso wie die Revue de synthèse historique, eine Randerscheinung innerhalb der französischen Geschichtswissenschaft, die offenbar unbeirrt der heftigen Debatten unter den deutschen Historikern über die Rolle sozioökonomischer Kräfte in der Geschichte am herkömmlichen Geschichtsbild und an der Revue historique als ihrem führenden Fachorgan festhält.223 Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte enthält neue und entscheidende Impulse mit der Gründung der Annales d’histoire économique et social im Jahr 1929. Die Zeitschrift erfährt im Laufe ihrer Entwicklung vielfältige Namensänderungen: Von 1939 bis 1941 heißt sie Annales d’histoire sociale, zwischen 1942 und 1944 Mélanges d’histoire sociale, ab 1945 wieder Annales d’histoire sociale, zwischen 1946 und 1993 dann einheitlich Annales: économies, sociétés, civilisations und seit 1994 Annales: histoire, sciences sociales. Die Zeitschrift ist das Organ einer Bewegung innerhalb der französischen Geschichtswissenschaft, die das Erbe Henri Berrs antritt. Ihre Gründer, Lucien Febvre und Marc Bloch, sind bereits im Umfeld der Revue de synthèse historique aktiv, Febvre als Mitglied der Redaktion und der jüngere Bloch als Autor.224 Gegenüber der Revue de synthèse historique und der Revue d’histoire économique gelingt es der neuen Zeitschrift immerhin eine Gruppe von Historikern zu versammeln, die groß genug ist, sie zu tragen. Erst gegen Ende der 1920er Jahre scheint die Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie die Geschichtstheorie in Frankreich ein ausreichend stabiles und homogenes Fundament ausgebildet zu haben, von dem aus sie sich zu einer zunächst zwar schwachen, später jedoch besonders einflussreichen Strömung innerhalb der Disziplin entwickelt. Entscheidend für die Herausbildung und damit für die Sichtbarkeit der Schule sind eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die ihre wichtigsten Träger miteinander teilen. Allen gemeinsam ist eine besondere Aufmerksamkeit, die sie

223 Keylor 1975: 213. Zur Kontinuität der Revue historique während des Ersten Weltkriegs s. Martin 1976. 224 Siegel 1983: 208.

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gegenüber der deutschen Geschichtswissenschaft zeigen; sie alle befürworten und fördern die Einführung der Statistik als Methode der Geschichtswissenschaft; und sie alle interessieren sich für die gesellschaftlichen Verhältnisse oder engagieren sich im sozialen und politischen Bereich, etwa bei den Gewerkschaften. 225 Entscheidend zur Etablierung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte scheinen auch die ökonomischen und monetären Krisenerscheinungen der 1920er Jahre beizutragen, die den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und deren Einfluss auf geschichtliche Entwicklungen deutlich vor Augen führen.226 Die Annales-Geschichtsschreibung entwickelt sich jedoch zunächst nicht zum prägenden Paradigma der französischen Geschichtswissenschaft.227 In der Zeit zwischen der Gründung der Zeitschrift 1929 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird die Annales-Schule von einer kleinen, radikalen und subversiven Gruppe vorangetrieben, die sich gegen das traditionelle geschichtswissenschaftliche Establishment stellt und sich gegen dessen politische Geschichte richtet. Sie ist zwar sichtbar, rückt jedoch noch nicht ins Zentrum der Disziplin vor.228 Der Stellenwert der Annales-Schule im Verhältnis zur konventionellen Geschichtswissenschaft wird unter anderem am Seitenumfang der Annales deutlich. Bis 1939 ist er nicht einmal halb so stark wie der der Revue historique. Während des Zweiten Weltkriegs verlieren beide Zeitschriften an Umfang und liegen dann nach 1945 beinahe gleichauf. 229 Die Annales sind eine deutlich spürbare neue Kraft in der französischen Geschichtswissenschaft, jedoch sind sie bis 1945 nicht in der Lage, der Revue historique Konkurrenz zu machen. Nach dem Krieg ergibt sich jedoch eine veränderte Situation. Nach 1945 nehmen viele der Zeitschriften, die während des Kriegs eingestellt werden mussten, ihren Betrieb wieder auf.230 Die meisten dieser Zeitschriften, wie etwa die Annales historiques de la Révolution française, die Revue d’histoire économique et sociale, die Revue de l’histoire de l’Èglise de France oder das Bulletin de la Société de l’histoire du protestantisme français und alle nach 1945 neu gegründeten Zeitschriften wie etwa die Cahiers de civilisation médiévale (1958),

225 Le Van-Lemesle 1983: 284–286. 226 Le Van-Lemesle 1983: 286. 227 Zur Entwicklung der Paradigmen der Annales vgl. Revel 1979. 228 Burke 1991: 8; Stieg 1986: 67. 229 Vgl. das Diagramm bei Hexter 1972: 485. 230 Zur Situation der französischen Geschichtswissenschaft von 1937 bis 1947 vgl. Dumoulin 1988.

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Le mouvement social (1960), Médiévales (1981), Vingtième siècle (1984), Sources. Travaux historique (1985) oder die Genèses. Sciences sociales et histoire (1990) sind allesamt Spezialzeitschriften, die sich ausschließlich einem bestimmten Thema oder einer bestimmten Epoche zuwenden und daher eher geschichtswissenschaftliche Subdisziplinen als das gesamte Fach vertreten.231 Allerdings ist die Revue historique auch nicht mehr die einzige allgemeine geschichtswissenschaftliche Zeitschrift. In einer Zusammenstellung aller französischen geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften für den Zeitraum von 1945 bis 1965 klassifiziert Yves Renouard neben der Revue historique nun auch noch die Annales als eine weitere »Revue generale«.232 Tatsächlich lässt sich der allgemeine Charakter der Annales anhand einer Inhaltsanalyse bestätigen. Es zeigt sich, dass die Annales mit Ausnahme der Französischen Revolution und seit den 1960er Jahren auch der zeitgenössischen Geschichte alle Epochen der Geschichte thematisieren. Im Zeitraum zwischen 1975 und 1985 nimmt bspw. das Altertum 11,3 Prozent, das Mittelalter 15,5 Prozent, die Zeit des Ancien Régime 29,8 Prozent, das 19. und 20. Jahrhundert 21,8 Prozent und die Zeitgeschichte 2,8 Prozent vom Seitenumfang der Zeitschrift ein.233 Hinsichtlich der geographischen Verteilung der Themen zeigen die Annales sogar im Vergleich zu anderen allgemeinhistoriographischen Fachjournalen auch im Ausland die größte Varianz.234 Bei den Forschungsrichtungen zeigt sich erwartungsgemäß, dass die Annales den Schwerpunkt auf Wirtschaft-, Sozial- und Kulturgeschichte legen, politische Geschichte und vor allem Biographiegeschichte hingegen wenig thematisiert werden.235 Diese Schwerpunktsetzung entspricht jedoch einem Trend, dem die französische Geschichtswissenschaft und mit ihr die Revue historique infolge des Einflusses der Annales-Geschichtsschreibung auch insgesamt folgt. Während die Bedeutung der Politikgeschichte offensichtlich zurückgeht, lässt sich eine Ausdehnung und Vervielfältigung der Themen bei der Wirtschafts- und Sozialgeschichte feststellen.236

231 Roussellier 1995: 128, 130. 232 Comité français des sciences historiques 1965: 173. 233 Vgl. zu diesen Zahlen und Zahlen für andere Zeiträume Wesseling/Oosterhoff 1986: 558. 234 Stieg 1986: 68. 235 Wesseling/Oosterhoff 1986: 554–560. 236 Vgl. Comite français des sciences historiques 1980. Anders als der Wirtschafts- und Sozialgeschichte wird der Politikgeschichte dort kein eigenes Kapitel gewidmet.

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Interessanterweise lassen sich diese Veränderungen durch den Aufstieg der Annales und ihres Paradigmas besonders eindrücklich anhand einer Inhaltsanalyse der Revue historique zeigen. Zwar publizieren die Annales-Historiker nicht selbst in der Revue historique, jedoch haben sie die Konturen der französischen Geschichtswissenschaft und damit die der Revue historique in ihrer Entwicklung offensichtlich entscheidend mitgeprägt.237 Die Inhaltsanalyse zeigt, dass die Stellenwerte der einzelnen Forschungsgebiete in der Revue historique sich denen der Annales annähern: Während in den Anfangsjahren der Revue historique die Biographie- und Politikgeschichte noch ca. 60 Prozent der behandelten Themen besetzt, schrumpft deren Anteil bis etwa 1972 auf ca. 18 Prozent. Umgekehrt wächst der Anteil der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte im gleichen Zeitraum ungefähr von 16 auf 42 Prozent.238 Der Einfluss der Annales auf die französische Geschichtswissenschaft geht schließlich so weit, dass die Bewegung etwa ab 1968 als Folge ihres Erfolges und der Übernahme ihrer Themen auch vom übrigen geschichtswissenschaftlichen Feld in eine Zersplitterungsphase eintritt, in der sich die Bewegung auflöst und in die Geschichtswissenschaft insgesamt diffundiert.239 Die Ablösung der Revue historique als führende Fachzeitschrift der französischen Geschichtswissenschaft von den Annales dürfte sich jedoch schon etwas früher, etwa um 1960 herum, vollzogen haben. 1959 übersteigt der Seitenumfang der Annales erstmals den der Revue historique. Während der Umfang der Revue historique während der 1960er Jahre nur langsam ansteigt und dann ab Mitte der 1960er Jahre stagniert, steigt der Umfang der Annales rasant an, erreicht 1969 einen Höhepunkt und sinkt dann bis 1985 offensichtlich infolge der Anpassung der anderen Fachzeitschriften tendenziell wieder ab.240 Unabhängig vom genauen Zeitpunkt kann festgehalten werden, dass ein Führungswechsel zwischen der Revue historique und der Annales in der Nachkriegszeit stattgefunden hat. Margaret Stieg kommt in ihrer Studie zur Entwicklung geschichtswissenschaftlicher Fachjournale etwa zu dem Schluss: »The Annales is probably the single most important scholarly historical periodical currently published.«241 Ebenso deutlich wird Nicolas Rousellier in seinem Überblick über

237 Corbin 1983: 132. 238 Vgl. das Schaubild bei Corbin 1983: 121. Zur Rolle der Zeitgeschichte der Revue historique vgl. Gérard 1976. 239 Burke 1991: 110, 8. 240 Vgl. das Diagramm bei Hexter 1972: 485 u. jenes bei Wesseling/Oosterhoff 1986: 556. 241 Stieg 1986: 66.

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französische Geschichtsfachzeitschriften des 20. Jahrhunderts seit der Nachkriegszeit: »La prospérité de la revue signifie une capacité d’intégration, de résonance et de carrefour qui fait des Annales le lieu principal de la publication et de la diffusion des nouveaux courants de recherche. Elle est la première revue – et prend donc plusieurs longueurs d’avance sur ses rivales (si elles existent) – à s’appuyer sur un tel phénomène d’institutionnalisation de l’innovation scientifique.«242

Zusammenfassend zeigt die Analyse der historischen Entwicklung des Systems historiographischer Publikationen in Frankreich, dass sich die Geschichtswissenschaft hier erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in enger Verbindung mit der 1876 gegründeten Fachzeitschrift Revue historique entwickelt, während andere Publikationsformen wie die Monographie eine untergeordnete Rolle spielen. Die Revue historique avanciert zur führenden und repräsentativen Fachzeitschrift der französischen Geschichtswissenschaft und behält diesen Status unangefochten bis zur Nachkriegszeit ein. Etwa gegen Ende der 1950er Jahre geht die Führung an die seit 1929 bestehenden Annales über, die seitdem als das zentrale Publikationsorgan der französischen Historiker gelten können.

5.2 D IE M ETHODE

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Die Zitationsanalyse soll Schließungs- und Öffnungsdynamiken nationaler Zitationszusammenhänge abbilden. Eine nationale Schließung eines Zitationszusammenhangs läge idealtypischerweise dann vor, wenn nationale Grenzen bestünden, über die hinweg nicht zitiert würde. Ein nationaler Zitationszusammenhang wäre also dann vollständig geschlossen, wenn alle durch die Zitationen miteinander verknüpften Publikationen innerhalb der nationalen Grenzen lägen. Wo aber liegen diese Grenzen und wie verschieben sie sich gegebenenfalls während des Untersuchungszeitraums? 5.2.1 Bestimmung nationaler Grenzen Der Verlauf nationaler Grenzen ist in der Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder Veränderungen unterworfen und

242 Roussellier 1995: 132.

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besonders für Deutschland ist die Entscheidung darüber, wo letztendlich zu einem gegebenen Zeitpunkt die nationale Grenze verläuft, nicht trivial. Mit dem Ende der Vorherrschaft Napoleons in Deutschland fällt die Macht zurück in deutsche Hände.243 Auf dem Wiener Kongress 1814/15 wird durch die Gründung des als völkerrechtlicher Verein konzipierten Deutschen Bundes die alte Ordnung aus Fürstentümern und souveränen Territorialstaaten wiederhergestellt. Zum Gebiet des Deutschen Bundes gehören alle deutschen Staaten und Teile des Königreichs Preußens und der österreichischen Monarchie. Zu Preußen bzw. zu Österreich, aber nicht zum Deutschen Bund, gehören Posen, West- und Ostpreußen, Galizien, Ungarn, Siebenbürgen, Slawonien, Kroatien, Venetien und die Lombardei. Zum Deutschen Bund, aber heute nicht mehr zu Deutschland zählen das östliche Pommern und Brandenburg, Schlesien, Böhmen und Mähren und das heutige Österreich. Mit dem Sieg Preußens gegen Österreich im »Deutschen Bruderkrieg« 1866 wird Österreich aus Deutschland verdrängt und es entsteht eine neue politische Ordnung. Der Deutsche Bund löst sich auf in einen vollständig von Preußen dominierten und zweiundzwanzig staatliche Gebilde umfassenden Norddeutschen Bund und die vorerst noch souveränen, allerdings über geheime »Schutz- und Trutzbündnisse« mit Preußen verbundenen Königreiche Bayern und Württemberg sowie dem Großherzogtum Baden.244 Die Grenzen Deutschlands verschieben sich insofern, als dass Preußen nun samt Posen, West- und Ostpreußen zu Deutschland zählt, Österreich, Böhmen und Mähren jedoch außerhalb Deutschlands liegen. 1871 schließen sich die süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund zum Deutschen Kaiserreich zusammen. Die Grenzen des zu Deutschland gehörenden Gebiets verändern sich gegenüber dem vorherigen Zustand mit Ausnahme des infolge des Sieges über Frankreich annektierten Reichslandes ElsassLothringen nicht. Dieser Grenzverlauf ändert sich erst wieder mit den Bestimmungen des Versailler Vertrags von 1919, die im Wesentlichen folgende territoriale Veränderungen festlegen: Elsass-Lothringen fällt an Frankreich zurück, Posen und ein Großteil Westpreußens geht an Polen. Das Saargebiet wird einer Völkerbundverwaltung unterstellt, Danzig wird zu einer eigenständigen Stadt. Das Memelgebiet fällt an Litauen, Eupen-Malmedy an Belgien und Nord-Schleswig an Dänemark. Dieser Grenzverlauf der Weimarer Republik soll für die Analyse

243 Vgl. zur Geschichte des Grenzverlaufs in Deutschland im Wesentlichen Scheuch 1997: 78–134. 244 Vgl. Dann 1996: 160.

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maßgeblich sein bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Die territorialen Veränderungen durch die Außenpolitik und kriegerischen Maßnahmen Hitlers werden nicht berücksichtigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg repräsentieren die vier Besatzungszonen das Gebiet Deutschlands. Pommern und Schlesien sowie Ostpreußen werden bereits ab 1945 von Polen bzw. der Sowjetunion verwaltet. Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten BRD und DDR 1949 bezieht sich die Analyse auf die westdeutsche Bundesrepublik in ihren Grenzen bis 1990. Für den Rest des Untersuchungszeitraums sind die heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland ausschlaggebend. Die Geschichte des französischen Grenzverlaufs ist demgegenüber wesentlich einfacher. Mit dem Wiener Kongress entsteht beinahe der noch heute gültige Grenzverlauf Frankreichs.245 1860 kommt es nach einem Plebiszit zum Anschluss der Savoie an Frankreich und im gleichen Jahr wird auch das Comté de Nice als Gegenleistung für französische Hilfe bei der italienischen Nationalvereinigung an Frankreich abgetreten. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 fällt Elsass-Lothringen für die Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs an Deutschland. Lässt man die Okkupationen des nationalsozialistischen Deutschlands außer Acht, bestehen die Grenzen Frankreichs seither unverändert. Wenn man diese Verläufe der nationalen Grenzen Deutschlands und Frankreichs akzeptiert, schließt sich die Frage an, wie bestimmt werden kann, ob eine Zitation diese Grenzen überkreuzt oder nicht. Entscheidend ist dafür zunächst die Verortung der in die Zitation involvierten Publikationen. 5.2.2 Nationale Verortung von Publikationen Publikationen haben fünf verschiedene Merkmale, die über ihre räumliche Verortung etwas aussagen können: Der Erscheinungsort der Publikation, die Sprache der Publikation, die Sprache des Titels des Erscheinungsmediums der Publikation, Übersetzung ja oder nein und Wirkungsstätte des Autors bzw. Entstehungsort der Publikation. Wie im Folgenden deutlich werden soll, sind diese Merkmale streng genommen nur in der Gesamtschau in der Lage, eine Publikation einem nationalen Raum positiv zuzuordnen. Denn jedes dieser Merkmale kann für sich genommen die Zugehörigkeit der Publikation zu einer Nation lediglich entweder ausschließen oder nicht ausschließen.

245 Vgl. zur Geschichte des Grenzverlaufs Frankreichs Atlas historique de la France 1985.

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Das wichtigste räumliche Merkmal von Publikationen ist sicherlich der Erscheinungsort. Dieser lässt sich im Normalfall eindeutig räumlich zuordnen. Wenn eine Publikation mehrere Erscheinungsorte hat, lässt sie sich einer Nation dann zuordnen, wenn alle Erscheinungsorte dieser Publikation innerhalb der nationalen Grenzen liegen. Wenn die Erscheinungsorte in verschiedenen Nationen liegen, kann keine eindeutige Zuordnung über dieses Merkmal vorgenommen werden. Die Publikation hätte dann einen internationalen Charakter. Eine Publikation kann jedoch auch bei eindeutig zuzuordnendem Erscheinungsort nicht allein deshalb als »nationale« Publikation gewertet werden, z. B. wenn sie zwar innerhalb der nationalen Grenzen erscheint, allerdings einen internationalen Bezug über die anderen Merkmale hat, also z. B. als Übersetzung gekennzeichnet oder in einer fremden Sprache verfasst ist. Liegt der Erscheinungsort einer Publikation also außerhalb der nationalen Grenzen, so kann ausgeschlossen werden, dass sie der entsprechenden Nation zugeordnet werden kann, liegt er innerhalb nationaler Grenzen, ist hingegen lediglich nicht ausgeschlossen, aber auch nicht festgelegt, dass die Publikation sich auch insgesamt dieser Nation zuordnen lässt. Das Sprachenmerkmal kann pro Publikation zweimal vorkommen, einmal als Sprache der Veröffentlichung selbst und gegebenenfalls als Sprache des Titels des Erscheinungsmediums, also etwa die Sprache des Titels einer Zeitschrift oder eines Sammelbands, in dem die Publikation erscheint. Auch für die Sprachenmerkmale gilt, dass sie je für sich genommen Publikationen nicht positiv Nationen zuordnen können. In der Nationalsprache verfasste Publikationen können z. B. Übersetzungen sein oder auch im Ausland und in gemischtsprachigen Sammelbänden mit einem in ausländischer Sprache verfassten Titel erscheinen. Und es tritt noch eine Erschwerung hinzu. Nur im Falle einer eindeutigen Deckung von Nationalgebiet und dem Gebiet, in dem die jeweilige Sprache als Wissenschaftssprache verwendet wird, ließe sich die Sprache einer Publikation überhaupt einer Nation zuordnen. Weil weder für Deutschland noch für Frankreich diese Deckung vorliegt, kann allein aus diesem Grund bereits durch das Sprachenmerkmal allein eine Publikation einer Nation nicht eindeutig zugeordnet werden. Wenn eine ausländische Sprache vorliegt, kann jedoch ein nationaler Charakter der Publikation ausgeschlossen werden. Verbunden mit dem Sprachenmerkmal ist das Merkmal der Übersetzung. Wie für alle anderen Merkmale gilt auch für dieses, dass es für sich genommen keine Zuordnung der Publikation zu einem nationalen Raum leisten kann. Nichts spricht im Prinzip z. B. dagegen, dass eine in der Nationalsprache verfasste und nicht übersetzte Publikation im Ausland erscheint. Wie für die Sprachenmerkmale kommt auch für das Übersetzungsmerkmal erschwerend hinzu, dass nur im

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Falle einer eindeutigen Deckung von Nationalgebiet und dem Gebiet, in dem die Nationalsprache als Wissenschaftssprache verwendet wird, überhaupt eine Zuordnung erstellt werden kann. Wenn es innerhalb nationaler Grenzen bspw. mehrere Sprachgebiete gibt, kann eine übersetzte Publikation ebenso »national« sein wie eine nicht übersetzte Publikation, weil dann anhand des Übersetzungsmerkmals allein nicht erkennbar ist, ob eine Publikation aus einem in- oder ausländischen Sprachgebiet übersetzt ist. Umgekehrt gilt das Gleiche für den Fall, bei dem mehrere Nationen einem Sprachgebiet angehören. Eine nicht übersetzte Publikation deutet dann nicht zwingend auf einen nationalen Charakter der Publikation hin. Letztendlich ist ein Merkmal mancher Publikationen, dass sie Informationen über die Wirkungsstätte ihres Autors oder ihrer Autorin, also ihren Entstehungsort enthalten. Wiederum gilt: An sich kann dieses Merkmal die Zugehörigkeit einer Publikation zu einem nationalen Raum nur ausschließen, aber nicht positiv bestimmen. Eine im Inland verfasste Publikation kann einen transnationalen Bezug immer noch über andere Merkmale haben, weil sie z. B. im Ausland veröffentlicht wird. Eine im Ausland verfasste Publikation kann hingegen schwerlich als eine nationale Publikation gewertet werden, und zwar ungeachtet der Ausprägung aller anderen Merkmale. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Ausprägungen der Merkmale je für sich genommen die Publikation nicht positiv einer Nation zuordnen, sondern sie nur von der Zugehörigkeit zur Nation ausschließen können. Die Merkmalsausprägung ist daher entweder mit der Zugehörigkeit der Publikation zu dem betreffenden nationalen Raum kompatibel, was die Möglichkeit der nationalen Zugehörigkeit der Publikation offen hält, oder aber inkompatibel, was diese Option ausschließt. Mit der nationalen Zugehörigkeit kompatibel ist das Merkmal, wenn es mit dem Untersuchungsland in der betreffenden Eigenschaft übereinstimmt. Mit der nationalen Zugehörigkeit inkompatibel ist das Merkmal, wenn es mit dem Untersuchungsland in der jeweiligen Eigenschaft nicht übereinstimmt. Das heißt, eine Publikation ist mit Sicherheit »nicht national«, wenn mindestens eines ihrer Merkmale »national-inkompatibel« ist. Eine Publikation ist hingegen mit Sicherheit nur dann »national«, wenn alle ihre Merkmale »national-kompatibel« sind. Das bedeutet bspw. für den Fall Deutschland, dass eine Publikation nur dann mit Sicherheit als deutsch gelten sollte, wenn sie auf Deutsch geschrieben, in Deutschland erschienen, von einem Autor mit Sitz in Deutschland verfasst, nicht übersetzt und entweder eine Monographie ist oder in einem Medium mit deutschsprachigem Titel veröffentlicht wird.

128 | V ERGLEICH

IN DER

W ELTGESELLSCHAFT

5.2.3 Bestimmung der Zitationen Um die Schließung nationaler Zitationszusammenhänge anhand von Verknüpfungszusammenhängen von zu einer Nation zugehörigen Publikationen abzubilden, muss das Verhältnis von nationalen Grenzen überschreitenden zu innerhalb nationaler Grenzen verknüpfenden Zitationen jeweils zu unterschiedlichen Messzeitpunkten ermittelt werden. Um die beiden Zitationstypen, also »nationale Zitationen« und »transnationale Zitationen«, voneinander unterscheiden zu können, bedarf es der vorgestellten Methode der nationalen Verortung von Publikationen. Eine »nationale Zitation« soll eine Zitation sein, die aus Sicht des Untersuchungslandes zwei dieser »Nation« zugehörende Publikationen miteinander verknüpft. Eine »transnationale Zitation« soll eine Zitation sein, die aus Sicht des Untersuchungslandes Publikationen mit »national-inkompatiblen« Merkmalen miteinander verknüpft. Die zentrale Frage der Zitationsanalyse richtet sich damit darauf, in welchem Verhältnis zum jeweiligen Messzeitpunkt »nationale Zitationen« zu »transnationalen Zitationen« stehen. Wie aber lässt sich die Ausprägung einer Zitation als entweder »national« oder »transnational« konkret bestimmen? Um eine einzelne Zitation zu bestimmen, müssen die fünf definierten räumlichen Merkmale beider der von der jeweiligen Zitation verknüpften Publikationen, also sowohl der zitierenden wie der zitierten Publikation, ermittelt werden. Pro Zitation erhält man damit zehn Merkmale, die wie folgt codiert werden sollen: WSA = Wirkungsstätte des Autors der zitierenden Publikation ÜSA = Übersetzung ja oder nein der zitierenden Publikation SP2A= Sprache des Titels des Erscheinungsmediums der zitierenden Publikation SP1A= Sprache der zitierenden Publikation EOA = Erscheinungsort der zitierenden Publikation EOB = Erscheinungsort der zitierten Publikation SP1B = Sprache der zitierten Publikation SP2B = Sprache des Titels des Erscheinungsmediums der zitierten Publikation ÜSB = Übersetzung ja oder nein der zitierten Publikation WSB = Wirkungsstätte des Autors der zitierten Publikation

Man erhält damit folgendes Schema:

N ATIONALE G RENZEN

Zitierende Publikation WSA

ÜSA

IN DER

W ISSENSCHAFT | 129

Zitierte Publikation

SP2A

SP1A

EOA

EOB

SP1B

SP2B

ÜSB

WSB

Alle Merkmale können wie oben erläutert entweder in der Ausprägung »national-kompatibel« oder »national-inkompatibel« vorkommen. Das bedeutet im Einzelnen Folgendes: Die Merkmale zum Erscheinungsort sind »nationalkompatibel«, wenn der Erscheinungsort innerhalb der Grenzen des nationalen Territoriums liegt. Wenn dies nicht Fall ist, ist die Ausprägung dieser Merkmale »national-inkompatibel«. Die Sprachenmerkmale sind »national-kompatibel«, wenn die Sprache der Publikation mit der Nationalsprache des Untersuchungslandes übereinstimmt, sonst sind sie »national-inkompatibel«. Das Übersetzungsmerkmal ist im Fall von Deutschland und Frankreich, wo es jeweils nur eine Nationalsprache gibt, »national-kompatibel«, wenn die Publikation nicht übersetzt ist, weil dann nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie »national« ist. Wenn sie allerdings in die Nationalsprache übersetzt ist, dann ist die nationale Zugehörigkeit der Publikation mit Sicherheit ausgeschlossen und die Ausprägung dieses Merkmals ist entsprechend »national-inkompatibel«. Die Wirkungsstätte des Autors oder der Erscheinungsort der Publikation sind »nationalkompatibel« ausgeprägt, wenn sie innerhalb der Grenzen des Untersuchungslands liegen. Ist dies nicht der Fall, sind diese Merkmale »nationalinkompatibel«. Die Ausprägungen »national-kompatibel« und »national-inkompatibel« werden durch die Ziffern »1« und »2« codiert, so dass eine »1« für eine »nationalkompatible« und eine »2« für eine »national-inkompatible« Ausprägung steht. Das Merkmal »Sprache des Titels des Erscheinungsmediums« ist bei Monographien nicht vorhanden und wird daher in diesem Fall mit »0« codiert. Eine »nationale Zitation« wäre demnach eine Zitation, bei der alle Merkmale die Ausprägung »1« bzw. das Merkmale zur Sprache des Erscheinungsmediums die Ausprägung »0« oder »1« hat. Eine »nationale Zitation« wird ihrerseits mit »1« codiert. Diese Zitation stellt sich dementsprechend wie folgt dar: Zitierende Publikation

Zitierte Publikation

Zitation

WSA

ÜSA

SP2A

SP1A

EOA

EOB

SP1B

SP2B

ÜSB

WSB

1

1

1/0

1

1

1

1

1/0

1

1

1

(Beispiel 1) Eine »transnationale« Zitation wäre hingegen eine Zitation, bei der eines oder mehrere der Merkmale die Ausprägung »2« besitzen. Sie werden ihrerseits mit »2« codiert. Eine solche Zitation könnte wie in den folgenden Beispielen ausse-

130 | V ERGLEICH

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hen, in denen eine nationale Publikation eine Übersetzung zitiert (Beispiel 2) bzw. eine übersetzte und im Ausland verfasste Publikation eine im Ausland erschienene, dort und in einer ausländischen Sprache verfasste, nicht übersetzte Monographie zitiert (Beispiel 3): Zitierende Publikation

Zitierte Publikation

Zitation

WSA

ÜSA

SP2A

SP1A

EOA

EOB

SP1B

SP2B

ÜSB

WSB

1

1

1

1

1

1

1

1

2

1

2

(Beispiel 2) Zitierende Publikation

Zitierte Publikation

Zitation

WSA

ÜSA

SP2A

SP1A

EOA

EOB

SP1B

SP2B

ÜSB

WSB

2

2

1

1

1

2

2

0

1

2

2

(Beispiel 3) 5.2.4 Umgang mit Datenmangel Im Prinzip ließen sich die Ausprägungen der Zitationen anhand der vorgeschlagenen Methode eindeutig feststellen. Das zentrale Problem besteht allerdings in der mangelnden Erhebbarkeit der dazu erforderlichen Daten. Nur im idealtypischen Ausnahmefall lassen sich die Ausprägungen aller Merkmale einer Zitation erheben. In der Regel enthalten die Merkmalsausprägungen einen oder mehrere Fehlwerte (=99). Besonders oft sind die Merkmale »Wirkungsstätte des Autors« und »Übersetzung« von Fehlwerten betroffen, allerdings kann die Erhebung auch für alle anderen Merkmale Fehlwerte produzieren. Ein Großteil dieses Problems behebt sich durch die asymmetrischen Anforderungen an die Datenqualität für »nationale« und »transnationale« Zitationen gleichsam von selbst. Wie oben im Beispiel gezeigt, genügt ja nur eine »national-inkompatible« Ausprägung eines Merkmals, um der gesamten Zitation mit Sicherheit eine »transnationale« Ausprägung zu verleihen, da man nicht sinnvollerweise unterstellen kann, dass z. B. übersetzte oder im Ausland erschienene Publikationen Teil eines national geschlossenen Kommunikationszusammenhangs sind. Sobald deshalb nur eines der Merkmale eine »national-inkompatible« Ausprägung besitzt, ist die Zitation »transnational« unabhängig von den Ausprägungen oder eben auch von Fehlwerten aller anderen Merkmale. Fehlwerte, die in Kombination einer oder mehrerer »national-inkompatibler« Ausprägungen von Merkmalen auftreten, schränken

N ATIONALE G RENZEN

IN DER

W ISSENSCHAFT | 131

die Eindeutigkeit der Bestimmung »transnationaler« Zitationen also in keiner Weise ein. Zum Beispiel: Zitierende Publikation

Zitierte Publikation

Zitation

WSA

ÜSA

SP2A

SP1A

EOA

EOB

SP1B

SP2B

ÜSB

WSB

99

99

1

1

1

99

2

2

99

99

2

(Beispiel 4) Fehlwerte sind ein Problem nur für Zitationen, die anderweitig wegen fehlender »national-inkompatibler« Merkmalsausprägungen nicht als »transnational« bestimmbar sind, aber wegen des Fehlwerts auch nicht mit Sicherheit als »national« identifizierbar. Diese Zitationen können potentiell nämlich, je nachdem, welche Ausprägungen sich hinter den Fehlwerten »verbergen«, sowohl »nationaler« als auch »transnationaler« Ausprägung sein. Zum Beispiel: Zitierende Publikation

Zitierte Publikation

Zitation

WSA

ÜSA

SP2A

SP1A

EOA

EOB

SP1B

SP2B

ÜSB

WSB

1

1

1

1

1

99

1

1

1

1

99

(Beispiel 5) Stellte sich heraus, dass die hier zitierte Publikation nicht nur in der Sprache des Untersuchungslandes verfasst ist, von einem Autor aus dem Untersuchungsland stammt, nicht übersetzt ist und in einem Medium mit Titel in der Nationalsprache erschienen ist, sondern auch im Untersuchungsland veröffentlicht wurde, wäre die Zitation »national«. Stellte sich hingegen heraus, dass die Publikation außerhalb des Untersuchungslandes erschienen ist, wäre die Zitation »transnational«. Ein solcher oder ein vergleichbarer Mangel an Daten hätte für diese Art der Erhebung zwei weitgehende Konsequenzen. Zum einen wären viele Zitationen aufgrund von Fehlwerten bei den einzelnen Merkmalsausprägungen nicht bestimmbar. Gravierender jedoch ist, dass potentiell »nationale« Zitationen in systematischer Weise häufiger unbestimmbar bleiben als »transnationale« Zitationen, weil bei gleichbleibender Datenqualität über alle Zitationen die Anforderungen an die Datenqualität für »transnationale« Zitationen geringer sind als die für »nationale« Zitationen. Folglich führen Fehlwerte zu einer Verzerrung der Ergebnisse zugunsten der Häufigkeit »transnationaler« Zitationen. Zum Umgang mit diesem Problem werden zwei im Folgenden erläuterte Maßnahmen angewendet. Diese betreffen, erstens, die Unterscheidung zwischen »Fehlwerttoleranz« und »Fehlwertintoleranz« mit Bezug auf bestimmte Merk-

132 | V ERGLEICH

IN DER

W ELTGESELLSCHAFT

male und, zweitens, eine Verbesserung der Datenqualität durch Ausweitung der Erhebung auch auf weitere Quellen. Fehlwerttoleranz und Fehlwertintoleranz: Die Häufigkeit des Vorkommens nicht bestimmbarer Zitationen lässt sich reduzieren, indem für bestimmte Merkmale Fehlwerte toleriert werden. Welche Merkmale könnten für eine solche Fehlwerttoleranz in Frage kommen? Das zentrale räumliche Merkmal einer Publikation ist ohne Zweifel der Erscheinungsort. Auch die Sprachenmerkmale stehen in direktem Zusammenhang mit der Publikation. Für die Charakterisierung einer Publikation sind die Merkmale bezüglich des Erscheinungsortes und bezüglich der Sprache von primärer Bedeutung, so dass Fehlwerte bei der Ausprägung dieser Merkmale nicht toleriert werden sollten. Eine Fehlwerttoleranz der Merkmale bezüglich der Übersetzung von Publikationen und der Wirkungsstätte der Autoren scheint hingegen tragbar zu sein. Dies ist deshalb der Fall, da für das Übersetzungsmerkmal bereits aus forschungstechnischen Gründen Fehlwerte toleriert werden müssen, weil dieses Merkmal im Fall der Untersuchungsländer Deutschland und Frankreich im Grunde nur in den Ausprägungen »2« (»national-inkompatibel«) oder »99« (»Fehlwert«) vorkommen kann. In Deutschland und Frankreich gibt es nur eine Nationalsprache. Wenn eine Publikation als Übersetzung vorliegt, erhält das Übersetzungsmerkmal daher die Ausprägung »2«, also »national-inkompatibel«. Wenn die Publikation allerdings nicht als Übersetzung vorliegt, wird dies nicht eigens vermerkt, so dass nicht mit Sicherheit zu entscheiden ist, ob diese Publikation nicht übersetzt ist oder übersetzt ist und dies bloß nicht vermerkt wurde. Wenn eine Publikation daher nicht als Übersetzung gekennzeichnet ist, muss sie streng genommen für das Übersetzungsmerkmal einen Fehlwert erhalten. Ohne Fehlwerttoleranz für das Übersetzungsmerkmal wäre damit praktisch keine nationale Zitation als solche identifizierbar. Der Vorschlag geht deshalb dahin, eine Publikation nur bei entsprechenden Angaben als Übersetzung zu werten. Liegen keine Hinweise auf eine Übersetzung vor, handelt es sich also um eine Fehlwertausprägung, soll die Publikation als nicht übersetzt gewertet werden. Weiterhin können Fehlwerte für das Merkmal »Wirkungsstätte des Autors« toleriert werden, weil es sich auf eine Person gleichsam hinter der Publikation bezieht, die aus systemtheoretischer Sicht eines auf Grundlage allein von Publikationen und Zitationen autopoietisch geschlossenen Wissenschaftssystems ausgeblendet werden kann.246 Dass dieses Merkmal überhaupt berücksichtigt wird, wenn es eine Ausprägung hat, stellt die Bestätigung der Ausgangsthese unter erschwerte Bedingungen, die aus der hier gewählten theoretischen Perspektive

246 Stichweh 1987.

N ATIONALE G RENZEN

IN DER

W ISSENSCHAFT | 133

im Grunde nicht erforderlich wären. Bewährt sich die These dennoch, spricht dies für ihre Belastbarkeit. Die Merkmale werden daher klassifiziert in primäre Merkmale mit einem direkten Bezug zur Publikation und sekundäre Merkmale, für die aus theoretischen und forschungstechnischen Gründen Fehlwerte toleriert werden können. Der Vorgehensweise sieht vor, dass primäre und sekundäre Merkmale für den Fall, dass sie Fehlwerte produzieren, im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Auswertung der Zitation insgesamt in absteigender Rangfolge gewichtet werden. Solange Daten für alle Merkmale erhoben werden können, unterscheiden sich die Prinzipien der Merkmalauswertung nicht. Denn natürlich geben primäre wie sekundäre Merkmale einerseits wichtige Hinweise auf die Internationalisierung von Publikations- und Kommunikationsstrukturen der Wissenschaft und sollten deswegen, wenn möglich, erhoben und in die Auswertung mit einbezogen werden. Andererseits sollte das Erheben sekundärer Merkmale nicht zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen, nur weil die entsprechenden Daten fehlen. Die Gewichtung geht deshalb dahin, die Auswertung gegenüber Fehlwerten bei Ausprägungen primärer Merkmale »fehlwertintolerant«, gegenüber Fehlwerten bei Ausprägungen sekundärer Merkmale jedoch »fehlwerttolerant« zu halten. »Fehlwertintolerant« ist eine Auswertung in Bezug auf ein primäres Merkmal, weil dessen Fehlwert zu einem Fehlwert für die Zitation insgesamt führt, vorausgesetzt natürlich, dass kein Merkmal »national-inkompatibler« Ausprägung ist, also gleich »2«. »Fehlwerttolerant« ist eine Auswertung im Hinblick auf ein sekundäres Merkmal, weil dessen Fehlwert bei der Auswertung der Zitation ignoriert wird und die Auswertung auf Grundlage der anderen Merkmalsausprägungen vorgenommen wird. Auf dieser Basis könnten sich die Auswertungen z. B. wie folgt darstellen: Zitierende Publikation

Zitierte Publikation

Sekundär

Primär

Primär

Zitation

WSA

ÜSA

SP2A

SP1A

EOA

EOB

SP1B

SP2B

ÜSB

WSB

99

99

1

1

1

1

1

1

99

99

Sekundär

1

(Beispiel 6) Zitierende Publikation

Zitierte Publikation

Sekundär

Primär

WSA

ÜSA

SP2A

SP1A

EOA

EOB

SP1B

SP2B

ÜSB

WSB

1

1

1

1

1

99

1

1

1

1

(Beispiel 7)

Primär

Zitation Sekundär

99

134 | V ERGLEICH

IN DER

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Zitierende Publikation

Zitierte Publikation

Sekundär

Primär

Primär

Zitation Sekundär

WSA

ÜSA

SP2A

SP1A

EOA

EOB

SP1B

SP2B

ÜSB

WSB

99

99

1

1

1

99

99

2

99

99

2

(Beispiel 8) In Beispiel 6 haben alle primären Merkmale eine »national-kompatible« Ausprägung. Die Fehlwerte für die sekundären Merkmale werden toleriert. Im Ergebnis ist die Zitation daher »national«. In Beispiel 7 haben bis auf eine Ausnahme alle Merkmale eine »national-kompatible« Ausprägung. Das primäre Merkmal »Erscheinungsort« gibt jedoch für die zitierte Publikation einen Fehlwert aus. Da Fehlwerte für primäre Merkmale nicht toleriert werden, ist die Zitation insgesamt nicht bestimmbar. In Beispiel 8 sind die meisten Merkmale nicht bestimmbar, sogar ein Teil der primären Merkmale gibt einen Fehlwert aus. Die Zitation ist dennoch als transnational bestimmbar, weil zu erkennen ist, dass der Titel des Erscheinungsmediums der zitierten Publikation in einer anderen als der Nationalsprache des Untersuchungslandes angegeben ist. Eine solche unterschiedliche Gewichtung der Merkmale erscheint auch deshalb tragbar zu sein, weil es unwahrscheinlich ist, dass sich Nationalisierungsund Denationalisierungsprozesse nur über bestimmte Merkmale vollziehen und dass dies zudem Merkmale sind, die in systematischer Weise Fehlwerte produzieren. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich eine Internationalisierung wissenschaftlicher Kommunikationsstrukturen nicht über alle Merkmale von Publikationen äußert. Zwar ist mit einer Toleranz gegenüber Fehlwerten für sekundäre Merkmale die Möglichkeit gegeben, dass, wenn aufgrund von Datenmangel für diese keine Ausprägung vorliegt, einzelne Zitationen unter Unsicherheit interpretiert werden müssen. Im Trend jedoch ergibt sich wegen der Zufälligkeit, mit der sich Fehlwerte auf die Merkmale verteilen und der großen Menge an ausgewerteten Zitationen, auf die sich die Aussagen stützen, im Vergleich zur Alternative das korrektere Bild. Die Alternative, nämlich Fehlwerte auch für sekundäre Merkmale nicht zu tolerieren, würde dazu führen, dass durch Fehlwerte noch stärker vor allem potentiell »nationale« Zitationen aus der Stichprobe auswertbarer Zitationen entfernt werden und »transnationale« Zitationen deshalb über die Maßen ins Gewicht fallen. Dieser Schritt gleicht die Chancen für »transnationale« und für »nationale« Zitationen zu einer Auswertung zu gelangen etwas einander an und korrigiert damit teilweise die durch den Datenmangel hervorgerufene Verzerrung der Ergebnisse. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass selbst mit dieser Maßnahme transnationale Zitationen immer noch eine höhere Chance haben, in die Auswer-

N ATIONALE G RENZEN

IN DER

W ISSENSCHAFT | 135

tung zu gelangen als nationale Zitationen. Insgesamt favorisiert das Untersuchungsdesign damit nicht die Unterstützung der Ausgangsthese, sondern, im Gegenteil, unterwirft die Bestätigung der These immer noch strikteren Bedingungen als deren Ablehnung. Verbesserung der Datenqualität: Um zu verhindern, dass nach dieser Anpassung der Methode an die unterschiedlichen Datenqualitätsanforderungen von nationalen und transnationalen Zitationen immer noch Fehlwerte für Zitationen entstehen, werden in den Angaben zur Zitation fehlende Daten für primäre Merkmale durch eine zusätzliche Recherche erhoben. Für eine solche Nachforschung wird online und europaweit in Bibliothekskatalogen recherchiert. 5.2.5 Fachspezifische Unterschiede bei der Erstellung der Stichproben Bei der Hineinnahme von Zitationen in die Stichprobe wird für die Physik und für die Geschichtswissenschaft jeweils eine andere Regel angewandt. In den Physikzeitschriften wird im Prinzip mit jeder Zitation auf eine andere wissenschaftliche Publikation verwiesen. Mit diesem Zitationstyp schließt sich die Wissenschaft autopoietisch ab, weil hier nur wissenschaftliche Publikationen aneinander anschließen. Es ist daher unproblematisch, alle Zitationen in den Physikzeitschriften in die Grundgesamtheit mit aufzunehmen, aus der die Stichproben gezogen werden. Demgegenüber gibt es in der Geschichtswissenschaft einen entscheidenden Unterschied. In den geschichtswissenschaftlichen Publikationen werden zwei verschiedene Typen von Zitationen verwendet. Zum einen sind das die für diese Arbeit interessanten Zitationen anderer wissenschaftlicher Publikationen. Zum anderen allerdings gibt es in geschichtswissenschaftlichen Publikationen in bedeutendem Ausmaß auch Zitationen von historischen Quellen. Mit diesem Zitationstyp schließt sich die Wissenschaft nicht autopoietisch ab, weil damit nicht auf andere wissenschaftliche Publikationen verwiesen wird. Vielmehr handelt es sich um eine Bezeichnung des wissenschaftlichen Gegenstands, der als Objekt wissenschaftlicher Beobachtung fungiert, jedoch selbst natürlich nicht Teil des Wissenschaftssystems ist. Zitationen von Quellen sagen daher nichts aus über nationale Kommunikationsgrenzen der Wissenschaft. Es ist z. B. denkbar, dass national geschlossene Segmente der Geschichtswissenschaft sich zeitlich und räumlich weit verstreute Quellen zum Gegenstand machen, ohne dabei in einen nationale Grenzen überschreitenden Austausch zu treten. Die Grundgesamtheit, aus der die Zitationen für die Stichproben ausgewählt werden müssen, darf daher für die Geschichtswissenschaft nicht aus der gesam-

136 | V ERGLEICH

IN DER

W ELTGESELLSCHAFT

ten Menge aller Zitationen bestehen, sondern nur aus der Gesamtheit der Zitationen wissenschaftlicher Publikationen. Damit entsteht jedoch für die Erhebung das Problem der mangelnden Unterscheidbarkeit der beiden Zitationstypen. Ob es sich bei einer Zitation um eine Referenz auf einen Forschungsgegenstand oder eine wissenschaftliche Publikation handelt, ist im Wesentlichen eine Frage der gewählten Perspektive der zitierenden Publikation, also ein Problem des kognitiven Inhalts wissenschaftlicher Kommunikation. Es ist weder forschungspragmatisch möglich, die Frage bei jeder in die Stichprobe aufzunehmenden Zitation inhaltlich zu entscheiden, noch gibt es für die Einordnung in die Zitationstypen verlässliche Kriterien. Warum z. B. sollte eine wissenschaftliche Publikation etwa in der Wissenschaftsgeschichte nicht auch Gegenstand historischer Forschung sein? Um zu gewährleisten, dass in die Stichprobe ausschließlich Zitationen wissenschaftlicher Publikationen gelangen, die nicht als Quelle behandelt werden, bildet die Grundgesamtheit für die Erhebung in der Geschichtswissenschaft nicht, wie im Fall der Physik, die Gesamtheit aller Zitation der untersuchten Zeitschriftenbände, sondern lediglich die Zitationen rezensierter Publikationen. Weil Rezensionen sich ausschließlich auf andere wissenschaftliche Publikationen beziehen, sind Zitationen aus diesen immer Zitationen wissenschaftlicher Publikationen. Diese Beschränkung hat darüber hinaus einen weiteren wichtigen Vorteil. Rezensionen haben einen entscheidenden Einfluss auf die Aufnahme von Publikationen in den wissenschaftlichen Kommunikationszusammenhang. Gerade in zentralen Fachzeitschriften rezensierte Publikationen haben verbesserte Chancen in die Aufmerksamkeit des Fachpublikums zu rücken. Weil Rezensionen sich in den meisten Fällen auf Monographien beziehen, wird eine Auswertung von Rezensionen auch dem Umstand gerecht, dass diese Publikationsform in der Geschichtswissenschaft neben Zeitschriftenartikeln immer auch eine bedeutende Stellung im Fach innegehabt hat.247 Außerdem nehmen Rezensionen in der deutschen wie der französischen Geschichtswissenschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung wissenschaftlicher Standards und damit bei der Disziplinbildung ein.248

247 Vgl. Stieg 1986: 29 u. Raphael 2003: 68, 219. 248 Vgl. vor allem Müller 1994 u. Lingelbach 2003: 391–392.

N ATIONALE G RENZEN

5.3 Z USAMMENFASSUNG

UND

IN DER

W ISSENSCHAFT | 137

E RGEBNISSE

Die Betrachtung der historischen Entwicklung des Zeitschriftensystems der Physik in Deutschland zeigt, dass die Annalen der Physik seit Beginn des 19. Jahrhunderts das zentrale Kommunikationsforum der deutschen Physikergemeinschaft sind. Die Zeitschrift behauptet sich gegen die Konkurrenz, sie etabliert sich durch Langfristigkeit und Nachhaltigkeit als feste Instanz der deutschen Physik, sie ist national verbreitet mit Lesern und Autoren aus ganz Deutschland, sie ist fachlich allgemein ausgerichtet und begleitet alle wesentlichen Forschungsthemen in der Entwicklung der Disziplin. Ihre Führungsposition verlieren die Annalen der Physik erst im Rahmen einer Umstrukturierung des Zeitschriftensystems etwa im Jahr 1920, nachdem sich führende Physiker von der Zeitschrift abwenden und als infolgedessen die neue Zeitschrift für Physik zum zentralen Publikationsorgan der Physik in Deutschland avanciert. Die Ära der Zeitschrift für Physik dauert allerdings nur kurz, denn die verstärkte Internationalisierung der Physik eröffnet neue Konkurrenzbeziehungen in einem weltweiten Markt von Fachzeitschriften. Die Vertreibung führender Physiker aus Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtergreifung trägt entscheidend zum Bedeutungsverlust der Zeitschrift für Physik und zum Aufstieg der Physical Review als neuem zentralem Kommunikationsforum der sich rasch globalisierenden Physikergemeinschaft bei. Dieser Entwicklung des Systems physikwissenschaftlicher Zeitschriften entsprechend werden die Stichproben für die Zitationsanalyse für die Messzeitpunkte 1800, 1820, 1840, 1860, 1880, 1900 und – das Umbruchsjahr 1920 vermeidend – 1915 aus den Annalen der Physik erhoben.249 Die letzte Stichprobe für das Jahr 1930 wird der Zeitschrift für Physik entnommen. Weitere Erhebungen zu späteren Zeitpunkten aus der Zeitschrift für Physik oder anderen in Deutschland erscheinenden Fachzeitschriften hätten für die Gemeinschaft der Physiker in Deutschland kaum noch Repräsentativität besessen. Die folgende Graphik stellt die Anteile nationaler Zitationen aus den Stichproben über alle Messzeitpunkte zusammenfassend dar:

249 Vgl. auch Tabelle 1 im Anhang.

138 | V ERGLEICH

IN DER

W ELTGESELLSCHAFT

100

Prozent

80 60 40 20 0 1800

1820 1840

1860 1880

1900 1920

1940 1960

1980 2000

Jahr

Abbildung 1: Nationale Schließung in Physikzeitschriften Deutschlands Bei der ersten Messung im Jahr 1800 liegt der Anteil nationaler Zitationen in der Stichprobe bei 31,8 Prozent. Er fällt zunächst ab auf 15,1 Prozent im Jahr 1820, um ab dann über 29,8 Prozent im Jahr 1840 auf 53,2 Prozent im Jahr 1860 stetig anzusteigen. Nach einem leichten Rückgang der Quote auf 47,9 Prozent im Jahr 1880 steigt der Wert bis zum Jahr 1900 wieder stark an und erreicht seinen Höchststand von 75 Prozent. Damit steigt der Anteil nationaler Zitationen bis 1900 um das 5-fache im Vergleich zum Jahr 1820 an. Danach fällt die Quote nationaler Zitationen bei der Messung im Jahr 1915 zunächst leicht auf 65,9 Prozent ab. Bei der nächsten und letzten Erhebung im Jahr 1930 fällt der Wert allerdings rapide auf nur noch 26,3 Prozent ab. Das zentrale Fachorgan für Physik in Deutschland erreicht damit in der statistischen Messung wieder das Internationalisierungsniveau aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Als Stichprobenanteilswerte stellen die genannten Kennziffern Schätzungen des tatsächlich vorhandenen Verhältnisses aller nationalen zu allen transnationalen Zitationen in den Grundgesamtheiten dar. Aufgrund dieser Stichprobeneigenschaften lässt sich allerdings die Genauigkeit dieser Schätzungen anhand von Konfidenzintervallen darstellen:

N ATIONALE G RENZEN

IN DER

W ISSENSCHAFT | 139

100

Prozent

80 60 40 20 0 1800

1820 1840

1860 1880

1900 1920

1940 1960

1980 2000

Jahr

Abbildung 2: 95-prozentiges Konfidenzintervall zu Abbildung 1 Die obere und die untere Grenze des Konfidenzintervalls markieren den Bereich, innerhalb dessen die Werte in der Grundgesamtheit mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit angesiedelt sind. Das Konfidenzintervall macht also deutlich, dass in der Grundgesamtheit zwar Abweichungen von den Stichprobenwerten durchaus möglich sind, es jedoch extrem unwahrscheinlich ist, dass dadurch die generelle Dynamik der Entwicklung in Frage gestellt werden könnte. Nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 Prozent liegen die Grundgesamtheitswerte nationaler Zitationen außerhalb der Grenzen des Intervalls. Das System geschichtswissenschaftlicher Zeitschriften ist in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Organe der Heimat- und Geschichtsvereine geprägt, die meist von interessierten Laien geführt werden und thematisch, aber auch in ihrer Ausbreitung auf einzelne Regionen beschränkt sind. Eine professionelle und national verbreitete Fachzeitschrift für die Geschichtswissenschaft kann sich in Deutschland erst mit der Gründung der Historischen Zeitschrift im Jahr 1859 durchsetzen. Diese Zeitschrift kann sich allerdings bis heute als zentrales Fachorgan einer deutschen Historikerschaft in mehrfacher Hinsicht behaupten. Sie ist in ihrer Ausbreitung national, sie umfasst thematisch alle Fachbereiche der Geschichtswissenschaft und sie ist ihrem Anspruch und Selbstverständnis nach das führende nationale Fachorgan der Geschichtswissenschaft in Deutschland. Dieser Entwicklung entsprechend werden alle Stichproben für die Analyse der deutschen Geschichtswissenschaft aus der Historischen Zeitschrift entnommen.250 Die Messreihe beginnt nach Gründung der Zeitschrift im Jahr 1860 und nimmt Messungen im Abstand von 20 Jahren bis zum Jahr 2000 vor. Für das Jahr 1990 erfolgt eine zusätzliche Messung. Um auszuschließen, dass keine Zitationen historischer Quellen, sondern nur Zitationen wissenschaftlicher Literatur 250 Vgl. auch Tabelle 2 im Anhang.

140 | V ERGLEICH

IN DER

W ELTGESELLSCHAFT

in die Stichprobe gelangen können, werden nur Zitationen rezensierter Publikationen erhoben. Die folgende Graphik stellt die Entwicklung der Anteilswerte für nationale Zitationen in den Stichproben aus der Historischen Zeitschrift zusammenfassend dar. 100

Prozent

80 60 40 20 0 1800

1820

1840

1860

1880

1900

1920

1940

1960

1980

2000

Jahr

Abbildung 3: Nationale Schließung in der Historischen Zeitschrift 1860 sind bereits 51 Prozent der Zitationen rezensierter Publikationen national. Bei den folgenden Messungen steigt der Anteilswert in den Rezensionen der Historischen Zeitschrift über 56,3 Prozent im Jahr 1880 und 57,7 Prozent im Jahr 1900 auf 76,6 Prozent im Jahr 1920 an. Anschließend erfolgt eine Trendwende und die Rezensionen der Historischen Zeitschrift richten ihr Augenmerk wieder zunehmend auf Publikationen außerhalb der deutschen Grenzen. 1940 beträgt der Anteil nationaler Zitationen nur noch 60 Prozent und 1960 ist die Historische Zeitschrift mit 41,5 Prozent an nationalen Zitationen rezensierter Publikationen internationaler ausgerichtet als 1860. Danach stagniert die Quote auf einem Niveau knapp über der 40-Prozentmarke, bis es ab 1980 wieder zu einem erneuten Nationalisierungsschub kommt, mit 52 Prozent nationalen Zitationen im Jahr 1990 und 56,1 Prozent im Jahr 2000. Das 95-prozentige Konfidenzintervall zeigt die Schätzgenauigkeit der Stichproben von d=10 Prozent:

N ATIONALE G RENZEN

IN DER

W ISSENSCHAFT | 141

100

Prozent

80 60 40 20 0 1800

1820

1840

1860

1880

1900

1920

1940

1960

1980

2000

Jahr

Abbildung 4: 95-prozentiges Konfidenzintervall zu Abbildung 3 Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent weichen die »wahren« Anteilswerte nationaler Zitationen in den Grundgesamtheiten nicht mehr als 10 Prozent von den Werten der Stichprobe ab. Die Möglichkeit, dass die Werte der Grundgesamtheit damit nicht der hier dargestellten Nationalisierungsdynamik folgen, ist damit beinahe ausgeschlossen. In Frankreich etablieren sich die Annales de chimie et de physique zu Beginn des 19. Jahrhunderts als zentrales Fachorgan für Publikationen der Physik. Die übrigen naturwissenschaftlich orientierten Zeitschriften können aus verschiedenen Gründen den Annales keine Konkurrenz machen, etwa weil sie keinen disziplinspezifischen Zuschnitt haben oder nur zu kurz erscheinen. So repräsentieren die Annales de chimie et de physique über das gesamte 19. Jahrhundert die wesentlichen Forschungsströme in der Entwicklung des Fachs in Frankreich. Erst nach der sich ungünstig auswirkenden Herausgeberschaft Berthelots gibt die Zeitschrift ihren Führungsstatus an das von der zentralen Fachgesellschaft für Physik in Frankreich, der Société Française de Physique, getragene Journal de physique ab. Dieses bleibt die führende Physikzeitschrift in Frankreich, bis sie schließlich spätestens nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihren Führungsstatus an die US-amerikanische Physical Review abgibt, um die sich eine zunehmend globalisierte Physikergemeinschaft versammelt. Dieser Entwicklung entsprechend werden die Stichproben für die Zitationsanalyse aus den Annales de chimie et de physique und dem Journal de physique entnommen. Die Messreihe kann erst im Jahr 1860 beginnen, weil sich die Praxis des Zitierens in den Annales de chimie et de physique vorher nicht nennenswert durchsetzt. Die Messreihe endet 1940 vor der Entstehung einer globalen Physikergemeinschaft um die US-amerikanische Physical Review. Damit werden die Stichproben für die Jahre 1860 und 1880 aus den Annales de chimie et de physique und für die Jahre 1900, 1920 und 1940 aus dem Journal de physique

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entnommen. 251 Die Entwicklung der Anteilwerte nationaler Zitationen in den Stichproben wird durch folgende Graphik zusammenfassend dargestellt: 100

Prozent

80 60 40 20 0 1800 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 Jahr

Abbildung 5: Nationale Schließung in Physikzeitschriften Frankreichs Der Anteil nationaler Zitationen in der Stichprobe aus den Jahrgangsbänden von 1860 liegt bei 45 Prozent. Beim nächsten Messzeitpunkt im Jahr 1880 steigt dieser Anteil um knapp 20 Prozent auf 64,4 Prozent an. Das Journal de physique weist laut Stichprobe im Jahr 1900 wiederum nur noch das Nationalisierungsniveau der Annales de chimie et de physique aus dem Jahr 1860 auf, nämlich genau 45 Prozent. Dieser Abwärtstrend bestätigt sich bei den weiteren Messungen im Journal de physique in den Jahren 1920 mit 33,3 Prozent und 1940 mit nur noch 23,2 Prozent nationalen Zitationen in der Stichprobe. Damit sinkt der Nationalisierungsgrad des führenden Fachorgans der Physik in Frankreich auf ein Drittel des Niveaus von 1880. Die Schätzgenauigkeit der Stichproben aus den französischen Physikzeitschriften lässt sich durch ein 95-prozentiges Konfidenzintervall darstellen: 100

Prozent

80 60 40 20 0 1800

1820

1840

1860

1880

1900

1920

1940

1960

Jahr

Abbildung 6: 95-prozentiges Konfidenzintervall zu Abbildung 5

251 Vgl. auch Tabelle 3 im Anhang.

1980

2000

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Mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit liegen die Werte der Grundgesamtheit innerhalb der Grenzen des Intervalls und folgen damit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einer Dynamik von Auf- und Abbau nationaler Grenzen in der Kommunikation der Zeitschrift. Die Entwicklung geschichtswissenschaftlicher Zeitschriften in Frankreich ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt durch institutionelle Defizite im Wissenschaftssystem. Ohne eine institutionelle Verankerung kann sich die Geschichtswissenschaft über lange Zeit während des 19. Jahrhunderts in Frankreich nicht als eigenständige und professionell arbeitende Disziplin etablieren. Die Geschichtsschreibung wird dominiert von konservativen Laien, die mit ihrer Tätigkeit vor allem ideologische Ziele verfolgen. Nach einigen gescheiterten Versuchen kann sich erst im Jahr 1876, vermutlich im Zuge der enormen Intensivierung der Wissenschaftsförderung durch die Dritte Republik, mit der Revue historique eine wissenschaftlich seriös arbeitende und an den Universitäten verankerte Fachzeitschrift für die Geschichtswissenschaft in Frankreich etablieren. Um sich gegenüber der ideologisch beeinflussten Historiographie abzugrenzen, vertritt die Revue historique eine strikt positivistische Wissenschaftsauffassung. Gegen Versuche, durch die Gründung konkurrierender Zeitschriften eine theoretische Fundierung der Geschichtswissenschaft zu erreichen, kann sich die Revue historique zunächst noch erfolgreich behaupten. Ab etwa 1960 jedoch verliert die Zeitschrift ihre Führungsposition an die Annales, die als Organ einer auch theoretisch denkenden Forschungsströmung sich zur führenden Fachzeitschrift der französischen Geschichtswissenschaft insgesamt entwickeln. Damit kann die Messreihe für die Zitationsanalyse im Falle der Geschichtswissenschaft in Frankreich nicht viel früher als 1880 mit einer Stichprobenerhebung aus der Revue historique beginnen. Weitere Stichproben aus dieser Zeitschrift werden in den Jahren 1900, 1920 und 1940 erhoben. Für die Messzeitpunkte in den Jahren 1960, 1980 und 2000 werden die Annales als Quelle für die Stichproben verwendet.252 Bei allen Zitationen in den Stichproben handelt es sich um Zitationen rezensierter, wissenschaftlicher Publikationen, so dass ausgeschlossen werden kann, dass Zitationen von Quellentexten in die Stichproben gelangen konnten. Die Stichprobenanteilswerte für nationale Zitationen von in den französischen Geschichtszeitschriften rezensierten Publikationen entwickeln sich in der Zusammenschau wie folgt:

252 Vgl. auch Tabelle 4 im Anhang.

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100

Prozent

80 60 40 20 0 1800

1820

1840

1860

1880

1900 1920

1940

1960

1980

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Jahr

Abbildung 7: Nationale Schließung in geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften Frankreichs In der Stichprobe aus dem Jahr 1880 ergibt sich ein Anteil von 39,8 Prozent nationalen Zitationen rezensierter Publikationen. Bei der nächsten Messung im Jahr 1900 ist deren Anteil auf 28,9 Prozent gesunken, steigt dann aber kräftig um knapp das Doppelte auf 54 Prozent im Jahr 1920 an. Seitdem nimmt der Anteil in den jeweils führenden Fachorganen der französischen Geschichtswissenschaft kontinuierlich ab. 1940 verzeichnet die Revue historique nur noch eine Quote von 42,1 Prozent. Nach dem Führungswechsel zu den Annales verzeichnen diese im Jahr 1960 in etwa das gleiche Niveau nationaler Schließung von 41,7 Prozent, um bei den darauffolgenden Messzeitpunkten noch weiter auf 37,6 Prozent im Jahr 1980 und 29 Prozent im Jahr 2000 abzusinken. Das 95-prozentige Konfidenzintervall zeigt die Schätzgenauigkeit der Stichproben von d=10 Prozent an: 100

Prozent

80 60 40 20 0 1800

1820

1840

1860

1880

1900

1920

1940

1960

1980

2000

Jahr

Abbildung 8: 95-prozentiges Konfidenzintervall zu Abbildung 7 In einer vergleichenden Zusammenschau aller Ergebnisse ist zunächst zu erkennen, dass der Verlauf über die unterschiedlichen Disziplinen und Länder hinweg im Groben dem gleichen Muster folgt: Der Verlauf ist dabei im 19. Jahrhundert

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gekennzeichnet durch einen Trend zur Nationalisierung, der sich in der Zeit etwa zwischen 1880 und 1920 umkehrt und in einem entgegengesetzten Trend zur Denationalisierung mündet. Damit bestätigt sich, dass – aus welchen jeweils vorliegenden historischen Gründen auch immer – der Verlauf der Nationalisierungsdynamik einem Muster folgt, das für die mehrstufige Konstitution von Funktionssystemen funktional ist. Die konkreten historischen Umstände der Entwicklungen sind, wie die unterschiedlichen Formen der Verlaufskurven schon vermitteln, teilweise zwar ähnlich, zum Teil jedoch auch unterschiedlich. Ohne den Anspruch einer geschichtswissenschaftlichen Studie zu verfolgen, werden aus den Ergebnissen dieser Arbeit bereits einige Anhaltspunkte hierfür offensichtlich. Zu den historischen Umständen, die über alle Fälle in vergleichbarer Weise gegeben sind, zählt, dass Nationalisierung, Wachstum und Professionalisierung der Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammenfallen. In dem Maße, wie auch auf nationaler Ebene eine kritische Masse an relevanten Zeitschriftenaufsätzen entsteht, wird eine nationale Schließung zunehmend auch ohne Qualitätseinbußen möglich. Weiterhin ist über alle Fälle der Internationalisierungstrend spätestens ab 1920 erkennbar, der zumindest teilweise durch die dramatischen Fortschritte in der Kommunikations- und Verkehrstechnik ermöglicht wird. Die Verlaufskurven zeigen auch Unterschiede an. Während die Trendwende in der Geschichtswissenschaft offensichtlich etwa im Jahr 1920 stattfindet, zeichnet sie sich in der Physik in Deutschland schon um 1900 und in Frankreich sogar noch früher ab, etwa um 1880. Für diesen Unterschied zwischen den Disziplinen könnte deren unterschiedliche Affinität zur politischen Umwelt eine Bedeutung haben. Der Höhepunkt nationaler Schließung in der Geschichtswissenschaft fällt historisch mit dem Ersten Weltkrieg und dem so genannten »Krieg der Geister« zusammen, bei dem Wissenschaftler für ihre Nation anhand von Pamphleten und Aufrufen öffentlich Partei ergreifen.253 Die Geschichtswissenschaft wird anders als die Physik für kriegslegitimatorische und propagandistische Zwecke missbraucht. Unter diesen Umständen sind Publikationen der Geschichtswissenschaft aus dem gegnerischen Ausland nicht mehr ohne Weiteres in den nationalen Diskursen anschlussfähig, so dass sich hier möglicherweise ein struktureller Effekt auf die nationale Schließung besonders dieser Disziplin ergibt. Demgegenüber haben Bekenntnisse zur Nation und zur vorherrschenden politischen Doktrin in der Physik einen geringeren Effekt, weil die Forschungsthemen selbst davon nicht betroffen sind.

253 Vgl. nächstes Kapitel.

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Für die unterschiedlichen Zeitpunkte der Trendwende innerhalb der Physik im deutsch-französischen Vergleich gibt es möglicherweise eine andere historische Erklärung, die gleichzeitig verständlich macht, warum die Physik in Frankreich im Vergleich zur Physik in Deutschland auch insgesamt eine geringere nationale Schließung aufweist. Während in den Annalen der Physik 1915 noch knapp 66 Prozent der Zitationen nationale Grenzen nicht überschreiten, sind es im Journal de physique 1920 nur die Hälfte dieses Wertes, nämlich etwa 33 Prozent. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Deutschland das Zentrum der Physik. Zeitschriftenartikel aus dem Zentrum haben mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Referenzbeziehung mit weiteren Zeitschriftenartikeln aus dem Zentrum als mit solchen aus der Peripherie, weil diese in der Forschungsentwicklung eher zurückbleiben. Aus den gleichen Gründen ist es plausibel anzunehmen, dass sich Publikationen aus der Peripherie eher nach dem Zentrum orientieren. Tatsächlich zeigen die Stichproben, dass viele der Zitationen im Journal de physique von 1900 und 1920 transnational sind aufgrund von Verweisen auf in Deutschland oder in deutscher Sprache erschienenen Publikationen. Da sich die Physik in Frankreich eher in der Peripherie befindet, in Deutschland hingegen die Physik besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts floriert, kommt es in Frankreich schon früher zu einer internationalen Öffnung und die nationale Schließung bewegt sich im Vergleich zu Deutschland insgesamt auf einem niedrigeren Niveau. In Deutschland hingegen überlagern sich eine national-segmentäre und eine Zentrum-Peripherie-Differenzierung und verstärken sich so gegenseitig. Ausgehend vom niedrigeren Niveau verläuft die Denationalisierung der Physik in Frankreich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts entsprechend sanfter als in Deutschland. Für die im Vergleich dazu rasante Denationalisierung der Physik in Deutschland haben die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg enorm sich verschlechternden Forschungsbedingungen in Deutschland und schließlich die Vertreibung führender Physiker durch die Nationalsozialisten möglicherweise entscheidend beigetragen. Die Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie könnte durchaus auch einen Effekt auf den Verlauf der Kurven zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben. Im Vergleich zum frühen 20. Jahrhundert ist die Situation genau umgekehrt. Die Physik hat in Frankreich ein Zentrum und Deutschland befindet sich in der Peripherie. Dies mag das niedrige Nationalisierungsniveau dort zum Teil erklären. Jedenfalls fällt auf, dass sich die Redakteure der Annalen der Physik um internationalen Anschluss bemühen. Der Anteil von abgedruckten Übersetzungen ist in den Annalen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hoch und fällt dann immer weiter ab. In der Stichprobe aus dem Jahr 1800 konnte für 26 Zitationen nachgewiesen werden, dass sie aus übersetzten Aufsätzen stammen, 1820 sind es sogar 29, spä-

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ter sinkt ihr Anteil kontinuierlich ab auf 24 im Jahr 1840, 3 im Jahr 1860 und 1880 befindet sich in der Stichprobe nur noch eine Zitation, deren Ursprungsaufsatz als Übersetzung gekennzeichnet ist. Der Blick ins Ausland richtet sich dabei vor allem nach Frankreich. In den frühen Jahrgängen der Annalen der Physik sind die meisten fremdsprachigen Artikel, die in der Zeitschrift abgedruckt oder zitiert werden, in französischer Sprache verfasst oder aus dem Französischen übersetzt. Leider ist wegen der fehlenden Zitationen in den Annales de chimie et de physique ein Vergleich mit der Situation in Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht möglich. Da Frankreich allerdings zu dieser Zeit noch ein Zentrum für die Physik ist, lässt sich vermuten, dass im Vergleich zu Deutschland die Entwicklung von einem höheren Niveau nationaler Schließung ihren Ausgang nimmt. Im Fall der Geschichtswissenschaft zeigt sich im Ländervergleich insgesamt ein unterschiedliches Niveau nationaler Schließung über den gesamten Verlauf. Das Nationalisierungsniveau der Revue historique ist beim Höhepunkt der Entwicklung im Jahr 1920 um etwa 20 Prozentpunkte niedriger angesiedelt als das der Historischen Zeitschrift im gleichen Zeitraum. Hier fällt eine Parallele zu den Ergebnissen des nächsten Kapitels zur Entwicklung nationaler Semantik in der Geschichtswissenschaft auf, das hier deswegen schon vorweggenommen werden soll. Im deutsch-französischen Vergleich zeigt sich, dass die nationale Semantik in der Geschichtswissenschaft in Frankreich weniger ausgeprägt und radikal erscheint als in Deutschland.254 Möglicherweise hat hier die Vorstellung von einer Eigenart und Besonderheit einer spezifisch deutschen Geschichtswissenschaft einen Effekt auf die Praxis. Die relativ starke nationale Schließung der Disziplin in Deutschland in der Zeit um 1920 könnte zudem zusammenhängen mit dem Ausschluss deutscher Wissenschaftler aus der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft, der nach dem Ersten Weltkrieg Bestandteil der Wissenschaftspolitik der Siegermächte ist und der die deutsche Wissenschaft von außen zusätzlich isoliert. Ausgehend von diesen Unterschieden verläuft die weitere Denationalisierung in der Geschichtswissenschaft in Frankreich sanfter als in Deutschland. Die Ergebnisse der Zitationsanalyse werfen auch einige Fragen auf, die zum Anlass weiterer Nachforschungen genommen werden können. In Abweichung zu den übrigen Ergebnissen zeigt sich, dass die Historische Zeitschrift, nachdem sie dem allgemeinen Trend zur Denationalisierung ab dem Jahr 1920 zunächst wie erwartet folgt, seit 1980 offenbar erneut einen Trend der nationalen Schließung

254 Vgl. nächstes Kapitel.

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aufweist. Um auszuschließen, dass die Messung des Jahrgangs 2000 eine Zufallsschwankung abbildet, ist zusätzlich eine Stichprobe für das Jahr 1990 erhoben worden, deren Ergebnis den Trend allerdings bestätigt. Die Redaktion der Historischen Zeitschrift hat dafür auf Nachfrage keine Erklärung liefern können, schließt aber aus, dass diese Entwicklung auf eine Veränderung der Herausgeberpolitik zurückzuführen sei. 255 Was auch immer der Grund für diese Entwicklung sein mag, funktional erforderlich für die Ordnung des geschichtswissenschaftlichen weltweiten Kommunikationszusammenhangs ist sie nicht. Ebenso unerwartet sind die Schwankungen zur Denationalisierung in der Revue historique zwischen 1880 und 1900 und in den Annalen der Physik zwischen 1800 und 1820 sowie zwischen 1860 und 1880. Nachforschungen könnten hier klären, welche historischen Umstände die Schwankungen verständlich machen können bzw. ob sie auf Zufallseffekte zurückzuführen sind. Weiterhin schließt sich an die Untersuchung der Annales de chimie et de pyhsique die Frage an, warum im Vergleich zu Deutschland Zitationen bzw. deren Kenntlichmachung erst so spät zur Praxis wird, obgleich Frankreich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts über ein relativ komplexes System wissenschaftlicher Publikationen verfügt. Für den hier verfolgten Zweck insgesamt festzuhalten bleibt allerdings, dass die Ergebnisse trotz der Einschränkungen und Schwankungen die in den Ausgangsthesen angenommene, generelle Nationalisierungsdynamik letztendlich nicht in Frage stellen. Die statistischen Auswertungen zeigen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass die Nationalisierungsdynamiken in allen untersuchten Zeitschriften einem Verlauf folgen, der die hier dargelegte, spezifische Funktion der Komplexitätsreduktion bei der Konstitution globaler Wissenschaft erfüllen kann. Die Zitationsanalysen haben dieses Resultat hervorgebracht, obwohl bei der hier verwendeten Auswertungsmethode Denationalisierungstendenzen leichter registriert werden können als Nationalisierungstendenzen.

255 Dies teilte die Redaktion der Zeitschrift dem Verfasser auf Nachfrage mit.

6 Nationale Wissenschaft und internationaler Wissenschaftsvergleich

Dieses Kapitel widmet sich der Untersuchung der zweiten Leitthese zur Dynamik des internationalen Vergleichs bezogen auf die Wissenschaft. Die Frage lautet, ob es innerhalb der Semantik der Wissenschaft zu einer Dynamik eines internationalen Vergleichs kommt, der sich durch eine Entwicklung eines anfänglichen Auf- und abschließenden Abbaus kennzeichnet. Wie könnte sich eine solche Vergleichsdynamik in der Semantik empirisch abbilden lassen? Zur Untersuchung und Ermessung der internationalen Vergleichssemantik macht sich die Analyse den Umstand zunutze, dass Vergleich und Konstitution der Vergleichselemente einander bedingende Komponenten sind. Jeder Vergleich beruht auf der Möglichkeit einer Unterscheidung, die die Grundlage des Vergleichs konstituiert. Je unterschiedlicher die Vergleichsereignisse sind, desto aufwendiger und ertragreicher fällt der Vergleich aus. Eine Gegenüberstellung identischer Einheiten bleibt ohne Aufwand und ohne Ergebnis. Ein Vergleich radikal unterschiedlicher Einheiten ist hingegen aufwendig und das Ergebnis umfangreich. Der Aufwand wächst und schwindet dadurch mit dem Grad an Unterschiedlichkeit und Unterscheidbarkeit der Vergleichseinheiten. Eine Dynamik des Vergleichs ließe sich somit fassen als eine Dynamik des Aufwands, mit dem der Vergleich betrieben wird und dieser Aufwand bemisst sich an der Unterschiedlichkeit der Vergleichselemente. Auf den hier relevanten Gegenstand bezogen bedeutet das: Ein internationaler Vergleich in der Wissenschaft ist nur insoweit möglich, wie die Einheiten des Vergleichs, nämlich nationale Wissenschaften, konstruiert werden. Einander identische nationale Wissenschaften führen sich ad absurdum und machen einen Vergleich unmöglich. Nur wenn nationale Wissenschaften als klar abgetrennte und voneinander zu unterscheidende Einheiten behandelt werden, kann man sie einem internationalen Vergleich zuführen. Je stärker die Besonderheit nationaler Wissenschaft ist und je stärker ihre Abtrennung gegenüber der Umwelt konstru-

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iert wird, desto ertragreicher und sinnvoller erscheint ein internationaler Wissenschaftsvergleich. Die empirische Aufgabe besteht insofern darin, eine Verschärfung und Abschwächung einer Semantik aufzudecken, mit der nationale Wissenschaften voneinander unterschieden und verglichen werden. Der Aufwand, mit dem in der Semantik nationale Wissenschaften als voneinander abgetrennt und als zueinander unterschiedlich beschrieben werden, entspricht dem Aufwand, den ein internationaler Wissenschaftsvergleich einfordert. Wie aber ließe sich die Veränderung dieses Vergleichsaufwandes im historischen Verlauf empirisch darstellen? Der Vorschlag lautet, Argumentationstypen zu bilden, die für unterschiedliche Ausprägungen und Ausmaße nationaler Semantik in der Wissenschaft stehen und zu prüfen, wann und in welcher Abfolge diese Typen in der Semantik der Wissenschaft historisch vorkommen. Argumentationstypen einer schwachen nationalen Differenzierung markieren eine schwache internationale Vergleichssemantik und Argumentationstypen, die eine starke Trennung und Unterschiedlichkeit nationaler Wissenschaften beschreiben, gehen mit einem aufwendigen internationalen Wissenschaftsvergleich einher. Für die folgende Analyse werden drei solcher Argumentationstypen, die für ein unterschiedliches Niveau der Ausprägung nationaler Semantik in der Wissenschaft stehen, gebildet. In einer ersten Stufe der Argumentation kommen Beschreibungen nationaler Wissenschaften nicht vor. Stattdessen dominieren kosmopolitische Selbstbeschreibungen der Wissenschaft. In einer zweiten Stufe der Argumentation führt die Semantik die »Form Nation« im Sinne der Unterscheidung zwischen einer Innenseite der nationalen Wissenschaft und einer Außenseite der restlichen oder ausländischen Wissenschaft ein.1 Die Unterscheidung nationaler Wissenschaften wird in diesem Argumentationstypus allerdings noch als überwindbar und kontingent beschrieben, so dass ein internationaler Wissenschaftsaustausch zwischen den als national gedachten Wissenschaften möglich bleibt und entweder wünschenswert ist oder abgelehnt wird. In einer dritten Stufe der Argumentation wird die Semantik nationaler Wissenschaften derart radikalisiert, dass nationale Wissenschaften als voneinander abgetrennte Einheiten erscheinen. Diese Trennung ist fest und unüberwindbar. In diesem Argumentationstyp wird die nationale Wissenschaft aus dem System der Wissenschaft herausgehoben und zu einer gleichsam monadisch geschlossenen Einheit gemacht.

1

Richter 1996.

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Eine Dynamik des internationalen Wissenschaftsvergleichs ließe sich somit übersetzen in ein Modell der Entwicklung nationaler Semantiken, bei dem die verschiedenen Argumentationstypen in vier verschiedenen historischen Phasen entlang des Untersuchungszeitraums vorkommen. Entsprechend dem funktionalen Erfordernis, dass es zunächst zu einer Herausbildung und dann zu einer Abschwächung eines internationalen Wissenschaftsvergleichs kommt, lautet das empirische Erfordernis, dass es in der Semantik der Wissenschaft eine entsprechende Abfolge der Argumentationstypen gibt. Auf eine Phase von Semantiken des ersten Argumentationstyps folgen Phasen des zweiten und dritten Typs, bis es in einer vierten Phase wieder zu Argumentationen des ersten oder zweiten Typs kommt. Die Phasen stehen nicht nur für die angedeuteten qualitativen Unterschiede in den Argumentationstypen, sondern auch für das unterschiedliche quantitative Vorkommen nationaler Semantik. Diesen Überlegungen zu einem Vier-Phasenmodell der Entwicklung des internationalen Wissenschaftsvergleichs entsprechend, bestehen die folgenden Analysen der nationalen Semantik der Wissenschaft in Frankreich und Deutschland aus vier Kapiteln, die sich jeweils einer Entwicklungsphase in der Wissenschaft widmen. Zunächst wird die Erosion des kosmopolitischen Gelehrtenideals beschrieben, im zweiten Kapitel erfolgt die Beschreibung der Nationalisierung der Wissenschaft, im dritten wird die Radikalisierung der nationalen Semantik anhand einer Ethnisierung der Wissenschaft thematisiert und im vierten erfolgt schließlich die Beschreibung der Denationalisierung der Wissenschaft. Bei der Auswahl des Untersuchungsmaterials für die Analysen sollten verschiedene Kriterien erfüllt werden. Da es um die Untersuchung von Selbstbeschreibungen der Wissenschaft geht, sollten die für die Analyse ausgewählten Texte, erstens, wissenschaftliche Publikationen sein. Damit, zweitens, eine Analyse des Wandels einer Selbstbeschreibung der Wissenschaft als nationale Wissenschaft überhaupt möglich ist, können die Texte nicht zufällig ausgewählt werden, sondern müssen in irgendeiner Form eine nationale Semantik enthalten. Die Texte müssen deshalb sorgfältig recherchiert werden. Weiterhin muss dabei, drittens, innerhalb des Untersuchungszeitraums zu allen Zeitpunkten gleichmäßig nach Texten mit nationaler Semantik gesucht werden. Die Erwartung ist ja nicht nur, dass sich die Argumentation innerhalb der nationalen Semantik über die verschiedenen Phasen hinweg in qualitativer Hinsicht wandelt, sondern auch dass es in den verschiedenen Phasen eine unterschiedlich hohe Präsenz nationaler Semantiken in quantitativer Hinsicht gibt. Schließlich sollten die Texte, viertens, wenn möglich eine gewisse Repräsentativität für das Fach haben, z. B. dadurch, dass sie von besonders hervorstehenden oder einflussreichen Wissenschaftlern des Fachs stammen.

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Die in der folgenden Semantikanalyse untersuchten Texte wurden unter Berücksichtigung dieser Kriterien anhand einer Recherche über wissenschaftshistorische Literatur und über Literaturdatenbanken ausgewählt. Die folgenden Kapitel zu den Ergebnissen der Semantikanalyse dokumentieren und analysieren die ausgewählten Publikationen aus Deutschland und Frankreich unter besonderer Berücksichtigung der Geschichtswissenschaft und der Physik und folgen dabei einer chronologischen Reihenfolge und der Abfolge der vier Phasen. Eine weitere Unterteilung der Kapitel zu Unterkapiteln über die Geschichtswissenschaft und Physik bietet sich insofern nicht an, als dass sich zwar die meisten der untersuchten Texte in ihren nationalen Beschreibungen explizit auf eine der beiden Fachrichtungen beziehen, es jedoch auch viele in dieser Hinsicht eher disziplinübergreifende Texte gibt. Diese behandeln bspw. die gesamte Wissenschaft oder Geistes- oder Naturwissenschaft von Nationen und sind ebenso von Wert für die Analyse, würden aber bei einer zu starren Gliederung aus dem Raster fallen.

6.1 I NTERNATIONALER V ERGLEICH IN » DEUTSCHEN W ISSENSCHAFT «

DER

6.1.1 Die Erosion des kosmopolitischen Wissenschaftsideals Noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein bestimmt in Deutschland wie auch in anderen Ländern das individualistisch-kosmopolitische Gelehrtenideal das Verhalten und das Selbstverständnis der wissenschaftlichen Elite. Europa- und weltweite Briefwechsel, Reisen und Fachzeitschriften korrespondieren mit einem engen, familiären Verhältnis der Wissenschaftler untereinander, die die Forschungsreisenden und ausländischen Studenten üblicherweise in ihrer Familie aufnehmen. Davon zeugen Gustav Magnus, der den schwedischen Chemiker Berzelius seinen »chemischen Vater« nennt, und Justus Liebig, der ihm nach einer kurzen persönlichen Begegnung schreibt: »Was mich betrifft, so möchte ich Ihre Frau sein, wenn ich nemlich von Natur aus nicht zum Hosentragen bestimmt gewesen wäre«. Er schließt mit den Worten: »Ich liebe Sie von ganzer Seele«.2 Eine Erosion der kosmopolitischen Gelehrtenrepublik lässt sich etwa ab dem Ende des 18. Jahrhunderts beobachten. Die vor allem durch die Französische Revolution zur Wirksamkeit gelangte Idee der Nation hinterlässt Spuren auch in der Wissenschaft in Deutschland, wo das Ideal eines Weltbürgertums der Gelehrten in Spannung tritt mit zunächst noch zaghaft hervortretenden, oft in Ne-

2

Vgl. Meinel 1983: 225–230.

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bensätzen oder Fußnoten versteckten Beschreibungen einer nationalen deutschen und einer ausländischen Wissenschaft.3 Diese Spannung wird bei Lorenz Crell bereits 1783 deutlich, wenn er schreibt: »Der Freund der Wissenschaften freuet sich über jede, an jedem Orte aufgesproßte, Wahrheit; denn er ist Weltbürger: aber der Weltbürger bleibt Mensch, und liebt daher mit Partheylichkeit auch das Land, in dem er lebt, die Nation, zu der er gehört: er ist eifersüchtig für ihre Ehre und ihren Ruhm, den er, aus Vaterlandsliebe, glänzender, als aller andrer Nationen, zu sehen wünscht.«4

Nicht immer gelingt das Auseinanderhalten der hier angedeuteten Rollen als weltbürgerlicher Wissenschaftler einerseits und heimatverbundener Patriot andererseits. Noch im 18. Jahrhundert zeigen sich erste Fälle, wo dieser Rollenkonflikt gelöst wird durch eine Unterscheidung nationaler Wissenschaften, die es erlaubt gleichzeitig als Patriot für sein Land und als guter Forscher für die Fortschritte der Wissenschaft zu handeln. Dass damit tendenziell eine Abkehr von der Familiarität des Verhältnisses zwischen Wissenschaftlern jedweder Nation einhergeht, legt ein Beispiel aus dem verbreiteten Lehrbuch für Naturwissenschaften, Anfangsgründe der Naturlehre, von Johann Christian Polycarp Erxleben aus dem Jahr 1794 nahe. Darin schreibt der Göttinger Physiker Lichtenberg im Rahmen einer Kritik an der Sauerstoffchemie des französischen Chemikers Lavoisiers: »Daß man die neue Lehre anfangs mit Zweifel und selbst mit einiger Verachtung angehört hat, daran hatte der Character der Nation von der sie herkam fürs erste mit einige Schuld.« Frankreich sei nämlich nicht das Land, aus dem Deutsche bleibende Grundsätze der Naturwissenschaften erwarten würden. »Blendendes von kurzer Dauer ist gewöhnlich, auf was er von daher rechnete und bisher zu rechnen Ursache hatte. Dieses findet sich bey diesem Volk vom kleinsten bis zum größten«.5 Um diese pauschalisierenden Kategorisierungen gegenüber widersprechenden Beobachtungen zu immunisieren, werden die Ursachen für Leistungen der als französisch gedachten Wissenschaft dem Ausland zugeschrieben: »Es mag Ausnahmen geben. Vielleicht ist die französische Chemie eine. Ist sie es wirklich, so mag dieses zum Theil daher rühren, daß die vorzüglichsten Stützen derselben nicht französischen Ursprungs sind.«6

3

Vgl. Metzler 2000: 12 u. Kanz 1997: 202.

4

Vorrede Crells aus »Die neuesten Entdeckungen in der Chemie« 11 (1783), zit. n. Meinel 1983: 230–231.

5

Zit. n. Kanz 1997: 205. S. auch Stuhlhofer 1987: 283 u. Schneider 1989: 14.

6

Zit. n. Kanz 1997: 205.

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Auch andere deutsche Wissenschaftler pflegen die Vorstellung einer wankelmütigen und ungenau arbeitenden französischen Wissenschaft, wie aus einem Brief des Physikers Johann Friedrich Benzenberg aus dem Jahr 1805 hervorgeht: »Die Franzosen gehen leicht von einer Sache zur anderen über, und kennen die Freude nicht, die darin liegt, in einem Gegenstand recht sicher zu werden, ihn von allen Seiten zu betrachten und in allen seinen Theilen zu kennen.«7

Darüber hinaus kennzeichne die französischen Wissenschaftler Ignoranz und Überheblichkeit gegenüber der Wissenschaft des Auslands: »Wenn sie nur ungefähr wissen, was in Frankreich in einer Sache geschehen ist, so sind sie zufrieden. Ihre Nationaleitelkeit und ihre Flüchtigkeit hindern sie beide gleich sehr, um weiter nachzuforschen, was in England, in Deutschland oder in Italien über diesen Gegenstand gearbeitet ist. Und daher kommt’s, daß man oft die klägliche Unwissenheit eines Franzosen so ganz durchsieht, wenn er sich mit Wenigem über den einen oder andern Zweig des menschlichen Wissens vernehmen läßt, und nicht ohne gute Meinung von seiner Überlegenheit über den Fremden.«8

Diese Sichtweise impliziert ein Kontrastbild von einer deutschen Wissenschaft, die sich entsprechend durch Präzision, Sorgfalt und Nachhaltigkeit auszeichnet. Jedenfalls behauptet Lorenz Crell in seinem 1796 in den chemischen Annalen veröffentlichten Artikel »Vaterland der Chemie« offensichtlich auf der Grundlage ethnischer Vorstellungen, dass die Deutschen von Natur aus Talent für chemische Forschung besäßen: »Nature itself seems to have intended us to be chemists, by embuing us with national characteristics different from those of other nations«.9 Damit unterstellt Crell, dass es einen Unterschied macht, ob die Chemie von Deutschen oder Ausländern betrieben werde, und betont die Besonderheit der spezifisch deutschen Chemie. Da die nationale Herkunft der Wissenschaftler deshalb für die Wissenschaft eine wichtige Rolle spielt, werden sie bei Crell folgerichtig nach Nationalitäten getrennt bewertet: »Much has been achieved by our worthy compatriots Marggraf, Cartheuser, Gerhard, Achard, Scheele, Wiegleb, Meyer, and many other men of great merit, whom German

7

Zit. n. Kanz 1997: 204.

8

Zit. n. Kanz 1997: 204.

9

Übersetzung zit. n. Schneider 1989: 15.

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modesty forbids naming […] We are also indebted to great men of neighbouring nations, particular Sweden, England and France, for their services to enlightment.«10

Das Selbstverständnis der Wissenschaft im Übergang zum 19. Jahrhundert scheint insgesamt ambivalent. Einerseits wirkt noch das Ideal der kosmopolitischen Wissenschaft aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Andererseits beginnt man, Wissenschaft in einen nationalen Rahmen zu stellen und international zu vergleichen. Letztere Entwicklung führt nicht immer auch zu einer unterschiedlichen Bewertung, wie das Beispiel aus Crells Buch zeigt, und selbst wenn es dazu kommt, scheint man dies meist als eine Nebensache in Randbemerkungen abzuhandeln. Im Laufe des 19. Jahrhunderts werden die nationale Kategorisierung der Wissenschaft und ihr internationaler Vergleich jedoch selbst zu einem zunehmend zentralen Thema wissenschaftlicher Auseinandersetzung. 6.1.2 Die Nationalisierung der Wissenschaft Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die Idee einer nationalen Naturwissenschaft in Deutschland vor allem im Rahmen der 1822 gegründeten Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte entwickelt und ausgebreitet. Bis zur Entstehung von disziplinären Fachgesellschaften im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist diese Gesellschaft die wichtigste und neben der Kaiserlich-Leopoldinisch Carolinischen Akademie der Naturforscher zunächst auch die einzige wissenschaftliche Institution, die in Deutschland auf nationaler Ebene operiert.11 Die Gesellschaft nimmt deshalb bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts für die Naturwissenschaft in Deutschland eine zentrale Stellung ein, indem sie in jährlichen Abständen und in verschiedenen deutschen Städten Versammlungen der deutschen Naturforscher organisiert. Da diese Treffen im Grunde Zusammenkünfte der noch nicht so zahlreichen deutschen Wissenschaftlergemeinschaft sind, können die Eröffnungsreden und Begrüßungsansprachen »als ein repräsentativer Spiegel der wissenschaftlichen Tendenzen des 19. Jahrhunderts angesehen werden«.12 Eine Analyse der Reden im Hinblick auf die darin enthaltene nationale Semantik zeigt, dass die Entwicklung der dort gepflegten Idee einer deutschen Naturwissenschaft zwei Aspekte sukzessive miteinander kombiniert. In der Früh-

10 Crell in seinem Buch »Anfangsgründe der Mineralogie« von 1785. Übersetzung zit. n. Schnieder 1989: 15. 11 Degen 1997: 348. 12 Schipperges 1972: 10.

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phase nach Gründung der Gesellschaft spiegelt sich in den Reden noch eine Spannung wider zwischen dem Ideal einer kosmopolitischen Gelehrtenrepublik einerseits und dem nationalen Selbstverständnis der Gesellschaft als wissenschaftlicher Organisation andererseits. Denn die Gesellschaft verfolgt ganz im Sinne von Plessners Die verspätete Nation13 explizit das Ziel, mittels der Naturwissenschaften die deutsche geistige Einheit herzustellen, was die Vorstellung einer spezifisch deutschen Wissenschaft bereits impliziert, jedoch in Widerspruch steht mit dem kosmopolitischen Wissenschaftsideal. Dieser Antagonismus wird in einer zweiten Phase tendenziell zugunsten einer explizit deutschnationalen Konzeption der Naturwissenschaft aufgelöst. Wissenschaftlicher Fortschritt und die Herstellung deutscher Einheit werden somit zu übereinstimmenden Zielen der Gesellschaft. Die Idee, eine wissenschaftliche Organisation für Deutschland zu schaffen, entsteht bereits im Kontext der Wahrnehmung nationaler Unterschiede in der Wissenschaft. Ziel ist nämlich zunächst, vergleichbaren nationalen Wissenschaftsorganisationen im Ausland wie der französischen Akademie in Paris und der Royal Society in London etwas Ebenbürtiges in Deutschland entgegenzusetzen.14 Man hält es deshalb für zweckmäßig, eine Vernetzung lediglich deutscher Wissenschaftler anzustreben. Paragraph 2 der Statuten der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte von 1822 legt fest: »Der Hauptzweck der Gesellschaft ist, den Naturforschern und Ärzten Deutschlands Gelegenheit zu verschaffen, sich persönlich kennen zu lernen.«15 Diese Vernetzung soll durch die jährlichen Versammlungen hergestellt werden, durch die zudem die Einheit Deutschlands verwirklicht werden soll.16 Viele der Redner auf den Versammlungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts knüpfen an diese Ziele an. Alexander von Humboldt formuliert als der Geschäftsführer der Versammlung in Berlin im Jahr 1828 die These, dass sich im Bestreben, dem geheimen Wirken der Naturkräfte nachzuspüren, Deutschland gleichsam in seiner geistigen Einheit offenbare. Die Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte eigne sich besonders gut als Repräsentantin dieser deutschen geistigen Einheit, weil sie die berühmten Wissenschaftler Deutschlands in eine Reihe mit anderen großen Männern der Nation stellt.17 Auf der 14. Versammlung 1836 in Jena spricht Professor Kieser bereits von ersten Erfolgen der Ge-

13 Plessner 1969. 14 Degen 1997: 348. Vgl. auch Okens Gründungsaufruf in Pfannenstiel 1958: 24–27. 15 Zit. n. Sudhoff 1922: 47, eigene Hervorhebung. 16 Sudhoff 1922: 18. 17 Vgl. hierzu und zum Folgenden Schipperges 1972.

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sellschaft bei der Herstellung deutscher geistiger Einheit. Das naturwissenschaftliche Bewusstsein, die Idee der Wissenschaft, die Kieser als die Idee des Lebens begreift, sei bereits auch in die niederen Volksklassen eingedrungen. Auf der 21. Versammlung 1843 bezeichnet Leopold Langer die Gesellschaft schließlich als »Institut von echt deutschem Charakter« und stilisiert die Wissenschaft nicht nur zum Medium deutscher Einheit, sondern sogar zum nationalen Glücksbringer, denn ohne solche herzveredelnde, höhere wissenschaftliche Bildung könne keine Ruhe und kein Glück im Vaterland einkehren. In einem ähnlichen Tenor geht es über die Jahre weiter: 1854 erklärt man die Wissenschaft »zum Eigentum des Volkes« und 1858 die Versammlung zum »Glanzpunkt unserer Nation«. Noch 1861 spricht Rudolf Virchow von der Naturwissenschaft als Grundlage für die Gestaltung des ganzen deutschen Lebens. In den frühen Eröffnungsreden finden sich allerdings auch noch kosmopolitische Semantiken. Friedrich Tiedemann macht 1829 in seiner Rede einen Durchgang durch die Errungenschaften der Naturwissenschaften. Keinesfalls verfolgt er dabei das Ziel, etwa die Leistungen verschiedener Nationen gegeneinander abzuwägen. Vielmehr spricht er von einem »menschlichen Forschergeist«18 und stellt abschließend die Gemeinsamkeiten aller Naturforscher Europas heraus: »Nach diesen Andeutungen über die mit so großem Eifer bearbeiteten NaturWissenschaften dürfte wohl kaum jemand die Frage aufwerfen, was Männer, die sich mit der Erforschung der Natur beschäftigen, anzieht, was sie einigt und verbindet? Eben die unendliche Reichhaltigkeit der Natur-Wissenschaft, der hohe Genuß, den ihr Studium gewährt, und der Trieb, die Kenntnisse zu erweitern, sind es, welche die Naturforscher und Ärzte anziehen, und Männer aus allen Ländern Europa’s zu freundlicher Annäherung treiben, um sich wechselseitig durch Mittheilung ihrer Erfahrungen und Forschungen, und durch Austausch von Ideen zu belehren, und sich zu größeren Anstrengungen aufzufordern.«19

Dieser Eindruck erscheint nach einem Blick auf die Teilnehmerliste dieser Versammlung plausibel, die, nach etwa gleich großen Ländergruppen sortiert, Naturwissenschaftler aus vielen verschiedenen Ländern Europas aufweist. Ein Vergleich dieser Teilnehmerliste mit derjenigen des Berichts über die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte aus dem Jahr 1865 offenbart jedoch einen signifikanten Unterschied. Auch diese Liste weist die Herkunft der Teilnehmer aus, jedoch werden diese nicht mehr in verschiedene nationale Gruppen einge-

18 Tiedemann 1829: 16. 19 Tiedemann 1829: 30–31.

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teilt.20 Der Grund dafür liegt unmittelbar auf der Hand: Wissenschaftler aus dem Ausland bilden bei Weitem die Ausnahme. Entsprechend dazu setzt sich ab etwa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Semantik der Bestimmung einer aus einem deutschen Geist hervorkommenden, spezifisch deutschen Naturwissenschaft immer weiter durch. Bereits 1846 sieht ein Mitglied der Versammlung diesen deutschen Geist aufkommen: Der Versammlung haben »der Blick und der Händedruck beim Kommen und Gehen gesagt, daß noch eine andere Macht uns den Weg zu den Herzen des Volkes gebahnt. Der erstarkende deutsche Geist ist diese geheime Macht«.21 Alexander von Humboldt spricht 1858 in einem Brief an die Tagung vom »Bewußtsein der Einheit unserer Wissenschaft«.22 Expliziter als zuvor redet man nun auch von den Spezifika dieser deutschen Wissenschaft. Rudolf Virchow charakterisiert 1861 die deutsche Wissenschaft als Abbild »von jenem wahrhaft sittlichen Ernste, mit dem sich unser Volk jeder Arbeit unterzieht«. Auf der Versammlung 1864 treibt Dr. Jessen in seinem Vortrag »Ueber deutsche Naturforschung« das Anliegen an, die historische Vorreiterrolle der spezifisch deutschen Naturwissenschaft zu begründen. Nach einem Durchgang naturwissenschaftlicher Errungenschaften steht für Jessen ganz im Gegensatz noch zu den Schlussfolgerungen Tiedemanns aus dessen Durchgang durch die Naturwissenschaftsgeschichte von 1829 »außer allem Zweifel, daß bei den großen Abschlüssen der Naturwissenschaft, vor allem Deutsche in den Vordergrund getreten sind«.23 Die Ursachen dafür sind schnell gefunden, denn zum einen sei »die Liebe zur Natur schon von Althers her in unserem Volke lebendig gewesen«24 und weiterhin sei »mit der Geduld und Sorgfalt, welche deutschem Geiste eigen sind«25, gearbeitet worden. Fortgesetzt wird diese Art von Semantik dann von Rudolf Virchow in seiner Rede von 1871, in der neben der Bestimmung deutscher Wissenschaft auch wieder die Rolle der Versammlungen für die nationale Einheit Gesamtdeutschlands betont wird. Die Wissenschaft solle etwas »speciell für das Leben unserer Nation« leisten, nämlich »das Volk mit gemeinsamem Wissen […] durchdringen […] damit wir in der That einmüthig werden.«26

20 Vgl. Amtlicher Bericht 1866. 21 Zit. n. Sudhoff 1922: 32. 22 Zit. n. Sudhoff 1922: 34. 23 Jessen 1865: 23. 24 Jessen 1865: 20. 25 Jessen 1865: 22. 26 Virchow 1871a: 77.

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Hinsichtlich der Bestimmung deutscher Wissenschaft trägt Virchow eine neue These vor. Zu Beginn des Jahrhunderts sei die Wissenschaft französisch geprägt, da eine eigenständige »deutsche Wissenschaft […] noch in den Windeln« gelegen habe. Mit der Entstehung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte sei jedoch etwas Neues entstanden, nämlich »ein neuer Gedanke, der eigentlich deutsche Gedanke, der Gedanke, welchen gross gezogen zu haben, in der That unsere Nation sich rühmen kann, der Gedanke, welcher die Grundlage geworden ist für die moderne Entwicklung der meisten Naturwissenschaften, und welcher, wie ich hoffe, die Grundlage noch grösserer Werke werden wird; – ich meine, der genetische Gedanke.«27

Der »genetische Gedanke« wird hier also zu einem übergeordneten Charakteristikum, das die deutsche Wissenschaft von ihren Pendants im Ausland unterscheidet. An anderer Stelle führt Virchow noch in weiteren Details aus, was die deutsche vor allem gegenüber der französischen Wissenschaft ausmache, denn die Wissenschaft sei »ihrer Form nach national«28, so dass sich »das verschiedene Genie der beiden Nationalitäten«29 darstellen ließe: »Die moderne deutsche Schule ist keine Schule der Autorität und des Dogma, sondern eine Schule der Kritik und der methodischen Forschung. […] Daher nimmt jede gute Darstellung im Deutschen einen gewissen idealistischen Charakter an […] Unser Hintergrund ist ein mehr universeller. Anders in Frankreich. Das Interesse an dem Einzelfalle ist vorherrschend. [Der französische Geist] ist ein practischer und realistischer […] Deutschland liebt die Reform, Frankreich die Revolution. Das ist der Gegensatz in der Politik, wie in der Wissenschaft.«30

Das Sprechen vom Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich passt in die Zeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg. Dass dabei nicht nur bei Virchow die Gegensätze der Kriegsparteien zu Gegensätzen auch in der Wissenschaft konstruiert werden, zeigt die Rede Thierfelders auf der 44. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Rostock im Jahr 1871. Wieder wird darin die Naturforscherversammlung zum Ausdruck der geistigen Einheit deutscher

27 Virchow 1871a: 74. 28 Virchow 1871b: 18. 29 Virchow 1871b: 23. 30 Virchow 1871b: 22–27. Ausführlicher zur Konstruktion eines nationalen Mythos bei Virchow vgl. Kolkenbrock-Netz 1991.

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Stämme erklärt. Dieser vereinheitlichte Geist befände sich in einen nationalen Kampf, so Thierfelder: »Der Sieg der deutschen Waffen ist ein Sieg des deutschen Geistes, jenes Geistes, durch den unsere Arbeit zur Gewissenssache wird und der wir es verdanken, daß Redlichkeit, Treue, Mannhaftigkeit, Selbstverleugnung als Tugenden der Deutschen gelten.«31

Die Idee von der Einheit Deutschlands und seiner Wissenschaft kommt auf jeder Versammlung bis mindestens 1871 zur Sprache. 32 Die Ausführungen darüber zeigen, was Karl Sudhoff in seiner anlässlich des 100-jährigen Jubiläums verfassten Geschichte der Gesellschaft als eine grundlegende Tendenz zusammenfasst, dass man sich nämlich daran gewöhnt, »in deutscher Natur- und Heilkunde etwas von besonderer Art und Gattung zu sehen«33 und dabei die »völkische Note ständig an Stärke«34 gewinnt. Diese Beobachtungen lassen sich natürlich nicht nur im Rahmen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte anstellen, sondern spiegeln eine generelle Tendenz im Wandel des wissenschaftlichen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert in Deutschland wider. Symptome für das sich durchsetzende nationale Selbstverständnis der Wissenschaft sind die Weltausstellungen, bei denen sich ab 1851 das Prinzip der Konkurrenz nationaler Wissenschaften etabliert.35 Organisatorisch drückt es sich aus in den Gründungen zahlreicher nationaler Fachgesellschaften und Kongresse wie etwa der Deutschen Chemischen Gesellschaft (1868), dem Deutschen Historikertag (1893) oder der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (1899). An die Stelle einer kosmopolitischen Gelehrtenrepublik mit einem personalisierten transnationalen Beziehungsgefüge unter den Wissenschaftlern tritt ein institutionalisierter Zusammenschluss auf nationaler Ebene mit einer vor allem über Organisationen wahrgenommenen Vertretung nach außen. Entsprechend bemüht man sich z. B. noch für den Chemiekongress 1860 sämtliche Chemiedozenten aller europäischen Hochschulen einzuladen, 1892 gilt demgegenüber der Grundsatz einer ausgewogenen, durch nationale Wissenschaftsorganisationen wahrgenommenen Vertretung der neun wichtigsten

31 Zit. n. Schipperges 1972: 23. 32 Jahn 1998: 111. Zur späteren Geschichte der Gesellschaft vgl. Karlson 1972 u. Sitte 1998. 33 Sudhoff 1922: 16. 34 Sudhoff 1922: 30. 35 Meinel 1983: 232.

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zentraleuropäischen Staaten. 36 Das gleiche Prinzip gilt auch für das erst 1923 gegründete Comité International des Sciences Historique, das analog zur Praxis bei den internationalen Chemiekongressen Einladungen an europäische Länder richtet.37 Das nationale Selbstverständnis und das nationale Konkurrenzdenken in der Wissenschaft fördern auch einen Wissenschaftschauvinismus, der sich im Kleinen anhand der Semantik wissenschaftlicher Publikationen aufspüren lässt. Gustav Adolph Spiess schreibt etwa 1863 in seinem Buch über die Grenzen der Naturwissenschaften mit Bezug auf Darwin: »Wir Deutschen haben leider unsere Nachbarn jenseits des Rheins, mehr noch unsere Nachbarn jenseits des Kanals um gar manches zu beneiden; allein, was die Wissenschaft betrifft, und insbesondere was die philosophische und spekulative Betrachtung der Wissenschaft betrifft, haben wir Gottlob nicht bei Ihnen in die Lehre zu gehen.«38

Der deutsche Physiker Emil du Bois-Reymond widmet sich 1886 der Spezialität deutscher Wissenschaft in einem Aufsatz. Kurioserweise konstruiert du BoisReymond die Nationalität deutscher Wissenschaft gerade, indem er ihren Sonderstatus als kosmopolitische Wissenschaft und ihre darin liegende moralische Überlegenheit gegenüber ausländischen Wissenschaften betont: »Bei anderen Nationen gab man sich stets grosse Mühe, den Keim neuer Entdeckungen bei sich nachzuweisen, was auf die eine oder andere Art ja stets gelingt. Den deutschen Gelehrten verlangte es nur, den wahren Keim zu finden, gleichviel ob bei einem Landsmann oder einem Ausländer, und nie zögerte er, einen Ausländer als muthmasslichen ersten Urheber einer Entdeckung zu nennen, sobald im Geringsten Grund dazu war. […] Ebenso lag es dem deutschen Gelehrten fern, die Bedeutung einer ersten, zufälligen Beobachtung zu übertreiben, um daraus für Deutschland Capital zu schlagen. […] Der wissenschaftliche Chauvinismus, von welchem die deutschen Gelehrten bisher sich frei hielten, ist gehässiger als der politische«.39

36 Meinel 1983: 235. 37 Vgl. Erdmann 1987: 137–162. 38 Zit. n. Stuhlhofer 1987: 285. 39 Du Bois-Reymond 1886: 326–329.

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Insgesamt lässt sich eine wachsende Ausbreitung nationaler Deutungsmuster in der Selbstbeschreibung der Physik in Deutschland ab etwa 1870 feststellen. 40 Die Entwicklung kulminiert schließlich in besonders scharfen nationalistischen Agitationen vor und während des Ersten Weltkriegs. 1914 veröffentlicht der Physiker Johannes Stark eine Propagandaschrift gegen die »englische Physik«. Lenard ist keinesfalls zu allen Zeiten ein Gegner der englischen Physik und bezeugt deshalb mit dieser Schrift einen Gesinnungswandel. 41 Die Leitthese des Aufsatzes lautet: »[E]s zeigt sich beim einzelnen Engländer – und sogar wenn er Naturforscher ist – im Prinzip ungefähr dasselbe Bild, das man auch aus Englands Politik hat.« 42 Dieses pauschale Urteil über die Naturwissenschaft Englands wird im Text sodann durch einen Vergleich englischer und deutscher wissenschaftlicher Publikationen, deren Unterschied »in der Art der Benutzung und Berücksichtigung der Literatur des anderen Staats«43 läge, ausgekleidet. Die wissenschaftliche Literatur ließe sich also nicht nur über ihre Zugehörigkeit zu einem Staat unterscheiden, sondern mit der Staatszugehörigkeit der Literatur korrelierten weitere Eigenschaften. Während man in der englischen Literatur die ausländischen Ursprünge wissenschaftlicher Entdeckungen verschleiere, zeichne die deutschen Publikationen Offenheit und Wahrheitstreue aus. Zwar könne man beweisen, »daß wir die gesamte neuere Entwicklung der exakten Naturwissenschaften ebenso gut auch allein besorgt hätten«, eine solche vom Konkurrenzdenken bestimmte Betrachtungsweise läge der deutschen Wissenschaft jedoch fern. Im Gegenteil, in Deutschland fertige man »mit ungeheurem Fleiße schön gedruckte Übersetzungen von vollendeter Kritiklosigkeit so gut wie sämtlicher englischer zusammenfassender naturwissenschaftlicher Literatur der letzten zehn Jahre an und vergiftet damit die deutsche Literatur«.44

Dieses Bild impliziert die Vorstellung einer deutschen Wissenschaftssphäre, die von einer Verunreinigung hier des englischen Denk- und Wissenschaftsstils bedroht ist. Dass diese Vorstellung nicht nur bei Lenard besteht, zeigt die »Aufforderung gegen die Engländerei«, die von Wilhelm Wien verfasst, von prominenten Kollegen, darunter etwa Arnold Sommerfeld, unterzeichnet und Anfang 1915

40 Vgl. zum Beispiel die Analyse populärer, naturwissenschaftlicher Literatur bei Schwarz 1999: 332–344. 41 Vgl. Lenard 1943: 4. 42 Lenard 1914: 5. 43 Lenard 1914: 4. 44 Lenard 1914: 10.

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veröffentlicht wird.45 Die wichtigste an die deutschen Physiker gerichtete Forderung ist, nicht mehr englische als deutsche Publikationen zu zitieren, nämlich, »daß bei der Erwähnung der Literatur die Engländer nicht mehr, wie es vielfach vorgekommen ist, eine größere Berücksichtigung finden als unsere Landsleute«.46 Weiterhin fordert die Schrift die deutschen Physiker auf, nicht in englischen Zeitschriften zu publizieren und die Verleger, wissenschaftliche Publikationen nur in deutscher Sprache und Übersetzungen allein im Fall bedeutender Leistungen aufzunehmen.47 Die »Aufforderung gegen die Engländerei« steht im Kontext einer unzähligen Reihe von Aufrufen und Propagandaschriften deutscher Wissenschaftler im Ersten Weltkrieg, die durch entsprechende Gegenaufrufe ausländischer Wissenschaftler beantwortet werden.48 Im Anschluss an die Dokumentation dieser Aufrufe durch Hermann Kellermann aus dem Jahr 1915 wird dieser Schlagabtausch als »Krieg der Geister« bezeichnet.49 Die Aufrufe kennzeichnet im Allgemeinen weniger die Beschreibung von nationalen Unterschieden in der Wissenschaft als die politische Parteinahme der unterzeichnenden Wissenschaftler für die nationalen Belange ihrer Heimatstaaten. Sie haben dennoch enorme Auswirkungen auf die Verstärkung eines nationalen Wissenschaftsverständnisses. Die verheerendsten Folgen hat dabei der am 4. Oktober 1914 in deutschen Tageszeitungen erscheinende und dann in zehn Sprachen übersetzte und ins Ausland verschickte »Aufruf an die Kulturwelt«. Dieser Aufruf wird von 93 Professoren, jeweils zur Hälfte Vertreter naturwissenschaftlicher und der übrigen Disziplinen, unterzeichnet, darunter führende Wissenschaftler wie die Nobelpreisträger Wilhelm Conrad Röntgen, Philipp Lenard, Wilhelm Wien, Emil von Behring, Paul Ehrlich sowie spätere Laureaten und führende Vertreter der jeweiligen Disziplinen, wie etwa Max Planck für die Physik. Inhaltlich geht es lediglich um die Zurückweisung der Kriegsschuld Deutschlands und von Vorwürfen über Plünderungen der deutschen Armee in Belgien.50 Bemerkenswert ist weiterhin die »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches« vom 16. Oktober 1914, die sich empört gegen die im Ausland vorgenommene Differenzierung von deutscher Kultur und Wissenschaft einer-

45 Wolff 2007: 43. 46 Zit. n. Wolff 2007: 50. 47 Wolff 2007: 50. 48 Vgl. etwa in Frankreich den Gegenaufruf unter »Notes et Actualités« der Revue scientifique 14 von 1914, 170–176. 49 Kellermann 1915. 50 Vgl. Metzler 2000: 92–93.

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seits und von deutschem Militarismus andererseits wendet. Mit mehr als 4 000 Akademikern aller 53 deutschen Universitäten wird dieser Aufruf fast von der gesamten Hochschullehrerschaft Deutschlands unterzeichnet.51 Die Schriften, besonders der »Aufruf an die Kulturwelt«, rufen in den wissenschaftlichen Kreisen im Ausland heftige und abweisende Reaktionen hervor.52 Der »Krieg der Geister« hat deshalb außerordentlich negative Auswirkungen auf den Zusammenhalt der internationalen Wissenschaftlergemeinschaft. Ein Blick auf die Physik besonders der frühen 1920er Jahre zeugt davon, dass das Ideal des wissenschaftlichen Kosmopolitismus vollends verschwunden ist.53 Spätestens bis zur Solvay-Konferenz 1927 kommt es zu einer faktischen Isolation deutscher Wissenschaftler, von Physikern als auch Historikern, die, auch wenn nationale Unterscheidungen der Wissenschaft inhaltlich in den Aufrufen selbst keine Rolle gespielt haben, Auswirkungen auf die Möglichkeiten wissenschaftlicher Selbstbeschreibungen hat.54 Die Phase der Ausbreitung nationaler Semantik über den Rahmen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte hinaus in die nun auch organisatorisch durch Gründung einer entsprechenden Fachgesellschaft auf nationaler Ebene sich etablierende Physik im letzen Drittel des 19. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts fällt zusammen mit der Entstehung und Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft als eigenständige und professionelle Disziplin. Diese Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hängt eng zusammen mit der Überwindung der Kultur lokaler Geschichtsvereine durch eine auf nationaler Ebene mittels Fachzeitschriften und Kongressen operierenden und in den Universitäten verankerten Gemeinschaft der Historiker. In der jungen geschichtswissenschaftlichen Disziplin sind nationale Semantiken jedoch nicht weniger vorhanden als in der Physik und den Naturwissenschaften. Der weitaus überwiegende Teil nationaler Semantik in der Geschichtswissenschaft ist jedoch nicht direkt auf die Wissenschaft oder gar die eigene Fachrichtung ausgerichtet, sondern bezieht sich auf verschiedenste andere Aspekte einer als Nation gedachten sozialen und geistigen Einheit. Die Geschichtswissenschaft hat lange eine die Nation bildende oder legitimierende Funktion inne.55 Dabei geht es einerseits darum, die Einheit der Nation herzustellen, indem die Gemeinsamkeiten innerhalb der kulturellen Vielfalt der Nation

51 Wolff 2007: 46; Metzler 2000: 93. 52 Vgl. Ungern-Sternberg/Ungern-Sternberg 1996: 81–104. 53 Vgl. Eckert 1992. 54 Vgl. Forman 1973 u. Metzler 2000: 121–144. 55 S. z. B. Berger 1997; Berger et al. (Hrsg.) 1999; Schöttler (Hrsg.) 1997

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und ihre Besonderheit gegenüber der nicht zur Nation zählenden Kultursphäre herausgestellt werden. Andererseits geht es z. B. darum, die bestehende oder angestrebte Grenzziehung des Nationalstaats als natürliche, geschichtlich gewachsene Ordnung zu legitimieren. Da sich eine solche Art nationaler Semantik auf jedes mögliche Objekt der Geschichtswissenschaft richten kann, ist sie für die Rekonstruktion eines nationalen Verständnisses der Disziplin selbst meistens nicht direkt relevant. Allerdings ist die nationale Semantik, die aus der kulturellen Vielfalt der Nation eine Einheit herstellt, so abstrakt gefasst, dass sie explizit oder implizit die Wissenschaft im Allgemeinen und die Geschichtswissenschaft im Besonderen direkt anspricht und mit umfasst. Dies wird in Deutschland in der Geschichtswissenschaft, aber auch in Nachbardisziplinen wie vor allem der Germanistik und der Philosophie bei einer ideen- und geistesgeschichtlichen Forschungsströmung deutlich, die sich mit den Besonderheiten eines so genannten »deutschen Geistes« befasst und speziell in der Zeit des Ersten Weltkriegs und danach einflussreich ist. »Deutscher Geist« wird vor allem in Gegenüberstellung mit einem »westeuropäischen Geist« charakterisiert, einem groben Sammelbegriff, der die unterstellten geistigen Charaktereigenschaften von Franzosen, Briten und US-Amerikanern zusammenfasst.56 Der Begriff »Geist« ist dabei so abstrakt gefasst, dass er neben grundlegenden Charaktereigenschaften der Angehörigen eines Volkes auch und explizit die intellektuelle Kultur und spezifisch die Wissenschaft einer Nation mit einschließt. Die vorgetragenen Thesen beschränken sich nicht nur auf die bloße Unterscheidung nationaler Einheiten von Wissenschaften, sie bemühen sich auch um eine genaue Charakterisierung ihrer jeweiligen und ihnen als Ganzen zugeschriebenen Eigenschaften. Die übergeordnete Behauptung dabei ist, dass die »westeuropäische Wissenschaft« sich durch Positivismus und Rationalismus auszeichne, während demgegenüber die »deutsche Wissenschaft« sich vor allem als »verstehende« Wissenschaft hervorhebe. Die Forschungsströmung bildet sich ab den 1860er Jahren heraus, wird in den 1920er Jahren zu einem prägenden und äußerst populären Teil der Geschichtswissenschaft mit dann auch verschärften Thesen und löst sich in den 1950er und 1960er Jahren nach einer Phase der Abschwächung schließlich wieder auf. Als Ursprung der Forschungstradition gilt eine berühmte Rezension des deutschen Historikers Johann Gustav Droysen aus dem Jahr 1863 mit dem Titel »Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft«. 57 Darin bespricht

56 Vgl. Faulenbach 1980: 122–178. Für die Germanistik vgl. Lämmert/ Killy/Conrady/ Polenz (Hrsg.) 1967. 57 Vgl. Schleier 1975: 221.

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Droysen ein Buch des englischen Historikers Buckle mit dem Titel History of Civilisation in England, das in zwei Bänden 1859 und 1861 erscheint. Auffallend ist, dass Droysen in dieser Rezension außerordentlich scharf und hämisch gegen den englischen Kollegen polemisiert, etwa wenn Droysen angibt, dass »eine gewisse Geduld dazu [gehöre], diesen im Schritt durchgehenden Trivialitäten, dieser sich immer um sich selbst herumwälzenden Begriffsverwirrung nachzugehen«.58 Ganz entrüstet ist Droysen ob Buckles »Positivismus«. Feststellen lässt sich zunächst, dass sich diese Empörung und ein gewisser chauvinistischer Unterton zwar durch den gesamten Text ziehen, dies jedoch kaum in eine nationale Semantik umschlägt. Am deutlichsten wird Droysen noch bei folgenden Formulierungen: »Und hätte er [Buckle] wirklich recht damit, wenn er sich für den interessantesten Teil seiner Fundamentalsätze, für den vom freien Willen, auf unsern Kant beruft, der wie er – das ist seine Ansicht – ›die Wirklichkeit des freien Willens in der Erscheinung für eine unhaltbare Tatsache‹ erkannt habe? Gehört ihm damit die Priorität der jüngst in Deutschland mit so lebhaftem Akzent verkündeten Entdeckung, Kants Lehre enthalte genau das Gegenteil von dem, was man bisher in ihr zu finden geglaubt habe, das Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft und der praktischen Vernunft sei, daß die eine so gut wie die andere in Wahrheit nicht sei? Schon der Übersetzer des Buckleschen Werkes hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Kantische Philosophie die äußerste Grenze sei, bis zu der sich die englischen Denker vorwagen […] ›Wer an die Möglichkeit einer Wissenschaft der Geschichte glaubt‹, der müßte nach unserer deutschen Art, logisch und sachgemäß zu denken, nicht die Richtigkeit dieses seines Glaubens dadurch beweisen wollen, daß er uns überzeugt, man könne auch mit den Händen riechen und mit den Füßen verdauen, man könne auch Töne sehen und Farben hören.«59

Eine nationale Semantik der Wissenschaft erscheint hier in Ansätzen durch die Art und Weise, wie über Kant gesprochen wird: Kant gehöre zu »uns«. Dass damit nicht nur eine allgemeine nationale Gemeinschaft angesprochen ist, sondern auch eine zur deutschen Nation gehörende Denksphäre, wird im darauffolgenden Absatz deutlich, wenn von einer »Grenze« die Rede ist, zu der »englische Denker« sich »vorwagen«. Noch deutlicher tritt im dritten Abschnitt die Vorstellung einer deutschen Denksphäre zutage, wenn ein wiederum zu »uns«

58 Droysen 1967. 59 Droysen 1967: 390f.

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gehörender deutscher Denkstil als »logisch« und »sachgemäß« charakterisiert wird. Insgesamt wirkt die nationale Semantik hier allerdings eher schwach, denn von einer »deutschen Wissenschaft« oder »deutschen Geschichtswissenschaft« ist nicht direkt die Rede. Zudem erscheinen im Kontext des gesamten Texts die Andeutungen zu nationalen Unterschieden eher als eine Nebensache. Im Kern geht es um die Person Buckles und sein Buch, das nicht in Form einer Unterscheidung zwischen »national« und »nicht-national« behandelt wird, sondern für sich steht und kritisiert wird. Ganz anders klingt demgegenüber ein Rückblick auf Droysens Rezension aus dem Jahr 1925. Der Aufsatz »Die Geschichtsauffassung Rankes und Droysens in ihrer nationalen Bedeutung« von Julius Kaerst steht bereits deutlich im Kontext der Forschungstradition über den »deutschen Geist«, die durch Droysens Polemik mit hervorgerufen wird. Kaerst stilisiert Droysens Kritik an Buckle zu einem Abwehrkampf der »deutschen Geschichtswissenschaft« gegenüber feindlichen Übergriffen aus dem Ausland. Er schreibt: »Die deutsche Geschichtswissenschaft hat gerade zu der Zeit, in der sie sich selbst zu großen Leistungen der Geschichtsschreibung erhob, verhältnismäßig wenig getan, Übergriffe auf ihr eigenes Gebiet, die von anderen Forschungs- und Erkenntnisgebieten herkamen, abzuwehren. So ist es gekommen, daß eine geschichtlichem Wesen fremde oder feindliche, durch populäre Strömungen noch besonders begünstigte naturalistische Auffassung auch auf deutschem Boden sich weit verbreiten konnte. Droysen hat das besondere Verdienst, hier auf der Wacht gestanden zu haben. […] Die erfolgreiche Polemik Droysens gegen Buckle ist hier für uns nicht die Hauptsache. Der Streit, um den es sich handelte, war ein Kampf um das Wesen und die Grundlagen unserer Wissenschaft. Dieser Kampf geht noch in der Gegenwart fort.«60

Aus der individuellen Kritik Droysens am Buch Buckles wird im Rückblick eine Auseinandersetzung bzw. ein Kampf zwischen nationalen Wissenschaften oder Denksphären, der von Übergriffen auf die nationale Wissenschaft und deren Abwehr gekennzeichnet ist. Kaerst betont eigens, dass dieser Kampf noch in der Gegenwart fortgeführt werde, womit deutlich wird, dass mit der Vorstellung nationaler Geschichtswissenschaften eine Beschreibung der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft vorliegt, die bis in die Zeit der Rezension Droysens zurückprojiziert wird.

60 Kaerst 1930: 235.

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Kaersts Aufsatz spiegelt lediglich den Zeitgeist der Geschichtswissenschaft in Deutschland wider und ordnet sich in eine Reihe von Publikationen mit vergleichbarer nationaler Semantik ein, die besonders während und nach dem Ersten Weltkrieg hervorgebracht wird. Ernst Troeltsch veröffentlicht 1915 einen Aufsatz mit dem Titel »Der Geist der deutschen Kultur«.61 Dieser Text konstruiert die nationale Einheit Deutschlands durch eine Charakterisierung einer nationalen Kultur, für die der spezifische »deutsche Geist« konstitutiv sei. Programmatisch zählt Troeltsch die ihm für den deutschen Geist wesentlich erscheinenden Eigenschaften auf, zu denen er explizit die »deutsche Wissenschaft« zählt, und führt sie in ihnen jeweils eigens gewidmeten Abschnitten einer näheren Bestimmung zu. Zum »deutschen Geist« gehöre auf der einen Seite der »monarchische« und »militärische Charakter«, der auf Grundlage eines »außergewöhnlichen Ordnungssinn[s] [und] verbunden mit strenger Disziplin und ernstem Pflichtgefühl« entstanden sei. Auf der anderen Seite sei der »deutsche Geist« durch eine metaphysisch-religiöse Seite gekennzeichnet. Zu dieser zähle die »Bedeutung des religiösen Lebens«, die »deutsche Kunst«, die »deutsche Literatur und Poesie«, die besondere »deutsche Idee von der Freiheit« und die »deutsche Wissenschaft«. Diese Passage definiert die Besonderheit der deutschen Wissenschaft derart minutiös, dass es sich lohnt, hieraus einen relativ großen Ausschnitt zu zitieren. Troeltsch beginnt mit einer Charakterisierung der »deutschen Philosophie«, streift nur kurz die deutsche Naturwissenschaft, äußert sich aber ausführlicher zur deutschen Geschichtswissenschaft: »[I]n der Hauptmasse ist doch gerade sie der Ausdruck und die Pflegerin jenes metaphysischen deutschen Geistes, und ist ihre zentrale Stellung innerhalb des deutschen Geisteslebens von größter Bedeutung. […] Sie ist von Leibniz und Kant geschaffen worden. Deren Geist hat in die klassische deutsche Literatur und Dichtung hineingewirkt und mit ihr zusammen die Grundlagen des deutschen Idealismus gelegt, der heute wieder nach langen Schwankungen die deutsche Philosophie wesentlich beherrscht […] Wenn es überhaupt die Aufgabe der modernen Philosophie in ihrem Unterschiede von der antiken und mittelalterlichen ist, die moderne Naturwissenschaft und den von ihr geschaffenen, alles durchdringenden Naturbegriff philosophisch zu verarbeiten, so hat sich der deutsche Idealismus bis heute die Aufgabe gestellt, mit dem mechanistischen Naturbegriff die volle Würdigung des sittlichen, religiösen und künstlerischen Geistes, mit dem Mechanismus die Behauptung der Freiheit zu verbinden. Daran arbeitet er in den abstrakten und prinzipiellsten Untersuchungen bis heute und heute erst recht. Dadurch hat die deutsche Philosophie eine nähere Fühlung mit dem religiösen Leben des Volkes behalten, als es das französische

61 Troeltsch 1915.

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Wissenschaftsdogma des Atheismus getan hat. Andererseits hat sie wieder viel tiefer in den allgemeinen Geist der Religion hineingewirkt, als das bei der wesentlich praktischkonventionellen Religion und der nicht minder wesentlich praktisch-utilitaristischen Philosophie Englands der Fall sein kann. Sie ist freier und autonomer Idealismus. […] Eine derartige Konzentration auf das geistige Element aller Kultur, die ja leicht erkennbar mit der eigentümlichen geschichtlichen Entwicklung Deutschlands seit der Reformation zusammenhängt, bedeutet zugleich eine starke Veranlagung für die wissenschaftliche Arbeit überhaupt. So kam es mit den steigenden realistischen Aufgaben der Nation zu einer steigenden Entfaltung ihrer Kräfte auch auf dem Gebiete der empirischen Wissenschaften. Was sie hier auf dem Gebiete der Naturwissenschaften und der Technik geleistet hat, bedarf keines Wortes. Sie hat hier die Wissenschaft der älteren und vorgeschrittenen Nationen überall völlig ebenbürtig erreicht und vielleicht in manchem sogar übertroffen. […] [Es bedarf] wohl eines Wortes über die deutsche historische Wissenschaft. Sie ist in ihren Ausgangspunkten stark von der Philosophie inspiriert und umfaßt völlig kosmopolitisch die Entwicklung der Sprachen, der Kunst, der Religion, der Politik und schließlich auch der Wirtschaft der ganzen für die Erkenntnis erreichbaren Welt, nachdrücklich unterstützt von den Forschungen der Weltreisenden und Geographen. Allein unter diesen zahlreichen Problemen trat für die Wissenschaft des werdenden neuen Staates schon frühzeitig das besondere Problem des Staates hervor, das bereits Hegel im Anschluß an die Antike, an Plato und Aristoteles, als ein ganz eigentümliches, von aller bloßen Privatmoral und aller bloßen Gesellschaftswissenschaft verschiedenes erkannt hat. In den kosmopolitischen Forschungen Rankes trat es in seinem rein historischen Sinne als Unterschied der politischen Machtbildung von allen sonstigen Schöpfungen der Geschichte beherrschend hervor, und die historische Rechtsschule hat diese Erkenntnisse wirksam unterstützt. Damit trat die deutsche Historie allerdings den demokratischen Fiktionen, dass der Staat eine Veranstaltung der Individuen zum Zweck ihrer Sicherheit und ihrer Glückseligkeit sei, ebenso entgegen wie seinerzeit Platon. Das hat sich dann natürlich in den heißen Kampfzeiten der nationalen Einigung noch sehr gesteigert, wo die großen historischen Forscher, v. Sybel und v. Treitschke, vielleicht oft mehr zu politischen Publizisten als zu Historikern wurden. Allein der Sachkundige weiß, daß jene politischen Denker eine politische Ethik keineswegs zu leugnen gedachten, sondern sie nur von den Regeln der Privatmoral unterschieden. Gerade diesen Unterschied aber verkennen die englischen Demokraten christlicher und antichristlicher Richtung. Sie messen alle ausländischen Staaten an ihren moralischen Privatregeln und überlassen die – politisch so vorteilhaften – Immoralitäten der englischen Politik der Verantwortung des Governments. Wir sind hier ehrlicher und bohren tiefer. Der Satz, dass ›Macht vor Recht‹ gehe, ist niemals ein Satz deutscher Denker gewesen […] Vor allem aber ist die deutsche Historie auf dem Standpunkt der siebziger Jahre überhaupt nicht stehen geblieben. Sie ist – ohne ihre Erkenntnis vom Wesen des Staates zu

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verleugnen – wieder auf den weiten kosmopolitischen Horizont zurückgegangen und hat insbesondere das nur politische Interesse ausgeweitet zum kulturgeschichtlichen.«62

Dieser Ausschnitt aus Troeltschs Aufsatz repräsentiert sehr deutlich die Auffassung einer als deutsch-national gedachten Wissenschaft, die sich wesentlich durch die angeführten Eigenschaften von der Wissenschaft außerhalb der nationalen Grenzen, insbesondere offenbar von einer »englischen« und »französischen« Wissenschaft, unterscheidet. In eher allgemeiner Hinsicht kommt dies im mittleren Abschnitt der Passage zum Ausdruck, in dem die starke Veranlagung deutscher Wissenschaftler zu ihrer Tätigkeit mit der besonderen geschichtlichen Entwicklung der Nation und der Reformation in Zusammenhang gebracht wird. Entsprechend wird nicht von Leistungen der Wissenschaft, sondern von Leistungen der Nation für die Wissenschaft und von der »Wissenschaft der Nationen« gesprochen. Interessant ist, dass die Unterscheidung von deutscher zu nicht-deutscher Wissenschaft für die Philosophie und die Geschichtswissenschaft im Detail begründet wird. Was die »deutsche Philosophie« von ihren ausländischen Pendants unterscheidet, wird unter dem Schlagwort »deutscher Idealismus« subsumiert. Demgegenüber kennzeichnet Troeltsch die »französische« Wissenschaft und Philosophie als atheistisch und die »englische« als utilitaristisch. Die »deutsche« Geschichtswissenschaft sei gegenüber der ausländischen Geschichtswissenschaft gekennzeichnet durch Kosmopolitismus einerseits und einen eigenen antidemokratischen Begriff vom Staat andererseits. All dies ist nicht nur in historischer Perspektive gemeint, sondern eine Beschreibung der aktuellen, zeitgenössischen Wissenschaft, wie man an der Verwendung des Präsens erkennt. Der Aufsatz von Ernst Troeltsch entsteht im Jahr 1915 natürlich in der besonderen, nationalistisch aufgeheizten Situation nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dennoch lässt sich die Verwendung solcher nationalen Semantiken nicht auf Kriegszeiten reduzieren. Vielmehr steht der Aufsatz innerhalb der lange bestehenden und noch lange fortbestehenden Tradition von Forschungen über den »deutschen Geist«. Im Vergleich zu der oben angeführten Rezension Droysens, die ja als initiativ für diese mitunter von Troeltsch repräsentierte Denkschule gilt, fällt sofort auf, dass sich die nationale Semantik hin zu einem größeren Grad an Pauschalisierung wandelt. Anders als noch bei Droysen sind in Troeltschs Text einzelne Wissenschaftler oder deren Werke vollkommen ausgeblendet zugunsten von national gedachten Einheiten der Wissenschaft. Während Droysen den Positivismus noch als eine spezifische Eigenschaft des Werks von Buckle

62 Troeltsch 1915: 82–85.

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behandelt, geht man später dazu über, den Positivismus als eine Eigenschaft des »westeuropäischen Geistes« überhaupt zu betrachten, um damit die Besonderheit einer »deutschen Wissenschaft« hervorzuheben. Dabei ist diese Art von geistesgeschichtlicher Forschung gerade im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts keinesfalls lediglich eine Randerscheinung. In seiner ausführlichen Untersuchung der Geschichtswissenschaft in der Weimarer Republik stellt Bernd Faulenbach resümierend fest, »daß die Historiographie dieser Epoche – wie die Germanistik und Teile der Philosophie – überwiegend an der Vorstellung einer spezifisch deutschen Ideenwelt festgehalten hat, auch wenn der Akzent nun, anders als im Weltkrieg, mehr auf ihrer ›Besonderheit‹ als auf 63

ihrer ›Überlegenheit‹ lag.«

Die Arbeiten, die zu dieser Zeit den spezifischen »deutschen Geist« zu charakterisieren versuchen, liegen daher in großer Menge vor. In der Gesamtschau stellt sich heraus, dass das Spezifikum des »deutschen Geistes« oder der »deutschen Wissenschaft« neben ihrem Gegensatz zum Positivismus in ihrer Verwurzelung vor allem im Historismus, im deutschen Idealismus, in der Romantik und in der lutherischen Reformation gesehen wird. Vielleicht einer der berühmtesten Vertreter einer Charakterisierung der »deutschen« Geschichtswissenschaft als einer besonders durch den Historismus geformten Denksphäre ist Friedrich Meinecke. In seinem Aufsatz »Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus« von 1923 bezeichnet er Deutschland als »das Mutterland« oder doch mindestens als den »stärksten Ausstrahlungsherd des modernen Historismus«.64 Diese Vorstellung nimmt Meinecke ein Jahr später in seinem 1924 erstmals veröffentlichten Buch Die Idee der Staatsräson auf. Am Schluss des Buches resümiert Meinecke die Ergebnisse im Hinblick auf ihre zeitgenössischen Implikationen, wo er zwar für eine geistige Verständigung zwischen den Völkern plädiert, nicht aber ohne die Unterschiedlichkeit des »deutschen« Denkens gegenüber dem »westlichen« Denken scharf zu konturieren: »Unabweisbar ist und bleibt die Zwangsgewalt der Staatsräson, die schon der Empirismus früherer Jahrhunderte erkannte und der Historismus bestätigte. Da es aber darüber zum Bruche mit der von den westlichen Völkern festgehaltenen naturrechtlichen Denkweise und zur geistigen Isolation Deutschlands gekommen ist, so ist es ein tiefes Bedürfnis und

63 Faulenbach 1980: 175. 64 Meinecke 1923: 371.

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eine Pflicht, in jene Selbstüberprüfung des Historismus einzutreten, […] um zu einer geistigen Verständigung zwischen dem deutsch-historischen Denken und dem der westlichen Völker zu gelangen, – dermaleinst, denn eine Arbeit von Generationen erst kann […] den Abgrund überbrücken. Erinnern wir uns daran, wie die Trennung entstand. Der unorganische Dualismus zweier Denkweisen, der naturrechtlichen und der politisch-empirischen, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im ganzen Abendlande bestand, wurde in Deutschland überwunden durch eine großartige organische Einheit des Denkens. Identitäts- und Individualitätsidee zusammen schufen den neuen Idealismus und Historismus, der Himmel und Hölle, Wirklichkeit und Ideal im geschichtlichen Leben gleichzeitig, als notwendig zueinander gehörend, zusammenfaßte.«65

Diese Passage unterscheidet überaus deutlich die nationale deutsche Geschichtsschreibung von der des Auslands, wörtlich das »deutsch-historische Denken« von »dem der westlichen Völker«. »Denken« und »Volk« bilden Einheiten, zwischen denen geradezu unüberbrückbare Gegensätze oder »Abgründe« bestünden. Offensichtlich weit über die Geschichtswissenschaften hinausgehend beschreibt Meinecke Deutschland als »eine großartige organische Einheit des Denkens«, die explizit durch Idealismus und Historismus gekennzeichnet sei. Noch näher auf die besondere Rolle des Historismus für die nationale Besonderheit der deutschen Geschichts- und Geisteswissenschaft geht Friedrich Meinecke in seinem 1936 erschienen Buch Die Entstehung des Historismus ein. An die Stelle eines Plädoyers für die Überbrückung von nationalen Gegensätzen wie noch 1924 scheint nun aber die Betonung einer geistigen Überlegenheit Deutschlands über das Ausland getreten zu sein, für die bei Meinecke nicht nur die folgende Passage steht:66 »Wir wenden uns der großen deutschen Bewegung zu, innerhalb deren nun auch der neue historische Sinn, den wir Historismus nennen, zu seiner ersten großen Ausbildung kommen sollte, derart, daß alle bisherigen Ansätze zu ihm, die wir im übrigen Europa finden, aufgenommen, aber weit überboten wurden. Um das Entscheidende für diesen Hergang mit der nötigen Intensität zu zeigen, müssen wir uns in der Auswahl des Stoffes nunmehr beschränken. Wir wissen, daß es sich im Grunde um einen allgemeinen europäischen Wachstumshergang handelt, der nun in Deutschland zwar etwas später einsetzte, aber am raschesten in wunderartiger Entfaltung zur Reife gedieh. Wir haben, um diesen gemeineu-

65 Meinecke 1957: 501. 66 Iggers 1999: 21 weist nämlich auf eine diesbezügliche allgemeine Tendenz bei Meinecke hin.

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ropäischen Charakter zu beweisen, auch Geister zweiten Ranges aus Frankreich und England zu Worte kommen lassen, insbesondere solche, die die deutsche Bewegung mit befruchtet haben. Wir konzentrieren uns jetzt auf die eigentlichen Bahnbrecher des Historismus in Deutschland, deren Leistungen zugleich alles zu ersetzen vermag, was von Talenten zweiten und dritten Ranges neben ihnen in derselben Richtung, aber nicht entfernt mit derselben schöpferischen Kraft gedacht und getan wurde.«67

Obwohl sich offenbar nicht leugnen lässt, dass der Historismus eine europäische geistige Strömung ist – wie Meinecke selbst anmerkt –, liegt der Akzent auf den unterschiedlichen Ausprägungen, die der Historismus in verschiedenen nationalen Wissenschaften annimmt. Charakteristisch für die »deutsche Bewegung« sei dabei nicht nur ihre spezifische Intensität, mit der sie den Historismus pflege und entwickle, sondern auch ihre Überlegenheit gegenüber dem Historismus des Auslands, namentlich dem Englands und Frankreichs. Explizit differenziert der Text den Historismus in verschiedene »Ansätze zu ihm«, die sodann untereinander verglichen werden können. Der deutsche Ansatz »überbietet« dabei »alle bisherigen Ansätze« des »übrigen Europa«, womit die Differenz entlang der Unterscheidung zwischen Deutschland und dem Rest des Kontinents aufgemacht wird. Der Text unterstellt ferner eine säuberliche Trennung von Vertretern des Historismus ersten Ranges, die man offensichtlich ausschließlich innerhalb der deutschen Grenzen vorfände, und solchen Vertretern zweiten Ranges in Frankreich und England. Deutsche und ausländische Repräsentanten des Historismus unterschieden sich in erheblichem Maße durch den Grad an »schöpferischer Kraft« mit der sie den Historismus »denken«, womit neben die reine Unterscheidung nationaler Wissenschaften noch eine unterschiedliche Bewertung hinzukommt. Neben Historismus und deutschen Idealismus gilt als ein weiteres Kennzeichen eines spezifisch »deutschen Geistes« der Einfluss der Romantik. Bei Ernst Troeltsch dient die Romantik zur Bestimmung des »deutschen« Geistes gegenüber dem »westeuropäischen« Geist, wie z. B. aus folgender Passage seines Aufsatzes »Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik« aus dem Jahre 1923 deutlich wird: »Das Eigentümliche der heute draußen und drinnen so stark betonten deutschen Ideenwelt stammt erst aus der Romantik […] Auch sie ist eine volle und wirkliche Revolution […] gegen den ganzen westeuropäischen mathematisch-mechanischen Wissenschaftsgeist, den Utilitarismus und Moral verschmelzenden Begriff des Naturrechts […] Gegenüber der

67 Meinecke 1965: 385.

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Explosion des westeuropäischen Naturrechts und seinen Revolutionsstürmen entwickelte sie sich immer bewußter zum Gegenstück einer konservativen Revolution […] In diesem Sinne hängt auch sie naturgemäß mit historischen Überlieferungen zusammen, aber eben gerade nicht mit den das Naturrecht verherrlichen theologischen und wissenschaftlichen Strömungen, sondern mit mystischen und poetischen Richtungen, die von Hause aus von jenem Naturrecht frei waren. […] Und zwar ist das das Wesen der spezifisch deutschen Romantik. [(…] Die deutsche Romantik hatte an ihrem Individualitätsbegriff ein neues positives, ethisches und historisches Prinzip.«68

Auch hier ist explizit die Rede von der »Eigentümlichkeit« einer »deutschen Ideenwelt« und des »westeuropäischen Wissenschaftsgeistes«, die durch die Romantik auf der einen und das »Naturrecht« auf der anderen Seite, durch Revolution und Gegenrevolution, gegeneinander abgegrenzt werden. Interessant ist, dass Troeltsch von diesen Feststellungen in der Folge eine ganze Reihe von Begriffen ableitet, die er dem »deutschen« gegenüber dem »westeuropäischen« Denken zuordnet: Er zählt auf eine spezifische deutsche »Humanitätsidee«, eine spezifisch deutsche »Gemeinschaftsidee«, eine spezifisch deutsche »Menschheitsidee«, eine spezifisch deutsche »Entwicklungsidee« und eine spezifisch deutsche »individualistisch-pluralistisch-pantheistische Metaphysik«, die er allesamt jeweils genau definiert. Die hier stellvertretend für weite Teile der geschichtswissenschaftlichen Kommunikation in Deutschland während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts ausgewählten Ausschnitte zeigen, dass in allgemeiner Hinsicht die besonderen Eigenschaften der »deutschen Geschichtswissenschaft« im deutschen Idealismus, im Historismus und in der Romantik gesehen werden. Daneben wird der deutschen Geistes- und Geschichtswissenschaft als vierte Eigenschaft ihre Verwurzelung in der Tradition der lutherischen Reformation zugeschrieben. Ein prominenter Vertreter dieser These ist Gerhard Ritter. Er schreibt 1931: »Das Verdienst dieses lutherischen Kirchenwesens ist die Reinhaltung der religiösen Idee von der Vermischung mit politischen Machtansprüchen der Kirche […] Als unmittelbare Folge einer solchen Haltung ergibt sich ein für das deutsche Wesen besonders charakteristisches Ernstnehmen rein geistiger Entscheidungen überhaupt. Tausend Nachwirkungen sind davon im deutschen Leben und in der deutschen Literatur, wissenschaftlichen und nicht wissenschaftlichen Charakters, bis heute zu spüren; wir können ihnen hier unmöglich nachgehen, aber wer überhaupt deutsche und westeuropäische Geistesart aus eigener Kenntnis zu vergleichen im Stande ist, wird auch ohne näheren Nachweis sich veran-

68 Troeltsch 1925: 13–14.

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schaulichen können, was gemeint ist. […] Das protestantische Sektenwesen mit seiner wild wuchernden, durch theologisch-wissenschaftliche Besinnung nicht gezügelten Spekulation hat in Deutschland unter der Herrschaft des strengen Luthertums nicht aufkommen können; es spielt auch heute noch zahlenmäßig eine ganz minimale Rolle, in scharfem Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern. Statt dessen hat die theologische Hermeneutik des deutschen Protestantismus, wie man weiß, einen sehr erheblichen Anteil an der Entwicklung der deutschen Geisteswissenschaften genommen. Und die auffallend hohe Wertschätzung, die reine Wissenschaft bis heute in Deutschland genießt, über alle tiefen Wandlungen des sozialen und geistigen Lebens hinweg, verdankt sie sicherlich zu einem guten Teil diesen altlutherischen Traditionen.«69

Auch hier werden erneut die bereits aufgedeckten Muster verwendet, besondere Eigenschaften der zeitgenössischen »deutschen Geisteswissenschaften« anhand einer historischen Analyse zu erklären und mittels ihrer Kontrastierung mit einem »westeuropäischen Geist« zu profilieren. Deutlich ist auch, dass die beschriebene geistige nationale Einheit zwar auch die Geschichtswissenschaft umfasst, jedoch darüber weit hinaus geht in die »deutschen Geisteswissenschaften«, in die gesamte »deutsche Literatur«, bis hin in das »deutsche Wesen« schlechthin. Die »altlutherische Tradition« vereint sie und grenzt sie gegen ihre Pendants im Ausland ab. In Gerhard Ritters Monographie über Luther taucht auch das Muster einer wehrhaften deutschen Wissenschaft wieder auf, wenn er eine Überflutung Deutschlands mit westeuropäischem Denken konstatiert. Aber: »[I]mmer wieder sieht man den deutschen Geist sich dagegen zur Wehr setzen, unablässig den Versuch erneuern, das fremde Gedankengut im Sinne Luthers zu ethisieren […] gegen allen Ansturm mechanistischer Theorien der Welterklärung und eudämonistischer Morallehren«.70

Die Vorstellung einer unter dem Einfluss der Reformation sich ausdifferenzierenden deutschen Geschichtswissenschaft findet sich noch bei zahlreichen anderen Historikern dieser Zeit. Paul Joachimson schreibt 1925: »Wie Luthers deutsche Bibel die Sprache Gesamtdeutschlands bestimmt hat, so auch sein Geist den deutschen Geist überhaupt«.71 Max Lenz sieht, wie schon Gerhard Ritter, in der Reformation und in Luther die Wurzeln des »Riesenbau[s] der deutschen Wis-

69 Ritter 1931. 70 Ritter 1925: 153. 71 Joachimson 1970: 147.

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senschaft«, insbesondere der »deutschen Philosophie« und des »deutschen Idealismus«72, und auch Otto Westphal spricht von einem »protestantischem Wissenschaftsgedanken«.73 Hervorzuheben ist, dass bei allen diesen Arbeiten Begriffe wie der »deutsche Geist« oder die »deutsche Geschichtswissenschaft« nicht lediglich als analytische Kategorien verwendet werden, sondern, wie Bernd Faulenbach anmerkt, »ontologische Qualität aufweisen«, also »mithin Aspekte einer durchgängigen, unverwechselbaren deutschen Identität waren«. 74 Und natürlich ist es möglich und sogar wahrscheinlich, dass diese Einschätzung der zeitgenössischen Wirklichkeit teilweise tatsächlich entsprochen hat. Wie sehr zumindest deutsch-nationale Beschreibungskategorien im grundsätzlichen Repertoire von Beobachtungs- und Beschreibungsfolien der Geschichtswissenschaft verankert sind, wird deutlich daran, dass selbst die Kritiker des wissenschaftlichen Nationalismus, in Deutschland wie auch im Ausland, daraus nicht ausbrechen. Der deutsche Historiker Otto Hintze z. B. kritisiert 1927 die allzu schroffe Gegenüberstellung des »zweifellos vorhandenen Gegensatzes« zwischen deutschem romantisch-historischem und westeuropäisch-naturrechtlichem Denken. Hintze wirft seinen Kollegen zwar Vereinfachung von in Wirklichkeit viel komplexeren Entwicklungsgängen wissenschaftlicher Denktraditionen vor, wenn er historisches Denken außerhalb Deutschlands und naturrechtliches Denken innerhalb Deutschlands nachweist, jedoch bricht er nicht aus den Kategorien nationaler Denksphären aus, indem er etwa die Unterscheidung selbst in Frage stellen würde.75 Fast genauso argumentiert Walter Goetz 1919 in Das Wesen der deutschen Kultur. Das Buch richte sich zwar, wie im Vorwort vermerkt, »gegen diejenigen, die von einem geschlossenen deutschen Kulturstaate träumen«, jedoch bleibt es nichtsdestoweniger einer nationalen Semantik verhaftet. Daraus folgen dann solch merkwürdig widersprüchliche Formulierungen wie das »Nationale […] ist allein stark durch seine politischen Leistungen, und diese sind nicht weniger national, wenn sie die Richtung auf das Universale und Internationale nehmen«.76 Etwas anders gelagert sind die Einwände des Soziologen Karl Mannheim. Seine Kritik richtet sich darauf, einer gesamten Nation einen bestimmten Denktypus zu unterstellen, wobei tatsächlich dieser immer nur von einer bestimmten

72 Lenz 1922: 20. 73 Westphal 1930: 39. 74 Faulenbach 1980: 123. 75 Hintze 1927. Ähnlich argumentiert Brodnitz 1925. 76 Goetz 1919: 3.

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Schicht getragen werde. Dieser schichtspezifische Denktypus lasse sich allerdings klar nach Nationen unterscheiden. Auch Mannheim sieht den »eigentlichen Charakter« des »deutschen Denkens bis in die Gegenwart der Weimarer Republik hinein in dem romantischen Zug einerseits und dem Historismus andererseits«.77 Die Ambivalenz all dieser Argumente macht deutlich, dass die nationale Semantik zu einem grundlegenden Bestandteil wissenschaftlicher Selbstbeschreibungen geworden ist. Insgesamt zeigt sich, wie im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein nationales Verständnis von Wissenschaft immer weiter Oberhand gewinnt. Für die Durchsetzung eines nationalen Selbstverständnisses der Physik in Deutschland trägt im 19. Jahrhundert vor allem die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte bei. Es zeigt sich jedoch, dass nationale Semantiken sich auch über den Kontext der Gesellschaft hinaus ausbreiten und dabei der internationale Vergleich innerhalb der Physik an Trennschärfe gewinnt. Noch stärker als in der Physik scheint sich ein nationales Selbstverständnis in der Geschichtswissenschaft herauszubilden. Die Analyse macht den Erfolg der Nationalisierung der deutschen Geschichtswissenschaft zum Ende des 19. Jahrhunderts deutlich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehört die Auffassung von nach Nationen zu unterscheidenden Geschichtswissenschaften offenbar zum Common Sense der Historikergemeinschaft. Dass selbst Kritiker dieser Unterscheidung innerhalb ihrer argumentieren, lässt vermuten, dass ein allzu deutliches Abstreiten der nationalen Unterschiede aufgrund der vorherrschenden, anderslautenden Anschauung nur mit hohem argumentativem Aufwand vorgetragen worden sein dürfte und selten vorgekommen ist. 6.1.3 Die Ethnisierung der Wissenschaft Die Verfestigung des nationalen Selbstverständnisses der Wissenschaft während des 19. Jahrhunderts legt die Grundlage für eine Radikalisierung der Unterscheidung nationaler Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Die Auftrennung zwischen nationalen Wissenschaften wird noch einmal verschärft, indem man die Wissenschaft anhand ethnischer Eigenschaften kategorisiert. Im 19. Jahrhundert werden nationale Wissenschaften vor allem im Hinblick auf ihre nationalkulturellen Eigenschaften voneinander unterschieden und verglichen. Damit beschreibt man die nationalen Wissenschaften als Bestandteile eines einheitlichen Wissenschaftssystems, innerhalb dessen sie in einem gegenseitigen Konkurrenz-, Austausch- und Beeinflussungsverhältnis stehen. Mit der ethnischen Fundierung der

77 Mannheim 1927, zit. n. Faulenbach 1980: 386.

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Semantik wird dieses Bild tendenziell in Frage gestellt zugunsten einer monadischen Konzeption nationaler Wissenschaften, die zueinander kaum noch oder nicht mehr in kommunikativem Kontakt treten können. Der Übergang von einem nationalen zu einem ethnischen Verständnis deutscher Physik wird an einer Rede des Physikers Johannes Stark anlässlich der Feier zum 53. Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. 1912 deutlich.78 Während etwa Rudolph Virchow 1871 noch die Idee des »genetischen Gedankens« deutscher Naturwissenschaft mit der deutschen Nation in Verbindung bringt, verknüpft Stark die Physik, oder was er die »naturwissenschaftliche Idee« nennt, mit dem germanischen Volk im Sinne einer ethnischen Gemeinschaft. Weit entfernt von dem Bewusstsein, eine Konstruktion einer nationalen Einheit der Wissenschaft zu betrieben, das noch aus den Reden der Versammlungen der deutschen Naturforscher und Ärzte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen mag, sind für Johannes Stark fast hundert Jahre später völkische Eigenschaften der Wissenschaft ein Faktum. Es ist für ihn eine »Tatsache, daß die physikalisch-technische Idee eine Schöpfung der germanischen Völker ist, dass durch sie die germanische Kultur vor allen anderen sich auszeichnet, und wir erkennen, dass sie in einer speziellen Veranlagung der germanischen Stämme ihren Ursprung und Nährboden hat.«79

Johannes Stark glaubt an eine aus ethnischer Zugehörigkeit hervorkommende Veranlagung, die für eine spezifische Entwicklung der Naturwissenschaften in Deutschland verantwortlich ist. Damit gründet die Besonderheit der deutschen Naturwissenschaft nicht mehr nur auf bestimmten in Deutschland dominanten Ideen oder auf für die nationale Kultur spezifischen Eigenschaften, sondern ist eine Konsequenz aus biologischen Gegebenheiten des deutschen Volkes, das sich damit einzig als Träger der deutschen Naturwissenschaft qualifiziert. Diese Radikalisierung der Gegensätzlichkeit nationaler Wissenschaften durch die starre Verknüpfung von Ethnie und Wissenschaft wird einige Jahre später das bestimmende Ziel der so genannnten »arischen Physik« oder »Deutschen Physik«.80 Die Entstehung der »arischen Physik« steht im Kontext analoger Entwicklungen in den anderen Disziplinen, die entsprechend etwa eine

78 Vgl. grundlegend Schröder-Gudehus 1966. 79 Stark 1912: 8. 80 Vgl. zum Kontext etwa Desser 1991: 143–172. Vgl. einführend zur »Deutschen Physik« Richter 1980 u. Behnke 1983.

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»Deutsche Chemie« oder »Deutsche Mathematik« hervorbringen. 81 Diese »Schulen« versuchen, ihre Disziplinen nach der nationalsozialistischen Ideologie auszurichten. Im Zentrum der »Deutschen Physik« stehen die beiden Nobelpreisträger Johannes Stark und Philipp Lenard, die eine Reihe von Anhängern um sich scharen. Aus ihrer Feder stammen die programmatischen Schriften, die die Prämissen für ihre Vorstellungen von der Physik festlegen. Johannes Stark steuert der »Deutschen Physik« sein Buch Nationalsozialismus und Wissenschaft von 1934 und eine Veröffentlichung von 1941 mit dem Titel Jüdische und deutsche Physik bei. Die grundlegenden Bücher der Bewegung sind jedoch Lenards Große Naturforscher von 1929 und sein 1936 bis 1937 veröffentlichtes, vierbändiges Lehrbuch Deutsche Physik, das auf seinen Vorlesungen aufbaut.82 Bereits die ersten Sätze aus dem Vorwort legen unumwunden die rassistische Wissenschaftskonzeption der Deutschen Physik dar: »›Deutsche Physik?‹ wird man fragen. – Ich hätte auch arische Physik oder Physik der nordisch gearteten Menschen sagen können, Physik der Wirklichkeits-Ergründer, der Wahrheit-Suchenden, Physik derjenigen, die Naturforschung begründet haben. – ›Die Wissenschaft ist und bleibt international!‹ wird man mir einwenden wollen. Dem liegt aber ein Irrtum zugrunde. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft, wie alles was Menschen hervorbringen, rassisch, blutmäßig bedingt. […] Völker anderer Rassenmischung haben eine andere Art, Wissenschaft zu treiben. Naturforschung allerdings hat kein Volk überhaupt je begonnen, ohne auf dem Nährboden schon vorhandener Errungenschaften von Ariern zu fußen. […] Von einer Physik der Neger ist noch nichts bekannt; dagegen hat sich sehr breit eine eigentümliche Physik der Juden entwickelt […] Es ist wichtig, die ›Physik‹ des jüdischen Volkes hier ein wenig zu betrachten, weil sie ein auffallendes Gegenstück zur deutschen Physik ist […] Um sie zu charakterisieren, kann am gerechtesten und besten an die Tätigkeit ihres wohl hervorragenden Vertreters, des wohl reinblütigen Juden A. Einstein, erinnert werden. […] Dem Juden fehlt auffallend das Verständnis für Wahrheit, für mehr als nur scheinbare Übereinstimmung mit der von Menschendenken unabhängig ablaufenden Wirklichkeit, im Gegensatz zum ebenso unbändigen wie besorgnisvollen Wahrheitswillen der arischen Forscher.«83

81 Zur nationalsozialistischen Ideologie in naturwissenschaftlichen Disziplinen vgl. Mehrtens/Richter 1980 und im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften s. Lundgreen 1985. 82 Beyerchen 1982: 172–176. 83 Lenard 1938: IX–X.

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Das Zitat enthält alle wesentlichen Züge der nationalen Semantik der »Deutschen Physik«. Dies ist erstens die Verknüpfung von Ethnie und Wissenschaft durch die Behauptung, dass Wissenschaft »rassisch« und »blutmäßig« bedingt sei. Durch die Rückführung der Wissenschaft auf biologische Eigenschaften von einer als Rasse vorgestellten Gruppe von Menschen, in diesem Fall der Deutschen, gewinnt die damit konstruierte Trennung der Wissenschaft nach nationalen Bereichen eine neue Radikalität. Eine Wissenschaft, in der Nationen keine Rolle spielen, ist in dieser Perspektive faktisch auf Dauer ausgeschlossen. Folgerichtig schließt Lenard die Möglichkeit einer internationalen Wissenschaft aus. Zweitens tritt zu der Vorstellung der Existenz nationaler Wissenschaften ein chauvinistisches Element hinzu, denn die nationalen Wissenschaften stehen hier keinesfalls gleichberechtigt nebeneinander. Diese Tendenz ist zwar an sich auch nicht neu, jedoch gewinnt die Semantik hier an Schärfe. Neu ist, dass nicht mehr nur einzelne oder besonders wichtige wissenschaftliche Errungenschaften der eigenen nationalen Wissenschaft zugeschrieben werden, sondern nun der gesamte Bereich der Naturforschung letztendlich auf den gleichen rassischen Ursprung projiziert wird. Und schließlich gibt es ein drittes, relativ neues Element in der nationalen Semantik innerhalb der Physik, das ist der Antisemitismus. Da viele deutsche Wissenschaftler und gerade in der Physik viele der bedeutendsten Gelehrten eine jüdische Religionszugehörigkeit haben, wird, um den Antisemitismus mit der Vorstellung einer rassisch bedingten deutschen Wissenschaft in Übereinstimmung bringen zu können, Religionszugehörigkeit zu einem Rassenmerkmal erklärt. Zwar dürfte dies im Widerspruch zu einem biologistischen Rassenkonzept stehen, es erlaubt jedoch an der Vorstellung einer »Deutschen Physik« unter Ausschluss jüdischer Wissenschaftler festzuhalten. Eine Kampagne gegen die so genannte »jüdische Physik« zu führen, ist eine der Hauptaktivitäten der Anhänger der »Deutschen Physik«.84 Die Hetze richtet sich dabei in erster Linie auf die schon länger mit Ressentiments aufgenommene Relativitätstheorie Albert Einsteins.85 Die dafür eigens unter Führung von Paul Weyland gegründete »Arbeitsgemeinschaft zur Erhaltung reiner Wissenschaft« beschimpft die Relativitätstheorie als »wissenschaftlichen Dadaismus«86, Lenard nennt sie eine »große Intrige und Massensuggestion« und W. Müller ein »Meisterstück talmudistischer Inflationsphysik« oder gar einen »großen jüdischen Weltbluff«.87

84 Vgl. umfassend dazu Heisenberg 1992 u. Rechenberg 1989. 85 Vgl. etwa Weyland 1920. 86 Kleinert 1978: 521. 87 Vgl. Richter 1980: 124.

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Wie man sich die Abgrenzung zwischen »deutscher« und »jüdischer Physik« vorstellt, illustriert beispielhaft Johannes Starks Nationalsozialismus und Wissenschaft. Der Jude, führt Stark aus, neige rassenmäßig zu einer deduktiven Grundhaltung, aufgrund derer er Theorien aus seinen Vorurteilen entwickle. Die Absurdität seiner Theorien verschleiere er durch die mathematische Darstellung, die die Theorien gegenüber einem Zugang durch klaren Menschenverstand versperre. Der Arier hingegen sei rassisch dazu prädestiniert, die Natur als solche zu beobachten, Theorien induktiv ohne Selbstverherrlichung zu entwickeln und sie bereitwillig zu verwerfen, wenn es dazu Anlass gäbe. Natürlich kommt der deduktive Charakter der Rassentheorie der arischen Physik nicht zur Sprache.88 Solche Vorstellungen findet man nicht nur bei den Anführern der »Deutschen Physik«, sondern in gleicher Weise bei den Anhängern wie etwa bei Tomaschek, für den die »arische Physik« nur »aus eigenem Geist und Blut lebendig und schöpferisch fortzeugend erhalten werden kann«89, oder bei A. Bühl, für den der »Jude […] zur Schöpfung neuer, tragender Ideen […] nicht befähigt«90 sei. Die rassische Konzeption der Physik geht so weit, selbst die Vernunft an Rasse zu binden. Dies führt Lothar G. Tirala 1936 in seiner Rede »Nordische Rasse und Naturwissenschaft« anlässlich der Einweihungsfeier des PhilippLenard-Instituts an der Universität Heidelberg aus. Zunächst referiert er über die Rassenbindung der Physik und die daraus folgende Abweisung wissenschaftlicher Internationalität. Dann kommt er auf die Logik zu sprechen: »Selbst auf dem Gebiet der Logik als der Grundlage aller Wissenschaften müssen Unterschiede sich geltend machen […]. Die Logik ruht auf dem Bau der indogermanischen Sprachen und gilt nur in ihrem Bereich. Die anderen schließen sich ihr an, weil unsere Logik sich am besten der Natur anpasst und die Erfolge des Lebens der nordischen Rasse alle andern in ihren Bann zwingen. […] Auch Menschen, welche dem Rassegedanken sehr fern stehen, werden die typischen Unterschiede im Denken der verschiedenen Völker gar wohl bemerken, werden aber gewöhnlich den Unterschied im Sprechen und im Denken auf die verschiedene Kulturhöhe der Völker beziehen, welche gerade untersucht werden. Allerdings ist es in letzter Hinsicht auch ein Unterschied des Rassengeistes, der sich in der verschiedenen Kulturhöhe ausdrückt.«91

88 Vgl. Beyerchen 1982: 185. 89 Zit. n. Richter 1980: 117. 90 Zit. n. Kleinert 1978: 523. 91 Tirala 1936: 28.

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In weiteren Ausführungen geht Tirala dann auf die Besonderheiten der Logik, die den Juden eigen sei, und auf die unterschiedlichen Rollen der Mathematik in der »jüdischen« und »arischen Physik« ein. Mit der Vorstellung, dass nicht nur Stil und Leistungspotential der Wissenschaft, sondern mit der Logik auch grundsätzliche Denkoperationen auf die Rasse zurückgeführt werden müssen, erreicht die Semantik von der nationalen Abgeschlossenheit der Wissenschaft ihren Höhepunkt. Nicht mehr nur unterschiedliche Sprachen oder an Rasse gebundene Denk- und Forschungsstile stehen der Vorstellung einer kosmopolitischen Wissenschaft entgegen, mit der Behauptung von national- oder rassenspezifischen Logiken wird die Möglichkeit einer sinnvollen grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Kommunikation überhaupt ausgeschlossen. Eine analoge Entwicklung hin zu einer radikalen Ethnisierung der Wissenschaft findet auch innerhalb der Geschichtswissenschaft statt. Genau wie im Fall der Physik lassen sich auch in der Geschichtswissenschaft Vorläufer einer ethnischen Semantik der Wissenschaft bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden. Wenn es in der Geschichtswissenschaft in den 1920er Jahren um die Bestimmung des »deutschen Geistes« geht, findet man bereits die Vorstellung von der Bedeutung biologischer Merkmale für die Erkenntnisfähigkeit in der Wissenschaft. In seinem Hauptwerk Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen von 1924 versucht Georg von Below die Bedeutung der Romantik für die Herausbildung einer eigenständigen deutschen Geschichtswissenschaft zu unterstreichen: »Wir bleiben bei den Erkenntnissen, die durch die romantische Bewegung gewonnen sind. […] Wir tragen den von der Aufklärung verachteten ›Haupt- und Staatsaktionen‹ Rechnung durch die Anerkennung des Primats der äußeren Politik vor allen inneren Bedürfnissen, des Primats der unbedingten Voraussetzungen vor den bedingten Interessen des einzelnen, der sein Recht fordert: das ist der entscheidende Gesichtspunkt, aus dem Ranke Geschichte geschrieben und Bismarck sein Leben lang Politik gemacht hat. […] Wir glauben nicht wie die Aufklärung an ein Naturrecht und an eine für alle Völker gültige Staatsverfassung; Staatsrechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft in Deutschland haben daran gearbeitet, das Vorwalten der ungeschichtlichen revolutionären Ideen zu beseitigen, das fremde, französische, radikale Element aus dem deutschen Blut auszuscheiden […] Die romantische Wissenschaft erschloß uns das Verständnis für den Volksgeist, den deutschen Volksgeist, und half uns den deutschen Nationalstaat aufzurichten.«92

92 Below 1924: 158–159.

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Es zeugt von einer nationalistisch-rassistischen Auffassung von Wissenschaft, wenn von der Vorstellung ausgegangen wird, dass »Blut« und »Ideen« eine Einheit bilden. Nach von Below betreibt die »Geschichtswissenschaft in Deutschland« hier so etwas wie eine ethnische Säuberung in der Wissenschaft: Das »deutsche Blut« sei sozusagen von Ideen besetzt, die ihm fremd seien, nämlich französisch, und die deutsche Geschichtswissenschaft habe gewissermaßen in einem Akt der Verteidigung daran gearbeitet, dem »Vorwalten« fremder Ideen in ihr ein Ende zu setzen und eine säuberliche Abtrennung der deutschen, nationalen, wissenschaftlichen Einheit aus Blut und Ideen wiederherzustellen. Diese Passage hat keinen Ausnahmecharakter, sondern steht stellvertretend für den Tenor des gesamten Buches. Davon kann man sich bereits mit den ersten Sätzen des Vorworts zur ersten Auflage überzeugen, in der deutlich wird, dass die Beschreibung und Charakterisierung einer nationalen »deutschen Geschichtswissenschaft« das zentrale Anliegen der Arbeit ist: »Die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen aus der allgemeinen Geschichte der deutschen Historiographie herauszunehmen rechtfertigt und empfiehlt sich, weil sie ein überraschend geschlossenes Ganzes bildet. Die Geschlossenheit ist so stark, daß wir heute fast eine Rückkehr zu gewissen Ausgangspunkten wahrzunehmen glauben. Inzwischen war die deutsche Geschichtswissenschaft manche bemerkenswerte Wege gewandelt; man hatte auch versucht, sie auf falsche Wege zu locken. Heute aber darf sie sich rühmen, daß sie allen Gefahren siegreich begegnet, dem Zug zum rechten Weg gefolgt ist, die erfreulichsten Fortschritte im Ausbau des Gebäudes gemacht hat, die alte echte Auffassung verstärkt und vertieft erneuert. Auch in der Parallele der Befreiungskriege und des großen Kampfes unserer Tage mit ihren Wirkungen auf die geschichtliche Betrachtung schließt sich der Ring.«93

Die außerordentliche Ausdrücklichkeit, mit der von Below von einer eigenen, selbstständigen, einer geschlossenen »deutschen Geschichtswissenschaft« ausgeht, bedarf kaum weiterer Erläuterungen. Die nationale Geschlossenheit der Geschichtswissenschaft, und zwar der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft, wird nicht nur als Resultat historischer, sondern auch biologischer Faktoren anerkannt. Mit Blick auf diese ethnische Fundierung der Wissenschaft kann die Vorstellung von einer geschlossenen Wissenschaft kaum verwundern. Aber es geht nicht nur um nationale Geschlossenheit. Die deutsche Geschichtswissenschaft befindet sich laut von Below auch in einem nationalen Kampf, in dem sie glücklicherweise »allen Gefahren siegreich begegnet« sei.

93 Below 1924.

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Bedeutungsvoll für eine Demonstration einer radikalen nationalen Selbstbeschreibungssemantik der »deutschen Geschichtswissenschaft« sind diese Passagen auch, weil sie sich nahtlos in die allgemein übliche Semantik in der Fachrichtung einfügen. Wie Hans Cymorek in seiner Monographie über Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft seiner Zeit feststellt, ist sein Buch »unanstößig in einem Umfeld, das sich bereits daran gewöhnt hatte, politische Emphase und wissenschaftlichen Anspruch als Einheit zu behandeln«.94 Und tatsächlich lassen sich schnell weitere Beispiele finden, so bspw. bei Gerhard Ritter, wenn er 1925 behauptet, dass Luther in seiner vollen Bedeutung nur von Deutschen ganz erfasst werden könne, »weil nur, wer seines Blutes und Geistes ist, ihn aus der Tiefe seines Wesens versteht«.95 Zumindest wenn es darum geht, die Person Luthers als geschichtswissenschaftliches Thema zu untersuchen – und das ist für die Geschichtswissenschaft in Deutschland zu dieser Zeit ein gängiges Thema – ist die ethnische Zugehörigkeit von entscheidender Bedeutung. Denn nur Wissenschaftler »seines«, also deutschen Blutes wären dieser Aussage zufolge ja in der Lage, Luther wissenschaftlich angemessen zu behandeln. Damit ist offensichtlich, dass zwischen deutscher und ausländischer Wissenschaft nicht nur historisch gewachsene und damit kontingente Unterschiede bestehen sollen, sondern von Natur aus gegebene, unüberbrückbare Schranken. An diese Vorstellung knüpft nach der Machtergreifung Hitlers die neu entstehende nationalsozialistische Geschichtswissenschaft an. Diese wird nach 1933 neben der Forschungs- und Lehrgemeinschaft Das Ahnenerbe96 und dem Amt Rosenberg97, die sich beide eher auf die germanische Frühgeschichte konzentrierten, vor allem von Walter Franks Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands betrieben, das 1935 öffentlichkeitswirksam eingerichtet wird.98 Die Publikationen Franks und des Reichsinstituts geben sich dementsprechend programmatisch im Hinblick auf die nationalsozialistische Wissenschaftsreform in der Geschichtswissenschaft.99 Besonders aufschlussreich für das neue Verständnis der Disziplin und auch der Wissenschaft überhaupt sind deshalb die frühen Publikationen des Instituts. Walter Frank gibt 1936 unter dem Titel Das nationalsozialistische Deutschland und die Wissenschaft ein Heft mit der pro-

94 Cymorek 1998: 282. 95 Ritter 1925: 151. 96 Kater 1997. 97 Bollmus 1970. 98 Heiber 1966. 99 Vgl. dazu auch Frank 1936b; Frank 1937; Frank 1941.

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grammatischen Rede des nationalsozialistischen Wissenschaftsreformers Ernst Krieck heraus, der auch über historische Fragen und im geschichtswissenschaftlichen Kommunikationszusammenhang publiziert.100 Dieser Vortrag und die einleitend gehaltene Rede des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, bekunden zweifellos ein radikal deutschnationales Verständnis von Wissenschaft. Rust nimmt kurz vorweg, was Krieck im Detail ausführt. Er sagt: »Aber es gab noch eine zweite Kategorie von Vertretern der Wissenschaft, die auch vom Grundgesetz des neuen Staates betroffen wurde. Es waren diejenigen, die uns nach Blut und Artung nicht zugehören, und denen darum die Fähigkeit abgeht, aus deutschem Geist die Wissenschaft zu gestalten. Es wird im Folgenden deutlich werden, warum wir ihnen das Recht absprechen mußten, an den Stätten der wissenschaftlichen Erziehung zu wirken und mit Platon zu fordern, daß nur Echtbürger und keine Mischlinge philosophieren dürfen.«101

Zunächst fällt auf, dass die Nationalsozialisten offenbar die Terminologie des »deutschen Geistes« der Weimarer Historiker übernehmen. Auch die schon von Ritter und von Below verwendete Figur der Einheit aus Ethnie und Wissenschaft wird wieder aufgegriffen. Grundlage der nationalen Wissenschaft, nämlich der Wissenschaft »aus deutschem Geiste«, ist die blutsmäßige Zugehörigkeit ihrer Wissenschaftler zur »Artung«. Diese Einheit aus Volk und Wissenschaft ist auch das Grundthema der Hauptrede von Ernst Krieck mit dem Titel »Die Objektivität der Wissenschaft als Problem«, die in dem Heft im Anschluss abgedruckt ist: »Ein Blick über Kulturkreise, Völker und Zeitalter belehrt unwiderlegbar, daß jene Gebilde, die wir unter dem Gesamtbegriff ›Wissenschaft‹ erfassen, nach Wesen und Sinn ebenso vielgestaltig, artverschieden und wandelbar sind, wie Leben und Gesittung der Völker in den Zeitaltern selbst. […] Es hat eben die Wissenschaft eines Zeitalters nicht das Recht, sich selbst zum absoluten Maßstab der Richtungen und Leistungen aller anderen Völker und Zeitalter zu machen: wir lehnen einen wissenschaftlichen Absolutismus ebenso ab wie den verwandten politischen Imperialismus. Jedes Volk muß in jedem Zeitalter sein Leben nach seinem Eigengesetz und jeweiligen Schicksal gestalten, und diesem Eigengesetz un-

100 Frank 1936a. Zur zentralen Rolle Ernst Kriecks in der nationalsozialistischen Wissenschaftsreform s. Müller 1978. Geschichtswissenschaftliche Publikationen von Krieck erscheinen etwa in der Historischen Zeitschrift. Vgl. Krieck 1939. 101 Frank 1936a: 14.

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tersteht mit allen anderen Lebensgebieten auch die Wissenschaft. […] Fragen wir aber nach dem schöpferischen Ursprung und Sinn der wissenschaftlichen Forschung, dann erkennen wir ihre innere Verbundenheit mit Eigenart, Grundcharakter und geschichtsbildender Aufgabe des völkischen Lebensraums, in dem sie wurzelt. Eben daher jene Fülle wissenschaftlicher Gestaltungen in Völkern und Zeitaltern, davon eingangs die Rede war. Die Wissenschaft eines Volkes ist Ausdruck und Teil seines Gesamtlebens und ist daher notwendig mit den Bedingungen und Grenzen, mit Weg und Sinn dieses Lebens verbunden. Sie ist eine unter diesen Weisen, in denen ein Volk durch seine führenden Männer seine schöpferischen Kräfte entfaltet und der Vollendung seiner Bahn in vorbildlicher Gestalt entgegenschreitet. […] Darum steht aber die Wissenschaft nicht auf einer allmenschlichen oder rein geistigen Grundlage für sich, sondern sie ist mit ihren Begriffen und Methoden gebunden an die Sprache, an den rassischen Charakter und an die anderen Naturbedingungen, unter denen ein Volk seinen Weg geht und seinen Sinn erfüllt. […] Die Humanitätsidee mit der darauf begründeten Lehre von der reinen Menschheitsvernunft und dem absoluten Geist ist zeitbedingtes Weltanschauungsprinzip des 18. Jahrhunderts und für uns, die wir unter anderen Lebensbedingungen und unter anderem Schicksal stehen, in keiner Weise verpflichtend. Die Existenz einer solchen überall gleichartigen und unveränderlichen Vernunft in der Menschheit ist nicht nachgewiesen, sondern sie wurde einfach vorausgesetzt. Wir kennen und anerkennen keine andere Menschheit als die geschichtlich aufeinander bezogenen Vielfalt der Volksgestalten. Wir setzen gegen die abstrakte, abgelöste, ideologische Menschheitsvernunft die Wirklichkeit der Volkscharaktere, mit denen auch Vernunft und Erkenntnisweise verknüpft sind. […] Es kann der exakte Nachweis erbracht werden, daß keine einzige Wissenschaft dem Mechanismus einer reinen Vernunft entsprungen ist, sondern daß alle Leistungen, im Gebiet der Naturwissenschaften nicht minder als der Geisteswissenschaften, in innerer Verbundenheit mit der rassischen Struktur und der geschichtlichen Aufgabe ihres völkischen Lebenskreises standen, dem sie entsprangen.«102

Krieck greift in seiner Rede erneut die Semantik der Einheit aus Volk und Wissenschaft auf und stellt sie auf ein neues Radikalitätsniveau. Die Vorstellung von nach ethnischer Zugehörigkeit zu unterscheidenden Wissenschaften schließt bereits aus, dass nationale Wissenschaften untereinander kompatibel sein könnten. Ein internationaler Austausch von Wissenschaftlern wäre z. B. in dieser Perspektive unsinnig. Dennoch ist diese Position noch vereinbar mit der Annahme von einer übergeordneten, die Nationen übergreifenden Funktion der Wissenschaft. Demgegenüber trägt Krieck eine Konzeption nationaler Wissenschaft vor, die selbst grundlegendste Kategorien der Wissenschaft wie Wahrheit oder Vernunft

102 Frank 1936a: 23–32.

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nach Nationen differenziert. Mit dem Volkscharakter sind nicht mehr nur bestimmte Forschungstraditionen und Denkstile verbunden, sondern die Vernunft selbst sei Bestandteil einer »rassischen Struktur« der Volksgemeinschaft. Die Vorstellung einer im Prinzip allen Menschen zuteilwerdenden Vernunft wird als »ideologisch« und als Ergebnis reiner Spekulation verurteilt. Demzufolge bildet die »deutsche Wissenschaft« nicht nur de facto eine nationale Einheit mit beträchtlichen Barrieren zum Ausland, auch die Möglichkeit der Überbrückung wird prinzipiell ausgeschlossen. Die nationale Wissenschaft wird damit letztlich aus dem System der Wissenschaft überhaupt herausgenommen und steht für sich. So wie die Idee der Nationalsozialisten von der Nation als politischer Gemeinschaft Personen jüdischer Religion ausschließt, tut dies auch ihre nationale Auffassung von Wissenschaft. Da gerade jüdische Wissenschaftler der Weimarer Zeit jedoch sichtbar und prominent vertreten sind, verwenden die Nationalsozialisten einen argumentativen Kunstgriff, um ihren Ausschluss aus der »deutschen Wissenschaft« semantisch konstruieren zu können. Walter Frank selbst führt dies in seiner Rede »Kämpfende Wissenschaft« vor. Er zitiert Maximilian Harden, der über die Rolle der Juden in der Wissenschaft Folgendes sagt: »Nehmen wir das literarische Gebiet. Ich weiß, daß die schöpferischen Leistungen nicht von den Juden ausgehen, sondern von den Germanen. Aber die Notwendigkeit des literarischen Judentums liegt in der Vermittlung und Ausbreitung geistiger Güter«.103

Walter Frank kommentiert: »In dem, was Harden da sagte, gab und gibt es manche bittere Wahrheit. Das literarische Judentum drang als Parasit in die Lücke, die zwischen der deutschen Fachgeistigkeit und dem öffentlichen Leben entstanden war. Aber das literarische Judentum war natürlich trotzdem dem Deutschtum nicht von ›Wert‹. Es vergiftete die Kanäle, die vom Geist zum Leben führen. Es tat das Werk, das nach dem Weltkrieg einmal eine schwedische Stimme so formulierte: ›Die Juden haben der deutschen Seele die Stimmbänder durchgeschnitten‹. Die Deutsche Fachwissenschaft, und mit ihr, als Ganzen gesehen, die deutsche Geschichtswissenschaft, hatten die lebendige Beziehung zum Kämpfen und Ringen ihrer Nation und ihrer Zeit verloren. So steuerte sie in die Krise.«104

103 Frank 1934: 23. 104 Frank 1934: 23f.

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Diese Konstruktion ermöglicht es, die allerorten sichtbare Rolle der Juden in der Wissenschaft in Deutschland einerseits und die Vorstellung einer deutschnationalen und daher »judenfreien« Wissenschaft andererseits nicht als Widerspruch zu sehen. Er wird aufgelöst durch eine Differenzierung in einen Bereich der Wissenschaft, der ausschließlich »deutsch« sei, und einen Bereich der Wissensvermittlung, dessen sich die Juden bemächtigt hätten. Dadurch kommt es zu einer veränderten Zuschreibung von wissenschaftlicher Leistung. Die Errungenschaften jüdischer Wissenschaftler werden auf nicht-jüdische, »deutsche« Wissenschaftler gewissermaßen »umgeschrieben«, so dass die Vorstellung einer »deutschen Geschichtswissenschaft« unter Ausschluss der Juden möglich wird. Die Unterscheidung zwischen »deutscher« Wissenschaft und »jüdischer« Vermittlungsfunktion gewinnt jedoch noch an Schärfe dadurch, dass die Beziehung zwischen den beiden Bereichen als feindlich charakterisiert wird. Anstatt der deutschen Wissenschaft und der jüdischen Wissensvermittlung sich ergänzende Funktionen zuzuschreiben, wie man Maximilian Harden vielleicht noch wohlwollend verstehen könnte, gibt man den angeblich für die Wissensvermittlung zuständigen Juden nun sogar die Schuld an der Krise der deutschen Geschichtswissenschaft, weil sie für die Entzweiung von Wissenschaft und Volk verantwortlich seien. Insgesamt lässt sich im Vergleich der nationalen Semantiken in der Geschichtswissenschaft aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus eine Kontinuität im Hinblick auf die Verwendung der semantischen Konstruktion der Einheit aus Ethnie und Wissenschaft konstatieren, auch wenn sie vor 1933 weit weniger häufig ist als die Vorstellung einer auf der Nationalkultur basierenden Geschichtswissenschaft. 105 Sie unterscheiden sich allerdings in zweierlei Hinsicht: Zum einen radikalisiert sich im Nationalsozialismus die Vorstellung der nationalen Geschlossenheit der Wissenschaft zu der Behauptung einer nations- oder rassengebundenen Vernunft, mit der – anders als noch zur Weimarer Zeit – die deutsche Geschichtswissenschaft semantisch gänzlich aus einem übergeordneten Wissenschaftssystem entfernt wird. Zum anderen verbindet sich nun expliziter als zuvor das national-ethnische Verständnis von Wissenschaft mit dem Ausschluss von jüdischen Wissenschaftlern, die als Träger »deutschen Geistes« nicht mehr in Frage kommen. Vergleicht man die Weimarer mit der nationalsozialistischen Geschichtsschreibung, ergibt sich noch ein weiterer gravierender Unterschied, der weniger in der Form der Semantik selbst als in ihrer Verbreitung innerhalb des Fachs liegt. Anders nämlich als die Beispiele aus der Weimarer Geschichtswissen-

105 Vgl. dazu Schönwälder 1992: 274.

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schaft können die zitierten Beispiele aus dem nationalsozialistischen Kontext kaum mehr repräsentativen Charakter für den Mainstream der Geschichtswissenschaft in Deutschland beanspruchen. Zwar sind die Ideologie und die Ziele des nationalsozialistischen Regimes in der Geschichtswissenschaft meist durchaus kompatibel und anschlussfähig, allerdings bleibt die Wirkung der nationalsozialistischen Geschichtsforschung, auch des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands, insgesamt eher gering.106 Die Geschichtswissenschaft wird von einem national-konservativen Milieu mit Affinität zum Nationalsozialismus dominiert, 107 jedoch existiert kein verbindliches nationalsozialistisches Geschichtsbild.108 Die Historiker sind offensichtlich nicht bereit, die mit der nationalsozialistischen Geschichtssauffassung verbundene Aufgabe wissenschaftlicher Standards en gros zuzulassen. Ausdruck für dieses ambivalente Verhältnis der universitären zur nationalsozialistischen Geschichtswissenschaft ist das Verhalten der zentralen Fachzeitschrift, der Historischen Zeitschrift, während der Zeit des NS-Regimes. Die Historische Zeitschrift entspricht zwar gewissen Erwartungen der Diktatur, indem sie ein Judenreferat einrichtet, Juden von der Mitarbeit ausschließt und einige propagandistische Artikel veröffentlicht, jedoch unterschreiten die allermeisten der in ihr abgedruckten Aufsätze, von einigen verbalen Zugeständnissen abgesehen, nicht Mindeststandards der Wissenschaftlichkeit.109 Dazu vergleichbar ist auch die Entwicklung in der Physik. Mit einem nationalen Vernunftverständnis radikalisiert die »Deutsche Physik« die Ethnisierung der Wissenschaft zum höchstmöglichen Ausmaß. Sie ist allerdings eine Erscheinung des Nationalsozialismus ohne Auswirkungen auf die weitere Geschichte des Fachs und wird lediglich von einem verhältnismäßig kleinen Kreis um Stark und Lenard betrieben.110 Die »Deutsche Physik« ist gewissermaßen ein letzter Ausläufer übersteigerter nationalistischer Semantik in der Disziplin, die die ohnehin fragwürdige Verknüpfung von Nation und Wissenschaft ad absurdum führt, während im Fach insgesamt offenbar wieder ein Umdenken zurück zum Konzept kosmopolitischer Wissenschaft stattfindet. Gerade bei den Physikern wird versucht, die nach dem Ersten Weltkrieg mühsam wieder aufgebaute inter-

106 Vgl. Schulze 1989: 31–45 u. Hömig 1979: 357. 107 Dies gilt besonders für die »Volksgeschichte«, eine Forschungsrichtung, die der Legitimation der nationalsozialistischen Gebietsansprüche dient. Vgl. Oberkrome 1993 u. Haar 2000. 108 Vgl. Schönwälder 1992: bes. 274ff. 109 Vgl. Wiggershaus-Müller 1998 u. Schieder 1959. 110 Schlicker 1983: 127.

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nationale Physikergemeinschaft zu bewahren und zu schützen. 111 Nach dem Zweiten Weltkrieg findet man daher in der Physik keine Beispiele einer nationalen Semantik mehr. 6.1.4 Die Denationalisierung der Wissenschaft Während nach dem Zweiten Weltkrieg ethnische und nationale Semantiken in der Physik relativ schnell verschwinden, schickt sich der Rückgang nationaler Semantik in der Geschichtswissenschaft vergleichsweise träge an. In der unmittelbaren Nachkriegszeit und den 1950er Jahren wird zunächst in abgeschwächter Form an die nationale Semantik des Diskurses über den »deutschen Geist« aus der Weimarer Zeit anknüpft. Deutlich wird das exemplarisch an Publikationen Gerhard Ritters und Klaus Dockhorns. Ritters Artikel »Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert« aus dem Jahre 1950 schließt unmittelbar wieder an den Diskurs über den »deutschen« und »westeuropäischen« Geist an mit den aus der Weimarer Zeit bekannten Formeln, etwa der »großen Abwehrbewegung des deutschen Geistes gegen den Rationalismus«.112 Detailliert beschreibt der Text die nationale Einheit der deutschen Geschichtswissenschaft, deren Eigenschaften im Einfluss Hegels und Rankes, in ihrer »Vorliebe für die außenpolitischen Geschehnisse«, ihrer konservativen Grundhaltung, ihrer Objektivität und in ihrem Historismus zu sehen seien. 113 »Die somit umschriebene Eigenart deutscher Historiographie«, schreibt Ritter – und deswegen handelt es sich um eine Selbstbeschreibung der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft –, »hat sich im wesentlichen bis heute behauptet.«114 Klaus Dockhorn veröffentlicht 1954 ein Buch mit dem Titel Deutscher Geist und angelsächsische Geistesgeschichte, das mit dem Bemühen um eine genauere Definition dessen, was bislang ohne genauere Exemplifikation unter dem Schlagwort »westeuropäischer Geist« subsumiert worden ist, ebenso unmittelbar an die Weimarer Forschungstradition anknüpft.115 Dass es bei dem Buch weniger um eine Kontextualisierung der nationalen Kategorisierungen der Geschichtswissenschaft vom Blickpunkt einer Ebene zweiter Ordnung als vielmehr um deren Ausbau und Spezifikation geht, wird bereits am Untertitel, Ein Versuch der

111 Vgl. Kleinert 1978: 524–525 u. Kleinert 1995: 16–17. 112 Ritter 1950: 81. 113 Ritter 1950: 81–84. 114 Ritter 1950: 84. 115 Dockhorn 1954.

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Deutung ihres Verhältnisses, deutlich. Die Realität des Gegensatzes nationaler Wissenschaften wird nicht an sich in Frage gestellt. Auch viel später noch finden sich in geschichtswissenschaftlichen Texten Stellen mit deutlicher nationaler Semantik, wie z. B. in einem von Theodor Schieder 1983 in der Historischen Zeitschrift veröffentlichten Aufsatz zur »Organisation und Organisationen der Geschichtswissenschaft«. Dort ist von geschichtswissenschaftlichen Leistungen und Antrieben, die von verschiedenen Nationen ausgehen, die Rede, vom Potential deutscher Geschichtswissenschaft oder von der »innerhalb der französischen Geschichtswissenschaft entwickelte[n] Idee einer histoire totale«.116 Allerdings konstatiert der Autor gleichzeitig ein »Zeitalter, in dem auch die Geschichtswissenschaft mehr und mehr übernationalen Charakter annimmt«.117 Für diese Diagnose spricht der gegenüber dem Diskurs über den »deutschen Geist« veränderte Charakter mancher geschichtswissenschaftlicher Forschungsarbeiten in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die sich wie viele Arbeiten aus der Weimarer Zeit mit der Geschichte der Geschichtswissenschaft beschäftigen. Dazu gehören z. B. Veröffentlichungen, die innerhalb eines insbesondere seit den 1980er Jahren aufkommenden international-komparativen Ansatzes die Geschichte der Geschichtswissenschaft erforschen.118 Die Einleitung zu einem von Christoph und Sebastian Conrad 2002 herausgegebenen Sammelband mit dem Titel Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich macht die veränderte Perspektive beispielhaft deutlich. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nationale Unterschiede in der Geschichtswissenschaft meist als empirische Tatsachen beschrieben werden, geht man zum Ende des Jahrhunderts dazu über, nationale Unterschiede in der Geschichtswissenschaft auch als Konsequenz einer Deutung von Geschichte zu untersuchen. Conrad und Conrad jedenfalls weisen für ihren internationalen Vergleich von Geschichtswissenschaften auf das Ausgangsproblem hin, dass man bei einem internationalen Vergleich der Geschichte »nicht auf Rohmaterial zur komparativen Verwendung, sondern zuallererst auf bereits gedeutete Geschichte, auf Geschichtsschreibung«, treffe.119 Das macht deutlich, dass man nun mit die-

116 Schieder 1983: 285. 117 Schieder 1983: 286. 118 Beispiele solcher international vergleichender Studien zur Geschichte der Geschichtswissenschaft sind: Timmermann (Hrsg.) 1987; Lönnroth (Hrsg.) 1994; Baczkowski/Madurowicz-UrbaĔska (Hrsg.) 1994; Berger et. al. (Hrsg.) 1999. Vgl. für eine Liste weiterer Untersuchungen Schöttler 2004: 53. 119 Conrad/Conrad 2002: 11.

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ser veränderten Perspektive nicht mehr nur Unterschiede zwischen verschiedenen nationalen Geschichtswissenschaften, sondern auch die Mechanismen ihrer Konstruktion in den Blick bekommen kann. Genau deshalb können solche geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zu nationalen Differenzen in der Geschichtswissenschaft, anders als viele aus der Weimarer Zeit, durchaus kompatibel mit einem kosmopolitischen Selbstverständnis ihrer selbst sein. Entsprechend handelt es sich jetzt auch explizit um Untersuchungen über die Vergangenheit der Geschichtswissenschaft, die nicht mehr um historische Erklärungen zeitgenössischer nationaler Unterschiede kreisen. Diese werden als Gegenstand von historischer und nicht mehr zeitgenössischer Bedeutung erforscht. Diese Vergangenheitsbezogenheit ermöglicht eine Differenzierung zwischen beschreibender und zu beschreibender Geschichtswissenschaft und damit möglicherweise ein verstärktes kosmopolitisches Selbstverständnis der beschreibenden Geschichtswissenschaft, die dabei dennoch nationale Kategorien als Mittel der Analyse verwenden kann. Jedenfalls fällt auf, dass Bekenntnisse zur Zugehörigkeit zu einer nationalen Geschichtswissenschaft oder eine Identifikation mit ihr in diesen Forschungsarbeiten weitgehend fehlen.

6.2 I NTERNATIONALER V ERGLEICH IN »S CIENCE FRANÇAISE «

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6.2.1 Die Erosion des kosmopolitischen Wissenschaftsideals Erste Nachweise von nationaler Semantik in der Wissenschaft lassen sich in Frankreich erst zum Ende des 18. Jahrhunderts erbringen. Forschungen über die französische Wissenschaft des 18. und Anfang 19. Jahrhunderts deuten darauf hin, dass ein nationales Verständnis von Wissenschaft bis etwa zur Zeit der Französischen Revolution entweder keine oder nur eine sehr geringe Ausbreitung hat. Die wissenschaftliche Gemeinschaft begreift sich vor allem als kosmopolitische Gelehrtenrepublik, in der Unterscheidungen nach nationalen Kategorien kaum eine Rolle spielen. »The sciences were never at war«, stellt etwa Gavin de Beer nach einer umfassenden Untersuchung der Briefkorrespondenzen von englischen und französischen Wissenschaftlern aus der Zeit zwischen 1689 und 1815 fest. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass in dieser Zeit die kosmopolitische Identität der Wissenschaft so gefestigt ist, dass selbst Kriege den Austausch zwischen Wissenschaftlern aus den Ländern der jeweiligen Kriegs-

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parteien nicht zu stören vermögen.120 Dass Briefe untersucht werden, ist angemessen, da diese Art des Austausches unter Wissenschaftlern eine der wichtigsten Formen, wenn nicht überhaupt die wichtigste Form der wissenschaftlichen Kommunikation der Zeit ist. Dabei kann man anhand der Briefe nicht nur feststellen, dass kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Ländern der korrespondierenden Wissenschaftler kaum einen Einfluss auf den kollegialen Austausch der Briefpartner haben. Es zeigt sich auch, dass die Briefe selbst frei sind von nationaler Semantik. Gavin de Beers Ansatz ist kritisiert worden. Kai Torsten Kanz macht darauf aufmerksam, dass de Beers Auswertung der Briefe nicht zu leichtfertig generalisiert werden dürfe, da nationalistische Anfeindungen typischerweise nicht in persönlichen Briefen, sondern eher in an ein breiteres Publikum gerichteten Fachpublikationen zu finden seien.121 Zwar ist das Argument einleuchtend, die Schlussfolgerung von Kanz jedoch, dass de Beers These allein deshalb zurückzuweisen sei, ist ohne weitere gegenteilige Belege nicht überzeugend. Solche Gegenbeispiele von nationalistischen Äußerungen aus wissenschaftlichen Fachpublikationen weist Kanz nämlich in Frankreich erst frühestens ab dem Jahr 1795 nach, und auch die Behauptung Hans-Werner Schütts, dass der Ursprung des wissenschaftlichen Nationalismus sogar bereits im Barock zu finden sei, bleibt ohne weitere Belege.122 1795 jedoch heißt es in einer anonymen Rezension zu den Forschungen Alexander von Humboldts über die Kryptogamen, bestimmte Moose und Farne, dass diese ein Beispiel von »deutscher Geduld« und »deutscher Gelehrsamkeit« seien.123 Zwar ist dies in der Tat eine nationale Beschreibung von Wissenschaft, allerdings scheinen diese Bemerkungen einen eher beiläufigen Charakter zu haben. Ziel der Rezension ist die sachliche Auseinandersetzung mit Humboldts Forschungen und nicht der Versuch, eine nationale Unterscheidung in die Wissenschaft einzuführen. Die These von Kanz, dass diese Beschreibung deutscher Wissenschaft als geduldig und gelehrsam in abwertendem Sinne zu verstehen sei, bleibt ohne weitere Erläuterungen fraglich. Wie nämlich noch zu zeigen sein wird, werden einige Jahrzehnte später in Frankreich genau diese Eigenschaften an der deutschen Wissenschaft geschätzt und bewundert. Richtig ist natürlich, dass insgesamt mit Beginn des 19. Jahrhunderts nationale Semantiken in der Wissenschaft immer deutlicher werden. Die Entstehung

120 Beer 1960. 121 Kanz 1997: 209. 122 Kanz 1997 u. Schütt 1974. 123 Zit. n. Kanz 1997: 203.

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nationaler Beschreibungen der Physik wird durch unterschiedliche Forschungstraditionen in Deutschland und Frankreich um die Wende zum 19. Jahrhundert begünstigt. Um 1800 nehmen französische Physiker wie Coulomb, Fresnel, Fourier, Biot, Savart oder Ampère eine führende Rolle in der »Physik der Imponderabilien« ein, die physikalische Phänomene in einer mechanistischen Sichtweise auf so genannte »Fluida« zurückführt. In Deutschland hingegen dominiert die »dynamische Lehrart« der Physik, bei der die verschiedenen physikalischen Phänomene als Ausprägung einer allgemeinen Naturkraft gedeutet werden. Dieser Unterschied wird in Frankreich als »neue deutsche Wissenschaft« wahrgenommen.124 Auch im engeren Feld der Mineralogie gibt es in Deutschland und Frankreich mit den Klassifikationssystemen der Naturforscher Abraham Gottlob Werner aus Freiburg und René Just Haüy aus Paris verschiedene Herangehensweisen, die in einer Fachdebatte um 1808/1809 als nationale Unterschiede in der Naturwissenschaft beschrieben werden.125 Richard Chenevix argumentiert 1808 in einem Artikel der Annales de chimie für das System des Franzosen Haüy und kritisiert scharf das Werner’sche System als freischwebende Kunst ohne jeden Halt in der Wissenschaft. Dabei macht Chenevix die von ihm identifizierten Probleme des Werner’schen Systems zu einem Ausdruck genereller Eigenschaften der deutschen Wissenschaft und damit die Systeme Werners und Haüys jeweils zu Stellvertretern von als national gedachten Wissenschaften. Denn das irrationale Durcheinander des Werner’schen Ansatzes erkläre sich dadurch, so Chenevix, »daß so ziemlich alle Deutschen notorische Spinner«126 seien. Noch deutlicher wird Francois d’Aubuisson de Voisins in seiner Replik zu Chenevix in den Annales de chimie des Jahres 1809. Obwohl er ein Schüler Werners ist und ihn zu verteidigen sucht, unterscheidet auch d’Aubuisson de Voisins wertend zwischen den nationalen Wissenschaften Deutschlands und Frankreichs. Die wissenschaftlichen Aufsätze deutscher Professoren hätten nämlich »ni cette clarté ni cette rapidité de diction qui caractérisent en général les ouvrages français«127. Mit der Bestimmung von wissenschaftlichen Publikationen anhand ihrer mit nationaler Zugehörigkeit verbundenen Eigenschaften führt d’Aubuisson de Voisins ein Kriterium für die Unterscheidung nationaler Wissenschaften ein. Der Eindruck, dass um die Wende zum 19. Jahrhundert das Ideal der kosmopolitischen Gelehrtenrepublik in Frankreich zu erodieren beginnt und in Span-

124 Kleinert 1988: 371–374. 125 Vgl. Schütt 1988. 126 Zit. n. Schütt 1974: 334. 127 Zit. n. Schütt 1974: 334.

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nung tritt mit ersten Äußerungen eines wissenschaftlichen Nationalismus, bestätigt auch Lorraine Daston in einer Untersuchung dieser Umbruchsphase.128 Als Ergebnis stellt sich heraus, dass bis zur Zeit Napoleons die Identität der wissenschaftlichen Gemeinschaft, wenn auch nicht ausnahmslos, so doch im Allgemeinen durch kosmopolitische Ideale gekennzeichnet ist. Der nun vereinzelt aufkommende wissenschaftliche Nationalismus ist auf zwei Entwicklungen zurückzuführen: erstens auf den in der Öffentlichkeit Verbreitung findenden politischen Nationalismus, der auch die Wissenschaftler erfasst; und zweitens auf Napoleons Wissenschaftspolitik, bei der Wissenschaftler gezielt für ihren Einsatz für das Vaterland honoriert werden. Um den wissenschaftlichen Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts auch empirisch zu verdeutlichen, verweist Daston ähnlich wie de Beer auf die Briefkorrespondenzen zwischen Wissenschaftlern Englands und Frankreichs während kriegerischer Auseinandersetzungen. Die Briefwechsel bezeugen die Solidarität der Wissenschaftler, die sie ungeachtet ihrer jeweiligen Herkunft füreinander aufbringen, z. B. wenn Wissenschaftler sich für ihre ausländischen, in Kriegsgefangenschaft geratenen Kollegen einsetzen. Dem stellt Daston kontrastierend die an die Regierung gerichteten Berichte zum wissenschaftlichen Fortschritt aus der Zeit Napoleons gegenüber. Ursprünglich als Bestandsaufnahme wissenschaftlicher Errungenschaften insgesamt gedacht, geht man in diesen Berichten nun immer mehr dazu über, möglicherweise motiviert durch das Interesse an einer verbesserten Akquisition von Ressourcen beim Staat, sich auf eine Berichterstattung nur über die Wissenschaft in Frankreich zu konzentrieren.129 6.2.2 Die Nationalisierung der Wissenschaft Anhand der von Daston untersuchten, von französischen Wissenschaftlern verfassten Berichte an die Regierung über den Zustand und Fortschritt der Wissenschaften lässt sich die Entstehung einer nationalen Semantik der französischen Wissenschaft studieren. Lorraine Daston interpretiert die zunehmende Fokussierung der Berichte auf die Wissenschaft Frankreichs, die er in der Zeit Napoleons registriert, bereits als ein Symptom der Entstehung eines nationalen Selbstverständnisses der französischen wissenschaftlichen Gemeinschaft. Die thematische Priorisierung von im nationalen Rahmen stattfindender Forschung allein erscheint jedoch unzureichend für die Etablierung einer nationalen Identität der

128 Daston 1990. 129 Dastons allgemeine These wird auch durch weitere Fallstudien unterstützt, s. z. B. Reich 1996.

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Wissenschaft. Im Sinne eines Verständnisses von »Nation« als Beobachtung der Unterscheidung zwischen einer inneren und einer äußeren Seite entsteht eine nationale Semantik erst mit dem Vergleich der durch das nationale Beobachtungsschema differenzierten Bereiche. Genau ein solcher Vergleich zwischen nationalen Wissenschaften scheint sich in systematischer Weise in Frankreich jedoch erst ab den 1840er Jahren in den angesprochenen Regierungsberichten zu etablieren. Während nationale Semantiken bislang am Rande wissenschaftlicher Auseinandersetzungen vorkommen und die Berichte Forschungen aus verschiedenen Ländern unkommentiert nebeneinandergestellt haben, werden nun Wissenschaften aus verschiedenen Nationen gezielt in ein Vergleichsverhältnis gebracht. Der Bericht des Jahres 1840 stellt z. B. heraus, dass die Entwicklung der Mechanik Englands derjenigen Frankreichs überlegen sei.130 Weiterhin heißt es: »Dans un moment où l’Angleterre, la Prusse, les états de l’Allemagne, la Russie, font les plus grands efforts pour donner à leur enseignement universitaire un luxe inaccoutumé, vous ne voudrez pas, M. le Ministre, que la Faculté des science demeure en arrière de ce noble mouvement de l’esprit humain.«131

Im Bericht des Jahres 1849 beschwert sich der Astronom Urbain Leverrier über die für die französische Astronomie zu konstatierenden Defizite in der materiellen Ausstattung. 1857 weist er darauf hin, dass es in Frankreich im Vergleich zu Deutschland an Astronomen fehle. 132 1864 stellt der französische Chemiker Adolphe Wurtz in einem weiteren Bericht einen Vergleich zwischen der deutschen und der französischen Chemie auf und macht auf die enormen Fortschritte der Disziplin in Deutschland aufmerksam, woraus er einen Handlungsbedarf für den französischen Minister ableitet: »Il s’agit là d’un intérêt de premier ordre, de l’avenir de la chimie en France. Cette science est française et Dieu ne plaise que notre pays s’y laisse devancer. Et le danger existe, car on peut affirmer que le mouvement scientifique, tel qu’il se manifeste par le nombre des découvertes et des publications utiles s’est prononcé davantage, dans ces dernières années, en Allemagne qu’en France. L’impulsion est partie de notre pays; mais elle s’est propagée avec une grande puissance au delà de nos frontières«133

130 Paul 1972: 5. 131 Zit. n. Paul 1972: 5. 132 Vgl. Paul 1972: 6. 133 Zit. n. Paul 1972: 8.

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Vielleicht tritt hier zum ersten Mal die Vorstellung einer Verknüpfung von Nation und einer ganzen wissenschaftlichen Disziplin auf. Jedenfalls wird deutlich eine nationale Grenze in der Chemie eingeführt, die es erlaubt, diese Disziplin innerhalb und außerhalb der nationalen Grenzen zu vergleichen. Im Ergebnis stellt Wurtz, wie auch viele andere der Berichterstatter seit 1840, einen Rückstand der französischen gegenüber der deutschen Wissenschaft heraus.134 Der Befund einer französischen Wissenschaft, die vor allem gegenüber ihrem deutschen Pendant im Rückstand hinterherhinkt, ist typisch auch für die folgenden Berichte vor allem in der Zeit der Dritten Republik.135 Zudem kann man jedoch ab etwa den 1870er Jahren beobachten, wie sich der systematische internationale Wissenschaftsvergleich über die an die wissenschaftspolitischen Instanzen gerichteten Berichte hinaus auch in wissenschaftlich einschlägigen Publikationen selbst immer weiter ausbreitet.136 Während in diesen Veröffentlichungen nationale Semantiken bisher offenbar allenfalls vereinzelt und im Zusammenhang mit eigenständigen und wissenschaftlich anderweitig relevanten Themen vorkommen, wird die nationale Unterscheidung nach Wissenschaften nun zunehmend selbst zu einem eigenständigen Thema. Adolphe Wurtz etwa beginnt 1868 seine wissenschaftliche Abhandlung zur Geschichte der Chemie mit der Wiederholung seiner bereits im Regierungsbericht von 1864 aufgestellten Behauptung, dass die Chemie eine französische Wissenschaft sei. Im Gegensatz zum Regierungsbericht von 1864 erregt die gleiche Behauptung nun, da sie als wissenschaftliche Veröffentlichung im System leichter zugänglich ist, großes Aufsehen in der Wissenschaftsgemeinschaft.137 Anlässe für die Verbreitung des Themas in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit scheinen das politisch-militärische Erstarken Deutschlands und vor allem die Bestürzung angesichts der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg zu sein. Die französischen Autoren und Intellektuellen sind vom deutschen Sieg schockiert, weil er für sie eindeutig vor Augen führt, dass das Zentrum der Wissenschaft endgültig von Frankreich nach Deutschland übergewechselt ist. Meist ist man sich einig in der Erkenntnis, dass die Qualität der deutschen Wissen-

134 Allerdings nicht alle. Vgl. Paul 1972: 9. 135 Paul 1972: 10. 136 Vgl. Paul 1972: 4. 137 Wurtz 1868: 1; Meinel 1983: 233. Dass sich die Chemie des 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts tatsächlich nach nationalen Stilen unterscheiden lasse, ist die These von Nye 1993. Ähnlich für die Mathematik Dhombres 1995.

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schaft kriegsrelevant sei.138 Dabei macht man offenbar keinen Unterschied zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften. Mit Blick auf die Schlacht bei Königgrätz 1866 hebt Ernest Renan bspw. die Rolle der Geisteswissenschaften hervor und wird damit später oft von anderen im Kontext der Debatte um die französische Kriegsniederlage zitiert: »[Ce] qui a vaincu à Sadowa, c’est la science germanique, c’est la vertu germanique, c’est le protestantisme, c’est la philosophie, c’est Luther, c’est Kant, c’est Fichte, c’est Hegel.«139

Und Léon Gautier schreibt mit Blick direkt auf die Rolle der Naturwissenschaften im Deutsch-Französischen Krieg: »Or, nous avions devant nous une nation qui fait scientifiquement la guerre; oui, qui la fait géographiquement, physiquement, chimiquement. Car le Prussien se bat de la même façon qu’il critique un texte, avec la même précision et la même méthode«.140

In der Folge richtet sich in systematischer Weise der Blick auf die Natur- wie auch auf die Geisteswissenschaften in Deutschland, durch den sich in Frankreich eine Selbstbeschreibungsfolie der Wissenschaft verstärkt, bei der nationale Grenzen eine entscheidende Rolle spielen.141 Fortan kommt es in vielen wissenschaftlichen Publikationen zu einem Vergleich zwischen französischer und deutscher Wissenschaft. Da damit der internationale Wissenschaftsvergleich vor allem für die französische Geschichtswissenschaft eine neue Qualität gewinnt, wird der Deutsch-Französische Krieg auch als Geburtsstunde des geschichtswissenschaftlichen Nationalismus in Frankreich bezeichnet. 142 Denn der zunächst noch im Ton der Bewunderung gegenüber den Leistungen der deutschen Wissenschaft angestellte Vergleich ebnet später den Weg für eine zunächst ambivalentere und schließlich national-chauvinistische Betrachtungsweise. 143 Da sich der internationale Wissenschaftsvergleich als Thema immer stärker ausbreitet, wird schließlich 1881 mit der Revue internationale de l’enseignement sogar eine

138 Vgl. Weisz 1977. 139 Renan 1868: 7 (Preface). 140 Gautier 1870. 141 Vgl. zur Rezeption der deutschen Geschichtswissenschaft in Frankreich ausführlich Carbonell 1976b: 494–582 u. Carbonell 1988. 142 Carbonell 1973. 143 Vgl. Weisz 1983: 55–89.

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eigene Zeitschrift gegründet, die sich thematisch ausschließlich dem internationalen Vergleich von Wissenschaft und Ausbildung in allen Disziplinen widmet.144 Die französischen Historiker beginnen etwa um 1870 damit, in ihren Fachveröffentlichungen die deutsche und die französische Geschichtswissenschaft systematisch zu vergleichen.145 Die Texte sind meist relativ ähnlich strukturiert. Den größeren Teil widmet man der oft besonders positiv beschriebenen deutschen Wissenschaft, der man in kürzeren Passagen die Eigenschaften der französischen Wissenschaft kritisierend und kontrastierend gegenüberstellt. Der deutschen Geschichtswissenschaft schreibt man Eigenschaften zu wie Ernsthaftigkeit, Gründlichkeit, Geduld, Präzision, Disziplin, bisweilen militärische Disziplin und ein systematisches, an den Naturwissenschaften orientiertes Vorgehen. Anders als in Frankreich, schreibt etwa Léon Gautier 1870, wo die Wissenschaft oft zu einer Art amüsanten Zeitvertreib verkommen sei, betreibe man in Deutschland die Wissenschaft mit gebührendem Ernst: »Mais on y travaille énergiquement; mais on y fait de la science solide; mais on y arrive à donner à toutes les sciences la précision des mathématiques. Le professeur est un bonhomme qui cause gravement avec ses élèves, et non pas un orateur qui verse sur eux des torrents de la lumière.«146

Um die wunderbare Ordnung zu beschreiben, mit der in Deutschland Wissenschaft betrieben werde, greift der angesehene französische Historiker Fustel de Coulange 1872 in einem Artikel mit dem programmatischen Titel »De la manière d’écrire l’histoire en France et en Allemagne depuis cinquante ans« auf einen Vergleich mit militärischer Disziplin zurück. Diese generalisiert Coulange dabei gleichermaßen zu einer Eigenschaft der deutschen Geschichtswissenschaft wie des deutschen Volkes schlechthin: »Ce peuple a dans l’érudition les mêmes qualités que dans la guerre. Il a la patience, la solidité, le nombre, il a surtout la discipline et le vrai patriotisme. Ses historiens forment une armée organisée. On y distingue les chefs et les soldats. On y sait obéir, on y sait être disciple. […] Avec de telles habitudes et de telles mœurs scientifique, on comprend la puissance de la science allemande.«147

144 Vgl. Digeon 1959: 371f. 145 Vgl. Digeon 1959: 373. 146 Gautier 1870: 506. 147 Coulange 1988: 386.

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Solchen oder ähnlich bewundernden Beschreibungen der deutschen Wissenschaft stellt man eine in einem zunächst noch eher kritischen Ton gehaltene Deskription der französischen Wissenschaft gegenüber. 1868 widmet sich Ernest Renan in einem Aufsatz mit dem Titel »Questions contemporaines« dem Problem der französischen Universitätsausbildung. Der Artikel analysiert anhand eines deutsch-französischen Vergleichs zwar in erster Linie Organisationsaspekte des Erziehungssystems, jedoch wird an einigen Stellen auch auf deren Zusammenhang mit einer jeweils nationalspezifischen Form des Denkens und der Wissenschaft Bezug genommen. In diesem Rahmen liefert Renan folgende Analyse zum spezifischen Zustand der französischen Geistes- und Geschichtswissenschaft: »Le mouvement scientifique en France a eu ainsi pour patron la royauté. Nous n’avons pas à rechercher si ce patronage fut toujours éclairé. Dans notre pensée, la royauté, par l’extermination du protestantisme, causa aux fortes études bien plus de dommage qu’elle ne leur fit de bien par faveurs. Le protestantisme français sous Henri IV et Louis XIII avait été une merveilleuse école de philologie et de critique historique. La France protestante était en train de faire dans la première moitié du XVIIe siècle ce que l’Allemagne protestante fit dans la seconde moitié du XVIIIe. Il en résultait pour tout le pays un admirable mouvement de discussion et de recherches. C’était le temps de Casaubon, des Scaliger, des Saumaise. La révocation de l’édit de Nantes brisa tout cela. Elle tua les études de critique historique en France. L’esprit littéraire étant seul encouragé, il en résulta une certaine frivolité. La Hollande et l’Allemagne, en partie grâce à nos exilés, eurent presque le monopole des études savantes. Il fut décidé dès lors que la France serait avant tout une nation de gens d’esprit, une nation écrivant bien, causant à merveille, mais inférieur pour la connaissance des choses, et exposée a toutes les étourderies que l’on n’évite qu’avec l’étendue de l’instruction et la maturité du jugement.«148

Diese Passage bezieht sich klar auf eine französische Geschichtswissenschaft und auf eine Art des Denkens. Ähnlich wie in Teilen der nationalen Semantik der deutschen Geschichtswissenschaft wird dem Protestantismus eine besondere Rolle für die Entwicklung einer Wissenschafts- und Diskussionskultur in der französischen Nation zugeschrieben. Allerdings bezieht sich diese positive Beschreibung auf eine recht weit zurückliegende Vergangenheit. Mit dem Èdit de Nantes Ende des 16. Jahrhunderts habe nämlich eine Veränderung eingesetzt, die die kritische Geschichtswissenschaft in Frankreich ausgemerzt habe und infolgedessen Frankreich vielleicht eine geistreiche und eloquente, aber bezogen auf

148 Renan 1868: 79–80.

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ihren Wissensstand eher ungebildete Nation geworden sei. Renan betrachtet die Geschichte der Wissenschaft als eine innerhalb eines nationalen Rahmens stattfindende geistige Entwicklung, die allerdings als Folge von bewussten Entscheidungen aufgefasst wird und insofern kontingent ist. Das muss betont werden, weil später solche Sichtweisen zugunsten einer Verknüpfung von Denken und Ethnie aufgegeben werden, die die Wissenschaft in ein starres Verhältnis mit der Nation setzt. Renans Betrachtung der französischen Geschichtswissenschaft ist eher kritisch gehalten. Die auf die Passage folgenden Seiten über die deutsche Geschichtswissenschaft gleichen jedoch einem Loblied. Diesen Vergleich fasst Renan schließlich so zusammen: »Pendant que la France, avec ces gens du monde et ses gens d’esprit, créait la philosophie du XVIIIe siècle, expression dernière d’un bon sens superficiel, sans méthode, sans possibilité de progrès, l’Allemagne, avec ses docteurs, créait l’histoire, non l’histoire anecdotique, amusante, déclamatoire ou spirituelle, dont la France avait fort bien eu le secret, mais l’histoire envisagée comme le parallèle de la géologie, l’histoire recherchant le passé de l’humanité, de même que la géologie recherche les transformations de la planète.«149

Durch den direkten Vergleich der deutschen mit der französischen Geschichtswissenschaft beobachtet sich die Geschichtswissenschaft als national differenziert. Diese nationale Differenzierung lässt sich an bestimmten Eigenschaften der jeweiligen Teile festmachen. Während sich die deutsche Geschichtswissenschaft durch ihre Analogie mit der Geologie und deren Forschungsmethoden positiv auszeichne, heißt es über die französische Geschichtswissenschaft fast etwas abfällig, sie sei anekdotenhaft, amüsant, deklamatorisch und spirituell, und über die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts heißt es sogar, sie sei oberflächlich, ohne Methode und ohne Möglichkeiten des wissenschaftlichen Fortschritts. Solche oder ähnliche semantische Konstruktionen, bei denen die Vorstellung spezifischer, national unterschiedlicher Geschichtswissenschaften mit einer Bewunderung für die deutsche und einer Kritik der französischen Geschichtswissenschaft verbunden wird, findet man bei verschiedenen Autoren. Bei Léon Gautier liest man über die französische Wissenschaftskultur bspw.: »Le plus dangereux, le Monstre que je redoute le plus, c’est la Rhétorique, c’est le beauparler qui est si à la mode au Collège de France, à la Sorbonne, dans toutes nos Facultés,

149 Renan 1868: 82.

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partout. Les cours supérieurs ne sont guère en France que des exhibitions d’éloquence. Le professeur tient à avoir son auditoire émaillé de dames: il se met à leur portée. Il est spirituel, il est verbeux, il est charmant. S’il n’a pas l’heure de posséder des dames, il s’adresse aux opinions politiques de la jeunesse qui l’écoute. Il vise à la finesse, à la malice, à l’esprit gaulois, et l’allusion, aux vêtements de gaze se tient sans cesse auprès de lui. C’est délicieux sans doute; mais, hélas ! cela ne sert à rien. On sort de là aussi ignorant que ravi.«150

Natürlich versäumt Gautier nicht, dieser Beschreibung das Kontrastbild einer florierenden und ernsthaften deutschen Wissenschaft folgen zu lassen.151 Auch Gaston Boissier schließt sich dieser allgemeinen Diagnose an und fragt in der gleichen Stoßrichtung nach den Konsequenzen für die Studenten in einer solchen Wissenschaftskultur: »Qu’en sortira-t-il? des hommes véritablement instruits?, des savants capables de faire avancer la science à leur tour? Il en sort des gens amusés«152. Die gleiche Argumentation findet man ebenso bei dem bekannten französischen Historiker Charles Seignobos. Auch sein Aufsatz »L’enseignement de l’histoire dans les Universités allemandes« von 1881 steht im Kontext der Reformbemühungen um die wissenschaftliche Ausbildung in Frankreich. Der Artikel liest sich weitgehend wie ein nüchterner Bericht über das zeitgenössische universitäre Ausbildungssystem für die Geschichtswissenschaft in Deutschland. Im kurzen Schlusskapitel zieht Seignobos allerdings aus seiner Analyse Schlussfolgerungen auf generelle Eigenschaften der deutschen Geschichtswissenschaft, wie den Einfluss der Philologie und das Streben nach der deutschen Einheit. Wie andere Autoren auch fordert er, dass man sich das deutsche Beispiel zum Vorbild nehmen solle. Denn: »Il a chassé la rhétorique de l’histoire, et appris à recourir aux documents originaux. La France a grand besoin de profiter de cet exemple«. Und der Aufsatz endet mit der Feststellung: »[N]ous avons beaucoup à envier à l’Allemagne.«153 Neben der oftmals kritisierten Dominanz der Rhetorik gibt es weiterhin die Vorstellung, dass sich die französische Geschichtswissenschaft von ihren ausländischen Pendants durch ihre Analogie mit den politischen Verhältnissen im Land unterscheide. Während man offenbar die Vorstellung hat, dass insbesondere in Deutschland die Geschichtswissenschaft relativ unabhängig von politischer

150 Gautier 1870: 505. 151 Vgl. Zitat oben. 152 Boissier 1868: 871. 153 Seignobos 1934: 108.

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Beeinflussung operiert, beklagt man in Frankreich eine zu starke politische Ideologisierung. Diese Kritik klingt bereits bei Léon Gautier an, wenn er den französischen Universitätsprofessoren unterstellt, sie versuchten, die Studentenschaft politisch zu beeinflussen.154 Ausführlicher beschreiben die einflussreichen Historiker Fustel de Coulange und Gabriel Monod politische Grabenkämpfe als ein Problem der französischen Geschichtswissenschaft. Bei Coulange heißt es: »Nos historiens, depuis cinquante ans, ont été des hommes de parti. Si sincères qu’ils fussent, si impartiaux qu’ils crussent être, ils obéissaient à l’une ou à l’autre des opinions politiques qui nous divisent. Ardents chercheurs, penseurs puissants, écrivains habiles, ils mettaient leur ardeur et leur talent au service d’une cause. Notre histoire ressemblait à nos assemblées législatives: on y distinguait une droite, une gauche, des centres. C’était un champ clos où les opinions luttaient. Ecrire l’histoire de France était une façon de travailler pour un parti et de combattre un adversaire. L’histoire est ainsi devenue chez nous une sorte de guerre civile en permanence. […] Aucun de deux ne s’apercevait qu’il ne réussissait qu’à frapper sur la France.«155

Und auch Gabriel Monod beklagt in der Revue historique: »Les plus éminents parmi nos historiens se sont tous laissé fortement influencer dans leurs théories, dans leurs appréciations et même dans leur critique des fait par les passions contemporaines.«156

Alle Passagen zeigen die Vorstellung von national zu unterscheidenden Denkund Wissenschaftssphären. Damit wird einerseits die Trennung nationaler Wissenschaften sehr deutlich gezogen. Andererseits zeigt sich, dass die Folgerung aus der Erkenntnis komplementärer nationaler Wissenschaften lautet, die verschiedenen Stärken zusammenzuführen. Renan schreibt bspw.:»[La] perfection serait de réunir les deux qualités, mais la perfection est rare, et les dons des nations sont presque toujours exclusifs«.157 Eine identische semantische Konstruktion findet sich bei Gaston Boissier. Auch er definiert einen spezifischen Geist der französischen Nation, der der Beschreibung bei Renan ziemlich genau gleicht, und auch er fordert wie Renan die Aneignung von Eigenschaften, die er der deutschen Wissenschaft zuschreibt:

154 Vgl. das Zitat oben. 155 Coulange 1988: 384–385. 156 Monod 1876: 30. 157 Renan 1868: 93.

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»Sans doute il ne faut pas renoncer à ces tendances littéraires qui semblent être le génie particulier de notre pays, à ce souci de la méthode et de l’ordre, à ce goût de la forme qui donne du prix au fond, qualités charmantes qui ont distingué de tout temps nos grands érudits; mais il n’est pas interdit de souhaiter que notre savoir, tout en restant aussi agréable, devienne un peu plus solide et précis.«158

Als Zwischenfazit kann festhalten werden, dass sich die ersten nationalen Semantiken in den französischen Naturwissenschaften um die Wende zum 19. Jahrhundert feststellen lassen. Ein Vergleich nationaler Wissenschaften findet zunächst vor allem im gesonderten Bereich der an die Regierung gerichteten Zustandsberichte über die französische Wissenschaft statt, während er in Fachpublikationen nicht systematisch und nur am Rande von Veröffentlichungen mit anderen Themen vorkommt. Eine Ausbreitung des Wissenschaftsvergleichs in der Fachliteratur lässt sich vor allem ab den 1870er Jahren beobachten. Der Vergleich nationaler Wissenschaften wird nun auch zu einem eigenständigen Thema ganzer Publikationen. So wird ein zunehmendes Bewusstsein von der nationalen Besonderheit der französischen Wissenschaft und ihrer Unterschiedlichkeit vor allem gegenüber der deutschen Wissenschaft geschaffen. Allerdings ist der Vergleich meist noch mit einer Kritik der eigenen und einer Bewunderung der fremden Wissenschaft verbunden. Der Grund dafür ist, dass man mit dem internationalen Wissenschaftsvergleich Reformen zur Verbesserung der Bedingungen für die eigene, nationale Wissenschaft durchsetzen möchte.159 Die Argumentation ist daher ambivalent. Zwar wird die deutsche Wissenschaft oftmals bewundert, jedoch geschieht dies im Rahmen der Rivalität beider Nationen und nicht selten wird die Behauptung aufgestellt, dass lediglich die durch die Politik zu verantwortenden, unzureichenden Forschungsbedingungen die französische Wissenschaft an der Entfaltung der ihr innewohnenden Überlegenheit gegenüber der deutschen Wissenschaft hindern würden.160 Ein solcher wissenschaftlicher Nationalismus im Sinne eines chauvinistischen Überlegenheitsanspruchs tritt gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker zutage.

158 Boissier 1868: 876. 159 Vgl. z. B. Renan 1871; Weisz 1977: 206. 160 Weisz 1977: 210 u. Weisz 1983: 63f.

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6.2.3 Die Ethnisierung der Wissenschaft »Nos victorieux adversaires […] s’amusent à classer les nations et les races, et ils s’attribuent le premier rang. […] Il faudrait les laisser parler et travailler silencieusement à les démentir. En fait, notre intelligence est pour le moins égale à la leur.«161

Dieser Satz aus einem Aufsatz von Marius Sepet aus dem Jahr 1874 kann gewissermaßen für die Einleitung des neuen Tons innerhalb des deutsch-französischen Wissenschaftsvergleichs stehen, bei dem der Ruf nach Übernahme deutscher Fähigkeiten zunächst dem Postulat der Gleichheit beider Wissenschaften, dann der Überlegenheit der französischen Wissenschaft und schließlich der Forderung nach dem Zurückdrängen des deutschen Einflusses und der Wiederbesinnung auf französische Werte weicht.162 Im Laufe dieser Entwicklung wird die nationale Semantik soweit radikalisiert, dass man sich – wie auch hier bei Sepet – ethnischer Kategorien bedient, um die Geschlossenheit der französischen Wissenschaft zu unterstreichen. Das Zitat von Marius Sepet kann dabei insofern für den Beginn dieser Phase stehen, als dass es die gängigen Argumentationsmuster der wissenschaftlichen Inferiorität Frankreichs nicht direkt umstülpt, sondern zunächst noch die Möglichkeit einräumt, dass Deutsche und Franzosen »gleich intelligent« sind. Es scheint nun allerdings zunehmend eine Option zu sein, eine französische Überlegenheit zu postulieren. Nach und nach vertreten Autoren diese oder ähnliche Sichtweisen. Der Eröffnungsartikel des ersten Bands der Revue historique von Gabriel Monod über die Fortschritte der französischen Geschichtswissenschaft aus dem Jahr 1876 besteht wie üblich bei diesem Thema aus einem Vergleich der französischen mit der deutschen Geschichtswissenschaft. Anders jedoch als ähnliche Artikel seiner Kollegen vom Ende der 1860er und Anfang der 1870er Jahre urteilt Monod differenzierter und ausgewogener. Vergleichbar ist das Lob für die deutsche Geschichtswissenschaft, das Monod mit dem üblichen Ton der Bewunderung vorträgt. Deutschland verdanke seine wissenschaftliche Überlegenheit, die sich vor allem quantitativ im Umfang deutscher Beiträge zur Wissenschaft zeige, seinem nationalspezifischen »génie«, das wie gemacht sei für geduldige Forschung und Gelehrsamkeit. 163 In Bezug auf die französische Geschichtswissenschaft teilt er einerseits die bekannten Kritikpunkte, dass sie sich mit einer gewissen Unregelmäßigkeit entwickle. Verantwortlich dafür

161 Sepet 1874: 269. 162 Vgl. zu diesem Phasenwechsel Digeon 1959: 364–383 u. Krebs 1992. 163 Vgl. Monod 1876: 27.

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macht er Defizite beim Ausbildungssystem, der allgemeinen wissenschaftlichen Disziplin, der Methoden und der kollektiven Zusammenarbeit. 164 Andererseits jedoch macht Monod deutlicher als das meist zuvor geschehen ist auch auf die nationalen Stärken aufmerksam, die er vor allem in einer Art emphatischem Geschichtsverständnis der französischen Historiker festmacht und klar gegenüber den Eigenschaften der deutschen Geschichtswissenschaft abgrenzt: »C’est aux historiens français qu’appartient surtout la gloire d’avoir mis de la vie dans l’histoire, d’y avoir cherché l’homme au lieu des faits, et d’avoir crée une agitation intellectuelle féconde par la quantité de points de vue nouveaux, d’idée générales, prématurées, mais presque toujours ingénieuse et intéressantes, qu’ils ont répandues dans leurs écrits. Leur influence a été immense et les Allemands, dont la méthode a été l’opposé de la leur, sont les premiers à la reconnaître.«165

Eine ganz ähnliche Form der Argumentation findet sich in einem Artikel von Albert Dumont über einen Vergleich deutscher und französischer Gelehrsamkeit, der sich auf keine einzelne Disziplin beschränkt. Auch für Dumont schwindet offensichtlich die Notwendigkeit, durch die Betonung der Überlegenheit deutscher Wissenschaft reformerische Verbesserungen für Frankreich zu motivieren. Dem entspricht, dass man nun der Beschreibung der französischen Wissenschaft gegenüber der deutschen anteilig sehr viel mehr Platz einräumt. Dumont reduziert die Überlegenheit deutscher Wissenschaft rein auf ihre quantitative Größe. Sie bestünde allein in der Zahl der Gelehrten. Er betont: »Nous comparons non pas les talens, mais les moyens de recherches«.166 Und was die Talente betrifft, so wechseln die Wissenschaften Deutschlands und Frankreichs nun die Rollen: »Les Allemands s’étonnent que nous puissions avec facilité exposer une question, montrer nettement le pour est le contre et conclure. Si nous faisions des manuels érudits, ils reconnaissent que nous les ferions mieux qu’eux.«167

Dementsprechend ergeben sich zwei wichtige semantische Veränderungen. Zum einen charakterisiert Dumont zwar nach wie vor die französische Wissenschaft als einen Hort der rhetorischen Geschicklichkeit. Anders als oft zuvor wird dies jedoch von Dumont nun positiv beurteilt. Dumont macht dies am Beispiel des

164 Vgl. Monod 1876: 29. 165 Monod 1876: 31. 166 Dumont 1874: 772. 167 Dumont 1874: 770.

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Umgangs mit alten Sprachen deutlich. Unter weitgehender Ignoranz stilistischer Besonderheiten reduziere man in Deutschland das Studium der Sprachen auf deren bloße Beherrschung. In Frankreich hingegen wisse man auch die ästhetischen Aspekte der Sprache zu würdigen. Daraus folgen ein besonderer Charme und eine besondere moralische Stärke, die man in Deutschland vergebens suche, sowie im Vergleich zu Deutschland nun nicht mehr unterlegene, sondern geistreichere Studenten. 168 Zum anderen ergeben sich mit dieser Aufwertung des französischen Wissenschaftsstils der Ruf nach der Wahrung des französischen Geistes in der Wissenschaft und die Ablehnung der Übernahme deutscher Qualitäten: »La France n’aura jamais exactement les procédés de travail de l’Allemagne. Si elle voulait y prétendre, elle méconnaîtrait le génie qui lui est propre, et n’arriverait qu’à une médiocre imitation. […] Nous ne perdons pas cette facilité, qui est une des conditions de la souplesse et de la force de notre caractère, ce vif esprit qui, dans ses plus libres caprices, résume une philosophie profonde. Nous lutterons en vain; ce qui est humain dans la science, les hautes idées qui l’animent et parfois de la grâce, les enthousiasmes pour les beautés morales et pour les systèmes, nous trouverons toujours sensible. Ces passions ont été de tout temps une des grandes raisons de notre activité scientifique; on ne saurait y toucher sans craindre de compromettre le principe même de notre énergie intellectuelle.«169

Auffallend ist, dass im Kontext dieser neu aufkommenden Forderung nach einer Wiederbesinnung auf die Werte der französischen Wissenschaft deren Beschreibung als eine national spezifische Form des wissenschaftlichen Denkens und Handelns gewissermaßen eine neue Akzentuierung erfährt. Die Vorstellung eines national geschlossenen Wissenschaftsraums in Frankreich erhält insofern eine Zuspitzung, als dass man nun öfter auf die Ewigkeit abstellt, mit der die französische Wissenschaft über gewisse Eigenschaften verfügt hat und verfügen wird. Dumont streicht z. B. heraus, dass die für die französische Wissenschaft typischen Leidenschaften schon immer bestanden hätten (»de tout temps«) und dass man für sie für immer empfänglich bleiben würde (»nous trouverons toujours sensible«). Damit versieht man die jeweiligen nationalen Wissenschaftskulturen mit einer Stabilität und Kontinuität, die die Vorstellung einer möglichen Überwindung nationaler Schranken oder der Kombination spezifi-

168 Dumont 1874: 775, 778. 169 Dumont 1874: 779.

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scher Eigenschaften nationaler Wissenschaften, wie sie zuvor noch gefordert worden sind, tendenziell erschwert. In die gleiche Richtung wie Dumont argumentiert Ferdinand Brunetière 1879 in einem Artikel über die zeitgenössische französische Geistes- und Literaturwissenschaft. Überblicksartig untersucht Brunetière darin, an welchen Stellen eine Beeinflussung deutscher Wissenschaftskultur in Frankreich zu konstatieren ist. Im Schlussplädoyer fordert Brunetière ähnlich wie Dumont eine Rückbesinnung auf die französischen Qualitäten in der Wissenschaft und gebraucht dabei auch die Ewigkeitssemantik: »Ici, comme ailleurs, je ne sais quel vent d’imitation a soufflé sur l’esprit français et l’a dirigé dans des voies qui jamais n’avaient été les siennes. On a publiquement abjuré, avec un pédantisme solennel, ce vif sentiment de l’art, de la proportion, de la mesure qui jadis caractérisait le génie national. Encore quelque temps, et pour quelques éloges venus d’outre-Rhin, on aura sacrifié le meilleur de l’héritage que nous avaient légué nos pères […] Mais si nous avons ce glorieux héritage à cœur, si nous ne voulons pas le laisser dépérir, si nous considérons enfin comme un devoir de probité intellectuelle de le transmettre à notre tour tel que nous l’avons reçu, revenons à nos traditions, ne nous flattons pas d’acquérir ces qualités qui caractérisent l’esprit allemand, à pareil jeu nous ne pourrions que perdre les nôtres«.170

Man geht mehr und mehr dazu über, die besonderen Qualitäten und Verdienste der französischen Wissenschaft herauszustellen und die Stärken der deutschen Wissenschaft auf eine rein zahlenmäßige Überlegenheit zu reduzieren. Ein weiteres Beispiel für diese Art von Argumentation findet sich in einem Aufsatz von Darmesteter über die Forschungen zur modernen Geschichte des Orients. Die zentrale Frage des Artikels richtet sich darauf, welche Nation wie viel zu den Forschungen beigetragen hat, und wie üblich ist dabei Deutschland besonders im Fokus. Wie Monod oder Dumont konstatiert Darmesteter die quantitative Überlegenheit der deutschen Wissenschaft und wie diese stellt er dem die besondere Qualität der französischen Arbeiten gegenüber. Dabei hebt er jedoch nicht in erster Linie auf die Affinität zur Kunst und zum sprachlichen Ausdruck ab, sondern führt mit dem Fokus auf wissenschaftliche Leistungen und Erkenntnisse einen neuen und entscheidenden Aspekt der Beurteilung wissenschaftlicher Qualität ein. Wenn Darmesteter also behauptet, dass die französische Wissenschaft der deutschen nicht nur in stilistischen Fragen, sondern auch in Fragen wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit überlegen sei, deutet das auf eine weitere

170 Brunetière 1879: 649.

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Akzentuierung des wissenschaftlichen Nationalismus in Frankreich im Laufe der 1880er Jahre hin. Die Superiorität deutscher Wissenschaft wird auf ein quantitatives Maß reduziert: »Cependant, malgré cette supériorité évidente et incontestée de l’Allemagne, si nous avons la curiosité de nous demander d’où sont venues les découvertes décisives qui ont constitué l’orientalisme moderne, et quelles sont les mains qui ont fourni à la science la matière nouvelle sur laquelle elle opère à présent, ce sont presque partout des noms français que nous trouvons à l’origine.«171

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzt also offenbar eine Entwicklung ein, bei der die geradezu uneingeschränkte Bewunderung für die deutsche Wissenschaft einer zunehmenden Skepsis weicht. Dies lässt sich nicht nur für die Geisteswissenschaften, sondern gleichermaßen für die Naturwissenschaften aufzeigen. Bei den Diskussionen, die an der Sorbonne anlässlich einer Neubesetzung des Lehrstuhls für mathematische Physik 1882 und für physikalische Chemie 1898 aufkommen, spielt die Frage, in welcher Weise bestimmte nationale Beeinflussungen der Kandidaten deren Qualifikation für die Stelle bestimmen, eine entscheidende Rolle. Vorschläge, Bewerber zu bevorzugen, die einen Teil ihrer Ausbildung in Deutschland absolviert haben, werden mit dem Argument abgelehnt, dass gerade deutsches Denken obskur und vage sei und die Gefahr bestehe, dass in Deutschland ausgebildete Wissenschaftler die deutsche Art der Wissenschaft in Frankreich verbreiten könnten.172 Mit dem Buch Les origines mystiques de la science allemande versucht René Lote 1913 die Skepsis gegenüber der deutschen Naturwissenschaft wissenschaftlich zu begründen. Das Buch betrachtet nationale Wissenschaften als abgeschlossene Bereiche, deren Entwicklung über lange Zeit allein durch ihnen innewohnende Faktoren erklärt werden könne. Nach ausführlichen Analysen naturwissenschaftlicher Disziplinen, vor allem der Chemie und der Biologie, lautet die Diagnose, dass die deutsche Wissenschaft durch ihren Ursprung im Mystizismus gekennzeichnet sei. Deutlich wird dabei der zunehmende Chauvinismus in der nationalen Semantik: »Le mysticisme a envahi la vie intellectuelle de l’Allemagne, au point qu’en ce pays toute théorie nouvelle, surtout dans les sciences de la nature, n’a guerre été, depuis le XVIIIe siècle, qu’un recommencement des anciennes erreurs. […] Un esprit attardé à des égare-

171 Darmesteter 1883: 4. 172 Vgl. Paul 1972: 12–14.

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ments d’un autre âge, mais néanmoins exposé par le voisinage immédiat des peuples en progrès, à des afflux soudain de connaissance, a senti renaître, dans le trouble d’un savoir nouveau, le mysticisme d’autrefois.«173

Die Vorstellung von durch Völkern vertretenen, einander benachbarten und damit nationalen Wissenschaften wird hier besonders deutlich. Zudem wird nicht nur ein anderer Stil der deutschen Wissenschaft kritisiert, sondern überhaupt ihre Wissenschaftlichkeit in Frage gestellt. Diese zunehmende Skepsis gegenüber der deutschen Wissenschaft registriert Jacques Morland bereits 1903 und nimmt dies zum Anlass, eine umfassende Studie über den deutschen Einfluss in der französischen Wissenschaft und Kultur durchzuführen. Die Untersuchung geht dabei von der Prämisse aus, dass Nationen in ihrer Abgeschlossenheit und in ihren Austauschprozessen untereinander Individuen gleichen: »Les peuples, comme les hommes, échangent des idées. Et de même qu’un homme interprète et déforme, selon son tempérament propre, la pensée d’autrui, un peuple choisit, si l’on peut dire, et s’assimile une partie des idées que lui offrent les autres peuple.«174

Zudem liegt ihr die Annahme zugrunde, dass der deutsche Einfluss auf die französische Nation unter anderem im Bereich der Wissenschaft mehr und mehr abnähme.175 Jacques Morland schreibt zahlreiche französische Wissenschaftler an und bittet sie darin, auf folgende Frage schriftlich zu antworten: »Que pensezvous de l’influence allemande au point de vue générale intellectuel?« Alle Antwortbriefe werden nach Bereichen geordnet schließlich in der veröffentlichten Studie abgedruckt. Es finden sich Reaktionen von Vertretern der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Bei den Antworten ergibt sich ein gemischtes Bild. Zunächst fällt auf, dass fast niemand die Frage an sich oder die Prämisse der Studie kritisiert. Anmerkungen wie die von Max Nordau, dass eine intellektuelle Beeinflussung immer nur von Individuen und nicht von Nationen ausgehen könne, bilden die absolute Ausnahme.176 Ansonsten nehmen alle die Frage ernst und versuchen begründete Antworten zu liefern. Wie sehr sich seit den 1870er Jahren das Meinungsbild über die deutsche Wissenschaft gewandelt hat, erkennt man daran, dass die al-

173 Lote 1913: 232–233. 174 Morland 1903: 7. 175 Vgl. Morland 1903: 12. 176 Vgl. Morland 1903: 99-100. S. auch das Statement von Pozzi 166–167.

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lermeisten der befragten Wissenschaftler entweder das Gewicht der deutschen Wissenschaft auf null schätzen oder wenigstens eine deutliche Abnahme konstatieren. Ein geringerer, aber doch erkennbarer Anteil diagnostiziert nach wie vor einen Einfluss der deutschen auf die französische Wissenschaft und begrüßt dies teilweise ausdrücklich. Obwohl also der germanophile Anteil unter den französischen Wissenschaftlern mittlerweile offenbar der weitaus geringere ist, ist die Sorge um den Verlust der nationalen Identität der französischen Wissenschaft teilweise enorm und die Stimme des Lagers der national-konservativen Bewahrer der als französisch deklarierten Wissenschaftskultur wird zunehmend lauter. Dies wird deutlich unter anderem an der Debatte um die »Nouvelle Sorbonne«, die in der Zeit von 1910 bis 1914 wesentlich durch eine Kampagne eines unter dem Pseudonym »Agathon« operierenden Autorenpaars eingeleitet wird. 177 Agathon veröffentlicht 1911 unter dem vielsagenden Titel L’esprit de la Nouvelle Sorbonne. La crise de la culture classique. La crise du français eine in Buchlänge verfasste Anklageschrift gegen den Zeitgeist der französischen Wissenschaft. Dieser rangiert dabei unter dem im Buch ausführlich veranschaulichten Terminus »Nouvelle Sorbonne«. Gemeint ist damit vor allem der mit dem deutschen Wissenschaftsstil assoziierte Positivismus, die Spezialisierung und Systematisierung der Forschung. Der Gegenbegriff »culture classique« bezeichnet die Eigenschaften der französischen Wissenschaft wie Einfühlungsvermögen und rhetorische Brillanz. Bei diesem Gegensatz handelt es sich keineswegs nur um eine rein innerfranzösische Auseinandersetzung. Die Begriffe »Nouvelle Sorbonne« und »culture classique« meinen jeweils gegensätzliche nationale Wissenschaftskulturen und insofern ist der »Kampf« gegen die »Nouvelle Sorbonne« gewissermaßen eine Auseinandersetzung zwischen als national gedachten Wissenschaftskulturen. Dies zeigt sich im Buch an mehreren Stellen: »[S]’il est une culture opposée à la notre et que nous ne puissions imiter sans forcer et fausser nos qualités naturelles, c’est sans doute la culture germanique.« 178 Folgerichtig diagnostizieren die Autoren eine Bedrohung der französischen Wissenschaftskultur und fordern deren Bewahrung. Als Argument wird dafür nun auch erstmalig eine rassistische Anschauung ins Feld geführt, die die Semantik der Schließung französischer Wissenschaft auf eine neue Ebene hebt: »S’agit-il simplement des choses de l’école?«, wird gefragt, um sogleich die bemerkenswerte Antwort zu liefen:

177 Vgl. dazu ausführlich Bompaire-Evesque 1988; Ungern-Sternberg 1997: 52. 178 Agathon 1911: 174.

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»Non pas. Une telle réforme, raisonnée, réfléchie n’intéresse rien moins que l’avenir des qualités essentielles de notre race«.179 Bei der Debatte um die »Nouvelle Sorbonne« geht es also nicht nur um die Frage, welche der verschiedenen nationalen Formen der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Ausbildung im Hinblick auf die Erreichung bestimmter Ziele die bessere ist, sondern auch schlichtweg um die Erhaltung der »französischen Rasse«. Die Semantik des Buches verknüpft bestimmte Eigenschaften der französischen Wissenschaft mit Vorstellungen von einer französischen Ethnie. Die Übernahme von Charakteristika »ausländischer« Wissenschaften würde somit für Angehörige der französischen Ethnie entweder nicht möglich sein oder diese selbst bedrohen. Interessanterweise scheren auch die Argumente der gegnerischen Seite und der Befürworter des neuen Wissenschaftsstils nicht aus den Begrifflichkeiten der nationalen Kategorisierung aus. In einem öffentlichen Antwortbrief auf Agathons Buch beschwichtigt Ernest Lavisse z. B. lediglich, dass die Behauptung einer »crise du français« übertrieben sei, gesteht jedoch ein, dass wesentliche Eigenschaften der französischen Wissenschaft, wie das Bewusstsein für Komposition und Form, bei einer Großzahl mehr und mehr verloren gegangen sei.180 Natürlich wird nicht nur in Agathons Buch eine scharfe Trennung nationaler Wissenschaften vermittelt und eine Rückkehr zu einer rein französischen Wissenschaft gefordert. Vergleichbar ist ein Buch von Joseph Lefort, das 1918 unter dem Titel La science et les savants allemands erscheint und entgegen der Befunde von Jacques Morlands Studie eine »véritable épidémie de philogermanisme« in Frankreich diagnostiziert: »[A] la science française claire, positive, originale, on était porté, dans biens des mileux, à préférer la science allemande, lourde, confuse, incapable d’envolée, dépourvue de l’esprit d’innovation«.181

Nach einer 200-seitigen Analyse mündet das Buch in einem Aufruf zur Rückkehr zur französischen Wissenschaft: »Il est essentiel qu’éclairés par la dure leçon de choses, nous nous débarrassions des brumes de la pensée germanique et de l’esprit systématique allemand qui tourne si souvent

179 Agathon 1911: 23. 180 Vgl. den bei Agathon 1911: 209 abgedruckten Brief. 181 Lefort 1918: 5–6.

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le dos au sens commun. […] La France doit conserver son génie propre, son caractère national.«182

Die nationalistische und teilweise rassistische Propaganda wird bei René Doumic in seinem Artikel »Le retour à la culture français« noch teilweise übertroffen. Zunächst wiederholt René Doumic die Diagnose einer vom deutschen Geist befallenen französischen Wissenschaft: »Sous le couvert de cette fallacieuse, ce qui s’introduisait chez nous c’étaient des procédés de travail qui ne sont pas de chez nous. Patience, méthode, application, lourdeur, nous les voyons aujourd’hui à l’œuvre, et nous savons de quel esprit elles sont le caractéristiques: ce n’est pas l’esprit français. Ingéniosité, initiative, création personnelle, voilà nos qualités distinctives. Nous les avons humiliées devant la manière allemande et nous étions en train de les sacrifier.«183

Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, baut René Doumic ein explizites Bedrohungsszenarium auf, für das er sich einer militärischen Sprache bedient: »Nous demandons aux chefs de notre enseignement qu’ils fassent reculer la culture allemande, comme les chefs de notre armée font reculer l’armée allemande.« 184 Hier wird besonders deutlich, dass das Verhältnis der nationalen Wissenschaft nicht mehr nur im Sinne eines Gegensatzes, sondern einer Feindschaft konzipiert wird, wodurch die Trennung nationaler Wissenschaften noch einmal verstärkt akzentuiert wird. Ähnlich wie Agathon rekurriert Doumic bei der Begründung für seine Forderungen auf eine »französische Rasse«. Durch die geforderte rückwärtsgewandte Reform soll der französische Geist bewahrt werden, weil dieser nur teilweise durch die Rassenzugehörigkeit reproduziert werden könne und deswegen auf die Formung und Bewahrung im Ausbildungssystem angewiesen sei. Damit steht für Doumic jedoch fest, dass der französische Geist in der Wissenschaft zumindest teilweise »un don de la race« ist.185 Allein gemessen an der quantitativen Zunahme der entsprechenden Literatur verzeichnen die Bemühungen um die Beschreibung einer nationalfranzösischen Wissenschaft in der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs

182 Lefort 1918: 197–198. 183 Doumic 1914: 326. 184 Doumic 1914: 327. 185 Doumic 1914: 327.

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einen enormen Bedeutungszuwachs. 186 Es werden mehrere umfassende Bände veröffentlicht, die die Leistungen einer als national-französisch gedachten Wissenschaft zur Schau stellen. Unter der Leitung von Lucien Poincaré erscheinen 1915 zwei Bände unter dem Titel La science française187 und 1916 veröffentlicht eine Gruppe von Herausgebern den Band Un demi-siècle de civilisation française.188 Die zusammengenommen beinahe 1 000 Seiten und 52 Kapitel zu den einzelnen Disziplinen bei der erstgenannten Veröffentlichung und die noch einmal knapp 470 Seiten bei der letztgenannten Publikation sind bis dahin vermutlich beispiellos. Die Darstellungen werden von teilweise renommierten Vertretern der jeweiligen Disziplinen verfasst. Die einzelnen Kapitel quellen über vor Lobpreisungen namhafter französischer Forscher und ihrer Werke. Semantisch lassen die Bände die Vorstellung erkennen, dass die gesamte Wissenschaft, nämlich alle besprochenen Fachrichtungen, sich nach nationalen Teilen unterscheiden ließen und insofern die spezifisch französische Wissenschaft vielfältige Disziplinen umfasse. In seinem Vorwort liefert Lucien Poincaré eine Zusammenschau aller Kapitel von La science française, die die Eigenschaften der französischen Wissenschaft über alle Disziplinen generalisiert. Man findet dort die bereits bekannten semantischen Konstruktionen wieder, die einerseits die Leistungen der französischen Wissenschaft und andererseits ihren besonderen Stil hervorheben. Poincaré stellt fest, dass die französische Wissenschaft, wenn sie in Ausnahmefällen nicht die entscheidenden Entdeckungen zum allgemeinen wissenschaftlichen Fortschritt geliefert habe, sie doch in jedes Gebiet, in das sie eintritt, Klarheit und Ordnung brächte. Ausführlich definiert Poincaré, was die französische Wissenschaft generell auszeichne. Seine Formulierungen sind voller Pathos und Bewunderung: »La Science français se pourrait comparer à ces monuments grecs, dont les lignes hardies et sûres excitent l’admiration par leur fermeté gracieuse et leur pureté élégante; rien d’inutile, rien de disproportionné, tout est simple, tout est intelligible, et les éléments don-

186 Dies gilt offensichtlich auch außerhalb Frankreichs. Zwischen 1904 und 1912 erscheint in England eine umfassende Bandreihe zur Charakterisierung nationaler Wissenschaften. John Theodore Merz definiert darin minutiös in einem eigenen Kapitel über 66 Seiten den »scientific spirit in France«. Gleiches macht er für die deutsche und englische Wissenschaft. Vgl. Merz 1976. 187 La science française 1933. 188 Baillaud et al. (Hrsg.) 1916.

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nent, par leur harmonieux assemblage, l’impression d’une chose solide et voisine de la perfection.«189

Neben solchen öffentlichkeitswirksamen, auf die Wissenschaft als Ganze bezogenen Schriften wie La science française gibt es natürlich noch eine Vielzahl an Publikationen, die das gleiche Programm im Hinblick auf einzelne Disziplinen oder Gruppen von Fachrichtungen verfolgen. In der Physik macht dies z. B. Pierre Duhem, der immerhin als der bedeutendste Physiker Frankreichs seiner Zeit gilt.190 1915 veröffentlicht er ein Buch mit dem Titel La science allemande, in dem er für verschiedene naturwissenschaftliche Disziplinen, aber auch für die Geschichtswissenschaft die Besonderheiten der deutschen vor allem gegenüber der französischen Wissenschaft herausarbeitet und in einem Schlusskapitel zu grundsätzlichen Unterschieden generalisiert.191 Die Quintessenz seiner Beobachtungen veröffentlicht der französische Physiker zudem in einem Zeitschriftenartikel mit dem Titel »Quelques réflexions sur la science allemande«.192 Sein Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen zwei »Geistesarten«, dem »esprit de finesse« und dem »esprit géométrique«. Der »esprit de finesse« zeichne sich durch Geschmeidigkeit und Kreativität aus, ihm entspringen die ursprünglichen Ideen der Wissenschaft durch Einfälle und die Fähigkeit, eine neue Perspektive auf gegebene Zusammenhänge einzunehmen. Der »esprit géométrique« habe hingegen einen mechanisch-deterministischen Charakter und zeichne sich durch logische Deduktion aus, bei der aus vorliegenden Prämissen die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen würden. Mit der These, dass die französische Wissenschaft sich durch den »esprit de finesse« und die deutsche Wissenschaft sich durch den »esprit géométrique« auszeichne, analysiert Duhem in seinem Artikel verschiedene wissenschaftliche Werke aus der Physik, der Mechanik und der Geometrie. Seine Schlussfolgerungen ergeben ein eindeutiges Bild, das die Ausgangsthese radikal zu unterscheidender nationaler Wissenschaften in Deutschland und Frankreich uneingeschränkt bestätigt:

189 La science française 1933: IX. S. auch die Zusammenfassung in der Rezension von Beaunier 1915. 190 Hanna 1996: 194. 191 Duhem 1915a. 192 Duhem 1915b.

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»L’une possède à l’excès ce dont l’autre est maigrement pourvue; ici, l’esprit géométrique réduit l’esprit de finesse jusqu’à l’étouffer; là l’esprit de finesse se passe trop volontiers de l’esprit géométrique.«193

Pierre Duhem belässt es allerdings nicht bei der bloßen Feststellung der Gegensätzlichkeit deutscher und französischer Naturwissenschaft, sondern er bringt sie in eine eindeutige Rangordnung, die den Chauvinismus seines wissenschaftlichen Nationalismus deutlich macht: »L’intuition découvre les vérités; la démonstration vient après, qui les assure. L’esprit géométrique donne corps à l’édifice que l’esprit de finesse a, tout d’abord, conçu; entre ces deux esprits, il y a une hiérarchie analogue à celle qui ordonne le maçon à l’égard de l’architecte; le maçon ne fait œuvre utile que s’il conforme son travail au plan de l’architecte; l’esprit géométrique ne poursuit pas de déductions fécondes, s’il ne les dirige vers le but que l’esprit de finesse a discerné.«194

Französische und deutsche Wissenschaft treten hier also in ein arbeitsteiliges Verhältnis, bei dem die deutsche Wissenschaft eine unterstützende Funktion gegenüber einer anführenden und visionären französischen Wissenschaft einnimmt. Das gewählte Bild des Verhältnisses zwischen Architekten und Maurer führt den wissenschaftlichen Nationalismus deutlich vor Augen.195 Eine solche nationalchauvinistische Unterscheidung, die Pierre Duhem vor allem bezogen auf die Naturwissenschaften vorträgt, liefert Louis Davillé für die Geschichtswissenschaft in einem 1917 veröffentlichten Artikel mit dem Titel »Le retour à la tradition française en histoire«.196 Der Text liefert ein beeindruckendes Beispiel einer sich über 40 Seiten hinziehenden minutiösen Bestimmung des Unterschieds zwischen französischer und deutscher Geschichtswissenschaft. Davillé bringt dabei gegenüber der französischen Wissenschaft im Allgemeinen und der französischen Geschichtswissenschaft im Besonderen, die er mit der französischen Rasse in Verbindung bringt, grenzenlose Bewunderung auf:

193 Duhem 1915b: 685. 194 Duhem 1915b: 686. 195 Duhems Kategorien werden auch von anderen Wissenschaftlern übernommen und angewendet. Vgl. etwa Maritains Interpretation der Einstein’schen Relativitätstheorie (Maritain 1923: 430). 196 Davillé 1917.

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»Elle convient merveilleusement au génie de notre race. A la logique, le Français allie volontiers la finesse et le désintéressement; son esprit est à la fois positif, idéaliste et altruiste: il est capable en même temps de sciences et de méthode, d’art et de goût, d’abnégation et d’apostolat; l’âme française est éprise non seulement de clarté, mais encore de beauté et de sacrifice: elle cherche sans doute à dégager la vérité, mais elle la veut digne d’être répandue, car elle songe toujours à la semer. Dans tous les travaux de l’intelligence, l’esprit français ne se contente ni de l’apparence ni du premier jet: il veut atteindre la réalité profonde et lui imposer une forme durable, il pense moins à soi qu’à autrui et à son intérêt immédiat qu’à l’utilité générale. L'historien n’y saurait faire exception«.197

Demgegenüber wird die deutsche Geschichtswissenschaft rigoros kritisiert: »L’histoire à l’allemande a mérité des reproches de plus en plus grave […] Ce sont: la spécialisation à outrance, […] la défaut presque complet d’horizon et de lumière, de réalité et de vie, d’originalité et d’esprit créateur, de goût et de sens artistique, l’absence croissante d’initiative et de personnalité, de liberté d’esprit et, par suite, de vraie critique; le dogmatisme qui érige en systèmes intangible des affirmations hasardées, le caporalisme qui donne aux résultats d’un maître allemand des prétentions d’infaillibilité et le mépris de l’étranger, en particulier du Français.«198

Natürlich muss man solche Texte in den Kontext des Ersten Weltkriegs einordnen, wo Wissenschaftler und Intellektuelle nach Möglichkeiten eines Kriegsbeitrags suchen und diesen in der Glorifizierung der eigenen und der Abwertung der »gegnerischen« Wissenschaft zu finden meinen.199 Die Herabsetzung deutscher Wissenschaft ist zuweilen auch das einzige Ziel für ganze Publikationen. So wie die Bände La science française die Leistungen und Überlegenheit der französischen Wissenschaft aufzuzeigen versuchen, nehmen sich andere Autoren entsprechend vor, die Unangemessenheit der Reputation deutscher Wissenschaft aufzudecken. Diesem Unterfangen widmet sich neben zahlreichen einzelnen Zeitschriftenartikeln ein weiterer Sammelband mit dem Titel Les allemands et la science.200 Auch diese Edition beeindruckt angesichts seines für den wissenschaftlichen Fortschritt eher irrelevanten Ziels durch einen enormen Umfang von knapp 400

197 Davillé 1917: 370–371. 198 Davillé 1917: 340. 199 Vgl. weiterhin zum Beispiel Giraud 1916 u. Giraud 1918. 200 Petit/Leudet (Hrsg.) 1916.

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Seiten. Ein Blick auf die Titel der dort versammelten, teilweise von renommierten französischen Wissenschaftlern verfassten Aufsätze gibt bereits einen repräsentativen Eindruck von der in den Texten enthaltenden Semantik. Die Artikel haben Überschriften wie »Du role restreint de l’Allemagne dans le progrès des sciences«, »Le bluff de la science allemande«, »La part médiocre des Germains dans la découverte scientifique« oder »L’histoire des sciences et les prétentions allemandes«. Am Beispiel dieses letztgenannten, auch in der Revue des deux mondes veröffentlichten Aufsatzes lässt sich zeigen, dass die Texte halten, was ihre Überschriften versprechen. Analog zum Aufbau von La science française streift Émile Picard Disziplinen wie Mechanik, die Physik, die Elektrizitätslehre und die Chemie. Unter Verwendung von Rassenbegriffen kommt er zu dem Ergebnis, dass die Beiträge der »race germanique« zur Wissenschaft weitaus geringer seien als viele vermuteten.201 Es lassen sich Aufsätze dieser Art mit identischen Argumentationen auch in weiteren französischen Periodika finden. Charles Nordmann stellt in einem Artikel von 1916, der an den Aufsatz von Émile Picard aus dem Sammelband anknüpft, die These auf, dass die Demonstration Picards in Richtung der Naturwissenschaften ebenso leicht für die Geistes- und Geschichtswissenschaften durchgeführt werden könne. Nordmann etabliert wie Duhem resumierend eine klare Rangordnung zwischen den Wissenschaften: »Si donc il y a une science allemande qui ait produit quelque chose d’utile, c’est parce qu’il y a eu d’abord une science française.«202 Das gleiche Ziel verfolgt Louis Liard in einem auch 1916 erschienen Aufsatz. In seinem Überblick der verschiedenen natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen stellt er ebenfalls die Leistungen der französischen Wissenschaft den Verfehlungen der deutschen Wissenschaft gegenüber, die er biologistisch als »virus« bezeichnet.203 Pierre Jean Achalme veröffentlicht im gleichen Jahr ein Buch mit dem Titel La science des civilisés et la science allemande. Den verschiedenen Aspekten vor allem der deutschen Naturwissenschaft wird in je einem Kapitel heftige Kritik zuteil. In Abgrenzung dazu wird auch die französische Wissenschaft charakterisiert. Der rassistische Charakter der Ausführung wird zum einen deutlich in Sätzen wie »Le génie créateur de notre race élargit notre horizon chaque jour.«204

201 Picard 1915: 63. 202 Nordmann 1916: 462. 203 Liard 1916: 48–73. 204 Achalme 1916: 114.

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Zum anderen tritt die Vorstellung eines rassistischen Fundaments der Wissenschaft hervor, wenn in einem eigenen Kapitel der Zusammenhang der Beschaffenheit deutscher Gehirne und deutscher Abstraktionsfähigkeit erörtert wird.205 Ein weiteres, besonders bemerkenswertes Beispiel einer Zurechtweisungsrhetorik gegenüber den deutschen Geisteswissenschaften ist Victor Bérards Buch Un mensonge de la science allemande.206 Das Ziel dieses knapp 300 Seiten umfassenden Werks besteht allein darin, den guten Ruf des bereits seit 1824 verstorbenen deutschen Altphilologen und Altertumswissenschaftlers Friedrich August Wolf in Frage zu stellen und zurechtzurücken, indem aufgedeckt werden soll, dass Wolfs zentrale Arbeit, Prolegomena zu Homer, lediglich ein Plagiat sei. Natürlich versäumt Bérard nicht, Geistesdiebstahl zu einer Eigenschaft deutscher Wissenschaft schlechthin zu generalisieren: »A peine l’esprit humain a-t-il fait une découverte ou formulé une théorie que l’Allemagne les enregistre, les catalogue et sait en tirer parti ou en faire étalage. Wolf n’aurait pas dupé l’admiration et le respect de tout en siècle sans cet étalage de solide et minutieuse érudition.«207

Während man bislang immerhin noch zugestanden hat, dass die deutsche Wissenschaft einen zahlenmäßigen Vorteil hat, geht man nun mehr und mehr zu einer Generalkritik über. Wie hoch die Erwartungen zu sein scheinen, dieser Art von Semantik zu entsprechen, zeigen manche missglückte Versuche, dagegen anzugehen. Der Biologe Charles Richet z. B. schickt seinem Beitrag zur wissenschaftlichen Kriegspropaganda zunächst ein Bekenntnis zum wissenschaftlichen Kosmopolitismus voraus, indem er verneint, dass man die Wissenschaft Nationen zuordnen könne, »car la vérité est indépendante des lieux et des temps.«208 Umso erstaunlicher ist es, dass er dieser Feststellung eine Aufrechnung wissenschaftlicher Leistungen Deutschlands und Frankreichs konform zur gängigen Semantik anschließt, indem er zunächst wichtige Wissenschaftler der beiden Länder in »Götter« und »Halb-Götter« aufteilt und nach einer Zählung zu dem Schluss kommt, dass Frankreich über zwei »Götter« und vier »Halb-Götter«, Deutschland hingegen jedoch nur über drei »Halb-Götter« verfüge.209 Diese ambivalente Argumentation macht deutlich, wie schwer es offenbar zumindest wäh-

205 Vgl. Achalme 1916: 138–143. 206 Bérard 1917. 207 Bérard 1917: 282. 208 Richet 1916: 347. 209 Vgl. Richet 1916: 353.

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rend der Zeit des Ersten Weltkriegs ist, die bestehenden Begriffskategorien konsequent in Frage zu stellen. Auch gemäßigte Wissenschaftler, die an den Universitäten in der Minderheit sind, können sich der nationalistischen Semantik nicht ganz entziehen.210 Festzuhalten ist, dass etwa ab den 1880er Jahren in Frankreich ein wissenschaftlicher Nationalismus entsteht, der aufbauend auf der Unterscheidung zwischen nationalen Wissenschaften eine Überlegenheit der französischen gegenüber vor allem der deutschen Wissenschaft proklamiert. Diese besteht neben der stilistischen Stärke der französischen Wissenschaft in ihren Leistungen, die durch die Menge der von ihr hervorgebrachten Entdeckungen unter Beweis gestellt werden soll. Demgegenüber wird die deutsche Wissenschaft rigoros kritisiert und in ihrer Bedeutung herabgesetzt. Durch diese Abwertung erfährt die vorgestellte, nationale Schließung der französischen Wissenschaft eine neue Stufe, denn ein gegenseitiger Austausch und eine gegenseitige Beeinflussung der Wissenschaften, wie noch vor 1870 vielerorts gefordert, kann in dieser Perspektive nur schaden. Im Zuge der Entstehung des wissenschaftlichen Nationalismus wird die Unterscheidung zwischen nationalen Wissenschaften auch insofern radikalisiert, als dass sie als ewig beschrieben und mit ethnischen Kategorien verknüpft werden. Gleichzeitig erfährt der internationale Wissenschaftsvergleich einen bemerkenswerten Bedeutungszuwachs auch in quantitativer Hinsicht. Die Menge und der Umfang der Publikationen zum Thema steigen stark an. 6.2.4 Die Denationalisierung der Wissenschaft Gegenüber der bisherigen Entwicklung insbesondere während der Jahre des Ersten Weltkriegs ändert sich nach 1918 die wissenschaftliche Semantik in Frankreich hin zu einer moderateren und differenzierteren Rhetorik.211 Es fällt sofort der vorsichtigere Ton auf, mit dem Louis Halphen 1923 in seinem Artikel »Les historiens français et la science historique allemande« die Unterschiede zwischen französischer und deutscher Geschichtswissenschaft beschreibt.212 Ähnlich wie noch im 19. Jahrhundert etwa bei Gabriel Monod gibt es nun wieder eine differenziertere Abwägung zwischen Vor- und Nachteilen. Mit Blick auf Deutschland gibt es offenbar wieder die Möglichkeit auch für positivere Bemerkungen:

210 Vgl. Schöttler 1999b: 299; Schöttler 1995: 206. 211 Vgl. Schöttler 1999b: 301. 212 Halphen 1923.

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»[L]’histoire y fait objet d’un enseignement suivi, approfondi, au moyen duquel des équipes de travailleurs se constituent, au moyen duquel aussi les méthodes des maîtres eux-mêmes s’affermissent.«213

Entsprechend scheint es ebenso wieder möglich zu sein, in Bezug auf das eigene Land kritischere Bemerkungen anzubringen. Denn Louis Halphen fährt fort: »Chez nous, au contraire, le seul enseignement prévu alors est l’enseignement brillant et oratoire que le professeur dispense de haut à un public curieux.«214

Solche Aussagen erinnern an die Schriften der französischen Universitätsreformer aus den 1870er Jahren, die ebenso die Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit der deutschen Geschichtswissenschaft als Stärke und die Orientierung der französischen Geschichtswissenschaft auf Rhetorik und Stil als Schwäche auslegen. Allerdings weist Halphen nach seinem Lob für die deutsche auch auf die Stärken der französischen Geschichtswissenschaft hin: »N’exagérons rien d’ailleurs: la France n’avait pas tout à apprendre et les Allemands ne pouvaient tout lui enseigner. S’agissait-il, en histoire du moyen âge, de faire la critique d’un document d’archives, de le dater avec précision, d’y distinguer le vrai du faux, les érudits français n’avaient pas attendu que la méthode inaugurée par Mabillon leur revînt d’outre-Rhin pour en retrouver l’emploi.«215

Es ist interessant, dass für Louis Halphen offensichtlich Anlass besteht, herauszustellen, dass man in Frankreich nicht alles von Deutschland gelernt habe. Damit impliziert er, dass die Geschichtswissenshaft in Frankreich von derjenigen in Deutschland lernt und gelernt habe – eine Aussage, die einige Jahre zuvor wohl noch kaum hätte gemacht werden können. Neben solchen Anzeichen für eine Abschwächung des Antagonismus zwischen den nationalen Wissenschaften scheint auch insgesamt die Bedeutung des internationalen Wissenschaftsvergleichs nachzulassen. Es gibt nun wesentlich weniger Publikationen zum Thema und auch Halphens Artikel ist mit seinen 7 Seiten im Vergleich zu manchen inhaltlich vergleichbaren Publikationen aus den Kriegsjahren äußerst kurz. Diese Situation scheint sich offensichtlich auch nicht in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs zu ändern. Von 1935 bis 1944 erscheint in der Revue des

213 Halphen 1923: 336. 214 Halphen 1923: 336. 215 Halphen 1923: 337.

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deux mondes, die noch während des Ersten Weltkriegs sehr viele Artikel zum internationalen Wissenschaftsvergleich veröffentlicht, kein einziger vergleichbarer Artikel – ein Trend, der sich nach Wiedererscheinen der Zeitschrift 1948 fortsetzt. In dieses Bild passt, dass Louis Reynaud in seiner Monographie über das intellektuelle deutsch-französische Verhältnis aus dem Jahr 1930 einen vergleichsweise nüchternen Ton anschlägt. 216 Im Kapitel, dass sich mit Wissenschaft im engeren Sinne befasst und den deutschen Einfluss bemessen möchte, findet man anstelle pauschalisierender Charakterisierungen nationaler Wissenschaften eher konkrete Fallanalysen, z. B. über die Rezeption Kants in Frankreich. Wenn Reynaud von der »science allemande« spricht, setzt er diesen Begriff in Anführungszeichen und distanziert sich damit von unreflektierten nationalen Kategorisierungen.217 Zwar hält er diesen Stil nicht konsequent durch und spricht an anderer Stelle ohne Anführungszeichen von »idées allemandes«218 und auch vom »pensée française« 219 oder vom »génie française«220 , jedoch ist die nationale Semantik insgesamt im Vergleich zu Publikationen der gleichen Textgattung aus den Jahren des Ersten Weltkriegs deutlich abgeschwächt. Von dem schwindenden Antagonismus in der nationalen Semantik der französischen Geschichtswissenschaft zeugt auch ein Aufsatz von Louis Madelin aus dem Jahre 1933 mit dem Titel »Le mouvement historique en France«.221 Dort definiert er die französische Geschichtswissenschaft über ihre Fähigkeit, Charakteristika zu vereinen, die bislang dem deutschen oder französischen Geist getrennt zugeschrieben worden sind, nämlich Rigorosität auf der einen und kreative Imagination auf der anderen Seite: »[I]l arrive en France, une sorte de concordat qui a rétabli l’équilibre des esprits, et précisément fondé l’école historique française en lui donnant son caractère propre. Ce grand Albert Sorel, dont j’ai dit qu’il avait été notre maître à tous, avait été un grand précurseur qui, autant qu’un autre, au fait des méthodes germaniques, savait dans quelle mesure un Français en devait faire son profit, mais n’avait jamais entendu leur sacrifier cet esprit français – si riche et si créateur – qui court dans toute son œuvre.«222

216 Reynaud 1930. 217 Vgl. Reynaud 1930: 213. 218 Reynaud 1930: 229. 219 Reynaud 1930: 214. 220 Reynaud 1930: 247. 221 Mandelin 1933. 222 Madelin 1933: 281.

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Zwar unterscheidet Madelin einerseits also zwischen nationalen Geschichtswissenschaften, andererseits impliziert er aber auch, dass die Übernahme von Eigenschaften einer anderen nationalen Geschichtswissenschaft, nämlich der deutschen, die nationale Identität der eigenen nicht gefährde. Dies bedeutet somit, dass einer Annäherung zwischen den nationalen Wissenschaften im Prinzip nicht mehr so vehement entgegengestanden wird. Diese Argumentation ähnelt stark jener der Universitätsreformer vom Ende der 1860er und Anfang der 1870er Jahre, die die Kombination von Eigenschaften deutscher und französischer Wissenschaft fordern. Die nationale Semantik in der französischen Physik verzeichnet eine ähnliche Entwicklung. Wie Dominique Pestre zeigt, wird der Gegensatz nationaler Wissenschaften nicht nur wie bei Pierre Duhem mit der Unterscheidung zwischen »esprit de finesse« und »esprit géométrique« beschrieben, sondern daneben noch mit einer ganzen Reihe weiterer Begriffspaare.223 Interessant ist, dass Pestre noch zwischen 1906 und 1915 eine Verfeinerung der nationalen Kategorisierungen diagnostiziert, bei der man von einer Subsumierung verschiedener Nationen unter einen Wissenschaftsstil übergeht zu einer genauen Differenzierung einzelner nationaler Wissenschaftsstile. Entscheidend ist jedoch, dass Pestre für die französische Physik feststellt, dass die nationale Semantik – ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft – ab den 1920er Jahren beginnt nachzulassen.224 Einer der letzen Ausläufer einer nationalen Semantik für die Physik dürfte ein Aufsatz von Louis de Broglie über die französische Physik sein, der 1946 in dem Band La France immortelle erscheint, einer erneuten Zusammenschau französischer Kulturleistungen, die sich offenbar an den Vorgängern aus der Zeit des Ersten Weltkriegs orientiert. Die Arbeiten an dem Band beginnen 1943 und reflektieren das Bedürfnis französischer Intellektueller nach nationaler Selbstvergewisserung in der Zeit der deutschen Besatzung.225 Nach 1945 verändert sich die Situation dann allerdings radikal. Nicht nur beginnt eine neue Zeit intensiver Kooperation zwischen Physikern Frankreichs und Deutschlands wie bspw. in wissenschaftlichen Großprojekten wie CERN, vor allem verschwinden nationale Semantiken aus dem Kommunikationsschatz der französischen Physik nahezu vollständig:

223 Pestre 1984: 190–207. 224 Pestre 1984: 197. 225 Broglie 1946.

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»Un […] fait notable est pourtant la disparition, après 1945, de la littérature cherchant à caractériser la science produite dans l’autre pays. On ne parle plus en France de ›science allemande‹ par exemple – et toute la problématique des ›sciences nationales‹ qui avait sous-tendu la perception de chaque communauté par l’autre dans le siècle précédent apparaît comme d’un autre âge dès la fin de la dernière guerre.«226

6.3 Z USAMMENFASSUNG Zusammenfassend betrachtet zeigt sich, dass bei der Entwicklung der nationalen Semantik das Verlaufsmuster en gros einer Dynamik folgt, die kompatibel ist mit der Erfüllung der spezifischen Funktion, die ihr hier im Rahmen des Modells der stufenförmigen Konstitution globaler Funktionssysteme zugedacht wird. Diese Funktion besteht in der Durchführung eines internationalen Vergleichs, bei dem Bereiche nationaler Standards in einen übergreifenden Betrachtungszusammenhang integriert werden. Dadurch wird die Unterscheidung nationaler Standards verwischt und ein tendenziell globaler Rahmen der Standardisierung eröffnet, durch den das Funktionssystem eine global vereinheitlichte Struktur erhält. Der mit der Erfüllung dieser Funktion kompatible historische Verlauf der Entwicklung nationaler Semantik ist damit – analog zur Strukturdynamik – gekennzeichnet durch eine Phase des Aufbaus, der eine Phase des Abbaus folgt. Die Analyse betrachtete die Veränderung der nationalen Semantik anhand derer das nationale Selbstverständnis vor allem der Disziplinen Physik und Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich konstruiert wird. Dabei wurde über den Untersuchungszeitraum hinweg sowohl in quantitativer Hinsicht das Ausmaß der Verbreitung nationaler Semantik in den Fachrichtungen eingeschätzt als auch in qualitativer Hinsicht die inhaltliche Veränderung der Rhetorik einer nationalen Wissenschaft in den recherchierten Beispielen aufgezeigt. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich zeigt sich, dass sich Beispiele nationaler Semantik vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden lassen, während vorher und nachher diese nicht oder nur als Randerscheinung in Publikationen mit einem anderen Hauptthema vorkommt. Dies deutet darauf hin, dass die Entwicklung nationaler Semantik bereits in quantitativer Hinsicht dem funktionalen Muster von Auf- und Abbau folgt. Auch die Ergebnisse der inhaltlichen Untersuchung der Konzepte nationaler Se-

226 Pestre 1990: 135. Pestre behauptet zudem, dass entsprechend der semantischen Entwicklung auch tatsächlich vorhandene nationale Wissenschaftsstile verschwinden. Vgl. Pestre 1985 u. Pestre 1990: 138.

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mantik passen insgesamt zur Ausgangsthese. In beiden Ländern und Disziplinen bildet die Semantik im Laufe des 19. Jahrhunderts immer pointiertere Formen der nationalen Differenzierung heraus. Über beide hier untersuchten Länder und Disziplinen hinweg liegt der Höhepunkt der Entwicklung in der Zeit um die Jahrhundertwende und den Ersten Weltkrieg und bei allen vier Fällen folgt anschließend eine Phase der Entschärfung bzw. des Verschwindens nationaler Semantik. In Deutschland konnte bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts festgestellt werden, wie das bislang dominierende Ideal der kosmopolitischen Gelehrtengemeinschaft in den Naturwissenschaft an vereinzelten Stellen durch die Einführung der Unterscheidung nationaler Wissenschaften in Frage gestellt wird. Die 1822 gegründete Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte entwickelt sich zur zentralen Fachgesellschaft für die Naturwissenschaften in Deutschland und zum zentralen Forum der Herausbildung nationaler Semantik. Es konnte festgestellt werden, dass die Formen nationaler Semantik, die sich in der Gesellschaft, aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch immer mehr außerhalb dieser entwickeln, mit zunehmendem Aufwand die deutsche, nationale Wissenschaft mit ihren Pendants im Ausland vergleicht und deren Besonderheit immer aufwendiger begründet. Auf der Grundlage solcher Vergleiche radikalisieren sich die Argumente bis zum Ersten Weltkrieg hin zu Behauptungen einer ethnisch oder rassisch fundierten Wissenschaft, über deren Grenzen hinweg keinerlei Verständigung stattfinden könne. Auffallend ist allerdings, dass solche Formen einer radikalen Nationssemantik in der Physik in Deutschland kaum mehr Repräsentativität beanspruchen können. Zwar zeigt der so genannte »Krieg der Geister«, dass sich die Mehrheit der deutschen Hochschullehrer und wohl auch der Physiker zum Nationalismus bekennt und sich für nationalpolitische Zwecke einspannen lässt, doch stehen die Aufrufe und Pamphlete im Kontext des Ersten Weltkriegs thematisch außerhalb der Physik. Sieht man davon ab, dass sich nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere während der nationalsozialistischen Herrschaft die so genannte »arische Physik« mit ihrem Wissenschaftsnationalismus fortentwickelt und ausbreitet, scheint sich das Fach insgesamt bereits von nationale Differenzierungen betonenden Selbstbeschreibungen zu verabschieden. Die »arische Physik« hat die semantischen Deutungsmuster der Physik nie wirklich dominiert und versinkt nach 1945 in der Bedeutungslosigkeit. Vor dem Hintergrund dieser hier erzielten Ergebnisse ließe sich der Verlauf der nationalen Semantik für die Physik graphisch in etwa wie folgt darstellen.

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Abbildung 9: Nationale Semantik in der Physik Deutschlands In der Geschichtswissenschaft Deutschlands scheint sich ein nationales Bewusstsein erst relativ spät nach der Überwindung der regionalisierten Struktur zum Ende des 19. Jahrhunderts herauszubilden. Dafür entsteht zur Pflege nationaler Selbstbeschreibung eine ganze, zeitweise in den 1920er Jahren enorm populäre Forschungsströmung über den so genannten »deutschen Geist«. Die Minutiösität des Vergleichs nationaler Wissenschaften im Allgemeinen und der Geschichtswissenschaften im Besonderen erreicht dabei beeindruckende Ausmaße und die Kritiker solcher Vergleiche bleiben eigentümlich ambivalent und erfolglos. Auch in der Geschichtswissenschaft entwickelt sich eine nationalsozialistisch ideologisierte Strömung, die die Vorstellung der Differenzierung zwischen nationalen Wissenschaften anhand rassistischer Vorstellungen radikalisiert. Anders als in der Physik sind ethnische Semantiken jedoch nicht auf die nationalsozialistische Schule begrenzt, sondern sie fügen sich bereits in den 1920er Jahren nahtlos in die dominanten Deutungsstrukturen der Geschichtswissenschaft ein. Anders auch als in der Physik überleben Formen nationaler Selbstbeschreibung in der Geschichtswissenschaft sehr viel länger. Nicht nur werden sie nach dem Ersten Weltkrieg im Rahmen des Diskurses über den »deutschen Geist« gepflegt, auch nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich noch, wenn auch in sehr stark reduziertem Ausmaß, Beispiele nationaler Selbstbeschreibung einer »deutschen Geschichtswissenschaft« finden. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse könnte eine graphische Zusammenfassung des Verlaufs nationaler Semantik in der Geschichtswissenschaft in Deutschland in etwa wie folgt aussehen:

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Abbildung 10: Nationale Semantik in der Geschichtswissenschaft Deutschlands Wie in Deutschland, so lässt sich auch in Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Erosion des kosmopolitischen Ideals in den Naturwissenschaften anhand einiger vereinzelt auftauchender Beispiele nationaler Selbstbeschreibungen aufzeigen. Die Vorstellung einer nationalen Wissenschaft wird durch die Wissenschaftspolitik Napoleons forciert und ab den 1840er Jahren etabliert sich in den Regierungsberichten über die Lage der Wissenschaft die Praxis des internationalen Vergleichs. Dabei dominieren zunächst Darstellungen, bei denen man die französische Wissenschaft gegenüber vor allem der Wissenschaft in Deutschland abwertet, weil man sich davon offenbar wissenschaftspolitische Reformen erhofft. Insbesondere der Schock um die Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg leistet dieser Art nationaler Semantik Vorschub. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verändert sich die Argumentation allerdings auf interessante Weise. Zum einen breitet sich der internationale Wissenschaftsvergleich immer mehr aus den Regierungsberichten in wissenschaftliche Publikationen im engeren Sinne aus, wie etwa die 1881 eigens für den internationalen Wissenschaftsvergleich gegründete Revue internationale de l’enseignement zeigt. Zum anderen beginnt man, die französische Wissenschaft immer weiter aufzuwerten. Die Entwicklung kulminiert schließlich in der Zeit um den Ersten Weltkrieg in einem ausgesprochenen Nationalchauvinismus. Unzählige Publikationen verfolgen das alleinige Ziel, die französische Wissenschaft auf- und vor allem die deutsche Wissenschaft abzuwerten. Im Vergleich zu Deutschland fällt aber der etwas geringere Stellenwert rassistischer Wissenschaftskonzepte auf. Die entsprechenden Beispiele rassistischer Semantik wirken im Vergleich zur »arischen Physik« weniger ausgefeilt und oberflächlicher. Ähnlich wie in Deutschland ist allerdings der rasche Rückgang nationaler Semantik in der Physik nach dem Ersten Weltkrieg. Graphisch ließe sich diese Entwicklung in etwa wie folgt darstellen:

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Abbildung 11: Nationale Semantik in der Physik Frankreichs Wie in Deutschland wird auch die Geschichtswissenschaft in Frankreich erst relativ spät im 19. Jahrhundert durch eine nationale Selbstbeschreibung auffällig. Nach dem verlorengegangenen Deutsch-Französischen Krieg stellen sich die französischen Historiker hinter die gängige Forderung nach einer Verbesserung der Forschungsbedingungen nach deutschem Vorbild und führen entsprechende deutsch-französische Vergleiche in der Geschichtswissenschaft durch. Im weiteren Verlauf der Entwicklung und insbesondere während des Ersten Weltkriegs sind sie auch an der nationalchauvinistischen Propaganda gegen die deutsche Wissenschaft beteiligt. Im Unterschied zur Entwicklung innerhalb der Geschichtswissenschaft in Deutschland nimmt die Intensität und Ausbreitung nationaler Semantik in der französischen Geschichtswissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg spürbar ab. Wenn man berücksichtigt, dass sich die Disziplin in Frankreich erst spät im 19. Jahrhundert formiert, könnte der Verlauf nationaler Semantik in diesem Fall in etwa wie folgt dargestellt werden: 100

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Abbildung 12: Nationale Semantik in der Geschichtswissenschaft Frankreichs

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Im Vergleich zwischen Geschichtswissenschaft und Physik fällt auf, dass die Geschichtswissenschaft offenbar später in die nationale Selbstbeschreibung einsteigt und sie außerdem häufiger vorkommt und stärker im Fach verankert ist. In der Physik bzw. in den Naturwissenschaften findet man hingegen schon früh, teilweise schon im 18. Jahrhundert, Nachweise nationaler Semantik. Diese bleibt allerdings eher ein Randphänomen und wird nicht zu einem wichtigen Thema für die Disziplin. Nach dem Ersten Weltkrieg verschwinden nationale Semantiken rascher aus der Physik als aus der Geschichtswissenschaft. Im Ländervergleich in der Physik zeigt sich, dass die rassistischen Elemente der Semantik in Deutschland offenbar in etwas stärker hervortreten als in Frankreich. Der Entwicklungsverlauf der Semantik in der Physik scheint zunächst in beiden Ländern vergleichbar zu sein. Es gibt in der Disziplin in beiden Ländern früh marginale Nationssemantiken, sie verstärken sich in beiden Ländern während des 19. Jahrhunderts. Nach 1900 gehen die Entwicklungen jedoch auseinander. In Deutschland scheint sich die Verwendung nationaler Semantik auf die »arische Physik« und deren Vorläufer zu konzentrieren, wird dort allerdings deutlich radikalisiert und rassistisch untermauert. In Frankreich hingegen breitet sich die Verwendung nationaler Semantik vor allem im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg massiv aus, benutzt jedoch weniger oder weniger ausgefeilte rassistische Argumente. Nach dem Ersten Weltkrieg treffen die Verläufe wieder zusammen: In beiden Ländern verabschiedet man sich rasch von einem nationalen Selbstverständnis. In der Geschichtswissenschaft fallen nationale Semantiken in beiden Ländern erst im späteren 19. Jahrhundert auf und in beiden Ländern sind sie in der Geschichtswissenschaft zur Zeit des Ersten Weltkriegs stark ausgeprägt. Danach gehen die Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft in Deutschland und Frankreich auseinander. Während in Frankreich nationale Semantiken abnehmen, erlangen sie in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren große Popularität, werden im Rahmen der nationalsozialistischen Geschichtsschreibung noch einmal radikalisiert und bleiben auch nach 1945 noch für einige Zeit Teil des geschichtswissenschaftlichen Diskurses. Bei diesem Unterschied ist sicherlich von Bedeutung, dass Frankreich im Ersten Weltkrieg zu den Siegermächten zählt, während der öffentliche Diskurs in Deutschland vom Revanchismus geprägt ist. Schließlich ist ein Vergleich zwischen den semantischen und den in der Zitationsanalyse aus dem vorherigen Kapitel aufgezeigten, strukturellen Entwicklungen interessant. Im Fall der Physik in Deutschland scheinen sich strukturelle Schließung und semantische Beschreibung der Schließung in etwa zu entsprechen. In struktureller Hinsicht liegt der Wendepunkt der Nationalisierungsent-

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wicklung um das Jahr 1900, also noch vor dem Ersten Weltkrieg. Zwar beginnen die Radikalisierungen der nationalen Semantik in der deutschen Physik mit Vorläufern der »arischen Physik« tatsächlich erst später im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg. Allerdings scheint die Rhetorik der »arischen Physik« im Fach insgesamt wenig Anklang zu finden und bleibt eher eine Randerscheinung. Gleiches gilt auf andere Weise für den »Krieg der Geister«. Es ist zwar richtig, dass sich fast alle deutschen Hochschullehrer und Physiker durch Unterzeichnung von Aufrufen am »Krieg der Geister« im Ersten Weltkrieg beteiligen, jedoch betreffen diese Aufrufe, selbst wenn sie faktisch erhebliche Auswirkungen auf die Praxis internationaler Zusammenarbeit haben, politische Stellungnahmen und sind nicht direkt ein Teil der nationalen Selbstbeschreibung der Physik. En gros scheint daher die Entwicklung von Struktur und Semantik der nationalen Schließung in der Physik parallel zu verlaufen. In Frankreich hingegen gehen die Entwicklungen von Struktur und Semantik in der Physik auseinander. Strukturell lässt sich eine Öffnungstendenz bereits seit 1880 feststellen. Auf semantischer Ebene setzt die massive Ausbreitung und Radikalisierung nationaler Selbstbeschreibung allerdings erst danach ein. Jaques Morlands Umfrage von 1903 macht die Repräsentativität des nationalen Selbstverständnisses unter den Wissenschaftlern deutlich. Im Rahmen des Ersten Weltkriegs nimmt die antideutsche Kriegspropaganda massiv zu und umfasst eine enorme Bandbreite verschiedener Publikationen. Die Vermutung liegt nahe, dass die mit nationalem Chauvinismus gepaarten internationalen Wissenschaftsvergleiche aus dem Ersten Weltkrieg Zugeständnisse der Wissenschaftler an die politische Lage und als Kriegsbeitrag zu verstehen sind, während die wissenschaftliche Praxis in Frankreich längst eine andere Realität aufweist. Möglicherweise ist diese Kluft zwischen Struktur und Semantik auch Ausdruck eines Wunsches nach nationaler Schließung, der im Kontrast zur als schlechter beurteilten Wirklichkeit der französischen Physik steht, die ihre wissenschaftliche Schwäche durch Öffnung nach außen kompensieren muss. In der Geschichtswissenschaft in Deutschland verlaufen den vorliegenden Ergebnissen entsprechend Struktur und Semantik der nationalen Schließung weitgehend parallel. Der Höhepunkt struktureller Schließung um 1920 scheint mit der starken Verbreitung nationaler Semantiken im Rahmen des Diskurses um den »deutschen Geist« zu korrespondieren. Später nehmen beide Entwicklungen ab. Für die Renationalisierung der Historischen Zeitschrift ab 1980 lässt sich jedoch vermutlich in der Semantik des Fachs keine Entsprechung finden. Die Lieferung möglicher Erklärungen für diese spezifische Entwicklung bleibt eine hier identifizierte Forschungsaufgabe.

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Für die französische Geschichtswissenschaft kann zunächst festgestellt werden, dass der Höhepunkt des Verlaufs in semantischer wie in struktureller Hinsicht etwa in der Zeit des Ersten Weltkriegs liegt. Vorher und nachher liegt das Ausmaß nationaler Schließung auf beiden Ebenen auf niedrigerem Niveau. Nach 1920 kommt es strukturell zu einer sanften Denationalisierung. Demgegenüber scheint die nationale Semantik im Diskurs der französischen Geschichtswissenschaft rascher abzunehmen. Eine weitere Parallele zwischen dem Verlauf von Struktur und Semantik fällt im Ländervergleich auf. Sowohl die Physik als auch die Geschichtswissenschaft weisen in Deutschland ein höheres Niveau struktureller Schließung auf. Dies korrespondiert mit der stärkeren Ausprägung einer ethnisch-rassistischen Nationssemantik. Derweil mag zumindest im Fall der Physik die stärkere Schließung auch mit der Zentrum-Peripherie-Differenzierung zusammenhängen, bei der Deutschland zum Zeitpunkt der größten nationalen Schließung im Zentrum angesiedelt ist. Die Zentrum-Peripherie-Differenzierung könnte die nationale Ausdifferenzierung der Physik unterstützt haben. Durch die Untersuchungen der Semantik nationaler Schließung in der Geschichtswissenschaft und der Physik in Deutschland und Frankreich werden eine Reihe interessanter Forschungsfragen aufgedeckt. Im Rahmen dieser Arbeit kann zwar die Komplexität der Entwicklung veranschaulicht, nicht aber abschließend entschieden werden, welche konkreten historischen Umstände jeweils als Motor der Veränderungen nationaler Selbstbeschreibung ausschlaggebend sind. Außerdem deckt auch der Vergleich zwischen Struktur und Semantik neue Forschungsfelder auf. Warum verlaufen Struktur und Semantik nationaler Schließung teilweise parallel, teilweise jedoch nicht? Können diese Entwicklungszusammenhänge im Kontext ihrer Geschichte konkret verständlich gemacht werden? Gibt es möglicherweise einen generellen Mechanismus, der das Verhältnis von Struktur und Semantik nationaler Schließung in der Wissenschaft erklären kann? Bei aller historischen Relevanz dieser Fragen bleibt in der Perspektive dieser Arbeit vor allem festzuhalten, dass die Entwicklung der Semantik des internationalen Wissenschaftsvergleichs en gros einem Verlauf folgt, der mit dem hier vorgeschlagenen Theoriemodell kompatibel ist. Damit kommt der internationale Wissenschaftsvergleich für die Erfüllung der Funktion in Frage, die darin besteht, Bereiche nationaler Standardisierung in einen übergeordneten Zusammenhang zu integrieren, der die Globalisierung des Funktionssystems im Sinne einer Etablierung globaler Standards vorantreibt.

7 Nationale Grenzen in der Politik

Wie lässt sich eine Strukturdynamik nationaler Grenzen im politischen System sichtbar machen? Wie und inwiefern kann politische Kommunikation überhaupt auf segmentäre oder nationale Grenzen stoßen bzw. diese überwinden? Funktionssysteme differenzieren sich gegeneinander aus durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Sie sorgen für eine für die Ausdifferenzierung des Systems ausreichende Wahrscheinlichkeit des Anschlusses unter den zum System gehörenden Kommunikationen und ermöglichen so die Schließung des Systems. Das für das Politiksystem spezifische, symbolisch generalisierte Kommunikationssystem ist Macht. 1 Nur durch die Verfügbarkeit von Macht kann das politische System seiner Funktion nachkommen, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu fällen. Weil und insofern Macht besteht, kann bestimmt werden, welche Entscheidung als kollektiv verbindlich festgelegt werden soll. Deshalb werden bei jeder politischen Kommunikation gleichsam das Vorliegen und die Verhältnisse von Macht geprüft. Im abstraktesten Sinne umfasst das Politiksystem daher alle Kommunikationen, die anhand der Unterscheidung zwischen Machtüberlegenheit und Machtunterlegenheit beobachten.2 Wie andere Funktionssysteme auch umfasst das Politiksystem damit ein enormes und vielfältiges Spektrum an Kommunikationen. Zu denken wäre z. B. zunächst an alle auf Macht rekurrierende Kommunikationen in staatlichen Organisationen, etwa Beschlüsse, Regierungserklärungen, Gesetzesvorlagen, Gesetze usw., aber auch an jene im Kontext weiterer politischer Interessensorganisationen, wie Parteien, Verbände, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, und schließlich an das gesamte Feld der öffentlichen Meinung.3 Entscheidend ist, dass alle diese Kommunikationen im globalen Maßstab vorkommen

1

Luhmann 2000.

2

Luhmann 2000: 88.

3

S. sechstes, siebtes und achtes Kapitel in Luhmann 2000: 189–318.

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können. Mit Ausnahme der im Grunde unbewohnten Antarktis wird der gesamte Erdball von Staaten abgedeckt. Auch andere politische Organisationen haben – vor allem im Falle der Nichtregierungsorganisationen, aber auch bei internationalen Zusammenschlüssen von Parteien wie in der Europäischen Union – mitunter eine globale Reichweite und schließlich kommt auch politische Öffentlichkeit nicht lediglich lokal begrenzt vor.4 Das Politiksystem liegt genau wie die anderen gesellschaftlichen Teilbereiche seit der vollständigen Entdeckung des Erdballs als Weltfunktionssystem vor.5 Die Beschreibung dieser angedeuteten Binnenstruktur ist Anlass vielfältiger Forschungen, die vor allem versuchen, Rolle und Wandel des Staats in der Weltpolitik zu bestimmen.6 Für das hier verfolgte Ziel einer Beschreibung funktionssystemischer Strukturen sind allerdings deren Implikationen weniger für den organisationalen und institutionellen Aufbau des Politiksystems als für die Strukturen politischer Autopoiesis entscheidend. Und hier deutet mit Blick auf Luhmanns Thesen aus Politik der Gesellschaft und auch den politikwissenschaftlichen Überlegungen zur Politik in Mehrebenensystemen7 einiges darauf hin, dass mindestens zwei Kreisläufe politischer Autopoiesis unterschieden werden müssen. Insofern sich die Weltpolitik als System ausdifferenziert, realisiert sie dies über eine autopoietische Schließung. Auch wenn fraglich ist, wie und inwiefern sich eine Macht der Weltpolitik bzw. eine Form von Weltstaatlichkeit konstituiert,8 so ist doch erkennbar, dass die Staaten und Staatenverbände der Weltpolitik, die globalen Interessensorganisationen und die Weltöffentlichkeit an politischer Kommunikation teilnehmen, bei der es darum geht, etwa auf Vertragsoder Kooperationsbasis verbindliche Entscheidungen für weite Teile der Weltgesellschaft zu erreichen.9 Damit zusammenhängend muss man die Binnendifferenzierung des Politiksystems zur Kenntnis nehmen. Luhmann betont in Politik der Gesellschaft, dass das Politiksystem »auf einer zweiten Ebene eine segmentäre Differenzierung in Territorialstaaten, die die Politik an die Besonderheiten sehr verschiedener Territorien heranführt«,10 aufweist. Hinzuweisen ist hier auf die spezifische Fassung

4

Zur Weltöffentlichkeit Stichweh 2005: 83–94.

5

Stichweh 2007: 25–36.

6

Vgl. nur Albert/Stichweh (Hrsg.) 2007; Albert 2002; Benz 2009; Grande 1993.

7

Benz 2009.

8

Albert 2005; Albert 2007.

9

Stichweh 2007.

10 Luhmann 2000: 244.

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des Differenzierungsbegriffs bei Luhmann, mit dem immer nur der Sonderfall der Systemdifferenzierung gemeint sein soll.11 Staaten fungieren somit als Subsysteme des Politiksystems und es scheinen gerade diese Systeme zu sein, die Gegenstand der Beschreibungen in Politik der Gesellschaft sind. Insofern Staaten Systeme sind, besitzen auch sie einen geschlossenen Kreislauf autopoietischer Kommunikation. Luhmann beschreibt diesen Kreislauf anhand der Unterscheidung zwischen »Politik, Verwaltung und Publikum«.12 Aus Grün den der Logik erscheint der Begriff »Politik« hier als Bestandteil eines wiederum als Politik bezeichneten Systems ungünstig gewählt. Gemeint ist die »parteimäßige Politik«13, bei der es darum geht, die von der Verwaltung vorbereiteten und umgesetzten, kollektiv verbindlichen Entscheidungen nach Legitimationskriterien, in Demokratien z. B. nach ihrer Bedeutung für die Wahl, zu bewerten.14 Das Publikum schließlich integriert sich in den Prozess politischer Autopoiesis über eine Reihe von verschiedenen Rollen, wie Steuerzahler, Antragsteller, Beschwerdeführer, Wähler, Leserbriefschreiber, Unterstützer von Interessensverbänden usw.15 bzw. außerhalb von Demokratien über Aufstand gegen oder Unterwerfung unter den Machthaber.16 Luhmann beschreibt parteimäßige Politik, Verwaltung und Publikum nicht etwa allein als Bestandteile einer hierarchischen Ordnung, bei der die Regierung durch die Verfügung von Macht anhand der Verwaltung für das Publikum gültige Entscheidungen trifft. Vielmehr induziere dieser offizielle Machtkreislauf einen »Gegenkreislauf informaler Macht«, der die parteimäßige Politik, Verwaltung und Publikum zu Bestandteilen eines zirkulär geschlossenen Machtkreislaufs mache, bei dem die Macht gleichsam in alle Richtungen fließen kann.17 Deutlich wird dieses Verständnis von Macht in der politischen Theorie daran, dass diejenigen, die den kollektiven Entscheidungen und dem Gewaltmonopol unterliegen, zugleich auch diejenigen sind, die die politische Souveränität begründen. Dieses für das politische System grundlegende Paradox wird verborgen hinter der Vorstellung eines Vertrags, den die Bürger im »Naturzustand« schließen.18

11 Vgl. Luhmann 1997: 596. 12 Luhmann 2000: 253–265 u. Luhmann 1970: 163–166. 13 Luhmann 1970: 163. 14 Luhmann 1970: 164. 15 Vgl. Luhmann 1970: 164. 16 Vgl. Holz 2001: 65f. 17 Luhmann 2000: 258. 18 Hobbes 1642; Rousseau 1762: 15–19.

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Wie man nun leicht sehen kann, kommen dieserart autopoietisch geschlossene Kommunikationszusammenhänge im politischen System in mehrfacher Weise vor. Nicht nur besteht in der Weltgesellschaft eine Pluralität von Staaten, sondern politische Kommunikation kommt zudem gleichsam auf mehreren Ebenen vor, die jeweils die ihr typischen Bestandteile umfassen. Auch auf globaler Ebene kommt es auf zwischenstaatlichen Konferenzen zu Beschlüssen, es werden internationale Regierungsorganisationen gegründet und es entsteht eine Weltöffentlichkeit. Die für das Funktionieren politischer Autopoiesis zentrale Frage ist daher, wie bei der globalen Verfügbarkeit politischer Kommunikationen, d. h. trotz des Vorkommens von »Politik, Verwaltung und Publikum« allerorten und auf verschiedenen Ebenen, die Stabilisierung und gegenseitige Abschließung der teilweise nebeneinander bestehenden, teilweise übereinander greifenden Systeme gewährleistet werden kann. Wie kann ein Staat als ein politisches System innerhalb einer ihm im Prinzip gleichenden Umwelt eine System/Umwelt-Differenz herstellen? Oder: Woher weiß eine Regierung, welches Publikum für sie relevant ist? Der hier vorgebrachte Vorschlag lautet, dass die internen Strukturdifferenzierungen des Politiksystems wie bei der Ausdifferenzierung formaler Organisationen durch Mitgliedschaft konstituiert und stabilisiert werden. Im Falle des Nationalstaats wird die Mitgliedschaft durch die Staatsangehörigkeit etabliert. Die Staatsangehörigkeit ist zunächst eine zentrale Form der Inklusion von Personen in das politische System.19 Mit Inklusion ist allgemein die Berücksichtigung oder Adressierung von Personen in Sozialsystemen gemeint.20 Es bestehen vielfältige Formen der Inklusion in das politische System, die im Prinzip über jede Art von Teilhabe an politischer Kommunikation, z. B. in der Öffentlichkeit oder über die Massenmedien, realisiert werden können. Die Staatsangehörigkeit ist insofern eine zentrale Form der politischen Inklusion, als sie die Verbindung von Person und Staat genuin herstellt. Sie ist »ein Rechtsverhältnis der Zuordnung von Person und Staat, das staatliche Personalhoheit und individuelle Verbandsmitgliedschaft verbindet. Sie ist, anders gesagt, ein rechtliches Band zwischen Individuum und Institution bzw. zwischen ›national‹ und ›nation‹. Für den einzelnen ergibt sich daraus zum einen die völkerrechtlich bedeutsame Zugehörigkeit zu ›seinem Staat‹, zum anderen eine grundlegende, aber näherhin ausformungsbedürftige Rechtsstellung im Staatsverband und in der staatlichen Rechtsordnung«.21

19 Stichweh 2000b. 20 Luhmann 2005: 226–251; Luhmann 1997: 618–634. 21 Grawert 1984: 183.

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Entscheidend ist über die formale Zugehörigkeitsbestimmung hinaus die Vermittlungswirkung der Staatsangehörigkeit für weitere zentrale Formen politischer Inklusion, die vor allem durch die an die Staatsangehörigkeit gebundenen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten verkörpert werden.22 Betroffen sind davon vor allem Mitwirkungsrechte in öffentlichen Angelegenheiten: »Im Querschnitt der Staatsverfassungen gesehen, heißt das näherhin: Stimmrecht bei Volksabstimmungen und ähnlichen Verfahren, Wahlrecht zur Bestimmung von Repräsentanten, Wählbarkeit und Amtsfähigkeit zu Staatsämtern. Auf der Pflichtseite stehen demgemäß die Stimm-, Wahl- und Amtspflicht«.23

Hinzukommt noch ein weiterer gravierender Aspekt der Staatsbürgerschaft. Nur Staatsbürger haben ein uneingeschränktes Recht, das Staatsgebiet zu betreten und sich dort dauerhaft aufzuhalten. Daran gebunden ist die Möglichkeit des dauerhaften und uneingeschränkten Zugangs zu Interaktionen innerhalb des Staatsterritoriums sowie zu allen örtlich an den Staat gebundenen Grundgütern wie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, aber auch der Zugang zum örtlichen Arbeitsmarkt.24 Mit diesen Wirkungen legt die Staatsangehörigkeit Regeln der Inklusion in den Staat fest. Sie definiert den Personenkreis derer, die uneingeschränkten Zugang zu allen politischen Kommunikationen des Staats haben. Dies gilt besonders eindrücklich für die gesamten Formen politischer Inklusion über Leistungsträgerrollen. Nur Staatsangehörige können über diese in die bei Luhmann so genannte parteimäßige Politik inkludiert werden, weil für die Übernahme von Staatsämtern und politischen Repräsentationsfunktionen die Staatsangehörigkeit erforderlich ist. Gleiches gilt im Grunde für Ämter in der Verwaltung, für deren Besetzung zumindest der Besitz der entsprechenden staatsbürgerlichen Rechte, also hier einer Arbeitserlaubnis, erforderlich ist. Schließlich hat die Staatsangehörigkeit auch für die Inklusion in das Publikum Auswirkungen. Dies gilt zunächst, weil auch das Publikum sich organisatorisch formieren kann und dann Stellen zu besetzen sind, für deren Bekleidung in der Regel die Staatsangehörigkeit erforderlich ist. Außerdem beschränkt die Staatsangehörigkeit die Möglichkeiten der Teilnahme Nicht-Staatsangehöriger an dauerhaften Interaktionen in der politischen Öffentlichkeit, wie z. B. Meinungsdemonstrationen, weil dazu eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erforderlich ist.

22 Grawert 1984: 182. 23 Grawert 1984: 197. 24 Brubaker 2000: vor allem 76–77.

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Insgesamt definiert die Staatsangehörigkeit mit der Bestimmung der dem Staat zugehörigen Personen allgemein den Kreis derjenigen, die nach der politischen Theorie den Kreislauf staatlicher Macht tragen. Sie sind Adressaten staatlicher Macht und zugleich stehen sie als Souverän an dessen Ursprung. Über die formale Einbindung der Staatsangehörigen in den staatlichen Machtbereich hinaus hat die Staatsangehörigkeit weitere konkrete Folgen für Möglichkeiten der Partizipation an politischer Kommunikation innerhalb des Staats. Damit erweist sich die Staatsangehörigkeit als wirksames Mittel staatlicher Schließung.25 Dies ist zunächst möglich, weil sie als Form der Inklusion von Personen der Logik des Politiksystems gerecht wird, die auf die Option der Gewaltanwendung gegenüber Köpern von Personen angewiesen ist.26 Entscheidend ist sodann, dass die Inklusion von Staatsangehörigen die politische Kommunikation mit einem spezifischen Merkmal versieht, das erlaubt, die sich im Prinzip gleichenden politischen Kommunikationen nach Staaten zu differenzieren. Autopoietisch anschlussfähig an die politische Kommunikation eines Staats ist eine weitere Kommunikation im Prinzip nämlich nur dann, wenn sie die Angehörigen dieses Staats inkludiert. Diese Regel lässt sich leicht anhand einiger Beispiele vergegenwärtigen. Kollektiv verbindliche Entscheidungen einer Regierung sind direkt relevant nur für Staatsangehörige. Ob eine Verwaltung sich mit einer Beschwerde aus dem Publikum befasst, hängt von der Staatsangehörigkeit der diese Beschwerde vortragenden Personen ab. Ob eine Meinungsbildung in der Öffentlichkeit relevant ist für Chancen auf Wählerstimmen für politische Parteien hängt von der Staatsangehörigkeit der diese Meinung vortragenden Personen ab, und zwar gilt dies unabhängig von möglichen Inhalten. Wenn Staatsangehörige eines ersten Staats etwa öffentlich Kritik gegenüber einem zweiten Staat vortragen, ist dies für außenpolitische Positionen in Parteiprogrammen oder in der Regierung im ersten Staat relevant. Für die Regierung im zweiten Staat gilt dies nicht, obwohl diese inhaltlich adressiert sein mag. Dass eine Beobachtung solcher Vorgänge im Ausland Folgen haben kann, ist damit natürlich nicht ausgeschlossen. Die hier angeführten Argumente legen aber nahe, dass ein solcher Vorgang als eine Beobachtung der Umwelt zu verstehen ist, auf die man mit systemeigenen Mitteln reagieren kann oder nicht, jedoch keinen direkten autopoietischen Anschluss machtvermittelter Kommunikation darstellt. Weitere Beispiele ließen sich hier anfügen. Deutlich ist, dass das System aus Politik, Verwaltung und Publikum über die Klammer der Staatsangehörigkeit der

25 Vgl. auch Holz 2001. 26 Luhmann 2000: 55–58; Schimank 2005: 396–398.

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in sie inkludierten Personen zusammengehalten wird und sich dadurch als System nach außen abschließt. Über die Staatsangehörigkeit kann sich der Staat deshalb innerhalb einer ihm gleichenden Umwelt des politischen Systems gegenüber Strukturen der Weltpolitik und gegenüber anderen Staaten ausdifferenzieren und eine Anschlussregel bieten, mit der die eigene Autopoiesis gesichert und die System/Umwelt-Differenz etabliert werden kann. Die Differenzierung des politischen Systems in Staaten vollzieht sich insofern nach Maßgabe des Staatsangehörigkeitsrechts. Daraus folgt insgesamt, dass die autopoietischen Anschlussmöglichkeiten politischer Kommunikation über die Staatsangehörigkeit der in sie inkludierten Personen auf Grenzen stoßen, weil jenseits der Staatsangehörigkeit eine andere Macht herrscht. Die diesseitige Macht kann dann nicht mehr als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium für Anschlüsse in der Kommunikation fungieren, weil die Anwendung physischer Gewalt nicht mehr ohne Weiteres möglich ist. Eine Bezugnahme auf politische Kommunikationen jenseits der Staatsangehörigkeitsgrenze kann nur noch in der Form einer Beobachtung der Umwelt des Systems erfolgen. Damit definiert die Staatsangehörigkeit die Grenzen des Systems. Ihr Wandel über die Zeit ist damit ein Gradmesser für die Aufweichung bzw. Verfestigung staatlicher Schließung, für eine Öffnung und Schließung des Kommunikationszusammenhangs der politischen Autopoiesis in einem Staat. Eine Erhöhung der Hürden für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit deutet somit auf eine Erhöhung staatlicher Schließung hin und umgekehrt. In der folgenden rechtshistorischen Analyse der Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts in Deutschland und Frankreich wird es deswegen vor allem um die Überprüfung der Dynamik dieser Erwerbs- und Verlustregeln gehen.27 Der allgemeinen These von der Entstehung und Auflösung nationaler Vergleichszusammenhänge folgend ist dabei die grundlegende Annahme, dass im Zuge der nationalen Schließungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit immer höheren Hürden unterworfen werden. Im späteren 20. Jahrhundert ist entsprechend mit einer Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts bzw. mit dessen zunehmender Einbettung in internationale Kontexte zu rechnen.

27 Vgl. teilweise die Vorarbeiten zu ähnlichem Thema bei Thelen 2004.

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7.1 N ATIONALE S CHLIESSUNG IM S TAATSANGEHÖRIGKEITSRECHT D EUTSCHLANDS Das Konzept der Staatsangehörigkeit entsteht erst mit der Herausbildung moderner Verfassungsstaaten im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. 28 Zuvor herrscht ein seit dem Mittelalter bestehendes umfassendes Lehensystem, welches das Verhältnis der Bewohner zueinander durch Treueverpflichtungen meist gegenüber einer bestimmten Person und nicht eines staatlichen Gebildes regelt. Mit der Entstehung der Souveränitätsidee im Absolutismus werden die Bewohner eines bestimmten Gebiets gleichsam zu dessen Zubehör und zu Untertanen eines Herrschers. Bis zum Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation sind die Rechtsbeziehungen der Einwohner untereinander daher durch ein vielfältiges Geflecht asymmetrischer Treue- und Fürsorge- oder Untertanenverhältnisse geprägt. Die Einrichtung von Verfassungsstaaten, die ihrem Selbstverständnis nach auf einem contrat social beruhen, erfordern insofern ein Umdenken, als dass nun bestimmt werden muss, wer als Vertragspartner zur der durch den Gesellschaftsvertrag geschaffenen rechtlichen Gemeinschaft gehört. Im Gegensatz zum Untertanenverhältnis erlangt die Frage der Zugehörigkeit damit eine neue Relevanz. In der Folge entstehen die ersten Konzepte der Staatsangehörigkeit in westlichen Territorialstaaten im modernen Sinne.29 Für die Entstehung einer deutschen Staatsangehörigkeit im 19. Jahrhundert einschneidend sind die Umwälzungen durch den Wiener Vertrag von 1815, in dessen Zusammenhang die bisherige Ständeordnung zunehmend in Frage gestellt wird. Außerdem nimmt die Anzahl der Staaten ab, während ihre Territorien jedoch zugleich jeweils anwachsen. 30 Die Mitgliedstaaten des neu formierten Deutschen Bundes definieren ihre eigenen staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen ohne Vorgaben durch den Bund. Das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland ist damit zu Beginn seiner Entwicklung extrem dezentralisiert und fragmentiert und zeigt bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts keinerlei Tendenzen einer nationalen Homogenisierung auf.31 Die meisten deutschen Staaten, vor allem im südlichen Deutschland, rezipieren für ihre Staatsangehörigkeit den französischen Code civil. 32 Da hier das Ortsprinzip, das so genannte Jus Soli, als dominantes Kriterium des Erwerbs der

28 Grawert 1973: 22ff. 29 Brubaker 1994: 62–78. 30 Trevisiol 2004: 41. 31 Gosewinkel 2001: 423; Hailbronner/Renner 2001: 6f. 32 Hecker 1980.

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Staatsangehörigkeit dient, ist dies zunächst auch in den am Code civil orientierten deutschen Staatsangehörigkeitskonzepten der Fall. Nach der Verfassung in Baden von 1808 etwa erhält die Staatsangehörigkeit bereits, wer dort tätig und wohnhaft ist und seinen Hauptwohnsitz nicht in einem anderen Staat hat.33 Zwischenstaatliche Verträge zum Umgang mit Migranten legen allerdings auch das Abstammungsprinzip, das so genannte Jus Sanguinis, als Kriterium für den Erwerb der Staatsangehörigkeit fest, wodurch dem Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit gegenüber dem reinen Ortsprinzip wesentlich höhere Schranken auferlegt sind. Ähnlich ambivalent ist die Situation in den anderen süddeutschen Staaten, Bayern und Württemberg, die auch unter französischem Einfluss stehen und sich ebenfalls beim Staatsangehörigkeitsrecht am Code civil orientieren. Auch hier existiert das Abstammungs- neben dem Territorialprinzip, so dass z. B. die Staatsangehörigkeit durch Abstammung verliehen wird, aber Einbürgerungen nach zehnjähriger Sesshaftigkeit im Staat oder bei nicht zeitgebundener Ansiedlung ebenfalls möglich sind.34 Insgesamt ist damit im frühen Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland besonders in den süddeutschen Staaten eine Ambivalenz zwischen Orts- und Abstammungsprinzip im Staatsangehörigkeitsrecht kennzeichnend.35 In Preußen und den von Preußen dominierten norddeutschen Staaten gibt es oftmals noch kein einheitliches Staatsangehörigkeitsrecht. Diese Uneinheitlichkeit kennzeichnet auch das Staatsangehörigkeitsrecht der Paulskirchenverfassung von 1849, das im Wesentlichen der süddeutschen und von Frankreich beeinflussten Linie folgt. Dieses Gesetz ist hier zu erwähnen, weil es, auch wenn es nie in Kraft treten wird, die erste Ausformulierung eines nationalen Staatsangehörigkeitsrechts in Deutschland darstellt. In der Frühphase der Beratungen in der Paulskirche, in der die nationalen Erwartungen sich noch ungeschmälert auf die großdeutsche Lösung richten, kann nur ein territoriales Staatsangehörigkeitsrecht die innere Integration des Reichs gewährleisten, weshalb man entsprechend auf das Jus Soli setzt. Andererseits befürwortet man in den Diskussionen um die Frage der Zugehörigkeit der Provinz Posen zum Deutschen Reich auch das Abstammungsprinzip und tritt entsprechend, wie der Abgeordnete Stenzel, für die Teilung von Posen ein: »Wir wollen Deutschland angehören, dem wir durch Sprache, Abstammung, Empfindung und Sympathie zugehören«.36

33 Trevisiol 2004: 45. 34 Gosewinkel 2001: 48f. 35 Vgl. dies auch für Bayern bei Trevisiol 2004: 46f. 36 Zit. n. Gosewinkel 2001: 117.

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Diese ambivalente Haltung der Nationalversammlung rührt aus dem Interesse, dem deutschen Staat so viele Personen einzuverleiben, wie dies außenpolitisch vertretbar und möglich ist. Dort, wo dies nur unter Einbeziehung nichtdeutscher Nationalitäten möglich ist, wie im Fall Böhmens und Mährens, gilt das territorial-politische Prinzip der Staatsangehörigkeit, dort aber, wo eine ethnische Entflechtung möglich scheint, wie in Posen, gilt das ethnisch-kulturelle Abstammungsprinzip.37 Interessant ist, dass dieses Nebeneinander der verschiedenen Regelungen nur möglich ist durch die föderative Struktur des Gesetzes. Paragraph 131 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849 hält fest: »Das deutsche Volk besteht aus den Angehörigen der Staaten, welche das Deutsche Reich bilden«.38 Insgesamt zeichnet sich dieses erste nationale Staatsangehörigkeitsgesetz in Deutschland daher noch nicht durch eine besonders deutliche Schließungskraft aus. Zum einen ist es föderativ aufgebaut und erlaubt verschiedene Regelungen der politischen Inklusion unter einem verfassungsmäßigen Dach. Zum anderen toleriert es gleichzeitig und als Folge dieser Struktur das Nebeneinander der verschiedenen Staatsangehörigkeitsgesetze, von denen die meisten auf dem Jus Soli, einige aber auch auf dem Jus Sanguinis beruhen. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist damit noch relativ einfach über bloße Wohnsitznahme in einem der Mitgliedstaaten zu erwerben, deren Staatsangehörigkeitsrecht auf dem Jus Soli beruht. Durch das Scheitern der Revolution wird das Verfassungswerk Makulatur und die getroffenen Regelungen bleiben ohne Auswirkungen. Dominant und entscheidend für die weitere Entwicklung der Staatsangehörigkeit in Deutschland wird die rechtliche Entwicklung im weit weniger von Frankreich beeinflussten Preußen. Noch bis 1842 besitzt Preußen kein einheitliches Staatsangehörigkeitsrecht; die jeweiligen Regelungen vor allem aus dem allgemeinen Landrecht bleiben unabgestimmt und fragmentarisch. Das »Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als Preußischer Unterthan« liefert dann aber eine umfassende und systematische Regelung der Erwerbs- und Verlusttatbestände für die preußische Staatsangehörigkeit. Das Gesetz ist vom Abstammungsprinzip dominiert und es schließt zudem die automatische Einbürgerung über die legale Wohnsitznahme in Preußen explizit aus: »Der Wohnsitz soll in Zukunft für sich allein die Eigenschaft als Preuße nicht begründen.«39 Durch die dominante Position Preußens im Deutschen Bund wird das auf dem Jus Sanguinis beruhende preußische Staatsangehörigkeitsrecht zum Prototyp der deutschen Staatsangehö-

37 Gosewinkel 2001: 109–120. 38 Zit. n. Gosewinkel 2001: 114. 39 Untertanengesetz Paragraph 13, zit. n. Trevisiol 2004: 48.

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rigkeit und nach und nach von allen deutschen Staaten übernommen, 1848 von Schwarburg-Rudolfstat, 1852 von Anhalt-Dessau und Sachsen, 1853 von Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, 1855 von Oldenburg, 1859 von Sachsen-Weimar und 1864 von Hamburg und Lübeck. Schließlich breitet es sich durch die Vereinigungen zum Norddeutschen Bund 1866 und zum Kaiserreich 1871 mit einigen Ausnahmen in ganz Deutschland aus und wird im »Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit« von 1870 auf nationaler Ebene nachhaltig etabliert.40 Noch im Vorfeld der Entstehung dieses Gesetzes zeigen sich im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht zusätzlich zu der rechtlichen Übernahme der preußischen Staatsangehörigkeitskonzeption in vielen deutschen Staaten weitere Zentralisierungs- und Vereinheitlichungstendenzen. Das seit dem Vormärz verstärkt auftretende Problem der Heimatlosigkeit veranlasst die Staaten des Deutschen Bundes zur Abschließung zwischenstaatlicher Vereinbarungen hinsichtlich des Auslieferungs- und Übernahmerechts. Ende des Jahres 1850 treffen zunächst Preußen und Sachsen eine »Übereinkunft hinsichtlich der Übernahme von Heimathlosen und Ausgewiesenen«41, die einen Vorgängervertrag aus dem Jahr 1820 ablöst. Der neue Vertrag folgt verstärkt dem Prinzip des Jus Sanguinis, um die Zuordnungsprobleme zu lösen, die dadurch entstanden sind, dass Personen, die ihren Heimatstaat verlassen, ihre Staatsangehörigkeit aufgrund des Territorialprinzips verlieren und so zu Heimatlosen werden. Im Juli 1851 kommt es mit den Gothaer Konventionen zu einer Ausdehnung des preußisch-sächsischen Vertrags auf sechzehn deutsche Bundesstaaten. Bis zum Jahre 1861 sind alle Staaten des Deutschen Bundes dem Gothaer Vertrag beigetreten. Die Gothaer Konventionen sind somit als zwischenstaatlicher Vertrag bis zu ihrer Ablösung durch das Bundes- und Reichsgesetz von 1870 die zentrale staatsangehörigkeitsrechtliche Regelung im Deutschen Bund. Durch den dominanten Einfluss des preußischen Staatsangehörigkeitsrechts führen die Gothaer Konventionen neben der Zentralisierung der Staatsangehörigkeit auch zu einer Verstärkung des Abstammungsprinzips.42 Ein weiterer entscheidender Schritt der Zentralisierung und hin zum ersten nationalen Staatsangehörigkeitsrecht von 1870 stellen die Regelungen aus der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 dar. Mit diesem Gesetz kommt es erstmals zu einem staatenübergreifenden Recht der Staatsangehörigkeit in

40 Hailbronner/Brenner 2001: 8. 41 Zit. n. Gosewinkel 2001: 150. 42 Gosewinkel 2001: 149–162.

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Deutschland. 43 Das Gesetz spiegelt allerdings – hier ähnlich dem der Paulskirchenverfassung – noch sehr deutlich die föderative Grundstruktur des Bundesstaats wider, und es fungiert mehr im Sinne einer rechtstechnischen Zusammenfassung der einzelnen Staatsangehörigkeitsregelungen der norddeutschen Staaten, als dass es die einzelstaatlichen Regelungen ersetzen würde. Zudem enthält es keinen Hinweis darauf, wer »Norddeutscher« ist, und anstelle des Wortes »Reichsbürgergesetz« oder »Reichsangehörigengesetz« wählt es die nüchterne, rechtsformale Bezeichnung »Indigenat«: »Für den gesamten Umfang des Bundesgebietes besteht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der Angehörige (Untertan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem andern Bundesstaate als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zugelassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist«.44

Die fehlende Einheit des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts von 1867 bildet schließlich das zentrale Motiv für dessen Reform. Die preußischen Gebietserweiterungen nach den Kriegen von 1864 und 1866 haben dazu geführt, dass allein in Preußen neun verschiedene Staatsangehörigkeitsgesetzgebungen bestehen.45 Das Gesetz von 1867 legt lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Regelungen auf Bundesebene fest. Die Bemühungen um eine staatliche Homogenisierung des Staatsangehörigkeitsrechts im Norddeutschen Bund münden schließlich im einschneidenden »Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit«46 vom 1. Juni 1870.47 Zwar behält das Gesetz noch immer die föderative Struktur bei, wenn es nach Paragraph 1 bestimmt, dass »[d]ie Reichsangehörigkeit […] durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat erworben« wird »und […] mit deren Verlust« erlischt.48 Allerdings wird das Ausmaß der föderativen Diversifizierung erheblich einge-

43 Grawert 1973: 199-202. 44 Artikel 3 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 25. Juni 1867, zit. n. Gosewinkel 2001: 163f. 45 Gosewinkel 2001: 166. 46 Zit. n. Groot 1988: 54. 47 Grawert 1973: 202ff. 48 Zit. n. Groot 1988: 54.

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schränkt.49 Staatsangehörige eines Bundesstaats sind nach wie vor in jedem anderen Bundesstaat als Inländer zu behandeln. Artikel 3 Absatz 6 sichert allerdings nun auch allen deutschen Staatsangehörigen einen »gleichmäßigen Anspruch auf den Schutz des Reichs«50 im Ausland zu. Zudem kommt es zu einer endgültigen Zurückweisung des Einflusses der Gemeindezugehörigkeit. Bislang hat man die Staatsangehörigkeit lediglich als eine Rechtswirkung angesehen, die aus der Gemeindezugehörigkeit hervorgeht, weshalb die Gemeinde- und Heimatgesetzgebung häufig über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit entschieden hat. Nun sind die Regelungen über Erwerb und Verlust erstmals auf Bundesebene definiert und kommunale Mitwirkungsrechte abgeschafft.51 Seine zunehmende Schließungswirkung entfaltet das neue Staatsangehörigkeitsgesetz aber nicht nur durch die nationale Vereinheitlichung, durch die Schlupflöcher zur Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit immer mehr ausgemerzt werden. Das Gesetz wirkt verstärkt schließend auch dadurch, dass Elemente des Jus Soli immer weiter verdrängt werden. Lediglich in einem Sonderfall hält das Gesetz auf Grundlage eines Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags mit Costa Rica noch bis 1897 die praktisch irrelevante Möglichkeit für in Deutschland geborene Söhne eines Costa-Ricaners bereit, die deutsche Staatsangehörigkeit durch das Ortsprinzip zu erwerben.52 Ansonsten lehnt sich das Gesetz eng an das preußische Staatsangehörigkeitsrecht von 1842 an, nach dem die Staatsangehörigkeit durch Abstammung verliehen wird. Eheliche und vom Vater anerkannte Kinder unterliegen dem Jus Sanguinis a Patre, d. h., sie erwerben aufgrund ihrer Blutsverwandtschaft die Staatsangehörigkeit des Vaters. Frauen verlieren bei einer Heirat mit einem Ausländer die deutsche Staatsangehörigkeit, erwerben sie aber nach Paragraph 5 bei Heirat mit einem deutschen Mann. Zwar sind Einbürgerungen nicht ausgeschlossen, jedoch setzt sich auch hier die restriktive Linie Preußens gegenüber den erloschenen Staatsangehörigkeitsgesetzen der anderen Staaten durch. Auf Einbürgerung besteht in keinerlei Hinsicht ein Rechtsanspruch. Antragsteller können lediglich auf eine Bewilligung ihrer Einbürgerung hoffen, wenn sie mehrere Bedingungen erfüllen, nämlich dispositionsfähig sind, einen unbescholtenen Lebenswandel vorweisen können, eine Unterkunft im Zielort besitzen sowie den eigenen Unterhalt bestreiten können. Bezüglich der Verlustkriterien für die deutsche Staatsangehörigkeit sind die

49 Münch 2007: 21. 50 Zit. n. Hailbronner/Renner 2001: 9. 51 Gosewinkel 2001: 166f. 52 Trevisiol 2004: 54f.

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Hürden jedoch noch nicht so hoch gesetzt. Der Verlust ergibt sich bereits durch Verzicht, bei nicht beachtetem Rückruf durch das deutsche Militär oder die deutsche Justiz oder bei im Ausland lebenden Personen nach zehn Jahren ohne Rückmeldung in einem deutschen Konsulat.53 Damit liegt ein in Bezug auf die nationale Schließung bereits recht wirksames deutsches Staatsangehörigkeitsrecht vor. Allerdings ist zu vermuten, dass die Entscheidung für ein restriktives, auf dem Abstammungsprinzip beruhendes Staatsangehörigkeitsgesetz nicht nur Ergebnis ethnisch-kultureller Homogenitätsansprüche ist, sondern auch und vielleicht vor allem dem Interesse an der Erhaltung des staatlichen Entscheidungsmonopols bei der Vergabe der Staatsangehörigkeit geschuldet ist.54 Dafür spricht auch das sachliche Diskussionsklima im Gesetzgebungsverfahren.55 Infolge der Annexion des Elsass und Lothringens nach dem DeutschFranzösischen Krieg kommt es zu einer wesentlichen Neuerung. Aufgrund ihrer besonderen außen- und sicherheitspolitischen Lage erhalten das Elsass und Lothringen nicht den Status von Bundesstaaten, sondern werden als »Reichslande« direkt dem Kanzler des Deutschen Reichs unterstellt, mit analogen Folgen für das Staatsangehörigkeitsrecht. Wer rechtlich zu den Reichslanden zählt, wird unmittelbar Reichsangehöriger und ist somit »Deutscher« nicht über die Zugehörigkeit zu einem Bundesstaat, sondern zum Reich. Mit der unmittelbaren Reichsangehörigkeit ist, wenn auch noch sehr randständig, ein neues zentralistisches Prinzip in die Staatsangehörigkeit eingeführt.56 Dass das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht von 1870 noch erheblichen Raum für eine weitere Nationalisierung und Schließung offenlässt, zeigt sich ab den 1890er Jahren, als im Kontext aufkommender völkischer und rassistischer Nationskonzepte auch eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts angestrebt wird. Die ersten Initiativen erfolgen im Jahr 1894, als eine Gruppe von 33 Abgeordneten überwiegend aus der Nationalliberalen Partei einen Antrag auf Änderungen des Bundesgesetzes von 1870 einreicht, in dem eine weitere Zentralisierung der Staatsangehörigkeit durch eine neu zu errichtende »Reichszentralstelle« gefordert wird, welche die für staatsangehörigkeitsrechtliche Fragen zuständigen höheren Verwaltungsbehörden, in Preußen etwa die königlichen Regierungspräsidenten, in Bayern die königlichen Kreisregierungen und in Baden die großher-

53 Bös 1993: 627; Groot 1988: 54–75; Hailbronner/Renner 2001: 8. 54 Gosewinkel 2001: 170f. 55 Edathy 2000: 33–51. 56 Gosewinkel 2001: 176.

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zoglichen Bezirksämter, ablösen sollte.57 Im Kern geht es bei dem Vorstoß jedoch um die Erschwerung des Erwerbs und des Verlustes der Staatsangehörigkeit bzw. um die Möglichkeit von Zwangsausbürgerungen von als unerwünscht geltenden Personen. Der nationalliberale Abgeordnete und Vorsitzende des Alldeutschen Verbands, Ernst Hasse, begründet die Initiative mit der bedrohten Homogenität des deutschen Volkes. Es bestehe ein »Überschuss an Volkskraft«, ein zu hoher Anteil von »Sprach- und Rassenfremde[n]«, der »überflüssig« und »schädlich«58 sei. Die Initiative von Hasse und seiner Gruppe bildet den Anstoß für eine zwei Jahrzehnte währende Reformdiskussion, bei der die Verfechter des Jus-SoliPrinzips immer weiter verstummen.59 Die antisemitische Stimmung drückt sich in Vorschlägen von 35 konservativen Abgeordneten aus, »Israeliten« grundsätzlich die Einwanderung zu untersagen. Eine Parlamentariergruppe aus den antisemitischen Parteien fordert sogar die Ausweisung eingewanderter jüdischer Gewerbetreibender. Die Anträge werden von den Abgeordneten damit begründet, dass die Juden das gesamte öffentliche Leben ungünstig beeinflussten oder unlauteren Wettbewerb betrieben. Vertreter der antisemitischen Parteien sprechen von einem »parasitischen Volk«, von »Cholerabazillen« und »Judengesindel«.60 Im Ergebnis mündet dieser stark von nationalen Semantiken durchdrungene Reformprozess schließlich in dem »Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz«61 vom 22. Juli 1913. Im Vergleich mit dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 1870 ist zunächst auffällig, dass das Gesetz erstmalig nicht mehr die reine Staatsangehörigkeit, sondern die völkisch konnotierte Bezeichnung des »Deutschen« definiert. Außerdem erwähnt das Gesetz die Möglichkeit der unmittelbaren Reichsangehörigkeit nun an erster Stelle und rückt damit das zentralisierende Moment der deutschen Staatsangehörigkeit stärker in den Vordergrund. Dennoch bleibt das Gesetz der Form nach bei der föderativen Struktur. Paragraph 1 bestimmt, dass »Deutscher ist, wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat oder die unmittelbare Reichsangehörigkeit besitzt«.62 Bezüglich der Schließungswirkung des Gesetzes betrifft die wesentliche Änderung die Erschwerung der Einbürgerung durch Paragraph 9. Der seit 1870

57 Trevisiol 2004: 55. 58 Zit. n. Gosewinkel 2001: 280. 59 Trevisiol 2004: 57. 60 Zit. n. Gosewinkel 2001: 282. 61 Zit. n. Groot 1988: 55. 62 Zit. n. Groot 1988: 55.

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existierende Interpretationsspielraum von örtlichen Behörden bei der Einbürgerung, der in der Praxis erhebliche Unterschiede bei der Anwendung des Gesetzes bedeutete, wird damit unterbunden. Jeder Bundesstaat hat nun die Möglichkeit, die Einbürgerung eines Ausländers per Einspruch im Bundesrat zu verhindern. Umgekehrt kann jedoch nicht durch Einspruch die Einbürgerung eines Ausländers bewirkt werden. Damit kann sich die restriktive Einbürgerungspraxis Preußens im gesamten Bund durchsetzen. Eine weitere Erschwerung der Einbürgerung erfolgt auch durch eine Verschärfung der Kriterien nach Paragraph 8. Während bislang die Niederlassungsabsicht eine der formalen Voraussetzungen für die Einbürgerung ist, muss nun bereits die Niederlassung erfolgt sein. Jedoch wird nicht nur der Erwerb, sondern auch der Verlust der Staatsangehörigkeit nun höheren Hürden unterworfen. Die Regelung, wonach bei zehnjährigem Aufenthalt im Ausland und versäumter Rückmeldung bei einem deutschen Konsulat die Staatsangehörigkeit verloren geht, erlischt.63 Betrachtet man das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 in der Gesamtschau, so scheint es die staatliche Schließung zu vollenden. Das Jus-SanguinisPrinzip hat sich nicht nur in der Gesetzgebung, sondern nun auch in deren Anwendung kompromisslos durchsetzen können, weshalb man das neue Gesetz als »Institution potentiell geschlossener Staatlichkeit«64 bezeichnen kann. Das Gesetz spiegelt deutlich die zugenommene Ethnisierung des nationalen Diskurses in der Öffentlichkeit wider, von wo seine Reform ihren Ausgang genommen hat. Auch die politischen Debatten im Reichstag rund um die Erneuerung des Staatsangehörigkeitsrechts sprechen eine klare Sprache und lassen kaum Zweifel an dessen ethnischer Grundlegung.65 Durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Versailler Vertrag verliert das Deutsche Reich große Teile seines Gebiets mitsamt 6 Millionen deutschen Staatsangehörigen. 66 Die Verfassung der Weimarer Republik von 1919 hält bezüglich der Staatsangehörigkeit in Artikel 110 fest: »Die Staatsangehörigkeit im Reiche und in den Ländern wird nach den Bestimmungen eines Reichsgesetzes erworben und verloren. Jeder Angehörige eines Landes ist zugleich Reichsangehöriger«.67 Auffällig ist an dieser Formulierung im Vergleich zu den Vorgängergesetzen, dass sich nunmehr deutlicher als zuvor die Reichsangehörigkeit nicht mehr aus der Zugehörigkeit zu einem Bundesstaat ergibt, wie es das

63 Trevisiol 2004: 63. 64 Gosewinkel 2001: 324. 65 Edathy 2000: 52–84; Münch 2007: 23–37. 66 Hailbronner/Renner 2001: 12. 67 Zit. n. Groot 1988: 56.

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Gesetz von 1870 noch eindeutig und das Gesetz von 1913 bereits in etwas abgeschwächter Form bestimmt, sondern die Zugehörigkeit zu den Ländern und zum Reich gleichermaßen durch ein Reichsgesetz bestimmt wird. Das zentralisierende Moment innerhalb der föderativen Struktur der Staatsangehörigkeit hat also nochmals an Gewicht gewonnen. Ansonsten ändert sich an den entsprechenden gesetzlichen Grundlagen selbst zunächst nichts. Allerdings erlassen die Länder bereits 1921 gemeinsame Richtlinien für die Behandlung von Einbürgerungsanträgen, die gegenüber der bisherigen Praxis eine weitere Verschärfung der Erwerbs- und Verlustkriterien für die Staatsangehörigkeit bewirken. Die Bestimmungen schränken den Ermessensspielraum der Einbürgerungsbehörden noch weiter ein, indem erstmals eine Mindestniederlassungsfrist von zehn Jahren für »fremdstämmige Ausländer« erlassen wird. Zudem werden zusätzlich neue Erwerbskriterien eingeführt. Es muss nun geprüft werden, ob der Antragsteller »ein ausreichendes Verständnis für deutsches Wesen und für seine öffentlich-rechtlichen Pflichten gegen Reich, Länder und Gemeinden erkennen läßt«, ob er »sich der deutschen Eigenart und der deutschen Kulturgemeinschaft« angepasst hat und ob kein »Nachteil des deutschen Wirtschaftslebens« durch die Einbürgerung entsteht. 68 Im Laufe der 1920er Jahre werden die Bedingungen teilweise noch weiter verschärft, als die Mindestniederlassungsfrist in Preußen 1921 auf 15 Jahre und in Bayern 1925 auf 20 Jahre angehoben wird.69 1923 beginnen Debatten um die Einbürgerungsregelungen, die sich an der Behandlung von Juden entzünden und Teil der verstärkt aufkommenden antisemitischen Tendenzen in der nationalen Semantik sind. In der Verwaltungspraxis der beiden großen süddeutschen Länder Bayern und Württemberg meint der Begriff »Jude« zunehmend nicht mehr einen Angehörigen einer Religionsgemeinschaft, sondern changiert zwischen einer Bezeichnung für Nationalität oder Stammeszugehörigkeit.70 Entsprechend lassen die süddeutschen Staaten die Zuwanderung von Juden mit dem Argument ihrer fehlenden Deutschstämmigkeit nicht mehr zu. In Preußen hingegen vertritt man die Auffassung, dass Judentum und Deutschstämmigkeit sehr wohl vereinbar seien und dass Juden die Einbürgerung zu gestatten sei, wenn sie im Ausland »deutsche Sitte und Sprache« bewahrt hätten. Preußens Modell des »Kulturdeutschen« steht somit dem süddeutschen Modell des »Blutsdeutschen« gegenüber, auch wenn die preußische Ein-

68 Zit. n. Trevisiol 2004: 70. 69 Trevisiol 2004: 70. 70 Gosewinkel 2001: 357.

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bürgerungspraxis von ihrem Gleichheitsanspruch weit entfernt ist und viele Fälle von offenem Antisemitismus zeigt. Mit der Reichsexekution gegen Preußen im Juli 1932 und der Absetzung der sozialdemokratischen Regierung Braun und Severing setzt sich die restriktive Staatsangehörigkeitsregelung der süddeutschen Staaten in der gesamten Republik durch.71 Der Kommentar des Reichsinnenministers Freiherr von Gayl lässt kaum Zweifel an den ethnischen und antisemitischen Motiven für die Verschärfung der Staatsangehörigkeit: Die gegenwärtige Wirtschaftslage ermögliche der deutschen Bevölkerung nicht den »erforderlichen Lebensraum«. Eine »strengere Einbürgerungspraxis gegenüber […] den entwurzelten Existenzen fremder Länder« sei geboten, speziell gegenüber »Fremdstämmigen […] niederer oder doch völlig fremdartiger Kultur, insbesondere also den Angehörigen der slawischen Oststaaten und den Ostjuden«.72 Im politischen Diskurs zur deutschen Staatsangehörigkeit beteiligt sich seit Anfang der 1920er Jahre auch die NSDAP. Die völkischen und antisemitischen Ziele der Bewegung in Bezug auf die deutsche Staatsangehörigkeit werden schon in ihrem Parteiprogramm vom 24. Februar 1920 deutlich. In Punkt 4 hält es fest: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volkgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein«.73 Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 kommt es zu einer entsprechenden Abänderung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, die zu einer völligen Abschaffung der föderativen Struktur und einer rassistischen Überformung des Jus-Sanguinis-Prinzips führt sowie zudem Grundlage für die in der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft erfolgten Massenexpatriationen ist. Mit dem »Gesetz über den Neuaufbau« von 1934 wird die föderalistische Struktur im Deutschen Reich aufgehoben. Eine entsprechende Verordnung zur Übereinstimmung des Staatsangehörigkeitsrechts mit diesem Gesetz hält fest: »Die Staatsangehörigkeit in den deutschen Ländern fällt fort. Es gibt nur noch eine deutsche Staatsangehörigkeit (Reichsangehörigkeit)«.74 Die Überformung des Staatsangehörigkeitsrechts zu einer rassistisch kodifizierten Staatsangehörigkeit tritt mit dem »Reichsbürgergesetz« und dem »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« vom 15. September 1935 ein. Nach dem »Reichsbürgergesetz« wird das Staatsvolk

71 Gosewinkel 2001: 366. 72 Zit. n. Gosewinkel 2001: 366. 73 Zit. n. Schoun-Wiehl 1970: 60. 74 Zit. n. Groot 1988: 56.

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eingeteilt in die Klasse der Reichsbürger als Träger der vollen politischen Rechte und Pflichten und in die Klasse der minderberechtigten Staatsangehörigen. Dieses Gesetz ist eng verzahnt mit dem »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes« dadurch, dass Reichsbürger nur sein kann, wer »deutschen oder artverwandten Blutes ist«.75 Letzteres Gesetz sei »durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes ist und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern«.76 Entsprechend verbietet das Gesetz Ehen zwischen Juden und Reichsbürgern und allen Eheschließungen wird der Nachweis ihrer »Rassereinheit« abverlangt. Das Prinzip der Abstammung wird damit zu einem rassistischen Prinzip überformt. Während noch nach dem Jus Sanguinis prinzipiell Angehörige jeder Nationalität mit deutscher Staatsangehörigkeit diese ihren Nachkommen vererben können, werden nun aufwendige Versuche unternommen, Kriterien von Rassenzugehörigkeit festzustellen, die allein über die Erlaubnis zur Ehe und den Erwerb der Reichsbürgerschaft entscheiden sollen.77 Die neue Radikalität des deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes entsteht über die Abschaffung des Föderalismus und seine rassistische Grundlegung hinaus aus einem weiteren Paradigmenwechsel. Während die Grundlegung auf ein ethnisch konzipiertes Staatsangehörigkeitsrecht bislang dazu dient, die Einbürgerung »fremdrassiger« Personen immer weiter einzudämmen und sogar zu verhindern, sind nun explizit auch Ausbürgerungen zur Herstellung und Wahrung einer als ethnisch rein vorgestellten nationalen Gemeinschaft per Gesetz vorgesehen. Nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 ist der Ausschluss von der Staatsangehörigkeit noch an die Verletzung fundamentaler Loyalitätspflichten gegenüber dem Staat gebunden, wie der Wehrpflichtentziehung, der Fahnenflucht oder dem unerlaubten Eintritt in fremde Staatsdienste. Paragraph 1 des »Gesetz[es] über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit« vom 14. Juli 1933 ermöglicht den Widerruf der Staatsangehörigkeit von Personen jedoch bereits für den Fall, dass »die Einbürgerung nicht als erwünscht anzusehen ist«.78 Das Gesetz legt explizit fest, dass die Ausbürgerungsmaßnahmen insbesondere auf die so genannten Ostjuden anzuwenden seien. Erstmals kann damit ein zugeschriebenes Rassenmerkmal, das als objektiv und absolut gilt und vom Betreffenden selbst nicht beeinflussbar ist, zum alleinigen Maßstab des Ausschlusses von der Staatsangehörigkeit erhoben

75 Zit. n. Dann 1996: 299. 76 Zit. n. Dann, 1996: 299. 77 Gosewinkel 2001: 383–393. 78 Zit. n. Gosewinkel 2001: 370.

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werden.79 Weiterhin zielt das Gesetz auf die Aberkennung der Staatsangehörigkeit von Personen ab, die deutschen Interessen zuwiderhandeln, die ihre »Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk« verletzen. Dabei reicht anders als noch in der Weimarer Republik bereits ein Verhalten aus, das als staatsfeindlich eingestuft wird, weil es bspw. »feindseliger Propaganda gegen Deutschland«80 Vorschub leiste. Das Gesetz wird damit zu einem universalen Strafinstrument gegen beliebig definierbare Regimegegner und Kritiker der nationalsozialistischen Ideologie.81 Im Laufe der nationalsozialistischen Herrschaft werden Maßnahmen solcher Zwangsexpatriationen immer weiter ausgedehnt. Zunächst begrenzt das Regime die Ausbürgerungsmaßnahmen vor allem auf einflussreiche Persönlichkeiten wie Thomas Mann oder Albert Einstein. Mit dem Erstarken des Dritten Reichs während der 1930er Jahre dehnen sich die Maßnahmen zunehmend zu Massenausweisungen aus. Ab 1937 werden die Ausbürgerungen zu einem polizeilichen Verfahren unter Federführung der Gestapo und zunehmend werden nicht mehr politische, sondern rassistische Tatbestände zum Grund der Ausweisung.82 1941 und 1942 erlassene Verordnungen ermöglichen generell die Ausbürgerung von deutschen Juden, die sich im Ausland befinden.83 Die nationale Schließungswirkung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts erreicht mit diesen Maßnahmen ihren historischen Höhepunkt. Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7./8. Mai 1945 und der Verhaftung der Regierung Dönitz einige Tage später hört das Deutsche Reich im rechtlichen Sinne zwar nicht zu existieren auf, jedoch ist es durch den Verlust aller staatlichen Organe handlungsunfähig. Die alliierten Siegermächte übernehmen die Regierungsgewalt und damit die gesetzgeberische Kompetenz auch für das Staatsangehörigkeitsrecht. Die Maßnahmen der Alliierten konzentrieren sich hier vor allem darauf, die staatsangehörigkeitsrechtlichen Änderungen des nationalsozialistischen Regimes rückgängig zu machen. Hervorzuheben ist hier vor allem das Gesetz Nr. 1 des Alliierten Kontrollrats, das bereits am 20. September 1945 das Reichsbürgergesetz von 1933 und sämtliche auf seiner Grundlage erlassenen Verordnungen und Durchführungsvorschriften

79 Gosewinkel 2001: 371. 80 Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 26. Juli 1933, zit. n. Gosewinkel 2001: 376. 81 Gosewinkel 2001: 376. 82 Gosewinkel 2001: 376f. 83 Bös 1993: 627.

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aufhebt, auf denen unter anderem die Massenausbürgerungen beruht haben. Später werden mit einem Gesetz der Alliierten Hohen Kommission die zwangsweise erfolgten Einbürgerungen von Franzosen und Luxemburgern für nichtig erklärt.84 Für die kurze Zeit nach der durch den Austritt der Sowjetunion bewirkten Auflösung des Alliierten Kontrollrats 1948 und der Inkraftsetzung des Grundgesetzes 1949 wird das Staatsangehörigkeitsrecht in den verschiedenen Teilrechtsgebieten, die sich nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Deutschland gebildet haben, in unterschiedlicher Weise geregelt.85 Durch die Maßnahmen der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg wird der Rechtszustand vor der nationalsozialistischen Machtergreifung mitsamt gewisser föderativer Strukturen wieder hergestellt und es gilt in Deutschland das Wilhelminische Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 auf der Basis des Jus Sanguinis. Die Bestimmungen des Grundgesetzes von 1949 bestätigen diese Maßnahmen. Artikel 116 bestimmt: »Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist […], wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat«.86

Über das Zurückfallen auf das Jus-Sanguinis-Prinzip hinaus geht die Konformität des Grundgesetzes mit dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 soweit, explizit die Eigenschaft des deutschen und nicht etwa des westdeutschen Staatsangehörigen zu definieren. Das Grundgesetz erkennt die Teilung Deutschlands nicht an und enthält deshalb auch keine spezielle westdeutsche Staatsangehörigkeit.87 Weiterhin kommt es zu einer gewissen Wiedereinführung der alten föderativen Struktur des Staatsangehörigkeitsrechts. Das Grundgesetz erwähnt in Artikel 74 die »Staatsangehörigkeit in den Ländern«.88 Da diese Landesangehörigkeit jedoch vollständig in die Staatsangehörigkeit eingeordnet ist, ist sie mit Ausnahme des Wahlrechts hinsichtlich der jeweiligen Landesvertretung kaum von Bedeutung.89

84 Sturm/Sturm 2001: 29; Hailbronner/Renner 2001: 18. 85 Vgl. zu den Einzelheiten Hailbronner/Renner 2001: 19f. 86 Zit. n. Brubaker 1994: 220, Hervorhebung im Original. 87 Brubaker 1994: 220. 88 Zit. n. Münch 2007: 87. 89 Vgl. im Einzelnen hierzu Münch 2007: 77–89.

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Die Gesetzgebung der Bundesrepublik hat in den folgenden Jahrzehnten verschiedene, eher geringfügige Veränderungen am Staatsangehörigkeitsrecht vorgenommen.90 Mit dem ersten und zweiten »Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit« von 1955 und 1956 werden die Sammeleinbürgerungen aus der Zeit von 1938 bis 1945 beseitigt. Das dritte »Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit« von 1957 und das »Gesetz zur Änderung der Reichs- und Staatsangehörigkeit« von 1969 passen die Folgen von Eheschließungen mit Ausländern dem Gleichberechtigungsanspruch an. Es folgen weitere kleine Änderungen wie etwa durch das Übereinkommen über die Verringerung von Mehrstaatlichkeit von 1977.91 Die Denationalisierung der deutschen Staatsangehörigkeit in der Nachkriegszeit macht sich neben der Aufhebung der nationalsozialistischen Gesetze und der damit einhergehenden Wiedereinführung des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 am Umstand der deutschen Teilung fest, in deren Folge die DDR in ihrer Verfassung von 1949 und in weiteren Gesetzen eine eigene Staatsangehörigkeit einführt. Analog zur westdeutschen Verfassung hält Artikel 1 Absatz 4 fest: »Es gibt nur eine dt StAng.«92 Die Auffassung von der Existenz einer einheitlichen Staatsangehörigkeit in Deutschland liegt auch weiteren rechtlichen Bestimmungen der DDR zugrunde. Damit bestehen einerseits zwei deutsche Staatsangehörigkeiten auf deutschem Boden, andererseits jedoch sind diese gegenüber Angehörigen des jeweils anderen deutschen Staats vollkommen offen, so dass eine Übersiedlung in beide Richtungen ohne Weiteres möglich ist. Allerdings wird mit dem »Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR« von 1967 der Begriff der DDR-Staatsangehörigkeit eingeführt und durch das »Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsbürgerschaft« von 1972 wird die Staatsangehörigkeit Personen aberkannt, die das Land gesetzeswidrig verlassen. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wird das DDR-Staatsangehörigkeitsgesetz aufgehoben.93 Die Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts in der Nachkriegszeit muss man vor dem Hintergrund der Einwanderung von Gastarbeitern seit den 1950er Jahren sehen.94 Der Wirtschaftsaufschwung führt zu einem Arbeitskräftemangel,

90 Vgl. im Detail dazu Weidelender/Hemberger 1979 und zu den entsprechenden Debatten im Bundestag Hecker 1990. 91 Hailbronner/Renner 2001: 21–23. 92 Zit. n. Hailbronner/Renner 2001: 23. 93 Vgl. zur DDR-Staatsangehörigkeit Hailbronner/Renner 2001: 23–26 u. Weidelender/Hemberger 1979: 299–314. 94 Vgl. hierzu Brubaker 1994: 223–231.

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so dass man Gastarbeiter aus Südeuropa und der Türkei rekrutiert. 1972 stellen sie bereits 6,4 Prozent der Gesamtbevölkerung dar. Noch bis 1970 rechnet man allerdings nicht mit einer dauerhaften Ansiedlung. Im Laufe der 1970er Jahre werden jedoch immer mehr dieser Ausländer in Deutschland sesshaft, so dass sich bald die Frage nach dem Umgang mit der Anomalie der Ansässigkeit ohne Staatsangehörigkeit stellt. Vor diesem Hintergrund werden 1990 die Einbürgerungsrichtlinien im Rahmen einer umfassenden Reform des Ausländerrechts liberalisiert. Im Kern schränkt die Reform den Ermessensspielraum der Beamten bei der Verweigerung oder Genehmigung der Einbürgerung von in Deutschland geborenen oder 15 Jahre dort lebenden Personen ein. Auch wenn die Reform einen weiteren Schritt in Richtung einer Öffnung der deutschen Staatsangehörigkeit markiert, bleiben entscheidende Hindernisse für die Einbürgerung in der Praxis bestehen. Eine Einbürgerung der Einwanderer ist nämlich nicht ohne den Verzicht auf die Staatsangehörigkeit ihres Heimatlandes möglich, was viele von dem Versuch einer Einbürgerung in Deutschland abgehalten haben dürfte. Vor allem aber bleiben die Grundsätze des Staatsangehörigkeitsrechts von 1913 in Kraft, das auf einem reinen Jus-Sanguinis-Prinzip beruht. Im Vergleich etwa mit der Rechtssituation in Frankreich bewirkt das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht damit eine vergleichsweise starke Schließung. Insgesamt kommt es also trotz der massiven Einwanderung in Deutschland nicht zu einer umfassenden Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts von 1913. Grund dafür ist sicherlich auch die Sorge, eine Reform könnte die Auffassung einer gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit in Frage stellen. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 kann dann jedoch ein Reformprozess beginnen, der in der Staatsangehörigkeitsnovelle von 1999 mündet. 95 Gegenüber dem Gesetz von 1913 kommt es zu einem deutlichen Schritt der Öffnung der Staatsangehörigkeit nach außen, indem erstmals Jus-Soli-Elemente aufgenommen werden: Kinder ausländischer Eltern erwerben mit der Geburt im Inland die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sich ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig im Inland aufhält oder seit drei Jahren über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt. Umgekehrt vermitteln Auslandsgeburten die deutsche Staatsangehörigkeit nicht mehr, wenn schon der deutsche Elternteil im Ausland geboren worden ist und sich dort gewöhnlich aufhält. Entscheidend ist zudem die Hinnahme der Mehrstaatlichkeit, womit ein entscheidendes Hindernis für Einbürgerungen beiseite geräumt wird.96

95 Sturm/Sturm 2001: 36. 96 Sturm/Sturm 2001: 40f.

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Die Liberalisierung und Öffnung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts wird nicht nur auf nationaler Ebene vorangetrieben. Ein weiterer entscheidender Faktor für die Öffnungstendenzen ist die zunehmende Verflechtung nationalen Rechts in europäische und internationale Rechtskontexte.97 Die europäische Integration und vor allem die Schaffung eines europäischen Unionsbürgerstatus schränken die nationale Souveränität der Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihres Staatsangehörigkeitsrechts bereits teilweise ein. Grundsätzlich gilt ein Akzessorietätsverhältnis zwischen nationaler Staatsangehörigkeit und europäischer Unionsbürgerschaft: Die Unionsbürgerschaft ist an die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit angebunden, d. h., sie ergibt sich aus dieser als eine Folge. In Artikel 17 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) heißt es: »Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsangehörigkeit, ersetzt sie aber nicht.« Aus dieser Rechtskonstellation ergeben sich allerdings eine Reihe von Problemen, die eine Stärkung der europäischen Unionsbürgerschaft entweder bereits bewirkt haben oder diese in Zukunft erwarten lassen. Die Mitgliedstaaten können ohne Rücksicht aufeinander auf nationaler Ebene festlegen, wem sie etwa über Einbürgerung Zugang zur Unionsbürgerschaft verschaffen wollen – mit Folgen für die gesamte Gemeinschaft. Der Europäische Gerichtshof hat daher im Michelletti-Urteil von 1992 das Prinzip der Unterscheidung von Rechtswirkungen der Staatsangehörigkeit für innerstaatliche Belange einerseits und für Zwecke des Gemeinschaftsrechts andererseits eingeführt. Die Bestätigung, dass die Zuständigkeit für die Staatsangehörigkeit bei den einzelnen Mitgliedstaaten liege, wird im Urteil mit dem entscheidenden Halbsatz ergänzt, dass »von dieser Zuständigkeit […] unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts Gebrauch zu machen«98 ist. Das bedeutet, dass die Befugnis der Mitgliedstaaten bezüglich der Staatsangehörigkeit für den Bereich des Gemeinschaftsrechts nicht unbeschränkt ist. Die Akzessorietät zwischen mitgliedstaatlicher Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft kann also durchbrochen werden, was den autonomen Rechtsstatus der Unionsbürgerschaft sichtbar macht.99 Die Koexistenz von mitgliedstaatlicher Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft führt noch zu weiteren Problemen, deren Lösung eine künftige Europäisierung der Staatsangehörigkeit wahrscheinlich macht. So ist bspw. fraglich, wie die Unterschiedlichkeit der Kriterien für den Erwerb der Unionsbürger-

97 Vgl. allgemein hierzu Kleger (Hrsg.) 1997. 98 Zit. n. Kotolakidis 2000: 307. 99 Vgl. Kotolakidis 2000: 292–316.

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schaft je nach Mitgliedstaat mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung zu vereinbaren ist.100 Außerdem muss eine europäische Verfassung eigenständig definieren, wer zur europäischen Bevölkerung zu zählen ist, z. B. um die Erfüllung des Kriteriums für eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Europäischen Rat zu prüfen, nach der drei Fünftel der europäischen Bevölkerung repräsentiert sein müssen.101 Schließlich ist noch die globale Universalisierung des Rechts als Quelle staatlicher Öffnung zu nennen. Die Verfestigung eines internationalen Rechtskontexts in der Nachkriegszeit führt insofern zu einem Wandel der Staatsangehörigkeit, als dass die Anerkennung universeller Menschenrechte auf globaler Ebene zu einer Ausdifferenzierung des Staatsangehörigkeitsstatus einerseits und der damit üblicherweise verbundenen Rechte andererseits führt. Ehemals an die Staatsangehörigkeit gebundene Rechte werden zunehmend abstrakt und auf globaler Ebene legitimiert, was natürlich die Bedeutung der nationalen Staatsangehörigkeit einschränkt, weil die Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Nichtzugehörigen in Bezug auf die Wahrnehmung grundlegender Rechte tendenziell verblasst.102

7.2 N ATIONALE S CHLIESSUNG IM S TAATSANGEHÖRIGKEITSRECHT F RANKREICHS Die nationale Staatsangehörigkeit entsteht wie der moderne Verfassungsstaat überhaupt als eine Folge der Französischen Revolution. Die erste konstitutionelle und nationale Staatsangehörigkeit im modernen Sinn stammt aus der französischen Verfassung des Jahres 1791. Mit dieser wird die Rechtsstruktur des Ancien Régime abgeschafft, bei der sich die grundlegenden Rechte und Pflichten des Einzelnen aus einem verschachtelten System von Rechtsbeziehungen ergeben. Der rechtliche Status einer Person wird nicht über nationale Zugehörigkeit bestimmt, sondern über die vielfältigen Möglichkeiten der Zugehörigkeit zu einer seigneurie, einem pays d’état oder einer ville franche, über Standes- und Religionszugehörigkeit oder über Zugehörigkeit zu einer Gilde, einer Universität oder einem parlement.103

100 Zu diesem Problemfeld ausführlich Stern 2008. 101 Hierzu und zu weiteren Problemen ausführlicher Groot 2003: 36–43. 102 Vgl. das Konzept der »postnationalen Mitgliedschaft« bei Soysal 1996. 103 Brubaker 1994: 63.

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Zwar kann bereits das Rechtssystem des Ancien Régime zwischen Franzosen und Ausländern durch das droit d’aubaine formal unterscheiden, jedoch ist diese Differenzierung sowohl in ideologischer als auch in praktischer Hinsicht bedeutungslos, da für Ausländer kaum Rechtsnachteile bestehen. Zudem wird das droit d’aubaine trotz seiner Bedeutungslosigkeit im Zuge der Revolution unter Berufung auf die universellen Menschenrechte abgeschafft. Im entsprechenden Erlass vom 6. August 1791 heißt es: »Die Nationalversammlung, die der Meinung ist, daß das droit d’aubaine in Widerspruch zu den Prinzipien der Brüderlichkeit steht, die alle Menschen vereinen sollte, welches auch ihr Land oder ihre Regierung sei […] und daß das jetzt freie Frankreich seinen Busen allen Völkern der Erde öffnen sollte, indem es sie einlädt, unter einer freien Regierung die heiligen und unverletzlichen Rechte der Menschheit zu genießen, hat verfügt: Das droit d’aubaine [ist] für immer abgeschafft.«104

Die Verfassung von 1791 ersetzt das droit d’aubaine durch Artikel 2, der die erste rechtliche Definition nationaler Zugehörigkeit in Frankeich liefert. Französische Staatsbürger sind demnach »ceux qui sont nés en France d’un père français; ceux qui, nés en France d’un père étranger, ont fixer leur résidence dans le royaume; ceux qui, nés en pays étranger d’un père français, sont revenus s’établir en France et ont prêté le serment civique«.105

Diese Definition basiert auf dem Jus Soli. Der Geburtsort bestimmt die Vergabe der Staatsangehörigkeit. Das Jus Soli wird hier so stark gemacht, dass jedes in Frankreich geborene Kind eines in Frankreich ansässigen Vaters, unabhängig von dessen Nationalität, automatisch die französische Staatsangehörigkeit erhält. Die Erlangung der französischen Staatsangehörigkeit unterliegt damit äußerst niedrigen Anforderungen. Die Unterscheidung zwischen In- und Ausländer hat genau wie schon unter dem droit d’aubaine kaum eine rechtliche Relevanz, da an die französische Staatsangehörigkeit noch kaum weitere Rechte geknüpft sind. Ausländer in Frankreich können von ihren Eltern erben, unabhängig davon, ob diese Ausländer oder Franzosen sind. Sie können Verträge schließen, Besitz in Frankreich erwerben und darüber wie Staatsangehörige verfügen. Sie können

104 Zit. n. Brubaker 1994: 73, Hervorhebung im Original. 105 Zit. n. Weil 2002: 20.

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sich in Frankreich aufhalten, unterstehen denselben Straf- und Polizeigesetzen und genießen den gleichen Rechtsschutz.106 Weil der Rechtsstatus von Franzosen und Ausländern kaum Unterschiede erkennen lässt, ist nicht nur die französische Staatsangehörigkeit an sich relativ durchlässig, auch ihr Erwerb über Einbürgerung erfolgt verhältnismäßig einfach. Die Einbürgerung regelt ein eigenständiges Gesetz vom 2. Mai 1790, demgemäß automatisch Franzose wird, wer seit mindestens fünf Jahren in Frankreich lebt, dort Immobilien besitzt, ein kommerzielles Unternehmen führt, eine Französin geheiratet hat oder wem eine französische Stadt die Zugehörigkeit zum Bürgertum attestiert. Außerdem kann jeder, der den Schwur auf die Verfassung leistet, Franzose werden. Und selbst wer diesen Eid nicht leistet, kann nach der Rechtsprechung im Bereich der Militärrekrutierung als Franzose gelten und in der Folge zum Militärdienst verpflichtet werden.107 Die nachfolgende Verfassung von 1795 ändert nichts an der deutlichen JusSoli-Orientierung des Staatsangehörigkeitsrechts. Sie hebt allerdings die Hürden zur Erlangung der französischen Staatsangehörigkeit geringfügig an. Durch die neue Verfassung erlischt die Regelung des Gesetzes vom 2. Mai 1790, wonach in Frankreich residierende Ausländer die französische Staatsangehörigkeit automatisch erlangen können. Als Bedingungen für die Erlangung der Staatsangehörigkeit ist nun der Willensakt einer Erklärung des Antragstellers erforderlich, die die Absicht bestätigt, sich in Frankreich niederlassen zu wollen. Außerdem wird die Wartezeit bis zur Einbürgerung von fünf auf sieben Jahre des Aufenthalts auf französischem Territorium erhöht. Und danach erfolgt die Einbürgerung erst sobald Steuern gezahlt werden.108 Die Verfassung von 1799 bleibt nach der Machtübernahme Napoleons in der Tradition ihrer Vorgängerinnen. Die Einbürgerung erfolgt nach dem Prinzip der Verfassung von 1795, jedoch wird die Hürde zur Einbürgerung erneut geringfügig angehoben, indem die Wartezeit zur Erlangung der Staatsangehörigkeit nach der Abgabe der verlangten Niederlassungserklärung um weitere drei Jahre auf nun zehn Jahre verlängert wird.109 Genauso bleibt die Verfassung bei der Bestimmung der französischen Staatsangehörigkeit dem Jus-Soli-Prinzip verhaftet. In Artikel 2 heißt es:

106 Brubaker 1994: 73f. 107 Weil 2002: 23ff.; Grawert 1973: 156–159. 108 Weil 2002: 25. 109 Weil 2002: 25.

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»tout homme né et résidant en France qui, âgé de vingt et un ans accomplis, s’est fait inscrire sur le registre civique de son arrondissement communal, et qui a demeuré depuis pendant un an sur le territoire de la République est citoyen français«.110

Der Artikel bestimmt ausdrücklich den »citoyen français«, also die Qualität der Staatsbürgerschaft im Sinne eines besonderen Mitgliedstatus, der den Besitz und die Ausübung politischer Rechte konstituiert. Formal bezieht sich die Staatsbürgerschaft damit auf eine privilegierte Untergruppe der Staatsangehörigen.111 Auf die Staatsangehörigkeit im Sinne eines allgemeinen Mitgliedstatus, der grundlegende Rechte und Pflichten vermittelt, geht der Paragraph nicht explizit ein. In der praktischen Anwendung und Interpretation des Gesetzes macht sich jedoch dieser Unterschied zwischen Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit, ebenso wie in den vorherigen Verfassungen, nicht bemerkbar. Es besteht in der französischen Rechtsprechung kein Zweifel daran, dass der Artikel 2 der Verfassung von 1799 die Eigenschaft des Franzosen bestimmt, also die Staatsangehörigkeit. Dies zeigen in der Rechtsprechung die Fälle Jean-Pierre Jacques und Francois Verhaegen, denen die Gerichte aufgrund dieses Artikels die Staatsangehörigkeit zuerkennen, weil sie als Kinder ausländischer Väter im Jahr 1800 auf französischem Territorium geboren werden.112 Diese Rechtssituation ändert sich mit dem Inkrafttreten des Code civil im Jahr 1803. Mit der Einführung des für die Staatsangehörigkeit relevanten ersten Buches des Code civil, De la jouissance et de la privation des droits civils, am 18. März 1803 wird die Unterscheidung von Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft relevant.113 Artikel 7 des Gesetzes bestimmt: »l’exercice des droits civils est indépendant de la qualité de citoyen, laquelle ne s’acquiert et ne se conserve que conformément à la loi constitutionnelle«.114 Das bedeutet, dass fortan die Definition der französischen Staatsangehörigkeit dem Code civil entspringt und die Verfassung von 1799 nur noch die französische Staatsbürgerschaft definiert. Entscheidend ist nun, dass der Code civil mit der Jus-SoliTradition des bisherigen französischen Staatsangehörigkeitsrechts bricht und

110 Zit. n. Weil 2002: 26. 111 Zu dieser Unterscheidung Brubaker 1994: 68. 112 Vgl. hierzu Weil 2002: 27. 113 Grawert 1973: 159–164. 114 Zit. n. Weil 2002: 26.

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stattdessen die neuen Regelungen auf dem Jus Sanguinis gründen.115 Der Code civil hält fest: Franzose ist »l’enfant né d’un père français«.116 Im Vergleich zur vorherigen Rechtssituation geht damit vor allem ein entscheidender Unterschied einher: Der Verlust der Staatsangehörigkeit bei Verlagerung des Wohnsitzes ins Ausland wird zum ersten Mal eindeutig ausgeschlossen. 117 Was die Kriterien zur Erlangung der Staatsangehörigkeit anbetrifft, so sind die Veränderungen trotz der Umstellung auf das Jus Sanguinis jedoch kaum spürbar. Der Code civil bestimmt: »Tout individu né en France d’un étranger pourra, dans l’année qui suivra l’époque de sa majorité, réclamer la qualité de Français, pourvu que, dans le cas où il résiderait en France, il déclare que son intention est d’y fixer son domicile, et que, dans le cas où il résiderait en pays étranger, il fasse sa soumission de fixer en France son domicile, et qu’il 118

l’y établisse dans l’année à compter de l’acte de soumission«.

In Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern erhalten demnach wie schon seit der Verfassung von 1795 nicht mehr automatisch die französische Staatsangehörigkeit. Diese Kinder müssen nach Erlangung ihrer Volljährigkeit auf französischem Territorium residieren bzw. ihre Absicht erklären, sich in Frankreich niederzulassen und sie müssen dies innerhalb eines Jahres in die Tat umsetzen. Wenn diese Bedingungen vorliegen, kann die Einbürgerung beantragt werden. Trotz der Einführung der Jus-Sanguinis-Elemente in die französische Staatsangehörigkeit bleibt die nationale Schließungskraft des französischen Staatsangehörigkeitsrechts auch mit Inkrafttreten des Code civil noch deutlich limitiert. Der automatische Erwerb der Staatsangehörigkeit für in Frankreich geborene Kinder wird lediglich ersetzt durch einen Einbürgerungsanspruch. Rechtstechnisch gesprochen bedeutet das, dass das Jus-Soli-Prinzip latent in Kraft bleibt. In Frankreich geborene Kinder ausländischer Väter erhalten mit Geburt sozusagen eine verdeckte französische Staatsangehörigkeit, die sie nach Vollendung der Volljährigkeit lediglich aktivieren müssen. Nur wenn diese Formalität ausbleibt, greift das Jus Sanguinis und diese Kinder werden zu Ausländern.119 Entscheidender noch ist, dass die ohnehin schwache rechtliche Unterscheidung zwischen In- und Ausländern durch eine weitere Regelung des Code civil

115 Brubaker 1994: 124f. 116 Zit. n. Weil 2002: 27. 117 Weil 2002: 12. 118 Zit. n. Weil 2002: 35. 119 Brubaker 1994: 125f.

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unterlaufen wird. Um der Polizei zu helfen, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts von Ausländern auf französischem Territorium festzustellen, eröffnet Artikel 13 des Code civil Ausländern die Möglichkeit der Erlangung einer so genannten admission à domicile. Obgleich diese nicht von der Zentralregierung, sondern von der jeweiligen Kommune erteilt wird und insofern einen von der Staatsangehörigkeit unabhängigen Status darstellt, garantiert sie alle mit der Staatsangehörigkeit verbundenen zivilen Rechte. Die einzige Erwerbsbedingung für die admission à domicile besteht für den Antragsteller in der Vorlage gültiger Papiere bzw. anderer Atteste, anhand derer die Obdachlosigkeit des Antragstellers ausgeschlossen werden kann.120 Vor dem Hintergrund der bestehenden Einbürgerungsauflagen entwickelt sich die admission à domicile schnell zu einem für Einwanderer außergewöhnlich attraktiven Status, denn sie bietet nicht nur alle Vorteile der französischen Staatsangehörigkeit, sondern gleichzeitig sind deren Inhaber von bestimmten mit der Staatsangehörigkeit verbundenen Pflichten, vor allem dem Militärdienst, befreit.121 Mit den Veränderungen der Verfassungen von 1795, 1799 und insbesondere mit der Umstellung auf das Jus Sanguinis im Code civil werden die Hürden zur Erlangung der französischen Staatsangehörigkeit und zu deren Verlust jeweils geringfügig erhöht. Die Unterscheidung zwischen Franzosen und Ausländern gewinnt im Vergleich zur Gesetzgebung der Französischen Revolution an Trennschärfe, ist jedoch insgesamt immer noch relativ schwach.122 Von den nächsten Regime- und Verfassungswechseln zur Restaurationsmonarchie 1814 und zur Julimonarchie 1830 bleiben die Regelungen zur Staatsangehörigkeit unberührt. Erst als mit der Wirtschaftskrise 1847/48 erneut eine Revolution ausbricht und mit der Gründung der Zweiten Republik ein weiterer Regimewechsel erfolgt, wird auch das Staatsangehörigkeitsrecht wieder geringfügig verändert. So wie die Gründung der Republik von einer verstärkten nationalen Semantik begleitet wird, so wird auch die Schließungskraft des französischen Staatsangehörigkeitsrechts durch Gesetze von 1849 und 1851 erhöht.123 Bislang genügte es, zehn Jahre auf französischem Territorium gewohnt zu haben, um zur Einbürgerung zugelassen zu werden. Mit einer Veränderung der Einbürgerungsrichtlinien 1849 kann nun nicht mehr eingebürgert werden, wer nicht seit mindestens zehn Jahren über eine admission à domicile verfügt. Folglich muss der

120 Zit. n. Weil 2002: 41. 121 Weil 2002: 40ff. 122 Vgl. auch Makarov 1947: 107–113. 123 Brubaker 1994: 128–132.

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Antragsteller zweimal die teuren Bearbeitungsgebühren bezahlen. In der Folge fällt die Zahl der Einbürgerungen deutlich ab. Interessant ist der Vergleich der offiziellen Begründung dieser Maßnahmen mit den kosmopolitischen Einstellungen der Autoritäten während der Revolutionszeit. Die Regierung lässt verlautbaren, dass diese Erschwerung der Einbürgerungsbedingungen aus folgendem Grund wünschenswert sei: »il faut éviter, en général, d’affilier au pays des étrangers qui peuvent, plus tard, devenir une charge pour lui«.124 Die zweite Gesetzesänderung der Zweiten Republik betrifft die Einführung des doppelten Jus Soli im Jahr 1851. In Frankreich geborene Kinder von ebenso in Frankreich geborenen Ausländern erwerben die französische Staatsangehörigkeit, behalten aber bei Erreichung der Volljährigkeit die Möglichkeit, diese aufzugeben. Von dieser Option wird in den meisten Fällen Gebrauch gemacht, weil somit die Pflicht zum Militärdienst entfällt, ohne dass nennenswerte Nachteile entstehen. Durch die beiden Gesetze von 1849 und 1851 hat die Schließungskraft der französischen Staatsangehörigkeit insgesamt wiederum nur geringfügig zugenommen, vor allem weil nach wie vor die Möglichkeit des Erwerbs einer admission à domicile zur Verfügung steht, die den Rechtsstatus von Franzosen und Ausländern einander angleicht.125 Die Machtergreifung Napoleons III. und die neue Verfassung von 1852 sowie die Gründung der Dritten Republik und deren Verfassungen von 1875 bzw. 1879 bringen für die französische Staatsangehörigkeit ebenfalls kaum relevante Veränderungen. Im Zuge der zunehmenden Nationalisierung des politischen Diskurses während der Dritten Republik wird allerdings mit einem Gesetz vom 26. Juni 1889 die französische Staatsangehörigkeit in entscheidender Weise reformiert.126 Das Gesetz hält das Prinzip des doppelten Jus Soli von 1851 bei, führt allerdings eine weitreichende Änderungen ein: Die admission à domicile, die bislang den Rechtsstatus von Staatsangehörigen und Ausländern nahezu angeglichen hat, wird als dauerhafter Ersatz für die Staatsangehörigkeit abgeschafft. Ab 1889 wird die admission à domicile nur noch als erste Maßnahme der Einbürgerungsprozedur vergeben. Wer zu ihr zugelassen und nach fünf Jahren noch nicht eingebürgert ist, verliert seinen Status und wird einfacher Ausländer mit jetzt deutlich verminderten Rechten. Der Grund dafür ist, dass viele andere Gesetze der Unterscheidung zwischen In- und Ausländern jetzt erhebliche Relevanz zumessen. Während z. B. das Gesetz über Beihilfe für Bedürftige von 1851 Kranken-

124 Zit. n. Weil 2002: 45. 125 Weil 2002: 50. 126 Brubaker 1994: 132–136.

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häuser noch verpflichtet, Arme und Kranke ohne Unterschied ihrer Herkunft aufzunehmen, und auch das Gesetz über die Sozialversicherungsträger noch nicht differenziert zwischen Arbeitern verschiedener nationaler Herkunft, schließen die meisten Sozialgesetze der Dritten Republik Ausländer explizit vom Rechtsschutz aus. Nur für französische Staatsangehörige gelten das Arbeitsunfallgesetz von 1889 und das Alten- und Bedürftigengesetz von 1905. Gleiches gilt für Arbeitsgesetze wie das Gewerkschaftsgesetz von 1884, das Ausländer von leitenden Positionen ausschließt, und das Gesetz über Schöffen am Arbeitsgericht, das immigrierten Arbeitern sogar verbietet, an den Wahlen für die Arbeiterdelegierten teilzunehmen. Nach einer heftigen Kampagne der Mediziner bewirkt ein Gesetz vom 30. November 1892 die Aufhebung der Gleichberechtigung der Medizindiplome und verhindert so die Niederlassung ausländischer Ärzte in Frankreich. Diese verschiedenen Maßnahmen münden schließlich im Gesetz über den Schutz des nationalen Arbeitsmarktes von 1926.127 Insgesamt führt damit das Staatsangehörigkeitsrecht von 1889, flankiert vom Sozial- und Arbeitsrecht, erstmals eine deutliche Unterscheidung des Rechtsstatus von Franzosen und Ausländern ein. Französisches Recht bildet zum ersten Mal ein wirksames Mittel der nationalstaatlichen Schließung. Auch die nachfolgenden Veränderungen im Staatsangehörigkeitsrecht stehen im Zeichen des zunehmenden Nationalismus und führen jeweils zu weiteren Restriktionen.128 Im Jahr 1905 trifft die mittlerweile eigens für die Staatsangehörigkeit eingesetzte Zentralbehörde, das Bureau du sceau, eine Regelung, um die Möglichkeit der Ausschlagung der französischen Staatsangehörigkeit für Kinder ausländischer Väter nach Erlangung der Volljährigkeit abzuschaffen. Vom Vater des Kindes wird eine Erklärung verlangt, durch die er seinem Kind die Optionsmöglichkeit verbietet. Ein Gesetz vom 5. April 1909 führt diese Regelung in das Recht über und unterbindet damit einen Weg des Verlustes französischer Staatsangehörigkeit. Diese unterliegt weniger als zuvor einer einfachen persönlichen Entscheidung, was ihre strukturelle Schließungskraft erneut verstärkt.129 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Entstehung der »Union sacrée« als Ausdruck höchster nationaler Geschlossenheit kommt es im Staatsangehörigkeitsrecht zu Restriktionen in einer neuen Qualität. Das Misstrauen gegenüber dem Ausland und insbesondere gegenüber Deutschland führt am 2. August 1914 zunächst zu einem Dekret, das Ausländer in Frankreich verpflichtet, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Die Zahl der Einbürgerun-

127 Noiriel 1994: 71. 128 Vgl. die Analyse bei Brubaker 1994: 136–142. 129 Vgl. Weil 2002: 68f.

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gen wird massiv reduziert: Während 1914 noch 2 117 Ausländer eingebürgert werden, sind es im Jahr 1915 nur noch 538, 1917 418 und ein Jahr später gar nur noch 282. Als in Frankreich bekannt wird, dass man in Deutschland die Strategie verfolge, die Einbürgerung deutscher Staatsangehörige in Frankreich gezielt für Zwecke der Spionage und Einflussnahme zu erreichen, werden die Maßnahmen nochmals deutlich verschärft. Mit Dekreten vom 7. April 1915 und vom 18. Juni 1917 wird die Ausbürgerung von französischen Staatsangehörigen mit Ursprüngen im verfeindeten Ausland verfügt. 250 000 Fälle werden überprüft und in 549 Fällen erfolgt eine Ausbürgerung. Es ist bemerkenswert, dass die Kriterien der nationalen Zugehörigkeit eindeutig in den Bereich des Jus Sanguinis verlagert werden. Entscheidend für die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit unter den Dekreten aus dem Ersten Weltkrieg ist allein die ethnische Abstammung.130 Die nationale Schließung des französischen Staatsangehörigkeitsrechts erfährt mit den Dekreten des Ersten Weltkriegs ihren ersten geschichtlichen Höhepunkt. Sehr rasch nach Kriegsende werden die Verordnungen jedoch rückgängig gemacht und die Einbürgerungen werden aufgrund massiver demographischer Probleme stark ausgeweitet. Der Bevölkerungsrückgang durch die Verluste im Ersten Weltkrieg begünstigt eine Politik der Einbürgerung und der demographischen Stabilisierung. Nach dem Wahlsieg der Koalition aus Radikalen und Sozialisten 1924 wird die Zahl der Einbürgerungen wieder beträchtlich ausgeweitet: Sie steigt von 5 224 im Jahr 1924 auf durchschnittlich 10 000 in den Jahren 1925 bis 1926 und 22 500 in den Jahren 1928 und 1929. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 steigt die Zahl der Einbürgerungen nochmals massiv auf 99 081 an.131 Ganz im Zeichen der Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts steht die Reform durch ein Gesetz vom 10. August 1927, das im Wesentlichen dazu dient, den Zugang zur französischen Staatsangehörigkeit zu erleichtern. Um das erklärte Ziel zu erreichen, pro Jahr 100 000 neue Franzosen zu gewinnen, wird die Mindestdauer des Aufenthalts in Frankreich zur Erlangung der Staatsangehörigkeit von zehn auf drei Jahre herabgesenkt.132 Auf der anderen Seite wird der Verlust der Staatsangehörigkeit erschwert. Französinnen, die einen in Frankreich ansässigen Ausländer heiraten, behalten genauso wie die gemeinsamen Kinder nun ihre französische Staatsangehörigkeit bei.133 Auch in anderen Fällen ergibt

130 Vgl. Weil 2002: 69–72. 131 Vgl. Weil 2002: 72–93. 132 Weil 2007: 85. 133 Lagarde 1996: 310.

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sich der Verlust nur bei Zuwiderhandlung gegen zentrale Interessen des Staats im Bereich der internen und externen Sicherheit.134 Man muss bei diesem recht radikalen Umschwung im Staatsangehörigkeitsrecht und in der Immigrationspolitik beachten, dass sich der Diskurs rund um diesen Themenkomplex weit weniger schnell entradikalisiert. Insbesondere ab den 1930er Jahren werden viele der Argumente für eine Reform auf ethnische und rassistische Grundanschauungen gestützt. So genannte Einwanderungsexperten tragen Theorien vor, die die Assimilierbarkeit verschiedener Rassen in die französische Nation bestimmen, und verlangen, die Einwanderungspolitik daran auszurichten. Das Staatsangehörigkeitsrecht bleibt davon jedoch im Kern unberührt. 1939 stellen die französischen Autoritäten klar, dass ihrer Ansicht nach die Integration von Einwanderern eine Frage der Sozialisation sei, die durch Geburt auf dem nationalen Territorium oder durch Heirat mit einem Franzosen garantiert werde. Entsprechend seien ethnische Gesichtspunkte für die Einbürgerungen nicht zu beachten, vielmehr müsse jeder Fall im Lichte der Interessen des Staats einzeln geprüft werden.135 Eine rassistisch begründete Einwanderungspolitik setzt sich dann erst unter dem Vichy-Regime durch den Erlass dreier Gesetze durch. Durch ein Gesetz vom 22. Juli 1940 sollen alle Einbürgerungen, die auf der Grundlage des Gesetzes von 1927 erfolgt sind, rückgängig gemacht werden. Anders als in diesem Gesetz werden nun Verlustgründe der Staatsangehörigkeit nicht mehr eigens definiert, sondern die Behörden können willkürlich Ausbürgerungen vornehmen. Das erklärte Ziel ist dabei insbesondere, Personen jüdischer Religion auszubürgern, da sie als Rassenfremde und als nicht assimilierbar gelten. Zur Identifizierung auszubürgernder Juden wird eine Kommission eingerichtet, die hunderttausende Akten überprüft und auf der Grundlage entweder von Indizien, wie Nachname oder Geburtsort, oder durch Anzeige aus der Bevölkerung massiv Ausbürgerungen vornimmt. Zwischen 1940 und 1944 verlieren 15 154 Personen ihre Staatsangehörigkeit.136 Ein weiteres Gesetz vom 23. Juli 1940 ist die Grundlage zum Entzug der Staatsangehörigkeit von 446 Franzosen, die Frankreich zwischen dem 20. Mai und dem 30. Juni 1940 ohne Erlaubnis der Regierung verlassen haben. Schließlich erlaubt ein Gesetz vom 7. Oktober 1940 die Ausbürgerung en bloc von 110 000 algerischen Juden, die durch ein Gesetz vom 24. Oktober 1870 die französische Staatsangehörigkeit erlangt hatten.137

134 Weil 2002: 118. 135 Weil 2002: 91f. 136 Weil 2002: 117–134. 137 Weil 2002: 138f.

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Mit dieser Gesetzesreform entsteht die stärkste ethnische Schließung in der Geschichte des französischen Nationalstaats. Die Trennung von Juden und weiteren Personen, deren Zugehörigkeit zur Nation man abstreitet, wird mit zuvor unbekannter Konsequenz in die Tat umgesetzt. Zur Erreichung einer als ethnisch rein und geschlossen vorgestellten Nation belässt man es nicht bei einer restriktiven Einbürgerungspolitik, sondern nimmt auch Ausbürgerungen vor, deren Ausmaß weit über das der Maßnahmen während des Ersten Weltkriegs hinausgeht. Allerdings muss man diese Maßnahmen in den Kontext des Zweiten Weltkriegs einordnen. Das Vichy-Regime etabliert und hält sich wegen der Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht und seine staatsangehörigkeitsrechtlichen Maßnahmen dürften, anders als im Ersten Weltkrieg, kaum repräsentativ für die allgemeine nationale Semantik sein. In der Zeit vor der deutschen Besatzung haben sich der französische Faschismus und seine Vorstellung der Nation nie in Frankreich durchsetzen können. 138 Zudem besteht parallel zum VichyRegime noch die Exilregierung unter Charles de Gaulle. In dem Maße, wie diese internationale Anerkennung erfährt, bekommen die dort eingereichten Anträge zur Rückgewinnung oder zum Erhalt der französischen Staatsangehörigkeit offiziellen Charakter. Mit der Etablierung der provisorischen Regierung in Paris am 9. September 1944 werden dann auch die Maßnahmen der Vichy-Regierung rückgängig gemacht und das Programm der Regierung sieht eine Reform des Einbürgerungsrechts vor. Ursprünglich wird dazu von Georges Mauco ein ethnisch fundiertes System vorgeschlagen, nach dem Einwanderungsquoten für verschiedene, »wünschenswerte« und »weniger wünschenswerte« ethnische Gruppen vergeben werden. Aufgrund von Widerständen kommt es schließlich zu einer Kompromisslösung, bei der die ethnische Herkunft ein Kriterium unter vielen anderen für die Zulassung zur Einwanderung ist. Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 19. Oktober 1945 werden die Einbürgerungsrichtlinien jedoch auf eine neue Grundlage gestellt. Ziel dieser Reform ist vor allem eine Vereinfachung des Gesetzes von 1927, so dass die inhaltlichen Änderungen eher marginal sind. Das demographische Interesse an einem Bevölkerungszuwachs führt insgesamt zur Erschwerung des Verlustes und zur Erleichterung des Erhalts der französischen Staatsangehörigkeit. Im Ausland geborene Kinder französischer Mütter werden französische Staatsangehörige. Bei Heirat mit einem französischen Staatsangehörigen erfolgt automatisch die Einbürgerung, wo das Gesetz von 1927 noch die Wahl ließ. Die Warte-

138 Wippermann 1983: 124–133.

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zeit zur Einbürgerung wird zwar von drei auf fünf Jahre angehoben, jedoch kann in vielen Ausnahmefällen die Wartezeit verkürzt werden. Auch die nachfolgenden Gesetzesänderungen stehen im Zeichen der Liberalisierung. Mit einem Gesetz vom 22. November 1953 wird die Berücksichtigung der ethnischen Herkunft als Kriterium der Einbürgerung fallen gelassen und die Kriterien werden auch insgesamt noch weiter entschärft. Ein Gesetz von 1961 schafft die Wartezeiten für Einbürgerungen von Bewohnern der ehemaligen Kolonien vollständig ab. Ab 1967 überprüft man nicht mehr die Erfüllung der positiven Kriterien, sondern lehnt Einbürgerungen nur noch bei Erfüllung negativer Kriterien ab. Ein Gesetz vom 9. Januar 1973 schließlich führt die geschlechtliche Gleichberechtigung in das Staatsangehörigkeitsgesetz ein. In der Folge ist es nun auch für ausländische Männer, die eine Französin heiraten, leicht möglich, die französische Staatsangehörigkeit zu erlangen.139 Vor dem Hintergrund dieses liberalen Staatsangehörigkeitsrechts muss man die erneute Verschärfung der Debatte um die Frage nationaler Identität und französischer Staatsangehörigkeit ab den 1980er Jahren verstehen. Eine besondere Rolle spielt dabei der Sonderstatus algerischer Einwanderer. Da Algerien bis 1962 Bestandteil des französischen Territoriums ist, sind die Kinder algerischer Einwanderer, die vor 1962 in Algerien geboren werden, aufgrund des doppelten Jus Soli automatisch französische Staatsangehörige – und zwar ohne davon zu wissen. Als diese Kinder, wie für Ausländer vorgeschrieben, im Alter von sechzehn Jahren ihre Aufenthaltsgenehmigung beantragen wollen, erfahren sie, dass sie französische Staatsangehörige sind und sich nach Erreichen der Volljährigkeit zum Militärdienst zu melden haben. Vor dem Hintergrund der erst jüngst erkämpften Unabhängigkeit Algeriens bewertet man diesen Umstand als neokolonialistische Anmaßung. Zwar behalten die Kinder der algerischen Einwanderer meist ihre französische Staatsangehörigkeit, da sie das Leben in Frankreich erleichtert, jedoch zeigen Umfragen, dass sie zu ihrer französischen Staatsangehörigkeit eine instrumentelle, den Nutzen kalkulierende und »entsakralisierte« Einstellung haben.140 Vor diesem Hintergrund und angetrieben durch die rechtsradikale Front National entwickelt sich eine Debatte über nationale Identität in Frankreich, in der Publizisten wie Alain Grotteray mit seinem Buch Les immigrés: le choc die Abschaffung des Jus Soli fordern. 1986 lanciert die Regierung Jaques Chirac eine entsprechende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Heftiger Widerstand und Proteste in der Öffentlichkeit führen jedoch zu deren Annullierung ein Jahr spä-

139 Weil 2002: 135–163. 140 Brubaker 1994: 184–196.

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ter.141 Ein entscheidender Grund für das Scheitern der Reform dürfte sein, dass sich deren Gegner auf die nationale Tradition Frankreichs berufen und so die nationalistische Argumentation der Befürworter aushöhlen können.142 Man beauftragt eine Expertenkommission mit der Erarbeitung eines Reformvorschlags. Ihr 1988 vorgelegter Bericht bereitet schließlich den Weg zu einer konsensualen Reform, obwohl die Regierung die Empfehlungen zunächst ignoriert. Geltendes Recht werden sie 1993 unter einer neuen Regierung. Fortan wird die französische Staatsangehörigkeit nicht mehr automatisch an in Frankreich geborene Kinder ausländischer Eltern vergeben. Stattdessen müssen diese im Alter zwischen 16 und 21 Jahren ihre Zustimmung zur Einbürgerung erklären. Auch in Bezug auf die Einbürgerung per Heirat verschärft das Gesetz etwas die bestehenden Regelungen. Über Heirat erlangt man die französische Staatsangehörigkeit nun nicht mehr bereits nach sechs Monaten, sondern erst nach zwei Jahren. Kinder algerischer Einwanderer erhalten die Staatsangehörigkeit nunmehr nur durch einen Antrag der Eltern und der Erbringung eines Nachweises, dass das entsprechende Kind seit mindestens fünf Jahren auf französischem Territorium residiert.143 Mit der Reform von 1993 werden die Hürden zur Erlangung der Staatsangehörigkeit wieder geringfügig angehoben,144 bevor sie durch eine Verordnung am 24. Juli 2006 nochmals größer werden, denn nunmehr wird erstmals zur Einbürgerung angeheirateter Ausländer ein Nachweis ausreichender Französischkenntnisse verlangt.145 Im Vergleich zur Ausgangssituation der Debatte in den 1980er Jahren und den Vorschlägen, das Jus Soli durch das Jus Sanguinis zu ersetzen, erscheint das Ausmaß der Reformen jedoch marginal. Und auch im Hinblick auf die staatsangehörigkeitsrechtliche Schließung des französischen Staats während des Ersten Weltkriegs und der Zeit des Vichy-Regimes erscheint das Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs immer noch wesentlich offener. Die heutige Situation ist am ehesten mit derjenigen nach der Staatsangehörigkeitsreform von 1889 vergleichbar. 146 Der Unterschied ist natürlich, dass nun, anders als 1889, dem nationalen Staatsangehörigkeitsrecht in Frankreich seit dem Maastrichter Vertrag von 1992 das Konzept der europäischen Unionsbürgerschaft zur

141 Weil 2002: 170–173. 142 Brubaker 1994: 211f. 143 Weil 2002: 176. 144 Vgl. zur Einbürgerungspolitik Frankreichs der Nachkriegszeit Deccouflé 1993, ausführlich Weil 1991 und zur Reform von 1998 Walter 2001. 145 Guide de la nationalité française des Réseau droit des jeunes 2007. 146 Weil 2002: 181, 184.

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Seite steht. Traditionell an die nationale Staatsangehörigkeit gebundene Rechte wie die Niederlassungs- und Arbeitserlaubnis, aber auch der diplomatische und konsularische Schutz werden nun auf die europäische Ebene verlagert. Auch durch die Entwicklung universeller Rechtsstandards auf globaler Ebene werden bisher an die Staatsangehörigkeit geknüpfte Rechte außerhalb dieser festgeschrieben. 147 Die Relevanz der nationalen Staatsangehörigkeit wird damit tendenziell angegriffen.148

7.3 Z USAMMENFASSUNG In Deutschland ist die staatsangehörigkeitsrechtliche Struktur zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch stark durch die Souveränität der einzelnen Territorialstaaten fragmentiert, die sich für ihre Staatsangehörigkeit meist an dem durch das Jus Soli geprägten Code civil aus Frankreich orientieren. Da im weiteren Verlauf die Dominanz Preußens in Deutschland zunimmt und das dortige Staatsangehörigkeitsrecht auf dem Jus Sanguinis beruht, setzt sich in Deutschland dieses Prinzip im Staatsangehörigkeitsrecht spätestens mit der Gründung des Deutschen Reichs auch insgesamt durch. Die Zugangs- und auch die Verlustkriterien für die Staatsangehörigkeit werden dadurch immer rigider. Diese Schließungstendenz wird im Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 bestätigt, das im Zusammenhang mit der Eskalation des Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg entsteht. Die Entwicklung gipfelt in der nationalsozialistischen Gesetzgebung, die die Staatsangehörigkeit auf rassistische Grundlagen stellt, zum Mittel für Massenausbürgerungen macht und damit extrem nach außen abgrenzt. Nach der Kapitulation Deutschlands 1945 werden die Maßnahmen der Nationalsozialisten rückgängig gemacht und die Schließungswirkung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts fällt wieder auf das Niveau vor der nationalsozialistischen Machtergreifung zurück. Vor dem Hintergrund der ab 1950 einsetzenden Einwanderung der so genannten Gastarbeiter, die sich jedoch entgegen der ursprünglichen Erwartung langfristig niederlassen, wird das Staatsangehörigkeitsrecht im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts und insbesondere mit Reformen in den Jahren 1990 und 1999 liberalisiert. Die Einbettung Deutschlands in den internationalen und speziell den europäischen Rechtskontext bewirkt ein Übriges zur weiteren Öffnung der nationalen Staatsangehörigkeit. Die Entwicklung der nationalen Schließungskraft der Staatsangehörigkeit in Deutschland könnte vor

147 Soysal 1996. S. auch Kapitel 7.1 dieser Arbeit. 148 Reddig 2005. S. auch Kapitel 7.1 dieser Arbeit.

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dem Hintergrund der hier erzielten Ergebnisse in etwa folgendermaßen graphisch dargestellt werden: 100

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Abbildung 13: Nationale Schließung im Staatsangehörigkeitsrecht Deutschlands Das erste Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs von 1791 besitzt noch eine geringe nationale Schließungswirkung. Die französische Staatsangehörigkeit hat kaum anderweitige rechtliche Konsequenzen und kann äußerst leicht durch Geburt auf französischem Boden erlangt werden. Durch mehrere Reformen während des 19. Jahrhunderts wird dieses Prinzip des Jus Soli jedoch durch das Jus Sanguinis ergänzt, der Zugang zur vollen französischen Staatsangehörigkeit so schrittweise erschwert. In der Dritten Republik folgen aus der Staatsangehörigkeit immer mehr anderweitige Rechtswirkungen, so dass die Schließungswirkung der französischen Staatsangehörigkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals beträchtlich zunimmt. Im Kontext des Ersten Weltkriegs kommt es dann zu einer ethnisch fundierten Staatsangehörigkeit, auf deren Grundlage auch Ausbürgerungen vorgenommen werden. Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Staatsangehörigkeit im Rahmen demographischer Maßnahmen, die darauf zielen, die Anzahl der Franzosen zu erhöhen, deutlich liberalisiert. Diese Tendenz wird mit den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs allerdings nochmals umgekehrt. Mit Dekreten des VichyRegimes entfaltet das französische Staatsangehörigkeitsrecht ein Höchstmaß an Schließungswirkung, das nun zu Ausbürgerungen von in der Nation unerwünschten Personen in bisher unübertroffenem Ausmaß führt. Diese Maßnahmen stehen allerdings als Auflagen der deutschen Besatzer nicht mehr im Zusammenhang mit dem Nationsdiskurs der französischen Öffentlichkeit und müssen entsprechend relativiert werden. In der Nachkriegszeit werden die Gesetze des Vichy-Regimes rückgängig gemacht. Es folgt eine neuerliche Phase der Liberalisierung der Staatsangehörigkeit, bis etwa ab 1980 in Zusammenhang mit der Einwanderung aus Algerien

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eine neue Debatte um das Staatsangehörigkeitsrecht einsetzt. Als Folge erreicht die französische Staatsangehörigkeit durch Gesetzesreformen 1993 und 2006 wieder eine geringfügig höhere Schließungskraft, die jedoch insgesamt betrachtet deutlich unter dem Niveau der Maßnahmen im Zuge des Ersten Weltkriegs und natürlich auch des Zweiten Weltkriegs bleibt und am ehesten mit der Rechtsituation zum Ende des 19. Jahrhunderts vergleichbar ist. Im Unterschied dazu dürfte sich die Tendenz im Staatsangehörigkeitsrecht nun jedoch im Rahmen internationaler und vor allem europäischer Rechtskontexte immer mehr in Richtung einer Öffnung bewegen. Eine graphische Darstellung der Schließungswirkung der französischen Staatsangehörigkeit im Zeitverlauf könnte vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse insgesamt in etwa wie folgt aussehen: 100

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Abbildung 14: Nationale Schließung im Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs Insgesamt betrachtet verläuft die Schließungsdynamik sowohl des deutschen als auch des französischen Staatsangehörigkeitsrechts vor dem Hintergrund teilweise verschiedener, teilweise vergleichbarer historischer Umstände nach einem Muster des Auf- und anschließenden Abbaus nationaler Grenzen, die für die Konstitution globaler Funktionssysteme und im Sinne der Ausgangsthese funktional sind. In beiden Ländern beginnt die Entwicklung mit einer noch relativ durchlässigen nationalen Staatsangehörigkeit – in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in Frankreich bereits etwas früher im Zusammenhang mit der Französischen Revolution. Im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg nimmt die nationale Schließungswirkung der Staatsangehörigkeit in beiden Ländern immer weiter zu. Nach einer in den beiden Staaten unterschiedlich langen Phase starker Schließung tritt die Entwicklung der Staatsangehörigkeit in beiden Fällen spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Phase der Öffnung und Liberalisierung ein. Die Entwicklungen laufen also in beiden Ländern en gros in vergleichbarer Weise ab. Bei einer detaillierteren Betrachtung fallen jedoch auch Unterschiede

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auf. Das Staatsangehörigkeitsrecht in Frankreich baut traditionsgemäß auf dem Jus Soli auf, was es gegenüber dem auf dem Jus Sanguinis beruhenden deutschen Staatsangehörigkeitsrecht insgesamt durchlässiger macht. Außerdem sind die rassistischen Radikalisierungen des französischen Staatsangehörigkeitsrechts im Zweiten Weltkrieg – anders als in Deutschland – eine Folge von Verordnungen einer ausländischen Besatzungsmacht. Die Entwicklung in Frankreich scheint zudem mehr Schwankungen zu unterliegen. Während sich in Deutschland die Staatsangehörigkeitsgesetzgebung bis zu den nationalsozialistischen Maßnahmen relativ stetig verschärft und danach ebenso stetig wieder entschärft, gibt es in Frankreich eine zunächst zögerliche Schließungstendenz, die sich ab den 1880er Jahren deutlich beschleunigt. Nach dem Ersten Weltkrieg kommt es zu einer ersten Phase der Öffnung. Durch das Vichy-Regime kommt es dann zu einem erneuten Schließungsschub, der allerdings im Kontext der besonderen Besatzungssituation zu bewerten ist. In der Nachkriegszeit ist erneut eine Öffnungsphase zu verzeichnen, aber auch diese Tendenz wird durch verschärfende Reformen zum Ende des 20. Jahrhunderts abgeschwächt. Diese Schwankungen sind insgesamt jedoch zu gering, um die allgemeine Dynamik der Nationalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in Frankreich in Frage stellen zu können. Die hier aufgezeigten Strukturdynamiken nationaler Schließung verlaufen im Politiksystem und im Wissenschaftssystem insgesamt in vergleichbarer Form. Zwar ergeben sich vor dem Hintergrund der historischen Komplexität im Feinen viele Unterschiede, jedoch folgen die Verlaufskurven nationaler Schließung auf der Ebene der Struktur insgesamt einem im Sinne des hier zugrundegelegten Modells funktionalen Muster. Dabei ist die Entwicklung im Politiksystem gegenüber der des Wissenschaftssystems phasenweise nach hinten verschoben. Dieser Unterschied passt zu den unterschiedlichen Erwartungsstilen, die in den Systemen jeweils dominant sind. Möglicherweise hat die Wissenschaft wegen ihres kognitiven Erwartungsstils schneller auf die Möglichkeiten weltgesellschaftlicher Ausdehnung reagiert als die Politik mit ihrem normativen Erwartungsstil. Auffallend ist zudem vor allem, dass sich im Ländervergleich im Wissenschafts- wie im Politiksystem ähnliche Unterschiede ergeben. So liegt in beiden Untersuchungsdisziplinen genauso wie im Staatsangehörigkeitsrecht das Niveau nationaler Schließung in Deutschland insgesamt höher als in Frankreich. Von diesem Effekt ist zudem die Geschichtswissenschaft offensichtlich stärker betroffen als die Physik. In beiden Ländern korrespondieren die Höhepunkte der Strukturentwicklung in der Geschichtswissenschaft stärker mit der Entwicklung im Staatsangehörigkeitsrecht als in der Physik. Während sich die Physik in Frankreich bereits wieder ab 1880 und in Deutschland ab 1900 strukturell öffnet,

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liegt dieser Wendepunkt in der Geschichtswissenschaft in beiden Ländern erst um das Jahr 1920. Dieser Zeitpunkt ist in Frankreich ebenfalls der Wendepunkt in der Entwicklungsdynamik des Staatsangehörigkeitsrechts, wenn man von den Folgen der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg absieht. Auch in Deutschland korrespondiert die Entwicklung in der Geschichtswissenschaft eher als die in der Physik mit derjenigen des Staatsangehörigkeitsrechts, das seine Trendwende im Jahr 1945 verzeichnet. Auch nach 1945 entspricht die Entwicklung in der Geschichtswissenschaft eher derjenigen im Staatsangehörigkeitsrecht. Während sich die strukturelle Kopplung zwischen der globalisierten Physik und der nach wie vor nationalstaatlich verfassten Staatsangehörigkeit offenbar auflöst, verläuft die Entwicklung in der Geschichtswissenschaft nach wie vor einigermaßen parallel zur derjenigen der Staatsangehörigkeit. In beiden Fällen ist die Nachkriegszeit eine Zeit der gemäßigten Öffnung und Denationalisierung. Wie bereits an anderer Stelle zeigt sich auch hier, dass die Geschichtswissenschaft gegenüber der Physik in einem engeren Verhältnis zur politischen Umwelt steht.

8 Nation und internationaler Vergleich in der Politik

Dieses Kapitel dient dazu, die zweite, semantische Seite der Herstellung globaler Funktionssysteme am Beispiel des Politiksystems empirisch zu untersuchen. Die Frage richtet sich darauf, ob auch auf der Ebene der Semantik sich ein internationaler Vergleich im Politiksystem herausbildet, der sich in seinem historischen Ablauf für die Erfüllung der Funktion eignet, einen nationale Differenzierungen überbrückenden, tendenziell globalen Vergleichszusammenhang zu konstituieren. Dazu wird ein Vergleich der national differenzierten Einheiten des Politiksystems gebraucht, der in dem Maße entsteht, wie sich nationale Einheiten und ihre Standards im System voneinander unterscheiden lassen und in dem Maße verstummt, wie sich globale Standards durchsetzen. Wie ließe sich eine solche Dynamik des internationalen Vergleichs in der Semantik des Politiksystems beobachten? Analog zum Vorgehen beim Wissenschaftssystem soll sich die Analyse auf die Semantik der Beschreibung des Vergleichsgegenstands beziehen, weil dadurch eine Gegenüberstellung mit einem weiteren Vergleichsgegenstand impliziert ist. Die Gegenstände des Vergleichs sind hier die durch die Staatsangehörigkeit konstituierten, segmentär ausdifferenzierten Einheiten des politischen Systems, also die in Nationalstaaten verfassten politischen Gemeinschaften. Die Staatsangehörigkeit ist hier konstitutiv, weil sie die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft rechtlich definiert, was entscheidende Folgen für Anschlussregeln und damit für die Schließung und Herstellung der politischen autopoietischen Kommunikation in Staaten hat.1 Die Frage ist somit, welches Schema aus der politischen Semantik zur Beschreibung der rechtlichen Definition von Zugehörigkeit in der Staatsangehörigkeit dienen kann. Das hier verwendete Argument besagt, dass dieses semantische Schema das Konzept der »Nation« ist. 1

S. Einleitung des Kapitels 7 dieser Arbeit.

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Bei der Bestimmung des Nationsbegriffs kann auf eine lange theoretische Tradition in der Soziologie zurückgegriffen werden. Begriffsfassungen, die die Nation als eine reale Entität verstehen, sind dabei eher die Ausnahme.2 Prägend scheinen eher Konzepte wie das von Max Weber zu sein, für den die Nation in erster Linie eine Idee ist: »›Nation‹ ist ein Begriff, der wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr zugerechneten definiert werden kann. Er besagt im Sinne derer, die ihn jeweils brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber z u z u m u t e n sei, gehört also der Wertsphäre an.«3

In dieser Tradition stehen große Teile der Nationalismusforschung, darunter etwa auch die Studie von Benedict Anderson, dessen Definition der Nation als »vorgestellte politische Gemeinschaft« bedeutsamen Einfluss auf die soziologische Nationalismusforschung gehabt hat.4 Hier ist nicht der Platz für eine umfassende Rückschau soziologischer Nations- und Nationalismustheorien.5 Man kann jedoch feststellen, dass sich ein systemtheoretischer Terminus der Nation in diese Tradition zu stellen hat. Die Nation kann als Teil der Weltgesellschaft nur rein kommunikativ vorkommen. Eine systemtheoriekompatible Fassung des Begriffs versteht die Nation nach George Spencer Brown daher als eine »Form«.6 Die Nation ist danach eine semantische Beschreibungskategorie, die anhand der Unterscheidung zwischen Innen- und Außenseite der Form sich selbst in ihrer Differenz zur Umwelt beobachtet.7 Im Fall der Nation ist die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenseite der Form die Unterscheidung zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit von Personen zur Nation. Die Nation ist damit ein semantisches Schema, das erlaubt in der Alltagssprache zwischen »uns« und den »Anderen«, zwischen »wir« und »sie« zu differenzieren.8

2

Vgl. z. B. Heckmann 1992: 57: »Nation ist ein ethnisches Kollektiv, das ein ethnisches Gemeinschaftsbewußtsein teilt und politisch-verbandlich in der Form des Nationalstaates organisiert ist.«

3

Weber 1980: 528, Hervorhebung im Original.

4

Anderson 1996: 15.

5

Für eine ausführliche Darstellung vgl. aber Richter 1996: 13–71.

6

Richter 1996.

7

Zum Formenkalkül allgemein Spencer Brown 1971.

8

Nassehi/Richter 1996: 157.

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Mit dieser Unterscheidung und der darin liegenden Definition von Zugehörigkeit ist die Nation ein Konzept kollektiver Identität. Die Nation dient der Beschreibung der Identität ihrer Mitglieder über die Feststellung der Gemeinsamkeiten zwischen ihren Mitgliedern im Unterschied zu den Nichtmitgliedern. In dieser Hinsicht ist der Vergleich der Nation mit einer anderen Nation für sie konstitutiv: »The members of a particular group are alike in just those respects in which they differ from non-members outside the group. […] This pattern of similarity-cum-dissimilarity is one meaning of national ›identity‹.«9

Es ist genau diese kollektive Identität sichernde Kerneigenschaft der Nation, die sie zu einem Konzept der Beschreibung staatsangehörigkeitsrechtlicher Regeln macht. Im Staatsangehörigkeitsrecht, genauso wie in den Diskussionen darüber innerhalb einer nationalen Öffentlichkeit, schlagen sich die dominanten Einstellungen und Meinungen nieder, wer dazugehört und wer nicht. Diese Meinung über die Unterscheidung zwischen nationaler Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit stellt das in einem Land dominante Nationskonzept dar, das im nationalen Staatsangehörigkeitsrecht ihren Ausdruck findet.10 Jus Soli und Jus Sanguinis als Prämissen staatsangehörigkeitsrechtlicher Regelungen erfüllen äquivalente Funktionen bei der Sicherung der Unterscheidbarkeit von Mitgliedern und Nichtmitgliedern der Nation und damit ihrer identitätsstiftenden Eigenschaften. Beim Abstammungsprinzip gilt die Familie als Garant der Sozialisation eines Nachkömmlings im Sinne der Eigenschaften der nationalen Gemeinschaft. Beim Territorialprinzip wird unterstellt, dass diese Funktion über die Geburt und den Aufenthalt in der Mitte der entsprechenden nationalen Gemeinschaft ausgefüllt wird.11 In beiden Fällen geht es um den Erhalt der Unterscheidung zwischen Innen- und Außenseite der Form Nation. Der Zusammenhang zwischen Nationskonzept und Staatsangehörigkeitsrecht lässt sich zudem anhand empirischer Untersuchungen untermauern. So zeigt sich etwa im historischen deutsch-französischen Vergleich eine Korrelation zwischen den unterschiedlichen Nationskonzepten in Deutschland und Frankreich mit deren jeweiligen nationalen Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsgesetzgebungen. Beispielsweise korrespondiert das eher ethnisch gefärbte Nationsverständnis in Deutschland gegenüber einer eher politischen Auffassung der Nation

9

Smith 1991: 75.

10 Ausführliche Entfaltung dieser These bei Bös 2002. 11 Bös 2002: 248ff.

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in Frankreich mit wesentlich geringeren Einbürgerungszahlen in Deutschland als in Frankreich.12 Staatsangehörigkeit auf der einen und Nation auf der anderen Seite sind daher die strukturelle und die semantische Ausprägung der nationalen Differenzierung des politischen Systems in Nationalstaaten. Weil die Nation sich über die Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Nichtzugehörigen konstituiert, impliziert die Verwendung nationaler Semantik einen Vergleich zwischen der Innen- und der Außenseite der Nation, zwischen der eigenen und den anderen Nationen. Eine Dynamik dieses Vergleichs lässt sich deshalb über eine Analyse der Entwicklung nationaler Semantik in der nationalen politischen Öffentlichkeit abbilden. Diese Darstellung der Entwicklung eines öffentlichen Diskurses der Nation und des Nationalismus ist Gegenstand zahlreicher historischer Arbeiten. Der Vorteil vieler dieser Arbeiten für die hier gewählte Perspektive besteht in ihrem breiten Fokus, der sich nicht allein auf Untersuchungen anhand von empirischen Materialien eines einzelnen Typs stützt, z. B. indem die Verwendung nationaler Semantik in Parlamentsdebatten analysiert würde. Die geschichtswissenschaftliche Nationalismusforschung zeichnet vielmehr die Geschichte von Nationalbewegungen oder den Bedeutungswandel der Nation insgesamt nach. Sie wählt dabei zumeist wiederum eine nationale Perspektive, in dem sie die Geschichte einzelner Länder getrennt untersucht. Dabei wird versucht, ein möglichst umfassendes Bild der Entwicklung einzufangen. Diese nationale Perspektive und die Tendenz zur umfassenden Darstellung des nationalen Diskurses kommen dem hier gewählten Ansatz entgegen, der sich für nationale Schließung innerhalb des Politiksystems, zu dessen Komponenten in umfassender Weise Regierung, Verwaltung und Publikum im systemtheoretischen Sinne zählen, interessiert. Eine Analyse nationaler Semantik, die alle Komponenten des politischen Systems berücksichtigt, gewinnt an Repräsentativität. Aus diesem Grund erscheint es vielversprechend, die Entwicklung nationaler Semantik in den Untersuchungsländern Deutschland und Frankreich anhand einer Sekundäranalyse der reichhaltigen geschichtswissenschaftlichen Literatur zum Thema zu analysieren.13 Aus theoretischer Perspektive kommt es darauf an zu zeigen, wie Prozesse nationaler Schließung auf struktureller und semantischer Ebene miteinander kovariieren. Eine starke nationale Schließung auf struktureller Ebene ermöglicht und plausibilisiert eine Selbstbeschreibung des Systems im Sinne einer nationalen Differenzierung, die einen internationalen Vergleich induziert. Nationale

12 Ausführlich Brubaker 1994 u. Brubaker 1989. 13 Vgl. teilweise die Vorarbeiten zu ähnlichem Thema bei Thelen 2004.

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Selbstbeschreibung und internationaler Vergleich verstummen tendenziell mit der Auflösung nationaler Differenzierungen. Um diese Dynamik internationaler Vergleichssemantiken abbilden zu können, wird das bestehende geschichtswissenschaftliche Wissen anhand von Kriterien untersucht, die erlauben, die jeweils historisch vorliegende Intensität nationaler Selbstbeschreibung in der Politik sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht zu bemessen. Die Stärke nationaler Semantik hängt zunächst vom Ausmaß ihrer Präsenz im öffentlichen Raum ab. Die Prüffragen könnten hier in etwa lauten: Ist die Nation eine Beobachtungskategorie im Mainstream der politischen Öffentlichkeit und korrespondiert sie mit einem Common Sense über die Unterscheidbarkeit verschiedener Nationen? Oder ist die Nation lediglich ein Selbstbeschreibungskonzept oder Reformbegriff von Minderheiten? Wird versucht, die Nation als Konzept kollektiver Identität zu verbreiten? Oder erscheint ein solches Anliegen unnötig? Weiterhin ist in qualitativer Hinsicht entscheidend, welche Auslegung und welche Verständnisse des Nationsbegriffs vorkommen. Dabei kann es nicht um das gesamte Bedeutungsspektrum gehen, die dem Begriff der Nation in unterschiedlichen historischen Situationen und von verschiedenen sozialen Lagern beigemessen wird.14 Entscheidend ist lediglich, welche Schließungskraft der Nation im öffentlichen Diskurs unterstellt wird. Die Prüffragen könnten hier z. B. lauten: Wird die Nation in der Öffentlichkeit als versiegelter Block interpretiert, der seit ewiger Zeit identisch und insofern nach außen und innen undurchlässig ist? Oder fungiert der Nationsbegriff im Rahmen einer politischen Reformsemantik, die eine Neujustierung des Verhältnisses von Klassen im politischen Herrschaftssystem fordert und für die eine Abgrenzung nach außen geringere Bedeutung hat? Verbindet man den Nationsbegriff mit einer bestimmten nationalen Kultur, in der prinzipiell jeder Mensch sozialisierbar ist? Oder bestimmt man die Nation als ethnische Gemeinschaft anhand vermeintlich biologischer Kriterien ihrer Angehörigen, die den Zugang zur Nation jedem Willensakt entzieht? Eine Dynamik des Vergleichs von Nationen lässt sich anhand der Anwendung solcher Prüffragen auf das Wissen über die historische Entwicklung der Nation aufdecken. Wenn nationale Semantik und internationaler Vergleich der Dynamik von Schließung und Öffnung während des 19. und 20. Jahrhunderts folgen, dann ist für beide Untersuchungsländer – Deutschland und Frankreich – zu erwarten, dass sich nationale Semantiken im 19. Jahrhundert zunächst erst noch zu einer massenhaften Verbreitung durchsetzen müssen. Dabei müssten

14 S. zu einem solchen Versuch jedoch Koselleck 1992. Außerdem knapp Conze 1985.

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Argumente, die eine starke Schließung der Nation nach außen behaupten, sukzessive an Gewicht im öffentlichen Diskurs gewinnen. Nach einem Wendepunkt ist zu erwarten, dass der Nationsdiskurs in der politischen Öffentlichkeit sowohl an Gewicht wie an Radikalität verliert.

8.1 N ATIONALE S EMANTIK IN DER POLITISCHEN Ö FFENTLICHKEIT D EUTSCHLANDS Der Begriff »Nation« taucht erstmals im 10. Jahrhundert im Lateinischen als »nationes« nach Ende der großen Siedlungsbewegungen auf, um damit sesshaft gewordene Stämme voneinander zu unterscheiden.15 Die Verwendung des Begriffs im Deutschen lässt sich für das 15. Jahrhundert nachweisen, als auf dem Konzil von Konstanz (1414–1417) Teile des geistlichen Standes des Heiligen Römischen Reichs als »natio germanica« auftreten. Der Begriff wird hier allerdings noch mit sehr großer Unschärfe verwendet und bezieht sich auf alle Geistliche, die »deutscher Zunge« sind, unabhängig von ihren jeweiligen politischen Zugehörigkeiten.16 Größere Trennschärfe erreicht der Begriff im weiteren Lauf des 15. Jahrhunderts, als Humanisten beginnen, die nationale Einheit Deutschlands historisch zu konstruieren. Bei Annius de Viterbo wird die deutsche Nation zu einem Volksstamm biblischen Ursprungs, dessen Urvater Tuisco ein Nachkömmling Noahs ist.17 Zu weiteren Meilensteilen der Konstruktion deutscher Identität gehört Luthers Bibelübersetzung in seinen sächsisch-meißnischen Dialekt, der maßgeblich zur Vereinheitlichung der Nationalsprache beiträgt. Auf dieser Grundlage bilden sich dann im 17. und 18. Jahrhundert unter dem Einfluss vor allem der Schriften Herders eine die Territorialstaaten übergreifende Nationalliteratur sowie eine Theater- und Musikkultur heraus, die sich bewusst von französischen Pendants abgrenzt und so zu einem weiteren Mittel im Repertoire nationaler Semantik und der Beschreibung nationaler Unterschiede werden kann.18 All diese Ansätze der Herausbildung einer deutschen nationalen Semantik sind bis zum Ende des 18. Jahrhunderts jedoch vor allem auf die Eliten, den

15 Conze 1963: 10. 16 Schulze 1995: 118. 17 Vgl. zur Frage nationaler Identität im Diskurs deutscher Humanisten Münkler/Grünberger 1994. 18 Vgl. Münch 1995: 63ff.

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Adel und die Intellektuellen beschränkt.19 Dies ändert sich mit einer Zäsur um die Wende zum 19. Jahrhundert. Der komplexe Prozess der Herausbildung des neuen, modernen Nationalismus ist Gegenstand umfangreicher Forschungsarbeiten.20 Schlaglichtartig lässt sich dieser neue, moderne Nationalismus vom herkömmlichen durch drei Merkmale unterscheiden. Mit dem neuen Nationalismus verbindet sich, erstens, der Wille zur Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, bei der das feudale Schichtsystem durch eine Gleichberechtigung aller Männer der Nation ersetzt wird. Zweitens kehrt sich das Verhältnis von Kirche und Nation um. Nicht mehr gelten die Nationen als Bestandteile der Kirche, sondern die Kirche wird in den Dienst der Nation gestellt und kann nun auch gegebenenfalls sanktioniert werden. Das wichtigste Merkmal des neuen Nationalismus ist aber, drittens, seine Massentauglichkeit. Neue Kommunikationsmöglichkeiten, die Alphabetisierung und darüber hinaus neue große Wirtschaftsräume integrieren zunehmend auch breite Bevölkerungsschichten in einen gemeinsamen Erlebnishorizont, der die massive Verbreitung nationaler Semantiken unterstützt.21 Diese zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende massenhafte Verbreitung nationaler Semantik wird getragen vor allem von drei Säulen einer neu entstehenden, von breiteren Bevölkerungsschichten getragenen Nationalbewegung in Deutschland: der Turnerbewegung, der Sängerbewegung und den Freireligiösen Gemeinden.22 Alle drei Bewegungen bilden Organisationen heraus, von denen jede jeweils um die 100 000 Mitglieder umfasst und die sich zudem mit Nationalfesten an die gesamte Bevölkerung richten.23 Ein wichtiger Ursprung der Bewegungen ist der gegen Frankreich und später gegen den Deutschen Bund gerichtete Widerstand.24 Als nach den militärischen Erfolgen gegen die französische Besatzung der Deutsche Bund 1815 als völkerrechtlicher Verein konzipiert wird, bleibt die politische Realität der vielen einzelnen deutschen Staaten zwar erhalten, allerdings ergeben sich Folgen auf der Ebene der Semantik.25 Die Idee einer nationalen Gemeinsamkeit aller Deutschen

19 Schulze 1995: 117. 20 Vgl. nur die umfangreiche Monographie von Echternkamp 1998, aber auch Schieder 1992 oder bereits Meinecke 1962 (Original 1907). 21 Vgl. Langewiesche 2000: 31–34. 22 Langewiesche 2000: 181; Schulze 1985. 23 Langewische 2000: 103, 103–171. 24 Conze 1965: 38. Zur Konstitution deutschen Nationalbewusstseins über die Feindschaft zu Frankreich s. Jeismann 1992. 25 Zur antinapoleonischen Nationalbewegung vgl. Dann 1996: 68–84.

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hat sich ausgebreitet und die Pflege nationaler Semantik setzt sich auch nach dem Krieg fort und intensiviert sich in mehreren Schüben während des 19. Jahrhunderts. Trotz des Entstehens einer nationalen Gemeinschaftssemantik sind die Ziele der frühen Nationalbewegung primär noch nicht auf die Errichtung eines Nationalstaats gerichtet. In der Frühphase liegt die Betonung eher auf einer Demokratisierungsreform, die die alten Machthaber mit einbindet und die politischen Strukturen akzeptiert.26 Ein genauer Blick auf die gebräuchliche nationale Semantik der frühen Nationalbewegung zeigt, dass sie die Nation eher als eine kulturelle, denn eine politische Gemeinschaft beschreibt. Im Umkreis der Bewegungen wird gesprochen von Nationaleinheit, Nationalkirche, Nationalsinn, Nationalliebe usw., das Wort Nationalstaat jedoch gehört offensichtlich noch nicht zum rhetorischen Repertoire. 27 Dieses eher kulturelle Verständnis der Nation spiegelt sich an den Inhalten der Nationalfeste wider, die etwa als Schützen-, Sänger- oder Schillerfeste konzipiert werden, und an den Trägern der Nationalbewegung, die sich als Turner- oder Sängerverein, als Deutsche Tischgesellschaft oder als Gesellschaft zur Übung öffentlicher Tugenden konstituieren.28 Neben der dominierenden, kulturell orientierten Nationalbewegung bilden sich jedoch auch erste Kräfte heraus, die die politische Einigung Deutschlands vorantreiben wollen, wie etwa die von Ernst Moritz Arndt gegründete Deutsche Gesellschaft. Die studentische Opposition beginnt, sich gegen die »Kleinstaaterei« als Allgemeine Deutsche Burschenschaft zu organisieren. Mit den Karlsbacher Beschlüssen des Deutschen Bundes fängt 1819 allerdings bereits eine effektive Verfolgung der nationalen Vereinigungsbewegung an. Es zeigt sich, dass sie noch keine spürbare gesellschaftliche Kraft darstellt und der Deutsche Bund sie durch koordiniertes Handeln relativ leicht isolieren kann. Fortan muss auf geheime Organisationen ausgewichen werden, so dass der Einfluss dieser Bewegung und ihrer Ideen zunächst noch eher gering bleibt.29 Insgesamt ist somit zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine erste bürgerliche Nationalbewegung zu verzeichnen, die eine nationale Semantik innerhalb ihrer Vereine oder im Rahmen von vereinzelten Nationalfesten pflegt und zumeist noch nicht dezidiert auf eine politische Vereinigung in einem Nationalstaat zielt. Die politische Dimension nationaler Semantik im frühen 19. Jahrhundert scheint auf das Ziel demokratischer Reformen beschränkt und eher von untergeordneter

26 Langewiesche 2000: 196. 27 Langewiesche 2000: 83. 28 Langewiesche 2000: 86. 29 Conze 1965: 41–46; Dann 1996: 90–105.

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Bedeutung zu sein. Dominant ist eine Semantik eines kulturell fundierten Nationsverständnisses. Entsprechend geht es offensichtlich eher darum, überhaupt zu definieren, was eine gemeinsame deutsche Kultur ausmachen könnte, und weniger um die Frage, wie die Zugehörigkeit der deutschen Nation auf der Ebene von Personen zu definieren sein könnte. Diese Definition bleibt diffus und scheint noch kein drängendes Problem für die Nationalbewegung darzustellen. In den Jahren von 1830 bis 1834 entsteht dann in vielen deutschen Staaten eine Protestbewegung, die zunächst für mehr Pressefreiheit und für die Durchsetzung der Volkssouveränität eintritt und nun auch die Forderung nach politischer Vereinigung verstärkt vorträgt. Mit der Deutschen Tribüne wird von dem Rechtsanwalt Johann G.A. Wirth eine national gesinnte Zeitung gegründet, die für eine weitere Verbreitung nationaler Semantiken in der Bevölkerung sorgt. In einem mit rund 50 000 Exemplaren und damit für die Zeit unüblich hohen Auflage verbreiteten Flugblatt mit dem Titel Deutschlands Pflichten fordert Wirth 1832 explizit die »Organisation eines deutschen Reiches, im demokratischen Sinne, zur lebendigen Überzeugung aller deutschen Bürger«.30 An einer Protestveranstaltung, die am 27. Mai 1832 in Hambach als »Nationalfest der Deutschen« konzipiert wird, sollen mehr als 20 000 Menschen teilgenommen haben. Die deutsche Nationalbewegung gewinnt in dieser Zeit deutlich an Zustrom und Gewicht. Dennoch kommt sie erneut nahezu zum Erliegen, als der Deutsche Bund unter Leitung von Metternich mit den so genannten »Sechs Artikeln« eine Verfolgung und Beaufsichtigung der Nationalbewegung anordnet. Auch wenn die Oppositionsbewegung insgesamt ein gesamtdeutsches Phänomen ist, kommt es auch in den 1830er Jahren mit Ausnahme etwa des Hambacher Festes noch kaum zu staatenübergreifenden Aktionen. Der konkrete Vollzug bleibt innerhalb der Einzelstaaten und die Bewegung erfasst zudem nicht die beiden deutschen Großstaaten. Trotz zunehmender Bedeutung gelingt der Durchbruch nationaler Semantiken zu einem dominanten Bestandteil öffentlicher Rhetorik noch nicht.31 Erneut bricht die Nationalbewegung in 1840er Jahren hervor. Die wachsende Alphabetisierung in dieser Zeit ermöglicht immer häufiger auch den ungebildeten Bevölkerungsschichten die Teilhabe am Gedankenaustausch über nationalpolitische Ziele, die in steigendem Umfang über Zeitungen, Bücher und Volkskalender vermittelt werden. Hinzu kommen die rasante Entwicklung der Verkehrssysteme bei der Dampfschifffahrt und der Eisenbahn und die steigende räumliche Fluktuation innerhalb der Bevölkerung. Ereignisse in den Einzelstaaten bewirken nun öfters auch Reaktionen auf nationaler Ebene. Zunehmend wer-

30 Zit. n. Dann 1996: 108. 31 Dann 1996: 105–114; Conze 1965: 41f.

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den wieder öffentliche Feste veranstaltet, die wegen der misstrauischen Kontrolle durch die Regierungen als kulturgeschichtliche Jubiläen veranstaltet werden, unter der Hand aber erfolgreich der Verbreitung politischer Ideen dienen. Schon 1837 versammeln sich 30 000 Teilnehmer beim Gutenbergfest in Mainz, ebenso viele sind anwesend zur Einweihung des Schillerdenkmals in Stuttgart 1839. Die nationale Opposition geht nun in der Verfolgung ihrer nationalen und demokratischen Ziele auch verstärkt zu einer die Grenzen der Einzelstaaten überschreitenden Kooperation über und es kommt zu einer Zusammenarbeit mit sozialistischen Bewegungen. Der Dombau-Verein realisiert bspw. einen Zusammenschluss auf nationaler Ebene, um die Fertigstellung des Kölner Doms als nationales Prestigeobjekt zu unterstützen.32 Die Entstehung dieser gesamtdeutschen Öffentlichkeit ist sicherlich von zentraler Bedeutung für die Ausbreitung nationaler Semantik. Bis Ende Februar 1848, als die Nachricht vom Ausbruch einer Revolution in Paris die deutsche Öffentlichkeit erreicht, wächst die Nationalbewegung zur größten Massenerhebung in der deutschen Geschichte an. Im März bewirkt sie die Auflösung der Bundesversammlung des Deutschen Bundes und in der Paulskirche tritt am 18. Mai die Nationalversammlung des deutschen Volkes zusammen, deren Hauptaufgabe in der Ausarbeitung einer Verfassung des zu gründenden Nationalstaats liegt. 33 Nun wird im Rahmen der Diskussionen um die groß- oder kleindeutsche Lösung bei der angestrebten Reichsgründung die Frage der nationalen Zugehörigkeit wichtig und das Thema der Identität Deutschlands und der Deutschen kommt auf die Tagesordnung des politischen Diskurses.34 Die innere Spaltung der Nationalbewegung sowie deren Versuch, den neuen Nationalstaat in Kooperation mit und nicht gegen die Fürsten durchzusetzen, können die Machthaber allerdings für eine Hinhaltetaktik nutzen und schließlich wird die Revolution durch den Eingriff preußischer Truppen niedergeschlagen. Das Scheitern der Revolution im Juli 1849 führt zur Beibehaltung der politischen Ordnung im Deutschen Bund. Wenn man von der preußischen Verfassung aus dem Jahr 1850, die im Kern auf der Arbeit der preußischen Nationalversammlung im Revolutionsjahr 1848 beruht, und einigen Reformen für Bauern, Arbeiter und das gewerbliche Bürgertum absieht, bleibt die Revolution in Hinsicht auf die staatlichen Strukturen nahezu folgenlos.35

32 Dann 1996: 114–120. 33 Dann 1996: 120–143; Conze 1965: 48–61. 34 Vgl. Borowsky 1992. 35 Vgl. zu den politischen Folgen der Revolution von 1848 in Deutschland Conze 1965: 58–61.

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Auf semantischer Seite wiederum ist der Ertrag der Revolution deutlicher. Auch wenn die Nationalbewegung auf ihrem Höhepunkt im Jahre 1848 nie eine wirklich zentralisierte Einheitsbewegung ist, bestärken die Geschehnisse der Revolution und die Anteilnahme aller Bevölkerungsschichten daran die nationale Identität, die zunehmend in Spannung tritt zur Realität der staatlichen Fragmentierung.36 Es dauert daher nicht lange, bis es in den 1850er und 1860er Jahren und insbesondere mit Ausbruch des nationalen Einheitskriegs in Italien (Risorgimento) 1859 zu einem Wiedereinsetzen der nationalpolitischen Diskussion in einer Stärke kommt, die an das Jahr 1848 erinnert.37 Diesmal geht die Bewegung dazu über, sich in gesamtdeutschen Dachverbänden in der Form von Sänger-, Turner- und Schützenvereinen zusammenzuschließen. Die ersten Treffen der nun national verfassten Vereine geraten zu Massenveranstaltungen: 1860 das Sängerfest in Nürnberg, 1862 das Bundesschießen in Frankfurt am Main und 1863 das Bundestreffen der Turner in Leipzig. 38 Kurioserweise ist die Gründung des Norddeutschen Bundes 1866 und damit eine zumindest partielle Erreichung der Ziele der Nationalbewegung nicht als ein direkter Impuls aus der Nationalbewegung erfolgt, sondern maßgeblich das Ergebnis der Politik des leitenden preußischen Ministers Otto von Bismarck. 39 Dennoch dürfte die erstarkte, nationale Stimmung in Deutschland in den 1860er Jahren die Gründung des Norddeutschen Bundes erleichtert und die Zustimmung der Bevölkerung gefördert haben. Mit der Kriegserklärung Frankreichs an Preußen am 19. Juli 1870 treten die geheimen »Schutz- und Trutzbündnisse« in Kraft, die Bismarck 1866 mit den süddeutschen Staaten abgeschlossen hat. Parallel zu den kriegerischen Auseinandersetzungen, die mit der Niederlage Frankreichs enden, vollzieht sich die politische Einigung der kriegsführenden deutschen Staaten. Die nationale Hochstimmung in der deutschen Bevölkerung und die öffentliche Meinung üben einen derartigen Druck auf die Kabinette der süddeutschen Staaten aus, dass diese schließlich 1871 dem Zusammenschluss mit dem Norddeutschen Bund zustimmen. Die Reichsverfassung des neuen Kaiserreichs unterscheidet sich von der des Norddeutschen Bundes lediglich in ihrer Ausweitung auf Süddeutschland. Allerdings werden die Begriffe »Kaiser« und »Reich« eingeführt, die, wenn

36 Vgl. Dann 1996: 142–149. 37 Conze 1965: 67. 38 Vgl. Dann 1996: 149–152. 39 Conze 1965: 72ff.

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auch ohne staatsrechtliche Bedeutung, erhebliche symbolische Wirkung auf die Herstellung der deutschen Nation gehabt haben dürften.40 Die Entwicklung nationaler Semantiken gerät damit in Deutschland in eine Umbruchsphase. Mit der Reichsgründung ist plötzlich die Utopie verschwunden, die über zwei Generationen zuvor die nationale Semantik geprägt hat. Die Deutungsmacht über den Nationsbegriff wechselt über von der Opposition zu den konservativen Machthabern des neuen Staats. Dieser Wandel des Nationalismus im Kaiserreich wird daher treffend als »konservative Okkupation«41 bezeichnet. Mit der Realisierung des Nationalstaats und der strukturellen Untermauerung der nationalen Selbstbeschreibung gewinnt die nationale Semantik an Tiefenschärfe, die die Unterscheidung zwischen nationaler In- und Exklusion wesentlich plausibilisiert. Zur nationalstaatlichen Integration und zur Stabilisierung und Ausbreitung nationaler Semantik dürften zusätzlich eine Reihe von politischen Maßnahmen nach Gründung des Kaiserreichs beigetragen haben wie die Ausweitung bundesstaatlicher Zuständigkeiten, die Expansion der Bürokratie und der Sozialversicherungen und der Ausbau des Schulwesens. Auch dürfte die zunehmende Migration innerhalb des Reichs, die Verstädterung, das zunehmende Engagement der Bevölkerung in Parteien, Gewerkschaften und Interessensgruppen, die massive Ausbreitung der Presse und des Büchermarktes und schließlich die zunehmende Symbolisierung der Nation durch die Errichtung von Denkmälern das nationale Bewusstsein intensiviert und zu seiner Durchsetzung in der gesamten Bevölkerung beigetragen haben.42 Nach dem Tod Wilhelms I. 1888 entstehen allein 400 ihm gewidmete Denkmäler und über 300 Bismarckvereine errichten 700 Denkmäler ihres Idols.43 Die Frage nach nationaler Zugehörigkeit wird immer mehr in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen gestellt, so dass die nationale In- und Exklusionssemantik deutlich an Konturen gewinnt. Während noch 1848 die Frage der nationalen Zugehörigkeit verhältnismäßig grob im Sinne einer klein- oder großdeutschen Lösung diskutiert wird, geht man nun zu einer sehr viel feinkörnigeren Definition von Zugehörigkeit über, in deren Folge es zum expliziten Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen aus der Nation kommt. Auch scheint man nun im Sinne der konservativen Okkupation des Nationalismus vor allem

40 Zur Geschichte der Gründung des deutschen Kaiserreichs vgl. Schulze 1995: 230–243 sowie Dann 1996: 149–164. 41 Langewiesche 2000: 210. 42 Walkenhorst 2007: 39–48; Breuilly 1999: 217. 43 Langewiesche 2000: 211.

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das rechte Bürgertum zur Nation zu zählen.44 Die Regierung richtet ihre Propaganda, aber auch ihre politischen Maßnahmen zunehmend auf die Ausgrenzung so genannter »Reichsfeinde«, die sie als Gegner der Nation behandelt. Betroffen sind zunächst die Zentrums-Katholiken, später vor allem die Sozialdemokratie.45 Aber die Grenzen der Zugehörigkeit werden nicht nur an dieser Stelle etabliert. Da sind weiterhin die vielen Minderheiten, wie die beträchtlichen französischen, polnischen und dänischen Bevölkerungsanteile, und die Menschen jüdischen Glaubens, die nun beim Reden über die Nation zunehmend in den Blick geraten.46 Romane wie Gustav Freytags Soll und Haben von 1855 oder Wilhelm Raabes Der Hungerpastor von 1864 vermitteln antisemitische Klischees und Stereotype, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der antisemitischen Propaganda nationalistischer Agitatoren leicht übernommen und verallgemeinert werden.47 Während noch 1871 alle jüdischen Einwohner zu gleichberechtigten Bürgern des Nationalstaats werden, zeigt sich schon wenig später ein verstärkter Antisemitismus, der von konservativen Publizisten wie dem Historiker Heinrich von Treitschke vorangetrieben wird. Es bilden sich antisemitische Parteien und Vereine wie die 1886 gegründete Deutsche Antisemitische Vereinigung oder die 1878 gegründete Christlich-Soziale-Arbeiterpartei des preußischen Hofpredigers Adolf Stöcker, der mit seinen antisemitischen Forderungen 1893 mit 16 Abgeordneten in den Reichstag einzieht. Neben dieser Ausgrenzung von Minderheiten aus der Nation kommt es auch zu einer stärkeren politischen Polarisierung. Der Sozialdemokrat August Bebel behauptet 1901 im Reichstag: »Es gibt leider in Deutschland, wie in allen modernen Kulturstaaten, zwei Nationen, eine Nation der Ausbeuter und Unterdrücker, und eine Nation der Ausgebeuteten und Unterdrückten«.48 Auch der eher dem konservativen Lager zuzurechnende Ernst Troeltsch bemerkt die »tiefe Spaltung der Gesellschaft, deren eine Hälfte mit einer bis dahin nie vorhanden gewesenen Einheitlichkeit den militärisch-konservativ-imperialistischen Typus«49 vertrete.

44 Conze 1965: 94. 45 Schulze 1995: 258ff. 46 Conze 1965: 82–89. 47 Zur Rolle dieser Romane im antisemitischen Diskurs des deutschen Kaiserreichs vgl. Allal 2002. 48 Zit. n. Dann 1996: 192. 49 Troeltsch 1925: 170.

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Diese Veränderungen erscheinen als eine deutliche Verfeinerung der Beschreibung der Nation, der zufolge Personen sehr viel zielgenauer als zuvor aus der Nation semantisch in- und exkludiert werden können. Die semantische Schließung der Nation wird allerdings nicht nur verfeinert, sondern auch radikalisiert. Solange die Nation noch als eine politisch organisierte Kulturgemeinschaft verstanden wird, besteht prinzipiell für die ausgeschlossenen Gruppierungen die Möglichkeit, durch ein Bekenntnis zu den durch die dominante Deutungsmacht festgelegten nationalen Werten in die nationale Gemeinschaft wieder aufgenommen zu werden. Konkrete Maßnahmen auf dem Gebiet der Bildungsund Kulturpolitik sollen diese Möglichkeit für die fremdsprachigen Minderheiten, jedoch bezeichnenderweise nicht für Juden, im Reich eröffnen. Mit dieser Praxis korrespondiert auf semantischer Ebene das Reden von der »Germanisierung«.50 Tatsächlich können sich selbst die so genannten »Reichsfeinde« durch ein Bekenntnis zur Nation des Kaiserreichs zumindest einer weiteren Verfolgung entziehen.51 Diese Möglichkeit wird jedoch immer weiter aufgehoben. Wie eine umfassende Analyse der Nationssemantik während des Kaiserreichs von Peter Walkenhorst zeigt, kommt es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer beachtlichen Zunahme biologistischer und rassistischer Ideologien. 52 Diese Rassensemantik knüpft an verschiedene Diskurse vor allem der Rassenanthropologie und der Rassenhygiene an, die sich als neue wissenschaftliche Disziplinen etablieren. Der semantische Schwerpunkt des Nationalismus verlagert sich damit immer mehr von der Betonung kultureller Kriterien auf das Prinzip der Abstammung und hebt die Beschreibung nationaler Geschlossenheit auf ein zuvor nicht da gewesenes Niveau der Starrheit. Mit dem Rassenbegriff wird die nationale Zugehörigkeit zu einem rein biologischen Kriterium, das sich einer Einflussnahme von außen vollständig verschließt und nur noch durch die Rassenforschung diagnostiziert werden kann. Zudem wird sie in alle Ewigkeit festgeschrieben, da der Rassengedanke die Existenz der Nation in ein bis in das Dunkel der Urzeit zurückreichendes Kontinuum stellt.53 Die Vorstellung von einer nationalen Geschlossenheit nimmt mit dieser biologischen Determination das denkbar größte Ausmaß an. Rassistische Semantiken der Nation werden in den Medien und in der Öffentlichkeit zunehmend propagiert. Es bilden sich auch Vereinigungen, die die

50 Walkenhorst 2007: 95. 51 Breuilly 1999: 215. 52 Vgl. die Semantikanalyse bei Walkenhorst 2007: 80–148. 53 Wehler 2007: 82.

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Vorstellung von deutschem Volkstum im Sinne einer rassischen Gemeinschaft pflegen und verbreiten. Zu den wichtigsten dieser zahlreichen Gruppierungen zählen der 1893 gegründete Alldeutsche Verband, der seit 1908 bestehende Verein für das Deutschtum im Ausland, der Flottenverein, der Deutsche Wehrverein, der Reichsverband zur Bekämpfung der deutschen Sozialdemokratie, der Kolonialverein sowie zahlreiche studentische Verbindungen und auch der Bund der Landwirte oder der Deutschnationale Handlungshilfenverband.54 Symptomatisch für die Ausbreitung volksnationaler Semantiken in dieser Zeit ist die große Popularität des Sozialdarwinismus, einer pseudo-wissenschaftlichen Variante der Lehre Charles Darwins von der natürlichen Auslese und vom Überleben der Stärkeren, die den Kampf zwischen Völkern ums Überleben als Naturgesetz versteht. Dass der Krieg ein notwendiges Übel einer jeden Nation sei, ist daher eine gängige Meinung, die in Zeitungen zwischen 1880 und 1914 verbreitet wird.55 Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommt es zu einem nochmaligen, allerdings verhältnismäßig kurz anhaltenden Radikalisierungsschub in der Nationssemantik.56 Schon der Krieg von 1870/71 hat eine große Zahl von Soldaten involviert und zu einer Verstärkung der nationalen Solidarität beigetragen. Das Ausmaß dieser Mobilmachung ist jedoch noch gering im Vergleich zu jener im Ersten Weltkrieg. Buchstäblich jeder Lebensbereich wird dem Erreichen des Sieges im Krieg untergeordnet. Fast die gesamte Bevölkerung verliert Angehörige und muss Entbehrungen hinnehmen. Die gemeinsame Kriegserfahrung und auch die gemeinsame Niederlage stärken die Vorstellung der nationalen Zusammengehörigkeit. 57 Die Nation erscheint als eine einheitliche Willensgemeinschaft, die in der Zeit der kriegerischen Bedrohung zusammensteht und den so genannten »Burgfrieden« einhält. Der Kaiser bringt die Stimmung am 1. August 1914 auf die berühmte Formel: »Ich kenne in meinem Volke keine Parteien mehr, es gibt unter uns nur noch Deutsche«.58 Zudem läuft die Propaganda auf Hochtouren. Hasserfüllte Feindstereotype grassieren in einem vorher nicht da gewesenen Ausmaß. 59 Die Vergegenwärtigung der Zugehörigkeitsgrenzen der Nation wird damit zu einem omnipräsenten Bestandteil des öffentlichen Diskur-

54 Breuilly 1999: 217. 55 Zur Ethnisierung der Nation und zu den Tendenzen der inneren Ausgrenzung im späten Kaiserreich vgl. Dann 1996: 197–210 sowie Schulze 1995: 271–278. 56 Wehler 2007: 83. 57 Breuilly 1999: 220. 58 Zit. n. Dann 1996: 220. 59 Wehler 2007: 83.

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ses, der sich zudem im radikalen Bereich der Rassenideologie und des Sozialdarwinismus bewegt. Dieser übersteigerte Nationalismus ebbt jedoch noch während des Ersten Weltkriegs wieder ab. Zwar scheint die Nation als Bezugspunkt kollektiver Identität außer Frage zu stehen. 1916 brechen jedoch innenpolitische Diskussionen über den Weg zum Frieden aus, die unter anderem zur Gründung der kriegskritischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) im Frühjahr 1917 und der den Krieg befürwortenden Deutschen Vaterlandspartei im September des gleichen Jahres führen.60 Diese Diskussionen stellen die nationale Zugehörigkeit der Streitparteien nicht mehr in Frage, markieren jedoch deutliche Spaltungstendenzen innerhalb der Nation.61 Nach dem Krieg setzen sich diese Spaltungstendenzen insbesondere aufgrund der Frage nach der zu wählenden Staatsform weiter fort. Den demokratisch gesinnten Parteien und Trägern der Republik – der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) – stehen in ihrer Haltung zur Demokratie ambivalente oder ablehnende Parteien wie die Zentrumspartei, die Deutsche Volkspartei (DVP), die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) entgegen. Im Laufe der Weimarer Republik verlieren die Befürworter der Demokratie zusehends an Einfluss und die Wahlen bestärken die rechten Parteien.62 Die Spaltung der Nation wird auch deutlich an einer neuen Uneinigkeit über nationale Symbolik, wie sie sich während der Weimarer Republik an einer Institution wie der des Reichskunstwartes zeigt. Dieses Büro ist für die Entwicklung nationaler Symbole wie Reichsadler, Briefmarken, Banknoten, Urkunden, Stempel, Ehrendenkmäler, aber auch für die Veranstaltung von Verfassungs-, Trauerund Gedenkfeiern der Republik zuständig und soll dadurch die nationale Einheit sichern und stärken. Tatsächlich wird das Büro jedoch durch den Streit der verschiedenen Lager gelähmt und schließlich nach ausbleibendem Erfolg geschlossen.63 Der Spaltung der Nation im Hinblick auf die Weimarer Republik und der richtigen Politik im Umgang mit der Kriegsniederlage stehen auf der anderen Seite Vorstellungen von einer nationalen Schicksalsgemeinschaft gegenüber. Nach Kriegsende kommt es durch politische Machtwechsel zu Fluchtbewegun-

60 Zur Lage der Nation im Ersten Weltkrieg vgl. Dann 1996: 219–225 u. 230–243. 61 Breuilly 1999: 226. 62 Breuilly 1999: 244–272. 63 Speitkamp 1996.

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gen und Vertreibungen von etwa 1 Million Deutschsprachiger aus Russland und den osteuropäischen Staaten, vor allem aus Polen. In dem an Frankreich gefallenen Elsass-Lothringen setzt eine rigorose Nationalisierungspolitik mit entsprechenden Ausweisungen von etwa 130 000 Deutschen ein, und etwa 10 Millionen Deutsch-Österreicher und Sudetendeutsche werden durch die Siegermächte daran gehindert, sich der neuen Republik anzuschließen. Über die Staatsgrenzen und die verschiedenen Lager innerhalb der Nation hinweg wird das deutsche Volk so als eine Schicksalsgemeinschaft wahrgenommen. Der Verein für das Deutschtum im Ausland wird zu einer Massenorganisation mit etwa 2 Millionen Mitgliedern. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), die als Partei und als radikalnationalistische Bewegung die völkische Ideologie des Sozialdarwinismus ungeachtet der Kriegsniederlage mit der Vorstellung der Superiorität des deutschen Volkes versieht, gewinnt gegen Ende der Weimarer Republik immer mehr an Zulauf und politischem Einfluss.64 Nach den Wahlen zum 2. Reichstag am 4. Mai 1924 ist die NSDAP mit 6,6 Prozent der Wählerstimmen erstmals im Parlament mit 32 Sitzen vertreten, bis 1933 steigt die Anzahl ihrer Mandate mit Schwankungen auf 288 Sitze bei 44,7 Prozent der Wählerstimmen. 65 Die NSDAP entwickelt sich zunehmend zu einer großen Massenpartei, die in der Mehrheit der Bevölkerung Unterstützung oder zumindest Akzeptanz findet.66 Auch die Entwicklung der Mitgliederzahlen sprechen für die große Popularität der NSDAP: 1927 verfügt sie bereits über 18 000 Mitglieder, mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 steigt die Zahl rapide auf 120 000 an, im Sommer 1930 sind es 300 000.67 Während der nationalsozialistischen Herrschaft wird die rassistisch begründete Inklusions- und Exklusionssemantik in einen unübertroffenen Extremismus gesteigert. Nicht nur wird dafür Sorge getragen, dass der rassistische Volksbegriff der Bevölkerung ununterbrochen durch Feiertage, Feste, allgegenwärtige Symbole und Propaganda eingebläut wird, auch erfährt das Reden über Rassenunterschiede und vor allem das Reden über Wertunterschiede der Rassen eine Untermauerung in einer neuen Radikalität. Die angebliche Überlegenheit einer deutschen Rasse dient nun als Rechtfertigung nicht nur des Ausschlusses »nichtarischer Rassenangehöriger« aus der Nation, sondern auch zu deren Exekution.

64 Dann 1996: 272–384. 65 Schoun-Wiehl 1970: 54f. 66 Vgl. zur Massenbasis des deutschen Faschismus Radt 1987: 90–97. 67 Schoun-Wiehl 1970: 45.

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Sie dient im Zweiten Weltkrieg zur Begründung der Völkermorde und natürlich auch der Gefangennahme und Ermordung der Juden.68 Insgesamt scheint in der Geschichtswissenschaft das Ausmaß der Durchdringung der nationalsozialistischen Rassenvorstellungen in der Bevölkerung umstritten zu sein. 69 Unbestreitbar ist, dass die nationalsozialistische Bewegung stark in der Bevölkerung verankert ist. Besonders nationale »Erfolge« der Politik Hitlers, wie die Remilitarisierung, der Austritt aus dem Völkerbund, die Besetzung des Rheinlands, der Anschluss Österreichs, die Zerschlagung der Tschechoslowakei und erst recht die Feldzüge in Polen und im Westen werden in der Bevölkerung selbst in den zunächst noch resistenten katholischen und sozialdemokratischen Milieus frenetisch gefeiert.70 Ob jedoch die Mehrheit der Bevölkerung Massen- und Völkermorde aus einem rassistischen Überlegenheitsanspruch rechtfertigt oder nicht, ist schwer einzuschätzen. Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg markiert für die Entwicklungsgeschichte des deutschen Nationalismus einen Wendepunkt.71 Der radikale Nationalismus kommt in der Form öffentlich gepflegter Semantik mit Ausnahme einiger kleiner rechtsradikaler Milieus innerhalb kurzer Zeit praktisch zum Erliegen. Eine Ablehnung des Friedens wie nach dem Ersten Weltkrieg bleibt aus. Zwar ist davon auszugehen, dass ethnische Vorstellungen von der Nation überleben, als Grundlage einer öffentlichen Semantik der Nation dienen sie nun jedoch nur noch in einem vergleichsweise geringen Maß.72 Für die Weiterentwicklung der Beschreibung kollektiver Identität in der Nachkriegszeit sind vielmehr die Teilung Deutschlands, der Wirtschaftsaufschwung und die europäische Integration relevant.73 In beiden deutschen Teilstaaten bilden sich kollektive Identitäten heraus, die allerdings vor dem Hintergrund der Teilung des Nationalstaats nur schwer als nationale Identitäten konzipierbar sind. Dies zeigen die missglückten Versuche der DDR-Führung in den 1970er Jahren, eine eigene nationale Identität der DDR herauszubilden, indem man sich etwa in Artikel 1 der Verfassung nicht mehr »sozialistischer Staat deutscher Nation«, sondern »sozialistischer Arbeiter- und

68 Hier ist umstritten, in welchem Umfang die Bevölkerung informiert gewesen ist. Vgl. Breuilly 1999: 222–226. 69 Breuilly 1999: 230. 70 Wehler 2007: 86. 71 Wehler 2007: 87. 72 Winkler 1993: 17. 73 Vgl. z. B. die Analysen über »Nation und Nationalbewußtsein in der politischen Gegenwartsprache« bei Langner 1969: 43–93.

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Bauernstaat« nennt. Die anhaltenden Flüchtlingsströme nach Westdeutschland bis 1961 und auch danach und erst recht die Umwälzung von 1989 unter dem Slogan »Wir sind ein Volk« illustrieren eindrücklich die beschränkte Wirksamkeit einer nationalen DDR-Identität.74 In Westdeutschland entstehen analoge Probleme. Laut einer Umfrage von 1967 empfindet die Mehrheit der Westdeutschen Deutschland trotz der Teilung als Einheit, was der Bildung einer westdeutschen nationalen Identität entgegengestanden haben dürfte.75 Als kollektiver Identitätsstifter dient nun eher der Stolz auf den unerwarteten wirtschaftlichen Aufschwung und die europäische Integration. Kaum einem Mitgliedsland fällt es so leicht wie der Bundesrepublik, auf nationale Souveränität zugunsten der Europäischen Gemeinschaft zu verzichten.76 Bei einer Umfrage aus dem Jahr 1971 befürworten 60 Prozent einen europäischen Bundesstaat, bei dem die Mitgliedstaaten auf den Rang eines Departements herabgestuft würden, und immerhin 35 Prozent sind für die Ersetzung der deutschen Nationalflagge und der Olympiamannschaft durch europäische Pendants.77 Gleichzeitig gibt die Mehrheit der Bundesdeutschen an, sich an die Teilung Deutschlands gewöhnt zu haben78, und sie schneiden bei international vergleichenden Untersuchungen über den Nationalstolz bei der Frage »Sind Sie stolz ein Deutscher, Italiener, Franzose usw. zu sein?« regelmäßig vergleichsweise schwach ab.79 Der Rückgang nationaler Semantik ist in der Nachkriegszeit derart deutlich, dass in den 1980er Jahren Vertreter des konservativen Lagers Anlass haben, eine »Entnationalisierung« der Deutschen zu befürchten und eine aktive Renationalisierungspolitik anregen. Der Vorschlag bleibt jedoch nicht unwidersprochen und regt eine öffentliche Debatte an.80 Auch nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 kommt es entgegen manchen Befürchtungen bzw. Hoffnungen trotz zunehmend krisenhafter ökonomischer Bedingungen und heftiger Wahlkämpfe bislang nicht zu einem Wiederaufleben eines breit verankerten und nachhaltigen deutschen Nationalismus.81 Die deutsche nationale Identität ist sicherlich gefes-

74 Breuilly 1999: 227. 75 Schweigler 1973: 140. 76 Wehler 2007: 88. 77 Schweigler 1973: 192f. 78 Schweigler 1973: 138. 79 Winkler 1993: 23. Vgl. bspw. die Zahlen aus der internationalen Wertestudie 1981/82 bei Scheuch 1991: 85. 80 Breuilly 1999: 229. 81 Wehler 2007: 89.

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tigt, der Nationalismus hat nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch mit Ausnahme des rechtsradikalen Milieus und zeitlich beschränkter Sportereignissen wie etwa Fußballweltmeisterschaften deutlich an Deutungsmacht für die Beschreibung gesellschaftlicher Differenzierung verloren.

8.2 N ATIONALE S EMANTIK IN DER POLITISCHEN Ö FFENTLICHKEIT F RANKREICHS Zu einer breitenwirksamen Verwendung nationaler Semantik als Selbstbeschreibungskategorie einer politischen Gemeinschaft kommt es in Frankreich erstmals mit dem Ausbruch der Französischen Revolution.82 Die desolate Finanzlage des französischen Staats im 18. Jahrhundert, allgemeine wirtschaftliche Probleme sowie Missernten begünstigen im Vorfeld der Revolution eine zunehmende Politisierung breiter Bevölkerungsschichten. Die kriegerischen Auseinandersetzungen vor allem im Österreichischen Erbfolgekrieg (1741–1748), im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) und der Eingriff in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1778–1783) führen zu einem katastrophalen Anstieg der Staatsschulden. Gleichzeitig führt die Anerkennung des Parlaments in Paris als Interessenvertretung der Privilegierten zu einer dauerhaften Blockade dringend notwendiger Reformen und damit zu einer Verarmung der Bevölkerung und einer Schwächung der königlichen Autorität.83 Unter diesen Rahmenbedingungen finden Ideen im Umfeld des Nationsbegriffs schnell Anklang und Verbreitung. Ein wichtiger Wegbereiter ist hier zunächst Jean-Jacques Rousseaus Schrift Contrat social von 1756, in der er das Konzept des »volonté generale« als Ausdruck des Volkswillens entwickelt.84 Für die Verbreitung nationaler Semantik in den Massen wichtiger noch ist allerdings die Schrift Qu’est-ce que le tiers état?, die vom Abbé Emmanuel Sieyès im Januar 1789 verfasst wird. Wie schon bei Rousseau wird darin der Nationsbegriff zur Bezeichnung des Volkes als Träger der politischen Souveränität verwendet. Anders als Contrat social ist die Schrift allerdings ein publizistischer Erfolg. Die Nation wird hier definiert als ein funktionelles Ensemble, dessen Zusammenhalt,

82 Aufschlussreich zur Vorgeschichte nationaler Selbstbeschreibung in Frankreich im Mittelalter ist Beaune 1985. Zur Semantikgeschichte des Volksbegriffs in Frankreich vom 17. bis zum 19. Jahrhundert s. Fritz 1988; allgemeiner Greenfeld 1992: 89–188 u. Kohn 1950. 83 Hartmann 2003a: 35ff.; Schmale 2000: 153–166; Hinrichs 1989. 84 Jansen/Borgräfe 2007: 126.

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die »harmonie générale«, auf dem Prinzip der Arbeitsteilung beruht. Insofern wird die Ausübung von Arbeit zum wesentlichen Kriterium der Zugehörigkeit zur Nation. Daraus zieht Sieyès den Schluss, dass lediglich der arbeitende, dritte Stand zur Nation gehört und dementsprechend nur dieser die politische Souveränität innehaben kann: »les représentants du tiers sont les vrais dépositaire de la volonté nationale. Ils peuvent donc, sans erreur, parler au nom de la nation entière […] Ils ont tous les pouvoirs«. Und es ist deshalb selbstverständlich, »qu’ils se décernent le titre d’assemblée nationale«.85 Diese Ideen werden in der Bevölkerung schnell aufgenommen und dürften maßgeblich den Lauf der Revolution beeinflusst haben. Etwa ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung der Schrift, am 17. Juni 1789, machen sich die Pariser Massen die Forderungen des Abbés zu eigen und der dritte Stand erklärt sich zur Nationalversammlung. Ein prägendes Symptom für die Ausbreitung des Konzepts der Nation in weite Bevölkerungsschichten in der Frühphase der Revolution ist der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789. Die Androhung des Königs, die Nationalversammlung nötigenfalls mit militärischer Gewalt aufzulösen, treibt die Pariser mit dem Ziel auf die Straße, die Nationalversammlung und die Revolution zu beschützen.86 Aber nicht nur in Paris werden die Massen im Namen der Nation mobilisiert. Von der Hauptstadt breitet sich die Revolution in Provinzstädte aus, wo Redner die Bevölkerung aufklären und agitieren. Es kommt zur so genannten »munizipalen Revolution«. Weite Teile der Bevölkerung beschaffen sich Waffen und es werden unabhängige Stadtdemokratien gegründet. Von den Städten greifen die Unruhen auch auf das Land und die Bauern über, die sich erst weigern den Kirchenzehnt und die Grundabgaben zu zahlen und dann damit beginnen, Schlösser und Klöster zu stürmen.87 Die Politisierung der Bevölkerung lässt sich auch an der gewaltigen Masse an Beschwerdeschriften erkennen, den so genannten Cahier de doléance, die man den Abgeordneten zukommen lässt und von denen heute noch etwa 60 000 Stück erhalten sind.88 Sehr deutlich zeigt sich der nationale Elan zudem im so genannten »mouvement de fédération«. Es handelt sich dabei um den zentral von Paris aus organisierten nationalen Zusammenschluss der verschiedenen Bürgermilizen der Städte, die sich nach dem Pariser Vorbild im Laufe des Jahres 1789 überall im Land bilden. Die so entstandene »Garde nationale« soll fortan den geordneten Ablauf und den Erfolg der Revolu-

85 Zit. n. Verrière 2000: 239. 86 Jenkins 1990: 19. 87 Hartmann 2003a: 39. 88 Hartmann 2003a: 38.

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tion sichern. Die nationale Dynamik dieser Bewegung kulminiert am 14. Juli 1790, als zum ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille auf dem Champs-deMars eine große Nationalfeier abgehalten wird. Neben den etwa 50 000 Gardisten aus Paris und der Provinz versammeln sich etwa 300 000 Zuschauer, um die französische Nation zu feiern.89 Die im Kontext der Französischen Revolution so rasch sich ausbreitende nationale Semantik zielt allerdings nicht in erster Linie auf die Beschreibung der Einheit einer französischen Volksgemeinschaft, sondern bezieht sich auf die Forderung nach politischen Reformen und dem Umsturz der bestehenden Machtverhältnisse. Dies zeigt sich an der berühmten Erklärung der Menschenund Bürgerrechte. Der Begriff »Nation« kommt ebenso wie das Wort »français« nicht vor. Vielmehr geht es um die Festlegung grundlegender Rechte aller Menschen, die durch ein entsprechendes Herrschaftssystem gedeckt werden sollen. Der Text ist universell formuliert und es dominieren Ausdrücke wie »l’homme«, »la société« oder »la loi«.90 In der Verfassung vom 3. September 1791 kommt zwar der Begriff »Nation« vor, aber auch hier ist deutlich, dass damit ein Konzept der Volkssouveränität bezeichnet werden soll. In Artikel 1 heißt es: »La Souveraineté est une, indivisible, inaliénable et imprescriptible. Elle appartient à la Nation; aucune section du peuple, ni aucun individu ne peut s’en attribuer l’exercice«.91 Dass die nationale Semantik um die Wende zum 19. Jahrhundert in Frankreich eher an eine politische Opposition als an Vorstellungen einer einheitlichen und geschlossenen Gemeinschaft der Franzosen gebunden ist, bezeugt möglicherweise auch die kurze Dauer ihrer Verwendung. Nach der Revolution wird der Nationsbegriff von anderen Mustern kollektiver Identität wie Klasse und Religion wieder zurückgedrängt.92 Diese Wiedererstehung stratifikatorischer Klassengegensätze erfolgt relativ schnell. Zu Beginn schließt die Nationalbewegung der Französischen Revolution noch die Bourgeoisie ebenso ein wie die Bauern und sogar Teile des Adels. Ihre gemeinsame Abneigung gegen den Absolutismus und der gemeinsame Wunsch, die Macht der Monarchie zu begrenzen, lässt sie zu einem Kollektiv werden. Die Unterschiede zwischen Adel und Bourgeoisie erscheinen noch gering, weil sowohl Adelige sich im bürgerlichen Kommerz engagieren als auch umgekehrt Bürgerliche, die über viel Grundbesitz verfügen, feudale Rechte genießen. Diese große Koalition fällt allerdings bald auseinander,

89 Verrièrre 2000: 241. 90 Verrière 2000: 243; Schulze 1995: 168. 91 Zit. n. Verrière 2000: 240. 92 Jenkins 1990: 13–22.

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als der Adel sich weigert auf seine Privilegien zu verzichten. Mit dem Fortbestehen der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme und der unverändert schlechten Lage großer Bevölkerungsteile zerfällt der nationale Konsens noch stärker. Auch die Unterschiede zwischen der meist wohlhabenden Bürgerschicht und der verarmten Unterschicht werden immer deutlicher und die Revolution fällt in radikalere Hände. Ebenso gravierend für eine nachhaltige Plausibilität nationaler Semantik dürften sich die aufklaffenden Antagonismen zwischen der Republik und dem Katholizismus ausgewirkt haben. In den Augen vieler Revolutionäre sind der Klerus und der Katholizismus eng verbunden mit der Monarchie. Sie werden deshalb ebenso wie diese bekämpft. Am 2. November 1789 werden die Kirchengüter vom Staat konfisziert und zur Bezahlung der Staatsschulden verwendet. Die Geistlichen werden verbeamtet und müssen einen Eid auf die Verfassung schwören. Als sich in den Jahren 1791 und 1792 die repressiven Maßnahmen gegen die Kirche immer weiter verstärken und am 27. Mai 1792 die Priester, die ihren Eid nicht leisten, verhaftet und im Gefängnis gefoltert und umgebracht werden, kommt es zum Bürgerkrieg zwischen den Truppen der Regierung und der sich neu formierten so genannten armée catholique et royale, zu der bis zu 40 000 Kämpfer zählen. Nach anfänglichen Erfolgen bei Saumur und Angers wird sie schließlich vor Nantes am 29. Juni 1793 geschlagen und anschließend vollständig vernichtet. Ein Dekret vom 1. August 1793 ordnet zusätzlich die Zerstörung der Vendée an, wo man das Zentrum des katholischen Widerstands vermutet. Das Dekret wird 1794 von den Truppen des Général Turreau mit aller Brutalität umgesetzt.93 Eine stabile Verankerung des Nationsbegriffs in der politischen Semantik wird in Frankreich um die Jahrhundertwende weiterhin durch die enorme sprachliche Diversifikation unterlaufen. Dieses Problem macht sich die französische Nationalversammlung schon sehr früh bewusst, als es darauf ankommt, die Botschaft der Revolution in ganz Frankreich zu verbreiten. Als eine erste Maßnahme wird im August 1790 der Abbé Grégoire beauftragt, eine Untersuchung über die verschiedenen Sprachen und Dialekte in Frankreich anzufertigen. Sein Rapport sur la nécessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française, den er am 16. Juni 1794 vorlegt, schildert das ganze Ausmaß der sprachlichen Vielfalt im Land: Zwar ist abgesehen vom Elsass und von Flandern das Französische als Schriftsprache schon relativ gut verbreitet, jedoch kann nur eine unbedeutende Minderheit der Bevölkerung lesen und schreiben. Die große Mehrheit der Franzosen ist zur Verständigung auf die

93 Verrière 2000: 248–253.

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gesprochene Sprache angewiesen. In vielen Grenzregionen wird jedoch eine Sprache gesprochen, die mehr Ähnlichkeiten mit der Sprache in den Nachbarländern als mit dem in Paris gesprochenen Französischen aufweist. Zudem bestehen unzählige Dialekte, die selbst wieder in verschiedene Mundarten unterteilt sind und sich oft sogar von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden können. Grégoire zeigt auf, dass die gesprochenen Sprachen sich um so mehr vom Französischen unterscheiden, je weiter die entsprechende Sprachregion von Paris und von den großen Landstraßen entfernt ist. In seinem Bericht macht er der Nationalversammlung die Bedeutung der sprachlichen Vielfalt für die mangelnde nationale Identität deutlich: »Pour extirper tous les préjugés, développer toutes les vérités, tous les talents, toutes les vertus, fondre tous les citoyens dans la masse nationale, […] il faut identité de langage«.94 Wie sehr Grégoire mit dieser Einschätzung Recht behält, zeigt sich unter anderem an der Haltung des Abgeordneten Barère und der Partei der Montagnards, die alle Franzosen, die nicht französisch sprechen, als potentielle Feinde der Republik verdächtigen. Barère sagt während einer Sitzung am 27. Januar 1794: »le fédéralisme et la superstition parlent bas-breton, l’émigration et la haine de la République parlent allemand, la contre-révolution parle italien et le fanatisme parle basque«.95 An der Wende zum 19. Jahrhundert befindet sich Frankreich immer noch in einem desolaten Zustand. Erhebliche wirtschaftliche, finanzielle und politische Probleme bestimmen nach wie vor das Leben. Im Interesse des Besitzbürgertums wird die Wirtschaft liberalisiert, was zu Inflation, Lebensmittelmangel und sogar zu Hungersnöten führt. Es kommt zu mehreren Putschversuchen, aber erst Napoleons Staatstreich führt 1799 zum Regimewechsel. Die neue, am 13. Dezember 1799 fertiggestellte Verfassung wird vom Volk in einem Plebiszit mit 3 Millionen Ja- zu 1 562 Nein-Stimmen bei vielen Enthaltungen angenommen. Die Verfassung macht Napoleon zum alleinigen Machthaber Frankreichs, dem eine nur schwache Legislative gegenübersteht.96 Die politische Gemeinschaft ist zu diesem Zeitpunkt tief gespalten und nationale Semantiken kommen so gut wie nicht mehr vor. Im Laufe der Herrschaft Napoleons gelingt jedoch eine gewisse Wiederbelebung der nationalen Rhetorik. Die kriegerische Aktivität Napoleons trägt zur Stärkung des Nationalgefühls bei. Wichtiger ist jedoch, dass Napoleon Ausgleich und Versöhnung im Innern erreicht. Praktisch mit diktatorischer Gewalt ausgestattet beginnt Napoleon ein zentralisiertes Staatssystem aufzubauen und er profiliert sich erfolgreich als nati-

94 Zit. n. Verrière 2000: 248. 95 Zit. n. Verrière 2000: 247. 96 Hartmann 2003a: 51–55.

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onale Integrationsfigur, indem er scheinbar zentrale Forderungen der verfeindeten gesellschaftlichen Kräfte befriedigt. Drei Aspekte dieses so genannten Bonapartismus dürften insbesondere die Basis für die neue nationale Semantik geliefert haben: Erstens gewinnt Napoleon die Loyalität der Unterschichten, indem er geschickt Themen wie Volkssouveränität und soziale Gleichheit im Staat in Verbindung bringt. Es gelingt ihm die Illusion von Demokratie durch die regelmäßige Durchführung von Plebisziten, durch den unzweifelhaften Erfolg seiner Politik und seine Selbstidentifizierung als Inkarnation des Volkswillens aufrechtzuerhalten. Auch sein Misstrauen gegenüber der Bourgeoisie und die Abschaffung der Herkunftsprivilegien bringen ihm die Zustimmung in den breiten Massen der Bevölkerung. Zweitens präsentiert sich Napoleon ebenso erfolgreich als Vertreter bürgerlicher Interessen. Es ist erst Napoleon, der zentrale bürgerliche Forderungen wie die Abschaffung adeliger Privilegien, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Abschaffung des Feudalismus und die wirtschaftliche Liberalisierung konsequent umsetzt und konsolidiert. Drittens schließlich gelingt es Napoleon auch die Kräfte der Gegenrevolution, die Monarchisten und Katholiken, hinter sich zu vereinigen. Mit dem Konkordat von 1801 beendet er den blutigen und bitteren Kampf gegen die katholische Kirche und sichert sich damit die Möglichkeit, über die Kirche auf die katholischen Franzosen Einfluss auszuüben. Die Monarchisten besänftigt Napoleon durch den Sénatus-consulte vom 18. Mai 1804, durch den Napoleon sich zum erblichen Kaiser mit monarchischem Recht, eigenem Hofstaat und monarchischer Zivilliste ernennt.97 Insgesamt lässt sich damit im Vergleich zu der Zeit nach dem Abflauen der nationalen Euphorie in der Frühphase der Revolution wieder ein gewisser Bedeutungsgewinn nationaler Semantik im politischen Diskurs feststellen, die mit der Befriedungspolitik Napoleons erneut eine gewisse Plausibilität gewinnt. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Frankreich nach wie vor von einer enormen sozialen, kulturellen und sprachlichen Heterogenität geprägt ist. Entsprechend bezieht sich der Begriff der Nation unter Napoleon nicht auf das Volk bzw. den dritten Stand, sondern vor allem auf die Person Napoleons selbst sowie auf den Staatsapparat und die Armee.98 Die Nationssemantik gewinnt an Kraft, als breitenwirksames Mittel der Selbstbeschreibung der gesamten politischen Gemeinschaft fungiert sie jedoch nicht. Nachdem die französische Armee in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen und Ende März 1814 sogar Paris eingenommen wird, endet Napoleons Herr-

97 Jenkins 1990: 33–42; Hartmann 2003a: 53–56. 98 Jenkins 1990: 37–41.

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schaft mit seiner Verbannung ins Exil. Ludwig XVIII. kehrt aus England mit relativ liberalen und modernen Auffassungen nach Frankreich zurück und übernimmt die Macht. Die von ihm oktroyierte Verfassung und die Charte von 1814 spiegeln zum Teil die Tradition des Ancien Régime, zum Teil auch die der vorherigen Verfassungen wider.99 Nach dem Attentat auf den Hoffnungsträger der Monarchie, den Herzog von Berry, am 13. Februar 1820, endet allerdings die relativ liberale Politik Ludwigs XVIII.100 Nach dessen Tod im September 1824 übernimmt sein jüngerer, politisch reaktionär eingestellte Bruder, Karl X., die Macht. Korrespondierend zu der Rückkehr zu alten politischen Ordnungsvorstellungen nimmt die Popularität nationaler Ideen erneut ab. Sowohl die Machthaber als auch die Mehrheit der Bevölkerung scheinen das Interesse an der Nation zu verlieren. Die Restaurationsmonarchie, die die große Mehrheit der Bevölkerung von der politischen Mitbestimmung ausschließt, an vorrevolutionäre Werte anknüpft, Sympathie für das Ancien Régime hat und außerdem militärisch gegen die spanische Opposition vorgeht, hat aus ihrem Politik- und Herrschaftsverständnis heraus an einem Vorantreiben des nationalpolitischen Diskurses weder im revolutionären noch im napoleonischen Sinne irgendein Interesse.101 In der Charte von 1814 kommt das Wort »Nation« ganz bewusst nicht vor.102 Auch von Seiten der potentiellen bürgerlichen Opposition scheint es insgesamt kaum Interesse an der Förderung und Verbreitung des Nationalismus zu geben. Zwar verwenden insbesondere die Liberalen während der Restaurationszeit nationalistische Propaganda gegen die adelige Klasse, um damit einer Rückkehr feudaler Macht- und Wirtschaftsverhältnisse vorzubeugen.103 An einer Nationssemantik im Sinne politischer Gleichberechtigung, demokratischer Mitbestimmung und nationaler Einheit hat jedoch auch das Bürgertum wenig Interesse, da es von der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung erheblich profitiert.104 Man kann daher nur resümierend feststellen, »that the word nation and all its associations were almost totally absent from political discourse under the Restoration«.105

99

Hartmann 2003b: 88–98.

100 Frederking 2002. 101 Jenkins 1990: 47. 102 Caron 1995: 50. 103 Haupt 1974: insb. 294. 104 Jenkins 1990: 43–48. 105 Jenkins 1990: 53.

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Da weder Adel noch Bürgertum nationale Ideen vertreten, ändert sich an der weitgehenden Abwesenheit nationaler Semantik selbst dann kaum etwas, als die Pressefreiheit aufgehoben und die Deputiertenkammer aufgelöst wird sowie 1830 in Paris eine Revolution ausbricht, die das Bürgertum an die Macht bringt. Der neue Machthaber, die großbürgerliche parti orléaniste, errichtet ohne größere Verfassungsänderungen die Julimonarchie unter dem Herzog Ludwig Philipp von Orléans, die sich in einem günstigen Wirtschaftsklima bis 1848 halten kann.106 Zwischen 1830 und 1848 kommt es zu einer nennenswerten Verwendung nationaler Semantik lediglich wegen außenpolitischer Konflikte wie etwa der Rheinkrise 1840. Diese kurzatmigen nationalistischen Bewegungen führen zudem eher zu einer Heroisierung militärischer Erfolge als zu einer Selbstbeschreibung im Sinne einer einheitlichen politischen Gemeinschaft. Wie sehr man zu einer solchen nationalen Semantik auf Distanz geht, zeigt der große Erfolg eines Lustspiels über den Revolutionssoldaten Nicolas Chauvin von 1831, bei dem es im Wesentlichen um die Verspottung der Revolution und ihrer Werte geht.107 Während die Idee der nationalen Einheit und Besonderheit Frankreichs aus der politischen Öffentlichkeit mehr oder weniger verbannt ist, entwickelt sich allerdings in der französischen Geschichtswissenschaft ein neuer Nationsdiskurs, der die nationale Einheit Frankreichs anhand ethnischer Kategorien beschreibt.108 1834 behauptet Augustin Thierry in seiner Kritik der Klimatheorie von Abbé Dubos, dass die physische und moralische Konstitution eines Volkes nicht von klimatischen Bedingungen, sondern von ihrer Rassenzugehörigkeit abhinge.109 In Anbetracht der sozialen Antagonismen und der geringen nationalen Identifikation in Frankreich fordert Thierry eine Besinnung auf nationale Gemeinsamkeiten. Gerade die Geschichtsschreibung solle die nationalen Gemeinsamkeiten durch eine entsprechende historische Perspektive herausstellen.110 Diese Forderung aufnehmend legt der Historiker Jules Michelet zwischen 1837 und 1854 die neunzehn Bände umfassende Schrift Histoire de la France vor, die die nationale Geschichte Frankreichs von den Ursprüngen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts behandelt.111 Michelet legt damit zugleich die erste Theorie der nationalen Einheit und Identität Frankreichs vor: Die französische Nation habe sich durch einen

106 Hartmann 2003a: 56–63; Jenkins 1990: 43–59; Schmale 2000: 195–201. 107 Jansen/Borgräfe 2007: 131. 108 Noiriel 1992: 13f.; Fritz 1988: 137–161. 109 Vgl. das Zitat bei Noiriel 1992: 14. 110 Noiriel 1992: 8–15. 111 Caron 1995: 54f.

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spezifischen Interaktionsprozess zwischen Paris und der Provinz sukzessive herausgebildet. Frankreich gleiche damit einer Person mit Paris als Kopf und zeichne sich dadurch gegenüber anderen Nationen aus: »L’Angleterre est un empire, l’Allemagne un pays, une race; la France est une personne«.112 Als aufgrund der schweren Wirtschaftskrise 1847/48, des sich plötzlich ausbreitenden Elends und der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Ausschluss großer Massen der Franzosen vom Wahlrecht abermals eine Revolution ausbricht, beruft man sich bei den Forderungen gegenüber den Machthabern mit mehr Nachdruck auf die Nation. Der Nationsdiskurs hebt nun wieder stärker auf den Einheits- und Gleichheitsgedanken ab, den französische Historiker wie Thierry oder Michelet vor Augen gehabt haben.113 Das Ergebnis ist die Ausrufung der Zweiten Republik und die Demokratie. Allerdings währt die neue Staatsform nicht lange. Nach einem genau ausgeklügelten Staatsstreich in der Nacht vom 1. zum 2. Dezember 1851 stellt der gewählte Präsident Louis-Napoleon Bonaparte 1851 wieder ein autoritäres Regime auf. Die am 14. Januar 1852 verkündete neue Verfassung ahmt ganz bewusst die Verfassung von 1799 nach, jedoch fehlt diesmal das parlamentarische Gegengewicht völlig. Durch eine Verfassungsänderung vom 7. November 1852 wird Louis-Napoléon Kaiser der Franzosen unter dem Namen Napoleon III. Die Plebiszite, mit denen Napoleon die Änderungen der Verfassung legitimieren lässt, zeigen jeweils große Unterstützung in der Bevölkerung.114 In der Folgezeit haben nationale Semantiken im politischen Diskurs Frankreichs kaum eine Bedeutung. Wenn sie überhaupt vorkommen, werden sie durch Napoleon III. selbst sparsam und kontrolliert verwendet. So lässt er etwa in Alesia nach den Überresten der legendären Schlacht der Gallier unter Vercingetorix gegen Cäsars Legionen graben und 1864 ein Denkmal aufstellen.115 Darauf ist zu lesen: »La Gaule unie, formant une seule nation, animée d’un même esprit, peut défier l’univers«.116 Was die Nationssemantik in der politischen Opposition anbetrifft, so gelingt es Napoleon III. wie schon seinem Onkel, Napoleon I., sie durch eine innere Befriedung und seine Popularität in der Bevölkerung zu entkräften.117

112 Zit. n. Noiriel 1992: 16. 113 Jenkins 1990: 53. 114 Hartmann 2003a: 65–68; Schmale 2000: 207–210. 115 Jansen/Borgräfe 2007: 133. 116 Zit. n. Schulze 1995: 109. 117 Noiriel 1992: 97; Jenkins 1990: 66–74.

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Daran wird erneut deutlich, dass der Nationsbegriff in Frankreich bis dato vor allem als politischer Oppositionsbegriff verwendet wird. Dass nationale Semantik als Identifikation einer nationalen, nach innen homogenen und nach außen geschlossenen Gemeinschaft immer noch wenig Plausibilität hat, zeigt ein Blick auf die Situation der französischen Sprache und Verwaltung. Nach offiziellen Angaben des zuständigen Ministeriums wird im Jahr 1863 in 8 381 von 37 510 Kommunen, d. h. von über einem Viertel der französischen Bevölkerung, noch immer kein Französisch gesprochen. Dabei ist davon auszugehen, dass das Ministerium im Bericht den Erfolg seiner Anstrengungen unterstreichen möchte und deshalb die Situation verschönt darstellt.118 Und auch über die Verwaltung lässt sich Frankreich kaum als eine politische Einheit erfahren. Viele der lokalen Beamten sind nur unzureichend einer zentralen Kontrolle ausgesetzt und üben daher ihr Amt nach lokalen Gepflogenheiten aus. Dies gilt vor allem für die Lehrer, die für die Nationalisierung der Bevölkerung potentiell eine zentrale Rolle einnehmen könnten, tatsächlich aber ihren Unterricht stark an der Region und der regionalen Kultur ausrichten.119 Nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 gerät Napoleon III. in Gefangenschaft und eine provisorische Regierung muss am 28. Januar 1871 den Waffenstillstand aushandeln. Die folgenden Wahlen erheben zunächst den liberalen Politiker Adolphe Thiers in das Amt des Regierungschefs. Die drei Grundgesetze von 1875 legen die Republik mit einer starken Stellung des Präsidenten als Staatsform fest, sie lassen jedoch die Möglichkeit konstitutioneller Revisionen offen. Erst die Wahl des überzeugten Republikaners Jules Grévy zum Präsidenten führt im Jahr 1879 zu der entscheidenden Verfassungsänderung, die die Möglichkeit der Wahl von Mitgliedern ehemals regierender Familien ausdrücklich ausschließt und die Republik dauerhaft festigt.120 Die Zeit der Dritten Republik ist die Epoche, in der sich die Nation als massenwirksames Konzept kollektiver Selbstbeschreibung durchsetzt. Eine der Voraussetzungen dafür ist der bereits während der Zeit der Zweiten Republik einsetzende Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur. Um sich die Unterstützung der Bauern als größter Wählergruppe zu sichern, kommt die Dritte Republik den Forderungen der Kommunen nach einem Anschluss an das Verkehrs- und Postnetz nach und macht deren Ausbau zu einem ihrer wichtigsten Ziele. Durch die Fortentwicklung des Postwesens121 klettert der durchschnittliche

118 Weber 1976: 67. 119 Weber 1976: 316. 120 Hartmann 2003a: 69–79. 121 Noiriel 1992: 97f.

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Briefverkehr von 3 Briefen pro Jahr und Einwohner im Jahr 1843 auf 14 Briefe im Jahr 1880 und 40 im Jahr 1914.122 Die Straßen werden in einen brauchbaren Zustand gebracht. Das Eisenbahnnetz weitet sich von 3 000km im Jahr 1850 auf 17 500km im Jahr 1870 aus123 und zwischen 1875 und 1913 entstehen noch einmal weitere 32 000km.124 Die Anbindung des ländlichen Frankreichs an die wichtigen Kommunikationswege hat bedeutende Auswirkungen auf die Nationalisierung des Handels. Zunehmend wird die Provinz mit standardisiert hergestellten Massenprodukten versorgt, durch die das Leben auf dem Land modernisiert wird und alte, lokale Gebräuche überlagert werden.125 In gleicher Weise beginnt der franc als einheitliche Nationalwährung konkurrierende Währungen wie den échus und den sol zu verdrängen, die bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in den bis dahin autonomen Wirtschaftskreisläufen der Gemeinden in Gebrauch geblieben sind. Mit der Währungseinheit entsteht auch das Bankgewerbe: Während 1875 etwa 5,3 Prozent der Bevölkerung über ein Konto verfügen, sind es 1880 schon 10,6 und 1900 bereits 18,5 Prozent. Über die Entstehung eines einheitlichen Wirtschaftsund Finanzsystems und dem damit verbundenen Beginn einer effektiven Geld-, Fiskal- und Budgetpolitik erfährt jeder Franzose, der sein Einkommen in Franc erhält, in gleicher Weise seine Abhängigkeit von Entscheidungen der Regierung. Mit diesen Veränderungen einher geht daher die Nationalisierung der Landbevölkerung, die sich nun stärker als zuvor in die nationale Gemeinschaft integriert sieht.126 Der Ausbau des Verkehrsnetzes und die Nationalisierung des Handels ermöglichen auch eine beschleunigte Ausbreitung der Schrift. Zunächst verbreitet sich die littérature de colportage, von Hausierern verkaufte Flugblätter, die über verschiedene, außergewöhnliche Ereignisse berichten. Später entsteht ein nationales Zeitungswesen, das sich bis in alle französischen Kommunen hinein ausbreitet. Im Jahr 1863 wird mit Le Petit Journal die erste französische Tageszeitung gegründet. Ihre Auflage steigert sich von 250 000 Exemplaren im Jahr 1865 auf 1 Million im Jahr 1880. Insgesamt multipliziert sich die Zahl der Auflagen aller Zeitungen zwischen 1880 und 1914 um den Faktor 2,5 in Paris und um den Faktor 4 in der Provinz bei gleichzeitiger Diversifikation des Zeitungsangebots. Es erscheinen neue politische Zeitungen wie La Croix 1883 oder L’humanité

122 Noiriel 1992: 106. 123 Weber 1976: 196–220; Noiriel 1992: 98ff. 124 Noiriel 1992: 100f. 125 Weber 1976: 104f. 126 Weber 1976 u. Agulhon 1980.

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1904 sowie Auto- und Sportzeitschriften. Eine ähnliche Expansion erfährt auch der Büchermarkt, der durch die Publikation von Romanen in den Feuilletons der Zeitungen angeregt wird.127 Diese Ausbreitung der französischen Schriftsprache wäre natürlich nicht möglich gewesen ohne ein entsprechendes Schulwesen. Durch die Einführung der Schulpflicht und die Aufhebung der Schulgebühren durch Jules Ferry 1881/82 geht nicht nur der Anteil der Analphabeten beträchtlich zurück, auch trägt der französischsprachige Unterricht maßgeblich zur Vereinheitlichung der Sprache bei. Außerdem vermittelt der universelle Zugang zur Bildung den Eindruck der Möglichkeit von sozialer Mobilität zwischen den Schichten und dämpft damit die Klassengegensätze.128 Durch die Schule werden republikanische Werte an die jüngeren Generationen weitergegeben und nun auch gezielt die Bildung nationalen Bewusstseins vorangetrieben.129 Dazu bedient man sich patriotischer Schullieder, z. B.: »Pour la Patrie un enfant doit s’instruire/Et dans l’École, apprendre à travailler./L’heure a sonné, marchons au pas,/Jeunes enfants, soyons soldats«.130 Auch die Schulbücher schüren das nationale Bewusstsein, wie das berühmt gewordene Schulbuch Histoire de la France von Ernest Lavisse, das die Vorstellung einer seit der Zeit der Gallier bestehenden französischen Rasse vermittelt.131 Auch Brunos 1877 erschienenes Schulbuch Le Tour de la France par deux enfants: devoirs et patrie, das in dreißig Jahren zwanzig Neuauflagen erreicht, vermittelt die Vorstellung der nationalen Einheit. Das Buch erzählt die Geschichte von zwei aus dem im Deutsch-Französischen Krieg annektierten Phalsburg geflohenen Kindern, die sich auf Entdeckungsreise durch ganz Frankreich begeben und dabei dessen einzigartige Vorzüge kennen lernen.132 Die Nation wird hier vor allem in Abgrenzung zum deutschen Feind konstruiert, indem man immer wieder den Verlust Elsass-Lothringens thematisiert. Diese Methode der Vergewisserung der Nation durch die Thematisierung der verlorenen Provinzen findet man nicht nur in Schulbüchern. Durch ein Manual général werden Volksschullehrer dazu aufgefordert, in jeder Klasse eine mit Trauerfahne geschmückte Landkarte Elsass-Lothringens aufzuhängen. 133 Aber auch über den Schulunterricht hinaus wird die Erinnerung an die »provinces per-

127 Weber 1976: 105f. 128 Verrière 2000: 258ff. 129 Ausführlich Citron 1989: 15–40. 130 Zit. n. Lestocquoy 1968: 152. 131 Jenkins 1990: 83; Noiriel 1992: 26f. 132 Schulze 1995: 244f.; Giradet 1966: 73f. 133 Vgl. zum Manual général von Buisson Schulze 1995: 245.

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dues« im öffentlichen Leben wachgehalten. In Paris erinnert am Place de la Concorde die in einen Trauerschleier verhüllte Statue de Strasbourg an die verlorenen Provinzen ebenso wie das in der zeitgenössischen Presse in diesem Zusammenhang viel diskutierte Porträt einer jungen Elsässerin auf Jean-Jaques Henners Ölgemälde »L’Alsace«.134 Im Zusammenhang mit dem Erinnerungskult an Elsass-Lothringen entsteht und verstärkt sich in Frankreich eine zweite, radikalere Form des Nationalismus. Bislang steht der Nationalismus in Frankreich vor allem in der republikanischen Tradition der Französischen Revolution und steht für politische Gleichberechtigung. Diesem republikanischen »nationalisme ouvert« stellt sich nach und nach ein konservativer, radikaler und vor allem ausschließender »nationalisme fermé« gegenüber. 135 Die zunehmende Verbreitung auch rassistischer Nationssemantiken manifestiert sich unter anderem in der Gründung entsprechender politischer Organisationen.136 Paul Déroulède, ursprünglich ein überzeugter Republikaner, gründet 1882 mit der Ligue des patriotes eine erste national-populistische Organisation, deren Programmatik vom Revanchegedanken gegen Deutschland und der Regeneration einer französischen Rasse geprägt ist. Die Vereinigung inszeniert immer wieder große Nationalfeste, wo Symbole Frankreichs wie bspw. die Jungfrau von Orléans verherrlicht werden. Ab 1885 verfolgt die Ligue des patriotes zunehmend eine antiparlamentarische Politik mit dem Ziel des Umsturzes der Republik, da diese als unfähig erachtet wird, die ersehnte Revanche gegen Deutschland durchzuführen.137 Dieser revanchistische Nationalismus gewinnt mit der Gründung des Bismarck’schen Dreierbundes gegen Frankreich und schließlich durch die Schnäbel-Affäre, einem Spionagefall in den Vogesen, deutlich an Zugkraft. Als der General und Kriegsminister Georges Boulanger anlässlich dieser Affäre die Mobilmachung der Armee fordert, wird er schnell ungeheuer populär. Seine »Partei der Unzufriedenen« verzeichnet beträchtliche Wahlerfolge und seine wachsende Anhängerschaft weitet sich zwischen 1887 und 1889 zu einer umfangreichen Bewegung aus, die über den Revanchegedanken Nationalisten aus allen politischen Sparten integriert. Zwar findet Boulanger im Kabinett keinen Rückhalt und verliert sein Amt, jedoch hinterlässt die Boulanger-Bewegung eine nationa-

134 Vgl. zum Mythos der »provinces perdues« in Frankreich Schroda 2002. 135 Winock 1982: 11–40. 136 Ausführlich

zur

Rassensemantik

im

politischen

Diskurs

in

Frankreich

Guiral/Temime (Hrsg.) 1977. 137 Zur Ligue des patriotes vgl. Caron 1995: 83; Jenkins 1990: 91; Schulze 1995: 247; Winock 1982: 16.

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listische Rechte in Frankreich, die in der neuen parti nationaliste ein Sammelbecken findet und fortan als Ausgangspunkt für radikale nationale Semantiken dient.138 Die Jahre von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg sind weiterhin von einer stark nationalistischen Stimmung in Frankreich geprägt.139 Einer der herausragenden Vertreter des französischen Nationalismus nach 1889 ist Maurice Barrès, Schriftsteller und Herausgeber der boulangistischen Zeitschrift La Cocarde, der – zunächst linkspolitischen Zielen verhaftet – zur Jahrhundertwende einen immer radikaleren Nationalismus verfechtet. 140 In seiner Trilogie Le roman de l’énergie nationale (1897–1903) oder in seinem Essay Scènes et doctrines du nationalisme (1902) polemisiert Barrès gegen den Individualismus, den »Culte du Moi«, in dem er die Hauptursache für die von ihm diagnostizierte Zersetzung der französischen Zivilisation zu finden glaubt. Höher als das Individuum stehe ihm zufolge die Nation als höchster, absoluter Wert.141 Neben Barrès ist der Schriftsteller Charles Maurras mit Schriften wie Colette Baudoche oder Les Déracinés eine weitere wichtige Figur des französischen Nationalismus der Zeit. Maurras lässt keinen Zweifel an seinen nationalistischen Vorstellungen: »Il y a une France. Il y a un ensemble de dialectes français. Il y a une histoire, une civilisation, une âme de la France. Tout ce qui séparait cette magnifique unité serait absurde et criminel. […] les différences sont ici d’un ordre homogène«.142

Mit der Gründung der Action française 1898, eines Clubs nationalistischer Schriftsteller, beginnt Maurras seine politischen Aktivitäten. 1908 lanciert er die gleichnamige Zeitschrift, die von in Hemden und Stiefeln gekleideten Straßenkämpfern, den Camelots du roi, verkauft wird und in der Öffentlichkeit eine beträchtliche Wirkung erzielt.143 Die Propaganda der Action française trägt ihren Anteil an der Verschärfung eines um die Jahrhundertwende zunehmend antisemitisch gefärbten Nationalis-

138 Vgl. zum Boulangismus Hartmann 2003a: 80; Jenkins 1990: 93ff.; Schmale, 2000: 235f.; Schulze 1995: 247; Winock 1982: 17f. 139 Weber 1968. 140 Bendrath 2002; Sternhell 1972. 141 Bielefeld 2003: 157–186; Schulze 1995: 251. Ausführlich zum Faschismus bei Maurice Barrès vgl. Soucy 1972. 142 Zit. n. Caron, 1995: 85. 143 Caron 1995: 85; Schulze 1995: 250f.; Winock 1982: 20.

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mus. Dieser kontrastiert das Judentum mit der Nation und bringt es mit nationalen Feinbildern, vor allem Deutschland, in Verbindung. 144 Die zweibändige Schrift La France juive von Édouard Drumont, in der den Juden die Schuld für den Niedergang Frankreichs zugewiesen wird, ist symptomatisch für diese Form des Antisemitismus und findet nach ihrem Erscheinen im Jahr 1886 auf Anhieb reißenden Absatz. Drumonts Gründung der Ligue nationale antisémitique française und die Verbreitung antisemitischer Zeitschriften wie La Libre Parole, La Croix oder L’Anti-Juif, die teilweise Auflagen von bis zu 200 000 Exemplaren erreichen, zeigen neben der Verbreitung einschlägiger Literatur145 den wachsenden Stellenwert des Antisemitismus in Frankreich. Die antisemitischen Agitationen münden schließlich in der Dreyfus-Affäre, als der unschuldige jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus der Spionage für Deutschland bezichtigt wird und sein Schuldspruch vor dem Militärgericht eine überaus heftige öffentliche Debatte auslöst. 146 Die Dreyfus-Affäre spaltet die französische Nation in das Lager der konservativ-royalistischen Gegner von Dreyfus und seiner republikanischen Unterstützer, der dreyfusards, die je für sich beanspruchen, die Nation als Ganzes zu vertreten. Die Dreyfus-Affäre stellt mit den beiden Lagern in aller Deutlichkeit die beiden Nationalismen – einen linken, demokratischen, antiklerikalen, auf den Ideen von 1789 beruhenden Nationalismus auf der einen und einen rechten, antisemitischen, antiparlamentarischen und rassistischen Nationalismus auf der anderen Seite – gegenüber.147 Der theatralische Besuch Kaiser Wilhelms in Tanger im Jahr 1905, wo er in einem Affront die französisch-britische Übereinkunft über Marokko in Frage stellt, leitet jedoch eine neue Phase der nationalen Integration in Frankreich ein, die in der so genannten »Union sacrée« vor dem Ersten Weltkrieg mündet.148 In der »Union sacrée« verbinden die beiden bisher sich antagonistisch gegenüberstehenden Nationalismen in einer einheitlichen Semantik der Nation.149 Ähnlich wie beim so genannten »Burgfrieden« in Deutschland beschwört man nun auch in Frankreich mit der »Union sacrée« uneingeschränkt die nationale Einheit. Während der deutsche Kaiser in seinem Volk »keine Parteien«150 mehr kennt,

144 Zur Verbindung des französischen Antisemitismus mit nationalen Feinbildern vgl. Allal 2002. 145 Allal 2002: 88f. 146 Caron 1995: 86; Schulze 1995: 248f.; Liauzu 1999: 71–98. 147 Jansen/Borggräfe 2007: 141. 148 Vgl. zum Coup de Tanger Lestocquoy 1968: 175–189. 149 Winock 1982: 23–28; Agulhon 1980: 246f. 150 Zit. n. Dann 1996: 220.

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greift der Sozialist Jean Jaurès in Frankreich Marx’ These von der Vaterlandslosigkeit der Arbeiter an und schließt sich sogar einem ethnischen Nationsverständnis an: »La patrie n’a pas pour fondement des catégories économiques exclusives, elle n’est pas enfermée dans le cadre étroit d’une propriété de classe. Elle a bien plus de profondeur organique et bien plus de hauteur idéale. Elle tient par ses racines au fond même de la vie humaine et, si l’on peut dire, à la physiologie de l’homme.«151

Die »Union sacrée« markiert den Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte des französischen Nationalismus. Eine stärkere Verankerung der nationalen Selbstbeschreibung hat es in der französischen Öffentlichkeit weder vorher noch nachher gegeben. 152 Bereits unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs und der Rückeroberung von Elsass-Lothringen verzeichnet der politische Diskurs in Frankreich eine deutliche Abkehr von der radikalen Nationssemantik.153 Es lässt sich sogar die Verdrängung des französischen Nationalismus durch eine neue pazifistische Euphorie diagnostizieren, die infolge der enormen Kriegsverluste und der rückkehrenden, traumatisierten Soldaten entsteht. 154 Ausdruck dieses neuen Pazifismus ist z. B. der enorme Erfolg des Romans Voyage au bout de la nuit aus der Feder des Soldaten Louis-Ferdinand Destouches, der darin seinen Gesinnungswandel vom Nationalismus vor dem Krieg zum Pazifismus nach dem Krieg dokumentiert. 155 Die nationalistische Rhetorik wird verdrängt von verschiedenen Friedensbewegungen. Die wichtigste ist der so genannte »Wilsonisme«, der für eine internationale Friedensdiplomatie, für eine Société des nations und teilweise bereits für die Herstellung einer europäischen, politischen Einheit eintritt. 156 Der Pazifismus erstreckt sich dabei auf alle politischen Lager. Selbst Léon Daudet von der Action française reiht sich in die Reihe der Friedensbefürworter ein.157 Allerdings werden nationalistische Ideen im Laufe der 1920er Jahre durch den sich herausbildenden französischen Faschismus erneut aufgegriffen und ra-

151 Zit. n. Winock 1982: 28. 152 Agulhon 1980: 247. 153 Winock 1982: 28–32. 154 Agulhon 1980: 257–260. 155 Winock 1982: 30. 156 Agulhon 1980: 258. 157 Winock 1982: 30.

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dikalisiert.158 Der französische Faschismus knüpft an die Tradition des Bonapartimus an, der während des gesamten 19. Jahrhunderts als gesellschaftliche Strömung erhalten bleibt und 1899 zur Gründung der Action française führt.159 1925 kommt es in Frankreich mit der Faisceau zur Gründung einer ersten faschistischen Organisation im engeren Sinne. In den 1930er Jahren folgen Gruppierungen wie Solidarité française und Francisme (1933), Parti populaire français, das Comité secret d’action révolutionnaire sowie Croix-de-feu (1936). 160 Gemeinsam ist allen Bewegungen ein radikaler Nationalismus, der seinem Anspruch nach den sozialistischen und konservativen Nationalismus zusammenführt und sein Selbstverständnis vor allem über den Ausschluss der Juden aus der Nation gewinnt. Natürlich geht es auch um die Stärkung des Staats sowie gegen die Demokratie und den Kommunismus.161 Zwar ist mit dem französischen Faschismus eine neue Radikalität des Nationalismus erreicht, jedoch bleibt die Ausbreitung dieser Ideologie zu einer Massenbewegung aufgrund einer Reihe von Faktoren aus. Zunächst haben die Reparationen aus Deutschland geholfen, die Folgen der Wirtschaftskrise abzumildern. Die französischen Katholiken bleiben den faschistischen Bewegungen gegenüber auf Distanz, nachdem die Action française die Unabhängigkeit der französischen Kirche von Rom fordert. Entscheidend für die relative Erfolglosigkeit des französischen Faschismus dürfte jedoch die Tatsache gewesen sein, dass der »Erbfeind« Deutschland nicht nur besiegt, sondern auf lange Zeit auch geschwächt worden ist und eine Agitation unter Verweis auf eine externe Bedrohung dadurch wenig Plausibilität hat. Hinzu kommt, dass die französischen Faschisten mit dem Nationalsozialismus in Deutschland sympathisieren, was ihnen die Ablehnung der französischen Nationalisten als ihrer potentiell wichtigsten Klientel einbringt.162 Die Zeit des Vichy-Regimes zwischen 1940 und 1944 hat den Nationalismus in Frankreich erneut stark verändert. Das Verhältnis der Bevölkerung zum Vichy-Regime nach der Einnahme Frankreichs durch deutsche Truppen 1940 ist belastet. Die Versuche, Pétain als Führer eines nationalen Frankreichs zu präsentieren, scheitern an der Kollaboration des Regimes mit Hitlerdeutschland und der aktiven Bekämpfung der zur Massenbewegung anwachsenden französischen Résistance. Diese besteht aus zersplitterten Gruppen, die zwar den Nationalismus

158 Breuer 2005: 61–95. 159 Wippermann 1983: 124ff. 160 Winock 1982: 248–271. Ausführlicherer: Burrin 2000 u. Soucy 1995. 161 Winock 1982: 262. 162 Wippermann 1983: 124–133.

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als gemeinsame Klammer haben, von denen keine jedoch den Anspruch und die Möglichkeit hat, Frankreich als Ganzes zu vertreten. Die Bevölkerung fühlt sich entsprechend immer mehr durch die Regierung von General de Gaulle vertreten, der es aus dem Londoner Exil gelingt, die Resistance hinter sich zu versammeln.163 Mit der Rückkehr de Gaulles nach Frankreich und dem Aufbau der Vierten Republik164 entsteht noch einmal ein vor allem durch die Person de Gaulles als französischer Nationalheld verkörperter Nationalismus in Frankreich. Dieser Nationalismus drückt sich jedoch eher über die Zustimmung der Bevölkerung zu politischen Maßnahmen als über einen politischen Diskurs nationaler Abgrenzung in der Öffentlichkeit aus. Die Maßnahmen de Gaulles stehen im Kontext einer Politik zur Wiedererlangung der nationalen Souveränität und Unabhängigkeit Frankreichs von den in der Nachkriegszeit neu entstehenden weltpolitischen Blöcken. Zu dieser Wiederherstellung Frankreichs als »Grande Nation« gehören Maßnahmen wie die Aufrüstung Frankreichs mit Nuklearwaffen, die Ablehnung des Atomwaffentestvertrags von 1963, die Unabhängigkeit des französischen Militärs von der Nato und schließlich die Veranlassung des US-amerikanischen Truppenabzugs aus Frankreich sowie die lautstarke Kritik an den USA in Bezug auf den Vietnamkrieg.165 Zusammenfassend charakterisiert Jean Touchard in seinem Buch über den Gaullismus diesen französischen Nationalismus der unmittelbaren Nachkriegszeit als »un nationalisme syncrétique, un nationalisme d’amalgame qui incorpre dans une même synthèse tous les âges et toutes les formes du nationalisme français«. 166 Man muss allerdings hinzufügen, dass de Gaulles Nationalismus gegenüber dem konservativen und rechtspopulistischen Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg deutlich entradikalisiert erscheint, vor allem weil er nicht auf ethnischen Vorstellungen einer französischen Rasse basiert und der Antisemitismus keine Rolle mehr spielt.167 Hinzu kommt, dass während der Ära de Gaulles der Nationalismus und die Vorstellungen der Unabhängigkeit und uneingeschränkten Souveränität Frankreichs im Zuge der zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Einbindung des Landes in das transatlantische Bündnis und die Europäische Union immer mehr an Plausibilität einbüßen.168 Die Abhängigkeit

163 Wippermann 1983: 132f. 164 Hartmann 2003a: 93–102. 165 Jenkins 1990: 176f. 166 Touchard 1978: 299. 167 Winock 1982: 33. 168 Jenkins 1990: 178.

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Frankreichs von den Verbündeten wird deutlich vor allem im Zuge der Entkolonialisierungskriege in Indochina und in Algerien, mit denen das französische Militär ohne die Hilfe der USA überfordert ist.169 Die öffentliche Meinung ist zudem in Bezug auf die Kriege äußerst gespalten. In der Folge gehen die jüngeren Generationen zum Nationalismus immer mehr auf Distanz und auch spätere Regierungen knüpfen nicht mehr an den nationalen Diskurs von de Gaulle an.170 In der Gesamtschau beurteilt Jenkins den französischen Nationalismus der unmittelbaren Nachkriegszeit daher als oberflächlich, kurzatmig, relativ substanzlos und inkohärent.171 Im weiteren Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint dem Nationalismus in Frankreich immer mehr seine Basis abhanden zu kommen. Für die 68er-Generation hat der universelle und humanitäre Anspruch des französischen Nationalismus durch die Kriege in den ehemaligen Kolonien zwischen 1947 und 1962 endgültig seine Glaubwürdigkeit verloren. Auch der Katholizismus entzieht dem französischen Nationalismus spätestens seit der Verurteilung der Action française immer mehr die Unterstützung. Der Nationalismus wird außerdem konterkariert durch die aufkommenden Separationsbewegungen in der Bretagne, auf Korsika und im Baskenland auf der einen172 und der Entstehung und Verstärkung eines europäischen Selbstverständnisses insbesondere seit den 1960er Jahren auf der anderen Seite.173 Für Maurice Agulhon befindet sich Frankreich daher in einer »Krise des Patriotismus«,174 da dieser auf das Niveau von 1815 zurückgefallen sei.175 Natürlich verliert die Nation als Muster kollektiver Identität in Frankreich nicht vollends ihre Bedeutung. Immerhin behalten laut einer Umfrage aus dem Jahre 1983 nationale Symbole Frankreichs wie die Marseillaise, der 14. Juli oder die Tricolore für ca. 70 Prozent der Franzosen ihren Wert bei.176 Aber damit sind vor allem republikanische Werte gemeint und weniger Vorstellungen einer geschlossenen ethnischen Gemeinschaft. Das bedeutet allerdings nicht, dass der ethnische und rechtsradikale Nationalismus damit vollständig und nachhaltig von der Bildfläche verschwunden wäre. Rechtsradikale Bewegungen haben auch

169 Jenkins 1990: 163. 170 Winock 1982: 35. 171 Jenkins 1990: 165. 172 Agulhon 1980: 260–266. 173 Kaelble 2001: insb. 218–257; Girault (Hrsg.) 1994: 181–192. 174 Agulhon 1995: 60–63. 175 Agulhon 1980: 260. 176 Winock 1982: 35.

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nach 1944 in Frankreich durchweg Bestand gehabt, allerdings ist ihre Rolle bis etwa zur Mitte der 1980er Jahre marginal.177 1984 steigt die Bedeutung rechtsradikaler Parteien wie die Front National allerdings sprunghaft an, als ihr Stimmenanteil von 0,4 Prozent bei den Parlamentswahlen 1981 auf 11 Prozent bei der Europawahl im gleichen Jahr zunimmt. Bei den nachfolgenden Parlamentsund Präsidentenwahlen können die rechtsradikalen Parteien ihre Stellung stetig ausbauen und erreichen im Jahr 1997 einen Stimmenanteil von 15 Prozent.178 Da die Front National als Sammelbecken von Nationalisten verschiedenster Couleur dient, deuten die Wahlergebnisse auch auf einen neuen Bedeutungsgewinn nationaler Semantik in Frankreich hin. 179 Dennoch muss man diese Strömung in Frankreich vor dem Hintergrund des allgemeinen Trends eher als eine Anomalie bezeichnen.180 Im Mainstream des politischen Diskurses im Frankreich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der »nationalisme fermé« seine politische Salonfähigkeit und Seriosität verloren.181

8.3 Z USAMMENFASSUNG In Deutschland beginnt sich eine nationale Semantik zu Anfang des 19. Jahrhunderts erstmalig in Teilen der nationalen Öffentlichkeit auszubreiten. Gepflegt wird sie vor allem von der oppositionellen Nationalbewegung, die sich gegen Napoleons Frankreich und später gegen den die nationale Einheit verhindernden Deutschen Bund richtet. Zunächst kann die Bewegung von den Autoritäten kontrolliert werden und bleibt relativ wirkungslos. Im Zuge von Alphabetisierung und zunehmender Migration wird die Nationssemantik jedoch nach und nach vor allem in Verbindung krisenhafter Ereignisse immer populärer, begleitet die Revolution von 1848 und etabliert sich mehr und mehr im Repertoire des öffentlichen Diskurses. Ein Verstärkungsschub erfolgt in Verbindung mit dem DeutschFranzösischen Krieg und der Gründung des Kaiserreichs 1871. Durch die neuen politischen Verhältnisse erhält die Nationssemantik zunehmende Plausibilität, denn auch das Staatswesen, die Bürokratie, das Schulwesen, das Kommunikations- und das Verkehrswesen werden nun immer stärker nationalisiert und national integriert.

177 Duprat 1972. 178 Camus 1998: 212. 179 Camus/Monzat 1992. 180 Jenkins 1990: 182. 181 Winock 1982: 35.

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Zum Ende des 19. Jahrhunderts wird die Nationssemantik dann durch Verwendung rassistischer Konzepte immer weiter radikalisiert und ihre öffentliche Ausbreitung durch verschiedene historische Umstände im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, wie das enorme Ausmaß der Mobilmachung, die Kriegsniederlage sowie Flucht und Vertreibung, begünstigt. Die Nationalsozialisten schließlich nutzen gezielt öffentliche Propaganda, um die Nation in der historisch radikalsten Form auszulegen. Dies geschieht offensichtlich mit breiter Unterstützung in der Öffentlichkeit. Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg, die Teilung Deutschlands, die europäische Integration und die voranschreitende internationale Verflechtung in der Politik führen dazu, dass in der Nachkriegszeit die nationale Semantik und der Nationalismus in Deutschland immer weniger Verwendung finden, ein Trend, der sich auch nach der Wiedervereinigung von 1990 und einer gewissen Zunahme des Zustroms zu rechtsextremistischen Parteien insgesamt nicht umkehrt. Wenn man die Ergebnisse in einer Graphik zusammenfasst, stellt sich die Entwicklung in etwa wie folgt dar: 100

Intensität

80 60 40 20 0 1800

1820

1840

1860

1880

1900

1920

1940

1960

1980

2000

Jahr

Abbildung 15: Nationale Semantik in der politischen Öffentlichkeit Deutschlands In Frankreich setzt der Gebrauch nationaler Semantik in der Öffentlichkeit eruptiv mit der Französischen Revolution ein. Zwar breitet sich die nationale Semantik stark aus, jedoch bezieht sich die Nation als Slogan der Revolution noch eher auf stratifikatorische als auf national-segmentäre Differenzierungen und ist zudem zeitlich auf die Phase der Revolution beschränkt. Angesichts der enormen Heterogenität der sozialen Verhältnisse in Frankreich erscheint die nationale Einheitssemantik wenig plausibel und sie kommt in den folgenden Jahrzehnten nahezu zum Erliegen. Zwar verwendet Napoleon nationale Rhetorik zur Selbstinszenierung und zur Befriedung der vorherrschenden Antagonismen, jedoch scheint sich dies nicht mehr auf die Öffentlichkeit als Ganzes übertragen zu lassen.

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Im weiteren Verlauf werden Beschreibungen der Nation lediglich abseits der politischen Öffentlichkeit, vor allem in der Geschichtswissenschaft, gepflegt und entwickelt. Sieht man von der kurzen Wiederbelebung nationaler Semantik rund um die Revolution von 1847/48 ab, wird die Nation erst nach Gründung der Dritten Republik nachhaltig in den politischen Sprachgebrauch übernommen. Die Beschreibung Frankreichs als Nation wird in der Zeit der Dritten Republik immer plausibler durch den Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur sowie des Postwesens, durch die Vereinheitlichung des Warensortiments, der Währung und der Nationalsprache als auch durch die Erweiterung des Schulwesens und die Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten. Auf dieser Grundlage und durch den Schock der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg entwickelt sich bis zum Ersten Weltkrieg ein immer heftigerer Nationalismus, der schließlich in der so genannten »Union sacrée« mündet. Das Trauma des Ersten Weltkriegs führt jedoch anschließend rasch zu einer Verdrängung des Nationalismus und der Ausbreitung eines neuen Pazifismus in Frankreich. Zwar versucht der französische Faschismus anschließend erneut eine Radikalisierung des Nationalismus, jedoch steht die Mehrheit der Franzosen dem Faschismus und dem Vichy-Regime distanziert gegenüber. In der Nachkriegszeit kann sich im Rahmen des Gaullismus zwar zunächst noch ein gewisser Gebrauch nationaler Semantik in der Öffentlichkeit halten, die Einbindung Frankreichs in die Europäische Union und in das transatlantische Bündnis sowie die 68er-Bewegung tragen jedoch zu einem weiteren Verdrängen nationaler Selbstbeschreibung bei, an dem auch die Erfolge der Front National seit den 1980er Jahren im Grundsatz nichts verändern. Die Entwicklung nationaler Semantik in der politischen Öffentlichkeit Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert stellt sich in graphischer Weise insgesamt in etwa folgendermaßen dar: 100

Intensität

80 60 40 20 0 1800

1820

1840

1860

1880

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1920

1940

1960

1980

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Abbildung 16: Nationale Semantik in der politischen Öffentlichkeit Frankreichs

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Im Ländervergleich zeigen sich einige Unterschiede. Zunächst fällt auf, dass der Gebrauch nationaler Semantiken in Frankreich im Kontext der Französischen Revolution verhältnismäßig früh und heftig hervortritt, während die Entwicklung in Deutschland zaghaft beginnt und dann im Laufe des Jahrhunderts mehr oder weniger stetig an Zugkraft gewinnt. In Frankreich hingegen haben nationale Semantiken lange Zeit im 19. Jahrhundert mit zeitlich begrenzten Ausnahmen kaum eine Bedeutung. Erst spät im Jahrhundert gewinnen sie merklich an Gewicht. Diese Entwicklung im späten 19. Jahrhundert ist in beiden Ländern ähnlich. Nach dem Ersten Weltkrieg gehen die Entwicklungen wieder etwas auseinander, als in Frankreich der Nationalismus an Popularität verliert, in Deutschland hingegen weiter den politischen Diskurs in der Öffentlichkeit bestimmt und sich unter den Nationalsozialisten zu einer rassistischen Ideologie überformt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lässt die Deutungsmacht der Nation in Deutschland rascher nach als in Frankreich. In beiden Ländern verzeichnen rechtsradikale bzw. nationalistische Parteien zum Ende des 20. Jahrhunderts einen gewissen Bedeutungszuwachs, ohne jedoch die grundlegende Tendenz eines abnehmenden Nationalismus im Kontext von Europäisierung und Internationalisierung in Frage zu stellen. Wenn man Struktur und Semantik nationaler Schließung des Politiksystems in Frankreich und Deutschland vergleicht, erkennt man eine erstaunliche Parallelität der Verläufe. In Deutschland folgt die Entwicklung sowohl in struktureller wie in semantischer Hinsicht im 19. Jahrhundert einer relativ stetigen Zunahme nationaler Schließung, die ihren Höhepunkt in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft hat. In der Bundesrepublik erfolgt eine rasche Öffnung, sowohl im Staatsangehörigkeitsrecht wie auch im nationalen Selbstverständnis. Auch in Frankreich fällt eine gewisse Parallelität zwischen Struktur und Semantik auf. Bis zu den Reformen der Dritten Republik korrespondiert das relativ durchlässige Staatsangehörigkeitsrecht in Frankreich mit einer insgesamt schwachen Nationssemantik in der Öffentlichkeit. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gelangt die französische Staatsangehörigkeit erstmalig zu einer gewissen Schließungskraft, die wiederum korrespondiert mit einem spürbaren Bedeutungszuwachs des Nationalismus in der Öffentlichkeit. Beide Entwicklungen erreichen in der Zeit um den Ersten Weltkrieg Höhepunkte, nachdem sowohl der Nationalismus als auch die Staatsangehörigkeitsgesetzgebung einen Radikalisierungsschub erfahren. Nach dem Ersten Weltkrieg kommt es strukturell zu einer Öffnung und semantisch zur Ausbreitung eines neuen Pazifismus. Die Änderungen des VichyRegimes erfolgen aus Anlass von außen und haben in der Semantik keine Ent-

N ATION

UND INTERNATIONALER

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sprechung. In der Nachkriegszeit lässt sich wieder eine Korrespondenz der beiden Ebenen beobachten. Die jüngste Schließungstendenz des französischen Staatsangehörigkeitsrechts erscheint insgesamt zu schwach, um eine Korrespondenz auf der semantischen Ebene zu veranlassen. Immerhin fällt der Aufstieg der Front National auf, die ab den 1980er Jahren neue Semantiken nationaler Schließung in den politischen Diskurs einbringt, die jedoch nur eine geringfügige Veränderung in der Gesamtheit öffentlicher Rhetorik veranlassen kann. Eine weitere Parallele zeigt sich im Vergleich der Entwicklungen nationaler Semantik in Wissenschaft und Politik. In beiden Ländern scheinen die Beschreibungen der politischen Nation und der nationalen Wissenschaft miteinander verflochten zu sein. Die Beschreibungen nationaler Einheit entwickeln sich in Deutschland in beiden untersuchten Bereichen während des 19. Jahrhunderts immer stärker heraus und auch die Radikalisierungen hin zu rassistischen Auslegungen nationaler Einheit entstehen in Wissenschaft und Politik zeitgleich zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg. In Wissenschaft und Politik sind nationale Semantiken nach dem Zweiten Weltkrieg rückläufig, jedoch zeigen sich hier Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungsdisziplinen. Während in der Physik nationale Semantiken rasch verschwinden, korrespondieren die Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft und der politischen Öffentlichkeit stärker miteinander. Hier zeigt sich eine gewisse parallele Entwicklung auch im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts. Vergleichbar damit ist ebenfalls die Entwicklung in Frankreich. Auch hier kommen nationale Deutungsstrukturen in der Politik wie in der Wissenschaft erst zum Ende des 19. Jahrhunderts nachdrücklich zur Geltung und auch hier korrespondieren die ethnischen Radikalisierungen nationaler Einheit zeitlich in beiden Systemen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit scheinen in Frankreich nationale Semantiken im wissenschaftlichen Diskurs schneller zu verschwinden als im politischen, die rückläufige Tendenz ist jedoch beiden Entwicklungen gemeinsam. In der Gesamtschau der Untersuchungen des Verlaufs nationaler Semantik im Politiksystem zeigt sich über alle Schwankungen in den Nuancen hinweg und wie bei den übrigen Analysen auch ein Muster, das sich zur Erfüllung der im Rahmen des hier vorgeschlagenen Modells angenommenen Funktion eignet. Abgesehen von den jeweils ausschlaggebenden historischen Faktoren, die für die Nationalisierungsdynamik und für die Schwankungen im Verlauf verantwortlich sind, lässt sich jedenfalls feststellen, dass die Entwicklung nationaler Semantik in der Politik en gros einer Auf- und Abwärtsbewegung folgt. In beiden Ländern kommt es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer festen Verankerung und Ausbreitung des Nationsbegriffs im öffentlichen Diskurs, der gegen Ende des 19.

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Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg immer weiter radikalisiert wird. Nach einer Phase des radikalen Nationalismus kann man in der Öffentlichkeit beider Länder spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs wieder einen Rückgang des Gebrauchs nationaler Semantiken verzeichnen. Diese Entwicklung ist mit der Annahme kompatibel, dass die nationalen Schließungsprozesse in der Struktur des politischen Systems begleitet werden von einer Semantik des inter nationalen Vergleichs, auf Grundlage dessen die Entstehung einer nationenübergreifenden politischen Ordnung möglich wird.

9 Konklusion

Diese Arbeit hatte sich zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zum Verständnis der Funktion nationaler Kommunikationsgrenzen bei der Entstehung einer primär funktional differenzierten Weltgesellschaft zu liefern. Ausgangspunkt war die Feststellung eines auffälligen Defizits in der Weltgesellschaftsforschung, die Strukturdynamiken nationaler Schließung bislang nicht zu einem eigenständigen Analyseproblem gemacht und systematisch erforscht hat, obwohl sich solche Strukturmerkmale für die meisten Funktionssysteme leicht ad hoc zeigen lassen.1 Die Weltgesellschaftstheorie Luhmanns setzt vielmehr eine auf globaler Ebene integrierte und funktional differenzierte Weltgesellschaft voraus, die lediglich aufgrund eines historischen Defizits an Kommunikationsmedien an der Überwindung jeglicher interner Raumgrenzen und damit der vollen Entfaltung ihres originären Zustands gehindert worden sei. Im Licht der geschichtswissenschaftlichen Forschungslage zur Entwicklung von Techniken der Kommunikation sowie zu Prozessen nationaler Schließung erscheint dieses Argument jedoch zweifelhaft. Ein Blick auf die Mediengeschichte offenbart eine seit jeher voranschreitende Weiterentwicklung der für die Verbreitung von Kommunikation relevanten Techniken mit beschleunigten Fortschritten besonders ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig legen vielfältige geschichts- und auch sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse für den gleichen Zeitraum nationale Schließungsprozesse und gerade nicht die aus weltgesellschaftstheoretischer Perspektive angesichts der intensiven Ausbreitung von Kommunikationstechnik zu erwartende Nivellierung von Raumgrenzen nahe. Diese aus Sicht der Systemtheorie widersprüchliche Forschungslage bildete den Ausgangspunkt für die beiden wesentlichen und miteinander verbundenen Ziele dieser Arbeit. Zum einen hat sich die Arbeit auf theoretischer Ebene darum bemüht, einen Vorschlag zur Weiterentwicklung der Systemtheorie zu unterbrei-

1

Vgl. Einleitung.

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ten, der an die Stelle des genannten Defizits der Weltgesellschaftstheorie eine komplexitätstheoretisch informierte funktionale Analyse der Dynamik nationaler Kommunikationsgrenzen setzt und damit den genannten Widerspruch zu überwinden hilft. Zum anderen setzte die Arbeit mit einer empirischen Untersuchung am eingangs vor allem aufgrund geschichtswissenschaftlicher Forschungen geäußerten Ausgangsverdacht an, dem zufolge es gerade seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft zu Prozessen nationaler Schließung kommt. Die Arbeit stellte sich die Frage, ob und inwiefern sich die von der Geschichtswissenschaft auf allgemeiner Ebene beschriebenen nationalen Schließungsprozesse mit systemtheoretischen Mitteln als Strukturdynamiken von Funktionssystemen empirisch beobachten und beschreiben lassen. Gerade vor dem Hintergrund einer solchen Beobachtung sind die Mittel der Systemtheorie unbefriedigend und eine Ergänzung erscheint wünschenswert. Die Arbeit entwickelte ihr Modell für eine funktionale Analyse nationaler Kommunikationsgrenzen auf der Grundlage der Theorie zur Globalisierungsdynamik von Funktionssystemen, wie sie bislang von Tobias Werron vorgetragen worden ist.2 Dieses Modell verabschiedet sich von der systemtheoretischen Prämisse, nach der die Entfaltung einer global integrierten und primär funktional differenzierten Weltgesellschaft eine logische Konsequenz aus der vollständigen Entdeckung des Erdballs bzw. der Leistungsfähigkeit der jeweils zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel ist. Vielmehr nimmt es die räumlichen Differenzierungen in der Weltgesellschaft ernst und fragt nach den Bedingungen für deren Überwindung, d. h. der räumlichen Expansion und schließlich der Globalisierung von Funktionssystemen. Diese Bedingungen erkennt das Modell in der Kopplung der Universalitätsansprüche der Funktionssysteme einerseits mit einer Heuristik öffentlicher Vergleichszusammenhänge andererseits. Dabei kommt dem Publikum des jeweiligen Funktionssystems insofern eine zentrale Rolle zu, als dass es angetrieben durch den Universalitätsanspruch Ereignisse im System in einen Vergleichshorizont integriert. Effekt und Voraussetzung dieses Vergleichs ist ein Standardisierungsprozess, der zum einen einheitliche Vergleichskriterien, an denen der Vergleich ausgerichtet werden muss, herausbildet und zum anderen für das System relevante Ereignisse zu einander anschlussfähigen Kommunikationselementen vereinheitlicht. Auf diese Weise entsteht ein funktionssysteminterner Vergleichshorizont, welcher der Logik des Funktionssystems folgt und dementsprechend räumliche Grenzen missachtend immer weiter expandiert.

2

Vgl. vor allem Werron 2007a.

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Mit dieser Perspektive eröffnet das Modell zwar die Möglichkeit einer systemtheoretischen Globalisierungsforschung, es liefert aber keinen Beitrag zum Verständnis der Funktion nationaler Schließungsprozesse. Vielmehr setzt das Modell räumliche Kommunikationsgrenzen voraus, wenn es den Mechanismus für deren Überwindung erklärt. Diese Arbeit entwickelte einen Vorschlag, wie man Werrons Modell so ergänzen kann, dass nicht nur die Überwindung und Auflösung nationaler Kommunikationsgrenzen, sondern auch deren Entstehung und Aufbau im Sinne einer funktionalen Analyse verständlich werden. Die Entwicklung dieses Vorschlags setzt an einem komplexitätstheoretischen Problem des Modells von Werron an. Die Herstellung eines Vergleichshorizonts mit standardisierten Vergleichsverfahren und -ereignissen ist nämlich ein voraussetzungsvoller Vorgang und der Vergleich ist zunächst extrem aufwendig. Denn zunächst stehen ja weder vergleichbare Elemente noch allgemein verankerte Vergleichskriterien zu Verfügung, die in der Lage wären, die Komplexität des Vergleichs so zu reduzieren, dass große Mengen an Elementen in einem übergeordneten Zusammenhang sinnvoll verarbeitet werden könnten. Noch entscheidender vielleicht ist jedoch ein weiteres Problem: Mit der Ausbreitung und Leistungssteigerung der Verbreitungsmedien nimmt die Menge der dem Vergleich im Prinzip zuführbaren Elemente rasant zu. Wenn kein standardisiertes Vergleichsverfahren zur Verfügung steht, nimmt allein durch die Vermehrung der Vergleichselemente die Komplexität des Vergleichs in geometrischer Progression zu. Mit der Expansion von Funktionssystemen und der Verbesserung der Kommunikationstechnik gerät das Vergleichsverfahren immer stärker unter Druck, weil es immer mehr heterogene Informationen verarbeiten muss, für die es zunächst noch keine Standards entwickelt hat. Misslingt die Informationsverarbeitung und damit die Reduktion von Komplexität, verwischt jedoch die Differenz zwischen System und Umwelt, und die Stabilität des Systems ist gefährdet. Welche Strategien Systeme entwickeln, um auf Probleme der Überforderung bei Informationsverarbeitung und bei Stabilitätsverlust zu reagieren, kann man den komplexitätstheoretischen Arbeiten von Orrin E. Klapp und Herbert A. Simon entnehmen. Nach Klapps Argument sind Schließungsprozesse in sozialen Systemen eine Strategie im Umgang mit zu hoher Komplexität, die die Möglichkeit der Informationsverarbeitung unter komplexen Bedingungen sichert. 3 Schließung ist ein äußerst einfaches und voraussetzungsloses Mittel, um große Mengen an Informationen aus der Betrachtung auszuschließen. Um das System trotz solcher Segmentierungen in seiner Komplexität zu erhalten, bildet sich

3

Klapp 1978.

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nach Herbert A. Simon eine hierarchische Struktur aus, die die jeweiligen Subelemente des Systems in einer einheitlichen Struktur miteinander verbindet und so nach außen abgrenzt.4 Simon kann zeigen, dass hierarchisch aufgebaute Systeme sich schneller bilden sowie stabiler und weniger störanfällig bei ungünstigen Umweltbedingungen sind als Systeme, die ihre Elemente ohne eine entsprechende Ordnung verknüpfen. Außerdem ermöglicht die Reduktion von Komplexität durch Schließung in den Subsystemen einen Ordnungsprozess, in dessen Folge Mittel der Verarbeitung interner Information herausgebildet werden können. Nach Klapp entsteht dabei eine Redundanz, die das System schließlich wieder zu einer Öffnung antreibt. Dass Informationsverarbeitung und Stabilitätssicherung bei der Globalisierung von Funktionssystemen, so wie Werron sie beschreibt, zu einem Problem werden können, gerät mit dieser komplexitätstheoretischen Perspektive leicht in den Blick. Die Funktion nationaler Schließung könnte demnach darin bestehen, eine Reduktion von Komplexität dann zu ermöglichen, wenn äquivalente Möglichkeiten wie Standardisierung, Selektion oder Ausdifferenzierung zu aufwendig wären. Nationale Kommunikationsgrenzen unterbrechen die Kommunikation aus Sicht der Funktionssysteme gewissermaßen willkürlich, jedenfalls ohne Bedarf an Vorleistungen des Systems. Unter den Bedingungen reduzierter Komplexität, die dadurch jedoch hervorgebracht werden, können sich die für das Funktionssystem typischen Selektions- und Standardisierungsstrukturen herausbilden. In der Folge entstehen segmentär strukturierte Standardisierungsbereiche bzw. Vergleichszusammenhänge. Diese segmentäre Struktur kann dann zum Gegenstand der Selbstbeschreibung des Systems werden und damit einen übergeordneten Vergleichszusammenhang eröffnen, bei dem die jeweiligen Standards selbst zum Objekt des Vergleichs werden. Nach der Erwartung bei Klapp, nach der die Herstellung einer internen Redundanz zu einer Öffnungsbewegung führt, und auch nach der Annahme bei Werron, nach der Vergleichsprozesse zu einer Standardisierung, d. h. zu einem integrierten Vergleichszusammenhang führen, tritt in einem zweiten Schritt eine Phase der Auflösung der geschlossenen Segmentstruktur ein. Die Globalisierung von Funktionssystemen folgt damit offenbar einem zweistufigen Verfahren, bei dem zunächst funktionssystemspezifische Standards in segmentär begrenzter Form herausgebildet werden, die erst in einem zweiten Schritt in einen Vergleichszusammenhang auf Ebene der Weltfunktionssysteme gebracht werden. Diese Strukturdynamik, bei der nationale Grenzen zunächst entstehen, um danach wieder überwunden zu werden, wird in dieser Perspektive

4

Simon 1962.

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unmittelbar verständlich. Nationale Kommunikationsgrenzen verlaufen quer zu den Strukturen, die das System zur Erfüllung seiner Funktion benötigt. Gerade damit leisten sie mit Blick auf die Herausforderung der Komplexitätsverarbeitung expandierender Funktionssysteme jedoch möglicherweise Unterstützung bei der Globalisierung von Funktionssystemen. Diese Analyse der Funktion nationaler Kommunikationsgrenzen führte zum zweiten wesentlichen Ziel dieser Arbeit. Jede funktionale Analyse setzt die Beobachtbarkeit der analysierten Strukturen, hier also nationaler Strukturdynamiken in Funktionssystemen, als empirisches Erfordernis voraus. Ein Blick auf den bisherigen Stand der Forschung über Nationalisierungs- und Denationalisierungsprozesse zeigt jedoch, dass es zwar vor allem geschichtswissenschaftliche Arbeiten zum Thema gibt. Die jeweils verfolgten Ansätze sind jedoch äußerst heterogen und führen meist zu dem generellen Ergebnis, dass von einer Nationalisierungsdynamik auszugehen ist, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt, sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg radikalisiert und sich seitdem im Zuge zunehmender Internationalisierung abschwächt. Was bislang fehlt, ist eine systematische Langfristuntersuchung, die Nationalisierungsdynamiken anhand systemtheoretisch hergeleiteter Indikatoren konkret als Strukturveränderungen von Funktionssystemen empirisch beschreibt. Dies erscheint jedoch notwendig, wenn man solche Prozesse zum Gegenstand einer funktionalen Analyse machen will, die für die Systemtheorie instruktiv ist. Die empirische Untersuchung dieser Arbeit verfolgte deshalb das Ziel, die Dynamik von Auf- und Abbau nationaler Kommunikationsgrenzen in Funktionssystemen sichtbar zu machen. Die empirische Untersuchung sollte dabei die Plausibilität des Modells durch Prüfung mehrerer seiner Elemente unterstützen. Deshalb wurden nicht nur die Schließung und die Öffnung von Vergleichszusammenhängen auf struktureller Ebene, sondern auch die semantischen Mechanismen des internationalen Vergleichs untersucht, durch den sich nationale Vergleichszusammenhänge auflösen und sich auf tendenziell globaler Ebene integrieren. Für die Durchführung dieser Untersuchung wurden mit dem Politik- und dem Wissenschaftssystem zwei Funktionssysteme ausgewählt, für deren Logik nationale Grenzen eine maximal unterschiedliche Bedeutung haben. Das Wissenschaftssystem operiert mit einem kognitiven Erwartungsstil, d. h., es reagiert bei Enttäuschung mit einem Lerneffekt, und Lernprozesse können im Prinzip jederzeit räumliche Grenzen überschreiten. Für die unmittelbare Funktionserfüllung des Wissenschaftssystems haben interne Grenzen insofern keine Relevanz, sie schränken sie sogar eher ein. Das Politiksystem operiert hingegen mit einem normativen Erwartungsstil, d. h., es muss im Enttäuschungsfall korrigierend ein-

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greifen können, und dies erfordert das Bereithalten der Möglichkeit physischer Gewaltanwendung. Da dies effektiv nur unter Kopräsenz der beteiligten Personen möglich ist, haben interne Grenzen eine zentrale Bedeutung für die Funktionserfüllung des Politiksystems: Sie sichern den Erhalt der Macht. Die Auswahl der zu untersuchenden Funktionssysteme wurde also in einer Weise getroffen, die erlaubt, die Passung der funktionalen Analyse im Sinne einer stufenförmigen Globalisierungsdynamik mit der empirischen Globalisierungsentwicklung von Funktionssystemen mit jeweils möglichst unterschiedlichen Ausgangsbedingungen zu prüfen. Die gleiche Maxime führte für das Wissenschaftssystem zur Auswahl der Untersuchungsdisziplinen Physik und Geschichtswissenschaft. Für die Physik als ideologieferne und hoch formalisierte Wissenschaft dürften sprachliche und nationale Grenzen eine geringere Bedeutung haben als für die Geschichtswissenschaft, die als erzählende Wissenschaft und als Konstrukteurin nationaler Einheit einen starken Bezug zu ihrem politischen und nationalen Raum hat. Die Untersuchung wurde für Frankreich und Deutschland durchgeführt, da sie als große Nationalstaaten in Europa im politischen System Einfluss haben, als Wissenschaftsnationen bedeutsam in der Physik und der Geschichtswissenschaft gewesen sind und sich zudem durch eine besondere Beziehung zueinander auszeichnen. Mit einem Fokus auf dem 19. und 20. Jahrhundert richtete sich die Untersuchung auf eine Zeitspanne, in der die Entfaltung nationaler Dynamiken zu erwarten ist. Das so umrissene Untersuchungsfeld wurde den theoretischen Vorgaben entsprechend auf struktureller und semantischer Ebene nach nationalen Schließungs- und Öffnungsdynamiken untersucht. Auf struktureller Ebene ging es der Ausgangsthese entsprechend darum, nationale Grenzen der Kommunikation und deren Dynamik zu identifizieren. Für das Wissenschaftssystem hieß das, die Frage zu prüfen, ob, inwiefern und mit welchem historischen Verlauf wissenschaftliche Kommunikation an nationalen Grenzen abbricht. Da die Elemente wissenschaftlicher Kommunikation Publikationen sind, die über Zitationen miteinander verknüpft werden, wurde eine Zitationsanalyse durchgeführt. Diese ermittelte in einer das 19. und 20. Jahrhundert berücksichtigenden Längsschnittuntersuchung für die wichtigsten Fachzeitschriften der Physik und der Geschichtswissenschaft in Frankreich und Deutschland jeweils die Anteile grenzüberschreitender gegenüber nationale Grenzen respektierender Zitationen. Die Arbeit führte weiterhin eine Semantikanalyse des internationalen Wissenschaftsvergleichs durch, um die Frage zu prüfen, ob und inwiefern dieser die Funktion übernehmen könnte, einen global integrierenden Standarisierungsprozess auszulösen. Dazu wurden Publikationen vor allem aus der Physik und der

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Geschichtswissenschaft über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg recherchiert, in denen die eigene Disziplin oder auch ganze nationale Wissenschaften einem internationalen Vergleich zugeführt werden. Für die Prüfung der Forschungsthese wurde untersucht, inwiefern sich die für diesen Vergleich verwendeten Konzepte nationaler Selbstbeschreibung der Wissenschaft über die Zeit verändern. Dabei wurden sowohl die Häufigkeit des Vorkommens nationaler Selbstbeschreibungen der Wissenschaft als auch die Veränderungen im Ausmaß der Radikalität der für die nationale Selbstbeschreibung verwendeten Argumente beobachtet. Die Analyse von Strukturen und Semantiken nationaler Schließungs- und Öffnungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert wurde sodann auch für das Politiksystem durchgeführt. Hier ging es für die Überprüfung der Thesen zunächst darum zu entscheiden, welche Äquivalente zu nationalen Strukturen von Zitationszusammenhängen und nationalen Semantiken des Wissenschaftsvergleichs im Politiksystem zu finden sind. Das verwendete Argument zeigte, dass nationale Grenzen der Kommunikation im politischen System durch die Staatsangehörigkeit der in die Politik inkludierten Personen konstituiert werden. Durch Inklusion von Staatsangehörigen wird die Kommunikation im nationalstaatlichen Machtkreislauf zwischen Regierung, Verwaltung und Publikum autopoietisch anschlussfähig. Entsprechend markiert ein Wechsel in der Staatsangehörigkeit eine politikinterne Grenze, jenseits derer zwar politische Kommunikation stattfindet, diese jedoch einem anderen Machtbereich zugeordnet ist und daher eine andere Qualität hinsichtlich ihrer Relevanz für kollektiv verbindliches Entscheiden diesseits der Grenze besitzt. Öffnungs- und Schließungsprozesse von Nationalstaaten, die das Politiksystem intern segmentär ausdifferenzieren, ließen sich daher über eine Analyse der historischen Entwicklung des Staatsangehörigkeitsrechts darstellen, dessen Schließungs- und Abgrenzungswirkung nach außen sich in verschiedenen historischen Phasen unterschiedlich darstellt. Mit Blick auf die Entstehung übergeordneter Vergleichszusammenhänge lautete schließlich auch in Bezug auf das Politiksystem die Frage, ob sich nationale Vergleichssemantiken beobachten lassen, deren Entwicklung im Sinne des hier verwendeten theoretischen Modells funktional verläuft. Aus diesem Grund wurde eine entsprechende Untersuchung zur Entwicklung nationaler Semantik in der politischen Öffentlichkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert durchgeführt. Die Analyse bezog sich dabei auf das Konzept der »Nation«, weil damit Beschreibungen von Zugehörigkeit verbunden sind, die ihren strukturellen Ausdruck im Staatsangehörigkeitsrechts finden. »Nation« ist ein semantisches Konzept zur Beschreibung des durch Staatsangehörigkeit segmentär binnendifferenzierten Politiksystems und impliziert damit einen Ver-

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gleich zwischen Nationen. Nur durch den Vergleich wird die Differenzierung zwischen der Innen- und Außenseite der Nation, nämlich zwischen der Zugehörigkeit und der Nichtzugehörigkeit, möglich und greifbar und nur durch diese Unterscheidung konstituiert sich die Semantik der Nation. Entsprechend konnte dieser Teil der Untersuchung durch eine Sekundäranalyse bestehender geschichtswissenschaftlicher Studien zur Entwicklung der Nationssemantiken und der Nationalbewegungen in Deutschland und Frankreich über die 200 Jahre des Untersuchungszeitraums durchgeführt werden. In der Zusammenschau aller Ergebnisse der einzelnen Untersuchungsabschnitte lässt sich erkennen, dass sowohl das Wissenschafts- als auch das Politiksystem eine Strukturdynamik nationaler Kommunikationsgrenzen aufweisen, bei der sie offenbar im 19. Jahrhundert zunächst einer Tendenz zu einer nationalsegmentären Binnendifferenzierung folgen, dieser Trend sich jedoch nach einem Höhepunkt um die Wende zum 20. Jahrhundert bzw. einige Jahre später umkehrt. Davon begleitet ist in beiden Systemen eine passende Semantik nationaler Differenzierung, die mit den Veränderungen auf struktureller Ebene kovariiert und entsprechend nationale Unterschiede einem internationalen Vergleich zuführt. Der Befund über diese spezifische nationale Dynamik ist dabei für beide Funktionssysteme vergleichbar, obwohl räumliche bzw. nationale Kommunikationsgrenzen für die Erfüllung der jeweiligen Funktion der Systeme eine stark unterschiedliche Bedeutung innehaben. Dies legt die Vermutung nahe, dass auch weitere, aber wohlmöglich nicht alle Funktionssysteme einer vergleichbaren Strukturentwicklung folgen. Die Durchführung solcher Untersuchungen bleibt jedoch noch eine ausstehende Forschungsaufgabe. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung legen insgesamt den Schluss nahe, dass die Analyse der Funktion nationaler Grenzen anhand des hier vorgeschlagenen Modells plausibel ist. Die Dynamik nationaler Schließung setzt gerade dann massiv ein, als die globale Verfügbarkeit von Informationen durch die revolutionären Entwicklungen in der Kommunikations- und Verkehrstechnik eine neue Qualität erreicht und in systemtheoretischer Sicht die Globalisierung von Funktionssystemen kräftig hätte antreiben müssen. Dass, wie die empirischen Untersuchungen dieser Arbeit zeigen, mit dem Aufbau nationaler Grenzen eine entgegengesetzte Entwicklung eintritt, wird vor dem Hintergrund des hier herangezogenen Modells verständlich. Demnach folgt die Globalisierungsdynamik von Funktionssystemen einem Verfahren, das zwei Stufen umfasst. In einer ersten Stufe führen die Ausbreitung und Verbesserung von Kommunikationsmedien und die damit einsetzende Überforderung bei Vereinheitlichungsprozessen in Funktionssystemen zu einer nationalen Schließungsbewegung. Damit wird die Komplexität des für die Vereinheit-

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lichung durchzuführenden Vergleichs bei gleichzeitiger Erhaltung der Systemstabilität und ohne sonstige Vorleistungen des Systems erheblich reduziert. Die Binnenstruktur des Systems verändert sich in Richtung einer internen segmentären Differenzierung in nationale Vergleichszusammenhänge, die jeweils durch nationale Kommunikationsgrenzen konstituiert werden. Durch diese Strukturveränderung variiert jedoch auch die Semantik des Systems, die beginnt, das System als ebensolches, intern segmentär differenziertes zu beschreiben. Dadurch konstituiert die Semantik des Systems in der zweiten Stufe der Globalisierung einen neuen, nationale Grenzen übergreifenden Vergleichszusammenhang. Dieser wird in der zweiten Phase möglich, weil der Vergleich nationaler Einheiten wesentlich weniger aufwendig und komplex ist als ein entsprechender Vergleich aller Systemeinheiten. Auch der internationale Vergleich jedoch entfaltet seine Standardisierungswirkung, in deren Folge die nationalen Einheiten in den übergreifenden Vergleichszusammenhang des Funktionssystems integriert werden. Nationale Grenzen werden unnötig und verschwinden. Am Ende des Prozesses steht ein globalisiertes Funktionssystem, dessen Selektionsmechanismen soweit spezialisiert und dessen Elemente soweit vereinheitlicht sind, dass es mit den jeweils vorhandenen Ressourcen Vergleiche innerhalb des Systems unter Gewährleistung der Systemstabilität mit globaler Reichweite durchführen kann. Das vorgeschlagene Modell der Funktion nationaler Kommunikationsgrenzen im Rahmen einer stufenförmigen Konstitution globaler Funktionssysteme ist mit den hier erzielten empirischen Ergebnissen kompatibel, denn die empirische Entwicklung der Globalisierung der beiden untersuchten Funktionssysteme folgt einem Verlauf, der im Sinne des Ausgangsmodells funktional ist. Die Prüfung des Vorliegens der empirischen Voraussetzungen für das Modell erfolgte hier auf der makrosoziologischen Ebene gesellschaftlicher Differenzierung. Durch die damit gewonnene Plausibilität des Modells im allgemeinen Sinne eröffnet diese Arbeit somit das Feld für weitere empirische Nachforschungen im Bereich der Mikrofundierung, die darlegen könnten, wie die Prozesse des Vergleichs und der Standardisierung sich auf den verschiedenen Ebenen konkret darstellen.

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Anhang

Technische Details der Zitationsanalyse

Um den Umfang der Erhebung für die Zitationsanalyse zu bewältigen, wird auf das Mittel der repräsentativen Stichprobe zurückgegriffen, wodurch belastbare Aussagen in Bezug auf die Grundgesamtheit auch bei einer eingeschränkten Datenmenge möglich sind. Zufallsstichproben sind repräsentativ im Hinblick auf die Grundgesamtheit, weil jede Einheit der Grundgesamtheit die gleiche Chance hat, nämlich n/N, in die Stichprobe zu gelangen. Die Merkmalsverteilung der Einheiten in der Stichprobe bildet so diejenige in der Grundgesamtheit in proportionalem Verhältnis ab.1 Um die Repräsentativität der Stichprobe zu gewährleisten, wird zur Auswahl der Zitationen daher ein Zufallsgenerator verwendet. Wie im Kapitel 5.2.5 erläutert, werden die Stichproben aus den physik- und geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften auf unterschiedliche Weise erhoben. Während für die Physik die Gesamtheit aller Zitationen der untersuchten Bände die Grundgesamtheit bildet, aus der die Stichproben gezogen werden, beschränkt sich für die Geschichtswissenschaft die Grundgesamtheit nur auf Zitationen rezensierter Publikationen. Damit soll sichergestellt werden, dass in beiden Untersuchungsdisziplinen nur Zitationen wissenschaftlicher Publikationen und keine Zitationen von historischen Quellen in die Stichprobe gelangen können. Vor dem Hintergrund des Erfordernisses der Erstellung von Zufallsstichproben und der fachspezifischen Unterschiede wird zur Ziehung der Stichproben eine jeweils angepasste Methode verwendet. Im Fall der Physik geschieht die Identifikation einer zufällig ausgewählten Zitation in zwei Schritten: erstens, die zufällige Auswahl der Seite, auf der die für die Stichprobe auszuwählende Zitation steht, und, zweitens, die zufällige Auswahl der Zitation aus allen Zitationen dieser Seite. Da für jedes Untersuchungsjahr eine Stichprobe erstellt wird, bezieht sich die Grundgesamtheit auf den gesamten Umfang der Zitationen, die in dem betref-

1

Vgl. Gehring/Weins 1997: 172.

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fenden Jahr in der untersuchten Fachzeitschrift vermerkt sind. Regelmäßig erscheinen pro Jahr mehrere Zeitschriftenbände, deren Seitenzählungen nicht aneinander anschließen, sondern jeweils bei Seite 1 beginnen. Für die im ersten Schritt vorgesehene Zufallsauswahl der Seiten muss deshalb ein geeigneter Zufallsgenerator erstellt werden, der dieses Problem berücksichtigt. Dazu wird ein mit der Datenverarbeitungssoftware »Excel« hergestelltes Programm verwendet, das eine zufällige Reihe von Informationen herstellt, anhand derer jeweils eine Seite aus allen Bänden eines Jahres genau identifiziert werden kann. Es werden zunächst die Seitenanzahlen aller Zeitschriftenbände des betreffenden Jahres addiert. Im Ergebnis erhält man die Gesamtzahl des Seitenumfangs aller Bände eines Jahres. Das Programm erstellt dann eine Zahlenreihe, beginnend mit der Zahl 1 bis zur gefundenen Gesamtseitenzahl aller Bände des Jahres. Diese Zahlenreihe wird sodann in eine zufällige Reihenfolge gebracht. Danach ordnet das Programm jeder dieser Zahlen einen Band zu und errechnet, welche Seitenzahl in dem entsprechenden Band der jeweiligen Zahl aus der ursprünglichen Reihe entspricht. Dies geschieht durch eine einfache, konditionierte Kalkulation: Wenn die Zahl aus der Ursprungsreihe kleiner ist als der Seitenumfang des ersten Bands des Jahres, dann entspricht diese Zahl der Seitenzahl in diesem Band. Wenn die Zahl aus der Ursprungsreihe größer ist als der Seitenumfang des ersten Bands des Jahres, jedoch kleiner ist als die Summe der Seitenzahlen des ersten und zweiten Bands des Jahres, dann weist diese Zahl der Ursprungsreihe auf eine Seitenzahl im zweiten Band des Jahres hin. Diese Seitenzahl im zweiten Band errechnet sich dann aus der Differenz zwischen der Zahl der Ursprungsreihe und des Seitenumfangs des ersten Bands des Jahres. Diese Kalkulation setzt sich dann für die anderen Bände des Jahres entsprechend fort. Im Ergebnis erhält man eine zufällige Reihe von Band und Seitenangaben, in der jede Seite, die in den Zeitschriftenbänden des gewählten Jahres enthalten ist, vorkommt. Durch die zufällige Reihenfolge ist gewährleistet, dass für jeden gewählten Stichprobenumfang Zitationen jeder Seite die gleiche Chance haben in die Stichprobe zu gelangen, auch dann, wenn für die Stichprobenauswahl die Seitenzahlen einfach von vorne beginnend nacheinander aufgerufen werden. Nachdem eine Seite zufällig ausgewählt wurde, wird im zweiten Schritt die genaue Zitation identifiziert. Eine Zitation wird nur dann erhoben, wenn sie eigens etwa in Form einer Fußnote oder im Literaturverzeichnis als solche vermerkt wird und eine Angabe zum Publikationstext enthält. Nicht als Zitation gewertet werden namentliche Verweise auf Wissenschaftler und deren Forschungsarbeiten im Text. Ist auf der im ersten Schritt ausgewählten Seite genau eine Zitation vermerkt, wird diese Zitation für die Stichprobe ausgewählt. Ist auf

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dieser Seite mehr als eine Zitation vermerkt, wird erneut ein Zufallsgenerator angewendet, um aus allen Zitationen dieser Seite zufällig eine auszuwählen. Dazu werden alle Zitationen der Seite gezählt und nummeriert. Anschließend wird anhand eines zweiten Zufallsgenerators aus der Zahlenreihe von 1 bis zur Gesamtzahl aller Zitationen der Seite eine Zahl zufällig ausgewählt. Diejenige Zitation, deren Nummerierung mit der vom Zufallsgenerator ausgegebenen Zahl übereinstimmt, wird für die Stichprobe ausgewählt. Für den Fall, dass die im ersten Schritt zufällig ausgewählte Seite keine Zitation enthält, wird solange die nächste zufällig gewählte Seite aufgeschlagen, bis eine Seite mit einer oder mehreren Zitationen gefunden ist. Im Fall der Geschichtswissenschaft, bei dem nur Zitationen rezensierter Publikationen in die Stichprobe gelangen sollen, ist die Vorgehensweise zur Identifizierung der auszuwählenden Zitationen etwas anders. Die untersuchten geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschriften enthalten abgesonderte Rezensionskapitel. Alle Zitationen innerhalb dieser Kapitel in den Bänden eines Jahres, also alle Zitationen rezensierter Publikationen in dem betreffenden Jahr, bilden die Grundgesamtheit, aus der die Stichprobe gezogen werden soll. Dazu wird zunächst aus der Summe der Differenzen zwischen den jeweiligen Anfangs- und Endseitennummern der Rezensionskapitel des Jahres die Anzahl der Seiten errechnet, die die Grundgesamtheit an Zitationen enthalten. Die Ziffern einer Zahlenreihe von 1 bis zu dieser Anzahl stehen dann jeweils für eine spezifische Seite aus den Rezensionskapiteln der Zeitschrift. Die Zahlen von 1 bis zur Anzahl der Seiten des ersten Rezensionskapitels stehen für das erste Rezensionskapitel des ersten Bands, die Zahlen ab der Anzahl der Seiten des ersten Rezensionskapitels bis zur der Anzahl aus der Summe der Seiten des ersten und zweiten Rezensionskapitels stehen für Seiten im zweiten Rezensionskapitel usw. Im zweiten Schritt müssen dann nur noch die Zahlen aus der Zahlenreihe in die tatsächlich vorkommenden Seitenzahlen der Rezensionskapitel im jeweiligen Band umgerechnet werden. Für die Zahlen, die für das erste Rezensionskapitel stehen, geschieht dies durch einfache Addition der Zahlen mit der Anfangsseitenzahl des ersten Rezensionskapitels. Von den Zahlen, die für das zweite und weitere Rezensionskapitel stehen, wird die Summe der Seitenumfänge aller vorangegangenen Rezensionskapitel zunächst abgezogen und dann addiert mit der Anfangsseitenzahl des jeweiligen Kapitels. Eine zweite Kalkulation identifiziert dann nur noch den genauen Band. Für alle Zahlen, die kleiner als der Seitenumfang aller Rezensionskapitel des ersten Bands sind, gilt, dass sie Seitenzahlen aus dem ersten Band bezeichnen. Für alle Zahlen, die größer als die Summe der Rezensionskapitel des ersten Jahresbands sind, gilt, dass sie Seitenzahlen aus dem zweiten Jahresband bezeichnen usw.

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Durch diese Kalkulation erhält man eine Reihe von Zahlen und Bandangaben, die ausschließlich Seitenzahlen aus den Rezensionskapiteln bezeichnen. Ein Zufallsgenerator bringt diese Zahlenreihe in eine zufällige Reihenfolge. Die Erhebung beginnt mit dem Aufblättern der erstgenannten Seitenzahl. Befindet sich dort keine Zitation, wird so lange mit der nächsten Seitenzahl fortgefahren, bis eine Seite mit mindestens einer Zitation gefunden ist. Enthält diese Seite nur eine Zitation, gelangt diese in die Stichprobe. Enthält diese Seite mehrere Zitationen, werden diese von oben beginnend durchnummeriert. Aus der Zahlenreihe von 1 bis zur Anzahl der Zitationen auf dieser Seite wählt dann wiederum ein Zufallsgenerator eine Zahl aus. Die Zitation mit der Nummer, die mit der vom Zufallsgenerator ausgewählten Zahl übereinstimmt, gelangt in die Stichprobe. Beide Verfahren zur Erstellung der Stichproben – das für die Physikzeitschriften und das für die geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften – werden so lange fortgesetzt, bis die Stichprobe die notwendige Größe erreicht hat. Die Festlegung der Stichprobengröße hängt dabei von verschiedenen, miteinander verbundenen Bedingungen ab. Zeitliche und finanzielle Rahmenbedingungen sind ebenso zu beachten wie statistische Anforderungen an die Eigenschaften von Stichproben und einfache Aufwands- und Ertragserwägungen. Aus den beschränkten zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten einerseits und dem hohen Erhebungsaufwand andererseits ergibt sich bereits die Empfehlung, die Stichprobengröße überschaubar zu halten. Eine gewisse Mindestgröße von Stichproben ist jedoch erforderlich, um die Bedingung n*p*q>9 zu erfüllen, wobei »n« für die Größe der Stichprobe, »p« für den Anteilswert der Stichprobe und »q« für »1-p« steht. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann die Binominalverteilung durch die Normalverteilung approximiert werden, wodurch die Schätzung der Ergebnisgenauigkeit mittels einer Errechnung von Konfidenzintervallen erheblich erleichtert wird.2 Bei der Erstellung der Stichproben wird deshalb die Erfüllung dieser Bedingung automatisch kontrolliert. Letztendlich soll hier die Stichprobengröße von der gewünschten Schätzgenauigkeit abhängig gemacht werden, die durch die Stichprobenergebnisse erzielt werden können soll. Mit den beschränkten Rahmenbedingungen im Blick wird deshalb eine Schätzgenauigkeit gewählt, die einerseits akzeptabel ist und andererseits die Bewältigung der Erhebung sichert. Es wird festgesetzt, dass der gesuchte Wert der Grundgesamtheit mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit nicht mehr als 10 Prozent vom Wert der Stichprobe abweicht, die Stichprobenei-

2

Vgl. Bortz/Döhring 2006: 418.

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genschaften also ein 95-prozentiges Konfidenzintervall erzeugen können, dessen Grenzen weniger als 10 Prozentpunkte vom Ergebniswert der Stichprobe abweichen. Damit gilt die Schätzgenauigkeit: d=10 Prozent bei Alpha=5 Prozent. Da die Größe des Konfidenzintervalls neben der definierten Schätzgenauigkeit jedoch auch vom Ergebnis der Stichprobe abhängt, ist eine exakte Festlegung des Stichprobenumfangs im Vorfeld nicht möglich. Um dennoch die Stichprobengröße so festzulegen, dass die gewählte Schätzgenauigkeit der Stichprobenergebnisse gewährleistet und zudem über alle erstellten Stichproben gleich ist, werden die erhobenen Daten in eine eigens dafür programmierte ExcelTabelle eingetragen, die die Schätzgenauigkeit der Stichprobe nach Eingabe jeder neuen Zitation automatisch errechnet. Das Programm zeigt dann bei der Dateneingabe an, ob die Stichprobe die gewünschte Schätzgenauigkeit ermöglicht. Sobald dies der Fall ist, kann die Ziehung der entsprechenden Stichprobe aufhören. Alle Stichprobenergebnisse verfügen dann über die gleiche gewählte Schätzgenauigkeit von d=10 Prozent bei Alpha=5 Prozent. Zur Errechnung des Konfidenzintervalls wird dabei die übliche Formel verwendet:3

‫݌‬െ‫ݖ‬ȉඨ

‫ ݌‬ȉ ሺͳ െ ‫݌‬ሻ ‫ ݌‬ȉ ሺͳ െ ‫݌‬ሻ ൏ߨ ൏‫݌‬൅‫ݖ‬ȉඨ ݊ ݊

In diese Formel fließen drei Größen ein, nämlich das Stichprobenergebnis, die gewünschte Schätzgenauigkeit und die Größe der Stichprobe. Die Kennzahl »p« ist der Anteilswert, den die Stichprobe erzeugt hat. Durch diese Kennzahl fließt das Ergebnis der Stichprobe in die Berechnung des Konfidenzintervalls ein. Die Kennzahl »z« ist derjenige Wert, durch den die gewünschte Schätzgenauigkeit von Alpha=5 Prozent in die Berechnung einfließt. Da kontrolliert wird, dass die Erfüllung der Bedingung n*p*q>9 für alle Stichproben gegeben ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der der Stichprobenwert dem Wert der Grundgesamtheit entspricht, standardnormalverteilt ist. Der Wert »z« kann deshalb anhand der Standartnormalverteilung und der gewählten Schätzgenauigkeit von Alpha=5 Prozent errechnet werden. Er ist dann derjenige Wert, der von den Extremen der Standardnormalverteilung Alpha, nämlich 5 Prozent, abschneidet, auf beiden Seiten jeweils also 2,5 Prozent. Dem entspricht der Wert von 1,96. Letztendlich fließt die Größe der Stichprobe, also die Menge der erhobenen Untersuchungseinheiten, durch den Kennwert »n« in die Berechnung des Konfidenzintervalls ein.

3

Quelle: Bortz/Döhring 2006: 418.

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IN DER

W ELTGESELLSCHAFT

Hält man die Schätzgenauigkeit von d=10 Prozent bei alpha=5 Prozent konstant, kann man für variierende »p«, also für alle denkbaren Ergebnisse der Stichprobe, die jeweils erforderliche Größe der Stichprobe errechnen. Es zeigt sich dabei, dass die Stichprobenumfänge im Normalfall die Größe von 100 Untersuchungseinheiten nicht übersteigen müssen, um Ergebnisse mit der gewünschten Schätzgenauigkeit zu produzieren. Nur für p90 Prozent müsste »n« die Marke von 100 Untersuchungseinheiten überschreiten, damit die Stichprobe die Bedingung n*p*q>9 erfüllt. Damit liegen die Stichprobenumfänge in aller Regel bei etwa 100 Zitationen. Eine nur geringfügige Erhöhung der Schätzgenauigkeit etwa auf ein 99prozentiges Konfidenzintervall würde den nötigen Stichprobenumfang unverhältnismäßig ansteigen lassen. Dabei gilt: Eine Verdopplung der Schätzgenauigkeit verlangt eine Vervierfachung des Stichprobenumfangs, der demnach gegenüber der Schätzgenauigkeit in exponentieller Weise anwächst.4 Zur Erfassung der Stichprobendaten wird eine mit der Kalkulationssoftware »Excel« programmierte Tabelle verwendet. Pro Zeile der Tabelle wird eine Zitation erfasst. Die Merkmale der Zitationen werden nach Spalten geordnet erfasst. Eine entsprechende Programmierung sorgt dafür, dass sich die Auswertung der Zitationsmerkmale jeder erfassten Zitation nach den in Kapitel 5.2 definierten Parametern richtet. Als Ergebnis werden zunächst die Häufigkeitszählungen durchgeführt, d. h. es werden die Menge der erhobenen Zitationen, die Menge der Fehlwerte, die Menge der auswertbaren Zitationen und die Menge nationaler Zitationen, einmal in absoluten Zahlen und schließlich als Anteilswert in Prozent gemessen am Stichprobenumfang, ausgegeben. Die Erfüllung der Bedingung n*p*q>9 wird kontrolliert. Schließlich wird das 95-prozentige Konfidenzintervall berechnet. Die Tabelle gibt die Werte für »d« und »2d« sowie die obere und untere Grenze der Intervalle an. Sobald bei der Datenerhebung der Wert »d« unter 10 Prozent liegt und gleichzeitig die Erfüllung der Bedingung n*p*q>9 angezeigt wird, erzielt die Stichprobe die gewünschte Schätzgenauigkeit und die Datenerhebung für diese Stichprobe kann stoppen.

4

Bortz 1993: 101.

A NHANG | 373

Tabelle 1: Ergebnisse der Zitationsanalyse: Physikzeitschriften in Deutschland 1800

1820

1840

1860

1880

1900

1915

1930

Untersuchte Zeitschrift

AdP

AdP

AdP

AdP

AdP

AdP

AdP

ZdP

Untersuchte Bände

4-6

3436

125127

185187

245247

306

351353

5966

Seiten insgesamt

1511

1316

1866

1988

2420

792

3420

6898

Aufgeblätterte Seiten

564

1200

731

635

467

230

283

152

Gefundene Zitationen

169

113

139

185

219

194

234

188

Zitationsdichte

0,3

0,1

0,2

0,3

0,5

0,8

0,8

1,2

Geschätzte N

453

124

355

579

1135

668

2828

8532

n

85

73

84

95

96

72

91

76

n*p*q

18,4

9,3

17,6

23,4

24

13,5

20,4

14,7

Nationale Zitationen

27

11

25

50

46

54

60

20

Nationale Zitationen (%)

31,8

15,1

29,8

53,2

47,9

75

65,9

26,3

d

9,9

8,2

9,8

10,1

10

10

9,7

9,9

Untere Grenze KI (95%)

21,9

6,9

20

43,1

37,9

65

56,2

16,4

Obere Grenze KI (95%)

41,7

23,3

39,5

633

57,9

85

75,7

36,2

AdP=Annalen der Physik, ZdP= Zeitschrift der Physik. Für das Jahr 1900 wurde wegen mangelnder Verfügbarkeit nur der Band 306 der Annalen der Physik untersucht.

374 | V ERGLEICH

IN DER

W ELTGESELLSCHAFT

Tabelle 2: Ergebnisse der Zitationsanalyse: Geschichtswissenschaftliche Zeitschriften in Deutschland 1860

1880

1900

1920

1940

1960

1980

1990

2000

Untersuchte Zeitschrift

HZ

HZ

HZ

HZ

HZ

HZ

HZ

HZ

HZ

Untersuchte Bände

3-4

4344

8485

121122

161162

190191

230231

250251

270271

Seiten aller Rezensionsteile insgesamt

339

580

407

287

390

448

868

735

1052

Aufgeblätterte Seiten

165

254

297

287

252

283

167

169

184

Gefundene Zitationen

486

131

100

64

98

98

97

100

99

Zitationsdichte

2,9

0,5

0,3

0,2

0,4

0,3

0,6

0,6

0,5

Geschätzte N

999

299

137

64

152

155

504

435

566

n

100

96

97

64

95

94

95

100

98

n*p*q

25

24

23,7

11,5

22,8

22,8

23,2

25

24,1

Nationale Zitationen

51

54

56

49

57

39

40

52

55

Nationale Zitationen (%)

51

56

57,7

76,6

60

41,5

42,1

52

56,1

d

9,8

9,9

9,8

0

9,9

10

9,9

9,8

9,8

Untere Grenze KI (95%)

41,2

46,3

47,9

66,2

50,1

31,5

32,2

42,2

46,3

Obere Grenze KI (95%)

60,8

66,2

67,6

86,9

69,9

51,4

52

61,8

65,9

HZ=Historische Zeitschrift. Für das Jahr 1920 wurden sämtliche Rezensionen der Historischen Zeitschrift erfasst (Vollerhebung). Die Werte des Konfidenzintervalls ergäben sich, wenn man die Daten als Stichprobe behandeln würde.

A NHANG | 375

Tabelle 3: Ergebnisse der Zitationsanalyse: Physikzeitschriften in Frankreich

1860

1880

1900

1920

1940

Untersuchte Zeitschrift

ACP

ACP

JdP

JdP

JdP

Untersuchte Bände

5860

1921

1

1-2

1-3

Seiten insgesamt

1536

1728

696

448

644

Aufgeblätterte Seiten

693

546

197

242

159

Gefundene Zitationen

142

162

220

229

607

Zitationsdichte

0,2

0,3

1,1

0,9

3,8

Geschätzte N

315

513

777

424

2459

n

100

90

100

93

95

n*p*q

24,8

20,6

24,8

20,7

16,9

Nationale Zitationen

45

58

45

31

22

Nationale Zitationen (%)

45

64,4

45

33,3

23,2

d

9,8

9,9

9,8

9,6

8,5

Untere Grenze KI (95%)

35,2

54,6

35,2

23,8

14,7

Obere Grenze KI (95%)

54,8

74,3

54,8

42,9

31,6

ACP=Annales de chimie et de physique, JdP=Journal de physique.

376 | V ERGLEICH

IN DER

W ELTGESELLSCHAFT

Tabelle 4: Ergebnisse der Zitationsanalyse: Geschichtswissenschaftliche Zeitschriften in Frankreich 1880

1900

1920

1940

1960

1980

2000

Untersuchte Zeitschrift

RH

RH

RH

RH

AESC

AESC

AHSS

Untersuchte Bände

1115

7174

131136

186192

15

35,12

55,12

Gefundene Zitationen

114

97

110

134

165

151

170

n

93

83

100

95

96

93

100

n*p*q

22,3

17,1

24,8

23,2

23,5

21,8

20,6

Nationale Zitationen

37

24

54

40

41

35

29

Nationale Zitationen (%)

39,8

28,9

54

42,1

42,7

37,6

29

d

9,9

9,8

9,8

9,9

9,9

9,8

8,9

Untere Grenze KI (95%)

29,8

19,2

44,2

32,2

32,8

27,8

20,1

Obere Grenze KI (95%)

49,7

38,7

63,8

52,0

52,6

47,5

37,9

RH=Revue

historique,

AESC=Annales:

économies,

sociétés,

civilisations,

AHSS=Annales: histoire, sciences sociales. Diese Tabelle stellt Vollerhebungen dar. Die Konfidenzintervalle unterstellen eine repräsentative Stichprobe. Die Schätzungswerte für N und Zitationsdichte entfallen. Einige der untersuchten Bände erscheinen im Vorjahr bzw. im nachfolgenden Jahr.

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