Vergessen, was Eltern sind: Relektüre und literaturgeschichtliche Neusituierung der angeblichen Väterliteratur 9783737097932, 9783899719260, 9783862349265

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Vergessen, was Eltern sind: Relektüre und literaturgeschichtliche Neusituierung der angeblichen Väterliteratur
 9783737097932, 9783899719260, 9783862349265

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Palaestra Untersuchungen zur europäischen Literatur

Band 336

Begründet von Erich Schmidt und Alois Brandl Herausgegeben von Heinrich Detering, Dieter Lamping und Gerhard Lauer

Editorial Board: Irene Albers, Elisabeth Galvan, Erika Greber, Julika Griem, Achim Hölter, Karin Hoff, Frank Kelleter, Katrin Kohl, Paul Michael Lützeler, Maria Moog-Grünewald, Per Øhrgaard

Julian Reidy

Vergessen, was Eltern sind Relektüre und literaturgeschichtliche Neusituierung der angeblichen Väterliteratur

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-926-0 ISBN 978-3-86234-926-5 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Karl-Jaberg-Stiftung (Bern). Ó 2012, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Gerhard Richter : »Familie nach altem Meister«. Ó Bayerische Staatsgemäldesammlung – Museum Brandhorst München. Leihgeber : Udo Brandhorst, Köln. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Von der ›Väterliteratur‹ zur ›Vertrauenskrise‹: Eine Relektüre von Christoph Meckels Suchbildern und Bernward Vespers Die Reise . .

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2. Familienkonstellationen und die ›Vertrauenskrise‹ in Die Reise und den Suchbildern: Von der Heiligen Familie zum Zweiten Weltkrieg . 2.1. Wilhelm Riehl und die Heilige Familie . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Weltkriegserfahrung als Katalysator der ›Vertrauenskrise‹ . .

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3. Zeit- und Institutionskritik in Die Reise . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Überlegungen zur literaturgeschichtlichen Situierung der Reise, oder : neue Subjektivität avant la lettre? . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die Reise – Literarisierung eines ›Generationenkonflikts‹? . . . .

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4. »Von der Hitler-Jugend zur RAF«? ›Vertrauenskrise‹ und Extremismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Ambivalente Gewaltästhetik und Probleme der Subjektkonstitution in Vespers ›Romanessay‹, oder : zu einem neuen Verständnis der Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Fazit des ersten Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6

Inhalt

II. Uneinholbare Heterogenität und literarische Geschichtsschreibung im Zeichen der ›Vertrauenskrise‹: Zum weiteren Korpus der ›Väterliteratur‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die ›dialogischen Väterbücher‹: Henisch, Rehmann und Plessen . 7.1. Dialoge gegen das Vergessen: Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Institutionskritik und deutsche Pfarrer : Ruth Rehmanns Der Mann auf der Kanzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3. Institutionskritik und deutscher Adel: Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Die ›monologischen Väterbücher‹: Rauter, Schwaiger, Gauch und Seuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1. Bernward Vesper als Proletarier : E. A. Rauters Brief an meine Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2. Anamnese und Sprachkritik: Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3. Väter als Täter, oder : »[D]ie Toten vor satten Tischgesprächen und vollen Bäuchen retten«. Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder . . . . . . . . . .

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9. Zwei Spezialfälle: Jutta Schuttings Der Vater und Peter Härtlings Nachgetragene Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1. Idiosynkratische Trauerarbeit: Jutta Schuttings Der Vater . . . . 9.2. Ein Werk der neuen Subjektivität: Peter Härtlings Nachgetragene Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. Zu Genese und Tradition der ›Väterliteratur‹ unter Berücksichtigung des historischen Romans des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . .

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11. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglenverzeichnis

DR: Vesper, Bernward: Die Reise. Reinbek: Rowohlt, 72009. SM: Meckel, Christoph: Suchbild. Meine Mutter. Frankfurt am Main: Fischer, 2005. SV: Meckel, Christoph: Suchbild. Über meinen Vater. Frankfurt am Main: Fischer, 2005.

Danksagung

Das vorliegende Buch hätte ohne die Betreuung und Unterstützung durch meinen Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Pross nicht geschrieben werden können. Ihm sei an dieser Stelle ganz besonders herzlich für sein Engagement gedankt. Für das sorgfältige Lektorat und die anregenden Gespräche bedanke ich mich bei Dr. Thomas Richter und Luise Baumgartner. Mein Dank für die Betreuung des Manuskripts gebührt Ruth Vachek von V&R unipress – auch den Herausgebern der Reihe »Palaestra« möchte ich hier meinen Dank aussprechen. Dankenswerte Unterstützung bei der Arbeit an diesem Text erhielt ich zudem durch meine Eltern, Prof. Dr. Yahya Elsaghe, Michael Tüller, Moritz Wagner, Luca Liechti, Peter Henisch und Alex Hogue. Für die Abdruckgenehmigung der Umschlagabbildung danke ich Gerhard Richter. Die Forschungsarbeit wurde durch ein großzügiges Stipendium der Dr. Jos¦phine de K‚rm‚n-Stiftung teilfinanziert.

1. Einleitung und Forschungsstand I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked […]. – Allen Ginsberg Ceux qui savent s’observer eux-mÞmes et qui gardent la m¦moire de leurs impressions, ceux-l— qui ont su […] construire leur baromÀtre spirituel, ont eu parfois — noter, dans l’observatoire de leur pens¦e, d’heureuses journ¦es, de d¦licieuses minutes. – Charles Baudelaire Eine hermeneutische Wissenschaft, die nicht mehr nach Bedeutungen fragt, gibt sich selbst auf. – Wolfgang Frühwald

In der germanistischen Forschung zu autobiographisch1 geprägten Texten der Nachkriegsliteratur begegnet an verschiedenen Stellen das Konzept einer ›Väterliteratur‹. Diverse für ihre Generation repräsentative Autoren, auf denen der Fokus dieser Arbeit liegen soll, werden fast immer genannt, wenn von besagter ›Väterliteratur‹ die Rede ist. Besonders relevant für den ersten Teil der vorliegenden Studie sind zunächst Bernward Vesper und Christoph Meckel. Vespers »Romanessay«2 Die Reise, posthum veröffentlicht im Jahre 1977, und Meckels

1 In Bezug auf Die Reise, aber auch auf andere ›Väterbücher‹, könnte man überzeugend argumentieren, dass man es nicht mit Autobiographien, sondern mit Autofiktionen im Sinne Serge Doubrovskys zu tun hat. Grob gesagt ist Autofiktion eine Form des autobiographischen Schreibens, die »den Schreibakt bzw. die Sprache selbst zum Gegenstand der Autobiographie erheb[t]«; die Autofiktion stellt also ein »[g]attungstypologisch[es] Hybrid dar, da sie trotz vorhandener Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist ein Roman zu sein beansprucht, so dass man auch hier eine systematisch betriebene ›Unaufrichtigkeit‹ vorfindet« (Gronemann, Claudia: »›Autofiction‹ und das Ich in der Signifikantenkette. Zur literarischen Konstitution des autobiographischen Subjekts bei Serge Doubrovksy«. Poetica 31 (1999): p. 237 – 262. Hier: p. 240). Oder in Doubrovskys Worten: »Si j’essaie de me rem¦morer, je m’invente. […] JE SUIS UN §TRE FICTIF« (Doubrovsky, Serge: Le Livre bris¦. Paris: LGF – Livre de Poche, 1989. Hier : p. 274, Großschreibung im Original). Auf die Frage, ob Die Reise Autofiktion ist, soll in der Folge nicht näher eingegangen werden – hier genügt die Feststellung, dass Vespers ›Romanessay‹ auf jeden Fall viele Kriterien von Doubrovskys Terminus erfüllt und im Rahmen dieser Arbeit Die Reise nur aus Gründen der Einfachheit durchgehend als ›Autobiographie‹ taxieren wird. 2 Vesper, Bernward: Die Reise. Reinbek: Rowohlt, 72009. Hier: p. 603. Was ein ›Romanessay‹ genau ist, bleibt unklar – Vesper verwendet das Wort nur im Paratext, und seine Bedeutung muss während der Lektüre abgeleitet und erschlossen werden. Wahrscheinlich lässt sich der Terminus mit der hybriden Form der Reise erklären, also der charakteristischen Mischung aus faktualen und fiktionalen Elementen und der Einflechtung theoretisierender Passagen. Auf

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Einleitung und Forschungsstand

Suchbild. Über meinen Vater von 1980 gelten als paradigmatische »Väter-Bücher«, als »Grundmuster«3 einer postulierten »Väter-Literatur«4, in der »Kritik am Vater als dem symbolischen Vertreter der Macht und des Gesetzes«5 geübt werde. Wenn man von Meckel und Vesper absieht, erscheint das Themengebiet zunächst kaum überblickbar, da in den Siebziger- und Achtzigerjahren im deutschsprachigen Raum Literatur mit autobiographischer Färbung florierte: 1983 publizierte Sandra Frieden eine Auswahlliste mit fast zweihundert entsprechenden Werken, die zwischen 1961 und 1983 erschienen waren6. Wenn wir unser Interesse aber streng auf die ›Väterliteratur‹ beschränken, konstatieren wir in der relevanten Sekundärliteratur eine überraschende Einigkeit über ein kompaktes Korpus, das im zweiten Teil dieser Arbeit einer eingehenden Analyse unterzogen werden soll: Neben Vesper und Meckel werden meist auch Brigitte Schwaiger7 (Lange Abwesenheit, 1980), Elisabeth Plessen8 (Mitteilung an den

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Form und Sinn dieser idiosynkratischen Verflechtung, die für die ›Väterliteratur‹ typischer ist als man vielleicht erwarten würde, wird im Verlauf dieser Arbeit noch näher eingegangen. Frühwald, Wolfgang: »Vaterland – Muttersprache… Zur Tradition der modernen Väterliteratur«. Deutsche Väter. Über das Vaterbild in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Loccumer Protokolle 6 / 1981. Tagung vom 20. bis 22. Februar 1981. Hg. von Karl Ermert und Brigitte Striegnitz. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum, 1981: p. 99 – 124. Hier: p. 118. Anz, Thomas: »Das Gesetz des Vaters. Autorität und Familie in der Literatur, Psychoanalyse und Kulturwissenschaft des 20. Jahrhunderts«. Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur. Hg. von Claudia Brinker-von der Heyde und Helmut Scheuer. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang, 2004 (= MeLis Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik / Amerikanistik, Germanistik und Romanistik, Bd. 1), p. 185 – 224. Hier: p. 196. Venske, Regula: »Frauenliteratur – Literatur von Frauen«. Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München: dtv, 1992 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 12): p. 245 – 278. Hier : p. 272. Siehe Frieden, Sandra: Autobiography. Self into Form. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang, 1983. Hier: p. 56 ff. Siehe auch Ulmer, Anne Close: »The Son as Survivor. Peter Henisch’s Die kleine Figur meines Vaters«. Germanic Review 61.2 (1986): p. 57 – 64. Hier: p. 57. Beispielsweise bei Grimm, Reinhold: »Elternspuren, Kindheitsmuster. Lebensdarstellung in der jüngsten deutschsprachigen Prosa«. Vom Anderen und vom Selbst. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Königstein: Athenäum, 1982: p. 167 – 182. Hier: p. 167; Hanlin, Todd C.: »Professionalism, Patriotism, or Opportunism? – An Austrian Dilemma. Peter Henisch’s Die kleine Figur meines Vaters«. Modern Austrian Prose. Interpretations and Insights. Hg. von Paul F. Dvorak. Riverside CA: Ariadne Press, 2001: p. 86 – 106. Hier : p. 86; Assmann, Aleida: »Hilflose Despoten. Väter in der deutschen Gegenwartsliteratur«. Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Hg. von Dieter Thomä. Berlin: Suhrkamp, 2010: p. 198 – 214. Hier: p. 198; Kosta, Barbara: »Väterliteratur, Masculinity, and History«. Conceptions of Postwar German Masculinity. Hg. von Roy Jerome. Albany : State University of New York Press, 2001: p. 219 – 241. Hier : p. 220; Seeba, Hinrich C.: »Erfundene Vergangenheit. Zur Fiktionalität historischer Identitätsbildung in den Väter-Geschichten der Gegenwart«. Germanic Review 66.4 (1991): p. 176 – 182. Hier: p. 178; Schmitz, Helmut: »Dealing with the Obscenity of Death: Aesthetics, Ritual and Memory in Jutta Schutting’s Der Vater«. Critical Essays on Julian Schutting. Hg. von Harriet Murphy. Riverside CA: Ariadne Press, 2000: p. 64 – 88; Bagley, Petra M.: »The Death of a Father, the Start of a Story. Bere-

Einleitung und Forschungsstand

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Adel, 1976), Peter Härtling9 (Nachgetragene Liebe, 1980), Sigfrid Gauch10 (Vaterspuren, 1979), E. A. Rauter11 (Brief an meine Erzieher, 1979), Peter Henisch12 (Die kleine Figur meines Vaters, 1975), Jutta Schutting13 (Der Vater, 1980), Ruth Rehmann14 (Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater, 1980) und Günter Seuren15 (Abschied von einem Mörder, 1980) genannt. Gegenstand dieser Arbeit ist demnach eine bestimmte Form autobiographisch gefärbter Erzählliteratur, die ungefähr von der Mitte der Siebzigerjahre bis in die frühen Achtzigerjahre Konjunktur hatte – sie basiert in der Regel auf den »Reflexionen und Erfahrungen der sogenannten ›zweiten Generation‹, verstanden als die Generation der während der nationalsozialistischen Herrschaft und in den unmittelbar darauffolgenden Jahren Geborenen«16 (wobei die 1922 zur Welt gekommene Ruth Rehmann eine wichtige Ausnahme bildet). Die vorliegende Studie berücksichtigt Werke deutscher und österreichischer Autorinnen und Autoren, nicht aber Texte von Schweizerinnen und Schweizern: Die Probleme und Fragen der Verdrängung und Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit sind für die ›Väterliteratur‹ zu zentral, als dass der anders gelagerte Schweizer Kontext hier ebenfalls in Betracht gezogen werden könnte.

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avement in Elisabeth Plessen, Brigitte Schwaiger and Jutta Schutting«. New German Studies 16 (1990 – 1991): p. 21 – 38. Hier : p. 21; Figge, Susan G.: »›Father Books‹. Memoirs of the Children of Fascist Fathers«. Revealing Lives. Autobiography, Biography, and Gender. Hg. von Susan Groag Bell und Marilyn Yalom. Albany : State University of New York Press, 1990: p. 193 – 201. Hier: p. 239. Beispielsweise bei Grimm 1982: p. 169; Assmann: p. 203; Kosta: p. 220; Forster, Heinz und Paul Riegel: Deutsche Literaturgeschichte Band 12. Die Gegenwart 1968 – 1990. München: dtv, 1990 (= Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 12). Hier : p. 107; Figge 1990: p. 239; Schmitz: p. 64; Kenkel, Konrad: »Der lange Weg nach innen. Väter-Romane der 70er und 80er Jahre. Christoph Meckel Suchbild: Über meinen Vater (1980), Elisabeth Plessen Mitteilungen [sic!] an den Adel (1976) und Peter Härtling Nachgetragene Liebe (1980). Der Deutsche Roman nach 1945. Hg. v. Manfred Brauneck. Bamberg: C. C. Buchners Verlag, 1993 (= Themen – Texte – Interpretationen, Bd. 13): p. 167 – 187. Hier: p. 177. Beispielsweise bei Grimm 1982: p. 167; Assmann: p. 201; Seeba: p. 179; Kenkel: p. 181; Barner : p. 618; Forster und Riegel: p. 108; Kosta: p. 220; Hanlin: p. 86. Beispielsweise bei Grimm 1982: p. 167; Assmann: p. 203; Kosta: p. 220; Schmitz: p. 64; Barner : p. 619. Beispielsweise bei Grimm 1982: p. 167; Figge 1990: p. 239; Gehrke, Ralph: Literarische Spurensuche. Elternbilder im Schatten der NS-Vergangenheit. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992. Hier : p. 271. Beispielsweise bei Barner : p. 619; Schmitz: p. 64; Bagley : p. 21; Assman: p. 211. Heute Julian Schutting. Beispielsweise bei Grimm 1982: p. 169; Assmann: p. 213; Schmitz: p. 64; Bagley : p. 21; Figge 1990: p. 239; Kosta: p. 220; Hanlin: p. 86. Beispielsweise bei Grimm 1982: p. 167; Kosta: p. 220; Hanlin: p. 86. Beispielsweise bei Figge 1990: p. 239; Gehrke: p. 146; Mauelshagen, Claudia: Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang, 1995 (= Marburger germanistische Studien, Bd. 16). Hier: p. 246. Mauelshagen: p. 12.

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Einleitung und Forschungsstand

Ebenso wird sich der Verfasser erlauben, die »zweite Folge«17 der ›Väterbücher‹ aus den Achtzigerjahren (u. a. von Niklas Frank, Ludwig Harig und Peter Schneider) zu übergehen: uns interessiert hier nämlich die Unmittelbarkeit der literarischen Reaktion der ›zweiten Generation‹ auf die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Eltern und ihres Landes, sowie die problembehaftete literarhistorische Einordnung dieser ersten Welle der ›Väterbücher‹ in die neue Subjektivität. Der ›Väterliteratur‹, die sich angeblich aus den genannten Texten konstituiert18, sprechen Interpreten wie Barbara Kosta ohne weiteres den Status eines »genre«19 zu, hier wohl zu verstehen als »[h]istorische Gruppenbildung von Texten« und »Synonym für literarische Gattung«20. Kosta definiert dieses als eine Form von »autobiography / biography […] in which sons and daughters probe[] their fathers’ involvement in the Third Reich while creating a literary mirror for self-reflection«21. Das Aufkommen dieses angeblich neuen Genres sieht sie als Begleiterscheinung der sogenannten neuen Subjektivität der Siebzigerjahre22 – eine gängige These, auf die im Verlauf dieser Arbeit noch kritisch eingegangen wird. Zur Veranschaulichung des Gegenstandes der vorliegenden Studie sollen hier im Zuge eines kurzen Überblicks über den Stand der Forschung zur ›Väterliteratur‹ noch weitere Definitionsansätze erwähnt und einem kritischen Vergleich unterzogen werden. Petra Bagley definiert ›Väterliteratur‹ als Manifestation eines »search for one’s self« auf Seiten der betreffenden Autorinnen und Autoren, wobei die angestrebte Identitätskonstitution »the rejection of the paternal role-model«23 bedinge. Diese Geschichten, so Bagley, seien stets eingebettet in ihre »social situation« und »political era«24. Helmut Schmitz macht als zentrales Merkmal des »genre[s]« die »ambiguous and conflict-ridden emotional relationship [der Autoren, Anm. v. J. R.] with the father« aus, wobei dieser 17 Gehrke: p. 275. 18 Schon jetzt fällt auf, dass kaum ein Werk der ›Väterliteratur‹ in allen Sekundärtexten zum Genre Erwähnung findet. Die Korpora, auf die sich die jeweiligen Autoren berufen, wenn sie von ›Väterliteratur‹ sprechen, sind in den meisten Fällen eng umrissen und immer sehr selektiv. Die Vermutung, dass dieses Fehlen einer Gesamtschau des angeblichen Genres in den verschiedenen hier gegebenen Definitionen der ›Väterliteratur‹ der Plausibilität ebendieser Definitionen abträglich ist, wird sich in der Folge erhärten. Löbliche Ausnahmen bilden nur Ralph Gerkes und Claudia Mauelshagens materialreiche und anschlussfähige Monographien, von denen noch ausführlicher die Rede sein wird. 19 Kosta: p. 230. Siehe auch Schmitz: p. 86. 20 Lamping, Dieter: »Genre«. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar et al. Berlin & New York: De Gruyter, 2007: p. 704 f. Hier: p. 704. 21 Kosta: p. 220. 22 Ebd. 23 Bagley : p. 22. 24 Ebd.

Einleitung und Forschungsstand

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Konflikt primär der »alienation from the father«25 entspringe, die ihrerseits aus der Gefühlskälte der Väter resultiere. Auch Schmitz schreibt der ›Väterliteratur‹ eine politische Dimension zu, auf deren konkrete Eigenschaften und Ausformungen er allerdings nicht eingeht: »Because these books circle round the issue of the father’s involvement in National Socialism the texts invariably deal with issues of history, personal and national identity, as well as with the question of continuity«26. Das Konzept einer ›Väterliteratur‹ erscheint Schmitz nicht zuletzt deshalb gerechtfertigt, weil es eine »scarcity of books on mothers«27 gebe (hierzu später mehr). Nach Susan Figges Ansicht kam die ›Väterliteratur‹ in »the early 1970s« auf: Es handele sich bei diesen Prosatexten um »autobiographical father memoirs […] about Nazi fathers, or about fathers who compromised or collaborated […]«28. Somit sei die ›Väterliteratur‹ kein Forum für die individuellsubjektive »self pity« der Autorinnen und Autoren, sondern vielmehr Ausdruck der Suche nach »a usable past in the service of a responsible private and political life in the present«29 – eine politische Komponente hat die ›Väterliteratur‹ also auch gemäß Figges Definition; detaillierte Ausführungen zu diesem Aspekt vermisst man aber wie schon bei Schmitz. Bei Figge figurieren die Texte der ›Väterliteratur‹ ebenfalls als Zeugnisse einer Identitätssuche in Abgrenzung von den Vätern, einer Identitätssuche aber, die in Figges Augen noch gendertheoretisch relevante Aspekte aufweist: But [the books] are also about fathers and their children in the psycho-sociocultural setting of the postwar family. The sons’ and daughters’ need to understand the father’s role in the Third Reich is connected to their personal experience of his often arbitrarily authoritarian and emotionally meager parenting and to his own silence about or distortion of his past. The biographical inquiry into the father’s life and his child’s autobiographical inquiry into the origins of the self are linked together in this new German sub-genre of literature, which focuses on gendered authority in the family and its personal and political consequences.30

Heinz Forster und Paul Riegel verorten die ›Väterliteratur‹ wie Kosta im Dunstkreis der neuen Subjektivität – einer literarischen Strömung also, für welche die entpolitisierte »Beschäftigung mit dem eigenen Ich«31 charakteristisch ist. Dementsprechend grenzen sie die ›Väterliteratur‹ als angebliche Begleiterscheinung der neuen Subjektivität von der kämpferischen Literatur der 68er-Generation ab; der politische Gehalt, den Bagley, Schmitz und Figge der 25 26 27 28 29 30 31

Schmitz: p. 64. Ebd.: p. 65. Ebd.: p. 86. Figge 1990: p. 193. Ebd.: p. 201. Ebd.: p. 193. Forster und Riegel: p. 106.

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Einleitung und Forschungsstand

›Väterliteratur‹ zuschreiben, wird demzufolge in dieser Definition kassiert. Dieser Widerspruch ist, wie wir noch sehen werden, ein zentrales Problem des literaturwissenschaftlichen Umgangs mit der ›Väterliteratur‹: Wenn sich die Angehörigen dieser Generation [der Ende der Dreissiger-, Anfang und Mitte der Vierzigerjahre geborenen Autorinnen und Autoren, Anm. v. J. R.] noch einmal mit ihren Eltern und deren Vergangenheit auseinandersetzten, ging es nicht – wie 1968 – um ein Anprangern eines politischen Fehlverhaltens, sondern eher um die Bestimmung und Auslotung der eigenen Person: Wieviel von den Eltern trage ich in mir, und welche Entwicklungen sind durch dieses ›Erbe‹ in mir ausgelöst worden?32

Ganz anders drückt sich Wilfried Barner aus, dem die ›Väterliteratur‹ als pointierter Ausdruck einer »Generationskonfrontation« gilt, »die die Verfehlungen dieser Vätergeneration geißelt, und [einen] Rekonstruktionsversuch der in der eigenen Kindheit erfahrenen Beschädigungen [unternimmt]«33. Eine reduktive und knappe Definition gibt Todd Hanlin: In seinen Augen ist die ›Väterliteratur‹ »literature about a generation of fathers who were possibly complicit in Nazi crimes«34. Sehr selbstbewusst äußert sich schließlich Ernestine Schlant: Sie hält die genannten ›Väterbücher‹ allesamt für »strikingly similar in theme and content« und attestiert ihnen einen »homogeneous point of view«, insofern als die Autorinnen und Autoren »part of the student generation« seien und mit wütendem Gestus, mit »rage«35, über die Väter schrieben. Die Mütter seien in allen Texten »peripheral figures«36 und die ›Väterliteratur‹ generell apolitisch: One might assume that the process of self-exploration would include reflections on the authoritarian family structure of which most of these authors feel they are victims […] and that they would hint at some connections between family life and political practice. Yet this is rarely the case.37

Schon jetzt werden erste Widersprüche ersichtlich, besonders in Bezug auf die literarhistorische Verortung der ›Väterliteratur‹ (ist sie Teil der neuen Subjektivität oder nicht?). Jedoch müssen wir unseren Überblick über den Forschungsstand komplettieren, bevor wir in der Folge den Versuch unternehmen, einige hier geschilderte Zugänge zu den ›Väterbüchern‹ zu kritisieren. Eine etwas profundere Betrachtung verdienen zunächst die Definitionen der ›Väterliteratur‹, die Konrad Kenkel und Aleida Assmann vorgelegt haben. Kenkel situiert die fraglichen Werke wie Kosta und Forster und Riegel im Kontext der 32 33 34 35

Ebd. Barner : p. 617. Hanlin: p. 86. Schlant, Ernestine: The Language of Silence. West German Literature and the Holocaust. New York und London: Routledge, 1999. Hier: p. 85. 36 Ebd.: p. 88. 37 Ebd.: p. 86.

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»Ernüchterung« und des damit einhergehenden »Rückzug[s] in die Subjektivität«38 nach 1968. Konsequenterweise gilt ihm die ›Väterliteratur‹ als »emotionale Spurensicherung [der] persönlichen Herkunft«, die in dieser Form »nur vom einzelnen Individuum und nicht im Kollektiv angegangen werden«39 könne. Kenkel datiert die ›Väterliteratur‹ auf die »späten siebziger Jahre[]«40 und macht als zentrales Thema »die jeweilige Beziehung zum Vater […] unter weitgehendem Ausschluss der Mütter«41 aus. Entsprechend der Einordnung der ›Väterliteratur‹ in die neue Subjektivität der Siebzigerjahre attestiert Kenkel dem Genre »eine Privatisierung des Politischen […], die zwangsläufig der vorhergegangenen Politisierung des Privaten folgt«42. Die politische Färbung der ›Väterliteratur‹ wird also bei Kenkel, wie bei Forster und Riegel, nicht in den Blick genommen, wohl nicht zuletzt, weil sonst die Verschaltung von ›Väterliteratur‹ und neuer Subjektivität gefährdet wäre. Jedenfalls stellen die beiden prägenden Charakteristika der ›Väterliteratur‹, die Kenkel in seinem Text herausarbeitet, eine prägnante Synthese der bislang diskutierten Definitionsansätze dar und sollen hier kurz wiedergegeben werden. Zunächst hält Kenkel richtig fest, dass »der Tod des Vaters« am Anfang der meisten »Väterromane«43 stehe. Zudem ist kaum zu bestreiten, dass »der Leser«44 in sämtlichen »Vaterbücher[n]«45 mit »einem Kommunikationszusammenbruch konfrontiert« wird, »dessen Ursprung« die verschiedenen Autorinnen und Autoren zu »ergründen«46 suchen – dieses Merkmalspaar, der Tod des Vaters und die Kommunikationskrise zwischen den Generationen, bildet, wie wir gleich sehen werden, den kleinsten definitorischen Nenner zwischen den verschiedenen Forschungsbeiträgen zur ›Väterliteratur‹. Allerdings rückten die in der Familie und den Institutionen der Nachkriegszeit gründenden Mechanismen der Verdrängung, welche den besagten »Kommunikationszusammenbruch« verursachten, vor ihrer (väter-)literarischen Bearbeitung schon in den Fokus eines »sozialpsychologische[n] Deutungsversuch[s]«47. Die Rede ist von Alexander und Margarete Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern (1967), eine Arbeit, auf die in der Forschung zur ›Väterliteratur‹ zu Recht verwiesen wird48.

38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Kenkel: p. 167. Ebd. Ebd.: p. 186. Ebd.: p. 168. Ebd.: p. 169. Kenkel: p. 185. Ebd.: p. 184. Barner : p. 617. Kenkel: p. 184. Gehrke: p. 25. Siehe beispielsweise Schneider, Michael: »Fathers and Sons, Retrospectively : The Damaged

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Ohne an dieser Stelle bereits Bekanntes auswalzen zu wollen, sei erwähnt, dass eine überraschende Deckungsgleichheit zwischen dem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse der Mitscherlichs und dem literarischen Erkenntnisinteresse der ›Väterliteraten‹ festzustellen ist. Beiden geht es in ihren je unterschiedlichen Forschungsgebieten um, in Mitscherlichs Worten, die Untersuchung von »psychische[n] Prozesse[n] […], als deren Folge sich Freiheit oder Unfreiheit der Reflexion und der Einsicht ausbreiten«49 : um die Frage also, wie es zum Nationalsozialismus überhaupt kommen konnte, welche die Mitscherlichs gleichsam auf der sozialpsychologischen Makroebene – mit Bezug auf »große[] Gruppen«50 – zu beantworten suchen. Aus dieser Herangehensweise an eine damals noch brisante und kaum bearbeitete Thematik ergibt sich zwangsläufig die zweite Grundfrage der Mitscherlichs, nämlich die Frage, »warum bis heute die Epoche des Dritten Reiches […] nur unzulänglich kritisch durchdrungen wurde«51. Gemäß dem Erklärungsmodell der Mitscherlichs gelang es Hitler, den nach der Weltkriegsniederlage und der Demütigung des Versailler Vertrags an »IchSchwäche«52 leidenden Deutschen ein neues »kollektives Ich-Ideal«53 vorzustellen: »Hitler hatte der deutschen Öffentlichkeit in Stadt und Land [ermöglicht] […], an die Realisierung ihrer infantilen Omnipotenzphantasien glauben zu dürfen. Es waren archaische Triebrepräsentanzen, denen Befriedigung versprochen worden war«54. Mit dem Tod des ›Führers‹ und der Kriegsniederlage verschwand das Hitlersche »Ich-Ideal« und die Machtversprechen blieben unerfüllt. Der resultierende »Verzicht auf diese primärprozesshaft erlebte Geborgenheit in einem gemeinsam geteilten Ich-Ideal brachte […] erhebliche Beängstigung mit sich«55, denn der Verlust eines Ich-Ideals kommt im Grunde einer narzisstischen Kränkung gleich. Die kollektive Reaktion auf dieses Trauma war eine bis dato ungekannte Verdrängungsleistung: Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst; sie gelingt durch den Rückzug bisher starker libidinöser Besetzungen. Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht. […] [Hitler] war ein Objekt, an das man sich anlehnte, dem man Verantwortung übertrug, und ein inneres Objekt. Als solches repräsentierte und belebte er aufs neue die Allmachtsvorstellungen, die wir aus der frühen Kindheit über uns hegen;

49 50 51 52 53 54 55

Relationship Between Two Generations«. New German Critique 31 (1984): p. 3 – 51. Hier: p. 6 f.; Gehrke: p. 25 ff. Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper, 222009. Hier : p. 7. Ebd. Ebd.: p. 8. Gehrke: p. 25. Mitscherlich: p. 34. Ebd. Ebd.

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sein Tod und seine Entwertung durch Sieger bedeutete auch den Verlust eines narzisstischen Objekts und damit eine Ich- oder Selbstverarmung und –entwertung.56

Es erübrigt sich, im Detail zu zeigen, wie genau diese Analyse auch auf viele der in der ›Väterliteratur‹ geschilderten Eltern zutrifft57. Wichtig ist hier die Feststellung einer überraschenden Gleichzeitigkeit: Literarische Vergangenheitsverarbeitung durch ›Väterliteratur‹ koinzidiert mit der von den Mitscherlichs vorgenommenen sozialpsychologischen Makroanalyse der Möglichkeitsbedingungen des Nationalsozialismus und der kollektiven Verdrängung nach 1945. Im Zusammenhang mit den Thesen der Mitscherlichs steht die ›Väterliteratur‹ aber für mehr als nur den Nachweis, »dass sich durch den Generationswechsel der Verdrängungseffekt zunehmend verflüchtig[t]«58, wie Gehrke schreibt. Natürlich liegt man nicht falsch, wenn man postuliert, dass die ›Väterliteratur‹ gleichsam ergänzend zum Mitscherlichschen Ansatz auf einer Mikroebene die Genese faschistischen und nationalsozialistischen Denkens im privaten Raum der Familie zu erklären versucht. Im Verlauf dieser Studie werden wir aber immer wieder Gelegenheit finden, auf die bislang kaum beachtete gesellschaftsund institutionskritische und historiographische, also durchaus ›sozialpsychologische‹ Analyseebene der ›Väterliteratur‹, hinzuweisen. Dass es sich hier überhaupt um Literatur handelt, die oft über das Subjektive weit hinausgeht und eine starke analytische Komponente, ein genuines Erkenntnisinteresse aufweist, wurde bislang oft ignoriert. Wie wir noch im Detail zeigen werden, reicht die in der ›Väterliteratur‹ behandelte Problematik »beyond the familial confines of the classic oedipal struggle and projects the son’s battle against the father into the social and historical sphere«59. Oft hat man im Umgang mit den ›Väterbüchern‹ den Fokus allzu sehr auf die in der Nachkriegszeit wirksamen Verdrängungsmechanismen gelegt, wodurch leicht vergessen werden konnte, dass ebendiese Texte durchaus als eigenständige historiographische Beiträge zur Vergangenheitsbewältigung lesbar sind. So spricht Peter Sichrovsky in der Einleitung zu seinen 1987 erschienenen Interviews mit Nachkommen von Nazi-Tätern etwas überspitzt von einer »kollektiven Verdrängung« und hält resigniert fest: »Aber die Sache ist bereits gelaufen. Heute studieren bereits die Enkel der Täter auf den Universitäten, und ihre Eltern hatten die Chance versäumt, aus der Geschichte 56 Ebd.: p. 34 f. 57 Besonders beeindruckendes Anschauungsmaterial zur »libidinöse[n] Besetzung[]« der Beziehung zum Führer findet sich in Vespers Reise, z. B. in DR: p. 222. Siehe auch Gehrkes übersichtliche und an die Mitscherlichs angelehnte Herausarbeitung der Reaktionsmuster auf das kollektive Trauma des Führerverlusts in Gehrke: p. 26 f. 58 Gehrke: p. 28. 59 Critchfield, Anne L.: »Aestheticizing the Masculine. Schutting’s Der Vater«. Critical Essays on Julian Schutting. Critical Essays on Julian Schutting. Hg. von Harriet Murphy. Riverside CA: Ariadne Press, 2000: p. 89 – 111. Hier: p. 92.

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der Täter zu lernen«60. Das ist ein allzu harsches Verdikt über die ›zweite Generation‹, also die Kinder der Täter und Eltern der Enkel der Täter. Zumindest die ›Väterliteratur‹ repräsentiert, wie wir sehen werden, in weiten Teilen einen genuinen Beitrag der direkten Nachkommen der Mitläufer und Täter zur Aufarbeitung der Vergangenheit (unter den hier zu besprechenden Autorinnen und Autoren finden sich tatsächlich auch Söhne von genuinen Tätern und Kriegsverbrechern). Um nun auf Kenkel zurückzukommen: Dieser geht mit Bezug auf die Kommunikationskrise noch etwas weiter als andere Autoren und bezieht sich nicht nur auf die bei den Mitscherlichs analysierten Verdrängungsmechanismen und die offensichtliche Tatsache, dass in sämtlichen zur Diskussion stehenden Texten die Kommunikation zwischen den Generationen empfindlich gestört ist61, sondern konstatiert überdies, dass »Sprache als Verständigungsbasis«62 in der ›Väterliteratur‹ grundsätzlich problematisiert wird, oder, in anderen Worten: »[H]ier geht es um […] persönliche Geschichtsbilder und deren sprachliche Manifestation«, das heißt, den euphemisierenden oder allein der Verdrängung der Vergangenheit dienenden »Jargon[s]« und »Sprachklischees« der Väter begegnen die schreibenden Nachkommen mit der »genau gegenteilige[n] Schreibintention«63 ; sie wollen Klarheit erlangen über die Väter und damit über sich selbst. Auch Figge vertritt die Ansicht, dass in der ›Väterliteratur‹ nicht nur krisenhafte Kommunikationssituationen zur Darstellung gebracht werden, sondern sprachlich tradierte Deutungshoheit und damit sprachlich tradierte Autorität problematisiert werde: In these memoirs, a major feature of the father’s continuing authority is his appearance as the culturally legitimized arbiter of language and story – in short, of narrative. Narration involves principles of selection and ordering which generate and perpetuate the cultural patterns by which we live. In retelling their fathers’ lives and their own, in trying to uncover old patterns and inventing new ones, the sons and daughters must confront the father’s authoritarian insistence on his own narratives and his injunction to their narrative silence.64

In der Väterliteratur, so Figge und Kenkel, begegnet demnach eine Kommunikationskrise sowohl auf der Ebene des direkten verbalen Austausches wie auch auf der diskursiven Ebene, auf der die Deutungshoheit der Väter über die Geschichte (und die Familiengeschichte) für die Autorinnen und Autoren zu einem 60 Sichrovsky, Peter : Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1987. Hier: p. 23. 61 Siehe auch, vor allem zum Thema des väterlichen Schweigens über die Vergangenheit: Figge 1990: p. 193, 195; Schneider: p. 8. 62 Kenkel: p. 184. 63 Ebd.: p. 185. 64 Figge 1990: p. 195.

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erdrückenden Problem wird. Eines der Ziele der ›Väterliteratur‹ könnte somit sein, »to reinvent the discourse of the father altogether, to move outside an oedipal dialectic that insists upon revealing the father as law, as the gaze, as bodiless, or as the symbolic, and to develop a new dialectic that refuses to describe the father function as if it were univocal and ahistoric«65. Wenn man diesen vielversprechenden Ansatz zu Ende denkt – was Figge und Kenkel leider in ihren kurzen Beiträgen nicht tun –, dann erscheint die ›Väterliteratur‹ als eine Form von Geschichtsschreibung: »understandings of specific historical epochs are at stake«66, und die Väter werden als historisch fundierte »function« begriffen. Zu diesem Aspekt der ›Väterliteratur‹ werden wir uns immer wieder äußern; am Ende der Arbeit folgt auch ein Kapitel, das einen Konnex zum historischen Roman des 19. Jahrhunderts herstellt. In Aleida Assmanns jüngeren und in Teilen anschlussfähigeren Ausführungen figuriert die ›Väterliteratur‹ sodann als Erscheinung »der 1970er und 1980er Jahre«, die »aus unterschiedlichen Perspektiven das Grundproblem dieser Generation variiert, das, wie bereits der Name sagt, im Verhältnis zum eigenen Vater begründet ist«67. Im Unterschied zu Kenkel und anderen Autoren postuliert Assmann keinen Zusammenhang zwischen ›Väterliteratur‹ und neuer Subjektivität, sondern macht, was auch nicht ganz unproblematisch ist, die bereits erwähnte politische Komponente der ›Väterliteratur‹ zu deren wichtigstem Charakteristikum, indem sie die literarische Strömung in die Tradition von 1968 einordnet – Die Reise sieht sie dementsprechend als »Prototyp der Gattung«68. Das ist zwar eine realistischere Sichtweise als die Paarung von ›Väterliteratur‹ und neuer Subjektivität, wird aber der frappierenden Heterogenität des angeblichen Genres ebenfalls nicht gerecht; außerdem stellt gerade Die Reise aus verschiedenen noch zu erläuternden Gründen einen zeittypischen, inhaltlich und formal distinkten Sonderfall dar, der sich als »Prototyp« irgendeiner Gattung nicht eignet. Jedenfalls manifestiere sich in der ›Väterliteratur‹, so Assmann, ein »Bruch […], [der] gleichzeitig durch die Familie, durch die Gesellschaft und durch das politische System ging […] [und] die nachholende Bearbeitung eines in der Geschichte bereits vollzogenen Bruchs [darstellte]: des Zivilisationsbruchs des Holocaust«69. Diese prägnante Definition der ›Väterli65 Refiguring the Father. New Feminist Readings of Patriarchy. Hg. von Patricia Yaeger und Beth Kowaleski-Wallace. Carbondale: University of Southern Illinois Press, 1989. Hier : p. xf. (Einleitung). 66 Figge, Susan G.: »Fathers, Daughters, and the Nazi Past. Father Literature and its (Resisting) Readers«. Gender, Patriarchy and Fascism in the Third Reich. The Response of Women Writers. Hg. von Elaine Martin. Detroit: Wayne State University Press, 1993: p. 274 – 302. Hier: p. 277. 67 Assmann: p. 199. 68 Ebd.: p. 206, Anm. 12. 69 Ebd.: p. 198. Um es vorwegzunehmen: Assmann umschreibt hier im Groben das, was wir im

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teratur‹ führt Assmann in der Folge aus, indem sie, ähnlich wie Kenkel, die »narrativen Topoi«70 des Genres zu umreißen sucht; die wichtigsten sollen kurz wiedergegeben werden. Die erste »Gemeinsamkeit[]«71 der Texte der ›Väterliteratur‹, die Assmann herausarbeitet, muss uns nunmehr bekannt vorkommen: Der Tod des Vaters wird bei Assmann als Ausgangspunkt der verschiedenen Werke festgelegt; die »literarische Auseinandersetzung mit dem Vater« nehme überhaupt erst »ihren Anfang« unter dem »emotionalen Druck des endgültigen Abschieds, der eine neue Vermessung des Verhältnisses fordert«72. Aufgrund der bereits beschriebenen Kommunikationskrise zwischen den Generationen und der für die Nachkriegszeit überhaupt symptomatischen ›Unfähigkeit zu trauern‹ sei es nie zur klärenden Konfrontation gekommen, weshalb »[d]as Gespräch […] nach dem Tode« im literarischen Text »nachgeholt werden«73 müsse. Bemerkenswert ist Assmanns Erkenntnis, dass auch »[d]er Vater des Vaters« in den meisten Werken der ›Väterliteratur‹ eine signifikante Rolle spielt (wobei Reinhold Grimm schon 1982 eine ähnliche Einsicht formulierte74 und Ernestine Schlant ebenfalls lange vor Assmann auf diesen Umstand hinwies75): »Das Verhältnis des Vaters zu seinem Vater ist ebenfalls ein durchgängiges Motiv, und überall, wo es vorkommt, verweist es auf innerfamiliäre Leidens-, Opfer- und Schamgeschichten«76. Assmanns Annahme, dass eine Bewusstmachung dieser »genealogischen Bezüge« durch die Autorinnen und Autoren der ›Väterliteratur‹

70 71 72 73 74 75

76

weiteren Verlauf dieser Arbeit als ›Vertrauenskrise‹ definieren und als terminologische Alternative zur ›Väterliteratur‹ (jedenfalls in gewissen Fällen) einführen werden. Ebd.: p. 202. Ebd. Ebd.: p. 203. Ebd.: p. 204. Grimm 1982: p. 173. Schlant: p. 89. Die Gegenwart tyrannischer Großväter in vielen ›Väterbüchern‹ verleitet Schlant zum Vorwurf, dass sich die betreffenden Autorinnen und Autoren in »determinism« flüchten: »instead of translating this awareness [der Historizität des autoritären Verhaltens, Anm. v. J. R.] into action and breaking with the established bonds, many of them take refuge in an implicit determinism. […] [I]nvariably, a domineering grandfather is seen as the cause of the father’s dismal childhood and of the father’s later tyrannical behavior« (ebd.). Der Determinismusvorwurf ist meines Erachtens unberechtigt: Die Autoren verweisen auf die Menschen und Kontexte, welche die eigenen Väter formten, um so die Demütigungen, die sie selber während ihrer Kindheit erlitten, besser zu verstehen – damit wird aber nicht einem Determinismus das Wort geredet, der das Verhalten der Väter entschuldigt; ebensowenig flüchten sich die Autorinnen und Autoren in weinerliche Resignation. Ihre Bücher sind ja gerade die von Schlant unverständlicherweise vermissten Versuche, den Teufelskreis der von Generation zu Generation weitergegebenen Dysfunktionalität nicht nur zu verstehen, sondern zu durchbrechen. Dass dies nicht immer gelingt, ist klar, aber von Determinismus kann jedenfalls nicht die Rede sein. Assmann: p. 211. Assmanns Aussage ist allerdings zu präzisieren: Zumindest die Großmütter fungieren in den ›Väterbüchern‹ nicht als Repräsentantinnen »innerfamiliäre[r] Leidens-, Opfer- und Schamgeschichten«, sondern treten mehr als einmal als Sympathieträgerinnen in Erscheinung (so bei Meckel und Vesper).

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dazu diene, »die Väter besser verstehen zu können und sich dadurch dem destruktiven Bann unverarbeiteter Traumata zu entziehen«77, lässt sich vielleicht mit dem bereits erwähnten Motiv des Kampfes um die Diskursherrschaft kurzschließen: Indem die Geschichte des Leidens am Vater oder an den Eltern noch mindestens eine weitere Generation zurückverfolgt wird, gewinnen die Texte an analytischem Profil, und die Autoren können sich den Wurzeln der Traumata und der Schädigungen annähern, mögen sich diese auch als irreversibel erweisen. Dass allein schon die von allen erwähnten Interpreten außer Assmann, Brandstädter78, Schlant und Grimm übersehene Präsenz weiterer Generationen in der ›Väterliteratur‹ den Namen des Genres ad absurdum führt, liegt auf der Hand79 – hier tummeln sich eben auch Großväter (und Großmütter80). In unseren Einzelanalysen werden wir jeweils auf die Auseinandersetzung der Autorinnen und Autoren auch mit früheren Generationen hinweisen. An dieser Stelle müssen wir eine weitere prominente Forschermeinung zur ›Väterliteratur‹ erwähnen, die in der Folge ebenfalls problematisiert werden soll: Vielen Interpreten erscheint der Terminus ›Väterliteratur‹ unter anderem deshalb geeignet, weil sie die Meinung vertreten, dass die Mütter in den fraglichen Texten ausnahmslos keine oder nur eine extrem marginalisierte Rolle spielen81. Symptomatisch wirkt hier das Vorwort der Loccumer Tagung zur ›Väterliteratur‹, in dem es heißt: »Warum nicht über die Mütter geschrieben wurde, soll hier nicht diskutiert werden« – zum Glück, sonst hätte man eventuell im Verlauf der Konferenz noch bemerkt, dass in den ›Väterbüchern‹ durchaus »über die Mütter 77 Ebd.: p. 212. 78 Siehe Brandstädter, Mathias: Folgeschäden. Kontext, narrative Strukturen und Verlaufsformen der Väterliteratur 1960 bis 2008. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010. Hier: p. 267. 79 Außer natürlich, man stellt sich auf den etwas sophistischen Standpunkt, wonach die Großväter ja ihrerseits wiederum Väter seien und der Terminus ›Väterliteratur‹ somit durchaus seine Richtigkeit habe. Dieser Einwand wäre aber irreführend, insistiert die Sekundärliteratur doch ansonsten gern auf der Unmittelbarkeit des Konflikts zwischen Kriegsund erster Nachkriegsgeneration. Die Einbindung einer weiteren, älteren Generation in diesen Konflikt stört den angeblich konsistenten und homogenen Frontverlauf in den ›Väterbüchern‹ und verleiht den Texten zusätzliche Facetten sowie historische Grundierung. Zu erwähnen wäre hier außerdem, dass zuweilen auch die Kinder der Autoren in den Texten figurieren; so sind beispielsweise in Günter Seurens Abschied von einem Mörder insgesamt vier Generationen präsent. 80 Vgl. Fn. 78 und v. a. Peter Henischs ›Großmutterbuch‹ Eine sehr kleine Frau. 81 Siehe beispielsweise Kosta: p. 226 f.; Schmitz: p. 86; Figge 1990: p. 194; Kenkel: p. 168; Mauelshagen: p. 261; Hanlin: p. 86; Schlant: p. 88; Hulse, Michael: »Fathers and Mothers. Recent Works by Christoph Meckel, Brigitte Schwaiger, Jutta Schutting and Waltraud Anna Mitgutsch«. Antigonish Review 64 (1986): p. 133 – 141. Hier: p. 138 f. Löbliche Ausnahmen bilden diesbezüglich beispielsweise Gehrke und Grimm (zu beiden später mehr) und Wolfgang Frühwald, der schon 1981 festhielt: »Die Destruierung der Mutterwelt, ja der Mutterhass ist in [den ›Väterbüchern‹] fast gravierender noch als die Dekomposition des Vaters« (Frühwald: p. 117).

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geschrieben wurde«82. Die Prämisse der Mutterlosigkeit ist bereits im Begriff der ›Väterliteratur‹ enthalten – und sie stellt, wie wir sehen werden, nicht nur eine unzulässige Vereinfachung, sondern in vielen Fällen gar eine Verfälschung der Tatsachen dar. Denn die Mütter sind in einigen angeblichen ›Väterbüchern‹ Figuren von eminenter Wichtigkeit (besonders bei Bernward Vesper), und eine überraschende Zahl der hier berücksichtigten Autoren hat nach den ›Väterbüchern‹ noch ein ›Mutterbuch‹ nachgeliefert: So liegt von Christoph Meckel der Roman Suchbild. Meine Mutter vor, der das Suchbild. Über meinen Vater ergänzt, so hat Jutta Schutting in den Neunzigerjahren (bereits als Julian Schutting) einen Roman über den Tod meiner Mutter veröffentlicht, und so hat Peter Henisch mit Eine sehr kleine Frau immerhin ein (stark fiktionalisiertes) Porträt seiner Großmutter publiziert. Vor diesem Hintergrund scheint es verfehlt, wenn Kenkel das Fehlen der Mütter in einigen (aber eben nicht einmal allen) ›Väterbüchern‹ als Spiegelung der »Gesellschaft der späten sechziger Jahre« versteht, »die sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Familie von Männern beherrscht wurde«83 (in dieselbe Kerbe schlägt Mauelshagen, die in der ›Väterliteratur‹ eine »Widerspiegelung von Familienverhältnissen und -strukturen« sieht, »innerhalb derer die Bedeutung der Frau und Mutter tatsächlich geschrumpft ist«84). Ebenso wenig überzeugend ist Figges These, wonach die Mütter in »postwar famil[ies]« nun einmal »very little«85 zu sagen gehabt hätten und deshalb kaum in den Geschichten figurierten. Dass im Gegensatz zu solchen Forschermeinungen die Mutter-Kind-Beziehung in den Familien vieler Autorinnen und Autoren der angeblichen ›Väterliteratur‹ sehr zentral war, bezeugen zum einen die angeblichen ›Väterbücher‹ selbst, in denen die Mütter zuweilen eben durchaus wichtige Rollen besetzen, und zum anderen die erwähnten nachgereichten ›Mütterbücher‹. Hinzu kommen die Aussagen einiger hier diskutierter Autoren, wonach sie ihre zum Zeitpunkt der Publikation ihrer jeweiligen ›Väterbücher‹ meist noch lebenden Mütter nur in den Hintergrund ihrer Geschichten gestellt hätten, um sie zu schonen, aber nicht, weil sie für die Erzählungen unwichtig gewesen wären86. Dafür spricht auch, dass die ›Mütterbücher‹ Schuttings und Meckels jeweils kurz nach dem Ableben der jeweiligen Mütter publiziert wurden – die Autoren hatten 82 83 84 85 86

Deutsche Väter : p. 1. Kenkel: p. 168. Mauelshagen: p. 261. Figge 1990: p. 194. Dahingehend äußern sich z. B. Sigfrid Gauch in Deutsche Väter : p. 76; Christoph Meckel in Meckel, Christoph: Suchbild. Meine Mutter. Frankfurt am Main: Fischer, 2005. Hier : p. 182 und Brigitte Schwaiger in Koch-Klenske, Eva: »Solches Sprechen ist auch eine Heilung… Gespräch mit Brigitte Schwaiger«. Die Sprache des Vaters im Körper der Mutter. Hg. von Rolf Haubl et al. Giessen: Anabas, 1984: p. 153 – 162. Hier: p. 158 f.

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einfach Rücksichtnahme geübt, indem sie den Tod der Mutter abwarteten. Nicht zuletzt wird eine (kursorische und im ersten Teil der Arbeit vorzunehmende) Betrachtung aktueller geschichts- und familienwissenschaftlicher Forschung zeigen, dass gerade für die Kriegskinder (also für die allermeisten der hier zur Diskussion stehenden Autorinnen und Autoren) die Beziehung zur Mutter in Anbetracht des abwesenden (Kriegsdienst leistenden, in Gefangenschaft geratenen, verstorbenen oder vermissten) Vaters eminent wichtig war. Dass also der Begriff ›Väterliteratur‹ mit seiner stoßenden Vernachlässigung der Mutterfiguren eine reduktionistische Verirrung darstellt, lässt sich letztlich mit einem kleinen Gedankenexperiment, einer schlichten Inversion, ganz einfach demonstrieren: Es wäre ja ein Leichtes, auf der Basis einiger beliebig gewählter Beispieltexte87 eine ›Mütterliteratur‹ zu etablieren und damit eine ›Tradition‹ zu schaffen, die ebenso diffus, arbiträr und wenig aussagekräftig ist wie die der ›Väterliteratur‹. Solche Klassifizierungen erscheinen mithin willkürlich, blind, und bieten keinen Erkenntnisgewinn. Dass Claudia Mauelshagen gerade das tut – dass sie also neben die angebliche ›Väterliteratur‹ eine »Literatur über Mütter«88 mit eigenem Korpus stellt –, muss als Irrweg betrachtet werden; ein solcher Ansatz verkennt die komplexe Gegenwart beider Elternteile in den hier relevanten autobiographischen Romanen der Nachkriegszeit. Über diese Thematik wird in der Folge noch einiges zu sagen sein. An dieser Stelle verdient Reinhold Grimms kurze und exzellente frühe Analyse des Phänomens der ›Väterliteratur‹ eine konzise Erwähnung: Schon 1982 diagnostizierte Grimm in einem Aufsatz die meisten Probleme, mit denen wir uns in der Folge zu befassen haben und nahm bereits damals viele »nötige[] Berichtigungen und Modifizierungen«89 vor. Grimm kritisiert beispielsweise als Erster den Umstand, dass die Interpreten (seinerzeit primär Michael Schneider) »ausschließlich die Väter«90 in den Blick nehmen, ist doch, wie wir noch im Detail sehen werden, selbst im angeblich paradigmatischsten ›Väterbuch‹ – Vespers Reise – »die Mutter nicht weniger schlimm als der Vater«91. Auch die »terrible simplification«, die der Vorstellung eines ›Generationenkonflikts‹ eig87 Man denke an Josef Winklers Roman Muttersprache, an Hermann Burgers Die künstliche Mutter, an Roland Barthes’ Tagebuch der Trauer, an Peter Handkes Wunschloses Unglück, an Michael Lentz’ muttersterben oder an Urs Widmers Der Geliebte der Mutter – von den ›Mütterbüchern‹ der hier diskutierten angeblichen ›Väterliteraten‹ ganz zu schweigen. Wenn man diesen Ansatz weiterdenken wollte, könnte man sich beispielsweise auf der Basis von Texten von Uwe Timm (Am Beispiel meines Bruders) oder Hans-Ulrich Treichel (Der Verlorene) sogar eine ›Bruderliteratur‹ vorstellen; diese Studie versucht aber gerade zu zeigen, dass eine solche ›compartmentalisation‹ deutschsprachiger Literatur nicht zielführend ist. 88 Mauelshagen: p. 263. 89 Grimm 1982: p. 170. 90 Ebd.: p. 171. 91 Ebd.: p. 172.

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net, konstatiert Grimm bereits, und er bemerkt richtig, dass in der ›Väterliteratur‹ keineswegs »durchweg ein Gegensatz«92 zwischen den Generationen gestaltet wird. Grimm problematisiert mit Recht die Präsenz weiterer Generationen in den betreffenden Texten93 und verweist auf die enorme Heterogenität, welche die Etablierung eines gemeinsamen Genrebegriffs zu einem schwierigen und problematischen Unterfangen macht: »Jedenfalls sind die Haltungen dieser […] Schreibenden so vielfältig wie die Inhalte ihrer Bücher, bei aller Verwandtschaft der Grundkonstellation«94. Überzeugend ist außerdem Grimms terminologische Konsequenz (die im Rahmen der vorliegenden Studie leider nicht praktikabel erscheint): Nie verwendet Grimm in seinem Aufsatz den Begriff ›Väterliteratur‹, und generell geht er in seiner Betrachtung des Phänomens äußerst differenziert vor. Offenbar wurden Grimms Einwände aber kaum beachtet, denn sonst hätte sich die unzureichende Begrifflichkeit der ›Väterliteratur‹ nicht halten können. Diese Studie wird demnach einige Erkenntnisse, die Grimm schon 1982 vorwegnahm, im Detail nachzeichnen und untermauern, in der Hoffnung, dass sodann die von Grimm ursprünglich angestrebten »Berichtigungen und Modifizierungen« endlich möglich werden. Vorerst schließen wir diese Forschungsübersicht aber mit einer Betrachtung der Monographien von Ralph Gehrke, Claudia Mauelshagen und Mathias Brandstädter ab. Diesen Studien kommt ein besonderer Status zu: Als einzige Interpreten nehmen ihre Verfasser nämlich ein breites Korpus in den Blick und bieten eine ausgreifende Betrachtung der ›Väterliteratur‹. Dabei wendet sich Gehrke, wie wir das auch noch tun werden, in insgesamt acht »Einzelanalysen«95 fast allen bekannten Texten der ›Väterliteratur‹ zu96. Gehrkes Untersuchungen basieren also auf einer klugen und breiten Auswahl an Primärtexten; zudem berücksichtigt der Autor den damaligen Stand der Forschung zur ›Väterliteratur‹. Dieses Vorgehen erlaubt ihm, einige beachtenswerte und offenbar bis heute weitgehend ungehörte Präzisierungen und Problematisierungen vorzunehmen. So weist Gehrke mit Recht kritisch auf das zuvor erwähnte gendering des Begriffs ›Väterliteratur‹ hin: Die in der Sekundärliteratur häufig gewählte Bezeichnung ›Väterbücher‹ signalisiert, dass in den meisten Erzählungen die Vaterfigur im Zentrum steht. Aber ebensowenig, wie der Nationalsozialismus eine reine Männersache war, lässt sich das Leben in der 92 93 94 95 96

Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 173. Ebd. Gehrke: p. 249. Gehrke berücksichtigt Werke von Peter Henisch, Elisabeth Plessen, Sigfrid Gauch, Ruth Rehmann, Günter Seuren, Christoph Meckel, Barbara Bronnen und Hanns-Josef Ortheil; erwähnt werden zudem die einschlägigen Texte von E. A. Rauter, Brigitte Schwaiger und Paul Kersten.

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bundesdeutschen Nachkriegsfamilie ohne Mütter denken. Auch wenn sie in den Texten meistens im Hintergrund wirken, sollte das nicht dazu verleiten, ihre Rolle und ihren Einfluss zu unterschätzen.97

Diese partielle Blindheit der Rezeption verkennt, wie wir im Zuge unserer Beobachtungen auch noch feststellen werden, dass gerade die angeblichen »Väterbücher« die »biologistische Auffassung« widerlegen, wonach Frauen »per se prädestiniert [seien], der Faszination des Nationalsozialismus zu widerstehen«, denn »[a]us den Darstellungen der Mutterfiguren ergeben sich keine Hinweise darauf, dass die Frauen die ideologischen Überzeugungen ihrer Männer ablehnen oder etwa vorurteilsfrei wären«98, wie Gehrke vollkommen richtig bemerkt. Gehrkes Kritik wäre hier natürlich noch ein Verweis auf die oben aufgeführten ›Mütterbücher‹ aus der Feder angeblicher ›Väterliteraten‹ hinzuzufügen. Aufgrund dieser plausiblen Überlegungen spricht Gehrke mit Bezug auf die fraglichen Texte von »Elternbüchern«99, was zwar viel adäquater ist als ›Väterliteratur‹ oder ›Väterbücher‹, aber, wie wir sehen werden, ebenfalls keinen besonders geeigneten Terminus darstellt. Jedenfalls vertritt Gehrke bedauerlicherweise trotz dieser berechtigten Kritik und trotz der Beobachtung, dass »[d] ie bisherige Bewertung der literarischen Elternsuche […] kein einheitliches Bild [ergibt], sondern ein heterogenes«100, im Groben die Ansichten, die man auch bei anderen Forschern antrifft: Er situiert die ›Väterliteratur‹ im Kontext der neuen Subjektivität101 (wobei seine Position in dieser Frage im Text nicht ganz klar wird102), sieht im »Tod des Vaters« den »Ausgangspunkt für das Schrei97 Ebd.: p. 57 f. 98 Ebd.: p. 255. Der Illusion, wonach Frauen gegenüber den Verlockungen des Nationalsozialismus in irgendeiner Weise ›immun‹ gewesen seien, hängt noch Hulse an, der postuliert, dass allein die Männer – also die Väter der hier relevanten ›zweiten Generation‹ – für die nationalsozialistische Barbarei verantwortlich seien. Diese Überzeugung nimmt er zum Anlass, die Rolle der Mütter in den ›Väterbüchern‹ sträflich herunterzuspielen: »[I]t was the fathers who created the Nazi Reich and who fought its war, and so it is rightly the fathers who must answer to the generation that is left its legacy of doubt and barbarity. Mothers are often approached in a more intimate mood, […] without that extra dimension of historical hatred or despair« (Hulse: p. 139). 99 Beispielsweise ebd.: p. 65. 100 Ebd.: p. 56. 101 Ebd.: p. 44 f. 102 Gehrke drückt sich diesbezüglich etwas schwammig aus, aber im letzten Kapitel der Studie wird sein Positionsbezug deutlicher : Da konzeptualisiert er die ›Väterliteratur‹ nämlich als »konsequente[] Wendung aufs Subjekt«, die eine Aufarbeitung des Verdrängten befördere, welche – hier zitiert Gehrke Wolf-Dieter Narr – »nur von Individuen und kleinen Gruppen geleistet werden« könne (Gehrke: p. 273; Narr, Wolf-Dieter : »Der Stellenwert der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der gesellschaftlichen Diskussion heute«. Niemandsland 1 (1987): p. 26 – 44. Hier: p. 43). Gehrke und Narr scheinen also Kenkels Meinung zu teilen, wonach die in den ›Väterbüchern‹ betriebene literarische »emotionale Spurensicherung […] nur vom einzelnen Individuum und nicht im Kollektiv angegangen

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ben«103 und macht als Hauptmotiv der ›Väterliteratur‹ »Verdrängung und Kommunikationsabbruch«104 aus. Hoch anzurechnen ist Gehrke aber der Versuch, eine »ästhetische Typologie«105 der ›Väterliteratur‹ zu entwerfen, also etwas Ordnung in das Chaos der meist auf sehr kleinen und selektiven Korpora basierenden relevanten literaturwissenschaftlichen Einlassungen zu bringen. Dabei unterscheidet Gehrke zwischen zwei Ausprägungen der ›Väterliteratur‹: »Typ A« sieht er beispielhaft repräsentiert durch »Henisch, Plessen [und] Rehmann«; dieser Typus zeichne »sich durch die Entwicklung mehrperspektivischer Verfahren aus«106. Formal äußere sich das in einem sehr »differenzierte[n] Blick auf die Biographie des Vaters oder der Mutter«, indem beispielsweise die »Unterscheidung der verschiedenen Ich-Zustände betont« (so ist der größte Teil von Elisabeth Plessens autobiographischem Roman in der dritten Person gehalten, während die IchPerspektive nur in bestimmten Momenten verwendet wird) und auf »Dokumente[]«107 zurückgegriffen werde. Ziel solchen literarischen Schaffens sei »verstehen, ohne zu rechtfertigen«108. In »Typ B« dagegen, exemplarisch »vertreten durch Gauch, […] Meckel, Schwaiger, Seuren und Rauter«, gelte »keine andere Stimme […] als die des erzählenden Ichs«109. »Diese Form der literarischen Recherche«, so Gehrke, »versteht sich als eine Alternative zu den Überlieferungen der Väter und Mütter, deren anekdotenhafter Charakter den brutalen Ernst der Ereignisse verschleiert hatte«110. Diese Unterscheidung in, wenn man so will, ›monologische‹ und ›dialogische‹ ›Väterbücher‹ überzeugt auf den ersten Blick durchaus (auch hierzu wird in unseren Einzelanalysen noch einiges zu sagen sein). Sie ist aber sehr formalistisch; die bereits erwähnte und von anderen Forschern durchaus bemerkte politische, zeit- und gesellschaftskritische Dimension der Texte wird ausgeblendet. Hinzu kommt, dass Gehrkes grundsätzlich richtige Beobachtung über die mal eher ›monologischen‹, mal eher ›dialogischen‹ (beziehungsweise »multiperspektivische[n]«111) Kommunikationssituationen in den fraglichen

103 104 105 106 107 108 109 110 111

werden« könne (Kenkel: p. 167). Interessant ist hier auch die Übereinstimmung der von Gehrke und Kenkel gewählten Begrifflichkeit: Die »Spurensuche«, beziehungsweise »emotionale Spurensicherung«, die eine einsame, subjektive Aktivität suggeriert und so, wie wir noch sehen werden, eigentlich gar nicht zu einem großen Teil der ›Väterliteratur‹ passt, steht bei Gehrke ja bereits im Titel. Ebd.: p. 249. Ebd.: p. 259. Ebd.: p. 266. Ebd.: p. 270. Ebd. Ebd. Ebd.: p. 271. Ebd. Ebd.: p. 270.

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Texten keinesfalls die scharfen Trennungen rechtfertigt, die er vornimmt112. Es stimmt zwar, dass beispielsweise bei Peter Henisch oder bei Ruth Rehmann – also Autoren des »Typ[s] A« – aus verschiedenen Gründen, vor allem aber wegen der beobachteten »multiperspektivische[n]« Gestaltung, »differenzierte[r]«113 über das Verhältnis zu den Eltern geschrieben wird als bei Autoren des »Typ[s] B«114 wie E. A. Rauter oder Christoph Meckel. Die Annahme aber, dass die Erstgenannten stets das »Ziel« einer posthumen Verständigung »ohne zu rechtfertigen« verfolgen, während die Typ-B-Autoren »Alternative[n] zu den Überlieferungen der Väter und Mütter«115 zu kreieren suchen, ist nicht haltbar. Schließlich ist, wie Figge und Kenkel richtig erkannten, der Kampf um die Deutungshoheit über die (Familien-)Geschichte ein geteiltes Motiv so gut wie aller ›Väterbücher‹. Der Entwurf narrativer »Alternative[n] zu den Überlieferungen der Väter« begegnet mithin keineswegs nur bei Autoren des »Typ[s] B«116, wie uns Gehrke glauben machen will, sondern wird auch in Texten des »Typ[s] A«117 unternommen. Diese Unstimmigkeit in Gehrkes Klassifizierungsversuch können wir zum Beispiel – ohne hier allzu viele Ergebnisse der später folgenden Analyse vorwegnehmen zu wollen – mit einem Blick auf Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters belegen: Dieser angebliche »Typ A«118Text unterscheidet sich tatsächlich insofern von den meisten ›Väterbüchern‹, als der Sohn einen vergleichsweise offenen Dialog mit dem Vater pflegt (der allerdings erst posthum in, wie wir annehmen müssen, kondensierter und fiktionalisierter Form wiedergegeben wird). Im Rahmen dieser »multiperspektivische [n]« Struktur des Textes tritt aber mit dem Kriegsfotografen Walter Henisch ein Vater in Erscheinung, der als meisterhafter Erzähler gelten darf. Die Tonbandinterviews, die der Sohn mit dem Vater führt und auf denen das Buch weitgehend basiert, stehen somit nicht nur für ein »mehrperspektivische[s] Verfahren«119, in dessen Verlauf der Vater auffällig oft das Wort erhält: Die Interviews repräsentieren auch eine konstante Herausforderung an den Sohn, der Walter Henischs rhetorisch gewitzte Darstellungen nicht einfach kommentarlos protokollieren, dem Vater nicht die Deutungshoheit über das eigene Leben überlassen will120 :

112 Ganz abgesehen davon, dass mit Sigfrid Gauch auch ein Vertreter des Typs B Dokumente in seinen Roman einbindet. 113 Ebd. 114 Ebd.: p. 271. 115 Ebd.: p. 270 f. 116 Ebd.: p. 271. 117 Ebd.: p. 270. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Siehe zu dieser zentralen Spannung zwischen »Henisch, the artist«, »Henisch, the reader« und »Papa Henisch«: Brzovic´ Kathy : »Papa’s Nazi Past and the Anxiety of Influence. Peter

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Ähnlich wie mit den Kriegsbildern meines Vaters verhielt es sich mit den dazugehörigen Geschichten. Auch diese Geschichten hatte ich als Kind schon zahllose Male gehört. […] Seine Erzählung vom Anfang des Russlandfeldzugs. […] Die Sätze, die er für diese Geschichte verwendete. Im Strom wiederholter Erzählung glatt geschliffen. So lang ich ein Kind war, imponierten sie mir. Erst später wurden sie mir verdächtig.121

Und später heißt es bei Henisch: »Ich wollte nicht wieder in die Geschichten meines Vaters geraten […]«122. Vorsicht ist in der Tat geboten, denn der Vater ist ein unzuverlässiger Erzähler : Zwei Tonbandversionen miteinander vergleichend, erinnere ich mich vage an Versionen [der aufgezeichneten Geschichte, Anm. v. J. R.], die mir aus meiner Kindheit nachklingen. […] Meine Stimme auf dem Tonband will, die mit dem Frühjahr 1945 regelrecht aufblühende Fabulierlust hier und da unterbrechend, klarstellen, richtigstellen, rückfragen, aber darauf reagiert die in diesen Passagen meist launig klingende Stimme meines Vaters kaum oder sauer.123

Auch in der Kleinen Figur meines Vaters haben wir es also mit einem Erzähler zu tun, welcher der »Überlieferung[]«124 und der »zumindest ergänzenden Phantasie«125 des Vaters mit einiger Vorsicht begegnet und der durchaus daran interessiert ist, »Alternative[n]«126 zu ebendieser Überlieferung auszuloten, also das Erzählte nicht einfach kritiklos akzeptieren will. Besonders deutlich wird das in der Erstausgabe von Henischs Roman (der seither zwei Überarbeitungen erfuhr und die folgende Passage nicht mehr oder in abgewandelter Form enthält), in der die Geburt der Tochter des Autors zum Beginn einer neuen, nur dem Sohn gehörenden »Überlieferung[]«127 stilisiert wird: »Jetzt Papa, dachte ich, bin ich wirklich aus deiner Spur heraus, jetzt, Papa, könnte ich anfangen, meine Geschichte zu leben«128. Kurzum: Das angebliche Hauptmerkmal des Typs B – die Suche nach Alternativen zu den elterlichen Geschichten – begegnet beispielsweise auch in Henischs ›Väterbuch‹, das Gehrke dem Typus A zurechnet. Gehrkes strenges definitorisches Gerüst erweist sich also schon bei oberflächlichem Hinsehen als wacklig. Und in welchen »Typ« wäre denn, so könnte man

121 122 123 124 125 126 127 128

Henisch’s Die kleine Figur meines Vaters«. Balancing Acts. Textual Strategies of Peter Henisch. Hg. von Craig Decker. Riverside CA: Ariadne Press, 2002: p. 40 – 53. Hier: p. 42. Henisch, Peter : Die kleine Figur meines Vaters. München: dtv, 22010. Hier: p. 83 f. Kapitälchen im Original. Ebd.: p. 86. Ebd.: p. 171; Hervorhebung nicht im Original. Gehrke: p. 271. Henisch: p. 178. Gehrke: p. 271. Ebd. Henisch, Peter : Die kleine Figur meines Vaters. Frankfurt am Main: Fischer, 1975. Hier: p. 186. Kapitälchen im Original. In der aktuellen Version des Textes heisst es übrigens auch: »Ich muss mich, glaube ich, aus Deiner Geschichte herausschreiben, mich Deiner Geschichte gegenüber emanzipieren, um die meine zu finden« (Henisch: p. 153).

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zusätzlich fragen, ein politischer Text wie Bernward Vespers Reise129 einzuordnen, in dem es keineswegs darum geht, »differenziert[] […] [zu] verstehen, ohne zu rechtfertigen«130 und in dem viel mehr auf dem Spiel steht als die Erarbeitung von »Alternative[n] zu den Überlieferungen de[s] V[a]ter[s]«131? Die Reise sprengt Gehrkes Typen-Schema endgültig. Für ›Väterbücher‹, welche wie Die Reise eine starke gesellschaftskritische, politische Komponente aufweisen, ist auch Gehrkes neu geschöpfter Begriff »Elternbücher« denkbar ungeeignet. Das Erkenntnisinteresse dieser Texte geht nämlich, wie wir noch sehen werden, über die Eltern weit hinaus und macht die Etablierung eines Terminus nötig, der diese Gegebenheit berücksichtigt (wir werden im Folgenden den Begriff ›Vertrauenskrise‹ vorschlagen). Gehrkes definitorische Bemühungen um die ›Väterliteratur‹, wenn sie auch ernster zu nehmen sind als die meisten anderen, werden dem Gegenstand also ebenfalls nicht gerecht. Die Einteilung in »Typen« ist zu starr und basiert auf Differenzierungskriterien, die einerseits zu limitiert sind, da es sich im Grunde um formalästhetische Kriterien handelt, welche nicht geeignet sind, die politisch-gesellschaftskritische Dimension der ›Väterliteratur‹ zu erfassen, andererseits aber auch zu unscharf (Werke des »Typ[s] A«132 weisen das angebliche Alleinstellungsmerkmal der Werke des »Typ[s] B«133 nämlich ebenfalls auf, wie am Beispiel von Peter Henisch gezeigt wurde). Claudia Mauelshagen bezieht in ihrer Arbeit zur ›Väterliteratur‹ ebenfalls kritikwürdige Positionen, auch wenn sie, wie Gehrke, einige anschlussfähige Ansätze entwickelt, die noch Erwähnung finden werden. Obwohl sie die literarhistorische Einsetzung von Vespers Reise als »Ausgangstext«134 der ›Väterliteratur‹ hellsichtig in Zweifel zieht, stellt sie die Prämissen des Konzepts, wie sie in der literaturwissenschaftlichen Forschung und in den Literaturgeschichten begegnen, kaum in Frage. So entwickelt Mauelshagen unverständlicherweise kein Bewusstsein für die bereits geschilderte Gender-Problematik des Begriffs ›Väterliteratur‹, ja, sie negiert sogar, wie oben angemerkt, die Existenz einer solchen Problematik: In den Texten über Väter werden natürlich auch Mütter erwähnt: Sie sind im Vergleich zu den Vätern marginale, blasse Gestalten, die hinter den Vätern zu verschwinden scheinen […]. […] Wie auch immer die Mütter beschrieben und bewertet werden […]: 129 Gehrke bietet zwar keine Einzelanalyse der Reise, postuliert aber, dass der Text »die meisten inhaltlichen und strukturellen Gemeinsamkeiten mit den […] ›Elternbüchern‹ auf[weise] und […] deshalb zu Recht als ein Vorläufer dieser Werke eingestuft« werde (Gehrke: p. 65). Unsere Frage ist daher berechtigt. 130 Gehrke: p. 270. 131 Ebd.: p. 271. 132 Ebd.: p. 270. 133 Ebd.: p. 271. 134 Mauelshagen: p. 13.

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eine Auseinandersetzung mit den Müttern wird in den Vatertexten in der Regel nicht geleistet und auch nicht angestrebt. Die Auseinandersetzung mit den Vätern ist sowohl Thema der Bücher als auch Erzählanlass […].135

Mauelshagen führt als Konsequenz aus diesen Überlegungen das oben erwähnte zweifelhafte Konzept einer »Literatur über Mütter«136 ein, die sich angeblich weitgehend parallel zur ›Väterliteratur‹ entwickelt und weniger Beachtung gefunden habe137. Bedenkt man wiederum, dass die Mütter, wie die vorliegende Studie zeigen wird, in der ›Väterliteratur‹ durchaus präsent sind, dass einige Autorinnen und Autoren aus unserem Korpus auch – die ›Väterbücher‹ ergänzende – ›Mütterbücher‹ geschrieben haben und dass die historische Forschung die Wichtigkeit der Mutter-Kind-Beziehung für im Krieg geborene Kinder betont, so müssen Mauelshagens kritiklose Übernahme des Begriffs ›Väterliteratur‹ und ihr Postulat einer unscharf umrissenen ›Mütterliteratur‹ überholt anmuten. In Bezug auf die literaturgeschichtliche Kontextualisierung der ›Väterliteratur‹ geht Mauelshagen ebenfalls eher konventionelle Wege oder bedient sich zumindest tendenziell ungeeigneter Begriffe. Sie sieht die ›Väterliteratur‹ klar »in der […] ›Neuen Subjektivität‹ der siebziger Jahre verwurzelt«138, liest also die ›Väterbücher‹ vor dem Hintergrund einer »Hinwendung zur subjektiven Psyche und zur je individuellen Lebensumwelt« nach »dem Scheitern der revolutionären Hoffnungen und Ansprüche«139 der Studentenbewegung. Nun stimmt es durchaus, dass einige Texte im Korpus der ›Väterliteratur‹ in ihrer Wendung zum Autobiographischen auch eine gewisse Desillusionierung portieren, eine Distanziertheit zu utopischen politischen Zielen, welche die Autorinnen und Autoren vielleicht einstmals verfolgten (besonders deutlich bei Plessen140 und Rehmann141). Grundsätzlich aber bildet selbst die Desillusionierung in den fraglichen Werken keinen Anlass für einen vollkommenen Rückzug ins Private und Subjektive, in die »je individuelle[] Lebensumwelt« – vielmehr wird die Desillusionierung, wie wir noch im Detail sehen werden, vor dem Hintergrund eminent politischer (beispielsweise sozial- oder institutionskritischer) Beobachtungen gestaltet, die zumeist auch eine historiographische Komponente aufweisen (bei Plessen etwa manifestiert sich dieser politische Aspekt in ihrer luziden Anklage des Adelsstands, für den der Vater nur synek135 136 137 138 139 140

Ebd.: p. 31 Ebd.: p. 263. Vgl. ebd.: p. 261 ff. Ebd.: p. 18. Vgl. ebd.: p. 30, p. 42 f. und besonders p. 85 ff. Ebd: p. 86. Plessen, Elisabeth: Mitteilung an den Adel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006. Hier: p. 53 f. 141 Rehmann, Ruth: Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater. München: dtv, 62002. Hier: p. 10 ff.

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dochal steht; bei Rehmann ist neben dem Vater als Individuum auch die Evangelische Kirche als gesellschaftliche Institution Ziel der kritischen Analyse). Wie gesagt: Der Verweis auf die neue Subjektivität blendet die politische Färbung vieler ›Väterbücher‹ aus. Im Gegensatz zu den meisten anderen Interpreten ist sich Mauelshagen dieser Problematik zumindest ansatzweise bewusst, doch ihr Lösungsvorschlag ist nicht anschlussfähig. Sie versucht nämlich eine etwas bemühte Umdeutung der neuen Subjektivität, die quer zu den gängigen Forschermeinungen steht. Man rufe sich in Erinnerung, dass die neue Subjektivität gemeinhin als literarische Strömung definiert wird, die von einer »Tendenzwende«142 hin zur »Entpolitisierung«143, von einer »Beschäftigung mit dem eigenen Ich«144 und einer Rückbesinnung auf den »ureigenen Lebensbereich«145 geprägt ist, kurzum: Die literarische Strömung der neuen Subjektivität umfasst ein »outpouring of accounts of reality limited to the authority and authenticity of the author alone«146, bezeichnet also Werke, deren Erkenntnisinteresse auf das Autorsubjekt und dessen subjektiv erfahrene Lebenswelt beschränkt ist. Mauelshagen wendet (nicht einmal zu Unrecht) ein, dass auch dergestalt subjektiv geprägtes Erzählen politische Sprengkraft entfalten könne und dass es der neuen Subjektivität »nicht um belangloses Alltagsgeplauder«147 ging – dass die oben zitierten literaturgeschichtlichen Definitionen der neuen Subjektivität mithin ziemlich eindimensional, wenn nicht unfair sind. Eine solche Kritik mag im Ansatz legitim erscheinen; wenn Mauelshagen aber die neue Subjektivität gleichsam zu einer Form politisch motivierten Schreibens umdeutet, geht sie eindeutig zu weit und stellt sich den etablierten Definitionen diametral entgegen. Denn wenn es stimmen sollte, dass die neue Subjektivität »zugleich mit dem Privaten dessen überindividuell Bedeutsames erzählen«148 wollte, wo wäre dann noch die »Tendenzwende« im Vergleich zur kämpferischen Literatur, die im Umfeld von 1968 entstand? Mauelshagens intellektuelle Volte, die der neuen Subjektivität einen politischen Impetus andichtet, bedeutet letztlich, dass das Private auch in der Literatur der Siebzigerjahre, in der Literatur der neuen Subjektivität, noch immer politisch ist, und diese These ist entschieden zu verneinen. Es ist nun einmal eine Tatsache (die auch Mauelshagen erkennt), dass die ›Väterliteratur‹ mit ihrem »Interesse […] am subjektiven, gewöhnlichen 142 Barner : p. 583. 143 Schnell, Ralf: »Die Literatur der Bundesrepublik«. Deutsche Literaturgeschichte. Hg. von Wolfgang Beutin, Klaus Ehlert et al. Stuttgart und Weimar : Metzler, 62001. Hier: p. 636. 144 Forster und Riegel: p. 106. 145 Kenkel: p. 167. 146 DeMeritt, Linda C.: »Identity as Schizophrenia: The Autobiography of Peter Henisch«. The Fiction of the I. Contemporary Austrian Writers and Autobiography. Hg. von Nicholas H. Meyerhofer. Riverside CA: Ariadne Press, 1999: p. 61 – 79. Hier : p. 61. 147 Mauelshagen: p. 89. 148 Ebd.

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Faschismus […] wieder aus dem Bereich des Unpolitischen heraus[-] und in Kulturkritik hinein[führt]«149. Die ›Väterbücher‹, die sich im »Spannungsfeld von Autobiographie, Biographie, Dokumentation, Nicht-Fiktionalität einerseits und Roman […] [und] Fiktion andererseits«150 bewegen, weisen gerade wegen dieser inneren Spannung eine politische Grundierung auf, die man in Kerntexten der neuen Subjektivität wie Max Frischs Montauk und Peter Handkes Wunschloses Unglück vergeblich sucht. Wir müssen also konstatieren, dass Mauelshagens teils verdienstvolle Ausführungen zur ›Väterliteratur‹ von einer unglücklich gewählten und kritikwürdigen Terminologie getragen werden. Ihre unreflektierte Übernahme des Begriffs ›Väterliteratur‹ wäre noch akzeptabel; ihre doch sehr idiosynkratische Definition der neuen Subjektivität muss dann aber befremden. Wenn Mauelshagens Apologie der neuen Subjektivät auch nicht ganz verfehlt ist, so ist es dennoch nicht zielführend, einen gleichsam kontaminierten oder jedenfalls umstrittenen Begriff konträr zur bisherigen Forschung umzudeuten und auf die ›Väterliteratur‹ anzuwenden. In Bezug auf Vespers Reise, aber auch auf die meisten anderen ›Väterbücher‹, wird noch im Detail von der Problematik der neuen Subjektivität die Rede sein; hier stellen wir vorerst fest, dass wir die Anwendung dieses Konzepts auf die ›Väterliteratur‹ für höchst problematisch halten und andere Begrifflichkeiten vorschlagen werden. Abschließend sei erwähnt, dass in mindestens zwei aktuellen Literaturgeschichten nirgends von ›Väterliteratur‹ die Rede ist – wenn man diesen Befund mit Gehrkes berechtigter Kritik am Terminus ›Väterliteratur‹ verbindet, muss man konstatieren, dass das angebliche Genre vielleicht doch umstrittener ist als ein Großteil der Sekundärliteratur suggeriert151. Mathias Brandstädters reflektierte und materialreiche Dissertation Folgeschäden. Kontext, narrative Strukturen und Verlaufsformen der Väterliteratur 1960 bis 2008 ist die dritte Monographie, die in dieser Forschungsübersicht berücksichtigt werden soll. Das wird aus Gründen, die wenig mit Brandstädters Arbeit zu tun haben, nicht ganz einfach sein: Folgeschäden erschien nämlich 2010, mithin zu einem Zeitpunkt, als die Arbeit an der vorliegenden Studie bereits weit fortgeschritten war. Die Einbindung von Brandstädters Dissertation in diesen Überblick über den Forschungsstand zur ›Väterliteratur‹ geschieht demnach ex post – und natürlich ergeben sich durch die nahezu zeitgleiche Bearbeitung dieser Thematik einige inhaltliche Redundanzen, die der kritische Leser der vorliegenden, ›zu spät‹ erschienenen Arbeit zum Vorwurf machen 149 Ebd.: p. 91. 150 Ebd.: p. 84 f. 151 Siehe (oder eben gerade nicht): Deutsche Literaturgeschichte (vgl. Fn. 145); Brenner, Peter J.: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom ›Ackermann‹ zu Günter Grass. Tübingen: Niemeyer, 22004.

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könnte. Der Verfasser möchte allerdings dazu anregen, Folgeschäden und die vorliegende Studie als komplementäre Beiträge zu einem lange vernachlässigten Forschungsgebiet zu verstehen. Insgesamt verfolgt Brandstädter ohnehin andere Ansätze als der Verfasser, die allerdings hochgradig diskussionswürdig sind; die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem Erkenntnisinteresse unserer Studie und der Stoßrichtung von Folgeschäden sollen im Weiteren kurz analysiert werden. Brandstädter geht von Beobachtungen aus, die auch in dieser Arbeit getätigt werden, zieht aber durchaus andere Schlüsse. Ihm ist daran gelegen, die ›Väterliteratur‹ erstmalig in ihrem Bestand zu bilanzieren, als eigenständiges Genre zu explizieren, hinreichend zu kontextualisieren, im Blick auf die jeweilig verwandten narrativen Strukturen hin zu analysieren und somit in ihren Verlaufsformen und Ausgestaltungen philologisch zu erfassen.152

Wie in der vorliegenden Arbeit steht somit am Anfang von Brandstädters Überlegungen die Einsicht, dass die bisherige Forschung »die Notwendigkeit einer begrifflichen Klärung des Analyseobjekts schlicht ignoriert, um darüber hinaus in arge Abgrenzungsprobleme zu manövrieren«153. Allerdings divergiert Folgeschäden sofort von unserer Studie, denn Brandstädters Antwort auf die defizitären und widersprüchlichen literaturwissenschaftlichen Bearbeitungsversuche der ›Väterliteratur‹ ist nicht etwa eine grundlegende Infragestellung und Kritik des Begriffs und seiner Karriere in der Germanistik. Vielmehr versucht Brandstädter, die ›Väterliteratur‹ als expansives »Genre« zu begreifen, das über achtzig Werke umfasst und »in der erzählenden Literatur schon seit 1960 bis zur unmittelbaren Gegenwart des Jahres 2008 nahtlos und quasi in verschiedenen Konjunkturzyklen re-inszeniert und mittels diverser narrativer und inhaltlicher Modifikationen fortgeschrieben wurde«154. Während Brandstädter also in der bisherigen Forschung zur ›Väterliteratur‹ ähnliche Desiderate konstatiert wie die vorliegende Arbeit (hierzu gleich mehr), geht er davon aus, dass der Begriff der ›Väterliteratur‹ (dessen Problematik er durchaus erkennt155) noch zu retten ist, wenn sich nur jemand die Mühe macht, das vermeintliche Genre in all seinen Facetten zu explizieren – daher das imposante, mehr als vier Jahrzehnte abdeckende Korpus, auf das Brandstädter die ›Väterliteratur‹ zu stützen sucht156. Die Forschungslücken, auf die Folgeschäden 152 153 154 155 156

Brandstädter: p. 10. Ebd.: p. 14, Anm. 13. Ebd.: p. 32. Siehe z. B. ebd.: p. 23, Anm. 47. Brandstädters Entwurf eines Korpus der ›Väterliteratur‹ ist zu facettenreich und komplex, um hier adäquat analysiert zu werden. Nur soviel: Obwohl Brandstädter mit bewun-

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reagiert, sollen an dieser Stelle gerafft wiedergegeben werden, da sich die Meinung des Verfassers in weiten Teilen mit derjenigen Brandstädters deckt – und auch die Differenzen zwischen unseren jeweiligen Ansätzen sind erwähnenswert. »Erstens«, so Brandstädter, existiere noch keine »begrifflich solide Fixierung des Analyseobjekts [also der ›Väterliteratur‹, Anm. v. J. R.]«157. Dieser Feststellung stimmen wir uneingeschränkt zu; wir werden sie unsererseits noch auszuführen versuchen. »Zweitens« sei die ›Väterliteratur‹ »falsch[]«158 datiert worden. Wie Brandstädters Korpus zeigt, lehnt er die auch in dieser Arbeit vorgenommene Verortung der sogenannten ›Väterliteratur‹ in den Jahren zwischen 1975 und 1980 ab und geht davon aus, »dass der Topos in der erzählenden Literatur schon seit 1960 bis zur unmittelbaren Gegenwart […] fortgeschrieben wurde«159. Wie in Fn. 158 ausgeführt, würde eine profunde Auseinandersetzung mit Brandstädters Vorgehensweise zuviel Raum in diesem Forschungsüberblick beanspruchen. Grundsätzlich ist anzumerken, dass auch wir die bisherige Datierung der ›Väterliteratur‹ kritisieren werden, dass aber die bisherige literaturgeschichtliche Situierung der ›Väterliteratur‹ im Umfeld der neuen Subjektivität unserer Meinung nach ungleich problematischer ist (zu alledem später dernswerter Akribie vorgeht und auch abseitige, aber bemerkenswerte Texte berücksichtigt (beispielsweise Rauters Brief an meine Erzieher oder Franz Innerhofers Schöne Tage), zeigt seine »Gesamtbilanzierung« des angeblichen väterliterarischen Genres doch beispielhaft, wie problematisch eine ›homogenisierende‹ Herangehensweise an diese höchst differenten Romane ist (Brandstädter: p. 104ff). Dass viele der aufgeführten Texte ohnehin nur minimale Gemeinsamkeiten aufweisen, könnte man ja noch akzeptieren, zumal Brandstädter dieser Tatsache durch die Erarbeitung vier verschiedener ›Paradigmen‹ der ›Väterliteratur‹ Rechnung zu tragen sucht. Wer sich die Tabelle der ›Väterbücher‹ in Folgeschäden aber genauer ansieht, bemerkt sofort die Schwächen solcherart ›buchhalterischer‹ Literaturgeschichtsschreibung. Warum fehlt beispielsweise Peter Weiss’ wichtiger und sicherlich in vieler Hinsicht für die ›Väterliteratur‹ stilbildendes Werk Abschied von den Eltern (1961)? Warum zieht Brandstädter zwar Meckels ›Mutterbuch‹ in Betracht, nicht aber Der Tod meiner Mutter (1997) von Jutta / Julian Schutting? Und wäre es nicht sinnvoll, wenn man sich wie Brandstädter eine »gesamte Bestandesaufnahme« des väterliterarischen »Topos« zum Ziel setzt, auch weltliterarische Vorbildtexte wie Iwan Turgenjews Väter und Söhne (1861) oder Gavino Leddas Padre Padrone (1975, siehe Kap. 10) zu berücksichtigen (ebd.: p. 103)? Mit dieser Kritik an den Schwächen von Brandstädters »tabellarische[m]« Ansatz sollen keineswegs die Stärken seiner »Inventuren« negiert werden: Wer einen Überblick über die ›Väterbücher‹ sucht, ist mit Brandstädters Korpus gut bedient (ebd.). Dabei sollte man sich allerdings stets bewusst machen, dass derartige Modelle lückenhafte Vereinfachungen darstellen und trotz ihrer ›wissenschaftlichen‹ Anmutung einer gewissen Willkür unterliegen, wie obige Einwände zeigen. Weitere Reflexionen zu Brandstädters Korpus werden, wie gesagt, aus Platzgründen nicht angestellt. Ohnehin sind von Brandstädters fünfundachtzig Positionen für die vorliegende Studie nur die Texte Nummer elf bis und mit achtundzwanzig relevant, eben diejenigen ›Väterbücher‹, welche den ersten großen väterliterarischen Trend von der Mitte der Siebziger- bis in die frühen Achtzigerjahre markierten und von Angehörigen der ›zweiten Generation‹ verfasst wurden. 157 Ebd.: p. 31; Hervorhebung im Original. 158 Ebd.: p. 32; Hervorhebung im Original. 159 Ebd.

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mehr). Brandstädter unterschätzt außerdem die Spezifität der ›ersten Welle‹ der ›Väterbücher‹, die eben zwischen der Mitter der Siebziger- und den frühen Achtzigerjahren erschien. Berücksichtigt man diese im Verlauf der Arbeit und besonders in Kapitel 10 noch zu charakterisierende Spezifität, so erscheint die weitgehende Beschränkung unseres Korpus auf die in diesem Zeitraum in großer Zahl erschienenen ›Väterbücher‹ sinnvoll: Obwohl Brandstädter belegt, dass ›väterliterarisches‹ Schreiben eine überraschend lange Tradition hat, bilden doch die in der vorliegenden Studie berücksichtigten Werke eine spezielle Gruppe. Sie entsprangen allesamt einem ganz spezifischen historischen Augenblick, in dem sich Angehörige der eingangs erwähnten ›zweiten Generation‹ nicht zuletzt aus literaturexternen Gründen (die Väter begannen wegzusterben) gezwungen sahen, die literarische Auseinandersetzung mit der Familienvergangenheit zu suchen. Begleitet wurden diese künstlerischen Bemühungen von signifikanten weltliterarischen Einflüssen und bemerkenswerten Beiträgen in anderen Medien – zu nennen wären Gavino Leddas Roman Padre Padrone (1975), dessen aufsehenerregende Verfilmung durch die Gebrüder Taviani (1977), sowie die amerikanische Fernsehserie Holocaust (1978, Erstausstrahlung in Deutschland 1979) (weitere Ausführungen zur Genese der ›Väterliteratur‹ folgen wie gesagt in Kapitel 10). Offenbar gibt es gute Gründe, die zwischen 1975 und 1980 publizierten ›Väterbücher‹ einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen, auch wenn Brandstädter mit Recht die ungenaue Datierung des angeblichen Genres moniert und ein beachtenswertes Korpus erstellt, das eine längere Zeitdauer umspannt. »Drittens« bemängelt Brandstädter, dass die bisherige Forschung zur ›Väterliteratur‹ einseitigen »Pauschalisierungsreflexe[n]« gefolgt sei und es versäumt habe, die Heterogenität des Untersuchungsgegenstands zu würdigen: Tatsächlich […] [kann] nicht pauschal von einer Väterliteratur gesprochen werden […], da sich diese in differente Paradigmen ihrer narrativen Aktualisierung gliedert, wobei jeweils analog zu den variierenden und sich sukzessive entwickelnden Appellen verschiedene formale Techniken korrespondieren.160

Dieser Beobachtung ist – unter Vorbehalten – zuzustimmen. Auch diese Studie wird sich gegen die »Pauschalisierungsreflexe« der bisherigen Forschung zur ›Väterliteratur‹ wenden, aber die Konsequenzen, die wir aus dieser Kritik ziehen werden, unterscheiden sich fundamental von Brandstädters Vorschlägen. Wie bereits angesprochen, münden unsere Untersuchungen in eine grundsätzliche Kritik des Konzepts ›Väterliteratur‹ und in den Vorschlag, das besagte Konzept zu Gunsten differenzierterer und auf den Einzelfall fokussierter Lektüren und literarhistorischer Verortungen aufzugeben. Brandstädter dagegen versucht, 160 Ebd.: p. 32 f.; Hervorhebung im Original.

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durch die Spezifizierung divergierender »Paradigmen« und die Etablierung eines vermeintlich standfesten Korpus die ›Väterliteratur‹ als eigenständiges Genre zu halten. Einmal mehr muss betont werden, dass die vorliegende Arbeit keine umfassende Kritik an Brandstädters Hypothesen übt; es geht an dieser Stelle primär darum, die Differenzen zwischen zwei Bearbeitungen desselben Komplexes klar hervorzuheben – am Ende entscheidet sich im weiterführenden literaturwissenschaftlichen Diskurs, welcher Ansatz anschlussfähiger ist. Das vierte in Folgeschäden bearbeitete Forschungsdesiderat bezieht sich auf die »Etablierung einer trennscharfen Dichotomie von fiktionaler und nicht-fiktionaler Literatur und analog […] die in der jeweiligen Textanalyse zu stellende Frage nach einer kategorialen Differenz von Erzähler und Autor«161. Diesem Punkt widmen wir uns weiter unten etwas ausführlicher. »Fünftens« moniert Brandstädter völlig zu Recht, dass die bisherige Forschung die Auseinandersetzung mit der ›Väterliteratur‹ oft auf dem Wege einer Art »interpretativen Induktion« gesucht hat – dass also »mittels diffuser Kriterien einzelne Texte zum Zwecke der Diskussion separiert und die Befunde großzügig auf das gesamte Korpus ausgedehnt«162 wurden. Die einzigen löblichen Ausnahmen bilden die Dissertationen von Gehrke, Mauelshagen und natürlich Brandstädter. »Sechstens« bemerkt Brandstädter in der bisherigen Forschung zur ›Väterliteratur‹ die Tendenz, sich allzu stark auf starre methodische Gerüste – beispielsweise die Psychoanalyse, die feministische Theorie, oder gedächtnistheoretische »Zugänge«163 – zu verlassen. Eine grundsätzliche Klärung aller mit der ›Väterliteratur‹ verbundenen »begrifflichen Unschärfe[n]«164 täte not; darin geht der Verfasser mit Brandstädter einig. Zum vierten Desiderat, das in Folgeschäden erläutert wird, sind noch einige Worte zu sagen. Brandstädter beharrt in seiner Arbeit nicht nur auf einem Verständnis der ›Väterliteratur‹ als Genre, sondern auch auf der Literarizität der Werke in diesem Genre. Nun ist der Status der ›Väterbücher‹ als »literarische[] Text[e]« in der Tat ein komplexer und ambivalenter, schwanken sie doch zwischen einem »genuin literarische[n]«, also fiktionalen »Modus«, und »faktuale [m] Erzählen[]«165. Brandstädters Antwort auf diese »methodische Bredouille«166 besteht in einer sorgfältigen Lektüre der Primärtexte als fiktionale Werke, bei denen eine (allerdings oft sehr subtile) Trennung zwischen realem Autor und Erzählfigur vorausgesetzt werden darf. Die Präsenz faktualer Elemente in den ›Väterbüchern‹, so Brandstädter, rechtfertige keineswegs »die Suspendierung 161 162 163 164 165 166

Ebd.: p. 33. Ebd.: p. 34; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 37; Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd.: p. 16. Ebd.: p. 17.

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der Frage nach der Differenz zwischen Erzähler und Autor«167. Es mag stimmen, dass diese für literaturwissenschaftliches Arbeiten eigentlich konstitutive Differenzierung in der Sekundärliteratur zu den ›Väterbüchern‹ bisweilen voreilig aufgegeben wurde, so womöglich stellenweise auch in der vorliegenden Arbeit. Unbestreitbar ist auch, dass zumindest in Bezug auf zwei Texte – Schwaigers Lange Abwesenheit und ganz besonders Vespers Die Reise – eine solche Differenzierung von der bisherigen Forschung des öfteren versäumt wurde (hierzu mehr in den relevanten Kapiteln). Allerdings macht es sich Brandstädter auch zu einfach, wenn er auf dem fiktionalen Status der ›Väterbücher‹ insistiert und eine »trennscharfe«168 Differenzierung zwischen realem Autor und Erzähler einfordert, nur weil sich die fraglichen Texte »qua Selbstanzeige […] als literarische Fiktion[en] offen zu erkennen geben«169. Der Widerspruch zwischen paratextuellen Fiktionalitätsmarkierungen und autobiographisch-authentischem Gestus in der ›Väterliteratur‹ sollte gemäß Brandstädter gleichsam kasuistisch, namentlich im Rahmen »der jeweiligen Textanalyse«170, aufgelöst werden. Grundsätzlich aber müsse man von den Rezipienten die »Beachtung der fiktionalen Selbstanzeige« der ›Väterbücher‹ einfordern, und wenn es in den Texten »Doppelungen zwischen realer und erzählter Welt« gebe, so sei von einem »spezifischen[] Fiktionsstatus«171 zu sprechen. Dieser etwas verwirrende Vorschlag ist meines Erachtens nur bedingt anschlussfähig. Zum einen unterstellt Brandstädter voreilig, dass besonders die paratextuellen Fiktionalitätsanzeigen – also beispielsweise Gattungszuweisungen wie ›Roman‹ – Teil des künstlerischen Programms der jeweiligen Texte seien und demnach »Beachtung« verdienten. Was aber, wenn beispielsweise ein Verlag für die Titelbildgestaltung verantwortlich zeichnete und die Fiktionalitätssignale nur aus marketingtechnischen Gründen – und womöglich ohne das Einverständnis der Autorin oder Autors – platzierte? Und wäre es nicht auch denkbar, dass gewisse Autoren die Präsenz von Fiktionalitätsmarkern wünschten, um das in den meisten Fällen noch lebende Personal der eigenen Texte und auch die eigene Privatsphäre zu schützen – um, in anderen Worten, die womöglich unerträgliche Faktualität der Texte durch eine im Paratext behauptete Fiktionalität zu übertünchen? Zum anderen aber gestaltet sich Brandstädters Forderung nach einer »Beachtung« der Differenz von Autor und Erzähler auch in den konkreten Einzelanalysen äußerst schwierig. Die Figur beispielsweise, die in der Kleinen Figur meines Vaters Gespräche mit Walter Henisch führt, ist der reale Peter Henisch, der die Gespräche auch protokolliert (sofern man nicht unterstellen will, dass die 167 168 169 170 171

Ebd.: p. 18. Ebd.: p. 33. Ebd.: p. 20. Ebd.: p. 33. Ebd.: p. 21.

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Tonbandgespräche fingiert sind). Wenn man wollte, könnte man womöglich tatsächlich eine Unterscheidung vornehmen zwischen dem realen schreibenden Henisch, dem realen Interviewer Henisch und dem womöglich fiktionalen Erzähler, der die Interviews reflektiert. Dann hätte man es aber bereits mit drei kaum zu trennenden Instanzen zu tun, und der Erkenntnisgewinn solcher Analysen scheint ungewiss. Das soll nicht heißen, dass Brandstädter zu Unrecht Behutsamkeit anmahnt: Wie gesagt ist in Bezug auf mindestens zwei in dieser Arbeit behandelte ›Väterbücher‹ eine akkurate Scheidung von Erzähler und realem Autor essenziell, und zu einem der Texte existiert gar eine ausgewachsene (und höchst problematische) Rezeptionstradition, welche auf einer Verwechslung von Erzähler und Autor basiert172. Dennoch: das Beispiel Henisch zeigt, dass die Forderung nach einer »trennscharfen« Behandlung von Erzähler und Autor in den ›Väterbüchern‹ leichter ausgesprochen als vollzogen ist. Die Tragfähigkeit des Fiktionalitätsbegriffs, den Brandstädter auf die ›Väterliteratur‹ anwendet, ist also tendenziell in Zweifel zu ziehen, insbesondere angesichts einer unzureichend begründeten und apodiktischen Aussage wie dieser : Hybridformen, die ohne gattungspoetische Deklarationen permanent zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen oszillieren, scheinen dann zwar grundsätzlich in den diversen Abstufungen eines Kontinuums möglich, kommen aber faktisch beim infrage stehenden Genre selten vor.173

Gerade eine Deutung der ›Väterliteratur‹ als »Hybridform« zwischen Fiktionalität und Faktualität, die Brandstädter kurioserweise rundweg ablehnt, erscheint uns besonders fruchtbar ; wir werden diese gattungstypologische Analyse im weiteren Verlauf dieser Studie kontinuierlich ausarbeiten und begründen. Mit dieser zusammenfassenden Darstellung einer Auswahl der bisherigen Forschung zum Konzept der ›Väterliteratur‹ ist das Thema dieser Studie umrissen: Ebendiese ›Väterliteratur‹ soll nämlich problematisiert werden, und zwar – wie eingangs erwähnt – auf der Basis kritischer Relektüren der Texte, die angeblich das Korpus der ›Väterliteratur‹ bilden (ein umfangreicheres Korpus finden wir nur bei Brandstädter). Ein ähnliches Projekt hat Ralph Gehrke unternommen, dessen Kritik am Konstrukt der ›Väterliteratur‹ aber meines Erachtens nicht weit genug geht und dessen oben kritisierte formalistische Definition des Genres einer eingehenden Betrachtung ebenso wenig standhält wie sein Vorschlag, in Bezug auf die ›Väterliteratur‹ künftig von ›Elternbüchern‹ zu sprechen. Mauelshagens Arbeit ist sodann bei aller inhaltlichen Qualität von 172 Die Rede ist von Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit und ganz besonders Bernward Vespers Die Reise. Wir werden im ersten Teil dieser Studie einige denkwürdige ›ReiseLektüren‹ behandeln, in denen hinsichtlich der Trennung von Erzähler und Autor beispielhafte Konfusion herrscht. 173 Brandstädter: p. 20.

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ungeeigneten Begriffen durchzogen. Mathias Brandstädters Studie Folgeschäden bildet dank ihrer schonungslosen Kritik der bisherigen Forschung zur ›Väterliteratur‹ eine Art companion piece zur vorliegenden Arbeit (und entstand auch fast zur gleichen Zeit), verfolgt aber, wie oben gezeigt, andere Forschungsfragen, und zwar unter der Prämisse, dass der Begriff ›Väterliteratur‹ zu halten sei, wenn er nur adäquat expliziert würde. Was die kürzeren Beiträge betrifft, offenbart schon ein oberflächlicher Blick die Widersprüche, mit denen wir uns in der Folge auseinandersetzen werden. Allein über die zeitliche Einordnung des postulierten Genres herrscht offenbar Uneinigkeit, was auch Brandstädter konstatiert: So spricht Kenkel von den »späten siebziger Jahren«174, Figge von den »early 1970s«175 und Assmann von den »1970er und 1980er Jahre[n]«176. Manchmal bleibt sogar die Prämisse des Genres, wonach die ›Väterbücher‹ stets eine Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit des Vaters darstellen sollten177, unerfüllt (so zum Beispiel in Jutta Schuttings Der Vater), ganz zu schweigen von der äußerst problematischen Grundannahme, dass es eine ›Väterliteratur‹ gebe, in der die Mütter keine oder nur eine »peripheral«178 Rolle spielen (diese entscheidende Schwäche des Konzepts ›Väterliteratur‹ wird bei Brandstädter komischerweise kaum reflektiert). Außerdem scheint sich die Forschung nicht im Klaren darüber zu sein, ob die Texte der ›Väterliteratur‹ nun als Werke der neuen Subjektivität zu gelten haben und damit eine weitgehend entpolitisierte, jedoch auf jeden Fall subjektive und individuelle Innensicht zur Darstellung bringen (Forster und Riegel, Schlant, Kenkel, Kosta, Gehrke, Mauelshagen, Ermert und Striegnitz in der Einleitung zum Tagungsband Deutsche Väter179) oder ob sie für ein eminent politisches, gar polemisches autobiographisches Schreiben stehen (Barner, Figge, Schmitz, Assmann180). Beispielhaft für diese Verwirrung ist vor allem Kenkel, der sich diesbezüglich im Abstand von wenigen Zeilen in Widersprüche verstrickt: Da heißt es zuerst, dass in der ›Väterliteratur‹ »die Väter nicht mehr kollektiv als Angehörige einer Generation gesehen [werden], sondern […] im engeren Bereich des Familienverbandes als individuelle Einzelperson die Autorität und deren gesellschaftliche Ausformungen und Forderungen [repräsentieren]«181. Kurz darauf schreibt Kenkel jedoch: »Die Vaterfigur als Individuum wird zum Prototyp seiner Generation 174 Kenkel: p. 186; Hervorhebung nicht im Original. 175 Figge 1990: p. 193; Hervorhebung nicht im Original. In einem späteren Text revidiert Figge diese Ansicht und spricht von den »mid 1970s« (Figge 1993: p. 274). 176 Assmann: p. 199. 177 Siehe beispielsweise Kosta: p. 220; Figge 1990: p. 193; Schmitz: p. 65; Schlant: p. 85. 178 Schlant: p. 88. 179 Forster und Riegel: p. 106; Schlant: p. 86; Kenkel: p. 167; Kosta: p. 220; Gehrke: p. 44 f., p. 273; Mauelshagen: p. 18, p. 30, p. 42 f., v. a. p. 85 ff.; Deutsche Väter : p. 1. 180 Barner : p. 617; Schmitz: p. 65; Figge 1990: p. 193, 201; Assmann: p. 198. 181 Kenkel: p. 171.

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[sic]«182. Wie soll aber das distinkte Individuum als »Prototyp« einer ganzen Generation fungieren? Entweder tragen die Väter individuelle oder typenhafte Züge; beides zusammen geht schlecht. Was gilt nun also? Werden die Väter in der ›Väterliteratur‹ nur als »individuelle Einzelperson[en]« behandelt, als singuläre Figuren, die allein im Rahmen einer autobiographischen Untersuchung im Sinne der neuen Subjektivität relevant sind? Oder aber »repräsentieren« sie als »Prototyp[en]« noch etwas, das über sie selbst und über die ›Innerlichkeit‹ und ›Privatheit‹ der Autorinnen und Autoren hinausweist und einer kritischen Analyse bedarf – und wenn ja, was? Und wie verträgt sich das mit ihrer angeblich sakrosankten Individualität? Sind die literarisierten Väter Einzelfälle oder stehen sie nur am Ausgangspunkt einer Analyse, die über ihre Person hinausgeht? Kurzum: Werden die Väter »nicht mehr kollektiv als Angehörige einer Generation« betrachtet, sondern als »individuelle Einzelperson[en]«, oder ist der einzelne Vater nun doch jeweils der »Prototyp seiner Generation«? Die beiden Positionen sind widersprüchlich, und trotzdem bringt Kenkel beide vor. Er liefert damit nur das einschlägigste und anschaulichste Beispiel für eine wirklich frappierende Unsicherheit und Widersprüchlichkeit in der Forschungsliteratur, die in jedem Fall den Verdacht aufkommen lässt, dass eine Taxierung der ›Väterliteratur‹ als Sub-Genre der neuen Subjektivität nicht zielführend ist: Nicht nur, dass diesbezüglich in der Sekundärliteratur keine Einigkeit herrscht – Kenkel findet nicht einmal in seinem eigenen Text zu einer konsistenten Position in dieser Frage, und Mauelshagen muss, wie wir gesehen haben, die neue Subjektivität zunächst in waghalsiger Manier umdefinieren, bevor sie den Begriff für ihre Studie fruchtbar machen kann. Nicht minder irritierend ist der Duktus der Ausrichter der Tagung Deutsche Väter in Loccum (1981): Im Vorwort zum Tagungsband wird die ›Väterliteratur‹ als »konsequente Fortsetzung der ›neuen Subjektivität‹« gedeutet, woraus für Karl Ermert und Brigitte Striegnitz folgt, »dass das Schreiben der meisten […] Autoren vor allem sie selbst zum Thema hat, ihre Person, ihre persönlichen Beziehungen, ihre Identität […]«183. Dieser Sichtweise widerspricht bereits der Tagungsbeitrag von Sigfrid Gauch in einund demselben Band: Gauch macht klar, dass es ihm ein zentrales Anliegen war, mit seinem Buch »zu einer allgemeineren Diskussion über diese Väter beizutragen«184 und sich mit der Frage zu befassen, wie »das Unbegreifliche [der Nationalsozialismus, Anm. v. J. R.] möglich geworden«185 ist. Dieser Drang nach öffentlicher Wirkung und historiographischer Vermittlung über das Medium der Literatur verträgt sich keineswegs mit einer Einordnung der ›Väterliteratur‹ 182 183 184 185

Ebd. Deutsche Väter : p. 1. Ebd.: p. 85. Ebd.: p. 84.

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in das Umfeld der neuen Subjektivität. Für unsere Beobachtung einer grundlegenden Widersprüchlichkeit in dieser Frage, welche die Sekundärliteratur durchzieht, werden wir noch einige Belege finden, denn diese Ambivalenz kommt nicht von ungefähr : In den Texten der ›Väterliteratur‹ tritt den Rezipienten ein breites Spektrum an Reaktionen auf und Konfrontationen mit Vätern entgegen, wobei Privates und Subjektives mit politischen Reflexionen kollidiert – meist geschieht das innerhalb ein- und desselben Texts, aber im Korpus der ›Väterliteratur‹ finden sich, wie wir sehen werden, auch Werke, die überwiegend den einen (subjektiven) oder den anderen (politisch-agitatorischen) Ansatz verfolgen. Die Frage, ob eine Gruppierung derart heterogener Texte unter geteilte Überbegriffe sinnvoll ist, stellt – und beantwortet – sich dabei von selbst186. Allerdings ergeben sich auch dann Probleme, wenn wir alle diese Widersprüche ausblenden und die von Figge und vor allem Gehrke, Assmann und Kenkel gegebenen einschlägigen Definitionen einer eingehenden Betrachtung unterziehen. Die bei diesen Autoren skizzierten Definitionskriterien der ›Väterliteratur‹ – vereinfacht gesagt: der Tod des Vaters als Impetus für oder als Thema des literarischen Texts sowie die Behandlung einer Kommunikationskrise sowohl auf der interpersonalen als auch auf der diskursiven Ebene – sind zwar, das müssen wir konzedieren, tatsächlich in fast allen ›Väterbüchern‹ erfüllt und finden sich, mit einigen Variationen, auch in der weiteren relevanten Forschungsliteratur187. Wenn man jedoch auf der Basis dieser augenscheinlich gemeinsamen Merkmale ein Genre proklamiert, gerät man in Schwierigkeiten: Die kleine Zahl der konstitutiven Charakteristika der ›Väterliteratur‹, auf die sich die Forschung allen sonstigen Widersprüchen und Ungereimtheiten zum Trotz geeinigt hat, überdeckt schnell einmal die große Zahl der Unterschiede zwischen den zur Diskussion stehenden Texten. Es mag also sein, dass die meisten »Vaterbücher«188 eines oder mehrere der erwähnten Merkmale aufweisen, aber man darf nicht übersehen, wie heterogen der Gestus dieser Texte ist, wenn es um die Auseinandersetzung mit den Vätern oder den Eltern und um die künstlerische Ausgestaltung der beschriebenen Grundmerkmale der ›Väterliteratur‹ geht. Dieser problematischen Heterogenität sind sich zumindest Assmann und Kenkel bewusst, aber sie gehen allzu nonchalant mit ihr um: 186 Hinzu kommt, ohne allzu viel vorwegnehmen zu wollen, die im Grunde banale Tatsache, dass das Aufkommen der ›Väterliteratur‹ zwischen der Mitte der Siebziger- und den frühen Achtzigerjahren eigentlich einen leicht erklärbaren Zufall darstellt und überhaupt nichts mit der damals populären neuen Subjektivität zu tun haben muss: In diesem kurzen Zeitraum starb nun einmal ein grosser Teil der Vaterschaft der ›zweiten Generation‹; zumindest dieser wichtige Schreibimpuls war also in jedem Fall ein literaturexterner, dem Zufall geschuldeter. 187 Siehe beispielsweise Bagley : p. 21 ff., p. 24; Schneider : p. 4, p. 8; Schmitz: p. 65. 188 Barner : p. 617.

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Obwohl die einzelnen […] Texte sehr unterschiedlich sind, da sie aufs Engste an die soziale und biographische Situation der jeweiligen Väter angelehnt und stark von der Befindlichkeit, dem jeweiligen Temperament der Söhne und Töchter und ihrer Schreibweise koloriert sind, macht der Vergleich doch einige Grundstrukturen sichtbar […]. [Es folgt die Auflistung der erwähnten angeblichen Grundmuster der ›Väterliteratur‹, Anm. v. J. R.]189

Und bei Kenkel: »So individuell unterschiedliche Lebensbilder die hier aufgezeigten Vaterbeziehungen auch vermitteln mögen, einige gemeinsame Grundtendenzen lassen sich durchaus feststellen«190. Brandstädter versucht seinerseits, des »beispiellos umfangreiche[n] wie komplexe[n] Korpus«191 durch die Etablierung von insgesamt vier »Paradigmen« Herr zu werden: Er unterscheidet zwischen dem »amputative[n] bzw. aversive[n] Paradigma«192, dem »rekonstruktive[n] bzw. integrative[n] Paradigma«193, dem »Wendeparadigma«194 und »(Aus)Differenzierungen«195 des angeblichen Genres. Dabei meint das »amputative« Paradigma Texte wie Vespers Reise, in denen ein »Umkonditionierungsversuch des Subjekts mit ästhetischen Mitteln« unternommen und »in Parallelisierung von Individual- und Nationalgeschichte ein intergenerationeller Mentalitätstransfer«196 geschildert wird. Im »rekonstruktive[n]« Paradigma würden sodann die »Handlungen und Haltungen der Väter […] ex post oder in actu rekonstruiert«, indem die Vaterfiguren »im textinternen Status sozusagen von Statisten zu lebhaft agierenden Figuren befördert« werden, »deren Innenwelt […] von integraler Bedeutung für den Appell des Textes ist«197. Als beispielhaft für dieses Paradigma dürfen meines Erachtens die Romane von Peter Henisch, Elisabeth Plessen und Ruth Rehmann gelten – Brandstädter beschreibt hier im Grunde die Kategorie, die wir im weiteren Verlauf dieser Studie als ›dialogische Väterbücher‹ bezeichnen werden. Weiter kommt es laut Brandstädter im »dritten Segment[]«, also im »Wendeparadigma«, zu einer »Verdoppelung des generationellen Diskurses«: Die Auseinandersetzung mit den Eltern aktualisiert und bezieht sich zugleich auf den Disput mit den Grosseltern, da die totalitären Haltungen beider Generationen in praxi vergleichbare […] Repressionsstrategien verwenden und auch mentalitätsgeschichtlich in einer Art ›Erbfolge‹ zu stehen scheinen.198 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198

Assmann: p. 202. Kenkel: p. 184. Brandstädter: p. 295. Ebd.: p. 257. Ebd.: p. 261. Ebd.: p. 267. Ebd.: p. 270. Ebd.: p. 257. Ebd.: p. 261; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 267.

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Brandstädter verweist hier zwar mit Recht auf die Präsenz der Großelterngeneration in den vermeintlichen ›Väterbüchern‹, aber ob es sinnvoll ist, für diejenigen Texte mit prominent figurierenden Großeltern ein eigenes »Paradigma« zu postulieren, sei dahingestellt – zumal, und das erwähnt Brandstädter nicht, in vielen entsprechenden Texten auch die Enkelgeneration eine wichtige Rolle spielt und mit den Großeltern kontrastiert199. Das vierte »Paradigma« der ›Väterliteratur‹ – »(Aus-)Differenzierungen«200 – ist an dieser Stelle nicht weiter relevant, da Brandstädter hier Werke aus der Zeit nach der Wiedervereinigung bespricht. Wiederum gilt: Brandstädters Bemühungen sind grundsätzlich zu begrüßen und sollen und können hier nicht — fond kritisiert werden. Zu bedenken ist allerdings wie schon im Hinblick auf Brandstädters Korpus, ob diese Bemühungen in letzter Konsequenz sinnvoll sind – ob sich die Erarbeitung divergierender und bei genauestem Hinsehen wohl auch nicht immer trennscharfer »Paradigmen« angesichts der (im Verlauf unserer Ausführungen zu spezifizierenden) überwältigenden Heterogenität der ›Väterliteratur‹ überhaupt lohnt. Anders ausgedrückt: Wenn die ›Väterliteratur‹, in Brandstädters eigenen Worten, als »nahezu beispiellos umfangreiches wie komplexes« Genre gelten darf, »das sich in verschiedenste Phasen und strukturelle Konzeptionen gliedert und sich mittels verschiedenster Mechanismen ästhetisch zunehmend komplexer gestaltet und ausdifferenziert«201, so darf man schon fragen, ob dieser Genrebegriff angesichts all der konstatierten ›Verschiedenheit‹ und ›Ausdifferenzierung‹ überhaupt zu halten und zu explizieren ist, oder ob man ihn nicht doch besser aufgeben sollte. Die vorliegende Arbeit wird eine klare Antwort auf diese Frage zu geben suchen, ohne dass dadurch Brandstädters differenzierte Studie abgewertet werden soll. Anderen Autoren, wie beispielsweise Ernestine Schlant, geht aber jegliches Sensorium für die zum Teil frappierenden Differenzen zwischen den einzelnen ›Väterbüchern‹ ab; sie geht so weit, die ›Väterliteratur‹ als homogene Ansammlung von »formula novels«202 zu bezeichnen. Wer sich jedoch einen Überblick über das mehr oder minder komplette Korpus der ›Väterliteratur‹ verschafft, erkennt schnell: Die Unterschiede zwischen den verschiedenen produktions- und wirkungsästhetischen Ansätzen, die in den Texten der ›Väterliteratur‹ begegnen, sind zu groß, um mit den individuellen »Temperament [en]« der Autorinnen und Autoren erklärt zu werden, so groß auch, dass angeblich konstante »Grundstrukturen«203 und »Grundtendenzen«204 und die 199 200 201 202 203 204

So beispielsweise bei Schwaiger, besonders aber bei Vesper, Rehmann und Seuren. Brandstädter: p. 270. Ebd.: p. 295. Schlant: p. 85. Assmann: p. 202. Kenkel: p. 184.

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Nützlichkeit divergierender »Paradigmen« ebenfalls hinterfragt werden müssen. Die Variabilität ist in der Tat so extrem, dass wir uns gezwungen sehen, in dieser Studie die Plausibilität des literaturgeschichtlichen Konstrukts ›Väterliteratur‹ überhaupt in Frage zu stellen. Kurioserweise war Grimm 1982 somit nicht nur der erste Kritiker, der auf die Heterogenität innerhalb der ›Väterliteratur‹ verwies, sondern bleibt bis heute der einzige, der aus diesem Befund die folgerichtigen Schlüsse gezogen hat: Mag auch eine »Verwandtschaft der Grundkonstellation« zwischen den Texten bestehen, die »vielfältig[en]«205 Inhalte sind doch im Grunde inkommensurabel, oder zumindest lassen sich die Unterschiede nicht mit oberflächlichen Gesten, wie sie Kenkel und Assmann bieten, wegerklären – die Rede von »formula novels«, wie wir sie bei Schlant finden, ist sodann ohnehin abstrus. Die irritierende Heterogenität fängt schon bei den geschilderten Vätern an. Da stößt man zunächst auf die größtmögliche Variation in Bezug auf die soziale Herkunft: Vom adligen Gutsbesitzer bei Elisabeth Plessen über den Fotografen bei Peter Henisch und den evangelischen Pfarrer bei Ruth Rehmann bis hin zum proletarischen und katholischen blue-collar-worker bei Günter Seuren sind so gut wie alle Klassen und Hintergründe vertreten. Auch die ideologischen Vorzeichen aber könnten bei den diversen Vätern kaum unterschiedlicher sein: Sie reichen von fanatischer und unbelehrbarer Befürwortung des Nationalsozialismus (beispielsweise bei Vesper und Gauch) über unreflektiertes Mitläufertum (zum Beispiel bei Henisch) bis zu apolitischer Indifferenz (bei Schutting) oder gar einer gewissen kritischen Distanz zum Regime (bei Härtling). Wer wie Schlant davon ausgeht, dass unter solchen Vorzeichen »formula novels« geschrieben werden, die man leicht allesamt in dasselbe Genre und denselben literarhistorischen Kontext einordnen kann, der irrt. Es ist auch gar nicht schwierig, sich ein profunderes Bewusstsein für die in der ›Väterliteratur‹ vorherrschende Heterogenität zu verschaffen. Man muss sich an dieser Stelle nur noch einmal die angeblich konstanten »Grundtendenzen« dieser Texte vergegenwärtigen. Da ist zunächst der Tod des Vaters, der von Kenkel als »Schreibimpuls«206 der Autoren festgelegt wird und bei Assmann gar das Wesen der ›Väterliteratur‹ als »Gespräch mit dem Vater[,] […] [das] nachträglich gesucht [wird], weil es nie stattgefunden hat«207, ausmacht. Tatsächlich wird das Sterben des Vaters in allen zur Diskussion stehenden Texten thematisch, jedoch wird dieses Ereignis von den Autorinnen und Autoren auf sehr unterschiedliche Weise verarbeitet, mit ganz verschiedenen Schreibstrategien und analytischen Ansätzen. Das führt zu äußerst disparaten Positionsbezügen im Spannungs205 Grimm 1982: p. 173. 206 Kenkel: p. 185. 207 Assmann: p. 204.

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verhältnis zwischen den sterbenden oder toten Vätern und den lebenden und schreibenden Söhnen und Töchtern; die Reaktionen der Nachkommen auf den Tod der Väter lassen sich keinesfalls in ein Schema pressen und umfassen pathologisch anmutenden Hass (Vesper, Schwaiger), resignative Versuche der Trauerarbeit (Schutting, Gauch), sowie genuin empathische, von Melancholie und Sympathie getragene Verarbeitungsversuche, die teils gar – ganz entgegen der angeblich monologisch-subjektiven Stoßrichtung einer ›posthum‹ produzierten ›Väterliteratur‹ – im Dialog zwischen den Generationen stattfinden oder einen solchen befördern (Rehmann und besonders Henisch). Ein Text wie Peter Henischs Die Kleine Figur meines Vaters mag demnach einen ähnlichen Schreibanlass haben wie Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater oder Bernward Vespers Die Reise, aber es erscheint unredlich, die Werke auf der Basis dieses einen geteilten Merkmals bequem in dasselbe künstlich konstruierte Genre einzuordnen – denn das bedeutet, dass man zu Gunsten einer subtilen Gemeinsamkeit die markanten Differenzen zwischen den Texten ignoriert. Diese kaum beachtete oder jedenfalls nicht ernst genommene Heterogenität der ›Väterbücher‹ (nicht nur im Umgang der Autoren mit dem Tod der Väter) schafft große Probleme für einen homogenisierenden Begriff wie denjenigen der ›Väterliteratur‹ und wird uns noch weiter beschäftigen. Derselbe Befund muss für das zweite angeblich konstitutive Merkmal der ›Väterliteratur‹ gelten, namentlich die Kommunikationskrise zwischen den Generationen. Was zunächst die Ebene der gestörten interpersonalen Verständigung betrifft, konstatieren wir dieselbe Bandbreite an Reaktionen wie zuvor beim Tod des Vaters: Mal wird der Kommunikationszusammenbruch hasserfüllt zelebriert (Vesper208, Rauter209), mal mit kühler Distanziertheit (Meckel210) oder trauernder Resignation (Schutting211) zur Kenntnis genommen; und es begeg208 Beispielsweise in Vespers hyperbolischem ›Entwurf‹, von dem er seinem Reisegefährten Burton erzählt: »Ich hasse meinen Vater. […] [U]ndsoweiter 150 – 200 Seiten lang« (DR: p. 20 f.). Oder in seiner Gleichgültigkeit gegenüber den Rezipienten seines Werks: »Es interessiert mich nicht, ob sich jemand [durch das Buch] durchfindet […]« (DR: p. 37) – Vesper scheint, zumindest oberflächlich betrachtet, nicht einmal an einer literarischen Kommunikations- oder Verständigungsleistung interessiert zu sein. 209 Im Brief an meine Erzieher zeichnet Rauter detailliert nach, wie im Haus seiner Pflegeeltern Autorität durch Gewalt etabliert und konsolidiert wurde. Gespräche, Vermittlung und Verständigung wurden nicht gepflegt: »Keine Lehre war mir so oft gelehrt worden, durch euch und meine anderen Erzieher, wie die, dass der Sinn ins Lebens nur durch Gewalt hineinzukriegen sei« (Rauter, E. A.: Brief an meine Erzieher. München: Weismann Verlag, 1979. Hier : p. 118). 210 »Ich lebte in neuer Distanz und sprach sie aus, ich hielt an freundlicher Entgrenzung fest. Da hatte ich schon vergessen, was Eltern sind« (Meckel, Christoph: Suchbild. Meine Mutter. Frankfurt am Main: Fischer, 2005. Hier: p. 110). 211 »wenn ich mit dem Vater allein war, immer nur über Belangloses miteinander gesprochen […]; und zu Freundlichkeiten hat uns zu zweit noch mehr die Freiheit gefehlt«; »ich habe

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nen sogar wohlmeinende, wenn auch melancholische Verständigungsversuche (Rehmann, Henisch212). Wiederum stoßen wir auf ein unerwartetes Maß an Heterogenität, und wiederum müssen wir den geteilten Genrebegriff in Zweifel ziehen. Noch deutlicher wird diese Erkenntnis, wenn man die Kommunikationskrise, wie oben angemerkt, nicht nur auf der zwischenmenschlichen Ebene zu begreifen sucht, sondern sie auch als Kampf um die Diskurshoheit auffasst. Auch dabei handelt es sich um ein Motiv, das in so gut wie allen fraglichen Werken anzutreffen ist (und eben keineswegs nur in einem von zwei ›Typen‹, wie Gehrke behauptet, s. o.). Dieser oberflächlichen und homogenisierenden Feststellung steht jedoch einmal mehr die Tatsache entgegen, dass die hier berücksichtigten Texte dieses Motiv in sehr unterschiedlicher Weise verarbeiten, wodurch die Einordnung in ein gemeinsames Genre problematisch erscheint: Die in der ›Väterliteratur‹ gestalteten Angriffe auf die väterliche Diskurshoheit, die Versuche, den Vätern gleichsam das Wort, und damit die Deutungshoheit über die eigene Biographie und die Familiengeschichte zu entreißen, sind so mannigfaltig, dass es schwer fällt, die jeweiligen Texte allesamt als ›Väterliteratur‹ zu betrachten. Die intergenerationellen Kämpfe um Geschichte und Sinngebung folgen nämlich demselben extrem breiten Spektrum, das wir bereits beschrieben haben: von vatermörderischem Hass über eher verzweifelte Selbstbehauptungsversuche bis hin zu dialogischen oder zumindest von gegenseitigem Respekt getragenen diskursiven Machtkämpfen finden wir in der ›Väterliteratur‹ alle möglichen Reaktionen auf die ›Wortführerschaft‹ der Väter. Ein großer und mit dem Vater […] jahrelang so gut wie nichts geredet […] und was habe ich mit dem Vater gemeinsam gehabt? was mir ohne Nachdenken einfällt, ist nicht viel […]« (Schutting, Jutta: Der Vater. Reinbek: Rowohlt, 1983. Hier: p. 23; p. 63. Schuttings charakteristische Kleinschreibung am Satzanfang wird hier beibehalten). 212 Dementsprechend entstand Henischs Roman, wie bereits erwähnt, aus tatsächlich geführten und auf Tonbändern aufgezeichneten Gesprächen mit dem Vater, und im Zuge dieser Gespräche wird stets deutlich gemacht, dass der Sohn dem Vater mit Empathie und einem gewissen Verständnis begegnet: »Ich notiere alles, was Du sagst und tust, in meiner Erinnerung, unterstütze mein Erinnerungsvermögen durch Tonband und Merkbuch. Aber je ähnlicher ich Dir werde, desto besser glaube ich Dich zu verstehen« (Henisch: p. 106). Der Vater darf anscheinend sogar das »Manuskript« des Sohnes gegenlesen, der ihm darzulegen versucht, weshalb er das Buch geschrieben hat: »Das wird ein Buch, sagte ich, wie im Grunde genommen alle Bücher, gegen den Tod und daher fürs Leben« (und eben weder »für dich [den Sohn]« noch »gegen mich [den Vater]« noch »umgekehrt«, wie der Vater zunächst vermutet) (Henisch: p. 244). Rehmanns Interesse ist sodann ebenfalls ein dialogisches, wobei sie nicht mit dem schon toten Vater ins Gespräch kommt, wohl aber mit ihren Kindern, denen sie den Großvater und seine Zeit näherbringen möchte, ohne zu beschönigen, aber auch ohne zu verurteilen: »Wie überliefert man Väter, die weder Naziverbrecher noch Widerstandskämpfer waren? Wie bringt man sie einzeln und lebendig durch die Mühle der Pauschalvorstellungen und -urteile? Wie schützt man sie vor der Verzerrung durch Schreckens- oder Wunschbilder?« (Rehmann: p. 17). Rehmanns Roman lässt sich, wie wir im zweiten Teil dieser Arbeit sehen werden, durchaus als Antwort auf diese programmatischen Fragen am Romananfang verstehen.

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bislang kaum reflektierter Unterschied besteht in dieser Hinsicht vor allem zwischen denjenigen Autorinnen und Autoren, welche die Auseinandersetzung mit dem Vater und seinen Erzählungen erst nach dessen Tod suchten, und denen, die sich bereits zu Lebzeiten des Vaters in mehr oder weniger konstruktiven verbalen Schlagabtauschen mit ihm maßen. Die Sekundärliteratur geht leider unverständlicherweise davon aus, dass die Konfrontationen in der ›Väterliteratur‹ immer posthumer Natur seien und nutzt diese angebliche Tatsache zuweilen, um das Genre zu kritisieren. So schreibt Seeba: Der oft selbstgerechte Ton, mit dem die Väter in die Vergangenheit abgedrängt, ja immer nur als längst tote Väter überhaupt Gegenstand der Abrechnung werden, unterstreicht den Verdacht, dass manche dieser schreibenden Vatermörder die Vergangenheit der Väter nur beschwören, um sie loszuwerden. Der moralische Freibrief, den sie sich damit verschreiben, verbannt die Möglichkeit der eigenen Verstrickung in die imaginierte Vergangenheit der Väter […].213

Die vermeintliche Aufarbeitung der Vergangenheit in der ›Väterliteratur‹ käme demnach in Seebas Augen eher einer ›Beschwörung‹ gleich. In ihr ortet Seeba eine bedenkliche Form von Verdrängung, als möchten die Autorinnen und Autoren die »längst tote[n] Väter« so schnell wie möglich – nämlich mittels der Erzählung einer Geschichte, die immer schon von einem Toten handelt und aus der daher kein Dialog entstehen kann – auf dem Müllhaufen der Geschichte abladen und das Vergangene dann sogleich vergessen. In dieselbe Kerbe schlägt Schneider, wenn er den Nachkommen eine Mitschuld am hartnäckigen väterlichen Schweigen zuschreibt und behauptet, dass diese die Auseinandersetzung mit dem Vater zu dessen Lebzeiten nie gesucht hätten: The fact that the grey areas in the biographies of the fathers are being examined only now, after they themselves have become permanently silent, would lead to the conclusion that a serious sin of omission has been committed which can no longer be made right, and which cannot be blamed only on the generation of the fathers – it takes two to maintain a silence […].214

Auch Kenkel und Assmann betonen, dass der Schreib- und Verarbeitungsprozess bei allen Autorinnen und Autoren der ›Väterliteratur‹ erst nach dem Tod des Vaters eingesetzt habe: »Erst nach dem Tod der Betroffenen kann der Schreibakt durch literarische Sprache die entstandene reale Sprachlosigkeit […] überwinden«215. Oder eben in Assmanns bereits zitierter Äußerung: »Das Gespräch mit dem Vater wird nachträglich gesucht, weil es nie stattgefunden hat«216. Aber wie gesagt: Das ist irrig und zeugt von einer mangelhaften Kenntnis der Pri213 214 215 216

Seeba: p. 181; Hervorhebung nicht im Original. Schneider: p. 5. Kenkel: p. 186. Assmann: p. 204.

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märliteratur, für die Seebas apodiktisches »immer nur« nur der deutlichste und peinlichste Beleg ist. Wenn man sich die ›Väterbücher‹ vergegenwärtigt, muss man nämlich einen weiteren und soeben erwähnten Riss konstatieren, der durch das Korpus der angeblichen ›Väterliteratur‹ verläuft und zu einer bedenklichen Heterogenität führt: Den Autoren, denen die Väter tatsächlich »immer nur« als tote und leicht auszumanövrierende Diskussionspartner dienen, stehen, wie gesagt, andere gegenüber, deren ›Väterbücher‹ die Kristallisationen von Dialogen und Auseinandersetzungen darstellen, die bereits zu Lebzeiten der jeweiligen Väter engagiert oder erbittert geführt wurden oder dies zumindest vorgeben (also gerade nicht »immer nur« nach dem Tod des Vaters). Tatsächlich setzt in Werken wie Sigfrid Gauchs Vaterspuren oder Jutta Schuttings Der Vater erst der Tod des Vaters die Erinnerung an und die kritische Auseinandersetzung mit ihm in Gang und dient als Anlass, die zu Lebzeiten verpasste Konfrontation in der literarischen Fiktion nachzuholen. Romane wie Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters, Bernward Vespers Die Reise oder Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel zehren demgegenüber stark von Disputen und Auseinandersetzungen, die sich zutrugen, als die jeweiligen Väter noch lebten. Es ist klar, dass zwischen diesen Textgruppen große produktions- und wirkungsästhetische Unterschiede bestehen, die aber bislang noch nicht beachtet wurden217. In Romanen der ersten Gruppe, die sich nicht aus bereits geführten Diskussionen, aus bereits artikulierten Widersprüchen speisen, steht oft das Autorsubjekt im Vordergrund, das sich über das Versäumte klar zu werden und die Verdrängungsmechanismen zu durchbrechen sucht – wobei dies nicht in Entsprechung zur neuen Subjektivität geschieht, sondern zumeist im Rahmen breit angelegter historiographisch-politischer Orientierungs- und Analyseversuche, auf die noch eingegangen werden soll. Die posthume Beschäftigung mit dem Vater im literarischen Text verhilft in den meisten Fällen kaum zu einer Klärung der Verhältnisse und der eigenen Position und bleibt daher unbefriedigend. Obwohl es sich mit den Werken der zweiten Gruppe grundsätzlich ähnlich verhält, wird hier stärker die Intransigenz zwischen den Generationen, das Scheitern der Diskussionen betont (besonders bei Vesper und Plessen, im ersteren Fall mit dem Ziel einer Selbststilisierung, die im ersten Teil dieser Arbeit noch eingehend analysiert werden soll). Die Reaktionen auf diese Erkenntnis – dass der intergenerationelle Dialog am Ende kaum konstruktiv war – variieren stark (und manifestieren sich natürlich nur in dieser 217 Eine ähnliche Differenzierung schlägt meines Wissens nur Craig Decker vor, wendet sie aber nicht auf die ganze ›Väterliteratur‹ an, da der Fokus seiner Arbeit auf Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters liegt: »One must […] distinguish between the forms of encounter underlying the[] various ›Vater-Texte‹. The belated attempt to confront the dead father with his past stands in sharp contrast to the direct and uneasy confrontation between Henisch and his dying father« (Decker, Craig: »Photographic Eye, Narrative I. Peter Henisch’s Die kleine Figur meines Vaters«. Monatshefte 83.2 (1991): p. 147 – 160. Hier: p. 149).

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Textgruppe, die auf tatsächlichen Auseinandersetzungen mit den lebenden Vätern basiert); sie reichen vom Entschluss, den Kampf im gesellschaftlich-politischen Raum weiterzuführen (Vesper) über distanzierende Resignation (Plessen) bis hin zur Einsicht, dass der Vater letztlich auch Positives zu vermitteln wusste, das an die Enkelgeneration weitergegeben werden kann (Henisch). Jedenfalls stellen wir hier einen ganz markanten Unterschied zwischen den verschiedenen Schreibsituationen fest, die in der ›Väterliteratur‹ begegnen: Die Frage, ob sich die Autorin oder der Autor noch vor dem Tod des Vaters mit dessen konkreter und ideologischer Autorität kritisch auseinandergesetzt hat, sollte auf jeden Fall ein Unterscheidungskriterium darstellen (und wird es in dieser Arbeit auch). Denn aus der Verschiedenheit dieser produktionsästhetischen Prämisse entstehen auch unterschiedliche Behandlungen der Kommunikationskrise, die damit nicht mehr als einheitliches und konstantes Charakteristikum einer ›Väterliteratur‹ gelten darf. Die ›Väterliteratur‹ zerfällt mit dieser Erkenntnis noch vor der Durchführung irgendwelcher detaillierter Analysen in zwei sehr distinkte Teile. Das ist im Grunde eine banale Erkenntnis, die man in der Forschungsliteratur aber vergeblich sucht (ausser bei Decker, siehe Fn. 219). Somit tritt uns auch die zweite angebliche »Grundtendenz[]«218 der ›Väterliteratur‹ – die gestörte Kommunikationssituation, der die Texte entspringen und die sie behandeln – in den relevanten Werken in erstaunlich heterogener Form entgegen; ihr Erklärungswert als definitorisches Kriterium eines literarischen Genres ist mithin höchst dubios. Wir haben nun einen Punkt erreicht, an dem wir das in dieser Studie behandelte Problemfeld resümieren und einen Ausblick auf die folgenden Kapitel bieten können. Insgesamt stellten wir im Zuge unserer Forschungsübersicht fest, dass ›Väterliteratur‹ ein unzureichend definierter Begriff ist; wir haben es gleichsam mit einem fuzzy concept zu tun. Ein Grundproblem, das die Forschungsliteratur zur ›Väterliteratur‹ durchzieht und das in der Folge, besonders am Beispiel von Vespers Reise, näher betrachtet werden soll – ganz zu schweigen vom erwähnten absurden gendering des Begriffs, das die Mütter ausblendet –, ist die literaturgeschichtliche Situierung des angeblichen Genres: Die ›Väterliteratur‹ wird zumeist als Begleiterscheinung der neuen Subjektivität der Siebzigerjahre oder, seltener, als spätes Nachbeben des Generationenkonflikts von 1968 aufgefasst; in dieser zentralen Frage herrscht keine Einigkeit in den relevanten Sekundärtexten, und schon allein die Definition der neuen Subjektivität scheint umstritten zu sein (siehe unsere Ausführungen zu Mauelshagen). Jedoch überzeugt die literaturwissenschaftliche Meinung über die ›Väterliteratur‹, wie wir gesehen haben, auch dann nicht unbedingt, wenn ein Konsens besteht. Die angeblich geteilten Merkmale aller ›Väterbücher‹, auf deren Basis die Forschung 218 Kenkel: p. 184.

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das Genre der ›Väterliteratur‹ überhaupt erst konstituiert, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als oberflächliche Motive, die in den verschiedenen Texten auf derart heterogene Weise219 gestaltet werden, dass die Rede von der ›Väterliteratur‹ kaum noch einen Erkenntnisgewinn zu bringen vermag – denn der Begriff kann angesichts der enormen Verschiedenheit der Texte, die er denotiert, nicht scharf umrissen werden. Anders ausgedrückt: Ein Buch wie Die Reise hat so wenig mit einem Buch wie Die kleine Figur meines Vaters zu tun, dass eine Einordnung der beiden Werke in dasselbe Genre eine Erklärung bedingt, und 219 Diese Heterogenität ist derart extrem, dass die ›Väterliteratur‹ interessanterweise sogar eine im Grunde berechtigte Rezeptionserwartung enttäuscht: Nicht einmal das Geschlecht der Autorinnen und Autoren scheint jeweils ein Kriterium zu bilden, anhand dessen man die Texte irgendwie gruppieren könnte. Die Bücher der Töchter sind mithin nicht klar von den Büchern der Söhne zu scheiden; die formalen und inhaltlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Texten von Töchtern sind weder kleiner noch größer als die Unterschiede zwischen den Büchern der Söhne, obwohl die Forschung zuweilen das Gegenteil postuliert (siehe z. B. Venske [Fn. 7]; Figge 1990: p. 197 f.; Figge 1993: p. 276 f.; Boose, Lynda E.: »The Father’s House and the Daughter in It. The Structures of Western Culture’s Daughter-Father Relationship«. Daughters and Fathers. Hg. von Lynda E. Boose und Betty S. Flowers. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1989. Hier: p. 34). Vor allem in der angelsächsischen Sekundärliteratur scheint man wie selbstverständlich davon auszugehen, dass ›Väterbücher‹ von Söhnen und Töchtern klar distinkt sind. So bringt Figge die spekulative und unbelegte These vor, dass »daughter […] texts« tendenziell subversiver wirken, da man von den Söhnen »traditionally« eine Rebellion erwarte, von den Töchtern aber nicht (Figge 1993: p. 276 f.). Boose schlägt in dieselbe Kerbe und behauptet ihrerseits: »when the threat of insurrection comes from the son, it fits the authorized structure of patriarchy. When it comes from the detached daughter, it engenders a vision of social inversion that must be quashed« (Boose: p. 34). Beide Autorinnen bieten aber bezeichnenderweise fast keine Beispiele, die diese gewagten Thesen untermauern würden – es bleibt bei eher nebulösen oder schlicht falschen Behauptungen, so beispielsweise, wenn Figge schreibt: »the daughter-centered narratives in particular construct the father as an icon of gendered power and as a deployer of that power in particular historical settings« (Figge 1993: p. 277). Diese Aussage ist so banal wie falsch, denn das beschriebene Merkmal ist in den Romanen der Söhne ebenso präsent wie in den Texten der Töchter. In unseren eigenen Lektüren werden wir dementsprechend nicht auf die Unterschiede zwischen den Werken der Söhne und der Töchter zu sprechen kommen, da es schlicht keine gender-spezifischen Differenzen zu geben scheint. Auf diese Problematik hat Reinhold Grimm schon früh verwiesen: »Ungefähr ein Drittel derer, die bisher Lebensdarstellungen in diesem Sinne [d. h. ›Väterliteratur‹, Anm. v. J. R.] veröffentlicht haben, sind Frauen. Das ist […] ein bemerkenswert hoher Prozentsatz. Dennoch sollte man sich aber hüten, daraus allzu rasche, allzu bequeme und modische Schlüsse zu ziehen. Man kann die hier zur Debatte stehende Situation nämlich […] [nicht] pauschal feministisch ausschlachten« (Grimm 1982: p. 173). Ganz so apodiktisch würde ich mich nun nicht ausdrücken, aber im Wesentlichen hat Grimm recht. Ich schließe mich dem weniger polemischen und sehr prägnanten Urteil von Claudia Mauelshagen an: »Überhaupt ist es ein schwieriges und nicht ganz unproblematisches Unterfangen, signifikante Unterschiede zwischen den Vatertexten von Männern und denen von Frauen bezüglich der Grundhaltung zu den Vätern herauszufiltern. […] [Mit den] geschlechtstypologischen Unterscheidungen [ist es] nicht sehr weit her« (Mauelshagen: p. 28 f., Hervorhebung im Original).

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diese Erklärung hat die Literaturwissenschaft bislang nicht zu bieten vermocht. Das hat vor allem damit zu tun, dass die meisten Forschungsbeiträge zum Thema nur eine kleine Auswahl an Primärliteratur in den Blick nehmen: Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Analysen, die wegen ihrer kleinen und selektiven Korpora eigentlich nur als Teilergebnisse gelten dürften220, werden weitreichende Schlüsse gezogen, wird gar ein Genre, die ›Väterliteratur‹ eben, postuliert. Wertet man die kürzeren Forschungsbeiträge als Teilergebnisse, ist auch wenig gegen sie einzuwenden – kurios wird die Situation dann, wenn auf der Basis einer Handvoll Texte ein neues Genre konstruiert wird, das auch viele andere Texte einschließt, die mit den diskutierten Werken wenig zu tun haben. Wie wir gesehen haben, sind Ralph Gehrke, Claudia Mauelshagen und Mathias Brandstädter die einzigen Forscher, die breitere Textkorpora analysieren (und zumindest Gehrke übt auch berechtigte Kritik am Begriff ›Väterliteratur‹). Die jeweiligen Schlüsse von Gehrke, Mauelshagen und Brandstädter können wir zwar aus verschiedenen oben dargelegten Gründen nicht teilen, aber ihre durchaus beachtenswerten Analysen werden uns noch beschäftigen. Es muss jedenfalls irritieren, dass auch Gehrke die vermeintlichen »Grundtendenzen«221 der ›Väterliteratur‹ proklamiert, also den Tod des Vaters und die Kommunikationskrise zwischen den Generationssubjekten, und dass es Mauelshagen versäumt, Begriffskritik zu üben oder die Einordnung der ›Väterliteratur‹ in die neue Subjektivität zu hinterfragen. Es sind doch gerade diese groben (und nicht einmal immer geteilten) Motive, die gegenderte Beschränktheit des Terminus ›Väterliteratur‹, sowie die problematische Einordnung der betreffenden Texte in die neue Subjektivität, die den Blick auf das verdecken, was die ›Väterbücher‹ als Kunstwerke überhaupt erst interessant macht: ihre Heterogenität eben, ihre vielfältigen und kaum unter einen Terminus zu fassenden Geschichten, Ansätze und Analysen. Zumindest Brandstädter versucht, diese Heterogenität angemessen in Betracht zu ziehen; sein Lösungsvorschlag – die Etablierung vier verschiedener »Paradigmen« der ›Väterliteratur‹ – ist in Folgeschäden auch durchaus akribisch ausgearbeitet, wirkt aber letzten Endes wie ein band-aid für ein ganz fundamentales Problem der ›Väterliteratur‹ und der literaturwissenschaftlichen Begriffsbildung, die dieses Konzept erst hervorbrachte. Kurzum: Der Begriff der ›Väterliteratur‹ wird unserer Meinung nach seinem Textkorpus 220 Assmann wendet sich den Texten von Schwaiger, Plessen, Vesper, Meckel und Härtling zu und erwähnt andere Werke höchstens en passant. Kosta interessiert sich primär für gendertheoretische Probleme bei Meckel, Vesper, Rehmann und Gauch; dasselbe gilt für Bagley, die über Plessen, Schwaiger und Schutting schreibt. Figge kapriziert sich auf Gauch, erwähnt die anderen Werke aber zumindest noch in einer Anmerkung. Forster und Riegel privilegieren in ihrer Literaturgeschichte Plessen und Härtling; Kenkel verfährt ebenso, Barner dagegen konzentriert sich auf Vesper und Meckel. 221 Kenkel: p. 184.

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keinesfalls gerecht; die autobiographisch-heterogene Grundierung der ›Väterbücher‹ verleiht ihnen jeweils eine Singularität, angesichts derer die Verwendung übergeordneter Genrebegriffe problematisch wirken muss – diese zielen nämlich auf eine Nivellierung ebenjener Singularität ab, welche eine literaturwissenschaftliche Annäherung an die ›Väterbücher‹ überhaupt erst attraktiv macht. Die vorliegende Arbeit macht daher zunächst einen Schritt zurück. Sie unternimmt den Versuch, der ›Väterliteratur‹ den Boden zu entziehen und ihr Korpus neu in der Literaturgeschichte zu situieren. Unser Vorgehen im Zuge dieser Bemühungen wurde bereits kurz skizziert und soll nun nochmals umrissen werden. Der erste Teil der Studie bietet eine Detailanalyse der angeblich beispielhaftesten ›Väterbücher‹ – er befasst sich mit Bernward Vespers Die Reise und Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater (wobei natürlich auch das Suchbild über die Mutter eine Rolle spielen wird). Am Beispiel dieser paradigmatischen Werke soll gezeigt werden, dass das analytische Interesse der Autoren weit über die Vaterfiguren und sogar die Familie hinausreicht (daraus folgt: auch Gehrkes Vorschlag einer ›Elternliteratur‹ ist inadäquat). Besonders im Falle Vespers wird unsere geistesgeschichtlich fundierte Analyse auch die oft missverstandenen politischen und gesellschaftskritischen Ansätze des Werks berücksichtigen. Das wird uns zum einen die Gelegenheit geben, einige literaturwissenschaftliche Irrtümer über Die Reise zu berichtigen; zum anderen aber werden wir erkennen, dass weder die ›Väterliteratur‹ noch die neue Subjektivität noch eine irgendwie geartete ›Elternliteratur‹ den politischen Impetus der Reise zu erfassen und zu erklären vermag. Für die bei Vesper beispielhaft realisierte ›Ausweitung der Kampfzone‹ aus dem familiären auf soziale, politische und institutionelle Lebensbereiche, das heißt: für das Übergreifen der Glaubwürdigkeits- und Autoritätskrise aus dem Raum der Familie in alle anderen Lebensund Tätigkeitsgebiete, werden wir den Terminus ›Vertrauenskrise‹ einführen. Dieser Begriff beschreibt adäquat die gesellschaftliche Situation in der Nachkriegszeit, da – in Claudia Mauelshagens Worten – die »Inanspruchnahme […] jeglicher Autorität durch die ältere Generation […] für die jüngere mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit, den [sic] nicht vollzogenen Konsequenzen aus und der Wahrung einer Kontinuität zu dieser nicht länger akzeptabel [war]«222. In ihrer Extrem- und Reinform, wie sie in der Reise begegnet, verhindert diese ›Vertrauenskrise‹ jegliche positive Identifikation »mit der Familie und dem politisch-gesellschaftlichen System«223, aber auch wenn sie auf den Raum der Familie beschränkt bleibt, hat sie verheerende Konsequenzen. Damit werden die ähnlichen (aber zumeist weniger radikalen) Ansätze in an222 Mauelshagen: p. 39. 223 Ebd.

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deren ›Väterbüchern‹ beschreibbar, ohne dass wir künftig auf problematische Begrifflichkeiten wie ›Väterliteratur‹ und neue Subjektivität bauen müssen. Spuren einer umfassenden ›Vertrauenskrise‹ finden sich in nahezu allen ›Väterbüchern‹ (besonders aber bei Vesper und Rauter sowie in den Romanen von Plessen und Rehmann, die auch als Beispiele literarischer Institutionskritik lesbar sind), und der neu geschöpfte Begriff wird uns helfen, den kaum gewürdigten politischen Positionsbezügen dieser Werke gerecht zu werden224. Der zweite Teil der Arbeit wird konsequenterweise gesonderte Betrachtungen der einzelnen Texte aus dem eingangs definierten repräsentativen Korpus bieten; für diese Analysen sollen die Erkenntnisse des ersten Teils fruchtbar gemacht werden. Auch in Bezug auf die ›Väterbücher‹, für die sich der neue Begriff der ›Vertrauenskrise‹ als unpassend erweist, wird der Befund bestätigt, dass die Forschung ihre Heterogenität bislang nicht gewürdigt hat und dass ihre Einordnung in ein artifizielles Genre wie die ›Väterliteratur‹ mithin problematisch ist. Unsere Einwände gegen den homogenisierenden Begriff ›Väterliteratur‹ und die bereits problematisierten Definitions- und Einordnungsversuche der Literaturwissenschaft werden sich erhärten. Am Ende des zweiten Teils sollen abermals kulturgeschichtlich begründete Reflexionen über die Genese und Geschichte der hier diskutierten literarischen Praxis weiter Klarheit schaffen und insbesondere gewisse literaturgeschichtliche Traditionslinien aufzeigen, welche der ›Väterliteratur‹ zugrunde liegen. Grundsätzlich werden wir im Verlauf unserer Betrachtungen immer wieder konstatieren, dass sich in der ›Väterliteratur‹ neben einer Tradition des literarisierten Generationenkonflikts, die in ihrer Spezifität hier als ›Vertrauenskrise‹ bezeichnet wird, auch eine besondere Form literarischer Historiographie manifestiert: In solcher literarischer Produktion, die ein »Scharnier zwischen dem Familiengedächtnis und der Außenwelt«225 bildet, sind Fiktionen und Tatsachen nicht mehr klar zu scheiden, verschmilzt mithin auch die Trennlinie zwischen Literatur und Geschichtsschreibung. Denn wie wir schon mit Verweisen auf Figge, Kenkel, Yaeger und Kowaleski-Wallace festhielten, wird in fast allen einschlägigen Texten auch ein intergenerationelles Ringen um Diskursund Deutungshoheit gestaltet. Daraus ergibt sich der weiterführende Schluss, dass in der ›Väterliteratur‹ immer auch »understandings of specific historical epochs […] at stake«226 sind. Hinzu kommt eine charakteristische weitgehende 224 Dabei soll der neue Terminus seinerseits nicht etwa wiederum zu einem Genre-Begriff werden; die mit ›Väterliteratur‹ begangenen Fehler möchte der Verfasser vermeiden. In dieser Studie geht es, wie bereits gesagt, um die adäquate Beschreibung eines Phänomens in seinen facettenreichen Ausprägungen und um den Versuch, dieses Phänomen literarhistorisch neu zu situieren. 225 Assmann: p. 213. 226 Figge 1993: p. 277.

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Identität von realem Autor und Erzähler in solcherart faktual grundierter Literatur : Mit dem direkten, authentischen, unvermittelten autobiographischen Erzählen verwischen sich die Grenzen der besonders von der kommunikationstheoretisch ausgerichteten Erzählforschung als verschieden definierten Instanzen des realen Autors und des konstruierten Erzählers. Authentische Literatur der siebziger Jahre [wie die ›Väterliteratur‹, Anm. v. J. R.] definiert sich häufig gerade durch die Kongruenz von AutorIch und Erzähler-Ich oder sogar durch die Aufhebung der Verschiedenheit von außertextualem Autor und erfundenem, innertextualem Erzähler.227

Wir schlagen daher nicht nur den semantisch adäquaten und noch unverdorbenen Begriff der ›Vertrauenskrise‹ vor, um die besonderen produktions- und wirkungsästhetischen Prämissen der hier diskutierten Texte besser fassen zu können und der Homogenisierung von ›Väterliteratur‹ und neuer Subjektivität zu entgehen. Wir postulieren zudem mit Claudia Mauelshagen und im Rückgriff auf die soeben erwähnten Kritiker, dass es sich bei der ›Väterliteratur‹ um eine Form von historischer Forschung handelt; das Genre wäre demnach zumindest partiell als der Sphäre von Literatur und Fiktion enthoben zu betrachten: [Die] skizzierte Entwicklung der literarischen Bearbeitung des Nationalsozialismus [die ›Väterliteratur‹, Anm. v. J. R.] [geht] mit historischer und politikwissenschaftlicher Forschung einher, deren Interesse sich ›von der sogenannten Totalitarismustheorie über sozialpsychologische und polit-ökonomische Erklärungsmodelle [auf die] historische[] Spurensuche der Alltagsgeschichte‹228 verlagerte. Hier wie auch in der Literatur werden Lebensgeschichten nachgezeichnet und aufgearbeitet, und in diesen Kontext hinein gehört auch die Väterliteratur.229

Das »Medium erzählender Literatur« kann mithin, in Jochen Vogts Worten, »die im engeren Sinne historische[n] und sozialpsychologische[n] Dimension[en] der nationalsozialistischen Vergangenheit, die in der wissenschaftlichen Forschung allzu oft voneinander abgespalten werden, […] integrieren«230. Natürlich »bestehen wesentliche Unterschiede zwischen wissenschaftlicher Theorie […] und literarischen […] Texten«, aber im Grundsatz gelingt es der hier diskutierten Literatur, den »Forderungen nach […] ›emotionaler Betroffenheit‹ und empathischem Nacherleben nahe[zu]kommen, die […] den Trend zur Alltags227 Mauelshagen: p. 109. 228 Vogt, Jochen: Erinnerung ist unsere Aufgabe. Über Literatur, Moral und Politik 1945 – 1990. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991. Hier: p. 12. Was die damaligen geschichtswissenschaftlichen Entwicklungen betrifft, verweist Mauelshagen mit Recht auf Wippermann, Wolfgang: Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 51989 (= Erträge der Forschung, Bd. 17). Hier: p. 106 ff. 229 Mauelshagen: p. 54. 230 Vogt: p. 25.

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geschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft begleit[en]«231. ›Väterliteratur‹ als Geschichtsschreibung kann somit vielleicht etwas leisten, das, wie Anthony Bushell über Henischs Kleine Figur meines Vaters schreibt, für die »detached historical analysis« nicht immer möglich ist: Sie kann »on the personal level« herausarbeiten, welche Rolle »individual[s] […] in the Third Reich« gespielt haben, kann vielleicht auch die Motivationen dieser fehlgeleiteten »individual [s]«232 erhellen. Wir erinnern uns, dass Kenkel die Möglichkeit »emotionale[r] Spurensicherung [der] persönlichen Herkunft« nur dem »einzelnen Individuum und nicht [dem] Kollektiv«233 zuspricht. Ihm ist zumindest teilweise zu widersprechen. Zwar haben wir es in der ›Väterliteratur‹ mit Individuen zu tun, die historische Aufarbeitungsprozesse in Gang setzen, doch geben sie sich, wie wir im Einzelnen noch sehen werden, nicht mit ihren individuellen Erkenntnissen zufrieden: Die ›Väterliteraten‹, als »historiographers of a generation of men who implicitly or explicitly participated in crimes against humanity during the Second World War«234, formulieren, objektivieren, und publizieren ihre Erkenntnisse; wenn hier Individuen ›Spuren sichern‹, dann stets mit dem Ziel, diese Spuren einem größeren Publikum sichtbar zu machen und in der Erklärung der »persönlichen Herkunft«235 auch etwas über, in Bushells Worten, »national history«236 auszusagen237. Man denke an dieser Stelle an Hayden Whites bekannte Sichtweise der geschichtswissenschaftlichen Arbeit als sprachliches Kunstwerk: White betont, dass die Schriften der Historiker immer auch Ergebnisse eines ästhetischen Gestaltungsprozesses seien, dass es sich mithin um »sprachliche[] Kunstwerk[e] [verbal artifact[s]]« oder gar »sprachliche Fiktionen [verbal fictions]« handle, »deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften«238. Die ›Väterliteratur‹ zeigt – und das werden wir im Verlauf dieser Studie immer wieder feststellen –, dass man Whites Ansicht auch leicht abwandeln könnte: Ebenso wie historische Texte bestimmte Charakteristika literarischer Fiktionen aufweisen, können Letztere unter gewissen 231 Mauelshagen: p. 54 f. 232 Bushell, Anthony : »Family History as National History : Peter Henisch’s Novel Die kleine Figur meines Vaters and the Issue of Memory in Austria’s Second Republic«. Orbis Litterarum 59 (2004): p. 100 – 113. Hier: p. 101 f. 233 Kenkel: p. 167. 234 Critchfield: p. 92. 235 Kenkel: p. 167. 236 Bushell: p. 100. 237 Über mögliche Traditionslinien solcher historiographischer Dichtung werden wir uns im elften Kapitel Gedanken machen. 238 White, Hayden: »Der historische Text als literarisches Kunstwerk«. Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart: Reclam, 1994: p. 123 – 157. Hier: p. 124 f.; Hervorhebungen im Original.

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Umständen den Status historischer Texte erlangen. Die von White postulierte textuelle und epistemologische Hybridität geschichtswissenschaftlicher Schriften eignet also auch, mit leichter Akzentverschiebung, literarischen Werken: Sie können, um einen Whiteschen Begriff zu übernehmen, zu »historischen Erzählung[en]«239 werden. Daraus folgt eine zentrale Feststellung, die sich in dieser Arbeit erhärten wird: dass nämlich die ›Väterbücher‹, pointiert ausgedrückt, wie alle historischen Werke einen durchaus politisch gefärbten und jeweils auf facettenreiche Weise gestalteten Faktualitäts-, Vermittlungs- und Geltungsanspruch stellen, der bislang kaum beachtet wurde – und der sich mit dem Innerlichkeitsdrang der neuen Subjektivität überhaupt nicht verträgt. Wir schlagen demnach eine Lesart der ›Väterliteratur‹ vor, die Brandstädter explizit ablehnt (siehe oben), aber dennoch prägnant formuliert: Die ›Väterbücher‹ gelten uns als »Hybridformen, die ohne gattungspoetische Deklarationen permanent zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen oszillieren«240. Diese Studie schlägt deshalb – um es nochmals zu betonen – vor, homogenisierende, einschränkende, widersprüchliche oder einfach fehlgeleitete Begriffe und Kategorien wie ›Väterliteratur‹ oder neue Subjektivität nicht mehr auf das vorliegende Textkorpus anzuwenden. Stattdessen plädiert sie für eine Anerkennung der uneinholbaren Heterogenität, welche diesen Werken eignet: Es handelt sich um individuell verschiedene Reaktionen auf Problemstellungen, die paradoxerweise zugleich einzigartig und allgemeingültig sind. Mit dem Konzept der ›Vertrauenskrise‹ werden diese Problemstellungen in einer Weise beschreibbar, die der Mannigfaltigkeit des Textkorpus gerecht wird. Sodann wird mit dem (auf Claudia Mauelshagen zurückgehenden und beispielsweise von Critchfield und Bushell geteilten, hier noch mit dem Verweis auf Hayden White untermauerten) Vorschlag, die ›Väterliteratur‹ als Hybrid von Geschichtsschreibung und Literatur zu betrachten, die komplexe und widersprüchliche Stellung dieser Werke verständlich – oszillieren sie doch zwischen Fiktionalität und Faktualität, zwischen einer Kontemplation des Subjektiven und einem dezidierten politischen Impetus. Die in dieser Arbeit geübte Begriffskritik, die nicht zuletzt eine Kritik an der zeitgenössischen Literaturgeschichtsschreibung darstellt, wirft zuletzt einige fundamentale methodologische Fragen auf. Literaturgeschichtsschreibung basiert, wie jede Geschichtsschreibung, auf modellhaften narrativen Vereinfachungen, die durch das übergeordnete Ziel des Erkenntnistransfers legitimiert sind. Wann aber gehen die Vereinfachungen zu weit? Wann ist der Punkt erreicht, an dem zusammengefügt wird, was nicht zusammengehört? Wann kommt, anders ausgedrückt, die vom Literarhistoriker angestrebte Komplexi239 Ebd.: p. 124. 240 Brandstädter: p. 20.

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tätsreduktion einer unzulässigen Homogenisierung des allzu Heterogenen gleich? In derartige Grundfragen wird diese Studie letzten Endes ebenfalls münden, wobei wir uns nicht einbilden, auf diese komplexen und fundamentalen Fragen konzise Antworten gefunden zu haben. Bei alledem, dies sei nochmals klar gesagt, ist unsere Kritik am ›Genre‹ der ›Väterliteratur‹ nicht so zu verstehen, dass man die hier zu diskutierenden Texte nicht gemeinsam betrachten darf – wir bestreiten nicht, dass die Werke gewisse geteilte Merkmale aufweisen; es sind ja nicht zuletzt diese Merkmale, die wir in der Folge genau herausarbeiten wollen. Wir werden uns aber hüten, die alten homogenisierenden und widersprüchlichen Termini und Klassifikationen beizubehalten. Diese Studie ist bemüht, bei der Analyse der gemeinsamen Merkmale der ›Väterbücher‹ zu neuen, weitmaschigeren und adäquateren Begrifflichkeiten und literarhistorischen Verortungen zu gelangen, die der für die Texte charakteristischen Heterogenität angemessen sind. Wir sind überzeugt, dass unsere Hypothese einer für die ›Väterliteratur‹ typischen ›Vertrauenskrise‹ und einer historiographischen Grundierung der Texte unter diesen Kriterien tragfähig ist. Zu betonen ist hier nur, noch einmal und immer wieder, dass die Konstituierung eines ›Genres‹ namens ›Väterliteratur‹ auf der Basis dieses Textkorpus nicht akzeptabel ist: Wie wir schon im Groben feststellten und anhand unserer Beispieltexte immer wieder im Detail zeigen werden, ist die Heterogenität der fraglichen Werke so groß, die väterzentrierte Terminologie so eingeschränkt und kurzsichtig und die bisherige literaturwissenschaftliche Meinungsbildung zum Thema so widersprüchlich, dass der etablierte Gedanke einer der neuen Subjektivität zugehörigen ›Väterliteratur‹ in dieser Studie verworfen werden muss241.

241 In der Tat sind die in dieser Arbeit zu leistenden Präzisierungen und Revisionen der bisherigen Forschung so grundlegend und radikal, dass zwei Autoren – Julian / Jutta Schutting und Peter Härtling – meines Erachtens für die ›Väterliteratur‹ überhaupt nicht zu retten sein werden. Das heisst: Die relevanten Texte von Härtling und Schutting entsprechen weder der hier kritisierten Sichtweise der ›Väterliteratur‹ noch unserer revidierten Perspektive auf das vorliegende Textkorpus; sie sind vielmehr distinkt von diesem Korpus, anderen Traditionen zugehörig, und wurden in der Vergangenheit zu Unrecht als ›Väterliteratur‹ behandelt. Dass es bei Schutting und Härtling um Väter geht, ist natürlich unbestritten, aber es fehlen eben sowohl die Merkmale, die klassischerweise mit der ›Väterliteratur‹ assoziiert werden – besonders die Auseinandersetzung mit einem patriarchalischen Nazi-Vater im Kontext eines erbitterten Generationenkonflikts – als auch die Eigenschaften, die wir der ›Väterliteratur‹ in dieser Arbeit zuschreiben, d. h. ›Vertrauenskrisen‹ und ein historiographisches Interesse sucht man bei beiden Autoren weitgehend vergeblich (in letzterem Punkt bildet Härtling zugegebenermaßen eine Ausnahme, aber wie wir sehen werden, unterscheidet sich seine historiographische Tätigkeit stark von der gemeinhin in der ›Väterliteratur‹ unternommenen).

I. Von der ›Väterliteratur‹ zur ›Vertrauenskrise‹: Eine Relektüre von Christoph Meckels Suchbildern und Bernward Vespers Die Reise

Die repräsentative Stellung von Christoph Meckel und Bernward Vesper im Kontext der ›Väterliteratur‹ wurde bereits eingangs erwähnt. Beide sind, in Barbara Kostas Worten, »writers that define father literature«242 – allerdings behandelt sie Vesper (obwohl sie Die Reise für »groundbreaking«243 hält) mit einer bemerkenswerten Nachlässigkeit, die, wie wir noch sehen werden, symptomatisch ist für den Umgang der Germanistik mit diesem Autor : Er figuriert bei Kosta allen Ernstes als »Bernhard Vesper«244, und als Erscheinungsdatum der Reise wird fälschlicherweise das Jahr 1971 angegeben. Den repräsentativen Status, der ihm in der Sekundärliteratur zugeschrieben wird, nahm Bernward Vesper jedenfalls – der in der Folge wie Meckel aufgrund der autobiographischen Anlage der besprochenen Werke mit dem Erzähler in eins gesetzt wird – in seinem Text explizit für sich in Anspruch: »nach allem, was ich gehört habe, ist es anderen nicht anders ergangen [als mir], und die private scheisse von millionen menschen muss endlich ihre konsequenzen haben«245. Diesem Anspruch entsprechend wurde Die Reise denn auch zu einem großen Erfolg, und nicht nur die Rezensenten246 und Interpreten – Bernd Neumann bezeichnet Die Reise als »Nachlass einer ganzen Generation«247 –, sondern auch Schriftstellerkollegen wie Peter Weiss attestierten dem Text die Repräsentativi242 243 244 245

Kosta: p. 220. Ebd. Ebd. DR: p. 632. Die durchgehaltene Kleinschreibung ist eine Idiosynkrasie Vespers, die man in den Paratexten der Reise – hier in den ergänzenden Materialien im Anhang des Romans – antrifft und die in dieser Arbeit beibehalten wird. 246 Eine Auflistung einschlägiger zeitgenössischer Rezensionen findet sich bei Guntermann, Georg: »Tagebuch einer Reise ins Innere des Autors«. Zeitschrift für Deutsche Philologie 100 (1981): p. 231 – 253. Hier : p. 233. 247 Neumann, Bernd: »Die Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist der Autobiographie? Einige Anmerkungen zum neuen autobiographischen Roman am Beispiel von Hermann Kinders Der Schleiftrog und Bernward Vespers Die Reise«. Basis 9 (1979): p. 91 – 121. Hier: p. 121.

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tät, die eben schon sein Autor selbstbewusst verkündet hatte: »Mit dem Buch von Bernward Vesper (Die Reise) war der intellektuelle Höhepunkt der Bewegung des Jahrs 68 erreicht worden«248. In der Literaturgeschichtsschreibung figurieren die Texte dementsprechend prominent: Bei Barner werden Meckel und Vesper als Archegeten der ›Väterliteratur‹ genannt249. In Metzlers Deutscher Literaturgeschichte findet Meckels ›Vaterbuch‹ keine Erwähnung, wohl aber Die Reise, als deren Anliegen die »Entlarvung des überlebensgroßen, autoritären Vaters« und die »Absage an die Verbrechen der Väter«250 identifiziert werden. Dieser entsprechend dem Begriff der ›Väterliteratur‹ sehr eingeschränkte Blick auf Die Reise findet sich auch bei Forschern wie Ralf Zschachlitz, Wolfgang Frühwald, Gerald Stieg und dem Vesper-Biographen Gerd Koenen. Zschachlitz schreibt: »Die Reise [ist] ein literarischer Kampf gegen die jüngere deutsche Vergangenheit, zu derem [sic] Repräsentanten die Vaterfigur wird […]«251. Frühwald reduziert Die Reise auf einen »verbalen Vatermord«252. Koenen wiederum postuliert, dass der »Zug von Überdeutlichkeit«, welcher der Reise Repräsentativität verleihe und sie »zu einem Zeitdokument ersten Ranges« mache, aus den im ›Romanessay‹ angelegten »typischen Mustern des generationellen Verhaltens« entstehe: namentlich aus »der Prägung durch einen ›echten‹, übermächtigen […] ›Nazivater‹«253 und der darauffolgenden Rebellion gegen ebendiesen Vater. Bei Stieg wird schließlich Die Reise als »totale[] Abrechnung mit dem Vater«254 gelesen. 248 Weiss, Peter : Notizbücher 1971 – 1980. Zweiter Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 21982 (= Neue Folge, Bd. 67). Hier : p. 672. Vgl. auch Assmanns Nobilitierung der Reise als »Prototyp der Gattung [›Väterliteratur‹, Anm. v. J. R.]« (Assmann: p. 206, Anm. 12) oder die Einleitung der Herausgeber des Tagungsbands Deutsche Väter von 1981, in der Die Reise als »Vorläufer[]« aller »Väter-Bücher« bezeichnet wird (Deutsche Väter. Über das Vaterbild in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Loccumer Protokolle 6 / 1981. Tagung vom 20. bis 22. Februar 1981. Hg. von Karl Ermert und Brigitte Striegnitz. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum, 1981. Hier: p. 1). Vgl. des weiteren Ralf Zschachlitz‹ Postulat, wonach »[Vesper] […] prädestiniert[]« sei für eine »symbolisch-repräsentative Rolle«, da er »alle wichtigen Charakteristika der 68er-Generation« in sich vereine: Als Sohn des Nazi-Poeten Will Vesper sei er der ideale Rebell, als Freund und Ex-Verlobter Gudrun Ensslins aber auch ein teilnehmender Beobachter der turbulenten Ereignisse um 1968 und des Abdriftens von Teilen der Protestbewegung in den Terrorismus (Zschachlitz, Ralf: »›Akzeptieren des Widerspruchs als oberstes Prinzip‹. Bernward Vespers Romanessay Die Reise als Dokument einer Befindlichkeit um 68«. Cahiers d’Êtudes G¦rmaniques 54.1 (2008): p. 93 – 117. Hier: p. 94). 249 Ebd.: p. 617 f. 250 Schnell: p. 642. 251 Zschachlitz: p. 95. 252 Frühwald: p. 108. 253 Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Frankfurt am Main: Fischer, 32009. Hier: p. 311. 254 Stieg, Gerald: »Rechtfertigungen des Lebens oder des Todes. Überlegungen zu den Autobiographien von Rudolf Henz, Elias Canetti, ManÀs Sperber, Thomas Bernhard, Bernward

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Fest steht, dass die Vaterporträts der beiden angeblichen Gattungsbegründer Vesper und Meckel tatsächlich zu den eindringlichsten und verstörendsten literarischen Zeugnissen problematischer Vater-Sohn-Beziehungen zählen. Hier soll aber im Detail gezeigt werden, dass der Terminus ›Väterliteratur‹ diesen facettenreichen Texten in keiner Weise gerecht wird (genauso wenig wie der Begriff der »Generationskonfrontation«255, den zumindest Vesper auch selber verwendet256 – hierzu später mehr). Der Terminus ist umso problematischer, weil sich, wie bereits gezeigt, auch die Literaturgeschichte zu seiner Rechtfertigung auf Vesper und Meckel beruft. Diese beiden Autoren haben aber, wie wir sehen werden, gerade keine genuinen ›Väterbücher‹ geschrieben. Eine ›väterzentrierte‹ Lektüre der genannten Texte ist schon allein aus den in der Einleitung erwähnten Gründen myopisch: Die Autoren arbeiten sich nämlich nicht allein an ihren Vätern ab, sondern problematisieren die Familie als soziale Institution – eine Tatsache, die beispielsweise Kosta in fast schon grotesker Blindheit ignoriert, wenn sie behauptet, dass »these texts« (womit unter anderem Die Reise und die Suchbilder gemeint sind) von einer »exclusive fixation on the father […] and the absence of other family members«257 geprägt seien. Wenn aber Vesper beispielsweise von den »unveränderten charakterlichen Strukturen«258 der Kleinbürger und vom »Panzer der Angst«259 schreibt, verwendet er das Vokabular Wilhelm Reichs, der mit seiner Theorie der »[c]harakterliche[n] Panzerung«260 die gesellschaftliche Einrichtung der Familie schon in den Vierzigerjahren problematisiert hatte – und eine entsprechende Stelle aus Reichs Massenpsychologie des Faschismus, in der die Familie als »autoritäre[r] Miniaturstaat«261 definiert wird, zitiert Vesper in der Reise in voller Länge. In solchen Konfigurationen spielen die Mütter logischerweise eine ähnlich prominente Rolle wie die Väter, sodass schon allein darum die angeblichen Urheber der ›Väterliteratur‹, Vesper und Meckel, eigentlich gar keine ›Väterliteratur‹ geschrieben haben können262. In der Reise steht Bernward Vespers Mutter Rose

255 256 257 258 259 260 261 262

Vesper, Fritz Zorn«. Cahier de l’Institut d’Etudes G¦rmaniques 5 (1988): p. 43 – 55. Hier: p. 49. Vgl. Barner, p. 617. Vgl. DR: p. 301. Kosta: 226 f. Von derselben Blindheit sind Schmitz (p. 86) und Kenkel (p. 168) geschlagen. DR: p. 46. Ebd.: p. 285. Reich, Wilhelm: Die Entdeckung des Orgasmus. Sexualökonomische Grundprobleme der biologischen Energie. Die Entdeckung des Orgons, Bd. 1. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 9 2009. Hier: p. 106. DR: p. 427. Vgl. Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 62003. Hier: p. 49. Ralph Gehrke bleibt, wie bereits erwähnt, der einzige Interpret, der das terminologische gendering der ›Väterliteratur‹ kritisiert. Allerdings erkennt zumindest Kosta durchaus, dass die Rezeption ihre Aufmerksamkeit in ungebührlicher Weise auf die »public persona of the father« beschränkt hat und dabei beispielsweise »the thorny issue of gender as part of this

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Vesper dem Vater Will Vesper in nichts nach, was Borniertheit, physische und psychische Brutalität und entsprechende Erziehungsmethoden betrifft263. Natürlich ist Will Vesper, der einstmals prominente Nazilyriker, eine schillerndere Figur, die in der Reise auf furchterregende Weise gezeichnet wird. Das dürfte erklären, weshalb sich die Forschung derart auf ihn kapriziert, ändert aber nichts daran, dass Vespers Mutter ihren Sohn im selben Maße »zur Sau gemacht«264 hat wie der Vater. Als die Eltern beispielsweise während »Wochen«265 nicht mehr mit dem kleinen Bernward reden, um ihn für eine kindliche Untat zu bestrafen, schreibt der Knabe dem Vater »mit vielen Buntstiften einen Zettel: ›Lieber Vater, bitte rede wieder mit mir, sonst komme ich nie wieder‹«266. Als die Eltern den Zettel finden, ist es die Mutter, die ausruft »[d]as werden wir auch noch überleben!«267 Sie ist es auch, die sich Bernwards ersten lyrischen Versuch, der nur aus der Zeile »[e]s handelt sich um eine Sternennacht« besteht, aneignet und ihn beim Mittagessen vor der ganzen Familie lächerlich macht: »Es handelt sich um eine Sternennacht. Aus. Weiter ist der Roman bisher nicht gediehen«268. Bernward Vespers Bekanntschaften sodann müssen in erster Linie vor dem Blick der Mutter bestehen, die einige potenzielle Freundschaften mit subtiler Grausamkeit zerstört: ›Du musst uns besuchen!‹ sagte ich [zu Peter Schmitz […] mit dem großen Silberring]. Ich musste meine Mutter um Erlaubnis bitten, Peter Schmitz durfte ins Haus kommen […]. Als ich im Bett liege, frage ich meine Mutter […]: ›Findest Du ihn auch sehr nett?‹ ›Er ist gut erzogen‹, sagt sie, ›aber sehr altklug, und diesen Ring finde ich affig.‹ Dieser Ring ist affig, am nächsten Morgen treffe ich Peter, […] [i]ch starre ihn an, dieser Ring ist affig, […] der, da er affig ist, es unmöglich macht, dass wir Freunde bleiben[.]269

Ähnlich lapidar und endgültig urteilt die Mutter über Bärbel, ein Mädchen, in das sich der junge Bernward verliebt hat: »›ein schönes mädchen, nur schade, dass sie krumme beine hat‹. da ich [Bärbel] liebte, verletzte mich das tief. ich hasste [meine Mutter] dafür, weil ich es kleinlich fand (wollte mich für sich, obwohl sie unfähig zur liebe!)«270. Das sind nur einige Kostproben von Rose Vespers Wirken als Mutter, das Bernward Vesper sicherlich nicht minder trau-

263 264 265 266 267 268 269 270

history« übersah (Kosta: p. 221). Kurioserweise ist die Kategorie Gender für Kosta aber nur im Rahmen einer Untersuchung des Männlichkeitsbilds relevant, dessen Krise in der ›Väterliteratur‹ ihrer Meinung nach verhandelt wird. Für die Mutterfiguren interessiert sie sich nicht, ja sie erkennt nicht einmal ihre Existenz an, wie wir oben gesehen haben. Was Reinhold Grimm, wie gesagt, als Erster bemerkte. Siehe Grimm 1982: p. 172. DR: p. 20. Ebd.: p. 340. Ebd.: p. 341. Ebd.: p. 342. Ebd.: p. 344 f. Ebd.: p. 382 f. Ebd.: p. 644.

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matisierte als die zahllosen väterlichen Gemeinheiten und Brutalitäten. Eine prägnante Passage in der Mitte der Reise demonstriert Vespers Hass auf die Mutter und die Ausmaße ihres Versagens in dieser Rolle: Einmal, es muss 1944 gewesen sein, als mein Vater aus Spanien zurückkam und den großen Spankorb voller Mandeln, Pinienkerne, Apfelsinen, Feigen mitbrachte, fanden meine Schwester und ich abends […] unter dem Kopfkissen etwa zwei, drei Wochen lang eine Dattel, eine Mandel, eine Nuss, ein paar Pinienkerne. Niemand erklärte uns, woher. Keiner verlangte etwas dafür, es waren Geschenke reinen Herzens. Ich nehme an, dass meine Mutter auf den Gedanken kam. […] Wenn heute schon die Zeit der Versöhnung und nicht erst die Stunde der Wahrheit, dies – und nur dies, könnte ihr Schonung eintragen.271

Schon bei der Lektüre der Paratexte der Reise wird deutlich, dass die Mutter in Vespers ›Romanessay‹ eine ähnlich wichtige Position einnimmt wie der Vater. In Bernward Vespers Konzept der Reise erhält die Mutter auf der hierbei relevanten Erzählebene des »[e]infachen Bericht[s]«272 (so nennt Vesper die autobiographischen Passagen über seine Jugend) sogar ein kleines Übergewicht gegenüber dem Vater : Vorgesehen war nämlich neben den »Porträts« der beiden Elternteile, »die für die Konstituierung der Biographie und der Psyche entscheidend sind«, auch ein »Interview mit der Mutter«273 (das allerdings nicht realisiert wurde). Denkt man an Aleida Assmanns Feststellung, dass auch die Großeltern in der ›Väterliteratur‹ Beachtung finden, so muss man hier auch Vespers Großmutter erwähnen – die einzige positiv gezeichnete Verwandte in der Reise274. Die Einordnung der Reise in die unzureichend definierte und künstliche eingeschränkte Kategorie der ›Väterliteratur‹ hält also nicht einmal einer oberflächlichen Durchsicht des Textes stand. Dasselbe gilt für Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater, in dem der Autor seine Beziehung zum Vater, dem Dichter Eberhard Meckel, aufarbeitet. Hier hat man es auf den ersten Blick tatsächlich mit einem »Vater-B[u]ch[]«275 zu tun, was der Titel ja auch ankündigt, und dementsprechend wurde der Text rezipiert276. Jedoch greift auch hier der Begriff einer ›Väterliteratur‹ viel zu kurz. 271 272 273 274 275

Ebd.: p. 326 f. Ebd.: p. 607. Ebd. Siehe v. a. ebd. p. 475 ff. Segebrecht, Wulf: »Christoph Meckels Suchbild unter anderen Vaterbildern«. Christoph Meckel. Hg. von Franz Loquai. Eggingen: Edition Isele, 1993: p. 78 – 96. 276 Vgl. z. B. Kanes, Eveline L.: »In Search of Fathers«. Denver Quarterly 18.1 (1983): p. 3 – 13; Kosta: p. 222 ff.; Segebrecht: p. 80 ff.; Deutsche Väter : p. 1 und Vormweg, Heinrich: »Eine sanfte Art von Mord? Über die neueren literarischen Vaterbilder«. Deutsche Väter. Über das Vaterbild in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Loccumer Protokolle 6 / 1981. Tagung vom 20. bis 22. Februar 1981. Hg. von Karl Ermert und Brigitte Striegnitz. RehburgLoccum: Evangelische Akademie Loccum, 1981: p. 4 – 13, hier v. a.: p. 11. Zumindest Kanes

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Schon im Nachwort zu Suchbild. Über meinen Vater schreibt Meckel, dass er im Zuge seiner Nachforschungen über seine Familie »noch ganz andere Angelegenheiten« ans Licht gebracht, sie aber für den Roman nicht verwendet habe, da seine »Mutter geschont werden«277 müsse – »[i]hre Gegenwart erforderte Rücksicht«278, notierte er 2002 rückblickend. Wenn Suchbild. Über meinen Vater ein ›Vaterbuch‹ ist, dann, wie wir in der Einleitung schon vermuteten, nur aufgrund einer Schonhaltung des Autors gegenüber seiner Mutter, nicht aber, weil dies von Anfang an Meckels ästhetisches Programm gewesen wäre. Im Gegenteil: Ich sah, dass es notwendig sein würde, auch über [meine Mutter] zu schreiben, wobei es sich […] um den zweiten Teil eines Diptychons [handeln würde], der den ersten notwendig ergänzte und vielleicht vervollständigte. Das Bild meines Vaters blieb unvollständig, solange eine Darstellung seiner Frau, meiner Mutter, fehlte. Die SuchbildBücher gehören zusammen. Sie sind eine genaue Darstellung bürgerlich-deutscher Herkunft im 20. Jahrhundert. Ich stellte mir vor, dass die Bücher sich ergänzten wie Doppelbildnisse von Eheleuten in der Malerei des späten Mittelalters, zwei Profile, einander zugewandt, in einzelnen Rahmen.279

Tatsächlich verfasste Meckel dieses »notwendig« gewordene Buch über seine Mutter direkt im Anschluss an das Vaterbuch – sein Mitteilungsbedürfnis duldete offenbar keinen rücksichtsvollen Aufschub mehr : Der eigene Wortlaut kann nicht verschoben werden. Er verlangt, geschrieben zu werden, jetzt und hier […], ohne Rücksicht auf das Modell und den Autor selbst. Ich warte nicht auf den Tod des erzählten Menschen […]. Doch kann ich kein Wort verzögern aus Pietät. Pietät ist verfehlt, schon immer verfehlt gewesen. Die Sympathie, die einzige, die ich empfinde, besteht in der objektivierten Erinnerung.280

Für Meckel stand jedoch fest, dass das Buch »nicht erscheinen konnte, solang meine Mutter am Leben war«, und so »blieb das Manuskript neunzehn Jahre lang unter Papieren und Büchern verschollen«281 und wurde erst 2002 veröffentlicht. Die Publikationsgeschichte der Suchbilder ist demnach nicht unkompliziert, aber es scheint klar, dass man die beiden Texte nicht getrennt betrachten darf, dass sie mit ihren »zwei Profilen« ein »Diptychon« über die Eltern des Autors bilden und deshalb eine Einordnung Meckels in die Rubrik der ›Väterliteraten‹ äußerst problematisch ist. Dass außerdem ein Großvater im

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fragt allerdings auch nach der Rolle der Frauen während des Kriegs (aber nicht spezifisch nach der Rolle der Mütter), und Segebrecht erkennt immerhin, dass die Vaterfiguren in der ›Väterliteratur‹ alles andere als »vital[]« sind (Segebrecht: p. 83). SV: p. 182. SM: p. 127. Ebd.: p. 128. Ebd.: p. 8 f. Ebd.: p. 131.

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Suchbild herumspukt, muss ebenfalls erwähnt werden: Wie viele andere ›Väterliteraten‹ entzieht Meckel dem Begriff der ›Väterliteratur‹ gleich selber den Boden, indem er auch die Person des Großvaters in seine Analysen einbezieht. Dieser Großvater, ein »bedeutender Architekt«282, war ein »Scheusal«283, ein »Misanthrop«, der die »Natur [seiner] Kinder«, darunter Meckels Vater, »zerbrach«284. Meckels Interesse erfasst also nicht nur mehr als einen Elternteil, sondern auch mehr als eine Generation; von ›Väterliteratur‹ kann in Bezug auf die Suchbilder nicht die Rede sein. Was Meckel über seine Mutter zu sagen hat, ist nicht ganz so drastisch wie Vespers oben zitierte Äusserungen, entspringt aber einer ähnlichen Prämisse: »[I]ch habe meine Mutter nicht geliebt«285. Übrigens verletzt Meckels Mutter den Sohn in ganz ähnlicher Weise wie Rose Vesper den ihren in den oben zitierten Stellen aus der Reise: Auch Christoph Meckel schreibt als Kind »Briefe an [die Mutter] […] mit verschiedenfarbigen Stiften, […] um Antwort wurde gebeten, sie traf nicht ein. Die Mutter war wie immer zerstreut und fern«286. Auch die Freunde und Bekanntschaften der Söhne werden von Meckels Mutter »[z]erredet«, wie dies mit Vespers Freunden in spe, Peter Schmitz und Bärbel, geschieht – in der Tat liefert Meckel gleichsam eine erklärende, theoretisierende Ausformulierung dessen, was bei Vesper als Anekdote erzählt wird: [In der] Mühle [des mütterlichen Redens] wurde der Mensch zerdreht. […] [W]ie sich der eine entwickle, der andere verhalte, wie gut, verdienstvoll, beklagenswert oder unmöglich; wie […] reizend die eine Freundin, wie fraglich die andere. Das Reden stellte eine Wirklichkeit her, die alles Tatsächliche im Triumph verschlang. […] Die Abwesenheit der andern gab Anlass zu reden […]. Ich erfuhr Gespräch als eine Form des Zerredens, als Zerfressen von Wirklichkeit und persönlichem Zauber, […] als Verwüstung dessen, was selbstverständlich war. […] Kein Mensch schien am Leben gelassen, wie er war.287

Es wird noch im Detail zu zeigen sein, inwiefern sich die Familienkonstellationen der Vespers und der Meckels gleichen und welche Muster man in beiden Familien ausmachen kann. Für den Moment genügt die obige, mit einigen Textbeispielen gestützte Feststellung, dass in den angeblichen ›Vaterbüchern‹ von Meckel und Vesper die Mütter eine tragende Rolle spielen. Eine Einordnung ihrer Texte in die kaum definierbare Gattung ›Väterliteratur‹ ist nur deswegen schon zu kritisieren288. Außerdem wird so die facettenreiche Charakterzeich282 283 284 285 286 287 288

SV: p. 19. Ebd.: p. 18. Ebd.: p. 20. SM: p. 7. Ebd.: p. 28. Ebd.: p. 10 f. Diese selektive Wahrnehmung der Forschung ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt,

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nung der Vaterfiguren bei Vesper und Meckel verkannt. Sie treten eben keineswegs nur als brutale Patriarchen auf, sondern sind immer auch in vielerlei Hinsicht schwache, defizitäre Männer, die sich in Abhängigkeitsverhältnissen zu ihren Ehefrauen befinden – ein Motiv, das man mit gewissen Variationen in einigen ›Väterbüchern‹ antrifft289 und dem in der Forschung wiederum kaum Beachtung geschenkt wurde. So kehrt Meckels Vater aus langjähriger Kriegsgefangenschaft mit einer Hirnverletzung zurück und ist für den Rest seines Lebens ein schwer gezeichneter Mann: »Die Entzauberung war gründlich […]. Der Halbgott des Kinderglaubens war ein nervöser Mann, Erzieher mit Nachholbedarf an Autorität. […] Zum ersten Mal empfand ich Mitleid mit ihm. Unwiderruflich und immer mehr wurde er zum Symbol für alles Unentrinnbare […]«290. Der Vater, »zerrüttet vom Krieg und krank«291, später dann »hoffnungslos isoliert«292, ist auf die »Stärke«293 der Mutter angewiesen. Ähnlich ergeht es Will Vesper, der es als gebrandmarkter Mitläufer nach dem Krieg schwer hat, seine literarischen Arbeiten zu veröffentlichen und der, zusätzlich von einer Lungenentzündung geschwächt, seiner Rolle als Ernährer kaum mehr gerecht wird – ja, der einstmals so bedrohliche Vater nimmt nun in der Wahrnehmung des Sohnes lächerliche und erbärmliche Züge an: [M]ein Vater stand in einem blauweiss gestreiften Bademantel auf der Schwelle, er hielt ein Glas in der Hand, die Hand zitterte. ›Ich brauche noch etwas heiße Milch‹, sagte er […]. Er roch nach ranzigem Schweiß, gelbliche Haut hing in Falten unter seiner Brust, der Bademantel über dem Gürtel stand handbreit offen. […] Nach einer Weile sagte [die Mutter]: ›Er verdient ja nichts. Natürlich, niemand druckt ihn. […]‹ (Ihr gehörte das Gut, er hatte eingeheiratet.)294

Das Bild des nach Milch verlangenden kranken und gebrechlichen Vaters suggeriert gar einen Regress, eine Infantilisierung, und Bernward Vesper fügt dieser eindringlichen Beschreibung maliziös die Bemerkung hinzu, dass der Vater sich die Rolle des patriarchalischen Gutsherrn im Grunde erschwindelt hat, denn sie kommt ihm nicht von Geburt an zu. Der Vater, resümiert Vesper in einer Notiz

289 290 291 292 293 294

dass die Figur der dummen oder schlechten Mutter im Grunde eine lange Tradition hat und schon im sogenannten bürgerlichen Trauerspiel auftaucht (Vgl. Stephan, Inge: »Aufklärung«. Deutsche Literaturgeschichte. Siehe Fn. 145. Hier : p. 168). Vor allem in Form einer literarischen ›Verkleinerung‹ des Vaters, ob dieser nun tatsächlich kleinwüchsig war oder nicht. Vgl. besonders Henischs Kleine Figur meines Vaters – aber auch bei Schutting und Rehmann begegnet dieses Motiv. SV: p. 101 f. SM: p. 65. Ebd.: p. 42. Ebd.: p. 65. DR: p. 455 f.

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zur Reise trocken, sei »als versager gestorben«, als von der »starke[n] Mutter« – der gleiche Wortlaut wie bei Meckel – »benutzte[s] ausstellungsstück«295. Mit Blick auf das terminologische Problem, das in dieser Arbeit, wie oben angekündigt, behandelt werden soll, können wir nach dieser kurzen Bestandesaufnahme auf der ›Mikroebene‹ der Texte von Vesper und Meckel bereits erste vorläufige Beobachtungen anstellen: Der Begriff der ›Väterliteratur‹ wird zwar immer wieder auf die beiden Autoren angewendet, greift aber, wie wir im Weiteren sehen werden, nicht nur in Anbetracht der Rolle, welche die Mütter in diesen Romanen spielen, zu kurz296. Auch die Analyse der Reise als Verarbeitung eines ›Generationenkonflikts‹ wird sich im Zuge der hier vorgebrachten Überlegungen als unzutreffend herausstellen. Der Verfasser möchte sich, anders als die bisher zitierte Sekundärliteratur zu Vesper und Meckel, nicht auf eine Betrachtung der jeweiligen Vaterfiguren beschränken, sondern in einem ersten Schritt den Komplex der Familie bei beiden Autoren einer gründlicheren Analyse unterziehen, welche auch die Rolle der Mutter und übergeordnete kulturgeschichtliche Zusammenhänge berücksichtigt. Was Bernward Vesper betrifft, muss zusätzlich dem politischen und geistesgeschichtlichen Kontext seines literarischen Schaffens einige Aufmerksamkeit gewidmet werden: einem Kontext, in dem die Familie eben nur eine von vielen gesellschaftlichen Institutionen ist, die radikal hinterfragt werden. Zudem ist, wie in der Einleitung angekündigt, die für die ›Väterliteratur‹ symptomatische Einordnung297 der Reise in den Trend der

295 Ebd.: p. 667. Das ist übrigens durchaus wörtlich zu verstehen, da Rose Vesper den eher widerwilligen Will Vesper offenbar öfter zwecks Repräsentation zur Teilnahme an gesellschaftlichen Anlässen zwang: »Nur beim Schützenfest, wenn Karusselle und Schießbuden vor der Post aufgebaut waren, drängte meine Mutter: ›Wir müssen uns schließlich wenigstens einmal sehen lassen, der Direktor des Holzwerks ist jede Nacht dort, kein Wunder, wenn die Industrie populärer ist.‹ Mein Vater zog den langen, schwarzen Mantel an, legte den weißen Seidenschal um seinen dünnen, faltigen Hals. Als er zur Verandatür hinausging, hörte ich ihn knurren: ›Zum Vorzeigen bin ich wieder gut!‹« (Ebd.: p. 462 f.). Man vergleiche in diesem Kontext auch die Äußerung Jutta Schuttings – einer Autorin, von der noch die Rede sein wird – im Rahmen einer Podiumsdiskussion: »Mein Vater hat bisweilen getobt, er hat aber nichts zu sagen gehabt […]« (Deutsche Väter. Siehe Fn. 5: p. 61). 296 Ganz zu schweigen von den zahllosen unerträglichen Mutterfiguren in fiktionalen Texten jener Zeit, die auch noch einer systematischen Analyse harren und oft zu Gunsten der männlichen Charaktere in germanistischen Studien übergangen werden. Beispielsweise seien genannt: Hans Schniers Mutter in Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns; die Ehefrau des Erzählers und Mutter des gemeinsamen Sohnes in Arno Schmidts Aus dem Leben eines Fauns, und Gottlieb Judejahns »[e]ndsieggläubige[]« Frau Eva im Tod in Rom (Koeppen, Wolfgang: Der Tod in Rom. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975. Hier: p. 26). Sie alle sind fanatische, heuchlerische und kriegstreiberische Frauengestalten, die in zwei Fällen – bei Böll und Schmidt – gar die eigenen Kinder gegen den zugegebenermaßen schwachen Widerstand der Väter in den Kriegstod treiben. 297 Wie sie beispielsweise Kosta vornimmt, siehe Kosta: p. 220.

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Von der ›Väterliteratur‹ zur ›Vertrauenskrise‹

»Entdeckung des Ich«298, der »Individualarchäologie«299 im Rahmen der neuen Subjektivität zu hinterfragen. Diese Betrachtungen, gekoppelt an eine Analyse der zeitgenössischen institutionskritischen Debatten und der in dieser Hinsicht relevanten Passagen in der Reise, werden letztlich zeigen, dass wohl nur der oben eingeführte Begriff einer generationsweiten ›Vertrauenskrise‹ die Prämissen dieser Art von Literatur in hinreichender Allgemeingültigkeit zu fassen vermag. Dieser neue Terminus hat den Vorteil, dass er die Lektüre der relevanten Texte nicht a priori einschränkt (wie das bei der ›Väterliteratur‹ der Fall ist) und uns in die Lage versetzt, die Möglichkeitsbedingungen von Werken wie der Reise und den Suchbildern nicht nur im Familienkreis der Autoren zu suchen, sondern auch in der Zeitgeschichte und den kulturhistorischen Zusammenhängen. Dieser neue Terminus ist auch auf Meckels Suchbilder anwendbar, aber bei Vesper tritt die ›Vertrauenskrise‹, wie wir sehen werden, in ihrer extremsten, prototypischsten Form in Erscheinung. Auf der Basis dieses Begriffs soll sodann versucht werden, Die Reise von gewissen Stigmatisierungen zu befreien, die aus einer bestimmten polemischen Rezeptionstradition resultieren. Es ist zu hoffen, dass am Ende dieser Detailanalyse ein nuancierteres Verständnis des kritischen Potenzials und der literaturgeschichtlichen Position der Werke Vespers und Meckels stehen wird – aber auch ein Bewusstsein für die Gefahren und die Tragik der bei Vesper begegnenden absoluten ›Vertrauenskrise‹ und ihrer ideologischen Weiterungen, deren Skopus eben so viel mehr umfasst als ›nur‹ den Vater. Die folgenden Überlegungen werden darüber hinaus den Boden bereiten für die Einzelanalysen der verschiedenen ›Väterbücher‹ im zweiten Teil dieser Studie.

298 Schnell: p. 637. Vgl. ebd. p. 638 ff. 299 Ebd.: p. 642.

2. Familienkonstellationen und die ›Vertrauenskrise‹ in Die Reise und den Suchbildern: Von der Heiligen Familie zum Zweiten Weltkrieg

Zum besseren Verständnis der in diesem ersten Teil der Arbeit zur Diskussion stehenden Werke sollte man sich also zunächst von der einseitigen Betrachtung der Vaterfiguren lösen und die von Vesper und Meckel zur Darstellung gebrachten Familienbande in toto analysieren. Auch Kosta hält fest, dass in der Forschung zu den hier diskutierten Texten die »historical legacy of fascism and the public persona of the father«300 ein Übergewicht erhielt und dass die »paternal narrative of discipline« eigentlich ein »long psychocultural heritage«301 besitzt, das man in den Blick nehmen und sich bewusst machen sollte. Leider unterlässt sie das, weshalb wir in diesem Kapitel unsere Aufmerksamkeit ebendiesem »long psychocultural heritage« der bei Vesper und Meckel zur Darstellung gebrachten Familienbilder widmen wollen. Dabei wird der Blick auf die vielen auffälligen Gemeinsamkeiten in den von den Autoren beschriebenen Familienkomplexen vorerst durch die großen Unterschiede im Duktus verstellt: Vesper wollte in der Reise bekanntlich »endlich mal auspacken, abrechnen, es den Leuten zeigen«, und tat das dann auch – es entstand eine leidenschaftliche, hasserfüllte »›schonungslose Autobiographie etc.‹«302, wobei die Anführungszeichen und das »etc.« bereits wieder eine gewisse Distanz zu dieser Produktionshaltung suggerieren, und damit vielleicht ein Bewusstsein des Autors, dass seine vermeintlich subversive Erzählhaltung eben auch schon topisch und traditionsverhaftet ist (hierzu später mehr). Meckel dagegen bedient sich eines eher melancholischen, »Distanz schaffenden Darstellungsgestus«303 ; seine Suchbilder sind zwar durchaus (und vielleicht gerade wegen dieses Gestus) ›schonungslos‹, aber das Anliegen scheint nicht in erster Linie eine Abrechnung zu sein. Vielmehr unternimmt Meckel einen genuinen Versuch, sich in einer Art Selbsttherapie ein realistisches Bild der Eltern zu verschaffen: Es ging ihm nach eigener 300 Kosta: p. 221. 301 Ebd.: p. 224. Siehe zum in der Einleitung schon diskutierten Thema der »paternal narrative« auch Figge 1990: p. 195 ff. 302 DR: p. 24. 303 Barner : p. 618.

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Aussage nicht um einen »belastende[n] oder entlastende[n] Vorgang, sondern [um] Genauigkeit des Erinnerns und Schreibens und die Entdeckung, den Menschen geliebt zu haben, der nun der Gegenstand eines Buches war«304. Die Unterschiede in den Ansätzen Vespers und Meckels sollen aber nicht über die oben angesprochenen Gemeinsamkeiten hinwegtäuschen. Allein die Grausamkeiten, die den Autoren notabene von ihren Müttern angetan werden, ähneln sich auf frappierende Weise – man denke nur an die erwähnten Beispiele der durch die Mütter schlecht geredeten Freunde und der unbeantworteten, beziehungsweise lächerlich gemachten Briefe an die Eltern oder die Mutter im Speziellen. Es wird zu zeigen sein, dass beide Autoren ein ganz bestimmtes Familienmodell zur Darstellung bringen und entlarven, ein Modell, das sich nicht auf Vaterfiguren und Schlagworte wie ›Faschismus‹ oder ›Patriarchat‹ reduzieren lässt. Um die »Verneinung«305 zu verstehen, welche Meckel, Vesper und andere Autoren ihrer Generation den Eltern entgegensetzen, ist zunächst eine kulturgeschichtlich fundierte Analyse der Familienverhältnisse nötig, die in ihren Texten begegnen. Die bestehende Sekundärliteratur ist dabei kaum behilflich, da sie, wie oben gezeigt, entweder nur die Vaterfiguren in den Blick nimmt oder grundsätzlich ein anderes Erkenntnisinteresse306 hat – hier wird ein anderer Akzent gesetzt; die vergleichende Auseinandersetzung mit den fast zeitgleich geborenen Autoren Vesper und Meckel findet im Bewusstsein der Tatsache statt, dass »Generationenbeziehungen […] institutionell eingebettet [sind] in ein System ›Familie‹, das sich soziologisch innerhalb einer Gesellschaft durch strukturelle, prozessuale und normative Merkmale bzw. Eigenschaften auszeichnet. Diese institutionellen Vorgaben beeinflussen die Gestaltung familialer Beziehungen. Sie bilden gewisser304 SV: p. 182. 305 Stieg: p. 46. 306 So hat beispielsweise Frederick Alfred Lubich Die Reise als Schelmenroman gelesen und in einer noch zu diskutierenden Arbeit Vesper als Faschisten zu enttarnen versucht (Lubich, Frederick Alfred: »Bernward Vespers Die Reise – Der Untergang des modernen Pikaro«. Der moderne deutsche Schelmenroman. Interpretationen. Hg. von Gerhart Hoffmeister. Amsterdam: Rodopi, 1985 / 1986: p. 219 – 237 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik Bd. 20); Ders.: Siehe Fn. 1). Besonders auf letztere Interpretation haben Gerrit-Jan Berendse und Andrew Plowman kritisch reagiert (Berendse, Gerrit-Jan: »Schreiben als Körperverletzung. Zur Anthropologie des Terrors in Bernward Vespers Reise«. Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 93.3 (2001): p. 318 – 333; Plowman, Andrew: »Bernward Vesper’s Die Reise. Politics and Autobiography between the Student Movement and the Act of Self-Invention. German Autumn. The Critical Reception of Die Reise«. German Studies Review 21.3 (1998): p. 507 – 524). Eine formalästhetische Analyse des unvollendeten ›Romanessays‹, die vor allem seine komplexe tripartite Struktur untersucht und mit Vespers ursprünglichem Konzept abgleicht, hat Guntermann vorgenommen (siehe Fn. 248). Brauchbare Texte zum Familienbild in der Reise sucht man aber wie erwähnt vergeblich.

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maßen die ›familiale Welt‹, in die der einzelne hineingeboren wird. […] [D]iese institutionellen Vorgaben [können] durch die Beziehungsgestaltung einerseits bekräftigt, also gewissermaßen reproduziert […][,] aber andererseits modifiziert werden, also innovativ sein. Man kann Bekräftigung (›Reproduktion‹) und Veränderung (›Innovation‹) als die beiden Pole auffassen, die das Spannungsfeld der Gestaltung von Familie als Institution kennzeichnen.307

Man hat, anders ausgedrückt, von der Annahme auszugehen, dass Meckel und Vesper familiensoziologisch gesprochen bei allen Unterschieden zwischen ihren jeweiligen produktionsästhetischen Ansätzen doch in dieselbe »familiale Welt« hineingeboren wurden und sich an der »strukturelle[n] Ambivalenz« zwischen »Bekräftigung« und »Veränderung«308 abarbeiten. Ein erster Beleg für die Prämisse, dass beide Autoren die »familiale Welt« im weiteren Sinne problematisieren und reflektieren, ist die Tatsache, dass die Perspektive Meckels und Vespers mehr umfasst als die Väter, die Probleme des Patriarchats oder die Nachbeben des ›Dritten Reichs‹. Meckel will, wie bereits gezeigt, seine Suchbilder als »eine genaue Darstellung bürgerlich-deutscher Herkunft im 20. Jahrhundert«309 verstanden wissen. Vesper unterzieht seinerseits seine Herkunft einer strengen marxistischen Analyse, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht: Zur Basis: Das ›Gut‹ [Triangel, auf dem er aufwuchs, Anm. v. J. R.] ist ein pseudofeudales Kunstprodukt aus der Zeit der bürgerlich-feudalen Allianz nach 1871 […], Gründung eines Rentiers, der sich […] mit dem Landbesitz in das politische und gesellschaftliche Leben Preussens einkaufte.310

»Und hier«, so schreibt er einige Seiten weiter – am Ende des Buches –, setzt nun eigentlich die Geschichte ein, die ich […] erzählen wollte […][,] jene[] Geschichte, die eigentlich nicht mit mir […] beginnt, auch nicht mit den Vätern, jener lange Marsch durch die Illusionen, der in der deutschen Geschichte bis auf Luther zurückgeht, oder genauer, ökonomischer, auf die Entdeckung eben jenes Kontinents Amerika, als mit der alten Seidenstraße, die den Reichtum der jungen deutschen Bourgeoisie begründete, auch die Entwicklung nach den allgemein gültigen historischen Gesetzen in Deutschland abriss, und statt eines Nacheinander ein Nebeneinander und Durcheinander von Klassenherrschaft einsetzte […].311

307 Lüscher, Kurt: »Die Ambivalenz von Generationenbeziehungen – eine allgemeine heuristische Hypothese«. Generationen in Familie und Gesellschaft. Hg. von Martin Kohli und Marc Szydlik. Opladen: Leske + Budrich, 2000: p. 138 – 161. Hier: p. 150; Hervorhebung im Original. 308 Ebd.; Hervorhebung im Original. 309 SM: p. 128. 310 DR: p. 566. 311 Ebd.: p. 574.

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Für den Marxisten Vesper ist die Geschichte des »›subtilen Faschismus‹«312 im Familienraum also zugleich die Geschichte des Kapitalismus, und damit eben auch die Geschichte des Faschismus überhaupt, der ihm gemäß seiner Ideologie als »eine notwendige variante des kapitalismus«313 gelten musste. Die Figur des Vaters, die in der Rezeption eine so unverhältnismäßig große Rolle spielt, ist nur ein Element dieser Vesperschen Selbst- und Epochenanalyse: »[Die] geschichte [des Vaters] verliert sich in der geschichte seiner epoche. er taucht unter, einer von millionen«314. Als »einer von millionen« wird Will Vesper zugleich, wie Frühwald erkannte, »typisierend fiktionalisiert und repräsentativ«315 ; es geht in der Reise eben nicht um die Schandtaten dieses einen Vaters, sondern um eine umfassende Epochenanalyse, für die der Vater nur als »Symbolfigur«316 fungiert – wir sind weit entfernt von Kenkels Postulat, wonach die Väter in der ›Väterliteratur‹ als »individuelle Einzelperson[en]«317 figurieren. Was in der Forschung ebenfalls kaum wahrgenommen wird, ist die von Vesper akribisch herausgearbeitete Differenz, in der die Eltern trotz allem zur Naziideologie standen: »differenz zum (monopolkapitalistischen) faschismus: religion, ›zerstörung der familie‹ ([der Vater] hatte mittelalterliche handwerksideale im kopf und patriarchalische familienverhältnisse), freisetzung der frau für den produktionsprozess verstand er nicht«318. Und an anderer Stelle: ›Das Christentum zu bekämpfen war ein Fehler der Partei‹, sagte mein Vater. ›Man kann nicht das alte deutsche Weihnachtsfest in ein heidnisches Lichtfest zurückverwandeln. Diesen Fehler haben Rosenberg und Bormann zu verantworten. Der Führer selbst war religiös […]. […] Der Führer hat von alledem nichts gewusst.‹319

Ja, Will Vesper habe, so sein Sohn Bernward, von der Nazi-Ideologie »überhaupt nichts« begriffen: wie konnte man gegen die religion vorgehn, ohne die kultur zu gefährden? dass der deutsche imperialismus den irrationalen störfaktor ebenso ausschalten wollte, wie den hemmenden einfluss der bürgerlichen familie, blieb ihm ein rätsel, wie ihm überhaupt alles ein rätsel blieb, was eine theorie als erklärung bedurft hätte. wie hätte er ahnen können, dass es gar nicht um ihn ging, […] dass man ihn verladen hatte.320

Will Vesper als »verladen[er]« Nationalsozialist, der von »theorie« eigentlich gar keine Ahnung hat, als Ideologe, dem Ideologie im Grunde unverständlich ist – 312 313 314 315 316 317 318 319 320

Ebd.: p. 607. Ebd.: p. 652. Ebd.: p. 668. Frühwald: p. 110. Ebd. Kenkel: p. 171. DR: p. 667. Ebd.: p. 462. Ebd.: p. 672.

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dafür werden wir noch eine Erklärung suchen müssen. Jedenfalls kann man auch in Bezug auf Meckels Eltern, die man bei aller bildungsbürgerlichen Distanz zum Nationalsozialismus als Mitläufer bezeichnen darf321, von einem Primat der Familie gegenüber der Politik sprechen, mithin von einer gewissen Distanz zum intrusiven NS-Staat: »[Die Mutter] war sich mit meinem Vater einig darin, dass die Frau, das Kind, die Familie heilig sei«322. Außerdem, so Meckel, »schied« das »Christentum« der Mutter sowieso »alle Weltbilder aus, den Sozialismus […]« wie »den Faschismus«323. Hier wird wiederum deutlich, dass man mit reduktionistischen Begriffen wie ›Väterliteratur‹ und einer Lektüreweise, die nur am ›Generationenkonflikt‹ und den Residuen der Weltkriegserfahrung interessiert ist, den analytischen Anliegen von Vesper und Meckel, die diese wie oben gezeigt auch explizit kommunizieren, nicht gerecht wird. Die Reise und die Suchbilder wären eben auch und vor allem als breit angelegte Abhandlungen über die Familie als gesellschaftliche Institution zu lesen, als Manifestationen nicht einer ›Väterliteratur‹ oder eines ›Generationenkonflikts‹, sondern der oben erwähnten ›Vertrauenskrise‹, welche beide Autoren (mit den genannten Unterschieden im Duktus) auf ihre Weise zu bewältigen suchen. Dabei darf man ruhig wie Meckel und Vesper auch in die Zeit vor 1933 zurückgehen, denn die politischen Positionen der Väter sind, wie wir nach den obigen Ausführungen vermuten dürfen, nicht allein mit einem Verweis auf den Nationalsozialismus erklärbar.

2.1. Wilhelm Riehl und die Heilige Familie Es erstaunt bei näherer Betrachtung kaum, dass Vespers und Meckels Eltern dem Familienbild des Nationalsozialismus kritisch gegenüberstanden. Vor allem die beiden Väter, so verschieden sie auch sonst sein mochten, pflegten ein diffuses, ambivalentes und noch zu klärendes Verhältnis zu Politik und Ideologie; wer sie als Nazis brandmarkt, greift zu kurz. Was Bernward Vesper an seinem Vater so befremdet und abstößt – namentlich Will Vespers oben erwähnte Blindheit für alle Theorie und Ideologie, sein gefühlsbetontes, instinktives politisches Denken –, fällt auch Christoph Meckel an seinem Vater auf. Dieser ist zunächst vor allem in ästhetischen Fragen einem irrationalen, gefühlsbetonten Traditionalismus verhaftet, der sich sodann auf alle weiteren Lebensbereiche ausbreitet: 321 Meckels Vater war als Offizier in Italien stationiert gewesen, bevor er in französische Gefangenschaft geriet. Er hatte durchaus seine Freude an den militärischen Pflichten: »Das Kommandieren, schrieb er, mache ihm Spaß« (SV: p. 65). 322 SM: p. 24. 323 Ebd.: p. 92.

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Die schwindelerregend verschwommene Begriffswelt der kulturellen dreißiger Jahre wie Erbe, Klassik, Volk […] wurde noch einmal – auch von ihm – mit gutem Glauben aufgeladen. Er sah sich als Erbe […] des deutschen Geistes. […] Er blickte weiter romantisch vor sich hin oder […] hinter sich zurück. […] Politische Literatur schien er kaum zu lesen […]. Die neuere Weltliteratur nahm er kaum zu Kenntnis. Er lebte, dachte, träumte und schrieb, als habe es immer nur Goethe und Deutschland gegeben. […] Über Politik wurde kaum gesprochen […]. Politik war das Geschäft anderer Leute, alles in allem ein schmutziger Zauber. […] Er gehörte zu einer unpolitischen Generation, rechnete sich zur Elite des Geistes und war doch nur der typische Epigone, von verbrauchten Ideen über die Gegenwart hinweggetragen[.] […] Elitäre Versteifung schützte sein Gewissen.324

Die beiden Väter sind denn auch als Traditionalisten im Sinne Karl Mannheims zu bezeichnen, und nicht etwa als Nazis oder auch nur Mitläufer325. Will Vesper und Eberhard Meckel stehen nicht nur, wie bereits gezeigt, in einer überraschenden ideologischen Distanz zum Nationalsozialismus: Politik, »theorie«326 und Ideologie scheinen ihnen überhaupt fremd zu sein. Damit sind sie, um bei Karl Mannheims präziser Begrifflichkeit zu bleiben, noch nicht einmal Konservative, sondern eben ›nur‹ Traditionalisten. ›Konservatives Handeln‹ wäre nämlich stets »ein Handeln im Sinne eines objektiv vorhandenen Strukturzusammenhanges«, also »nicht ein bloss formal reaktives Handeln«, sondern »ein bewusstes oder unbewusstes Sich-Orientieren an einer Denk- und Handlungsweise, die inhaltlich und formal stets in Fülle historisch charakterisierbar und ausweisbar ist«327. Konservatives Denken und Handeln orientiert sich also an einer intersubjektiv konstituierten, geistesgeschichtlich fassbaren und in sich konsistenten Ideologie, und nicht an subjektiven Abwehrreaktionen gegenüber ›Neuem‹. Traditionalismus dagegen ist ein »psychologische[r] Tatbestand«, eine »allgemein menschliche seelische Veranlagung, die sich darin äußert, dass wir am Althergebrachten zäh festhalten und nur ungern auf Neuerungen eingehen«328. Traditionalistisches Denken geht, in seiner Eigenschaft als anthropologische Konstante, auf das »magische[] Bewusstsein« bei »›primitiven‹ Völkern« zurück und verschafft sich auch »in der modernen Zeit« Raum. »[T] raditionalistisches Handeln ist also«, anders als konservatives Handeln, »nicht gebunden«329 : das heißt, es resultiert aus subjektiven Angst- und Abwehrreaktionen auf Veränderungen, nicht aber aus einem politisch organisierten Be324 SV: p. 39 ff.; Kapitälchen im Original. 325 Dasselbe gilt, wie wir noch sehen werden, für die Väter von Elisabeth Plessen und Ruth Rehmann. 326 DR: p. 672. 327 Mannheim, Karl: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984. Hier : p. 94; Hervorhebungen im Original. 328 Ebd.: p. 93. 329 Ebd.

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wahrungsstreben, das »inhaltlich und formal«330 auf Grundsätzen fußt, die zumindest dem Ansatz nach Allgemeingültigkeit und Objektivität für sich beanspruchen. Ebensolches »nicht gebunden[es]« Handeln und Denken lässt sich bei den hier zur Diskussion stehenden Vätern beobachten: Besonders Eberhard Meckel steht der Politik im Grunde fern und flüchtet sich in einen Traditionalismus Mannheimscher Prägung; aber auch Will Vesper, so fanatisch er wirken mag, teilt die Grundsätze des Nationalsozialismus nicht vollkommen und verkörpert einen eklektischen, irrationalen und angsterfüllten Traditionalismus. Dabei kollidierten vor allem die von Bernward Vesper stichwortartig genannten Reizthemen – die Entwertung des Christentums durch die Nationalsozialisten, die »freisetzung der frau für den produktionsprozess«331 – in ihrer Radikalität mit einem ganz bestimmten traditionalistischen und in bürgerlichen Kreisen breit rezipierten Familienbild. Diesem hingen die Eltern beider Autoren als ausgemachte Traditionalisten noch an, trotz ihrer ansonsten unkritischen, im Falle der Vespers begeisterten Akzeptanz der Naziideologie. Die Rede ist von den Thesen Wilhelm Riehls, der als einer der ersten Sozial- und Kulturhistoriker gilt. Seine Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik in vier Bänden, die zwischen 1851 und 1869 erschienen, wurde viel gelesen und erreichte hohe Auflagen332. Der dritte Band von Riehls Naturgeschichte trägt den Titel Die Familie und entwirft ein patriarchalisch-reaktionäres Familienbild, auf dessen Basis sich vor allem die häuslichen Verhältnisse der Vespers viel anschaulicher beschreiben lassen als mit einer Beschränkung auf die Vaterfigur und den Faschismus – gegenüber dem beide Familien ja, wie gezeigt, auch gewisse traditionalistisch begründete Vorbehalte hatten, die gerade durch eine Lektüre von Riehls Text verständlicher werden. Die von Will Vesper verfochtenen »patriarchalische[n] familienverhältnisse«333 finden sich, zumal mit der passenden christlichen Grundierung, schon auf den ersten Seiten von Riehls Abhandlung, auf denen die »soziale Ungleichheit als Naturgesetz«334 gefasst wird: »Das Verhältnis der Ungleichheit und Abhängigkeit […] zwischen Weib und Mann« sei von der »Natur gegeben« und durch »die Sitte von Jahrtausenden weitergebildet und in die ehernen Tafeln aller Gesetzgebungen eingeschrieben« – und diese Ungleichheit, das betont Riehl, sei gottgegeben; sie stehe in der

330 Ebd.: p. 94. 331 DR: p. 667. 332 Der dem Verfasser dieser Arbeit vorliegende Band aus dem Jahre 1882 entstammt bereits der neunten Auflage. 333 DR: p. 667. 334 Riehl, Wilhelm: Die Familie. Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, 91882 (= Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. 3). Hier: p. 3.

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Genesis, der »ältesten Urkunde des Menschengeschlechts«335. Grundsätzlich konzeptualisiert Riehl die Familie als eine Art unio mystica auf christlicher Basis (also ähnlich wie Will Vesper, wenn wir der Reise glauben wollen): »Durch die leibliche und sittliche Verbindung von Persönlichkeiten der beiden Geschlechter zur Wiederherstellung des ganzen Menschen – die Ehe – entsteht die Familie«336. Dieses Familiengefüge ist Riehl zufolge eine »göttliche Einsetzung«337, steht »unter der natürlichen Obervormundschaft der Eltern und speciell des Familienvaters«, und ebenso steht der Mann zu seiner Frau in dem aus der Liebe hervorwachsenden Verhältniss der Autorität. Nicht gezwungen durch äußere Unterdrückung, sondern weil sie es ihrer Natur nach gar nicht anders kann und mag, tritt die Frau unter die Autorität des Mannes. So war es seit die Welt stehet und so wird es bleiben.338

Der Vater steht demnach gegenüber den »übrigen Gliedern der Familie […] im Verhältniss der Autorität«, diese wiederum »stehen […] zu ihm im Verhältnisse der Pietät, der liebe- und ehrfurchtsvollen Hingebung«339. Zwar hatte diese Form des Patriarchats in den Familien Vespers und Meckels bereits Risse bekommen: Die Mütter spielen in den Familiengeschichten der beiden Autoren eine große Rolle und sind keineswegs nur die Befehlsempfängerinnen ihrer jeweiligen Ehemänner ; so gehörte Gut Triangel nicht Will, sondern Rose Vesper, und Meckels Mutter hatte während der siebenjährigen Abwesenheit ihres Mannes in Krieg und Gefangenschaft eine Art Matriarchat errichten müssen – »das war keine einheitsfront«340, schreibt Vesper denn auch über seine Eltern. Aber gegenüber den Kindern »waren die Fronten klar«341 und wurde das von Riehl beschriebene »Verhältniss[] der Autorität« mitsamt der kindlichen »Hingebung«342 kompromisslos forciert und eingefordert, notfalls mit »Gewalt«343 : Kinder waren die Visitenkarten-Geschöpfe ihrer Eltern und hatten einwandfrei in Erscheinung zu treten[;] […] [d]ie Kindheit der Kinder gehörte den Erwachsenen. Erwachsene Hände drückten die Kinder zurecht, unabweisbare Hände, […] Kleideranzieh- und Kleiderausziehhände, Ohrfeigenhände und streichelnde Fingerspitzen.344

Weiter : 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344

Ebd.: p. 3 f. Ebd.: p. 119. Ebd.: p. 120. Ebd.: p. 122. Ebd.: p. 124. DR: p. 666. Ebd.: p. 340. Riehl: p. 124. DR. p. 340. SV: p. 48 f.

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Was [dem Vater] mit Vorschrift und Diktat nicht gelang (zu beherrschen und geliebt zu werden), das gelang ihm mit Güte, um jeden Preis. […] Es gelang seiner Güte, [uns] ins Unrecht zu setzen. Der Dank seiner Leute liess auf sich warten. Er äusserte und notierte seine Klagen: es ermüde ihn, die Wünsche seiner Kinder zu erfüllen, die maßlosen Ansprüche solcher Egoisten.345

Und auch bei Vespers herrschte das Diktat der Riehlschen Harmonie im Zeichen von »Autorität« und »Hingebung«: »[Die Mutter] verbittet sich Widerworte. Sie wünscht keine langen Debatten. Ihr größter Wunsch sind brave Kinder«346. Deutet man die von Vesper und Meckel beschriebenen Familienverhältnisse als bürgerliche Konstrukte im Sinne Riehls und bedenkt man nochmals die traditionalistische Orientierung der beiden Väter, so wird klarer, weshalb beide Elternpaare gerade dem Familienbild des Nationalsozialismus kritisch gegenüberstanden. Riehl bemüht sich nämlich, die Familie als autarke Keimzelle des »Regiment[s] der Sitte«347 vom Bereich der Staatsmacht zu trennen: »Der Staat […] ist keineswegs die erweiterte Familie […]. Die Familie ist[,] […] als Naturprodukt[] unserer geschichtlichen Entwickelung, bestimmt durch die Idee der Sitte; der Staat dagegen ruht auf der Idee des Rechtes«348. Den tief in die familiäre Privatsphäre reichenden NS-Staatsapparat, der mit der frühen Einbindung der Jugend in die Parteistrukturen die elterliche Autorität zu untergraben suchte und langfristig mit Eugenik-Projekten wie dem ›Lebensborn‹ auch selber die ›Nachwuchsproduktion‹ unter seine Kontrolle bringen wollte, hätte Riehl abgelehnt. Riehl hatte, wenig überraschend, seinerzeit diese Gefahren noch bei den Sozialisten gesehen, aber seine Bedenken lassen sich ohne weiteres auf die nationalsozialistische Familienpolitik anwenden: »Wenn moderne Socialisten Staats-Kinderzeugungs-Anstalten an die Stelle der Familie setzen wollen, so heißt das nichts anderes, als die Bestialität an die Stelle der Menschlichkeit setzen«349. Kurzum: [D]ie Idee der Familie [ist] eine ganz andere […] als die Idee des Staates, indem die Familie gegründet ist auf das Bewußtsein der liebevollen Autorität und Pietät unter ihren Gliedern, der Staat aber auf das Rechtsbewusstsein; wie dem entsprechend der innere Lebensgang der Familie geregelt wird durch die Sitte, der Lebensgang des Staates aber durch das Gesetz.350 345 346 347 348 349 350

Ebd.: p. 122. DR: p. 326. Riehl: p. 125. Ebd.: p. 121. Ebd.: p. 120. Ebd.: p. 128. Ähnlich äusserte sich interessanterweise noch 1934 der NS-Philosoph Alfred Baeumler : »Nicht die Familie ist die Keimzelle des Staates, er wird geschaffen durch die Taten und die Vereinigung freier Männer« (Baeumler, Alfred: Männerbund und Wissenschaft. Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1934. Hier: p. 42). Baeumlers Position steht mit ihren Anklängen an die Riehlsche Sicht der Familie im offenkundigen Widerspruch zu den

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Mit der Anwendung der Riehlschen Thesen auf die von Vesper und Meckel beschriebenen Familienverhältnisse ist demzufolge die Erkenntnis gewonnen, dass die elterliche Gewalt, Gefühlskälte und Ignoranz, welche die Autoren erlebten, keinesfalls in wenigen Sätzen als Produkte des Nationalsozialismus oder eines nebulösen Patriarchats erklärt werden können. Vielmehr stellen wir gerade in Bezug auf das Familienbild eine Diskrepanz zwischen der NS-Ideologie und der bürgerlich-christlichen, an Wilhelm Riehl orientierten Sichtweise der Vespers und Meckels fest. Die ›Vertrauenskrise‹, welche die Autoren rebellieren und den Ausbruch aus dem erstickenden Familiengefüge suchen lässt, hat also zunächst wenig mit den Vätern und dem Faschismus und viel mit einem reaktionären Familienbild zu tun, einer »familialen Welt«351, die tief im 19. Jahrhundert wurzelt. Dieses Familienbild wird verständlich, wenn man sich auf Wilhelm Riehls einschlägige Theorien besinnt und die beiden Väter im Rückgriff auf Karl Mannheim als Traditionalisten versteht. Das wird von den Autoren auch so dargestellt, die somit beide einen weitmaschigen analytischen Ansatz wählen und durchaus, wie in der Familiensoziologie üblich, die »strukturelle[n], prozessuale[n] und normative[n] Merkmale« des »System[s] Familie«352 nachzuzeichnen suchen. Erst in der Rezeption wurden ihre Werke auf die Vaterfiguren und die NS- und Weltkriegserfahrung reduziert. Versucht man nun, auch Riehls Familienbild zu historisieren, erlaubt das eine noch fundiertere Perspektive auf die Problematisierung der Familie in der Reise und den Suchbildern. Die christliche Grundierung von Riehls Denken wurde bereits erwähnt, aber man kann noch weiter gehen: Das bei Riehl beschriebene Familienideal lässt sich auf den Urtypus der bürgerlichen Familie zurückführen – die Heilige Familie. Diese ist laut Albrecht Koschorke »nicht nur ein religiöses Phänomen«, sondern »gehört zu den wichtigsten Bildspendern der Kunstgeschichte und damit der Ikonographie der westlichen Welt überhaupt«353. Somit kann man die »Entwicklung der Institution Familie im Abendland« nur in »stetige[r] Auseinandersetzung mit ihrem neutestamentlichen Vorbild verstehen«354. Auch Hanna Wolff erkannte diese vor allem für die Familienbilder des 19. Jahrhunderts typische Verschränkung zwischen dem vermeintlich säkularen Raum der Familie und christlichen Vorstellungen, die Tatsache eben, dass »alle Vaterbilder im christlichen Raum ihre eigene Autorität« von einem »Gottesbild« bezogen, dass mithin »zwischen Eltern und Kindern die gleichen Spielregeln

351 352 353 354

Bemühungen des NS-Staats, mittels Jugendorganisationen und Indoktrination den Einfluss der Familien auf ihre Kinder zu brechen – diese Maßnahmen sprechen ja gerade nicht dafür, dass das NS-Regime den potenziellen Einfluss der Familie geringschätzte. Lüscher : p. 150. Ebd. Koschorke, Albrecht: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Frankfurt am Main: Fischer, 2000. Hier : p. 38. Ebd.

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[gelten] wie zwischen Gott und Mensch«355. Diese Verschränkung kann man bei Wilhelm Riehl beispielhaft konstatieren. Gerade in der Bibel, auf die sich Riehl gerne beruft, wird ja nicht nur ein ›göttliches‹ Familienmodell vorgestellt und der »ungleiche Rang der Geschlechter«356 theologisch begründet (Riehl erwähnt die Genesis, aber die einschlägigen Passagen hierzu finden sich beispielsweise in Paulus’ Brief an die Epheser). Auch die von Riehl postulierte Dialektik von »Autorität« und »Hingebung«, die für die Familie konstitutiv sei, ist biblischen Ursprungs: »Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus); […] Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt […]«357. Dieses »paulinische[]« Geschlechterverhältnis hat wenig mit einer »interpersonalen Beziehung im heutigen Sinn«358 zu tun, aber viel mit Riehls Definition der Ehe als »leibliche und sittliche Verbindung von Persönlichkeiten der beiden Geschlechter zur Wiederherstellung des ganzen Menschen«359. So fasst denn auch Koschorke diese biblische »Denkfigur« in ganz ähnlichen Worten zusammen wie Riehl, was sie als Topos kenntlich macht: »Mann und Frau, die sich in Liebe verbinden, bilden einen Körper, eine unauflösliche Einheit aus Haupt und Leib«360. Riehls Abhandlung über die Familie ist demnach im Kontext der langen Geschichte des biblischen Modells der Heiligen Familie zu betrachten – das überrascht im Grunde auch nicht, wurde doch im 19. Jahrhundert die Familie generell »zu einem von Liebe erfüllten Andachtsraum hochstilisiert«, wozu sich das »Bildinventar der Heiligen Familie«361 natürlich gut eignete. Mit dieser Erkenntnis haben wir aber nicht nur Riehls Traktat in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet, sondern auch eine neue Perspektive auf die Reise und die Suchbilder gewonnen: Wenn sich die Familien in den genannten Texten nämlich als Konstrukte im Geiste Riehls deuten lassen, dann müssen sie zugleich als späte Figurationen der Heiligen Familie lesbar sein, da Riehl nichts anderes postuliert als ein leicht modifiziertes biblisches Familienmodell. Diese These ist leicht zu erhärten. Zunächst erscheint im Modell der Heiligen Familie »der 355 Wolff, Hanna: »Das christliche Vaterbild im Licht der Tiefenpsychologie«. Deutsche Väter. Siehe Fn. 5: p. 86 – 99. Hier : p. 89. 356 Koschorke: p. 51. 357 Brief an die Epheser 5.22 – 5.25. Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der neuen Jerusalemer Bibel. Hg. von Alfons Deissler, Anton Vögtle et al. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 22007. Hier: p. 1702. 358 Koschorke: p. 52. 359 Riehl: p. 119. 360 Koschorke: p. 52; Hervorhebung im Original. 361 Ebd.: p. 205. Als »innerfamiliäre[s] Schlüsselritual« fungiert das Weihnachtsfest auch in Vespers Familie, wobei in der Reise genüsslich die ganze Heuchelei der Eltern und Gäste enthüllt wird (ebd.) (Bernward Vespers Großmutter ist, wie im Rest des Buches, die einzige Sympathieträgerin), vgl. DR: p. 458 ff.

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Mann« als »Träger der häuslichen Geistlichkeit«; der »pater familias« fungiert »als Vollzugsorgan […] des abwesenden Vaters im Himmel«362. Ebendiese Position besetzen die Väter bei Vesper und Meckel – bei Meckel als »Fels und […] Fixstern«363, als »Halbgott des Kinderglaubens«364, der das Kind durch Züchtigungen aus dem Paradies »vertrieb«365, bei Vesper in noch pointierterer Form als »gott, der mit unsichtbaren kräften kommunizierte«366. Diese »Vergöttlichung der Instanz des Vaters« vor allem »im Gefolge der Reformation«367 führt zu einer gewissen Abwertung der »spirituelle[n] Bedeutung der Mutter«368 (der Marienkult zum Beispiel ist ja ein katholisches Phänomen). Dennoch kann sich die »protestantische Mutter« – und mit einer solchen haben wir es vor allem bei Meckel zu tun369 – als »natürliche Mutter [unter] der Obhut eines gottnahen Mannes […] neu definieren«370, namentlich als Bewahrerin des »Mysterium [s]«371 der Mutterschaft, mit paradoxerweise intakter »Jungfräulichkeit«372. Möglich wird das »mithilfe einer Semantik, die den Begriff der Jungfräulichkeit in den der Tugend, […] der weiblichen Unschuld, übersetzt«373. Eine solche »Jungfräulichkeit der Seele lässt sich durchaus mit biologischer Mutterschaft vereinbaren – vorausgesetzt, dass die Frau sich innerlich von allen sexuellen Verunreinigungen frei hält«374. In der Praxis bedingt diese »seelische Jungfräu362 Koschorke: p. 151; Hervorhebung im Original. In der ›literarisierten‹ Heiligen Familie ist der Vater allerdings, wie oben gezeigt, nicht immer eine patriarchale und gottartige Machtinstanz, sondern zuweilen auch eine sekundäre oder gar schwächliche ›Josefsfigur‹ – und dieser Befund gilt keineswegs nur für die Väter in der Reise und in den Suchbildern. Die Väter der ›Väterliteratur‹ repräsentieren mithin, wie die Texte von Vesper und Meckel exemplarisch belegen, oft beide Seiten der ›biblischen‹ Vaterschaft: Uneingeschränkte Machtausübung und zeitweilige Unterordnung scheinen hier in einem dialektischen und komplementären Verhältnis zu stehen; folgerichtig werden Will Vesper und Eberhard Meckel zugleich als brutale Patriarchen und als feige Schwächlinge dargestellt. Der Hinweis auf die Heilige Familie erweist sich somit auch in Hinsicht auf die facettenreiche Gestaltung der Vesperschen und Meckelschen Vaterfiguren als äußerst tragfähig: Für die Männlichkeiten, welche durch die Väter der ›Väterliteratur‹ auf komplexe Weise verkörpert werden, finden sich im Modell der Heiligen Familie mit Gottvater und Josef passende modellhafte Positionen. 363 SV: p. 45. 364 Ebd.: p. 101. 365 Ebd.: p. 54. 366 DR: p. 668. 367 Koschorke: p. 159. Vgl. ebd.: p. 152 ff. 368 Ebd. 369 Vgl. SM: p. 57. Meckels katholischer Vater verehrt seine Frau übrigens in einer Weise, die durchaus an Marienkult denken lässt – und die Protestantin reagiert entsprechend spröde und verwirrt auf die Liebesbezeigungen ihres Mannes (siehe z. B. SM: p. 42). 370 Koschorke: p. 161. 371 Ebd. 372 Ebd.: p. 189. 373 Ebd.; Hervorhebung im Original. 374 Ebd.: p. 190; Hervorhebungen im Original.

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lichkeit« auf Seiten der Frau eine »idealerweise leidenschaftslose Erfüllung der fleischlichen Ehepflichten«375 und »sexuelle Verschlossenheit«376, kurzum: »asexuelle Mütterlichkeit [als] Geschlechtsnorm«377. Wiederum entsprechen die Mütter bei Vesper und besonders bei Meckel diesem Idealbild. In der Reise ist Rose Vesper die Instanz der Tugend, welche mit der Phrase »under the table« den »wachsenden Bereich der Dinge, die es gibt, aber über die man nicht redet«378, absteckt – in dieser Funktion darf sie sogar dem Hausvater das Wort verbieten: »›Aber Will, das ist doch under the table!‹«379 Allgemein fällt auf, dass sich Vespers Mutter mit einigem Eifer von der Sphäre des Sexuellen oder überhaupt des Körperlichen fernzuhalten scheint: Als sich beispielsweise eine Zecke am Penis des jungen Bernward festbeisst, sieht die Mutter sich ausserstande, das Tier zu entfernen und schickt den Knaben zum Vater380. Der Vater ist es auch, der den pubertierenden Bernward ›aufklärt‹: »[H]inter der halboffenen Tür hervor sagte er : ›Übrigens, es gibt da jetzt so bestimmte Reize für Dich. Man muss ihnen nicht nachgeben. Das ist die Hauptsache‹«381. Aber noch deutlicher entspricht Meckels Mutter dem von Koschorke geschilderten Ideal der »Jungfräulichkeit der Seele«: »Sie flüchtete in Besuche, in Reisen und Ferien, entzog sich dem Zugriff des Mannes in Reservate […]. Überheblichkeit, was soll ich mit diesem Mann«382. Und weiter : Sie widmete sich der Aufgabe, christlich zu leben. […] Zur Hingabe war sie in keiner Weise imstande. […] Die platonisch organisierte Sympathie. Die mittelbare Liebe, gedanklich durchdrungen. Das unpersönliche Lieben einer Frau, die zu unmittelbarer Liebe nicht fähig war. Eine Frau ohne Nacktheit, Humor und Spiel. […] Das Porträt meiner Mutter hätte Ingres gemalt […], in idealer Manier. Das Brustbild einer Dame mit sinnenden Augen. Ein Buch, eine Tasse Tee, ein hübsches Kollier. Dahinter, im Dunkel verschwindend, ein Kruzifix.383

Beide Elternteile in den hier zur Diskussion stehenden Texten lassen sich also in das von Albrecht Koschorke anschaulich umrissene und herausgearbeitete

375 376 377 378 379 380 381 382 383

Ebd. Ebd.: p. 189. Ebd.: p. 65. DR: p. 401. Ebd.: p. 402. Ebd.: p. 403. Ebd.: p. 419. SM: p. 42; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 68 ff.; Hervorhebung im Original. In der Frage der Mutter manifestiert sich im Übrigen eine weitere Schattierung der von Koschorke angesprochenen »Jungfräulichkeit der Seele«, namentlich die Idee der Unschuld als – vermeintliche – Unwissenheit: »Unschuld heißt […] nicht bloß die Vermeidung unziemlicher Taten, sondern mehr noch Unwissenheit« (Koschorke, p. 190 f.; Hervorhebung im Original).

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Modell der Heiligen Familie eingliedern, das eben auch in den Thesen Wilhelm Riehls wirksam ist. Die komplexeste und interessanteste Position in diesem Gefüge aber, die des Sohnes, besetzen die Autoren selber. »Heilige Mütter« empfangen nämlich »heilige Kinder«, und so sind »in gewisser Weise […] alle bürgerlichen Kinder, jedenfalls die männlichen, Jesus-Nachfolger«384. In dieser Rolle sind sie jedoch nicht nur potenzielle »Heilsbringer« und »Gegenst[ände] eines überirdischen Mutterglücks«385, sondern als neue »Heilsbringer« logischerweise immer auch Rivalen der Vater-Götter. Demnach erweist sich gerade in Bezug auf die in der Forschung übervertretene Vater-Sohn-Beziehung in der Reise und den Suchbildern der Verweis auf die Heilige Familie als besonders fruchtbar : Er erlaubt es uns, in kulturgeschichtlich fundierte Worte zu fassen, was der Begriff der ›Väterliteratur‹ nur diffus anzudeuten vermag. Schon Freud hatte ja erkannt, dass »das Machtverhältnis zwischen Vater und Sohn im Christentum ungeklärt«386 bleibt: Beachtenswert ist, in welcher Weise sich die neue Religion mit der alten Ambivalenz im Vaterverhältnis auseinander setzte. Ihr Hauptinhalt war zwar die Versöhnung mit Gottvater, die Sühne des an ihm begangenen Verbrechens, aber die andere Seite der Gefühlsbezeigung zeigte sich darin, dass der Sohn, der die Sühne auf sich genommen, selbst Gott wurde neben dem Vater und eigentlich anstelle des Vaters. […] Dem Verhängnis, den Vater beseitigen zu müssen, ist [das Christentum] nicht entgangen.387

Das legt nahe, dass die krisenhafte Beziehung zwischen Vater und Sohn in der biblischen Urfamilie archetypisch vorgegeben ist und sich die Meckelschen und Vesperschen Konfrontationen zwischen Söhnen und Vätern als Wiederholungen der Passionsgeschichte lesen lassen. So überrascht es kaum, dass ausgerechnet ein Autor, der Vesper bei der Niederschrift der Reise stark beeinflusste, dem »[a]mbivalen[ten]« Vater-SohnVerhältnis im Christentum »eine antiautoritäre Pointe abzugewinnen«388 vermochte: In Triebstruktur und Gesellschaft nämlich interpretiert Herbert Marcuse389 »Leben und Tod Christi als […] Kampf gegen den Vater – und als […] Sieg über den Vater«390. Die »Botschaft des Sohnes«, so Marcuse, »war eine Botschaft der Befreiung: der Sturz des Gesetzes (das Herrschaft ist) durch Agape (die Eros 384 385 386 387

Koschorke: p. 191. Ebd. Ebd.: p. 95. Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften über die Religion. Frankfurt am Main: Fischer, 152009. Hier: p. 133. 388 Koschorke: p. 95. 389 Zu Marcuses Bedeutung für Die Reise vgl. Plowman: p. 509 ff.; hierzu später mehr. 390 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970. Hier: p. 72.

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ist)«391; Marcuse »macht Jesus« somit »zum Anführer des Aufstandes der Sohnesgeneration, eines Aufstandes im Zeichen der Liebe gegen das Gesetz des Vaters«392. Übrigens scheiterte Jesus’ Aufstand laut Marcuse (ebenso wie derjenige der 68er) nicht an Widerstand, sondern an seiner normalisierenden Inkorporation in die bestehende Ordnung – für Marcuse besteht der entscheidende »Verrat durch [die] eigenen Jünger« in der »Vergöttlichung des Sohnes an der Seite des Vaters«, da so die »Vaterschaft […] wieder aufgerichtet und verstärkt«393 worden sei. So schreibt also Marcuse in seinen von Vesper mit großer Wahrscheinlichkeit rezipierten Theorien »das Psychodrama der Religionen fort«394, und dementsprechend konzipiert Vesper seinen Konflikt mit dem Vater in Anlehnung an Marcuses antiautoritäre Umdeutung der Heiligen Familie. Der Vater erscheint dem jungen Bernward, wie oben erwähnt, als »gott, der mit unsichtbaren kräften kommunizierte«395 : »Und Gott war mein Vater und mein Vater war Gott, morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt, mein Vater hiess Will«396. Bernward Vesper weist sich entsprechend dem Modell der Heiligen Familie die Rolle des – hier im Marcuseschen Sinne rebellischen – Messias zu: Auf dem LSD-Trip im Münchner Hofgarten wähnt er sich »im Garten Gethsemane« und »breitet[] die Arme aus, kniet[] [sich] ins Gras und flüstert[]: ›Vater, ich bin gekommen, ich bin Jesus!‹«397 Im Rahmen dieses Drogentrips »freut[]« sich Vesper zudem – mit nahezu Marcuseschem Gestus –, »dass ich den Proleten Jesus endlich verstanden hatte, der vor zweitausend Jahren den Gott herausforderte«398. Auch Vespers Einlieferung in die Nervenklinik kurz vor seinem Selbstmord steht im Zeichen dieser der Heiligen Familie entlehnten Konstellation: Im Bericht des Amtsgerichts München zu Vespers Zwangseinweisung, der in der Reise abgedruckt ist, steht, dass sich »der Betroffene […] als Jesus und Sohn Gottes«399 identifiziert habe. Die Mutter rückt sodann ebenfalls in eine dem kulturellen Erbe der Heiligen Familie entstammende Rolle: »Sie wird […] zum ›Einsatz‹ im Kampf zwischen den Männern beider Generationen«400, genau wie in einer psychoanalytischen Lesart der Passionsgeschichte im Grunde »Maria der Besitz [ist], um den Gottvater und Gottsohn sich streiten«401. Dieses ödipale Bedürfnis (von dem 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401

Ebd. Koschorke: p. 96; Hervorhebungen im Original. Marcuse: p. 72. Koschorke: p. 96. DR: p. 668. Ebd.: p. 377; Hervorhebungen im Original. Ebd.: p. 220; Hervorhebungen im Original. Ebd.: p. 221; Hervorhebungen im Original. Ebd.: p. 571. Koschorke: p. 207. Ebd.: p. 97.

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später noch vertiefter die Rede sein wird) taucht bei Vesper passenderweise an derselben Stelle auf wie ein imaginierter beinahe-Vatermord, vielleicht als popkulturelle Anspielung auf die entsprechende skandalöse Textzeile im Song The End402 von The Doors: Später nahm ich die Axt, die immer am Kopfende seines Bettes stand und zerschlug diese Achse [zwischen dem Vater und Hitler, Anm. v. J. R.] in nachträglicher Wut. […] Aber das war nur noch eine symbolische Handlung. Denn längst hatte ich meine Mutter geliebt, die dalag mit gespreizten Schenkeln und mich erwartete.403

In der Reise begegnet somit die archetypische »ödipale Trias«404 von Gottvater, Gottsohn und begehrter Mutter, und genau wie bei Marcuse trägt der Vater den Sieg davon, bleibt die »Vaterschaft« erhalten – denn auch nach dem Tod des Tyrannen kommt Bernward Vesper nicht von ihm los, wofür die Existenz der Reise Beweis genug ist (und paradoxerweise trauerte Vesper tatsächlich um den Vater, lief »heulend durch die halbvereisten Wälder […], als man ihn aufbahrte«405). Bernward Vespers Scheitern in der Rolle des Messias – seine Unfähigkeit, das väterliche ›Gesetz‹ vollständig zu überwinden und durch seine eigene ›Lehre‹ zu ersetzen – kulminiert in seinem Selbstmord in der Nervenklinik in HamburgEppendorf. Damit enthält Vespers Selbstdarstellung als Messias, die wie oben gezeigt an Marcuses eigenwilliger Bibelexegese geschult ist, in nuce die ganze Tragik, das ganze Scheitern der rebellischen Söhne (und Töchter) um 1968 und ist wohl kaum »ironisch[]«406 zu lesen. Bei Meckel wird, wie wir gesehen haben, der pseudo-jungfräulichen Mutter etwas mehr Platz eingeräumt; der Konflikt zwischen ›göttlichem‹ Vater und ›messianischem‹ Sohn ist weniger pointiert als bei Vesper. Die Suchbilder zeigen vielmehr eine zynische Kontrafaktur der Heiligen Familie – sie bieten das ganze Bild- und Motivarsenal dieses kulturgeschichtlichen Komplexes auf, um es zu subvertieren und der Lächerlichkeit preiszugeben. Dass der Gott-Vater bei Meckel in Wirklichkeit ein physisch und psychisch versehrter Mensch ist, wurde ja bereits gezeigt. In einem weiteren Schritt entlarvt der Autor die frömmelnde Mutter, die erst noch dem christlichen Ideal der »Jungfräulichkeit der Seele« entspricht, als gefühlskalte, lieblose Egoistin. Und schließlich erweist sich Meckel im Gegensatz zu Vesper sogar als erfolgreicher »Heilsbringer«407, insofern jedenfalls, als es ihm gelingt, die ›Lehre‹ des Vaters mit seiner eigenen zu er402 »Father, yes son, I want to kill you / Mother… I want to…« (The Doors / Sugerman, Danny : The Doors. The Complete Lyrics. New York: Dell Publishing, 1991. Hier: p. 37). 403 DR: p. 222; im Original kursiv. 404 Koschorke: p. 96. Hierzu – in Anlehnung an Marcuse – später mehr. 405 DR: p. 579. 406 Zschachlitz: p. 111. 407 Koschorke: p. 191.

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setzen: Er entwickelt sich nämlich gegen den Widerstand des Vaters zum erfolgreichen Dichter ; seine Bücher »verwundeten [den Vater][;] [d]as Untier in seinem Gehege dehnte sich aus[;] [m]it grausamer Unschuld nahm es den ganzen Platz und drückte den Vorbesitzer an die Wand«408. Er übertrifft den Vater in dessen eigener Profession, der sich zuletzt selber demütigt und den eigenen Platz dem Sohn überlässt: »du schreibst die gedichte, die ich schreiben wollte«409. Für das Verständnis der Reise und der Suchbilder ist offenbar viel gewonnen, wenn man seinen Horizont über die Vaterfiguren und den unmittelbaren historischen Hintergrund der Texte erweitert und kulturgeschichtliche Fragen in Betracht zieht. So konnte gezeigt werden, dass die geschilderten Familienverhältnisse nicht in erster Linie auf ein schemenhaftes ›Patriarchat‹ oder gar den Nationalsozialismus zurückzuführen sind, sondern in Wilhelm Riehls einflussreichen Thesen zur Familie – und damit tief im 19. Jahrhundert – wurzeln. Die zur Darstellung gebrachten Väter verkörpern typenhaft den Traditionalismus, wie ihn Karl Mannheim definiert. Auch dieser Befund ließ sich nochmals erweitern: Das christlich-traditionalistische Fundament des Riehlschen Familienmodells bot den Anlass, es mit demjenigen der biblischen Urfamilie, der Heiligen Familie, in Beziehung zu setzen. So zeigte sich schnell, dass bei Meckel und Vesper im Grunde diese uralten Konstellationen verhandelt werden, dass also die Familien der beiden Autoren späte Figurationen der Heiligen Familie sind. In dieser Lesart wirken die Texte auch nicht mehr wie Sonderfälle und singuläre Manifestationen eines genuin neuen Konflikts – was der verfehlte Exklusivterminus ›Väterliteratur‹ ja suggeriert –, sondern man liest sie als Abhandlungen über Probleme, die wahrhaft biblischen Alters sind. Der Gestus, der bei Meckel und vor allem Vesper begegnet, deckt sich dabei durchaus mit unseren in der Einleitung geäußerten Annahmen: Diese ›Väterliteraten‹ verfolgen, wie wir nun festhalten dürfen, analytisch-historiographische Anliegen; ihre Ausführungen zeigen ein großes Sensorium für geistesgeschichtliche Traditionslinien und ein Erkenntnisinteresse, das über die Familie weit hinausgeht. Besonders Vespers objektivierenden Duktus, der auf eine Einbettung der Reise in zeitgenössische theoretische und historische Diskurse abzielt, werden wir in der Folge noch genauer betrachten. Bei Meckel manifestiert sich das historiographische Interesse weniger auf der formalästhetischen, wohl aber auf der produktionsästhetischen Ebene: Seine Schilderungen stützen sich, wie die eines Forschers, auf eine glaubwürdige Primärquelle, nämlich das Kriegstagebuch und die Feldpostbriefe des Vaters. Wir konnten jedenfalls zeigen, dass Die Reise und die Suchbilder einen umfassenderen Kontext aufweisen 408 SV: p. 143. 409 Ebd.: p. 144; Kapitälchen im Original.

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als viele Interpreten feststellten. Die Texte werden als Beispiele einer Art von Literatur lesbar, die bereits im Sturm und Drang ihren Ursprung hat, einer Literatur nämlich, welche die »Andersartigkeit der Jungen« und ihre »gemeinschaftliche Abweichung von der Normenwelt der Eltern«410 thematisiert (zur langen Vorgeschichte der ›Väterliteratur‹ werden wir uns im zweiten Teil der Arbeit äußern). Die hier vorgenommene kulturgeschichtliche Situierung der Texte gestattet eine differenziertere Beschreibung ihrer Problemstellungen – eine Abkehr von väterzentrierten und auf die Erfahrungen im Weltkrieg und im Nationalsozialismus beschränkten Lesarten, und eine Hinwendung zu einem Vokabular, das die lange Tradition der verhandelten Konflikte verdeutlicht und auch zeigt, dass hier die Familie in einem umfassenden Sinne, als soziale Institution, in Frage gestellt wird. Unsere Erkenntnisse erlauben uns nicht nur, die bei Vesper und Meckel beschriebenen Väter »als Archetyp[en] einer hinfällig gewordenen, aber in ihrem Niedergang umso repressiveren Ordnung« und die Söhne als »messianische«411 Figuren zu verstehen. Auch die Mutterfiguren, die in der Sekundärliteratur zu diesen Texten bislang Blindstellen geblieben sind, können wir nun adäquat beschreiben: Sie werden in ihrer fatalen imaginierten »Jungfräulichkeit der Seele« enttarnt als neurotische, asexuelle, lebensfremde und egoistische Charaktere und sind damit nicht minder tyrannisch als die an Gottes Stelle gerückten Väter. Dieser erstmals umfassende, kontextualisierte und kulturhistorisch fundierte Blick auf die Vesperschen und Meckelschen Familienverhältnisse zeigt ein weiteres Mal, dass es abstrus ist, in Bezug auf diese Texte von ›Väterliteratur‹ oder einer Literatur des ›Generationenkonflikts‹ zu sprechen. Von der ›Väterliteratur‹ muss man sich, betrachtet man die ganze Familie, so oder so verabschieden, und die Vorstellung, dass hier einfache ›Generationenkonflikte‹ verhandelt werden, greift angesichts der ›biblischen‹ Ausmaße der von den Autoren geschilderten Probleme ebenfalls zu kurz (zum ›Generationenkonflikt‹ später mehr). Es scheint klar, dass erst der oben eingeführte Terminus der ›Vertrauenskrise‹ die Thematik in der nötigen semantischen Breite abdeckt. Es wäre aber zugegebenermaßen kurzsichtig, gerade die Weltkriegserfahrung bei der Analyse der von Vesper und Meckel bearbeiteten Problemstellungen einfach außen vor zu lassen. Die allgemeine ›Vertrauenskrise‹, die sich bei beiden Autoren manifestiert, mag im weiteren Sinne gleichsam biblischen Ur410 Koschorke: p. 206. Vgl. Mauelshagen: p. 15. Oder in Aleida Assmanns Worten: »Die Sturmund-Drang-Generation der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts gilt als die erste Generation, die [den Bruch mit den Vätern, Anm. v. J. R.] zum Prinzip erklärte und für ihre künstlerischen Bedürfnisse produktiv machte« (Assmann: p. 198). Zu Tradition und Geschichte literarischen Schreibens, das sich mit den Vorfahren befasst – mithin zur Genese der ›Väterliteratur‹ – später mehr. 411 Koschorke: p. 206 f.

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sprungs und bestimmten literarischen Traditionen verhaftet sein, wird aber durch die kindliche Erfahrung des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs, des Zusammenbruchs des NS-Staats und der Komplizität der Eltern verstärkt. Besonders an den Suchbildern kann man zeigen, wie die ›heilige‹ bürgerliche Familie durch Krieg und Zerstörung endgültig obsolet wurde und die seit jeher in jeder ›heiligen‹ Familie angelegten Konflikte noch entscheidend verstärkt wurden.

2.2. Die Weltkriegserfahrung als Katalysator der ›Vertrauenskrise‹ Man rufe sich in Erinnerung, dass die »Entzauberung«412 von Christoph Meckels Vater und damit der Beginn des kindlichen Leidens an der Familie mit der Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft zusammenfällt. Dabei waren die Hoffnungen des Kindes offenbar weitgehend identisch mit denjenigen des Vaters: Der Knabe erwartet in »grenzenlos[er]« Vorfreude eine Restitution der harmonischen »frühe[n] Kinderzeit«, da der Vater »Zauberer oder Freund«413 gewesen war, und auch dieser wünscht eine »Wiederherstellung der Familie«414 – aber im Grunde unternimmt der Vater, aufgrund seiner physischen und psychischen Versehrtheit nach der traumatischen Kriegserfahrung und der zweijährigen Gefangenschaft, nur eine zwanghafte und tyrannische Wiederherstellung der »eigenen, bestimmenden Rolle in [der Familie]«415. Als »Erzieher mit Nachholbedarf an Autorität«416 gilt ihm die »Familie« als »eisernes Ideal«417, und »auf Kosten seiner Familie« stellt er sein »nach dem Krieg auseinandergefallen [es]« Selbstvertrauen wieder her : indem er sich nämlich um jeden Preis als »Kern der Familie« zu »erhalten«418 sucht und eine Atmosphäre von »erzwungene[r] Ruhe, betonte[r] Harmonie«419 erzeugt. Michael Schneider bezeichnet diese von Meckel dargestellte Konfiguration zu Recht als beispielhaft und bemerkt, dass die Instrumentalisierung der Nachkriegsfamilie als »surrogate form of identity for the fathers who had failed as citizens and been defeated as soldiers« den »point of departure for the psychopathology of the post-war German family«420 bilde. Meckel merkt selber an, dass die »Vaterschaft« eines »entthronte 412 413 414 415 416 417 418 419 420

SV: p. 101. Ebd.: p. 101 f. Ebd.: p. 101. Ebd. Ebd. Ebd.: p. 103. Ebd.: p. 121. Ebd.: p. 134. Schneider: p. 27.

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[n], hilflos gewordene[n] Despot[en] […] bezeichnend war für die ganze Generation«421: Der Krieg hatte die Familien zugrunde gerichtet. Die Väter taumelten nach Hause, lernten ihre Kinder kennen und wurden als Eindringlinge abgewehrt. Sie waren fürs erste verbraucht und hatten nichts Gutes zu sagen. Der für den Vater freigehaltene Platz wurde von einem Menschen besetzt, der fremd und feindlich oder zerrüttet war und Position als Erzieher bezog – das war nicht glaubhaft.422

Meckels Wortwahl ist prägnant: Die heimkehrenden Väter haben offensichtlich ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wenn wir uns aber wiederum bemühen, den Blick nicht nur auf die Vaterfigur zu richten, müssen wir konstatieren, dass dieses Glaubwürdigkeitsproblem der Väter entscheidend verstärkt wird durch die Rolle der Mütter im Krieg: Während der jahrelangen Abwesenheit der Väter mussten die Mütter die Verantwortung über die Familie423 übernehmen und taten das auch meist mit Erfolg. Damit erschütterten sie natürlich das Patriarchat Riehlscher Prägung in seinen Grundfesten: Die Zeit der [mütterlichen] Verantwortung dauerte sieben Jahre. Man sprach im Scherz von ihrer Regierungszeit. In ihr fand statt und wurde überlebt, was für Millionen Deutsche bestimmend war : mehrfacher Ortswechsel, Kälte, Hunger und Not; […] die Ernährung ihrer Kinder und ihrer Eltern und schließlich die zur Beklemmung gewordene Frage: wann kommt dein Vater aus der Gefangenschaft; wie wird man leben und wer wird man sein. Sie war, was zeitgeschichtliche Formeln behaupten: die deutsche Frau, die tapfere Mutter im Krieg, die Frau des Frontsoldaten – ein deutscher Fall. Sie musste sein, was sie nicht war : praktisch, nützlich, entschieden und konkret; einfallsreich, voraussichtig, selbstlos und zäh.424

421 SV: p. 123. 422 Ebd.: p. 131. 423 »Alle Publikationen belegen nachdrücklich die […] bis weit in die Nachkriegszeit andauernde […] Be- und Überlastung [der] […] damaligen Mütter. Zu der anhaltenden alltäglichen Lebensbewältigung (Haushaltsführung, Arbeit oder Mitarbeit in Vertretung der Männer) trat zunehmend die Aufgabe des familiären Überlebens (Beschaffung von Essen, Kleidung, Heizung und Wohnmöglichkeiten), insbesondere nach der Ausbombung, in der Evakuierung, auf der Flucht und nach der Rückkehr bei ständiger Sorge um die […] Kinder […]«; »Im Allgemeinen eröffnete der Zweite Weltkrieg Berufschancen für Frauen. Bei Abwesenheit der Männer wurde ihre Arbeitskraft benötigt. Die wirtschaftlich schweren Zeiten und die Rückkehr vieler Männer verdrängten die Frauen in der Nachkriegszeit vom Arbeitsmarkt. 1950 wurde die niedrigste Berufstätigkeitsrate in diesem Jahrhundert für Frauen erreicht (44 Prozent der Frauen zwischen 15 und 60 […]). (Radebold, Hartmut: Abwesende Väter und Kriegskindheit. Fortbestehende Folgen in Psychoanalysen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000. Hier : p. 25, p. 31). Ein Verweis auf den »Einfluss« der Mütter findet sich auch bei Gehrke: p. 57 f. 424 SM: p. 26; Hervorhebung im Original.

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Die Repräsentativität von Meckels Vertrauensverlust in die Eltern ist auch in der aktuellen Familienforschung belegt: Die Familie […] war die Hoffnung der Nachkriegszeit. Sie war der Anlaufpunkt von Millionen heimkehrender Soldaten […], sie war die Hoffnung der rückkehrenden Kinder und Frauen aus Kinderlandverschickung und Evakuierung […]. Die Sehnsucht nach der Geborgenheit, Verhaltenssicherheit und Hilfsbereitschaft in der Familie trieb alle diese vom Krieg und Nationalsozialismus ›Gebeutelten‹ nach Hause […]. Aber die wieder gefundene Familie war zumeist nicht das, was in den Schützengräben und Gefangenenlagern, in den Evakuierungs- und Verschickungsorten, in den KZ oder Zuchthäusern […] erträumt worden war. Es waren Familienverbände geworden, in die einerseits der Krieg Lücken gerissen hatte und die andererseits durch ausgebombte oder geflohene Verwandte, Freunde beziehungsweise Zwangseingewiesene erweitert wurden […]. Es waren Notgemeinschaften, die unter dem Druck einer ökonomischen Krisensituation für das Überleben sorgen mussten und in denen sich die Ehepartner […] fremd geworden [waren].425

Die großen Hoffnungen auf Geborgenheit, die »Fixierung auf die Familien als emotionale Zufluchtsstätte«426, mussten mit der Tatsache kollidieren, dass die Familien nach dem Krieg nichts anderes waren als »Notgemeinschaften«427, in denen das Vertrauen in die elterliche, besonders die väterliche Autorität schwer geschädigt war. Konsequenterweise428 sprechen die Familiensoziologen Matthias Grundmann und Dieter Hoffmeister vom »Schicksal« eines »langsame[n] Sterben[s] in der Nachkriegsgesellschaft«, das die »Kriegskinder« ereilte: Sie hatten den Zweiten Weltkrieg »erlebt und überlebt […], [mussten] dann aber feststellen […], daß mit dem Ende des Krieges das eigentliche Ende noch nicht 425 von Plato, Alexander : »Familien in Systemumbrüchen. Fragen zum Vergleich von 1945 und 1989 in Deutschland«. Familiengeschichten. Biographie und familiärer Kontext seit dem 18. Jahrhundert. Hg. von Christian und Nina von Zimmermann. Frankfurt und New York: Campus, 2008: p. 297 – 316. Hier : p. 300; Hervorhebung im Original. 426 Ebd.: p. 301. 427 Ebd.: p. 300. 428 Hier ist anzumerken, dass die Familiensoziologie der unmittelbaren Nachkriegszeit diese Problemstellung tendenziell verharmloste. Beispielhaft ist Helmut Schelskys Untersuchung Wandlungen der Deutschen Familie in der Gegenwart (1953), in welcher das Postulat von der Familie als ›heilem‹ Rückzugsort, als »einzige[m] und aus eigener Kraft gerettete[m] und gewonnene[m] soziale[m] Gut[]«, sozusagen soziologisch nobilitiert wurde (Schelsky, Helmut: Wandlungen der Deutschen Familie in der Gegenwart. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, 1967 [Erstveröffentlichung 1953]. Hier: p. 96). Allerdings blieb diese euphemistische Sicht schon in den Fünfzigerjahren nicht unwidersprochen; Adorno beispielsweise konstatierte: »Keine Rede kann davon sein, daß die insgesamt bedrohte Institution der Familie durch die Solidarität des Notstandes auf die Dauer gefestigt worden wäre« (Adorno, Theodor W.: »Zur Einführung«. In: Baumert, Gerhard: Deutsche Familien nach dem Kriege. Darmstadt: Roether, 1954: p. v-xi. Hier: p. vi). Einen Überblick der familiensoziologischen Zugänge zu diesem Komplex bietet Schütze, Yvonne: »Zur Veränderung im Eltern-KindVerhältnis seit der Nachkriegszeit«. Kontinuität und Wandel der Familie in Deutschland. Stuttgart: Lucius & Lucius, 2002: p. 71 – 97.

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gekommen war«, denn diese »Kriegskinder« waren nicht nur in vielen Fällen traumatisiert, sondern eben auch mit den oben skizzierten »gravierende[n] familienstrukturelle[n] und familiendynamische[n] Verwerfungen«429 konfrontiert. Diese für eine ganze Generation paradigmatische Situation wird, besonders (wie noch zu zeigen ist) im Hinblick auf ihre fatalen Auswirkungen für die »personale[], soziale[] und gesellschaftliche[] Identitätsfindung«430, auch bei Bernward Vesper verhandelt. In der Reise haben wir es zwar nicht mit einem heimkehrenden Vater zu tun, aber hier wird die väterliche Autorität ebenfalls speziell durch die Kriegserfahrung untergraben, und es kommt wie bei Meckel zu einem Entzauberungserlebnis, einem »Durchbruch«: Ich merkte, daß auch mein Vater immer ein Feigling gewesen war, der sich davor gedrückt hatte, selber das auszuführen, was er anzettelte. Wir saßen als Flüchtlinge im Forsthaus an der Aller, als der Feind (der schließlich sein Feind war) immer näher rückte und seine Tiefflieger schon am hellichten [sic] Tag die Wipfel der Kiefern des Dragens streiften. ›Gib mir ein Gewehr‹, sagte ich zu ihm, und als er wieder zögerte, nahm ich mir einfach seinen Karabiner, ging hinaus in den Wald und legte auf die silbernen Tragflächen an, die im Blau der Lichtung erschienen. Das war der Durchbruch und ich wußte, daß ich kämpfen würde.431

Die gleichsam biblisch fundierten innerfamiliären Spannungen werden also bei Meckel und Vesper durch das Kriegserlebnis entscheidend amplifiziert. Dabei ist es wiederum verfehlt, von ›Väterliteratur‹ und Konfrontationen mit angeblich 429 Grundmann, Matthias und Dieter Hoffmeister : »Ambivalente Kriegskindheiten. Eine soziologische Analyseperspektive. Generationen und Familien. Hg. von Frank Lettke und Andreas Lange. Frankfurt am Main: 12007: p. 270 – 296. Hier: p. 270 f. Wir haben es hier im Übrigen nicht mit einem spezifisch deutschen Phänomen zu tun. Bestätigt wird die These einer Entfremdung von Eltern und Kindern in der Nachkriegszeit auch für die US-amerikanische Gesellschaft, und zwar durch die »intensiven Langzeitstudien« des Institute of Human Development (IHD) der Universität Berkeley : Diese sogenannten Berkeley-Studien »befaßte[n] sich mit zwei Kohorten von insgesamt ca. 500 Personen, wovon eine Gruppe in den frühen, die andere in den späten 20er Jahren geboren war«, und auch die zwischen 1870 und 1910 geborenen Eltern dieser »Kohorten«, sowie ihre zwischen 1940 und 1970 geborenen Nachkommen wurden befragt (Clausen, John: »Kontinuität und Wandel in familialen Generationenbeziehungen«. Generationenbeziehungen in ›postmodernen‹ Gesellschaften. Hg. von Kurt Lüscher und Franz Schultheis. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 1993: p. 111 – 124. Hier: p. 112). Dabei zeigte sich, dass eine ganz »gewichtige Anzahl« von Angehörigen der jüngsten befragten Generation »in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren gegen die Generation ihrer Eltern rebelliert[e]«: Die Familiensoziologen in Berkeley konstatierten, dass die »Beziehungen zwischen Eltern und Kindern […] in jener Zeit so stark strapaziert [waren], daß ein Anteil der Jugendlichen freiwillig aus dem Elternhaus ausz[og] oder ausgewiesen [wurde]« und die Kinder in gewissen Fällen dauerhaft »der Familie entfremdet« blieben (Clausen: p. 119). 430 Grundmann und Hoffmeister : p. 279. 431 DR: p. 222; im Original kursiv.

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übermächtigen Vätern zu sprechen. Man muss präziser sein: Bei beiden Autoren steht am Ursprung aller Konflikte und aller rebellischen Aktionen gerade ein durch den Krieg beförderter Glaubwürdigkeitsverlust, ja ein Vertrauensverlust in die ehemals tatsächlich als gottgleich verehrten und gefürchteten Väter – »ich merkte, dass [er] immer ein Feigling gewesen war« –, steht die Einsicht, dass die Vision der Väter von einer patriarchal organisierten Familie mit ihnen selber als Oberhaupt »nicht glaubhaft«432 ist. Mithin geht es in den Schilderungen Vespers und Meckels zunächst um eine plötzliche Einsicht der Knaben in die Natur des Patriarchats, und nicht um einen diffusen rebellischen Funken, der die Söhne gegen die Väter aufbegehren lässt: Es wird ein Akt der Enttarnung vorgenommen; die Knaben – die noch durchaus im Bann des Vaters stehen (man denke an Meckels Vorfreude auf die Rückkehr des Vaters) – realisieren, dass die von den Vätern postulierten Werte und Ordnungen im Grunde leere Hülsen sind, arbiträre Ideologiegebäude, die immer neu performativ affirmiert werden müssen, um glaubwürdig zu bleiben433. Diese Strukturen werden durchschaut, sobald die Väter selber diese performativen Akte nicht mehr vollbringen können oder wollen: als beispielsweise Will Vesper nicht zum Gewehr greift, was seiner Ideologie entspräche, oder als Eberhard Meckel nicht als heimgekehrter »Freund« der Kinder Harmonie erzeugt, sondern sie als Tyrann zu erzwingen versucht. Im Grunde entspringt die quälende Vätertyrannei bei beiden Autoren allein aus der Schwäche, der Feigheit und wohl auch aus dem Schuldbewusstsein der porträtierten Väter, die in brutaler Machtausübung Kompensation und Verdrängung suchen. Je älter die Kinder der schuldbeladenen Väter wurden, desto schwieriger gestaltete sich die Aufrechterhaltung dieser Omert—: The older and more aware the children became, the more apparent it was to them that there was a zone which was taboo […]. [I]t took them a while to notice what was hidden behind the great wall of silence, and yet they lived with the hollow feeling that something was not right […] about the generation which exhibited such a frantic compulsion to rebuild and such enthusiasm for the ›Economic Miracle‹. They were particularly uneasy whenever […] the past of a prominent figure […] came to light. Whenever this happened, the stereotypically permanent smile of the reconstruction generation […] was transformed into a hysterical grimace, distorted by hatred and fear, and the gazes of their children were frozen in horror before the demons of the past […].434

432 SV: p. 131. 433 Siehe auch Kosta: p. 221 (»At stake [in der ›Väterliteratur‹, Anm. v. J. R.] was subjectivity, as it is shaped by psychosocial structures and behaviors and their entangled repetitions passed along generations […]«) oder Figge 1990: p. 195 ff. 434 Schneider: p. 8.

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In beiden Texten geht es nicht zuletzt um die Einsicht der Söhne in diese komplexen Mechanismen: namentlich die Schwäche und Ambivalenz der Väter, welche den Antrieb für ihr grausames Verhalten bilden und die Errichtung einer »great wall of silence« der kollektiven Verdrängung erst befördern. Dieser komplexen Erzählsituation wird der simplifizierende Terminus der ›Väterliteratur‹, der die eigentlich erbärmlichen Vatergestalten im Vergleich zu den schreibenden Söhnen noch privilegiert, nicht gerecht. Wenn man dann noch bedenkt, dass die Mütter, wie bereits erwähnt, gezwungenermaßen an dem väterlichen Glaubwürdigkeitsverlust während und nach dem Krieg partizipierten und dass gerade die stereotype krisenhafte Nachkriegsfamilie, in der Christoph Meckel aufwuchs, ohne diese verstärkende Funktion der Mutter im Prozess des väterlichen Glaubwürdigkeitsverlusts nicht denkbar gewesen wäre, kann von ›Väterliteratur‹ wirklich nicht mehr die Rede sein. Wieder zeigt sich, dass sich in den Problemen, die in der Reise und den Suchbildern geschildert werden, mehr als eine Väter-, Eltern- oder Generationenkrise manifestiert; stattdessen sollte man von einer umfassenden ›Vertrauenskrise‹ sprechen. Diese wird sodann in einem Duktus geschildert, der, wie mehrfach erwähnt, auf charakteristische Weise zwischen literarischer, subjektzentrierter Fiktion und einem fast schon geschichtswissenschaftlichen, um Objektivität bemühten Erkenntnisinteresse oszilliert. Dass die ›Väterliteratur‹ ein Hybrid aus Dichtung und Geschichtsschreibung darstellt, wurde vor allem in Bezug auf Christoph Meckels Suchbilder deutlich: Schonungslos zeichnet Meckel die Krise der Nachkriegsfamilie (nicht nur des Nachkriegsvaters) nach, wobei er, mit nahezu wissenschaftlichem Gestus, eine »genaue Darstellung bürgerlich-deutscher Herkunft im 20. Jahrhundert« in Form eines »Diptychons«435 anstrebt – und zwar stets im Bewusstsein der Repräsentativität der eigenen Schilderungen436 und im Rückgriff auf Textquellen wie das väterliche Kriegstagebuch. Vespers historiographische Absichten treten nicht ganz so deutlich zu Tage, durchziehen aber dennoch die Reise in Form eines Strebens des Autors, die eigenen kritischen Analysen zu objektivieren, zu vermitteln und in zeitgenössische theoretische Kontexte einzubetten – hierzu kommen wir im folgenden Kapitel. Die vorliegende Analyse der Familienverhältnisse in den zur Diskussion stehenden Texten hat die Einschränkungen der bisher auf sie angewendeten Terminologie klar zu belegen vermocht. Mit dem Versuch, die Familienbilder der Reise und der Suchbilder einer kultur- und zeitgeschichtlich fundierten Betrachtung zu unterziehen, wurde gezeigt, in welche Richtungen man Meckels 435 SM: p. 128. 436 »[D]iese Vaterschaft – der entthronte, hilflos gewordene Despot – [war] bezeichnend […] für die ganze Generation« (SV: p. 123).

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und Vespers Spuren allenfalls weiterverfolgen könnte und dass der Terminus der ›Vertrauenskrise‹ eine gerechtfertigte, ja notwendige Neuschöpfung ist. Eine generationsübergreifende, durch den Krieg verstärkte Krise des Vertrauens in die Werte und Normen der Eltern aber macht beim Bereich der Familie nicht Halt; sie stellt theoretisch jede Form von Autorität in Frage, in der die potenziell schuldbelasteten Älteren über die aufbegehrenden und zweifelnden Jüngeren gebieten. Den Söhnen und Töchtern, die das elterliche Denken durchschauen und kritisieren, muss entweder die Konstitution einer eigenen Identität und damit die Ablösung von der diskreditierten Welt der Eltern gelingen, oder aber sie tragen ihre verschleppte ›Vertrauenskrise‹ auch als Erwachsene durch alle Lebensbereiche und –abschnitte. Diese beiden für die Nachkriegsjugend paradigmatischen Lebenswege werden durch Meckel und Vesper jeweils verkörpert: Meckel vollzieht in seinem analytischen Diptychon über die Eltern offenbar – soweit das überhaupt möglich sein kann – eine Ablösung437 von diesen problematischen Figuren; es scheint, als ob ihm der Aufbau einer eigenen Identität und die Befreiung vom elterlichen Erbe dank und in seinem literarischen Schaffen gelungen sei: Herrliches Jahr, als alles hinter mir lag, die Jugend, die Schulzeit […]. Ich hatte mich angekündigt bei meinen Eltern (Freiburg, ein kurzer Halt auf dem Weg nach Rom), neu in Aufruhr versetzt von der alten Entscheidung, die Verbindung abzubrechen für alle Zeit. […] Ich hatte zuviel Gewalt und Empörung erfahren, zuviel Vernichtung durch Bürgerlichkeit. Ich gehörte mir selbst und wilderte in die Zukunft, mit den Chancen von Wahlverwandtschaft im offenen Raum. Das wollte ich verkünden und wieder gehen. Mit solchen Sätzen kam ich in Freiburg an. Dort sah ich meine Eltern aus großer Entfernung, verhaftet in Sorge, Gewohnheit und Illusion. […] Sie waren nicht, wie ich geglaubt hatte, Ungeheuer, sie waren gewöhnliche Menschen in ihrer Zeit. Was immer sie unerträglich und furchtbar machte – etwas an ihnen war harmlos und fast entwaffnend, das meiste an ihnen normal und bedeutungslos. […] Ich lebte in neuer Distanz und sprach sie aus, ich hielt an freundlicher Entgrenzung fest. Da hatte ich schon vergessen, was Eltern sind.438 437 Das Wort ›Versöhnung‹ wäre euphemistisch, genau wie Meckels Formulierung der »freundliche[n] Entgrenzung« (s. u.) – im Grunde handelt es sich bei Meckels Ablösung von den Eltern, besonders vom Vater, um subtile Akte der »Vernichtung«, gerade wenn er »seinen eigenen erfolgreichen Weg als Schriftsteller und als bildender Künstler mit dem Versagen […] des ohnehin schon [g]eschlagenen [Vaters konfrontiert]« (Segebrecht: p. 91). Kosta bemerkt zudem richtig, dass man Meckels Schilderung eines glatten Bruchs mit den Eltern mit einiger Skepsis begegnen sollte, könnte man doch argumentieren, dass hier ein Mitglied der jungen Nachkriegsgeneration seine ganz persönliche »Stunde Null« konstruiert, ein radikales »erasing [of] the past«, das natürlich ähnlich fahrlässig ist wie der Glaube der Eltern an eine »Stunde Null« (Kosta: p. 224). Die Existenz der Suchbilder ist Beweis genug, dass eine Aufarbeitung der Vergangenheit trotz der angeblich problemlosen Ablösung von den Eltern unumgänglich war. 438 SM: p. 110.

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Anders äußert sich dagegen Bernward Vesper in der Reise, der noch als Erwachsener unter der väterlichen Tyrannei leidet und nach den Erlebnissen im Elternhaus den Entschluss fasst (aber nicht umsetzt), den »sprung von der untätigkeit zum kampf zu machen«439. An diesem Punkt scheiden sich denn auch die Geschichten Meckels und Vespers – Meckel gelingt, so scheint es, durch die Ablösung vom Elternhaus und den Aufbau einer eigenen Schriftstellerkarriere die Überwindung der ›Vertrauenskrise‹, während Vesper seine Traumatisierungen weiter trägt, an seine Ausbildungsstätte, später an die Universität, und schließlich zu einer tragischen Randfigur der 68er-Bewegung wird. Um Lüschers Terminologie zu verwenden, könnte man bei Meckel vom Versuch sprechen, einen ›dritten Weg‹ zwischen »Bekräftigung (›Reproduktion‹)« und »Veränderung (›Innovation‹)« des »System[s] Familie« zu finden, während Vesper klar eine (revolutionäre) »Veränderung«440 anstrebt. Diese Weiterungen der ›Vertrauenskrise‹ im ideologischen und institutionskritischen Bereich, die sich bei Bernward Vesper beobachten lassen, sollen in der Folge untersucht werden. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf den verwirrenden, ambivalenten und – wie wir noch sehen werden – oft missverstandenen politischen Fanatismus gerichtet werden, den Vesper mit vielen seiner von der ›Vertrauenskrise‹ erfassten Generationsgenossen teilte. Das Ziel ist eine Relektüre der Reise im Zeichen dieser Dialektik von politischem Dogmatismus und quälenden Selbstzweifeln. So soll letztlich eine Rezeptionstradition überwunden und korrigiert werden, die in Vespers ›Romanessay‹ immer nur eine Antizipation des deutschen Linksterrorismus suchte und fand.

439 DR: p. 633. 440 Lüscher : p. 150.

3. Zeit- und Institutionskritik in Die Reise

Eine Krise des Vertrauens in die von den Eltern vorgelebten Normen kann sich, wie oben angeführt, leicht zu einer universellen Ablehnung aller Strukturen ausweiten, die im weitesten Sinne auf ›elterlicher‹ Autorität, auf der Autorität älterer oder erfahrenerer Menschen beruhen. Gerade im Deutschland der Nachkriegszeit waren die Voraussetzungen für ein derartiges Wuchern der ›Vertrauenskrise‹ in einem viel größeren Masse gegeben als beispielsweise in den USA441, da ja nicht nur die Eltern und die Politik angreifbar und unglaubwürdig geworden waren (hier natürlich aufgrund ihrer nicht aufgearbeiteten Rollen im ›Dritten Reich‹) – dasselbe galt für Lehrer, Lehrmeister, Vorgesetzte, Dozenten, Professoren und andere Autoritätsfiguren. In Wolfgang Kraushaars Worten: Jeder, der in der Nachkriegszeit aufgewachsen und irgendwann in den sechziger Jahren politisiert worden ist, weiß, wie hermetisch die politische Verdrängung des Nationalsozialismus funktionierte. Elternhaus und Schule, Universität und Wissenschaft, Justiz und Verwaltung, Staat und Industrie, Kirchen, Gesundheitsfürsorge, Vereinswesen – die gesellschaftlichen Institutionen insgesamt standen nur allzu spürbar unter den Folgewirkungen eines Latenzzusammenhanges, dessen absorbierte Gewaltförmigkeit wie eine stumme, selten aufbrechende Bedrohung erlebt wurde.442

Aus dem Widerstand der jüngeren Generation gegen solche strukturelle, gesamtgesellschaftliche Verdrängung – gegen das »Wissensverbot« – musste, um noch einmal auf Mauelshagens prägnante Formulierung zurückzukommen, eine Situation resultieren, in der die »Inanspruchnahme […] jeglicher Autorität durch die ältere Generation […] für die jüngere mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit […] nicht länger akzeptabel«443 war. Im Extremfall 441 Siehe Fn. 613. 442 Kraushaar, Wolfgang: »Autoritärer Staat und antiautoritäre Bewegung. Zum Organisationsreferat von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt«. 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 3 (1987): p. 76 – 104. Hier: p. 79. 443 Mauelshagen: p. 39.

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Zeit- und Institutionskritik in Die Reise

»identifizierte [man] sich nicht mehr bzw. negativ mit der Familie und dem politisch-gesellschaftlichen System«444. Bei Meckel jedenfalls scheint es nicht zu einer solchen Ausweitung der ›Vertrauenskrise‹ gekommen zu sein, da er sich, wie oben gezeigt, von der Lebenswelt der Eltern zu lösen und seine Traumata in literarischen Texten zu verarbeiten vermochte. Bei Bernward Vesper dagegen, von Beginn an Teil der »›Szene‹ […] im Brennpunkt der APO-Bewegungen«445, sind, wie dieses Kapitel zeigen wird, die Eltern nur die Funken im Reichschen »autoritären Miniaturstaat der Familie«446, an denen sich eine generelle ›Vertrauenskrise‹ des Autors entzündet, die er mit vielen Angehörigen seiner Generation teilt – »denn wie ich sind wir alle betrogen worden, um unsere Träume, um Liebe, Geist, Heiterkeit, ums Ficken, um Hasch und Trip«447. Der Widerstand gegen die Eltern, den der Begriff ›Väterliteratur‹ zu Unrecht gegenüber der politischen Komponente solchen literarischen Schaffens in den Vordergrund rückt, entwickelt sich zum »Aufstand […] gegen diejenigen, die mich zur Sau gemacht haben« – zum Aufstand also keineswegs nur »gegen die zwanzig Jahre im Elternhaus«448, die wohl in der Rezeption aufgrund ihrer sehr anschaulichen und ausführlichen Darstellung so prominent figurieren: Besagter Aufstand äußert sich auch in eindrucksvollen und bislang wenig beachteten Passagen über Schul-, Lehr- und Studienzeit, die in den zeitgenössischen theoretischen und institutionskritischen Diskurs eingebettet sind. Der Befund, dass die Eltern, oder primär der Vater, nur die Impulsgeber zu Vespers kritischer Arbeit sind, die Kritik aber zwingend auch die Gesellschaft und ihre Institutionen erfasst, sollte eigentlich nicht überraschen. Schon bei Herbert Marcuse, der Die Reise unbestreitbar beeinflusst hat, findet sich dieser Gedanke: Autorität, so heißt es in Triebstruktur und Gesellschaft, hat eine Geschichte, und »die zweite Beherrschung ist nicht einfach eine Wiederholung der ersten«449. Das heißt, es gibt eine historische Entwicklung, die vom »Urvater«, den Freud postulierte (und bei dem die Vertreter des Begriffs ›Väterliteratur‹ offenbar stehengeblieben sind) »über die Brüderhorde zum System institutionalisierter Autorität [führt], wie sie charakteristisch für die reife Kultur ist«450. Im Verlauf dieses Prozesses, so Marcuse, werde »die Herrschaft zunehmend unpersönlich, objektiv, universell und zugleich zunehmend rational, wirksam, produktiv«451. Autorität ist also in mo444 445 446 447 448 449 450 451

Ebd.; Hervorhebung nicht im Original. Zschachlitz: p. 94. DR: p. 427. Ebd.: p. 55. Ebd. Marcuse: p. 90. Ebd. Ebd.

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dernen Gesellschaften nicht mehr an die Person des Vaters (oder eines Urvaters) gebunden, und wer sich kritisch mit Autorität auseinandersetzen will, muss diese Tatsache berücksichtigen. In der technisierten Gesellschaft übernimmt der Vater zwar noch die »grundlegende Triebreglementierung« und figuriert als »Vertreter der Position der Familie in der sozialen Arbeitsteilung«452, aber prinzipiell ist das Individuum in solchen Gesellschaften in viel komplexere, eben »unpersönlich[e], objektiv[e], universell[e]«453 Autoritätsverhältnisse eingebunden. Das Telos dieser Kulturgeschichte der Autorität, die beim Freudschen Urvater beginnt, scheint im raffinierten Machtapparat der kapitalistischen Gesellschaft erreicht zu sein: Der Aufstand gegen den Urvater merzte eine einzelne Person aus, die durch andere Personen ersetzt werden konnte (und wurde). Aber wenn das Reich des Vaters sich zum Herrschaftsbereich der Gesellschaft erweitert hat, dann scheint eine solche Ersetzung nicht mehr möglich und das Schuldgefühl wird überwältigend. […] Der innerhalb der Familie und in seiner individuellen biologischen Autorität beschränkte Vater wird, mit viel höherer Machtvollkommenheit, in der Verwaltung wieder aufgerichtet, in der Verwaltung, die das Leben der Gesellschaft erhält, und in den Gesetzen, die die Verwaltung schützen. Diese letzte und sublimste Inkarnation des Vaters kann nicht ›symbolisch‹ durch Emanzipation überwunden werden; es gibt keine Freiheit vor der Verwaltung und ihren Gesetzen, denn sie erscheinen als die höchsten Garanten der Freiheit selbst. Die Auflehnung gegen sie wäre wiederum das äußerste Verbrechen – diesmal nicht gegen das Despot-Tier, das die Befriedigung verbietet, sondern gegen die weise Ordnung, die die Güter und Dienste für die fortschreitende Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse sicherstellt. Jetzt erscheint die Auflehnung als das Verbrechen gegen die gesamte menschliche Gesellschaft und daher jenseits jeder Sühne und Erlösung.454

Wer also, wie dies Vesper beispielhaft tut, aus einer ›Vertrauenskrise‹ heraus die bestehenden Verhältnisse kritisiert, kann nicht bei der Person des Vaters Halt machen – die Kritik muss, um bei Marcuses Begrifflichkeit zu bleiben, die »Verwaltung und ihre[] Gesetze« erfassen, die längst den »in seiner individuellen biologischen Autorität beschränkte[n] Vater« auf der Basis desselben Autoritätsprinzips ersetzt haben und über die »Gesellschaft« als »Herrschaftsbereich« verfügen. Damit ist die Anlage der Reise umrissen: Von der Kritik an der »biologischen Autorität« des Vaters Will Vesper ausgehend, wendet sich Bernward Vesper im Verlauf des Buches der Gesellschaft und ihren Institutionen zu, die zum »Reich des Vaters« geworden sind und deshalb abgelehnt werden müssen. Marcuses Postulat, dass derjenige, der solche Kritik zu formulieren wagt, zum Aussätzigen wird, zum von »Schuldgefühl[en]« geplagten »Verbre452 Ebd.: p. 91. 453 Ebd.: p. 90. 454 Ebd.: p. 93.

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che[r] gegen die gesamte menschliche Gesellschaft«, werden wir in der Reise ebenfalls erfüllt sehen. Diese Feststellungen gelten aber – dieser kurze Exkurs sei hier erlaubt – auch für die ›Vertrauenskrisen‹, die sich in den anderen ›Väterbüchern‹ manifestieren: In all diesen Fällen wird deutlich, dass ein simpler Aufstand gegen den Patriarchen (mehr als das suggeriert der Terminus ›Väterliteratur‹ ja nicht) eben nicht genügt, dass zum Verständnis der Kernprobleme historiographische und (im Falle von Vesper, Rehmann und Plessen) ergänzende institutionskritische Analysen nötig sind, in welchen die Vaterfiguren höchstens noch als exemplarische ›Fälle‹ fungieren, durch deren stringente Untersuchung Induktionsschlüsse möglich werden. Die von Vesper gleichsam vorgelebte Marginalisierung des Individuums, das sich an gesellschaftliche und familiäre Tabus heranwagt, erfasst auch viele andere Autorinnen und Autoren von ›Väterbüchern‹: So wird Ruth Rehmann für ihr literarisches Projekt von ihrem eigenen Bruder scharf kritisiert; Elisabeth Plessen widerfährt durch ihre Geschwister Ähnliches, und Sigfrid Gauch wird in seinem Heimatort als Nestbeschmutzer beschimpft. Jedenfalls scheint die gesellschaftskritische Grundierung nicht nur der Reise mit Marcuses Ausführungen zur kulturgeschichtlichen Genese und Universalisierung der väterlichen Autorität besser erklärbar zu werden. Schon diese sehr kursorische Historisierung des Autoritätsbegriffs offenbart die äußerst engen Grenzen des Konzepts ›Väterliteratur‹. Entsprechend dem sozialkritischen Impetus der Reise, der offenbar umfassender und fundierter ist als oft angenommen, lautete der ursprüngliche Titel des Textes, den Vesper zu Beginn des Buches seinem amerikanischen Reisegefährten Burton mitteilt, Hate: ›Ich werde ein Buch schreiben‹, sagte ich zu Burton. ›The title of that book will be Hate.‹ Ich hasse Dubrovnik. Ich hasse Deutschland. Ich hasse dieses herumrollende Gemüse. Ich hasse Autos. Ich hasse Straßen. Ich hasse Berlin. Ich hasse Kinder. Ich hasse meinen Vater. Ich hasse alle, die mich zur Sau gemacht haben. [Ich hasse meine Lehrer] […].455

Die ›Vertrauenskrise‹ ist bei Bernward Vesper demzufolge keineswegs auf den gesellschaftlichen Raum der Familie beschränkt, sondern führt zu politischem Engagement, zu Institutions- und Zeitkritik456 im Geiste Herbert Marcuses. Genau wie in den akribischen Schilderungen der Familienverhältnisse auf Gut Triangel verfolgt Vesper auch in den ideologie- und institutionskritischen Pas455 DR: p. 20; Hervorhebung im Original. 456 Frühwald wendet ein, er habe »wenig Politisches in Vespers Buch deshalb entdeckt, weil mein Begriff des Politischen den rationalen Umgang mit Menschen und mit ihrer Wirklichkeit meint, hier aber emotionale und irrationale Argumentationsweisen auch im politischen Bereich […] vorherrschen« (Deutsche Väter : p. 139). Diese Aussage mutet seltsam an; der politische Gehalt der Reise lässt sich meines Erachtens nicht einfach negieren, nur weil Frühwald ihn für »irrational[]« hält.

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sagen der Reise einen analytischen Ansatz; sein Ziel scheint stets der Erkenntnisgewinn mit Hilfe des intellektuellen Rüstzeugs des Marxismus zu sein. Dabei verläuft Vespers Kritik, offenbar ganz im Sinne Marcuses strukturiert, vom Vater zur ›väterlichen‹ Gesellschaft und ihren Institutionen. Zschachlitz und Brandstädter gehen demnach fehl, wenn sie behaupten, dass in der Reise die »individuellen, sozialen und politischen Widersprüche nicht gestaltet, sondern vom Autor selbst gelebt und inkarniert«457 werden, und dass im Text eine »konsequente, beinahe solipsistisch anmutende Begrenzung auf die Perspektive des erzählenden Ichs«458 begegne. Die Einordnung des Textes in eine ›Väterliteratur‹, die von vielen (wenn auch nicht allen) Interpreten als Begleiterscheinung der entpolitisierten und resignativen neuen Subjektivität begriffen wird, ist aufgrund der sozial- und institutionskritischen Komponente der Reise nicht haltbar. Jedenfalls ist Zschachlitz und Brandstädter zu widersprechen: Vesper zehrt in seinen Schilderungen natürlich von seinen individuellen Erfahrungen im »autoritären Miniaturstaat der Familie« und im muffigen Nachkriegsdeutschland, bemüht sich aber im Gefolge von Marcuses Thesen auch, seine Kritik analytisch zu vertiefen, sie vom subjektiven Erleben zu trennen und auf ihre universelle Gültigkeit zu verweisen, wie ja die väterliche Autorität, um mit Marcuse zu sprechen, ebenfalls »universell«459 geworden ist. Die »individuellen, sozialen und politischen Widersprüche« werden vom Autor also sehr wohl »gestaltet«460, und die »Perspektive« bleibt keineswegs auf das »erzählende[] Ich«461 begrenzt. Vespers ›Gestaltung‹ der eigenen Erfahrung wird primär durch einen noch zu spezifizierenden Duktus erreicht, der auf eine Objektivierung ebendieser Erfahrungen abzielt – aber auch, zum Beispiel, durch die oben erwähnten unpersönlich gehaltenen, marxistisch grundierten Passagen zur eigenen Familiengeschichte, durch die zahllosen intertextuellen Verweise und mittels Montagetechnik eingefügten Textfetzen, durch den Essay »Linke und lsd«462 und andere faktuale oder theoretische Einschübe. Zudem stellt Vesper mit einer gewissen Selbstverständlichkeit einen Konnex zwischen der Auflehnung gegen väterliche Autorität und scharfer Gesellschafts- und Institutionskritik her ; diese Gleichordnung, die für ein heutiges Publikum vielleicht erklärungsbedürftig ist (eine Auflehnung gegen den Vater bedingt ja noch lange kein politisches Engagement), setzt gleichsam voraus, dass die intendierte Leserschaft die entsprechenden Passagen aus Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft präsent hat. 457 458 459 460 461 462

Zschachlitz: p. 116. Brandstädter: p. 168. Marcuse: p. 90. Zschachlitz: p. 116. Brandstädter: p. 168. DR: p. 504 ff.; Kapitälchen im Original.

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Die Strukturierung des kritischen Anliegens der Reise am Vorbild Marcuses kreiert nicht nur eine Identifikationsmöglichkeit für die Rezipienten – schließlich war Marcuse einer der Lieblingsautoren der 68er-Bewegung –, sondern objektiviert wiederum die Erfahrungen und die Analysen des Autors durch den impliziten Verweis auf einen theoretischen Text. Nicht zuletzt suggeriert das konstante namedropping von bekannten Exponenten der ›Szene‹ einen auf gemeinsamen Ansichten und Erlebnissen gründenden politischen Ansatz. Auch in den Notizen zur Reise beharrt Vesper auf dieser analytischen und intersubjektiven Anlage des ›Romanessays‹: kunst wäre natürlich, sehn zu machen, was man selber sieht. das ist auch so ein subjektivistischer blödsinn[.] […] nach allem, was ich gehört habe, ist es anderen nicht anders gegangen [als mir], und die private scheisse von millionen menschen muss endlich ihre konsequenzen haben. […] das ist kein heroischer bericht. ich nehme nicht für mich in anspruch, irgendetwas besonderes erlebt zu haben.463

Unsere Beobachtungen zeigen deutlich, dass Vespers analytisches Anliegen als Ergebnis einer bewussten und sorgfältigen Gestaltungsarbeit ernst zu nehmen ist (was Zschachlitz und Brandstädter offenbar nicht tun), und zwar nicht nur in Bezug auf die Familie, wie dies im vorhergehenden Kapitel dieser Arbeit geschah, sondern in seiner ganzen politischen und institutionskritischen Breite. Gegen Ende des Buches und damit des autobiographischen ›einfachen Berichts‹ verlässt Vesper, ganz dem oben herangezogenen Ansatz Marcuses entsprechend, den Familienraum und erzählt in chronologischer Folge von Schule, Berufslehre und Universität. Dabei ist stets der besagte kritisch-analytische Gestus wirksam, und die ›Vertrauenskrise‹, die sich vorerst im familiären Raum konstituiert hatte, wird als kollektives Phänomen fassbar. Das impliziert schon die grammatikalische Form des Abschnitts über die Schule, der nämlich in der ersten Person Plural gehalten ist. Zudem werden die Lehrer entindividualisiert, indem Vesper sie allesamt mit dem Schimpfwort464 »Schweinchenschlau« be463 Ebd.: p. 631 ff. 464 Wobei ›Schweinchenschlau‹ auch eine Märchen-, beziehungsweise Trickfilmfigur ist. Das englischsprachige Märchen Three Little Pigs erzählt von drei Schweinchen, die jeweils in einem Haus aus Stroh, Holz und Stein wohnen. Ein böser Wolf hat es auf die Schweinchen abgesehen und versucht, ihre Häuser wegzupusten. Beim Stroh- und Holzhaus ist er erfolgreich (und frisst ihre Bewohner), aber er scheitert am Steinhaus des dritten Schweinchens, im Original ›the practical pig‹, in der deutschen Übersetzung – eben – ›Schweinchenschlau‹. Interessant ist die Variante des Märchens, auf die sich Vesper mit grösster Wahrscheinlichkeit bezieht; sie wird im bekannten Disney-Trickfilm Three Little Pigs erzählt, der ausgerechnet 1933 Premiere feierte: Auch hier gelingt es dem Wolf, die Häuser aus Holz und Stroh umzupusten, aber die beiden weniger schlauen Schweinchen können in das Steinhaus von ›Schweinchenschlau‹ flüchten. Das Bild des feigen, aber schlauen Schweins, das gemeinsam mit ebenso feigen, aber weniger schlauen Schweinen in einem steinernen Bollwerk eine wölfische Bedrohung übersteht, ohne sich gegen sie zu wehren, muss Vesper

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zeichnet. Dadurch werden seine Schulerlebnisse lesbar als Leidenserfahrung einer ganzen Generation unter der Regentschaft austauschbarer und unerbittlicher Tyrannen: »Zehn Jahre lang verbrachten wir unter der Herrschaft von Schweinchenschlau«, wobei alle »Ausformungen von Schweinchenschlau« nur »Inkarnationen der einen Idee ›Schweinchenschlau‹ waren«465. Die Ausweitung der ›Vertrauenskrise‹ von der familiären auf die institutionelle und damit politische Sphäre ist eine zwingende Folge der Verhältnisse, die der junge Bernward Vesper an der Schule antrifft: Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern ähnelt frappant demjenigen zwischen Eltern und Kindern, und da Vespers Lehrer ihre Autorität auf dieselbe Art und Weise missbrauchen wie seine Eltern und ihre Vergangenheit von ähnlichen ideologischen Verstrickungen gezeichnet ist, sind sie ihm bald genau so verhasst und unglaubwürdig wie die Eltern. Der verbeamtete Lehrer ist außerdem, wiederum wie die Eltern, »Schweinchenschlau auf Lebenszeit«466, gebietet nach »Schweinchenschlau-Kriterien«467 über das Schicksal der Kinder und straft und belohnt nach Lust und Laune, und natürlich hat Schweinchenschlau […] auf seine Schweinchenschlau-Art auch im Zweiten Weltkrieg eine Rolle gespielt, und dass er dort seine Kenntnisse in der Luftwaffe, bei der Marine, in der Armee mit Erfolg eingesetzt hatte, vermochte Schweinchenschlau auch nie zu verschweigen [und] […] konnte es im Grunde seines Herzens nicht verwinden, dass der Krieg trotz seines Einsatzes verloren worden war.468

Die Prahlereien einzelner Lehrer über ihre Kriegstaten scheinen denn auch die einzigen Berührungspunkte von Vespers Schulbildung mit der Zeit des Nationalsozialismus gewesen zu sein. In verlogener Weise unterrichtete man den »investiturstreit als das wichtigste ereignis in der geschichte der menschheit, die kriege waren kriege der duodezfürsten, von ›volk‹ wusste man wenig […]«469. Die Schule war also nicht im geringsten in der lage, uns den faschismus als eine notwendige variante des kapitalismus zu erklären […], sie reduzierte ihn auf ein moralisches problem, dessen widerwärtigkeit an hand der judenverfolgung bewiesen wurde. […] keine lehrer aus widerstand, emigration, arbeiterbewegung – […] zensur am schwarzen brett.470

465 466 467 468 469 470

besonders passend für seine selbstherrlichen, feigen und ideologisch kompromittierten Lehrer erschienen sein. Ebd.: p. 536. Ebd. Ebd.: p. 538. Ebd.: p. 539. Ebd.: p. 651 f. Ebd.: p. 652.

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Nachdem Vesper die Schule, diese »bürgerliche ideologische gemischtwarenhandlung«471 mit ihrer perversen Mischung aus Autoritätsmissbrauch und institutionalisierter Vergangenheitsverdrängung verlassen hat, tritt er als Lehrling in den Braunschweiger Westermann-Verlag ein, und zunächst scheint sich alles zum Besseren zu wenden: »Lehrling einer solchen Firma zu sein, die Beziehungen in der ganzen Welt unterhielt, verlieh mir ein Gefühl der Sicherheit; […] [a]ls ich das Büro durch die gepolsterten Türen verließ, fühlte ich mich aufgenommen in eine große, tätige Familie«472. Bald aber stellt sich Desillusionierung ein: Ich war nach Braunschweig gekommen, um zu lernen, wie man Bücher macht, nach welchen Gesichtspunkten man sie plant und wie man sie herstellt und vertreibt. Aber je länger ich an den Schreibtischen der Abteilungen saß, um so ferner rückten diese Ziele. Die Bücher und Zeitschriften lösten sich auf in Seiten, Zeilen und Lettern, und schließlich verlor ich sie ganz aus den Augen, versank in zahllose Einzelheiten […], die mich umso weniger interessierten, wie ich die Zusammenhänge, die Gesetze, nach denen jeder Arbeitsgang, jede Abteilung ineinandergriff, erkennen konnte. Ich hörte den Gesprächen […] zu, aber alles, was ich aufschnappte, blieb abstrakt. Wenn ich mich in der Buchhaltung auch darauf konzentrierte, die unzähligen Konten in den Kästen, die Einnahmen und Ausgaben […] zu erfassen, kam ich dem Geheimnis ihrer Arbeitsweise doch um keinen Schritt näher. […] Meine Bewegungen, die stark und schwungvoll gewesen waren, fraßen sich fest. Meine Phantasie erlahmte […]. Ich teilte mir den Tag im Kopf ein. Ehe die Post nicht da ist, lässt sich mühelos eine Beschäftigung vortäuschen. […] [A]m Freitag […] fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause […] und versuchte alles, was in der Woche geschehen war, zu vergessen.473

Kurz, der Marxist Vesper beschreibt die Tätigkeit bei Westermann schul- und parteibuchmäßig als entfremdete Arbeit, als Arbeit also, die dem Arbeiter äusserlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, [was dazu führt,] dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruinirt. Der Arbeiter fühlt sich daher erst ausser der Arbeit bei sich und in der Arbeit ausser sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse ausser ihr zu befriedigen. […] Sie gehört einem andern, sie ist der Verlust seiner selbst. […] Wir haben den Akt der Entfremdung der praktischen menschlichen Thätigkeit, d[er] Arbeit, nach zwei Seiten hin betrachtet. 1) Das Verhältnis des Arbeiters zum Product der Arbeit als fremden und über ihn mächtigen Gegenstand […]. 2. Das Verhältniß der Arbeit zum Akt der Production 471 Ebd.: p. 653. 472 Ebd.: p. 553. 473 Ebd.: p. 554 f.

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innerhalb der Arbeit. Dieß Verhältniß ist das Verhältniß des Arbeiters zu seiner eignen Thätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen, d[ie] Thätigkeit als Leiden […].474

Hier wird demnach der Eintritt in das Berufsleben, und damit eine Erfahrung, die Vesper genau wie zuvor die Schulzeit und später das Studium mit seinen Generationsgenossen teilt, in den damals unter Gleichaltrigen wohl allgemein und unmittelbar verständlichen Rahmen marxistischer Begrifflichkeit gestellt. Die Passage erzählt nicht einfach nur ein bemerkenswertes Erlebnis eines Individuums, sondern gestaltet eine kollektive Erfahrung – sie soll Identifikationspotenzial bieten und Identität stiften. In Vespers Schilderungen manifestiert sich nichts anderes als das von Jürgen Habermas bei Vespers ganzer Generation diagnostizierte Unverständnis dafür, warum das Leben des einzelnen trotz dem hohen Stand der technologischen Entwicklung nach wie vor durch das Diktat der Berufsarbeit, durch die Ethik des Leistungswettbewerbs, durch den Druck der Statuskonkurrenz, durch Werte der possessiven Verdinglichung […] bestimmt ist, warum, mit einem Wort, der ›Kampf ums Dasein‹, die Disziplin der entfremdeten Arbeit, die Tilgung von Sinnlichkeit und ästhetischer Befriedigung aufrechterhalten werden.475

An dieser Stelle wird aber auch deutlich, dass Vesper eine bemerkenswerte (und dennoch zeittypische) intellektuelle Volte vornimmt, deren Implikationen später noch diskutiert werden müssen: Marx’ Begriff der entfremdeten Arbeit bezieht sich natürlich auf ausgebeutete Proletarier, zu denen Vesper als Lehrling im Büro, einer im wahrsten Sinne des Wortes white-collar-Umgebung (einmal ist von den »weißen Kitteln« der »Angestellten«476 die Rede), nun wirklich nicht gehört. Trotzdem inszeniert er sich als Opfer einer Entfremdungserfahrung und ortet die authentische, befriedigende und vor allem verständliche, eben gerade nicht »fremde[]«477 Arbeit in einer Art Inversion von Marx’ These ausgerechnet in der Fabrik: Von dem Flügel, in dem die Angestellten in ihren weißen Kitteln saßen, führen die Flure in den technischen Betrieb: […] [D]ort stehen Drucker an den Rotationen, sitzen Retoucheure vor den Lichttischen, werden die Offsetplatten geätzt und die Planobogen gefalzt, zusammengetragen, genutet, gelumbeckt und gebunden. […] Wenn man die dicken Metalltüren, die beide Komplexe trennen, öffnete, wischte einem der Maschinenraum den Schall vom Mund. […] [T]rotz der Anstrengung, die es mich kostete, mich acht Stunden lang auf den Beinen zu halten, verging die Zeit hier schneller. Nie kommt die kriechende, klebrige Langeweile der Büros auf. Denn im Lärm der Ma474 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1 2009 (= Suhrkamp Studienbibliothek 15). Hier: p. 87 ff.; Hervorhebungen im Original. 475 Habermas, Jürgen: Protestbewegung und Hochschulreform. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. Hier : p. 193. 476 DR: p. 559. 477 Marx: p. 88.

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schinen, im Dunst der Druckerschwärze, im Papierstaub verwandelte die Arbeitskraft und die Geschicklichkeit der Arbeiter die Druckvorlage in Produkte, die zuvor nicht dagewesen waren, die nicht zustandegekommen wären, wenn nicht alle, von den Herstellern bis zum Packer, in sinnvoller Weise zusammengearbeitet hätten. […] Nach einigen Monaten konnte ich den Produktionsverlauf […] überblicken.478

Damit nicht genug: Die blue-collar-workers, die im Westermannschen Maschinenraum eben gerade »sinnvolle[]« Arbeit leisten, erscheinen zudem keineswegs als ›Träger‹ einer wie auch immer gearteten ›Revolution‹, sondern als träge Kleinbürger, wie Vesper mit einigem Befremden bemerkt: Von einigen wusste ich, dass sie einen kleinen Schrebergarten bearbeiteten, andre sammelten Briefmarken, spielten Akkordeon, lasen Krimis. […] Einige waren in der Gewerkschaft, andre hatte ich beobachtet, wie sie ein Flugblatt der IG-Druck und Papier […] zerknüllten […]. In den fünfzehn Jahren seit Kriegsende hatten sie eine neue Wohnung, eine andre Einrichtung gekauft, […] und gerade sparten die meisten, um sich Fernsehgeräte anzuschaffen.479

Diese bemerkenswerte Umformung von Marx‹ Gedanken soll, wie gesagt, später noch im Detail betrachtet und für den Moment als kurioses Detail festgehalten werden. Vespers Hoffnung jedenfalls, im Verlag eine Art Ersatzfamilie zu finden – seine oben zitierte Formulierung von der »große[n], tätige[n] Familie«480 ist in dieser Hinsicht verräterisch – zerschlägt sich offenbar schnell. Auch die Werktätigkeit bietet somit keine Remedur für die ›Vertrauenskrise‹, sondern vertieft sie nur noch, und Vesper »blieb […] isoliert[] von der Arbeit, die für mich nur aus völlig zusammenhanglosen, absurden Fetzen bestand«481. Der Einsatz im Betrieb ist kein Ausweg aus dem moralischen Vakuum, aus den Autoritätskrisen und der Verdrängungskultur von Schule und Elternhaus. Im Gegenteil, die ›Vertrauenskrise‹ gedeiht hier auf demselben fruchtbaren Grund: Vesper sieht sich nämlich nicht nur mit Arbeitsverhältnissen konfrontiert, die er als entmenschlichend empfindet, sondern wiederum mit der unbewältigten jüngeren Geschichte, hier der dubiosen Rolle des Westermann-Verlags in der Zeit des Nationalsozialismus. »kennen sie das geheimnis des Westermann-Erfolges?«, fragt Vesper in einer Parodie eines Werbetexts, [liegt der Erfolg] [a]m Einsatz des Professors aus dem NS-Kultusministerium, der mit Fleiß und Sorgfalt die Schulbücher für Millionen Kinder der Republik empfiehlt: Oder liegt das Geheimnis, für uns unsichtbar, in der Vergangenheit, als unter dem Verlags478 479 480 481

DR: p. 559 f. Ebd.: p. 561 f. Ebd.: p. 553. Ebd.: p. 556.

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zeichen der Weizenähre 1000-jährige Literatur in Massenauflagen die Packerei verließ?482

Die krisenhaften Konstellationen aus dem Elternhaus setzen sich somit nicht nur in der Schule, sondern auch an der Ausbildungsstätte fort. In seiner Verzweiflung entschließt sich Vesper, »nach der Lehre nach Tübingen zu gehen«483, um dort ein Studium der Geschichte, Germanistik und Soziologie aufzunehmen. Das Studium aber entpuppt sich schnell als weiteres Entfremdungserlebnis in einer verkrusteten Institution: »[Man muss] sich der Diktatur der Berechtigungsscheine unterwerfen […], um später selbst Berechtigungsscheine ausstellen zu können«484. Folgerichtig leidet Vesper an Einsamkeit und Entfremdung, wie schon im Westermann-Verlag: »Allein, wie ich hierhergekommen war, ging ich die täglichen Wege«485. Und damit setzt, wie schon fast zu erwarten, die ›Vertrauenskrise‹ auch an der Universität ein, wiederum nicht nur wegen der entfremdenden Bedingungen, unter denen Vesper studiert, sondern wie zuvor auch aufgrund der unter der Oberfläche noch allgegenwärtigen nationalsozialistischen Vergangenheit: Schnell stellt der junge Vesper fest, dass an der Universität »die alten Nazis in […] neuen Ämtern« lehren und forschen, dass das »Gegröl der alten Burschenherrlichkeit« noch immer »Tübingen beherrscht[]« und dass der »kleine Schaukasten des SDS […] manchen Morgen eine zertrümmerte Glasfassade«486 aufweist. Dass auch diese Desillusion eine kollektive ist, verdeutlicht wiederum eine kurze Passage, die in der ersten Person Plural verfasst wurde: Streiks kannten wir nur vom Hörensagen, Marx wurde in den Vorlesungen, wenn man ihn überhaupt erwähnte, nur zitiert, um ihn zu ›widerlegen‹, Ralf Dahrendorfs Zirkulationsmodell der Eliten, seine Soziologie der Schichtungen, von uns angestaunt

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Ebd.: p. 562 f.; Kapitälchen und Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 583. Ebd. Ebd.: p. 584. Ebd.: p. 583. Ironischerweise hatte Vesper zu Walter Jens, dessen NSDAP-Mitgliedschaft erst 2003 bekannt wurde, ein gutes Verhältnis. Der Student hatte Jens gegen »einen sehr unsachlichen Angriff« in »einem reaktionären Blatt« verteidigt, indem er einen Entgegnungsbrief an DIE ZEIT schickte, der auch abgedruckt wurde – »[w]enige Tage später lag auf meinem Kellerzimmertisch ein Brief von Jens, er lud mich ein, meinen Artikel mit ihm durchzugehen, er werde sich freuen, mich kennenzulernen etc. […] Für mich hatte dieser Kontakt aber zur Folge, dass ich als Stipendiat in die Studienstiftung aufgenommen wurde und für einige Jahre wenigstens die dringendsten Geldsorgen loswurde« (ebd.: p. 569). Ebenfalls bemerkenswert ist an dieser Stelle Vespers Mitgliedschaft in der Tübinger Burschenschaft Roigel, die seine oben zitierten »mokanten Äußerungen über Tübinger Verbindungshäuser« in einem seltsamen Licht erscheinen lässt (Kapellen, Michael: Doppelt leben. Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Die Tübinger Jahre. Tübingen: Klöpfer und Meyer, 2005. Hier : p. 28 ff., p. 32).

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wegen seiner glatten Formulierungen, lief auf die Riesmansche Formel hinaus, dass in einer Demokratie jeder von jedem abhängig ist […].487

Aber auch die persönlichen Ängste und Einsamkeitsgefühle in der Anfangsphase des Studiums gelten Vesper nicht nur als individuelle Erlebnisse – soviel wird klar, wenn er auf »Ingeborg Bachmanns Vorschlag, jeder solle sein erstes Semester beschreiben«, verweist, da es sich um eine generell »absurde Situation«488 handle, und im Paratext fordert, dass »jede[r] professor ›mein erstes semester als student / m. e. s. als professor‹ schreiben und an die studenten verteilen«489 solle. In der chronologischen Beschreibung seiner Lebens- und Ausbildungsstationen bemüht sich Bernward Vesper also offenbar um Repräsentativität, um einen auf Marcuses Theorien gründenden analytischen Ansatz, der die Ursprünge der 68er-Bewegung aus einer wohlbegründeten, generationsweiten ›Vertrauenskrise‹ gegenüber Institutionen und Autoritätsfiguren aller Art veranschaulichen soll. Dabei werden bestimmte Motive und Muster elegant in die Beschreibungen von Familie, Lehrzeit und Studium eingeflochten: missbrauchte und überhaupt unglaubwürdige Autorität, gekoppelt an als unmenschlich und entfremdend empfundene Erwartungshaltungen und Arbeitsbedingungen, kombiniert mit einem vollkommenen moralischen Bankrott einer ganzen Gesellschaft aufgrund ihrer willigen Partizipation am Nationalsozialismus, dessen Residuen noch immer alle Lebensbereiche verseuchen – das sind die Verwerfungszonen, die Konfliktherde, welche die Angehörigen von Bernward Vespers Generation nicht nur im eigenen Vater antreffen, wie es die Idee der ›Väterliteratur‹ vermuten liesse, und nicht nur in den Eltern, sondern in nahezu jeder Autoritätsperson in Schule, Universität und Beruf490. Das Leiden an diesen 487 488 489 490

Ebd.: p. 583; Hervorhebungen nicht im Original. Ebd.: p. 584. Ebd.: p. 665. Wobei diese Erfahrungen und überhaupt die ›Vertrauenskrise‹ nicht nur für Vespers Generation konstitutiv waren; auch jüngere Exponenten der radikalen Linken sahen sich mit diesen Problemen konfrontiert. Das belegt allein schon die Tatsache, dass es zu insgesamt drei ›Generationen‹ von RAF-TerroristInnen kommen konnte und sich die Organisation erst 1998 auflöste. Vgl. auch die autobiographischen Schilderungen von Birgit Hogefeld, die beinahe zwanzig Jahre jünger ist als Bernward Vesper und die Protagonisten der sogenannten ersten Generation der RAF – trotzdem laborierte Hogefeld an derselben ›Vertrauenskrise‹: »Während meiner Kindheit erlebte dieses Land […] die Zeit des ›Wirtschaftswunders‹, mit all ihrer Sinnentleerung und Verknüpfung des Lebensinhalts mit materiellen Werten und Konsum. All das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass darunter etwas anderes Unausgesprochenes verborgen werden sollte. Faschismus, seine Verbrechen und, auf den familiären Rahmen bezogen, z. B. die Rolle meines Vaters während seiner Zeit als Wehrmachtsoldat, waren Tabuthemen und lagen wie eine Glocke aus Dumpfheit, Enge und Schweigen über allem«; »Die Kontinuität aus der Zeit des NS-Faschismus war nicht zu übersehen: Nazi-Größen in allen zentralen Bereichen von Staat und

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»Widersprüchen«, das nur in eine umfassende ›Vertrauenskrise‹ münden kann, wird von Vesper, wie in den obigen Ausführungen gezeigt, nicht nur gelebt, sondern, anders als Zschachlitz glaubt, eben auch »gestaltet«491, und zwar keineswegs nur als persönliches oder gar »solipsistisches«492, sondern als von allen Generationsgenossen geteiltes Trauma. Wie paradigmatisch und repräsentativ Die Reise ist, wird noch deutlicher, wenn man zumindest die institutionskritischen Passagen über die Universität in ihren geistesgeschichtlichen Kontext einordnet – denn fast zeitgleich mit der Entstehung der Reise florierte eine Kritik- und Reformbewegung, die sich in verschiedenen Publikationen mit der Universität als Institution und besonders mit einem von Vespers Studienfächern, der Germanistik, beschäftigte. In Sammelbänden wie Germanistik. Eine Deutsche Wissenschaft von 1967, Ansichten einer künftigen Germanistik von 1969 und Neue Ansichten einer künftigen Germanistik von 1973 befassten sich verschiedene Autoren – Germanisten, Professoren, Journalisten, Schriftsteller – mit dem problematischen Status dieser Disziplin, die in antiquierten wissenschaftlichen Traditionen und Methoden verhaftet war und deren Rolle im ›Dritten Reich‹ noch der Aufarbeitung harrte. In der Tat erscheint die Germanistik in diesen kritischen (und auflagenstarken) Sammelbänden genau wie in der Reise als Nexus von weltfremder und entfremdender Kopfarbeit und dubioser Vergangenheit. So zeigt Karl Otto Conrady in Germanistik. Eine deutsche Wissenschaft, dass »für nicht wenige« namhafte Germanisten – zum Beispiel Karl ViÚtor, Friedrich Panzer oder Ernst Bertram – das Fach erst »mit dem politischen Vorgang der von den Nationalsozialisten bewerkstelligten nationalen Erhebung […] ganz an [sein] Ziel«493 kam. Dass die Germanistik »der nationalsozialistischen Herrschaft samt ihren Konsequenzen geistige Hilfe geleistet« habe, könne nicht »bestritten werden«494 ; der Weg der Germanistik zu einer »›völkische[n] Deutschwissenschaft‹« sei das Resultat einer »inneren Folgerichtigkeit« gewesen, und es sei jetzt an der Zeit, angesichts der Geschichte der deutschen Germanistik als einer vorzüglich nationalen Wissenschaft samt ihren schlimmen Folgen, die niemand leugnen kann, […] ihren eigenen Grund kritisch freizulegen […][,] [da] die Prämissen jener Germanistik […] in ihrer eigenen Geschichte liegen[.]495

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Gesellschaft […]« (Hogefeld, Birgit: »Zur Geschichte der RAF«. Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld. O. Hg. Giessen: Psychosozial-Verlag, 1996. Hier: p. 27, p. 35). Zschachlitz: p. 116. Brandstädter: p. 168. Conrady, Karl Otto: »Deutsche Literaturwissenschaft und Drittes Reich«. Germanistik. Eine deutsche Wissenschaft. Hg. von Eberhard Lämmert, Walther Killy et al. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967: p. 73 – 109. Hier: p. 75. Ebd.: p. 78 f. Ebd.: p. 89.

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Diese unverblümte Feststellung einer Komplizenschaft der Germanistik während des Nationalsozialismus muss 1967 einen Nerv getroffen haben. Wenn Bernward Vesper in der Reise ähnliche Einsichten über die Universität als Institution verarbeitet, partizipiert er damit an genau dieser von Conrady gepflegten Form von Institutions- und Wissenschaftskritik, die in jener Zeit ganze Sammelbände füllte. In diesen wurden übrigens auch die verwirrenden und entfremdenden Studienbedingungen diskutiert, die Vesper auf der Basis seiner Erlebnisse als Erstsemester verarbeitet. In den Ansichten einer künftigen Germanistik beispielsweise findet sich eine Satire über den »Lebenslauf eines Germanisten« aus der Feder Herbert Heckmanns: Porträtiert wird ein naiver Germanistikstudent namens Peter Wind, der zunächst – wie Vesper – literarische Ambitionen hat und »sich angewöhnt [hatte], die Hauptwörter klein zu schreiben«496. Die institutionalisierte Germanistik erscheint in Heckmanns Text wie in der Reise als reiner Ver- und Entfremdungsbetrieb, der Peter Wind vermittelt, »dass es besser sei, die Forschung über Schiller zu kennen als Schiller selbst« – mit der Zeit aber verliert Peter Wind seine Angst vor den Vorlesungen und Seminaren, die er ebenfalls mit Vesper teilt (»die Universität […] ängstigte mich anfangs«497), lernt, »mit großen Namen Ideen anzudeuten«498 und kommt wie Vesper mit »Professoren« in »Kontakt«499. Ihn stört »nicht weiter«, dass sein späterer Doktorvater »in der Nazizeit von den Juden behauptet hatte, dass sie unfähig seien, in der Lyrik ein echtes Gefühl auszudrücken«500. Zwar entwickelt sich Heckmanns fiktiver Peter Wind nicht wie Bernward Vesper zum Politaktivisten, sondern erhält am Ende selber einen Lehrstuhl, wie es sich für die hyperbolische Satire gehört. Jedoch ist die weitgehende Deckungsgleichheit von Bernward Vespers Erlebnissen als Student mit den Verhältnissen, die Heckmann in seiner Satire schildert, bemerkenswert. Offensichtlich werden in der Reise tatsächlich repräsentative Eindrücke und Erfahrungen artikuliert, die so gestaltet sind, dass sich die Generations- und Leidensgenossen angesprochen fühlen müssen. Es soll hier noch einmal betont werden, wie zeitgenössisch diese Passagen sind, wie exakt sie den Zeitgeist treffen. Eine Subsumierung der Reise unter literaturgeschichtliche Konstrukte wie die neue Subjektivität (hierzu gleich mehr) oder die ›Väterliteratur‹, die klar in den (späten) Siebzigerjahren anzusiedeln sind, erscheint vor diesem Hintergrund umso zweifelhafter. Gerade Vespers schonungsloser Blick auf seine Studienzeit ist in weiten Teilen an der 496 Heckmann, Herbert: »Lebenslauf eines Germanisten in aufsteigender Linie. Mit erklärenden Notizen«. Ansichten einer künftigen Germanistik. Hg. von Jürgen Kolbe. München: Hanser, 51971: p. 72 – 78. Hier: p. 72. 497 DR: p. 583 f. 498 Heckmann: p. 74. 499 Ebd.: p. 75. 500 Ebd.: p. 77.

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kritischen Literatur zum Universitätsbetrieb im Allgemeinen und zur Germanistik im Besonderen geschult, die zur Entstehungszeit der Reise erschien und eine große Leserschaft fand. Der Anspruch des Autors auf Repräsentativität wird in diesen Abschnitten der Reise nur noch klarer; es geht in ihnen um die objektivierte Darstellung einer kollektiv verspürten ›Vertrauenskrise‹, die ihre Wurzeln im Elternhaus hat, an Schule, Arbeitsplatz und Universität aber weiterwuchert, da sie dort dieselben fruchtbaren Konfigurationen und eine im Marcuseschen Sinne ›universalisierte‹ väterliche Autorität vorfindet. Dem entspricht Vespers programmatische »Einsteinsche Formel« zu Beginn des Buches, also »E = Erfahrung · Hass2«: Sie fordert, dass die Generationsgenossen ihren gemeinsamen »Hass in Energie verwandeln« und diese »ENERGIE unverzüglich ein[]setzen, um die Mine an die ganze Scheisse zu legen«501 – und das funktioniert nur, wenn Vesper seine eigene »Erfahrung« in ihrer ganzen »Verschränkung mit überindividuellen Faktoren erklärt«502, sie also nur als Variable in der »Formel« fungiert. So werden die Leserinnen und Leser implizit – durch die Repräsentativität der Schilderungen, die eben auch »überindividuelle Faktoren« berücksichtigen und in ihrer Strukturierung auf die Marcusesche Theorie anspielen – eingeladen, ihre eigene »Erfahrung« in die Formel einzusetzen und zum gleichen ›Resultat‹ zu kommen wie der Autor. Kurzum, die ›Vertrauenskrise‹ ist ein allgemeines Phänomen, das Lebensgefühl einer ganzen Generation, und als solches tritt es dem Leser der Reise auch entgegen – ja, die ›Vertrauenskrise‹ wird von Vesper als derart repräsentatives Phänomen präsentiert, dass sie sich formal als ultimative Verallgemeinerung ausdrücken lässt: als mathematische Formel eben. Eine denkwürdige Passage, welche zeigt, dass Bernward Vesper in dieser Hinsicht konsistent dachte, findet sich in seinem Briefwechsel mit der nach den Frankfurter Kaufhausbränden inhaftierten Gudrun Ensslin: »Wir sollten uns endlich alle als Opfer erkennen«, schreibt Vesper der Gefangenen, und zwar als Opfer einer »Gesellschaft, die uns alle gefangen hält«503. Umso mehr muss nun Zschachlitz’ Postulat erstaunen, wonach Vesper die »Widersprüche« nicht »gestalte[]«504 – von Brandstädters These ganz zu schweigen, wonach im ›Romanessay‹ eine »konsequente, beinahe solipsistisch anmutende Begrenzung auf die Perspektive des erzählenden Ichs«505 wirksam sei. Wie hier gezeigt, lässt sich Vespers bewusste, ja akribische 501 DR: p. 13 ff.; Hervorhebung im Original. 502 Guntermann: p. 242. 503 Gudrun Ensslin / Bernward Vesper. ›Notstandsgesetze von Deiner Hand‹. Briefe 1968 / 1969. Hg. von Caroline Harmsen et al. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009. Hier: p. 121; Hervorhebung nicht im Original. 504 Zschachlitz: p. 116. 505 Brandstädter: p. 168.

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Gestaltung der eigenen Erlebnisse in Elternhaus, Schule, Beruf und Studium mit dem Ziel ihrer Objektivierung problemlos nachweisen. Die Reise ist mithin, wie in der Einleitung erwähnt, in weiten Teilen in einem Gestus abgefasst, der an einer Verknüpfung der individuell-subjektiven (und damit tendenziell fiktionalen) und der historisch-faktualen Perspektive interessiert ist. In Vespers Werk ist ›Väterliteratur‹ tatsächlich eine Form von Geschichtsschreibung, werden doch die individuellen Problemstellungen, wie dieses Kapitel zeigte, elegant und nahtlos in den übergeordneten kritischen Diskurs der Zeit eingebunden. Wie andere ›Väterliteraten‹ mit ihrer für das Genre charakteristischen Doppelrolle als Dichter und Historiographen umgehen, werden wir im zweiten Teil dieser Arbeit näher analysieren. Zunächst sind in Bezug auf Die Reise noch zwei wichtige und für den Rest der Studie exemplarische begriffliche Präzisierungen angezeigt.

3.1. Überlegungen zur literaturgeschichtlichen Situierung der Reise, oder: neue Subjektivität avant la lettre? An dieser Stelle wird zum wiederholten Mal deutlich, dass der Terminus ›Väterliteratur‹ zur adäquaten Beschreibung der Reise ungeeignet ist. Als ebenso problematisch entpuppt sich die symptomatische literarhistorische Situierung des Textes im Umfeld der auch als »Tendenzwende«506 bezeichneten »neuen Subjektivität«507 der Siebzigerjahre, beziehungsweise in der Zeit der Ernüchterung »nach der Studentenbewegung«508. Dass die ›Väterliteratur‹ von vielen Interpreten in den Dunstkreis dieser literarischen Strömung eingeordnet wird, haben wir in der Einleitung schon gezeigt; dabei wurde auch Claudia Mauelshagens Umdeutung des Begriffs der neuen Subjektivität kritisiert. Nun sollte eigentlich klar sein, dass ein politisch aufgeladener Text wie Die Reise, in dem eine ›Vertrauenskrise‹ gestaltet wird, diese Klassifikation empfindlich stört: Die neue Subjektivität steht ja gerade für ein entpolitisiertes, resignatives literarisches Schaffen, für den Rückzug auf das Persönliche und Individuelle nach der gescheiterten Studentenbewegung. Aber selbst die Sekundärliteratur, die sich spezifisch mit der Reise befasst, beispielsweise die Aufsätze von Georg Guntermann und Bernd Neumann509, postuliert, dass Vespers Schreiben der »Selbsterfahrung« diene und »einer Kontaktaufnahme mit dem Leser gar nicht bedarf« 506 Neumann: p. 92; Kenkel: p. 167; Schnell: p. 635. 507 Schnell: p. 638. Vgl. auch die Einordnung der Reise in das Kapitel »Literatur zwischen Innerlichkeit und alternativen Lebensformen«, ebd. p. 635. 508 Barner : p. 602. 509 Neumann: p. 98 ff.

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– »die Ausrichtung auf das Subjekt ist radikal«510. Tatsächlich scheint Vesper auf den ersten Blick einen an Solipsismus grenzenden Subjektivismus zu pflegen, wenn er großspurig schreibt, dass es ihn nicht interessiere, »ob sich jemand [durch das Buch] durchfindet«, denn er »habe es aufgegeben, zugleich genau und verständlich zu sein«511. Es wird jedoch schnell deutlich, dass diese programmatische Aussage des Autors primär einen Verzicht auf topische und abgenutzte Stilmittel der autobiographischen Gattung signalisiert: In den autobiographischen Passagen der Reise, die, wie oben gezeigt, dank ihrer objektivierten Gestaltung zur Identifikation einladen, kommt es nämlich sehr wohl zu einer »Kontaktaufnahme mit dem Leser«. Eine Klassifizierung der Reise als Werk der neuen Subjektivität ist aber, wie bereits angesprochen, schon aus Gründen der Chronologie abzulehnen. Die Reise passt nicht in die neue Subjektivität, selbst wenn man von der erwähnten Teilhabe des Textes an damals aktuellen kritischen Diskursen absehen wollte, die allein schon seine Einordnung in eine literaturgeschichtliche Ära, welche erst nach dem Tod des Autors einsetzt, ad absurdum führt. Der ›Romanessay‹ entstand zwischen 1969 und 1971, in einem Zeitraum also, als sich die deutschsprachige Literatur im Umbruch befand: Die Erhebung von 1968 musste zwar im Grunde schon als gescheitert gelten, aber man konnte noch keineswegs von einer literarischen »Tendenzwende«512 hin zu einer neuen Innerlichkeit und Subjektivität sprechen. Eine solche ist erst später, gegen die »Mitte der 70er Jahre«513 zu konstatieren. Als die Reise 1977 posthum erschien, war sie natürlich im Kontext dieser »Tendenzwende« lesbar geworden, aber stringent ist das nicht, da sie ja zu einer anderen Zeit und unter anderen ideologischen und poetologischen Voraussetzungen geschrieben wurde. Wenn Literarhistoriker also die Reise der literarischen Strömung der neuen Subjektivität zuordnen, bedienen sie sich einer äußerst dünnen Rechtfertigungsbasis – eigentlich bieten sie nicht mehr als einen diffusen Verweis auf das ›passende‹ Publikationsdatum des Buches (wobei der tatsächliche Entstehungskontext meist ignoriert wird) und die gewichtige Rolle, die Bernward Vesper als erzählendes Subjekt darin spielt. In der Tat aber ist es bei einer genaueren Lektüre eines eminent politischen Textes wie der Reise widersinnig, ihn an einem Punkt in der Literaturgeschichte zu situieren, der mit dem Begriff »Entpolitisierung«514 adäquat beschrieben ist. Hinzu kommt, dass das Interesse am eigenen Ich, die »Selbstvergewisserung«, »Selbstreflexion« und »Selbsterfahrung«515 in der Literatur der Siebzigerjahre 510 511 512 513 514 515

Guntermann: p. 244 f. DR: p. 37. Schnell: p. 635. Ebd. Ebd.: p. 636. Ebd.: p. 638.

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nichts Verpöntes an sich hat, dass diese Beschäftigung mit sich selbst von den Autorinnen und Autoren der neuen Subjektivität gar mit einer gewissen Selbstverständlichkeit betrieben wird (paradigmatische Beispiele sind Max Frischs Tagebuch 1966 – 1972 und sein autobiographischer Roman Montauk von 1975, Thomas Bernhards fünfteilige Autobiographie oder Peter Schneiders 1973 veröffentlichtes Erfolgsbuch Lenz): »[N]ach den Jahren eines eingehenden politisch-gesellschaftlichen Engagements« wird eine »Rückbesinnung auf die eigene Individualität« für sinnvoll, wenn nicht »notwendig«516 erachtet. Diesen Gestus sucht man in der Reise ganz vergeblich. Sie entstand nämlich zu einer Zeit, da »Rückbesinnung auf die eigene Individualität« in der Literatur keineswegs — la mode war, einer Zeit, die sich literaturgeschichtlich unter der Überschrift »Tod der Literatur«517 fassen ließe: In der revolutionären Ära um 1968 / 69, als Vesper die Arbeit an der Reise aufnimmt, ist nicht nur literarische Selbstbespiegelung, sondern literarisches Schreiben überhaupt das Ziel vehementer Kritik. Im Zuge der »Politisierung der deutschen Literatur« um 1968 kommt es zu einer »Betonung des Dokumentarischen«, einer »Hinwendung zur Faktizität der Alltagswirklichkeit«518. In Walter Boehlichs »Autodaf¦«, einem Text, der 1968 im einflussreichen, von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kursbuch erschien und der eine der prägnantesten und wichtigsten Absagen an die »bürgerliche Kritik« darstellt, heißt es: »[Die bürgerliche Kritik] ist nicht fähig, zu verstehen, dass auch das vorgeblich Unpolitische politische Folgen hat […][;] [s]ie glaubt noch immer, dass der Geist das Höchste sei, dass Geist sich ohne Macht verwirklichen könne«519. In der darauffolgenden Ausgabe des Kursbuchs schreibt ausgerechnet der erwähnte Peter Schneider, der mit Vesper bekannt war, dass »die spätbürgerliche Kunst tot« sei und ihre einzige verbleibende Daseinsberechtigung in ihrer »agitatorische[n] und propagandistische[n] Funktion«520 liege: »Die progrediente, die brauchbare Phantasie ist im Spätkapitalismus überhaupt nicht mehr in der Kunst zu Hause, sondern dort, wo sie ihre Befriedigung, statt in der eingebildeten, in der revolutionären Veränderung der Gesellschaft sucht«521. Diese Ablehnung der Literatur zu Gunsten einer revolutionären Praxis (die als solche natürlich auch in Form von Literatur ausgeübt werden durfte und wurde) geht mit einem tiefen Misstrauen gerade der 516 517 518 519

Ebd.: p. 637. Ebd.: p. 632. Ebd. Boehlich, Walter : »Autodaf¦«. Kursbuch 15 (1968): Keine Paginierung, lag als »Kursbogen« in Postergrösse bei. Als Faksimile abgedruckt in: Schnell: p. 634. 520 Schneider, Peter : »Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution«. Kursbuch 16 (1969): p. 1 – 37. Hier : p. 29. So florierten in den Sechziger- und Siebzigerjahren »agitatorische[]« Gattungen wie das dokumentarische Drama. 521 Ebd.: p. 21.

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»Intellektuellen« gegenüber allen »bisherigen Subjektkonzepte[n]«522 einher, das sich in beispielhaften Manifesten wie dem Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums der Mitglieder der Berliner Kommune 2 (unter ihnen Jan-Carl Raspe) niederschlägt: »Der antiautoritäre Aufstand der bürgerlichen Individuen ist immer auch ein Aufstand gegen sich selbst, gegen jenen Teil der bürgerlichen Vergangenheit, den man als verinnerlichte Norm, […] als falsche Individualität mit sich trägt«523. In diesem Kontext ist denn auch Die Reise anzusiedeln: einem Kontext, der, anders als die neue Subjektivität der Siebzigerjahre, die Beschäftigung mit einer vermeintlich unpolitischen Domäne wie dem Subjekt, der eigenen Identität, verurteilt und ›literarisches‹ Schreiben – Fiktion aller Art – überhaupt als konterrevolutionär ablehnt oder wenigstens hinterfragt. Zumindest Neumann erkennt an, dass solche Literatur schon allein aus Gründen der (geistesgeschichtlichen) Chronologie nicht in die neue Subjektivität passt. Trotzdem behandelt er Die Reise gleichsam als neue Subjektivität avant la lettre: Der Text ist ihm ein Beweis für die These, dass »die Problematik des ›subjektiven Faktors‹ zu keiner Zeit innerhalb der linken Szene gänzlich ausgeklammert […] worden«, dass das »Problem vielmehr ständig präsent«524 gewesen sei. Nun ist es tatsächlich so, dass Die Reise einen »subjektiven Faktor« aufweist (und auch problematisiert), aber im Gegensatz zu den Texten der neuen Subjektivität geschieht das auf höchst verkrampfte Weise, im Bewusstsein eben, etwas ›Verbotenes‹ zu tun. Vesper schreibt über sich selbst, als würde er gerade bei etwas höchst Unschicklichem ertappt, und im Kontext des ›Todes‹ der Literatur um 1968 war es ja tatsächlich unschicklich, sich in dieser Form mit sich selbst auseinanderzusetzen. Diesen Aspekt übersieht Neumann aber vollkommen, wenn er beispielsweise postuliert, dass in der Reise die »dominierende Subjektivität, die sich literarisch entäußert, […] souverän über die eingestreuten Dokumente [verfügt]«525. Das Gegenteil ist der Fall; wie wir noch in diesem und im nächsten Kapitel sehen werden, zeigt die Reise ein Subjekt in der Krise, das sich selbst und sein literarisches Schaffen in fast schon masochistisch anmutender Manier permanent hinterfragt. Dabei soll gezeigt werden, dass Vespers »Rückbesinnung auf die erzählerische Subjektivität« überhaupt nichts Souveränes oder Befrei522 Bogdal, Klaus-Michael: »Verändern oder Sterben. Imperative der Revolte«. Der ›Deutsche Herbst‹ und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven. Hg. von Nicole Colin, Beatrice de Graaf et al. Bielefeld: transcript Verlag, 2008: p. 124 – 130. Hier: p. 126. 523 Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden! Hg. von Kommune 2 (versch. Autoren). Köln: Kiepenheuer & Witsch, 21973. Hier: p. 308. 524 Neumann: p. 98. 525 Ebd.: p. 99.

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endes hat, wie Neumann zu glauben scheint, und sie »setzt« schon gar nicht, wie er behauptet, »den Gestus des objektiven, dabei sozialaktivistischen Dokumentierens außer Kraft«526 – vielmehr werden wir sehen, dass Vesper seine literarische Tätigkeit in der Reise als notwendiges Übel behandelt und sich, wie bereits gezeigt, stets bemüht, seine Darstellungen zu objektivieren, sie dem Reich des »subjektivistische[n] Blödsinn[s]«527 zu entreißen, um gerade einen möglichst starken »sozialaktivistischen« Impetus zu entwickeln. Mit ›Tendenzwende‹ und neuer Subjektivität hat Die Reise nichts zu tun. Tatsächlich versucht Vesper, Kunst zu produzieren, die so ›unbürgerlich‹ und so politisch wie möglich ist, die eben genau den im Kursbuch und anderswo dargelegten Forderungen an aufrührerische 68er-Literatur entspricht: Das erreicht er durch die Einflechtung analytischer, dokumentarischer und agitatorischer Passagen und Essays (darunter zum Beispiel die erwähnten Bearbeitungen der eigenen Familiengeschichte oder die Untersuchung der Arbeitsverhältnisse beim Westermann-Verlag), durch Anspielungen auf damals aktuelle theoretische und kritische Diskurse (man denke an die oben dargestellten Bezüge zu Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft und die Verflechtung der Reise mit der zeitgenössischen Institutionskritik) und durch die Objektivierung seiner eigenen Erfahrungen in Familie, Schule, Betrieb und Universität. Hinzu kommt die penetrante Zurschaustellung eines Widerwillens gegen die Literatur und die Notwendigkeit der Selbstreflexion – gegen Neumanns »subjektiven Faktor« – in der von Vesper mangels einer besseren Alternative gewählten Gattung der Autobiographie528. Dass Vesper sich dabei der im Wortsinn ›literaturkritischen‹ Positionen seiner Gesinnungsgenossen bewusst ist, zeigt eine Passage im Ergänzungsteil zur Reise, in der er die Kritik von Autoren wie Peter Schneider an seinem allzu subjektivistischen Projekt vorwegnimmt: »in vielen kommunistischen gruppen ist man längst so weit, einzelne ›private‹ probleme zur diskussion zu stellen. warum sollte man nicht, so um die dreißig rum, öffentlich diskutieren, was man mit dem angebrochenen abend anfängt?«529 Aber schon der erste Satz der Reise kündigt an, dass hier auf einer Meta-Ebene über den Akt des Schreibens und Publizierens reflektiert wird: »Was ist ein Buch?«530 In der Folge werden literarisches Schreiben und Herausgebertätigkeit in programmatischer Weise entzaubert und als profitorientierte ökonomische Aktivitäten entlarvt:

526 Ebd.: p. 100. 527 DR: p. 632. 528 Die er konsequenterweise zum ›Romanessay‹ umformt und auch sonst verfremdet; vgl. die Ausführungen zur Autobiographie und Autofiktion in Fn. 3. 529 Ebd.: p. 631. 530 Ebd.: p. 13.

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Dies ist 1 Titel aus den 37 000 Titeln der Jahrestitelproduktion der Bundesrepublik und Westberlins; auf den Markt geworfen von einem der 2 494 Verlage, in der Hoffnung, mit dieser Ware, die auf den Regalen von 6 920 Buchhandlungen in 888 Orten feilgeboten wird, einen Anteil am 3-Milliarden-Umsatz zu ergattern, einen, wenn’s beliebt, großen Profit. Hier hört die Schöngeisterei auf, hier beginnt das große kapitalistische Catchas-catch-can aller gegen alle, hier zählt, wie bei Waschmitteln und Heringskonserven, nichts als die Zahl.531

Gegen den »Mythos des Literaten«532 schreibt Vesper im Verlauf der Reise immer wieder an, um schließlich wie das Kursbuch den Tod der Literatur zu verkünden, die nur von wahrer revolutionärer Aktivität ablenke: Sobald sich die Niederschrift vom Tagebuch entfernt, sobald die Arbeits(Lebens)Verhältnisse zu ihren Gunsten abgeändert werden, beginnt die Fahrt in den irrealen Raum […]. Irgendwann verwandelt sich der tätige, erfahrende, kämpfende, leidende Mensch in einen Dauerschriftsteller, je weiter er die Kunst treibt, um so mehr treibt er sie in sich hinein, da er nichts als die Reproduktion im Kopf hat, hat er bald nichts mehr im Kopf. […] Hier finden die Schattenkämpfe der Literatur statt, hier, anscheinend über den Klassen schwebend, dreht sich der bürgerliche Moloch im eigenen Saft. […] Was soll’s? Das Unbehagen des sich selbst isolierenden Schriftstellers schlägt um in die Arroganz der Elite […]. Je mehr wir schreiben, desto mehr entfernen wir uns, je mehr wir teilnehmen an den täglichen Kämpfen, um so weniger drängt es uns, zu schreiben.533

Kurzum: »man kann kein buch ›schreiben‹«534. Vespers Ziel in der Reise ist mithin nicht zuletzt die Inszenierung des »ende[s] des bürgerlichen literaten, den ich aus mir machen wollte«; um die Literatur »scher[t]« er sich »einen Dreck«: Sie ist ihm nichts als ein »sklaventrick«, den verschiedene Faktoren »nötig mach[en]«535 – primär das Fehlen eines geeigneteren Mediums und Vespers einseitiges Talent für den schriftlichen Ausdruck536. Die Reise ist demnach ›Antiliteratur‹ im Sinne der damals tragfähigen Idee, dass die Literatur ›tot‹ sei. Der Text erhält seine Legitimation in den Augen des von ebendieser Idee überzeugten intendierten Publikums allein aus dem Umstand, dass er, wie Peter Schneider im Kursbuch gefordert hatte, einen agitatorischen Impetus aufweist. 531 532 533 534 535 536

Ebd.; Hervorhebung nicht im Original. Ebd.: p. 494. Ebd.: p. 494 f. Ebd.: p. 26; Kapitälchen im Original. Ebd.: p. 633. Vgl. ebd.: p. 298: »Warum schreiben Sie: ›Weil ich es kann!‹ Weil ich nur das kann, weil ich weiß Gott im Augenblick keine andre Möglichkeit sehe, einige Probleme zu lösen und einige gelöste in den Orkus hinabzukippen. Aber das wird doch hoffentlich mal ein Ende haben. Nochmal und alle zusammen: Was geschrieben ist, ist abgetan. Wenn nichts mehr abgetan werden muss, wenn du’s fertigbringst, deinen Platz nicht nur zu sehn, sondern auszufüllen, dann hörst du auf, individuelle Scheiße zwischen zwei Pappdeckel zu spritzen!«

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Genau wie Schneider ortet Vesper nämlich die größte Schwäche der »heutige[n] Literatur« in der Tatsache, dass sie »keine Anleitung[] zum Handeln«537 biete und damit eben unnötig von der Revolution ablenke – folgerichtig bietet er in den analytischen Passagen der Reise jede Menge »Anleitungen zum Handeln« und verkündet dem Leser : »Wenn dich das Lesen nicht genauso anscheißt wie mich das Schreiben, gebe ich keinen Pfifferling für deine Zukunft!«538 Die zähmenden Fehlinterpretationen der Reise antizipiert Vesper gleich im Text; er sieht voraus, dass die »kapitalisten« seine Aufzeichnungen nicht als antiliterarische und antifiktionale Artikulation kollektiv empfundener Desillusionierung gelten lassen werden, dass sie vielmehr versuchen werden, sie als als Ergüsse eines gestörten Individuums – mithin als ganz besonders ›literarisch‹ und ›fiktional‹ – zu diffamieren und zu marginalisieren: ich habe dieses buch nicht geschrieben, um der konterrevolution zu zeigen, was für ein kaputter typ ich bin […]. vielleicht findet man, dass ich es ja noch ganz gut getroffen habe. richtig. aber das ist genau das argument der kapitalisten. sie meinen, die loslösung des einzelnen von der gemeinschaft müsse eben in kauf genommen werden, und leugnen, was ich gesagt habe, dass in der welt, die diese stinktiere beherrschen, alles glück nur schein von glück, alle befriedigung nur schein von befriedigung ist […].539

Diese von Vesper prophezeiten Fehllektüren wurden zwar nicht, wie er in seiner Paranoia befürchtete, von den »kapitalisten« orchestriert, manifestieren sich aber durchaus in der voreiligen und unfundierten Einordnung der Reise in die neue Subjektivität und im völlig ungenügenden Begriffsschatz (›Väterliteratur‹, ›Väterbücher‹), den die Germanistik bisher auf das Buch angewendet hat. Mit Vespers paradox anmutender Ablehnung der Literatur in einem literarischen Text – »[w]ozu diese ganze Papierverschwendung?«540 – geht nun eben, wie oben angemerkt, auch eine Ablehnung jeglichen »subjektivistische[n] Blödsinn[s]«541 einher, die allein schon der Klassifizierung der Reise als Text der neuen Subjektivität Hohn spricht. Die bereits erläuterten wichtigen Bausteine in Vespers Schreibstrategie – der agitatorisch-analytische Ansatz, der eigene Erfahrung zu objektivieren sucht, und der dazugehörige Widerwille gegen Literatur im tradierten Sinne – werden so durch einen weiteren ergänzt: die paradox anmutende Ablehnung des Subjekts im Prozess des Erzählens von sich selbst. Nach eigener Aussage hat Vesper ja sowieso »nichts besonderes«542 erlebt. Zusätzlich erfährt er auf dem Trip einen 537 538 539 540 541 542

Ebd.: p. 298. Ebd. Ebd.: p. 631 ff. Ebd.: p. 446. Ebd.: p. 632. Ebd.: p. 633.

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befreienden Selbstverlust, der ihm die Einsicht bringt, dass er allein auf der Basis seines individuellen Erlebens der Wirklichkeit ohnehin nicht gerecht werden kann: Auf der Straße stand ich. Ich klopfte an mein Schienbein, aufs Brustbein, an die Schläfe, noch spannten sich Haut, Sehnen, Muskeln darüber. Wo war ›ich‹? War ›ich‹ in diesem Körper? Und wo dort? Im Kopf liefen die paar Organe zusammen, die ich hatte: Nase, Ohren, Augen, Hirn. Wenig genug. Viel zu wenig, um auch nur das geringste wirklich zu begreifen.543

Und in einer späteren Vision: Du bist das lebendige Glied in der milliardenjahralten Schlange des Lebens. Die Aminosäuren, auf denen die Eiweißmoleküle deines Körpers aufbauen, sind älter als der Planet, auf dem du stehst. […] Den andren Menschen sehn, ihn anfassen, […] [w]ährend ihr fickt, verschmelzen die Zellen eurer Haut […].544

Das ›ich‹ ist unauffindbar, wird auch gar nicht benötigt, denn ersehnt werden – das verraten die geschilderten Drogentrips – Verschmelzung, Entgrenzung, Vereinigung, eben die Überwindung des ›ich‹. So entgleitet das ›ich‹ Vesper im Lauf der Reise immer mehr, was aber im Grunde gar keine Rolle spielt oder sogar ersehnt wird: ›Die Geschichte‹, ›meine Geschichte‹, die ich, mit den Kategorien meines Hirns, mir ›gemacht‹ habe, zur Deckung bringen mit dem, was ich wirklich bin. Aber das geschieht, wenn man schweigt, wenn man auf seinen ›Trip‹ geht, der das Leben lang dauert, wenn man ablässt von den Versuchen, zu interpretieren […], wenn die Handlungen anfangen, sich selber zu erklären. Das ist das Ende des Berichts. Das ist die Aufhebung des Abstands.545

Diese fast schon masochistisch anmutende Selbstauflösung des Erzählers stellt die Reise in einen diametralen Gegensatz zur Literatur der neuen Subjektivität. Indem Vesper in einer kritischen »Aufhebung des Abstands« die Autobiographie als bürgerliches Konstrukt – als »mit den Kategorien meines Hirns […] ›gemacht[e]‹« Geschichte – kenntlich macht, setzt er die zeitgenössische Ablehnung von Dichtkunst und Fiktion literarisch um (eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit) und erhöht wiederum den Repräsentativitätsgrad des Werks. Denn je schärfer Vesper gegen sich selbst Position bezieht, je deutlicher er betont, dass die Reise »gar nicht meine eigene Geschichte [ist]«546, desto größer wird das Identifikationspotenzial des Textes (und desto linientreuer und zeitgeistkonformer wirkt seine Adaption des Diktums vom ›Tod der Literatur‹) – 543 544 545 546

Ebd.: p. 172. Ebd.: p. 502. Ebd.: p. 283. Ebd.: p. 18.

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oder, wie oben formuliert, desto klarer wird die Aufforderung an den Leser, seine eigene Erfahrung in Vespers »Einsteinsche Formel« einzusetzen. Hier versucht letzten Endes ein Einzelner, »die Geschichte seiner Generation […] anhand der eigenen Biographie exemplarisch zu ›bewältigen‹«547, also ein Werk zu schaffen, dessen Signifikanz und Identifikationspotenzial weit über die Sphäre des individuellen Erlebens hinausreichen. Auf die »erzählerische Subjektivität«548 besinnt sich Vesper dabei nur, weil es halt nicht anders geht, und immer mit dem Anliegen einer Entwertung, Hinterfragung und »Aufhebung«549 dieser Subjektivität: ganz im Dienst des »sozialaktivistischen Dokumentierens«, das Neumann unverständlicherweise in der Reise »außer Kraft«550 gesetzt sehen will. Nach den obigen Ausführungen muss nicht nur die Begrifflichkeit, mit der man die Reise gemeinhin zu fassen suchte, sondern auch die literarhistorische Situierung des Texts im Umfeld der neuen Subjektivität gründlich überdacht werden. Für den Moment bildet diese Erkenntnis einen weiteren Teil unserer umfassenden Relektüre der Reise; die bisherigen Einsichten werden in der Folge zusammengefügt und ermöglichen – dies die Hoffnung des Verfassers – eine neue Perspektive auf die Reise, die dem Text eher gerecht wird als die bisherigen Lesarten. Des weiteren soll im zweiten Teil der Arbeit die hier geäusserte Kritik an der literaturgeschichtlichen Klassifikation der Reise auch beispielhaft für die anderen Texte aus dem Korpus der ›Väterliteratur‹ fruchtbar gemacht werden. Zwar treten die Widersprüche keineswegs immer so deutlich zu Tage wie in der Reise (wegen dieser Prägnanz bietet sie sich ja auch als exemplarisches Beispiel für unsere kritischen Ausführungen an), und zumindest in Bezug auf Peter Härtlings Nachgetragene Liebe könnte die Einordnung in die neue Subjektivität sogar sinnvoll sein. Das zeigt aber nur, dass unsere Erkenntnis über die Heterogenität der ›Väterbücher‹ auch näheren Analysen standhält (Die Reise hat offenbar kaum etwas mit Nachgetragene Liebe gemeinsam, und doch werden beide Texte demselben Genre zugerechnet) – und grundsätzlich gelten die in diesem Unterkapitel gemachten kritischen Aussagen auch für die anderen ›Väterbücher‹. Zunächst aber folgt in diesem ersten Teil der vorliegenden Studie eine Problematisierung des Begriffs des ›Generationenkonflikts‹, bevor schließlich ein Blick auf die Rezeptionstradition der Reise weitere fundamentale Missverständnisse aufklären soll.

547 548 549 550

Koenen: p. 301. Neumann: p. 100. DR: p. 283. Neumann: p. 100.

Die Reise – Literarisierung eines ›Generationenkonflikts‹?

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3.2. Die Reise – Literarisierung eines ›Generationenkonflikts‹? Man ist nach den bisherigen Ausführungen vielleicht versucht, den unangemessenen Begriff der ›Väterliteratur‹ durch denjenigen des ›Generationenkonflikts‹ zu ersetzen – warum mit dem Konzept der ›Vertrauenskrise‹ einen neuen Terminus einführen, wenn ›Generationenkonflikt‹ die von Vesper geschilderten Probleme vermeintlich in der nötigen Allgemeinheit abdeckt? Wenn man sich allerdings wiederum Vesper als Beispiel nimmt und sich seine Biographie vergegenwärtigt – auch diejenigen Aspekte, die er in der Reise ausklammert –, und wenn man zudem den Werdegang und die Verlautbarungen anderer Protagonistinnen und Protagonisten der 68er-Bewegung in Betracht zieht, so wird schnell deutlich, dass die Vorstellung eines ›Generationenkonflikts‹ nicht nur keinen Erkenntnisgewinn bringt, sondern in vieler Hinsicht vollkommen falsche Eindrücke entstehen lässt551. Das in der ›Väterliteratur‹ begegnende Verhältnis zwischen den Generationen ist, wie sich an Vesper exemplarisch zeigen lässt, nicht einfach nur als ›Konflikt‹ fassbar. Wir verweisen an dieser Stelle auf die auffällige Heterogenität zwischen den verschiedenen Texten in unserem Korpus, in denen die Beziehung zwischen den Generationen bald von scharfer Ablehnung, bald von empathisch-melancholischem Verständnis gezeichnet ist, in jedem Fall aber zwischen Nähe und Distanz oszilliert und nicht als simpler ›Konflikt‹ beschreibbar ist. Diese Vereinfachung soll also in diesem Unterkapitel einer kritischen Analyse unterzogen werden. Vesper selber beschwört den »Generationskonflikt, [der] uns zeichnet«552 und simplifiziert damit die Lage in derselben Manier wie beispielsweise Wolfgang Frühwald, der sich in Teilen ebenfalls unter diesem Schlagwort der Reise und ihrer Epoche nähert553. Auch Claudia Mauelshagen bedient sich des problematischen Begriffs554. Zunächst ist festzuhalten, dass Vesper eine der wenigen prominenten Figuren um 1968 ist, die wirklich einen einschneidenden ›Generationenkonflikt‹ im Elternhaus durchlitt (wobei diese Feststellung im Zuge dieser Arbeit noch relativiert wird). Es genügt ein Blick auf die Lebensläufe der wichtigsten Mitglieder der ersten Generation der RAF, um die Vorstellung zu zerstreuen, dass ein persönlich erlebter ›Generationenkonflikt‹ für die Wirren 551 Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der Begriff ›Generationenkonflikt‹ jegliche Spezifität vermissen lässt. Wie Brandstädter richtig schreibt: »Der motivgeschichtliche Abriss eines nicht näher spezifizierten Generationenkonflikts würde von Hesiods ›Theogonie‹ bis zur Gegenwart einen Zeitraum von mehr als zweieinhalb Jahrtausenden und an die hundert namhafte Größen der Literaturgeschichte umfassen. […] Ein sinnfälligeres Indiz für eine dringlich anstehende Operationalisierung des Begriffs Väterliteratur ist kaum denkbar« (Brandstädter : p. 14 f., Anm. 14). 552 DR: p. 301. 553 Frühwald: p. 110. 554 Mauelshagen: p. 34 ff.

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der Sechziger- und Siebzigerjahre verantwortlich war, denn »many terrorists, often women like Ensslin and Ulrike Meinhof, came from liberal and progressive backgrounds«555 : Gudrun Ensslin wuchs in einem linksliberal orientierten Pfarrhaus auf; ihr Vater war »Kriegsgegner und Antifaschist« gewesen und »man [las] in den fünfziger Jahren das linke Kirchenblatt ›Stimme der Gemeinde‹, herausgegeben von Martin Niemöller, in dem zum Ausgleich mit Moskau aufgerufen, Adenauers Westpolitik angegriffen und gegen die Wiederbewaffnung polemisiert wurde«556. Ulrike Meinhofs Mutter war nach dem Tod ihres Mannes eine lesbische Liebesbeziehung mit Renate Riemeck eingegangen; die Frauen traten 1945 der SPD bei und zogen bis zum Tod von Ulrike Meinhofs Mutter im Jahr 1949 das Mädchen gemeinsam auf – ebenfalls nicht gerade eine Umgebung, die auf schwelende ›Generationenkonflikte‹ schließen lässt, zumal für Ulrike Meinhof mit der geliebten Mutter »die ganze Welt gestorben«557 sein soll. Andreas Baader entstammt auffälligerweise ebenfalls einem vaterlosen Haushalt, in dem er »hoffnungslos verwöhnt[]«558 wurde. Der ›Generationenkonflikt‹, der uns bei Bernward Vesper entgegenzutreten scheint, ist also offenbar nicht ganz so konstitutiv für seine Generationsgenossen wie für ihn selber, nicht einmal für die prominentesten und ›revolutionärsten‹ unter ihnen. In der Tat »trafen«, wie Gerd Koenen bemerkt, »viele Themen und Motive des Protestes, sosehr er dem Muster eines Generationenkonfliktes folgte […], bei vielen Älteren auf ganz eigene Resonanz«: Kritik am Bombenkrieg der USA, an der sich verschärfenden Teilung zwischen Ost und West, an der kapitalistischen Konsumgesellschaft, an wachsender sozialer Ungleichheit, an Entfremdung und Sinnverlust, an überkommenen Rechtsnormen und verlogenen Moralpostulaten etc. – das alles ließ sich mit den Erfahrungen und Verarbeitungen des Weltkrieges, aber auch mit vielen Impulsen und Prägungen aus der Jugendbewegung der zwanziger Jahre oder selbst der NS-Bewegung vielfach verknüpfen. Im Übrigen gab es in der Kriegsgeneration ein ganz eigenes, aufgestautes Potenzial ungelebter Wünsche, die in diesem Klima der Gärung und des Umbruchs nach oben trieben.559

Der beste Beweis für diese These ist die Reaktion von Gudrun Ensslins Eltern auf den Strafprozess gegen ihre Tochter, nachdem diese gemeinsam mit Andreas Baader, Thorwald Proll und Horst Söhnlein im Frühjahr 1968 Brandanschläge auf zwei Frankfurter Kaufhäuser verübt hatte: Der Pfarrer Helmut Ensslin deutet die Tat seiner Tochter als »ganz heilige[] Selbstverwirklichung« eines jungen 555 Plowman: p. 508. 556 Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. Erweiterte Neuausgabe. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008. Hier : p. 54 f. 557 Vgl. ebd.: p. 44. 558 Ebd.: p. 30. 559 Koenen: p. 184.

Die Reise – Literarisierung eines ›Generationenkonflikts‹?

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Menschen, der »nicht gewillt [ist], diese Frustration dauernd zu schlucken und dadurch korrumpiert zu werden«560. Seine Gattin, Ilse Ensslin, meint zu spüre[n], dass sie mit ihrer Tat auch etwas Freies bewirkt hat […][;] [p]lötzlich, seit ich sie vor zwei Tagen in der Haft gesehen habe, bin ich selbst befreit von einer Enge und auch Angst […]. Dass es Menschen gibt, die weitergetrieben werden, aus der Konvention heraus, zu Taten, die ich nicht übersehen kann, vielleicht aber in zehn Jahren als berechtigt anerkennen muss[,] [d]as wäre mir vor einem Jahr oder vielleicht noch vor einer Woche unmöglich gewesen zu sagen. Aber sie hat mir eine Angst genommen, und sie hat mir den Glauben an sie nicht genommen.561

Wenn sich Eltern über einen terroristischen Akt ihrer Tochter derart äußern, geht die Diagnose eines ›Generationenkonflikts‹ fehl. Vielmehr muss man wie Koenen davon ausgehen, dass die in dieser Arbeit beschriebene ›Vertrauenskrise‹ das Potenzial hatte, ihre Wirkung nicht nur bei der jüngeren Generation zu entfalten, sondern auch bei der »Kriegsgeneration« schlummernde Zweifel, Ängste, Bedürfnisse und »ungelebte[] Wünsche«562 zu wecken. Diese oft übersehene verblüffende Nähe zwischen den Generationen, die sich hier als Einigkeit zwischen den Eltern und der aufrührerischen Tochter manifestiert, tritt aber umgekehrt auch als peinliche Partizipation des Kindes an der Ideologie der Eltern in Erscheinung. Wenn nämlich Bernward Vesper selber in der Reise bemüht ist, einen ›Generationenkonflikt‹ zu inszenieren, mit unmissverständlich verteilten Rollen und klar trennbaren ›Konfliktparteien‹, so vertuscht er damit bis zu einem gewissen Grad seine eigene Nähe zur Ideologie und den Werten der ihm angeblich so verhassten Eltern. Dass er als indoktrinierter Knabe die rechtsnationale Ideologie der Eltern teilte, in den Fünfzigerjahren Leserbriefe zur Verteidigung seines Vaters schrieb und für die Deutsche Reichspartei Wahlwerbung machte563, gibt Vesper freimütig zu564. Den Zeitpunkt seiner politischen Bewusstwerdung und der Ablösung von der väterlichen Ideologie setzt er in die Fünfzigerjahre, in den historischen Kontext der Gründung der Bundeswehr – die in den rechtsextremen Kreisen um die Vespers von Beginn an als »Armee von Amerikas Gnaden«565 verachtet wird. »[I]n dieser Zeit« bereist Bernward Vesper »per Anhalter einige deutsche Städte« und besucht dort »Freunde« des Vaters, die »dachten und redeten wie mein Vater«566. 560 561 562 563 564

Zit. nach Aust: p. 114. Ebd.: p. 115. Koenen: p. 184. DR: p. 472 f. Wobei in der Reise unerwähnt bleibt, dass Vesper als Jugendlicher in den Fünfzigerjahren unter dem nom de plume ›Bernward Michaelsen‹ rechtsradikale Texte verfasst hatte (vgl. Koenen: p. 74 f.). 565 DR: p. 488. 566 Ebd.

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Zeit- und Institutionskritik in Die Reise

Einen der surrealsten dieser Besuche beschreibt Vesper ausführlich, denn er bildet im Plot der Reise den Anstoß für die politisch-intellektuelle Emanzipation vom Vater. Empfangen wird er in einer düsteren Villa von »eine[r] kleine[n] Frau in einem Sari«: ›Was höre ich‹, sagte sie, ›Sie sind ein Sohn von Will Vesper? Heil Hitler!‹ […] Ich erschrak. Ich fühlte, wie etwas Totes, Grässliches nach mir griff, an mir zerrte. Ich sagte: ›Das bin ich nicht.‹ […] Nein. Ich bewegte mich nicht. Aber ohne dass ich darüber nachgedacht hatte, hörte ich in mir ein Nein, das sich ausbreitete, das mich ausfüllte, das dablieb, während ich mir einen Stuhl suchte und mich setzte, während der Film über den Reichsparteitag zu laufen begann […]. […] Einmal muss Schluss sein, einmal müssen wir uns versöhnen. Lasst die Gespenster in der Luft, die gespensterhaften Alten auf der Erde ihre Kriege führen. Was geht uns ihr Streit an? Sie haben ihr Leben lang genug Schaden angerichtet.567

Bei der Gestaltung dieses Erweckungserlebnisses verschweigt Vesper allerdings, dass er noch bis weit in die Sechzigerjahre zwecks einer geplanten Gesamtausgabe der Werke Will Vespers mit dubiosen Verlegern korrespondierte und durchaus die Blut-und-Boden-Poesie des Vaters noch verteidigte568 – ein Unterfangen, mit dem er bei seinem Freund Henner Voss auf Unverständnis stieß569 und bei dem Gudrun Ensslin, mit der er seit 1962 liiert war, tatkräftig und scheinbar unkritisch mitwirkte. In Vespers Nachlass findet sich denn auch ein »ganze[r] Untergrund deutschnationaler Texte und Korrespondenzen, die über den Rahmen einer Jugend in Deutschland in den Fünfzigern weit hinausg[ehen] und mit dem Tod des Vaters 1962 keineswegs abbr[e]chen«570. So kam es beispielsweise zur grotesken und in der Reise wohlweislich ausgesparten Situation, 567 Ebd.: p. 489 ff.; Hervorhebungen im Original. 568 Hier muss man gerechterweise anmerken, dass diese Aussparung in der Reise auch mit der fragmentarischen Natur des Textes zusammenhängen könnte. Vgl. zu Bernward Vespers »Janusköpfigkeit« auch Kapellen: p. 10 f. Eine Anekdote, die bei Kapellen verzeichnet ist, belegt, dass Vesper tatsächlich noch in den Sechzigerjahren eine apologetische Haltung zu den Werken seines Vaters an den Tag legte. Vesper habe als Student ein Gespräch mit Walter Jens gesucht, »um von ihm eine Bewertung seines Vaters zu erfahren. [Jens] habe ihm gesagt, Will Vespers Art des Schreibens sei nicht mehr zeitgemäß. Bernward Vesper habe ihm gegenüber seinen Vater als jemanden geschildert, der ihm sehr viel geholfen habe; immer wieder habe er die liebenswürdigen Seiten des Vaters hervorgekehrt. […] Jens hatte das Gefühl, Vesper habe sich von ihm die Ausstellung eines Qualitätsausweises für seinen Vater erhofft. Vesper habe an den Vater geglaubt, er habe ihn ›retten‹ wollen, und habe alles versucht, um den Bruch mit dem Vater nicht vollziehen zu müssen« (Ebd.: p. 27 f.). 569 »›[Es] wird dich perplex machen«, sagt Vesper zu seinem Freund, »dass Gudrun und ich die Werkausgabe der Schriften meines Vaters edieren. Der erste Band ist längst erschienen.‹ ›Das ist nicht wahr.‹ ›Mein Vater hat mich das versprechen lassen, es war ein Gelöbnis.‹ ›Dein Vater missbraucht dich noch post mortem.‹ ›Das verstehst du nicht.‹« (Voss, Henner : Vor der Reise. Erinnerungen an Bernward Vesper. Hamburg: Edition Nautilus, 2005. Hier: p. 69 f.; Hervorhebung im Original). 570 Koenen: p. 25.

Die Reise – Literarisierung eines ›Generationenkonflikts‹?

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dass Vesper und Ensslin um 1963 einerseits mit linken und liberalen Intellektuellen in Kontakt traten, um auf der Basis ihrer Beiträge eine Anthologie gegen die atomare Aufrüstung mit dem Titel Gegen den Tod zu edieren, andererseits aber »Belegstücke der Will-Vesper-Novellen verschickt[en]«571. Zudem schalteten sie Anzeigen zur Will-Vesper-Gesamtausgabe, und zwar in »deutschnationalen Gesinnungsblättern«572, beispielsweise in der Münchner National- und Soldatenzeitung, im Deutschen Studenten-Anzeiger und in der Deutschen Wochen-Zeitung. Bernward Vespers hasserfüllte Abwendung von der Ideologie der Eltern verlief also nicht ganz so glatt wie es Die Reise suggeriert. Sein DamaskusErlebnis bei den Freunden des Vaters – das plötzliche »Nein« des bis dato linientreuen Nachwuchsnazis – mag sich sogar so abgespielt haben, aber seinen Versuch einer Ehrenrettung des Vaters nach dessen Tod behält Vesper für sich, wohl wissend, dass sein intendiertes Publikum ihn wie Henner Voss weder verstehen noch goutieren würde. Dass Gudrun Ensslin bereitwillig an einem derart dubiosen Projekt mitarbeitete, zeigt auch, dass wir es hier nicht mit einer spezifisch Vesperschen Vaterneurose zu tun haben. Offenbar hatte die Generation Vespers noch in den frühen Sechzigerjahren Mühe, sich voll und ganz von der Elterngeneration zu distanzieren; der ›Generationenkonflikt‹, den man gerne mit einem Verweis auf bekannte Figuren der Protestbewegung wie Vesper und Ensslin belegt, entpuppt sich vor diesem Hintergrund einmal mehr als Chimäre, als pathetische Inszenierung gerade in Texten wie der Reise, die nicht zuletzt darüber hinwegtäuschen soll, dass lange Zeit eine komplexe Nähe zwischen den angeblich scharf trennbaren Generationen bestand. Die Rede vom ›Generationenkonflikt‹ ist mithin in Bezug auf die Umwälzungen von 1968 in vieler Hinsicht verfälschend und simplifizierend, und es wäre wiederum angezeigt, einfach von einer ›Vertrauenskrise‹ zu sprechen. Die Einsicht in die Komplizität des Vaters führt bei Bernward Vesper ja nicht direkt zu einem ›Konflikt‹; es kommt zunächst zur instinktiven Abwehr jeden Verdachts, zu Verdrängung und Identifikation (was sich zum Beispiel in der jugendlichen Agitation für die Deutsche Reichspartei manifestiert), und später, als er »herausbek[ommt], was diese idealisten [so nennt Will Vesper die Faschisten und Nationalsozialisten, Anm. v. J. R.] so alles angestellt hatten«573, zu einem Vertrauensverlust – und wenn der eigene Vater nicht mehr glaubwürdig ist, gefährdet dies das »Gefühl[] historischer und individueller Kontinuität«574. Das abstruse Editionsprojekt, das Bernward Vesper und Gudrun Ensslin gemeinsam 571 572 573 574

Ebd.: p. 29. Ebd.: p. 31. DR: p. 667. Frühwald: p. 111.

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unternahmen, lässt sich wohl als verzweifelter Versuch verstehen, ein »Gefühl« solcher »Kontinuität« wiederherzustellen, auf irgendeine Art und Weise des schweren elterlichen Erbes Herr zu werden. Es ist klar, dass dieses weltfremde Vorhaben nicht gelingen konnte, und so brach sich endgültig eine »Identitätskrise« Bahn, »die sich durch Geschichtsverlust und Traditionsbruch, durch Leitbildzerstörung und Autoritätsverlagerung belegen lässt«575 – eben eine ›Vertrauenskrise‹, ein komplexeres und ambivalenteres Phänomen als ein simpler ›Generationenkonflikt‹. Die soeben festgestellte Nähe Vespers zum Gedankengut des Vaters ist bedenklich und darf nicht verschwiegen werden. Sie zeigt, dass der Gedanke des ›Generationenkonflikts‹ unzureichend und ein neues Konzept wie das der ›Vertrauenskrise‹ angebracht ist. Wiederum gilt, dass Vesper in dieser Hinsicht eine beispielhafte Figur ist und sich das Wechselspiel von konfliktbehafteter Distanz und (teils problematischer) Nähe zwischen den Generationen nicht bei allen hier diskutierten Autorinnen und Autoren in ähnlicher Prägnanz beobachten lässt. Unsere Einzelanalysen im zweiten Teil der Arbeit werden aber zeigen, dass auch in Bezug auf die anderen ›Väterbücher‹ der Begriff des ›Generationenkonflikts‹ eine ungebührliche Vereinfachung darstellt. An dieser Stelle muss man noch eine weitere Differenzierung vornehmen. Einige Interpreten haben die nur teilweise versteckte Kontinuität des väterlichen Gedankenguts in der Reise und in Bernward Vespers editorischen Bemühungen zum Anlass genommen, Vesper als »verkappten Faschisten«576 zu ›entlarven‹. Solche Lesarten der Reise – besonders bei Frederick Alfred Lubich, in geringerem Maße bei Gerd Koenen, Michael Schneider und Ralf Zschachlitz – sind polemisch und werden dem Text nicht gerecht. Sie sind Habermas’ Diktum von der Gefahr eines »linken Faschismus«577 verpflichtet, das sie aus dem Kontext reißen, und sie bedienen dieselben Rezeptionsbedürfnisse wie Jillian Beckers Erfolgsbuch Hitler’s Children, welches die RAF in die Kontinuität des deutschen Faschismus zu stellen suchte und einen »link between fascism and urban terrorism«578 suggerierte. Bevor wir also unsere Erkenntnisse über Die Reise abschließend und zusammenfassend formulieren können, müssen wir dieser Rezeptionstradition der Reise kritisch entgegentreten.

575 Ebd. 576 Lubich, Frederick Alfred: »Bernward Vespers Die Reise. Von der Hitler-Jugend zur RAF. Identitätssuche unter dem Fluch des Faschismus«. In: German Studies Review 10.1 (1987): p. 69 – 94. Hier : p. 71. 577 Habermas: p. 148. 578 Plowman: p. 508.

4. »Von der Hitler-Jugend zur RAF«579 ? ›Vertrauenskrise‹ und Extremismus

Hitler’s Children, Jillian Beckers 1977 erschienene und sehr erfolgreiche »story of the Baader-Meinhof gang«, fällt ein harsches Urteil über die Mitglieder der RAF, aber im Grunde auch über die ganze Protestbewegung von 1968: They had no political or moral cause to fight for. They were acting out perilous dreams at the cost of any number of other people. Baader, the gigolo and petty crook, Gudrun, the porn-actress, saw themselves as passion-driven heroes who had every right to use brute force; […] as the Nazis had fervently believed of themselves. Of such stuff tyrants are made, but not the resisters of tyranny.580

Und weiter : »what [Schleyer’s] murderers did was to practise Nazism«581. Aber Beckers Buch hält nicht, was der Titel verspricht. Zu keinem Zeitpunkt wird die These von der Kontinuität des Nationalsozialismus in der Studentenbewegung und der RAF belegt. Trotzdem oder gerade deswegen fand Beckers polemische Vulgarisierung von Habermas’ in einem ganz anderen Zusammenhang geäußerter Furcht vor einem »linken Faschismus«582 ihre Leser. Einen solchen jedenfalls versucht Lubich in Beckerscher Manier bei Bernward Vesper nachzuweisen, obwohl er zugibt, dass in Beckers Buch »[e]ine Herausarbeitung von möglichen Zusammenhängen zwischen Faschismus und Terrorismus […] nicht statt[findet]«583. Damit begründet er eine reduktive Lesart der Reise als »case study of the relationship between fascism and urban terrorism«584, die wir später 579 Lubich: p. 69. 580 Becker, Jillian: Hitler’s Children. The Story of the Baader-Meinhof-Gang. Frogmore, St. Albans, Herts: Granada, 1978. Hier: p. 353. Der mehr oder weniger explizite Versuch, der RAF oder der Studentenbewegung in toto faschistoides Gedankengut nachzuweisen, hält sich in konservativen Kreisen bis heute – man denke nur an den suggestiv-polemischen Titel von Götz Alys 2008 erschienener Monographie über die Ereignisse um 1968: Unser Kampf. 581 Ebd.: p. 357. 582 Habermas: p. 148. 583 Lubich: p. 77, Anm. 13. 584 Plowman: p. 508.

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in abgeschwächter Form auch bei Koenen, Schneider und Zschachlitz finden: Auf der Basis einer dekonstruktivistischen Lektüre der Reise, in deren Verlauf bei Vesper ›faschistisches‹ oder faschistisch anmutendes Gedankengut festgestellt wird, zieht Lubich Schlüsse, die hyperbolischer und polemischer nicht sein könnten585. Dabei lässt sich der Verlauf seiner Argumentation zunächst gut nachvollziehen: Lubich sucht und findet Parallelen zwischen Bernward Vespers Erfahrungen, Meinungen, Charakterzügen und Ausdrucksweisen und den »massenpsychologische[n] Phänomen[en] in der deutschen Geschichte«586, die dem Faschismus den Weg bereiteten. Zuvörderst, so Lubich, sei unter den »Gefühle [n]«, die Kriegs- und Protestgeneration angeblich »gemeinsam[]«587 verspüren, das der »Entbehrung«, der »Erniedrigung«588 zu nennen. Vespers Überzeugung, wonach seine Generation um ihre »Träume, um Liebe, Geist, Heiterkeit« und vieles andere »betrogen«589 worden sei, parallelisiert Lubich in nicht besonders überzeugender Weise mit den Erniedrigungsgefühlen der Vätergeneration angesichts der Niederlage im Ersten Weltkrieg: So wie das Gefühl der Schmach über einen verlorenen Krieg und das ›Schanddiktat von Versailles‹ […] Vespers Vatergeneration dem Faschismus entgegentrieb, so werden nun auch Teile der nächsten Generation in ihrer Entrüstung über die Schandtaten der Väter und in ihrer Auflehnung gegen eine als schmachvoll empfundene Erziehung erneut anfällig für den politischen Terrorismus.590

Dass zwischen dem verletzten Nationalstolz der »Vatergeneration« und der berechtigten moralischen Empörung der »nächsten Generation« über einen weitgehend verdrängten Genozid und die »alten Nazis in den neuen Ämtern«591 ein qualitativer Unterschied besteht, sollte man eigentlich nicht eigens erwähnen müssen. Dagegen ist Lubich zweifellos beizupflichten, wenn er den »Angst-HassKomplex«592 als Merkmal sowohl des Nationalsozialismus als auch von Vespers Denken und Schreiben ausmacht. Schon Joachim Fest identifizierte kollektiv empfundene Ängste, die in Hassgefühle übergehen, als konstitutives Merkmal 585 Erst Mathias Brandstädter hat dankenswerterweise erkannt, dass es sich bei den Entlarvungsversuchen von Lubich et al. um gründlich »ausgetretene Analysepfad[e]« handelt, eine berechtigte Kritik, die in diesem Unterkapitel näher ausgeführt werden soll (Brandstädter: p. 170). 586 Lubich: p. 78. 587 Ebd. 588 Ebd. 589 DR: p. 55. 590 Lubich: p. 78. 591 DR: p. 583. 592 Lubich: p. 78.

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des Faschismus593, und ebensolche Ängste (und Hassgefühle) gaben Will und Rose Vesper an ihren Sohn weiter594 : In Vespers Aufzeichnungen ist die Rede von der »angst«, welche die Eltern »erzeugen«595, von der »allgemeine[n] angst, die die Erziehung erst verbreitet hatte«596, von »existenzielle[r] angst«597, »todesangst«598, »GOTT-angst«599, und diese Ängste münden bekanntlich auch bei Vesper in Hass600. Ebenso unbestreitbar ist die Tatsache, dass aus Bernward Vespers »Angst-Hass-Komplex« menschenverachtende Feindbilder erwachsen, die denen des Vaters ähneln. Während der Vater hetzerische antisemitische Tiraden von sich gibt (die in der Reise gleichsam protokolliert werden), entmenschlicht Bernward Vesper den verachteten deutschen Kleinbürger zum »Vegetable«: »Ich seh’ sie kaum, ich spreche nicht mit ihnen, und dennoch sind sie überall präsent. Ihre Straßen, Häuser, die Missbildung der Fenster, der Türen, der Gärten, alles verrät sie […]«601. Den Kapitalismus stilisiert er zu einer ähnlich diffusen und ungreifbaren Bedrohung wie der Vater die ›jüdische Weltverschwörung‹: Mit Gewalt werden Hunderttausende in Gefängnissen, Zuchthäusern, Jugend- und Kinderheimen kaputtgemacht, auch Diebstahl, individuelle Verletzung ›des Rechts‹ auf Privateigentum, ist ein politisches Delikt. Gewalt, aus der Arbeitswelt abgeleitete Aggression, fordert allein in Deutschland hundert Todesopfer im Jahr unter Kindern, die von ihren Eltern geprügelt werden; gesellschaftliche Aggressionen […] sind die Ursache für weit über zehntausend Verkehrstote; Verzweiflung und Chancenlosigkeit treiben Tausende in den Freitod, weil der Tod das einzige ist, was ihnen wirklich ›frei‹steht; die Skrupellosigkeit des Gewinnstrebens des Kapitals zeitigt Hunderte, wenn nicht Tausende von Toten und Krüppeln […].602

Kurzum, Kapitalisten sind »Mörder«, und »[e]very capitalist« ist »WANTED!«603 : »Jude und Kapitalist, das sind die Sündenböcke, durch die Vater wie Sohn ihre paranoiden Angst-Hass-Gefühle zu exorzieren versuchen«604. Sogar 593 Vgl. die »Zwischenbetrachtung« über die »große Angst« in Fest, Joachim: Hitler. Hamburg: SPIEGEL-Verlag, 2006. Hier: p. 153 ff. 594 Und hatten sie ihrerseits wahrscheinlich bereits von den eigenen Eltern vermittelt bekommen – der Angst-Hass-Komplex und die ›schwarze Pädagogik‹ sind ja bekanntlich älter als die Generation der 68er und ihre Elterngeneration (siehe auch Michael Hanekes Film Das weiße Band, 2009). 595 DR: p. 637. 596 Ebd.: p. 638. 597 Ebd.: p. 640. 598 Ebd.: p. 678. 599 Ebd.: p. 696. 600 Vgl. ebd. p. 18. Vgl. auch Vespers Notiz »1968 Aufbruch in den Hass«, ebd. p. 688. 601 Ebd.: p. 69. 602 Ebd.: p. 249 f.; Hervorhebung im Original. 603 Ebd.: p. 296; Hervorhebung im Original. 604 Lubich: p. 82.

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Bernward Vespers »Vaterhass[]« sieht Lubich als Beleg für dessen ›Linksfaschismus‹, denn gerade das Moment des Vaterhasses habe »in der sozialpsychologischen Genese des Faschismus eine entscheidende Rolle«605 gespielt. Das lässt sich zwar nicht abstreiten, aber Lubich bringt diesen Befund wiederum mit einiger Übertreibung vor : »Während sich einst der radikale Vaterhass in SSVerbänden organisierte, beginnt er sich nun in paramilitärischen Terror-Kommandos zu formieren«606. Die gewichtigsten Argumente für eine Verurteilung Bernward Vespers als Krypto-Nazi fänden sich aber in den hochproblematischen und von Lubich seltsamerweise nur unzureichend analysierten Passagen über Vespers Erlebnisse mit Burton, einem jüdischen »Sonntagsmaler« aus New York, »der sein Geld in einer Werbeagentur machte«607. Vesper nimmt Burton in Jugoslawien als Anhalter mit, reist mit ihm bis nach München und geht dort, im Hofgarten, mit ihm auf den Trip. Der Jude Burton wird, was nicht nur Lubich bemerkte608, zum »Herausforderer und Entlarver von Vespers politisch-nationalen Verdrängungskomplexen«609. Burton fördert mithin bei Vesper einige unappetitliche Residuen der väterlichen Indoktrination – einen veritablen »judenknacks«610 – zutage. Auf Vespers mit einiger Penetranz vorgebrachte larmoyante Selbstkritik reagiert Burton eher zurückhaltend – die ›Vertrauenskrise‹, die alle Lebensbereiche erfasst und die Vesper und seine Generationsgenossen in die Verzweiflung treibt, ist dem Amerikaner611 in dieser Schärfe unverständlich:

605 Ebd.: p. 84. Vgl. die autobiographischen Aufzeichnungen von Rudolf Höss, in denen es heisst: »Ich kann mich nicht entsinnen, dass [der] Verlust [meines Vaters] mir besonders nahe ging« (Höss, Rudolf: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höss. München: dtv, 222009. Hier : p. 39. Zu Hitlers eigenem Vaterhass vgl. z. B. Fest: p. 52 f. 606 Lubich: p. 85. 607 DR: p. 16. 608 Vgl. Koenen: p. 15 ff., Zschachlitz: p. 112 ff. 609 Lubich: p. 76. 610 DR: p. 685. 611 In der Tat könnte Vespers Abneigung gegen Burton auch damit zusammenhängen, dass diesem gewisse Ausbruchsmöglichkeiten aus der ›Vertrauenskrise‹ offenstehen, nach denen sich ein junger Deutscher anno 1968 vergeblich sehnt. Der Protest der jungen Amerikaner scheint zwar auf den ersten Blick dringlicher und ernsthafter als derjenige der deutschen ›Genossen‹ – immerhin kämpfen Erstere nicht nur gegen überlebte Werte und verkrustete Strukturen, sondern auch und vor allem gegen einen sinnlosen Krieg und einen Staat, der sie zur Teilnahme an ebendiesem Krieg verpflichten will. Jedoch sehen sich die Amerikaner im Gegensatz zu Vesper und seinen Generationsgenossen nicht mit dem übermächtigen Erbe des Nationalsozialismus konfrontiert, das alle Lebensbereiche und sogar die Sprache verseucht und jede Autorität, jedes Vertrauensverhältnis zwischen alt und jung untergräbt. Vesper scheint sich dieser Problematik zumindest ansatzweise bewusst zu sein, wenn er Burton halb neidisch, halb bewundernd zugesteht: »›Vielleicht ist die amerikanische Linke stärker‹« (DR: p. 22).

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›Wir sind Hitler, wir?‹ Burton zuckte mit den Schultern. ›Wie meinst Du das?‹ Ja, ich wusste genau, dass ich Hitler war, bis zum Gürtel, dass ich da nicht herauskommen würde, dass es ein Kampf auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte Existenz hat sich an meine geklebt wie Napalm, […] wenn ich auch eigentlich ganz andre Sachen vorhabe, die Gräber der Inka zu sehen und am Fuß des Himalaya sitzend den Morgen zu erwarten […][.]612

Vesper »merkt[]«, dass eine Verständigung auf dieser Ebene unmöglich ist – »›[w]ie meinst Du das?‹«– und »dass wir so nicht weiterkamen«, denn Burton »fehlte die Erfahrung«613 (wobei Koenen als bislang einziger Interpret die Frage gestellt hat, auf welche »Erfahrung« sich Vesper und seine Generationsgenossen eigentlich genau berufen, scheint es ihnen doch eher um »Erinnerung« zu gehen – schließlich »gab es in dieser windstillen Bonner Republik gar nicht [genügend] zu erleben, um eine hasserfüllte Bewegungsenergie zu begründen«614). Vesper reagiert frustriert auf die Unmöglichkeit, diesem Angehörigen der Opfer zu beweisen, wie sehr er selber unter den Tätern gelitten hat und immer noch leidet; er empfindet ein Gefühl der »Verlassenheit«615, das allmählich in Wut auf den obstinaten Juden umschlägt: Mit Burton kam es jetzt zur Krise. […] Ich spürte, dass er mich belauerte […]. Er brauchte immerhin Stunden, um eine Situation zu finden, wo er den Versuch riskieren konnte [mich mit dieser Stadt, diesem Land, der Beklemmung, der Durchschnittlichkeit in Verbindung zu bringen], mir ein Netz überzuwerfen [mich an den Felsen zu fesseln, von dem ich mich gelöst hatte].616

Und weiter : ›Ich habe alles geopfert‹, stieß ich plötzlich unter Tränen raus. Burton sah mich erstaunt an. ›So? – Was?‹ Meine Kindheitshölle; meine Freunde-Schweine, meine Eltern-Nazis. Lächerlich: ›opfern‹. Aber : ich opferte. Es war mir lieb, wert, teuer, ich litt, heulte. Burton wird es sehen. Er wird trotz aller meiner Beteuerungen meine Schuld festhalten und aus seiner glücklichen Situation heraus, New York, auf den Fingern der Freiheitsstatue sitzen, den Zacken ihrer Aureole im Maul lutschend mich in den Sumpf zurückstoßen.617

Das tut Burton denn auch tatsächlich:

612 Ebd.: p. 107; im Original kursiv. Dass Hitlers Existenz »wie Napalm« an Vesper klebt, ist bemerkenswert, ist doch »Napalm« eine dezidiert ›amerikanische‹ Waffe, die im Vietnamkrieg freimütig eingesetzt wurde. Diese umstrittene Waffe wird hier von Vesper in einen sehr suggestiven Assoziationszusammenhang mit Hitler eingebunden, was wohl kein Zufall ist (s. u., p. 127 f.). 613 Ebd.: p. 105. 614 Koenen: p. 313. 615 DR: p. 105. 616 Ebd.: p. 99; im Original kursiv und mit eckigen Klammern. 617 Ebd.: p. 114; im Original kursiv.

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›Du hängst an diesem Land. Du verteidigst es.‹ Ich spüre Hass und Triumph. Hat er nicht darauf gewartet, mich verantwortlich zu machen für die Schrecken dieser Nacht, für den Ekel, die widerlichen Anblicke? Ich fühle meine Ohnmacht, merke, dass ich in die Falle gegangen war, die er mir gestellt hat […]. ›Siehst Du, Du verteidigst dieses Land, Du bist ein Deutscher, Du machst Dich lächerlich, gerade vor mir.‹ ›Du als Jude…‹, sage ich leise. Burton lacht genüsslich. ›Der Trip bringt es heraus, Du bist wie sie alle – Du hast versucht, es zu verbergen, aber es geht nicht, merkst Du es jetzt?!‹618

Diese Inszenierung ist äußerst vielsagend. Die Opfer- und Täterrollen werden verkehrt; der Jude rückt in die Position des Täters, indem er dem schuldbewussten Deutschen mit »genüsslich[er]« Grausamkeit die Absolution verweigert; wir haben es mit einer Konfiguration zu tun, in welcher »der glückliche Sohn reicher Juden« – bei denen es sich erst noch um stereotype New Yorker Juden handelt – »in all seiner überlegenen Ironie« das »sich in Schuldkrämpfen windende arme deutsche Fleisch«619 quält. Der Jude, der nicht vergeben will und sich maliziös an den Schuldgefühlen eines reuigen und eigentlich vollkommen unbelasteten (da zu spät geborenen) Deutschen ergötzt – das ist ein antisemitischer Topos, der noch in der Gegenwartsliteratur aktualisiert wird620. Die ganze Burton-Episode ist durchsetzt mit solchen bedenklichen Elementen. Vesper beschreibt den Juden voller Verachtung und im Rückgriff auf antisemitische Klischees als »menschen, bei dem eigentums- und verstandesgrenzen zusammenfallen«621, der »schwarze[], etwas fettige[] Haare«622 hat und »ganz braun«623 aussieht; auf dem Trip erscheint ihm Burton »wehleidig« und »kriecherisch«624, der »Sohn Israels […] schwenkte den Kopf wie eine Schlange«625, und selbst das von Vesper eigens erwähnte Detail, dass Burton in einer »Werbeagentur […] Kohlen mach[t]«626, lässt sich in eine antisemitische Tradition eingliedern627. In 618 Ebd.: p. 154; im Original kursiv. 619 Koenen: p. 16. 620 Matthias N. Lorenz hat das in Bezug auf Bernhard Schlinks Erzählung Die Beschneidung, in der es bezeichnenderweise ebenfalls um New Yorker Juden geht, eindrücklich gezeigt: Lorenz, Matthias N.: »›Political Correctness‹ als Phantasma. Zu Bernhard Schlinks ›Die Beschneidung‹«. Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hg. von Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz und Matthias N. Lorenz. Stuttgart und Weimar : Metzler, 2007: p. 219 – 242. 621 DR: p. 697. 622 Ebd.: p. 162. 623 Ebd.: p. 113. 624 Ebd.: p. 124. 625 Ebd. 626 Ebd.: p. 162. 627 Die Wahrnehmung der Werbetätigkeit als spezifisch ›jüdisch‹ kann man zumindest in den Vereinigten Staaten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts auf Vorurteile gegen jüdische Händler zurückverfolgen: »German Jews became a more palpable presence in peddling and its lore [after the 1830s]. Ancient prejudice made the Jew a natural focus for anxieties about the evanescence and unreliability of commercial exchange. […] [P]opular assumptions

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einer Manuskriptvariante wird dieses nicht einmal mehr kommentarbedürftige Bündel antisemitischer Topoi – sie sprechen für sich selbst; der Jude ist gierig, rachsüchtig, hässlich, feige, wehleidig, und an seinem Aussehen als Jude zu erkennen – sogar in noch größerer Deutlichkeit aktualisiert: [Burton] wartete auf jenen Stoß, auf den er wartete, seit er denken konnte, […] den Stoß, der […] die Juden […] so wehleidig macht, so kriecherisch, so demütig – und doch so gewiss des Sieges, so unbeugsam, so sicher ihrer Überzeugung: dass das alles, die ganze verfahrene Geschichte dann ein Ende haben wird, wenn sie beschlossen haben, dem weißen Schwein, das ihnen gegenübersteht, die Kehle zuzudrücken.628

Bezeichnenderweise wird die Trennung der Reisegefährten nicht durch eine genuine Abschiedsszene oder auch nur den gegenseitigen Austausch von »Adressen« markiert, sondern durch eine finanzielle Transaktion – Burton übergibt Vesper die »zwanzig Schillinge«629, die er ihm noch schuldet. Die antisemitisch grundierte Abneigung gegen Burton geht derweil mit einem Antizionismus einher, den Vesper bekanntlich mit einem Grossteil der damaligen Linken teilte: Auf dem Trip erscheinen Vesper die israelischen »MirageDüsenjäger […], die Bomber, die Napalm auf die braunen Dörfer der Wüste warfen« – hier wird, vor allem durch das Stichwort »Napalm« (siehe Fn. 614), eine Äquivalenz zwischen den Aktivitäten der Amerikaner in Vietnam und denjenigen der israelischen Armee suggeriert. An anderer Stelle flicht er eine ausgedehnte Schilderung der »Guerilla-Ausbildung«630 in einem jordanischen Fatah-Camp ein, die aus weiblicher Sicht erzählt wird (Koenen vermutet hinter der Guerillera Ina Siepmann631): Die palästinensischen Kämpfer werden glorifiziert, und Vesper nimmt bezeichnenderweise sofort an, dass sie »die Israelis

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tended increasingly to conflate their mobility and marginality with their Jewishness. […] The peddler was a Wandering Jew with a pack on his back, promising deliverance from everyday monotonies through the power of purchase; he was also a Shylock who posed the constant threat of fraud.« Es überrascht nicht, dass die amerikanische »truth-in-advertising«-Bewegung im frühen 20. Jahrhundert diese alten antisemitischen Vorurteile aktualisierte und vor allem jüdische Händler, beziehungsweise Werber aufs Korn nahm: »Movement leaders rearticulated the widespread association between Protestant plain speech and professional probity. Many of the men identified as offenders by state vigilance committees had Jewish surnames, and anti-semitic stereotypes sometimes surfaced at committee meetings. […] Patterns of prosecution comported well with the durable belief that Anglo-Saxons had a unique claim on sincerity and plain speech […]« (Lears, Jackson: Fables of Abundance. A Cultural History of Advertising in America. New York: BasicBooks, 1994. Hier: p. 68 f., p. 205). Durch die sofortige Identifikation Burtons als Werbemann zeigt Vesper also einen eher unappetitlichen Instinkt. DR: p. 597. Bemerkenswert ist hier auch, dass Vesper die Juden offenbar nicht als »weisse[] Schwein[e]« betrachtet, sie also in bester antisemitischer Tradition einer anderen ›Rasse‹ zuordnet. Ebd.: p. 163. Ebd.: p. 435 ff. Koenen: p. 284.

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hassen«632 – die verneinende Reaktion der Erzählerin ist wenig glaubhaft angesichts ihrer Überzeugung, dass der Krieg gegen Israel (»die arabische Revolution«) binnen »zwanzig Jahren siegen« werde und dass unter der Ägide Arafats »da unten […] ein neuer Mensch«633 entstehe. In der Reise lässt sich also eine Kollusion von Antisemitismus und Antizionismus feststellen, und bedauerlicherweise ist Vesper auch darin ein repräsentativer Vertreter seiner Generation. Dabei ist seine Schilderung des Reisegefährten Burton nur ein Element eines wahrhaft schockierenden Revisionismus, der in der Reise an einigen Stellen begegnet und der – man muss es betonen – wiederum für Teile der Studentenbewegung repräsentativ ist. Die Usurpation der Opferrolle, wie sie in den Gesprächen mit Burton festzustellen ist, nimmt Vesper nämlich in der Reise noch an anderen Stellen vor, und jedes Mal inszeniert er seine protestierenden Generationsgenossen als Opfer eines imaginierten deutschen Faschismus, durchaus auch mit direkten Vergleichen zum Holocaust. In diesen Passagen oszilliert er meist zwischen dem, was Hannah Arendt einst als »Felix Culpa«634 bezeichnete – dem befremdlichen Gestus der Nachkriegsgeneration, sich für die Anerkennung des Holocaust »auch noch eine Feder an den Hut zu stecken«635 – und dem erwähnten radikalen Antizionismus, der Israel in die Kontinuität des NS-Regimes stellt636 und die jungen Deutschen als ›neue Juden‹ inszeniert. So liest Vesper beispielsweise als Teenager in einem Buch »den Brief einer […] jüdischen Frau, deren Familie ausgelöscht worden war« und behauptet, dieselben Angstgefühle zu verspüren wie das Opfer – »[e]ine Angst, die ich wiedererkannte« –, bevor er dann auch gönnerhaft anerkennt, dass sie »die Wahrheit«637 geschrieben habe. Er nimmt zudem eine »direkte Verbindung« zwischen den »›gepflegten‹ Vorg[ä]rten« der ›Vegetables‹ und »Auschwitz«638 wahr. Die ›Vegetables‹, die den jungen Menschen mit Misstrauen begegnen, sind für Vesper ohnehin nur Wiedergänger von KZ-Wachen: Der eine [Junge] mokierte sich über mein langes Haar […]. Wenn man die Haare und Zähne in den Magazinen der nazistischen Lager gesehen hat, dann wird man das Grauenvolle in einer solchen bukolischen Szene begreifen. Wer Haare abschneiden will, will im Grunde auch Köpfe abschneiden.639 632 DR: p. 438. 633 Ebd.: p. 440. 634 Über Hans Magnus Enzensberger. Hg. von Joachim Schickel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 11970. Hier : p. 173. 635 Hannah Arendt in einem unveröffentlichten Brief an den Merkur-Herausgeber Hans Paeschke, zit. n. Lau, Jörg: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben. Berlin: Alexander Fest Verlag, 1999. Hier : p. 197. 636 Vgl. DR p. 124, p. 690. 637 Ebd.: p. 486 f. 638 Ebd.: p. 31. 639 Ebd.: p. 70.

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Kurzum: In die einst von den Juden besetzte Opferposition sind nun die revoltierenden Studenten gerückt. »Das ist alles noch da, liegt auf der Lauer«, glaubt Vesper, und »[d]ie Schweine sind wir, Burton. [Unter Hitler wart es Ihr, die Schweine. Euch gibt es nicht mehr.]«640 Mit dieser frechen Inanspruchnahme einer Opferrolle, der Selbstinszenierung als späte »Verfolgte[] des Naziregimes«641, steht Vesper, wie gesagt, nicht allein da. Die Überzeugung, dass die Bundesrepublik ein genauso faschistischer Staat sei wie das ›Dritte Reich‹642 – nur eben in abgewandelter Form – prägte den Duktus der Studentenbewegung in weiten Strecken und suggerierte unterschwellig, dass gerade den protestierenden jungen Menschen alsbald dasselbe widerfahren würde wie einst den Juden und anderen marginalisierten und verfolgten Gruppen im Nationalsozialismus. In den entsprechenden Äußerungen prominenter RAF-Mitglieder tritt dieser hysterische Revisionismus in wünschbarer Deutlichkeit zu Tage. Birgit Hogefeld schildert den Anblick des vom Hungerstreik gezeichneten Holger Meins als entscheidendes Erweckungserlebnis auf ihrem Weg in den Terrorismus – »weil dieser ausgemergelte Mensch so viel Ähnlichkeit mit KZ-Häftlingen, mit den Toten von Auschwitz hat[te]«643. Bommi Baumann hält großspurig fest: »Bevor ich nun wieder [sic] nach Auschwitz transportiert werde, dann schieß ich lieber vorher, das ist doch wohl klar«644. Für Ulrike Meinhof steht fest, dass der »politische begriff für [den] toten trakt […] das gas« ist – »meine auschwitzphantasien da drin waren […] realistisch«645 –, und Gudrun Ensslin pflichtet bei: »Unterschied toter Trakt und Isolation: Auschwitz zu Buchenwald«646. Im »Toten Trakt«647 von Ossendorf, der also in den Augen der Inhaftierten einem nationalsozialistischen Konzentrationslager entspricht, verfasst Ulrike Meinhof im Namen der RAF eine denkwürdige Verlautbarung zur »Aktion des ›Schwarzen September‹ in München«648, bei der palästinensische Terroristen israelische Olympioniken als Geiseln nahmen und töteten. Die Autorin – man bedenke immer, nach eigener Aussage ein Opfer eines neuen deutschen Faschismus – identifiziert Israel als »imperialistische[] Metropole [sic]«, spricht in einem 640 Ebd.: p. 197; eckige Klammern im Original. 641 Koenen: p. 312. 642 Man denke auch an Vespers Auflistung der »bauelemente des zweiten deutschen faschismus« in der Reise – unter diesem zweiten deutschen Faschismus hat man sich natürlich die Bundesrepublik vorzustellen (DR: p. 431 f.; Kapitälchen im Original). 643 Hogefeld: p. 32. 644 Baumann, Bommi: Wie alles anfing. Berlin: Rotbuch Verlag, 42007. Hier: p. 47. 645 das info. briefe von gefangenen aus der raf aus der diskussion 1973 – 1977. Dokumente. Hg. von Pieter Bakker Schut. Kiel: Neuer Malik Verlag, 1987. Hier : p. 21. 646 Aust: p. 398. 647 Koenen: p. 333. 648 Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. O. Hg. Berlin: IDVerlag, 11997. Hier : p. 151.

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letzten Tabubruch von »Israels Nazi-Faschismus«649, und bezeichnet den damaligen israelischen Verteidigungsminister Moshe Dayan als »Schwein« und »Himmler Israels«; Israel, heißt es in der Propagandaschrift, habe »seine Sportler verheizt wie die Nazis die Juden«650. In diesem Text der RAF wird also, in einer gründlichen »Verwirrung und Umkehrung aller Begriffe«651, die Inversion von Täter- und Opferpositionen gleichsam offiziell kommuniziert und komplettiert. Derart grotesken Revisionismus kann man Vesper nun zwar nicht vorwerfen, aber es lässt sich angesichts der Äußerungen diverser RAF-Mitglieder nicht abstreiten, dass er in den Passagen zu Burton und in der larmoyanten Schilderung seiner Opferkomplexe problematische Gedanken antizipiert, die später in den Traktaten und Kassibern der Terroristen fratzenhaft überzeichnet wieder auftauchen. Einmal mehr spricht Vesper in der Reise nicht nur für sich selbst, aber dieses Mal muss der Befund verstören, denn schließlich ist die Rede von latentem Antisemitismus und von einer hysterischen und stoßenden Selbststilisierung zu Opfern eines imaginierten Faschismus652. Ist Lubich demnach zuzustimmen, wenn er auf der Basis der oben gemachten und hier teils in größerer Tiefe wiedergegebenen Beobachtungen schließt, dass Vespers »Konversion von der extremen politischen Rechten zur extremen politischen Linken nicht eine Befreiung von der Vergangenheit darstellt, sondern vielmehr ihre Rekapitulation unter ideologisch umgekehrten Vorzeichen«653 ? Hat Koenen recht, wenn er auf derselben Basis behauptet, dass die Reise zeige, »wie in den scheinbar radikalsten politischen Gegenoptionen […] nicht wenige der alten Wahn- und Zwangsvorstellungen der Weltkriegsperiode durchschimmerten«654 ? Es ist wohl unbestreitbar, dass die allgemein verspürte ›Vertrauenskrise‹ sich in extremistische Hysterie auswachsen und den Antrieb zu terroristischen Handlungen bilden konnte. Mag sein, dass die ›Vertrauenskrise‹ in weiten Teilen korrekte oder zumindest nachvollziehbare kritische Analysen der 649 650 651 652

Ebd.: p. 159. Ebd.: p. 173. Koenen: p. 333. Dass solche befremdlichen Fantasien bei Vespers Generationsgenossen des Öfteren vorkommen, hat Peter Sichrovsky im Rahmen seiner Interviews mit Nachkommen von NSTätern erkannt: »In vielen Fällen haben die Kinder der Täter die Leidensrolle der Eltern übernommen. Vor allem bei gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen werden Konflikte mit staatlichen Autoritäten oder dem politischen Gegner sehr schnell symbolhaft in die Nazizeit versetzt. […] [M]an versucht, die Situation dadurch zu dramatisieren, dass man den Gegner mit den Nationalsozialisten und sich selbst mit den Opfern vergleicht« (Sichrovsky : p. 24 f.). Dieser Mechanismus greift, wie unsere Beobachtungen zeigen, nicht nur bei den Kindern genuiner Täter, sondern auch bei RAF-Angehörigen wie Gudrun Ensslin, die aus gemäßigten und unverdächtigen Familien stammen – offenbar genügt zur Selbststilisierung zum Opfer schon die Vorstellung, von Tätern umgeben zu sein. 653 Lubich: p. 77. 654 Koenen: p. 312.

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Epoche und ihrer gesellschaftlichen Institutionen zeitigte; diese Analysen beruhten aber ihrerseits, wie Jürgen Habermas schon 1968 bemerkte, auf der falschen Prämisse, dass eine Revolution kurz bevorstehe655 und auf der Verwechslung der »Abwehrreaktionen eines Staates, der durch Normen noch gehalten ist, auf Protestspiele sich einzulassen, mit der nackten Repression einer faschistischen Gewalt«656. Ebenso unbestreitbar ist es, dass in der Reise eben nicht nur, wie bereits mehrfach gezeigt, die Möglichkeitsbedingungen dieser ›Vertrauenskrise‹ in meisterhaft gestalteter, objektivierter Form begegnen, sondern halbbewusst auch gewisse Schattenseiten der Studentenbewegung zur Darstellung gebracht werden – die Spuren der zuvor erwähnten unbequemen und verdrängten Nähe zur verhassten Elterngeneration: Da ist der politische Absolutheitsanspruch, der alle Andersdenkenden aggressiv entmenschlicht, da ist der mehr als nur unterschwellige Antisemitismus, der mit einem radikalen Antizionismus koinzidiert, und da sind nicht zuletzt die (von Lubich eigenartigerweise übersehenen) apologetischen Passagen über revolutionäre Gewalt657. Letztere nimmt Koenen übrigens vollkommen ernst, und sie veranlassen ihn zu der zugespitzten Behauptung, dass nur Vespers Sohn Felix – und der Streit mit Gudrun Ensslin um das Sorgerecht, der im jüngst erschienen Briefwechsel der beiden dokumentiert ist658 – »Bernward Vesper davon abhielt[en], sich dem entstehenden bewaffneten Untergrund anzuschließen«659. Lubichs und, in minderer Deutlichkeit, Schneiders und Koenens Thesen sind aber als unwissenschaftliche Polemisierungen und Spekulationen abzulehnen, denn Bernward Vesper ging ja tatsächlich nicht in den Untergrund und er griff nicht zur Waffe. Er setzte, anders als die ›echten‹ Faschisten und Terroristen, seinen »Angst-HassKomplex« nie in die Tat um, und dies wohl, wie wir noch sehen werden, nicht einfach nur wegen seines kleinen Sohns (schließlich ließen sich Meinhof, Ensslin und Baader von der Tatsache, dass sie alle Kinder hatten, nicht vom Gang in den Untergrund abhalten). Es ist also bedenklich, dass Lubich seine Beschäftigung mit der Reise unter den Titel »von der Hitler-Jugend zur RAF« stellt – in der RAF hat Vesper, bei allen Sympathien, nie aktiv mitgewirkt, obwohl er dazu zweifellos Gelegenheit gehabt hätte. Wenn Lubich in der Reise eine »geistige Identität zwischen rechtem Fa655 Vgl. Habermas: p. 194 ff. 656 Ebd.: p. 199. 657 »Nehmen wir lieber eine Waffe, organisieren wir uns lieber und verlassen wir uns lieber auf uns«; »meine klasse hat mich gelehrt, dass man nur mit gewalt etwas erreichen kann, und ich bin bereit, diese ihre lehre gegen sie anzuwenden«; »Es wäre gut, ein paar Kenntnisse im Umgang mit Waffen und Sprengstoff zu erwerben. Für alle Fälle«; »ein gewehr [ist] nicht gleich einem gewehr, […] ein befreiungskampf [ist] etwas anderes als ein eroberungskrieg, etc. also gibt es auch positive aggression!« (DR: p. 499, p. 631, p. 549, p. 683). 658 Vgl. Fn. 505. 659 Koenen: p. 289.

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schismus und linkem Terrorismus«660 ausmacht, so ist das mithin schon allein deswegen problematisch, weil Bernward Vesper zu keinem Zeitpunkt ein linker Terrorist war. Ebenso verwirrt der Vorwurf der »taktischen Aneignung faschistischer Methoden«661 (in Bezug auf Teile der Reise könnte man höchstens von einer rhetorischen Aneignung solcher »Methoden« sprechen); grotesk wirkt sodann die Behauptung, Vespers »Versuch, das faschistische Trauma mit anarchistischem Terror zu bekämpfen«662, sei gescheitert und sein Weg habe »in genau jenen politischen Untergrund [ge]führt, wo sich der Terror als eine neue Form des Faschismus zu erkennen gibt«663 – ein Versuch, der nie unternommen wurde, kann auch nicht gescheitert sein, und in den Untergrund ging Vesper ja gerade nicht (und die Behauptung, der Terrorismus der RAF sei ein ›faschistischer‹ gewesen, ist natürlich ebenfalls umstritten). Denselben Täuschungen scheinen Zschachlitz und Schneider zu erliegen, die postulieren, dass die Reise der »Dynamik nach ein […] totalitäres Fühlen« zur Darstellung bringe, »in dem die psychische Erbschaft des Nazi-Vaters durchgeschlagen ist«664, beziehungsweise, dass die in der Reise formulierten »Widersprüche […] sich bei genauerem Hinsehen als Kontinuitäten erweisen«665 : Diese durchaus ernst gemeinten Interpretationen von Vespers rhetorischen Verfehlungen als Manifestationen eines irgendwie in Form eines ›Linksfaschismus‹ fortbestehenden deutschen Faschismus – als Manifestationen einer politischen Praxis – sind genau so fragwürdig wie Lubichs bereits zitierte Behauptungen. Natürlich inszeniert Vesper sein Schreiben als politische Praxis, und natürlich rasselt er mit dem Säbel – nichts anderes wurde vom intendierten Publikum erwartet. Als Interpret sollte man aber die nötige Distanz besitzen, das wirkungsästhetische und rhetorische Programm eines Autors nicht einfach unhinterfragt zu akzeptieren. Nicht nur Lubich verkennt demnach die schiere Evidenz, die Tatsache nämlich, dass Bernward Vesper nie ein Terrorist war. Aber gerade Lubich übergeht auch die zahllosen obsessiven selbstkritischen Reflexionen Vespers – die bereits erwähnten Abwertungen des eigenen subjektiven Standpunkts, der eigenen literarischen Tätigkeit, und Vespers aufdringliches Selbstmitleid. Kein Wunder, untergraben sie doch seine Grundthese: Ein Faschist würde schließlich keine quälenden Zweifel an sich selbst und an der eigenen politischen Haltung zulassen, geschweige denn niederschreiben; er erginge sich nicht in fast schon 660 661 662 663 664

Lubich: p. 77. Ebd.: p. 85. Ebd.: p. 93. Ebd. Schneider, Michael: »Über die Aussen- und Innenansicht eines Selbstmörders. Notwendige Ergänzungen zu Bernward Vespers Die Reise«. Ders.: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder die melancholische Linke. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1981. Hier : p. 72. 665 Zschachlitz: p. 117.

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masochistisch anmutenden Selbstzerfleischungen. Bernward Vesper dagegen gibt ebensolchen Zweifeln in der Reise Raum: Er erhebt keinen Anspruch auf »Authentizität«, bezeichnet seine Aufzeichnungen als »narzistisch[] [sic]«666, »durchst[ößt]« nach eigener Aussage »die Schallmauer des Irrsinns«667, und nimmt in seinem »Interview« mit sich selbst eine Selbstdemontage vor, die man von einem überzeugten oder auch nur »verkappten«668 Faschisten wohl kaum in dieser Form lesen würde: ›Bist Du ein Schwein?‹ ›Ja, einverstanden, ein niederträchtiges, egoistisches, unfähiges, schwaches, willenloses Schwein, das sich glücklich schätzt, im stinkendsten Dreck des letzten Kobens seiner Majestät auf seinen Schlachttag zu harren.‹ ›Bist Du ein Übermensch, ein Messias, Agitator der Massen, ein Genie, das die ganze Welt auf die Zehenspitzen treibt?‹ ›Nein, ich bin ein mittelmäßiger, ausgeflippter, unpolitischer, kleinbürgerlicher, sentimentaler Schieber, ein weinerlicher Leutebescheißer, Gammler, Angeber, ein autoritätsfixierter, religiöser, leichtgläubiger Faulpelz.‹669

Diese Selbstzweifel sind nicht etwa nur Pose, sondern erstrecken sich durchaus auf die eigenen politischen Überzeugungen. Wenn Lubich meint, Vesper als Faschisten ›enttarnen‹ zu können, muss das schon nur darum misslingen, weil Vesper das gleich selber besorgt: als »Hitler«670 bezeichnet er sich ja ohnehin, den »judenknacks«671 attestiert er sich ebenfalls auf eigene Faust, und er hält selbstkritisch fest, dass »wir […] gegenwart und vergangenheit nicht auseinanderhalten [konnten], nicht die faschistischen verbrechen an den juden von den faschistischen verbrechen israelischer eroberungskrieger [unterscheiden konnten]«672. Was den Vater und die abtrünnige Gudrun betrifft, nimmt Vesper gar eine veritable Selbstanalyse vor, deren Verwurzelung in Herbert Marcuses Thesen zur Psychoanalyse noch zu zeigen ist: Seine antiautoritäre Haltung führt er auf ein starkes »vater-imago«673 zurück und geht davon aus, dass er seine »fixierung an [die] eltern auf freunde (innen) übertragen«674 habe; in seiner Beziehung zu Gudrun Ensslin diagnostiziert er schließlich eine »sado-masochistische[] […] fortsetzung der autoritätsfixierung«675. Vor dem Hintergrund dieser in der Reise enthaltenen Selbstkritik, die vor den eigenen politischen Überzeugungen nicht Halt macht – »[i]ch war sehr naiv«676 –, scheint es müßig, den Text wie Lubich 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676

DR: p. 631. Ebd.: p. 198. Lubich: p. 71. DR: p. 190; im Original kursiv. Ebd.: p. 106 f. Ebd.: p. 685. Ebd.: p. 690. Ebd.: p. 649. Ebd.: p. 637. Ebd.: p. 676. Ebd.: p. 501.

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triumphal dekonstruieren zu wollen; diese Arbeit hat Vesper bereits antizipiert und selber vollbracht. Die in der Einleitung skizzierten Schwierigkeiten einer klaren Scheidung von Erzähler und realem Autor in der ›Väterliteratur‹ treten im Hinblick auf die in diesem Unterkapitel diskutierte Problematik klar zutage: Im Zuge einer unglücklichen kategorialen Vermischung unterstellen Interpreten wie Lubich der Reise offenbar vollkommene Authentizität (und damit eine Identität von Autor und Erzähler) und lesen sie gleichsam als politisches Statement. Das ist aber fatal, denn, um Brandstädters prägnante Formulierung zu bemühen: Jegliche »totalitären Züge werden vom Erzähler Vesper als Produkt eines Selbsterkenntnisprozesses vorgebracht, sind also vom Autor Vesper bewusst konzipiert«677. Wahrscheinlich fügen sich auch die oben beschriebenen antisemitischen Burton-Passagen in dieses ästhetische Programm ein und sind dementsprechend zu relativieren: Ihr Antisemitismus wäre mithin nicht ein Ausdruck unbewusster Ressentiments, die durch literaturwissenschaftliche Interpretationsleistung herauszuarbeiten sind – eine zweifelhafte Leistung, da Vesper ja zu seinem »judenknacks« steht –, sondern das Ergebnis bewusster Gestaltungsarbeit seitens des Autors zwecks Entlarvung der eigenen Erzähler-Persona. Worauf der »Selbsterkenntnisprozess« abzielt, welcher diesem Vorgehen laut Brandstädter zugrunde liegt, soll in der Folge gezeigt werden. Jedenfalls begibt sich Lubich endgültig auf zweifelhaftes Terrain, wenn er äußerst selektiv aus der Reise zitiert, um die Vespersche Selbstkritik, die nicht in sein Konzept passt, zu unterschlagen. Beispielsweise gibt Lubich aus dem oben zitierten Interview, das Vesper mit sich selbst führt, nur die Frage »›Bist Du ein Übermensch, ein Messias, Agitator der Massen, ein Genie, das die ganze Welt auf die Zehenspitzen treibt?‹« wieder und lässt die selbstzerstörerische Antwort aus, die Vesper darauf gibt. So fällt es Lubich natürlich leicht, Vesper »Wunschvorstellungen von eigener Größe« vorzuwerfen, die angeblich das »verinnerlichte Wahnbild des Führers«678 verraten. An anderer Stelle ist Lubich überzeugt, dass »Will Vespers mystische Gläubigkeit an das Tausendjährige Reich […] in der Sehnsucht seines Sohnes nach einem Weltreich vollendeter Harmonie«679 neu auflebe und verweist zum Beweis auf folgende Passage: Angenommen, die Widersprüche wären gelöst, die Weltrevolution siegreich, der Hunger abgeschafft, die Isolation des Individuums aufgehoben, die Bedürfnisse der Milliarden erfüllt, ihre Kreativität hergestellt, die Freude, die Liebe verwirklicht, das Reich der Freiheit rings um den Erdball und weit in den Weltraum dann besiedelter Sterne errichtet […]680 677 678 679 680

Brandstädter: p. 170, Anm. 477; Hervorhebungen nicht im Original. Lubich: p. 91. Ebd.: p. 86. DR: p. 238.

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Leider verschweigt Lubich den unmittelbar auf dieses Exzerpt folgenden Satzteil, der die ganze Passage relativiert: »– bliebe nicht die Frage: wozu?«681 An dieser Stelle in der Reise manifestiert sich gerade das Gegenteil dessen, was Lubich behauptet, nämlich ein gesundes Misstrauen gegen die Heilsversprechen selbst der eigenen politischen Überzeugung. Ein kurzer Exkurs könnte an dieser Stelle helfen, Vespers verstörende Art, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, zumindest zu kontextualisieren, was bislang seltsamerweise noch kein Interpret versucht hat. Damit werden wir nicht nur zu einem besseren Verständnis des Textes gelangen, sondern auch Gelegenheit haben, auf einen weiteren Konnex zwischen der Reise und dem zeitgenösssischen theoretischen Schaffen zu verweisen: Wie oben erwähnt (und von Lubich et al. übersehen), orientiert sich Vespers vernichtende Selbstanalyse nämlich zumindest in Teilen an Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft, oder, genauer, am Epilog des Buches, der mit »Kritik des Neu-Freudianischen Revisionismus« überschrieben ist und zuerst 1955 als Artikel in Dissent erschienen war. In diesem Epilog polemisiert Marcuse gegen die Neo-Freudianer, allen voran Erich Fromm, die er als »Revisionisten«682 bezeichnet. Ohne die Debatte nun vertieft nachzeichnen zu wollen, seien die Einwände Marcuses kurz erwähnt, da aus ihnen sein Bild der Psychoanalyse und ihrer Möglichkeiten ersichtlich wird, das sich ganz ähnlich auch in der Reise manifestiert: Die Revisionisten um Fromm lehnten einerseits »Freud’s most daring and suggestive hypotheses« ab, nämlich den ›Todestrieb‹, die ›Urhorde‹ und den ›Urvater‹, andererseits gingen sie davon aus, dass den »conflicts between individual and society, and between instinctual desires and consciousness« durch therapeutische Arbeit beizukommen sei, womit sie sich in Marcuses Augen zu »conformists«683 machten. Marcuse lehnt solchen in der therapeutischen Praxis begründeten Optimismus ab und verweist auf das kritische Potenzial der psychoanalytischen Theorie, das er durch die Revisionisten geschwächt sieht: Der soziale Gehalt der Freudschen Theorie wird deutlich: die psychoanalytischen Begriffe scharf herauszuarbeiten, heißt gleichzeitig ihre kritische Funktion, ihre Opposition gegen die herrschende Gesellschaftsform zu verschärfen. Diese kritische soziologische Funktion der Psychoanalyse entspringt der fundamentalen Rolle der Sexualität als einer ›produktiven Kraft‹; die libidinösen Ansprüche treiben den Fortschritt in Richtung auf Freiheit und weltweite Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse über das vaterzentriert-erwerbsgerichtete Stadium hinaus voran.684 681 Ebd. 682 Marcuse: p. 236. 683 Jay, Martin: The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923 – 1950. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 1996. Hier : p. 108. 684 Marcuse: p. 238.

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Wenn die Revisionisten davon ausgehen, das Individuum durch Therapie zur »›optimalen Entwicklung der inneren Fähigkeiten‹« und zur »›Verwirklichung [seiner] Individualität‹«685 führen zu können, dann ignorieren sie die »Opposition« der Psychoanalyse gegen »die herrschende Gesellschaftsform«, befördern also den »Konformismus«686 und vergehen sich damit nicht nur an Freuds Theorie, sondern setzen sich ein Ziel, das […] nicht erreicht werden kann – nicht etwa wegen bestimmter Grenzen der analytischen Technik, sondern weil die herrschende Kultur eben ihrer Struktur nach dies unmöglich macht. Entweder definiert man die ›Persönlichkeit‹ und die ›Individualität‹ im Sinne ihrer Möglichkeit innerhalb der geltenden Kulturformen, in welchem Fall ihre Verwirklichung für die überwiegende Mehrheit gleichlautend mit erfolgreicher Anpassung ist. Oder man definiert sie im Sinne ihres transzendierenden Gehalts, inklusive ihrer ihnen von der Gesellschaft versagten Möglichkeiten […]; in diesem Fall würde ihre Verwirklichung eine Überschreitung der geltenden Kulturformen […] sein […]. Das würde heute bedeuten, dass man den Patienten dahingehend ›heilt‹, ein Rebell oder (was das gleiche hieße) ein Märtyrer zu werden. […] Fromm […] spricht von der produktiven Verwirklichung der Persönlichkeit, von Fürsorge, Verantwortung und Respekt vor den Mitmenschen, von produktiver Liebe und Glück – als könnte der Mensch tatsächlich all das in einer Gesellschaft ausüben, die Fromm selbst als völlig ›entfremdet‹ und von den Konsum-Beziehungen des ›Markts‹ beherrscht, darstellt […].687

Die revisionistische Psychoanalyse will also zum »richtige[n] Leben im falschen« erziehen, das es aber, wie wir dank Adornos geflügeltem Wort wissen, nicht »gibt«688. Im Gegensatz zu den Revisionisten pflegt Marcuse eine pessimistische, eng an Freud angelehnte Sichtweise, welche die strenge Scheidung von psychoanalytischer Theorie und Praxis, das heisst, Therapie, betont: Während die psychoanalytische Theorie, wie oben erwähnt, stets einen subversiven Gehalt aufweist, indem sie erkennt, dass die Krankheit des Einzelnen letzten Endes durch die Krankheit seiner Zivilisation verursacht ist […], bemüht sich die psychoanalytische Therapie darum, den Einzelnen zu heilen, damit er fortfahren kann, als Teil einer kranken Zivilisation zu funktionieren, ohne sich ihr ganz und gar zu unterwerfen. […] Auf die Dauer erhebt sich nur die Frage, wie viel Resignation der Einzelne ertragen kann, ohne zu zerbrechen. In diesem Sinne ist die Therapie ein Kurs in der Resignation […].689 685 Ebd.: p. 253. Es ist nicht ganz klar, wen Marcuse hier zitiert oder paraphrasiert (wahrscheinlich Fromm); trotzdem habe ich seine Anführungszeichen beibehalten. 686 Ebd.: p. 252. 687 Ebd.: p. 253 f. 688 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. Hier: p. 43. 689 Marcuse: p. 242; Hervorhebungen nicht im Original. Diese Einstellung zu psychoanalytischen Therapieversuchen wurde übrigens während der Niederschrift der Reise in

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In ganz ähnlicher Weise scheint Vesper mit der Psychoanalyse umzugehen: Die Begrifflichkeiten der Freudschen Theorie sind, nicht nur in seinen obsessiven Selbstanalysen690, Teil seines kritischen Arsenals – er verwendet sie zu dem Zweck, den Marcuse ihnen zuschreibt, namentlich, um die »Krankheit [der] Zivilisation« zu diagnostizieren. Auch Vespers Selbstanalysen haben aber Marcusesche Züge. Wenn Vesper, wie oben zitiert, konstatiert, dass er seine »fixierung an [die] eltern auf freunde (innen) übertragen«691 und sein Verhältnis zu Gudrun nichts als eine »sado-masochistische[] […] fortsetzung der autoritätsfixierung«692 gewesen sei, dann bezieht er damit im Wesentlichen dieselbe Position wie Marcuse, der festhält: Die allgemeine Unterdrückungstendenz formt das Individuum und macht selbst seine persönlichsten Züge zum Allgemeingut. Dementsprechend orientiert sich Freuds Theorie konsequent an der frühen Kindheit – der Periode, in der dem Einzelnen das allgemeine Schicksal aufgeprägt wird. Die späteren reifen Beziehungen ›wiederholen‹ die formativen Beziehungen. […] In einer entfremdeten Welt stehen Exemplare der Gattung einander gegenüber : erst Eltern und Kinder, Männer und Frauen, dann Herr und Knecht, Chef und Angestellter. […] Auch wenn diese Formen sich verändern und in wirklich persönliche Beziehungen übergehen, behalten sie doch die universelle Repressivität bei […].693

Noch deutlicher wird der Bezug, wenn Marcuse auf den »langen schmerzlichen Prozess« verweist, »in dem die Sexualität mit all ihrer polymorphen Perversität gezähmt und gehemmt wird, bis sie schließlich der Verschmelzung mit Zärt-

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Deutschland virulent: 1970 entstand unter der Leitung von Wolfgang Huber in Heidelberg das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK), dessen Angehörige die ›Heilung‹ der kranken und krankmachenden kapitalistischen Gesellschaft als Bedingung für die eigene ›Heilung‹ betrachteten. Einige Mitglieder des SPK wurden wenig später zu Mitstreitern der RAF (das prominenteste Beispiel ist wohl Siegfried Hausner, der 1975 maßgeblich an der Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm beteiligt war). Generell antizipiert Marcuses Aufsatz natürlich die sogenannte Antipsychiatrie, die in den Sechzigerjahren aufkam – eine Bewegung, welche die Psychiatrie als Machtmittel zur Ausgrenzung ›Unerwünschter‹ kritisierte (paradigmatische Schriften zum Thema haben beispielsweise Franco Basaglia und F¦lix Guattari verfasst; der Begriff ›Antipsychiatrie‹ wurde seinerseits von David Cooper geprägt). Besonders beeindruckend sind in diesem Zusammenhang die Profile von Vespers Eltern in DR: p. 668 ff. und p. 325 ff. Die lakonische Beschreibung der »Verdauungsstörungen« der Mutter, die »einige Stunden auf dem Klo [sitzt]« und »Anweisungen an das Personal durch die geschlossene Klotür« erteilt (DR: p. 326), lässt sich mit Emil Grütter durchaus als Diagnose eines »Zwangscharakter[s] mit analsadistischen Fixierungen« lesen (Grütter, Emil: »Faschistoide Sozialisation und Gesellschaftskritik in Bernward Vespers Autobiographie Die Reise«. Freiburger literaturpsychologische Gespräche Bd. 1. Literatur und Psychologie. Hg. von Johannes Cremerius et al. Frankfurt am Main und Bern: Peter Lang, 1981. Hier: p. 67). DR: p. 637. Ebd.: p. 676. Marcuse: p. 249; Hervorhebung nicht im Original.

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lichkeit und Neigung zugänglich wird – einer Verschmelzung, die stets unsicher bleibt, und die ihre destruktiven Elemente nie ganz überwindet«694. Entsprechend seiner Annäherung an die Marcusesche Konzeption der Psychoanalyse entwickelt Vesper eine große Skepsis gegenüber der psychoanalytischen Therapie. Zwar kritisiert er nicht, wie Marcuse, die Neo-Freudianer, sondern die nicht gerade fortschrittlichen Institutionen, in die es ihn nach seinem Zusammenbruch verschlägt. Er verweigert sich den Therapieversuchen aber auf der Basis von Erwägungen, die durchaus an Marcuses Text gemahnen: Die Münchner (und später die Hamburger) Nervenkliniken verfolgen Vespers Meinung nach nur ein Ziel, namentlich die »Unterwerfung [der Patienten] unter das Schicksal«, die »Kapitulation«695 der zu Recht an der kranken Zivilisation Verzweifelten – womit wir wieder bei Marcuses Vorwurf des »Konformismus«696 an die Therapeuten wären. Dass Vespers Sicht der Psychoanalyse in der Reise mit Marcuses Position übereinstimmt, wird noch klarer, wenn man sich den Text als Verarbeitung eines Ödipuskomplexes vorstellt. In diesem Zusammenhang müsste man zunächst mit dem Revisionisten Erich Fromm übereinstimmen, der den Ödipuskomplex, um die »volle Bedeutung von Freuds Entdeckung« zu erkennen, »aus der Sphäre der Sexualität auf diejenige der zwischenmenschlichen Beziehungen«697 zu übertragen sucht. Vesper scheint in der Reise ja ein ähnliches Projekt zu verfolgen, verlagert sich doch der vatermörderische Wunsch im Zuge der ›Vertrauenskrise‹ aus dem familiären in den gesellschaftlichen Raum. Fromm wertet aber den Ödipuskomplex um, indem er ihn gleichsam entsexualisiert und ihm so die verstörende und subversive Schärfe nimmt, welche Die Reise auszeichnet: Das Wesen des [ödipalen, Anm. v. J. R.] Inzests ist nicht das sexuelle Begehren nach Angehörigen der eigenen Familie. Dieses Begehren […] stellt nur einen Ausdruck des viel tieferen und fundamentaleren Wunsches dar, ein Kind zu bleiben und sich an die beschützenden Gestalten zu heften, unter denen die Mutter die erste und einflussreichste ist.698

Zwar darf Fromms darauffolgende Beschreibung des ödipalen Charakters auf Vesper angewendet werden699, aber wenn er den Ödipuskomplex von der »se694 695 696 697 698 699

Ebd.: p. 259; Hervorhebung nicht im Original. DR: p. 572. Marcuse: p. 252. Fromm, Erich: Psychoanalyse und Religion. München: dtv, 72008. Hier: p. 72. Ebd. »[E]r genießt auch die Befriedigung des Schutzes, der Wärme, der fraglosen Zugehörigkeit, die das Glück seiner Kindheit war [man denke an Vespers unkritische und fundamentalistische Adaption marxistischen Gedankenguts, wobei die ›fraglose Zugehörigkeit‹ zu einer nationalsozialistisch eingestellten Familie in Vespers Kindheit kaum als ›Glück‹ bezeichnet werden kann, Anm. v. J. R.]. Aber er zahlt dafür einen hohen Preis. Ihm gelingt es

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xuelle[n] Sphäre«700 loslöst und seine Überwindung als »Schritt in der Richtung auf Freiheit und Unabhängigkeit«701 deutet, ist er wiederum zu optimistisch für Marcuse und Vesper. Denn, wie Marcuse feststellt, »die zu erlangende Freiheit und Unabhängigkeit« sind in einer repressiven Gesellschaft zwingend »durch Mangel, Resignation und Schmerz getrübt«702. Präziser – und eher im Sinne Freuds – ausgedrückt wäre also die Überwindung des Ödipuskomplexes nicht gleichbedeutend mit einem »Schritt in der Richtung auf Freiheit und Unabhängigkeit«, sondern würde vielmehr die »Hinnahme des Unglücks in der Freiheit«703 bedeuten. Der ödipale Wunsch wäre somit kein krankhafter »Protest gegen die Freiheit«; stattdessen stünde er für einen Protest »gegen schmerzliche repressive Freiheit«, für die »ewige infantile Sehnsucht nach dem Archetypus der Freiheit« – und »da der […] Sexualtrieb der biologische Träger dieses Archetypus der Freiheit ist, ist der ödipale Wunsch im wesentlichen ›sexuelles Verlangen‹«704. Dem Ödipuskomplex, den Fromm im Grunde als »erzieherisches Problem«705 abtut, indem er ihn entsexualisiert und vollkommen pathologisiert, wohnt also eine signifikante aufrührerische und widerständige Komponente inne; das ödipale Begehren, so Marcuse, bedeutet die »erste Schlacht gegen all das, wofür das Realitätsprinzip steht[,] gegen den Vater, gegen die Herrschaft, gegen Sublimation und Resignation« – es ist der »Prototyp des Triebkonflikts zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft«706. In Martin Jays Worten: »To ignore the libidinal roots of the Oedipus complex [gerade das tut Fromm,

700 701 702 703 704 705 706

nicht, ein wirklicher Mensch zu werden und seine Kräfte der Vernunft und der Liebe zu entwickeln [man denke an Vespers Beziehungsunfähigkeit, Anm. v. J. R.]; er bleibt abhängig und behält ein Gefühl der Unsicherheit, das sich geltend macht, sobald jene primären Bindungen bedroht sind [man denke an Vespers lange währende Versuche, den Vater zu rehabilitieren, oder an seine Tränen am Sterbebett von Will Vesper, Anm. v. J. R.]. All seine geistigen und emotionalen Tätigkeiten sind der Autorität seiner Primärgruppe unterworfen [man denke an Vespers nahtlosen Übergang aus der hitlergläubigen ›Primärgruppe‹ seiner Familie in die ›Primärgruppe‹ der linken Studentenschaft, Anm. v. J. R.]. Daher sind sein Glaube und seine Einsichten nicht wirklich das, was er glaubt und einsieht. Er kann Zuneigung fühlen, aber es ist eine Art animalischer Zuneigung, die Wärme des Stalles und nicht menschliche Liebe […]. Ein inzestuös orientierter Mensch fühlt sich denen, mit denen er vertraut ist, nah verbunden. Doch ist er nicht imstande, sich eng an den ›Fremden‹ anzuschließen, das heißt an den Menschen als solchen. Bei dieser Einstellung werden alle Gefühle und Ideen, anstatt als gut oder schlecht oder wahr oder falsch, nach dem Maßstab ›vertraut‹ oder ›nicht vertraut‹ beurteilt« (Fromm: p. 73; Hervorhebung im Original). Ebd.: p. 74. Ebd.: p. 72. Marcuse: p. 264. Ebd. Ebd.: p. 265. Ebd. Ebd.

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Anm. v. J. R.] […] was to smooth over the fundamental antagonisms to which it referred«707. In der Reise wird somit ein genuin Marcusescher Ödipuskomplex gestaltet, der zwar, wie bei Fromm, »aus der Sphäre der Sexualität auf diejenige der zwischenmenschlichen Beziehungen«708 projiziert wird, dessen aufrührerische, vatermörderische und libidinöse Implikationen aber erhalten bleiben – Vespers Ödipuskomplex ist ja gerade nicht der pathologische Ausdruck des Wunsches, »ein Kind zu bleiben«709, sondern, eben, eine prototypische »Schlacht gegen all das, wofür das Realitätsprinzip steht«710. An das in dieser Hinsicht einschlägigste Zitat soll an dieser Stelle nochmals erinnert werden: Später nahm ich die Axt, die immer am Kopfende seines Bettes stand und zerschlug diese Achse [zwischen dem Vater und Hitler] in nachträglicher Wut. […] Aber das war nur noch eine symbolische Handlung. Denn längst hatte ich meine Mutter geliebt, die dalag mit gespreizten Schenkeln und mich erwartete.711

In der Reise begegnet also eine an Herbert Marcuse geschulte Sichtweise auf die Psychoanalyse im Allgemeinen und den Ödipuskomplex im Besonderen. Vor diesem Hintergrund werden die desparaten masochistischen Passagen des Werks vielleicht verständlicher : Dem Glauben an das kritische Potenzial der Psychoanalyse im Gefolge Marcuses entspricht eben nicht nur Vespers ebenfalls radikal kritische Gestaltung des eigenen Ödipuskomplexes, sondern auch sein fundamentales Misstrauen gegen alle möglichen Therapieversuche, die ihm zugemutet werden und hinter denen er – im Falle der beschriebenen Heilanstalten nicht zu Unrecht – staatlich sanktionierte Normierungsbemühungen gegen ein Subjekt sieht, dessen »Unsicherheit rational und vernünftig sein könnte, […] [und] [dessen] Destruktivität tatsächlich konstruktiv sein könnte«712. So wird klarer, weshalb sich Vesper in seinen Neurosen gleichsam ge707 708 709 710 711 712

Jay : p. 109. Fromm: p. 72. Ebd. Marcuse: p. 265. DR: p. 222; im Original kursiv. Marcuse: p. 251 f. Am Rande sei erwähnt, dass Marcuses und Vespers Ablehnung einer polaren Konzeption von geistiger Gesundheit und ihre Skepsis gegenüber ›konformistischen‹ Therapieversuchen in der Gegenwartsliteratur noch oder wieder virulent sind. Der erfolgreiche amerikanische Autor Jonathan Franzen kämpfte in den Neunzigerjahren mit einer depressiven Erkrankung, die sicherlich unter anderen Vorzeichen stand als die psychischen Leiden Vespers, aber von einer ähnlichen Verzweiflung an der Normativität einer ›gesunden‹ Haltung und Lebensführung geprägt war. In seinem berühmten Essay »Why bother?« stellt Franzen seiner Epoche eine vernichtende Diagnose, die so auch aus der Feder Vespers oder Marcuses stammen könnte: »[W]e live in a reductively binary culture: you’re either healthy or you’re sick, you either function or you don’t. And if that flattening of the field of possibilities is precisely what’s depressing you, you’re inclined to resist participating in the flattening by calling yourself depressed. You decide that it’s the world that’s sick,

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mütlich einzurichten scheint und in selbstquälerischer Weise von seinen psychischen Schädigungen berichtet: Ein Heilungsversuch würde ihn in jedem Fall zwingen, Kompromisse einzugehen, das ›Realitätsprinzip‹ zu akzeptieren, und dazu scheint er nicht bereit zu sein. Vesper erscheint also als Kranker, der die Heilung gar nicht suchen darf, weil ihn in Wirklichkeit nur die »Krankheit seiner Zivilisation«713 angesteckt hat und die vermeintliche Heilung des Individuums nichts als eine Anpassung an die kranke Gesellschaft bedeuten würde. Dieses Dilemma, das an den romantischen Topos des gerade durch seine Krankheit besonders produktiven und hellsichtigen Künstlers gemahnt, wird nur ersichtlich, wenn man die Reise gleichsam durch die Linse von Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft liest. Dass Lubich und andere Interpreten ebendies gerade nicht tun, dass sie also Vespers subtile Verweise auf eine psychoanalytische Theorie Marcusescher Prägung weitgehend übersehen und ohnehin eine problematische Ineinssetzung von Erzählfigur und realem Autor vornehmen, überrascht an dieser Stelle nicht weiter. Jedenfalls bleibt es dabei: So wie Vesper schreibt kein Faschist über sich selbst und seine Überzeugungen. In der Tat darf man Die Reise angesichts der vom Autor verspürten und keineswegs verschwiegenen Selbstzweifel, angesichts seiner Unfähigkeit, an eine Heilung seiner psychischen Leiden zu glauben, und angesichts seiner teils brutalen und masochistischen Selbstdekonstruktion nicht als Überzeugungsliteratur bezeichnen; angemessener wäre es, von Verzweiflungsliteratur zu sprechen. Bei Lubich, Schneider und Zschachlitz, aber auch bei Koenen, der Vesper ungerechterweise ein terroristisches Gewaltpotenzial zuschreibt, das dieser nie auslebte, wird letztlich auf spekulative, oberflächliche, und polemische Weise und auf der Basis eines in dieser Form ungelebten Lebens ein vernichtendes Urteil über den Menschen Bernward Vesper gefällt. Das ist verfehlt und geschmacklos und, literaturwissenschaftlich betrachtet, nicht nur methodisch äußerst zweifelhaft (Autor und Erzähler werden, wie gesagt, als identische Entitäten behandelt), sondern auch vollkommen irrelevant. Diese Feststellung soll die unbestritten problematischen Aspekte der Reise, die hier identifiziert wurden, keineswegs relativieren. Festzuhalten ist nur, dass Lubichs und Koenens übertriebene Schlussfolgerungen, die Vesper als potenziellen Terroristen und »verkappten Faschisten« erscheinen lassen, keinen Erkenntnisgewinn bringen. and that the resistance of refusing to function in such a world is healthy. […] The invitation to leave your depression behind, whether through medication or therapy or effort of will, seems like an invitation to turn your back on all your dark insights into the corruption and infantilism and self-delusion of the brave new McWorld« (Franzen, Jonathan: »Why bother? (The Harper’s Essay)«. How to be alone. New York: Farrar, Straus & Giroux, Picador, 2002: p. 55 – 97. Hier: p. 72). 713 Marcuse: p. 241.

5. Ambivalente Gewaltästhetik und Probleme der Subjektkonstitution in Vespers ›Romanessay‹, oder: zu einem neuen Verständnis der Reise

Andrew Plowman ist zuzustimmen, wenn er festhält, dass »critics […] would […] do better to consider what prevented [Vesper] from following the path of his fianc¦e«714 – interessanter als Lubichs Pseudo-Dekonstruktion der Reise und die damit einhergehenden moralischen Urteile über ihren Autor ist doch die Frage, was Vesper trotz seines Hasses und seiner apologetischen Haltung zu revolutionärer Gewalt von terroristischen Aktivitäten abhielt. Hierzu haben Plowman und Gerrit-Jan Berendse anschlussfähige Thesen vorgebracht, welche sich in beachtenswerter Weise von der ›entlarvenden‹ Rezeptionstradition der Reise abheben, die Lubich paradigmatisch repräsentiert und an der Koenen und Zschachlitz zumindest partizipieren. Sie sollen in der Folge kombiniert werden und uns als Fundament für die zusammenfassende Betrachtung unserer neuen Erkenntnisse über Die Reise dienen. Zwar ordnet auch Berendse Die Reise der neuen Subjektivität zu715, zeigt aber sorgfältig auf, dass die Semiotik der Gewalt in der Reise nichts mit der von der RAF gepflegten Instrumentalisierung und Repräsentation von Gewalt zu tun hat – dass die Bildsprache der Reise also bei aller Radikalität und bei allem Hass weit von der Ikonographie des Terrorismus entfernt ist. Man vergegenwärtige sich an dieser Stelle noch einmal die »Körperpolitik«716 der RAF, die den menschlichen Körper (und die Spuren von Gewaltausübung an demselben) primär als »Propagandamaterial«717 begriff. Dabei konnte der eigene Körper, beispielsweise im Rahmen eines Hungerstreiks, ebenso gut zur »Waffe«718 werden wie die Körper der politischen Gegner, welche die RAF mit beunruhigendem Geschick in einer Art »Leichenschau«719 zu inszenieren wusste:

714 715 716 717 718 719

Plowman: p. 508; Hervorhebung nicht im Original. Berendse: p. 319. Ebd.: p. 320. Ebd. Vgl. Holger Meins’ Ausführungen zur »methode MENSCH« in das info: p. 8, p. 66 f. Berendse: p. 321.

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Die reproduzierten Körper prominenter Opfer und Täter des Terrors auf den Straßen, […] aber auch von den tot aufgefundenen Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin reichen über ihren dokumentarischen Wert hinaus, dienten sie doch vor allem propagandistischen Zwecken. […] Die Leiche lässt sich in ihrer Verbildlichung nicht als bloße Resultante des Aufpralls entgegengesetzter Ideologien ad acta legen [sic], sondern sie erreicht den Status des Emblems der Gewalt. […] Die Reproduktion der Bilder, die den Platz der Worte eingenommen hatte, glich einer öffentlichen Hinrichtung.720

Die RAF operierte demnach sehr bewusst und präzise, was die Semiotik ihrer Taten anging, stets im Wissen, dass die »Wirkung der terroristischen Anschläge […] durch die mediale Aufmerksamkeit erhöht«721 werden konnte. Dass die RAF den potenziellen agitatorischen »Nutzen«722 der Massenmedien klar erkannte, ist angesichts der bekannten Abneigung der 68er und besonders der RAF gegen die Medien723 leicht zu übersehen – spätestens im Kontext der Schleyer-Entführung 1977 aber lässt sich klar zeigen, dass sich die Terroristen bemühten, über die Medien vermittelte Symbolpolitik zu betreiben: Eine der zentralen »Forderungen« der RAF war die Veröffentlichung der »Fotos und Videobotschaften von Hanns Martin Schleyer«724, die allerdings vom Krisenstab der Bundesregierung nicht (beziehungsweise nicht im gewünschten Ausmaß) gewährt wurde725. Stefan Wisniewski, der maßgeblich an der Schleyer-Entführung beteiligt war, zeigte sich noch 1997 überzeugt: »Wären die [Aufnahmen] im Fernsehen veröffentlicht worden, wäre es für die Regierung sehr schwer geworden, einen Austausch abzulehnen«726. Diese Codierung von Gewalt, die menschliche Körper als »Propagandamaterial«727 definiert, verknüpft Berendse überzeugend mit Roland Barthes’ Konzept des studiums728. Dabei handelt es sich, in Barthes’ etwas nebulösen Formulierungen, um ein »Element[]«, das sich beim Betrachten eines Bildes – 720 Ebd.: p. 321 f. 721 Glaab, Sonja: »Die RAF und die Medien in den 1970er Jahren«. Medien und Terrorismus. Auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung. Hg. von Sonja Glaab. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2007 (= Wissenschaft & Sicherheit, Bd. 3): p. 31 – 50. Hier : p. 33. 722 Ebd.: p. 37. 723 Man denke nur an die Anti-Springer-Kampagnen und besonders an Gudrun Ensslins durchaus repräsentative Auffassung der Bild-Zeitung als »4 – 8 Millionenfache[s] tägliche [s] unbestrafte[s] Verbrechen am Menschen« (Ensslin, Gudrun: »Zieht den Trennungsstrich, jede Minute«. Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972 – 1973. Hg. von Christiane und Gottfried Ensslin. Hamburg: Konkret Literatur Verlag, 2005. Hier: p. 43). 724 Glaab: p. 45. 725 Vgl. Wisniewski, Stefan: »Wir waren so unheimlich konsequent…« Ein Gespräch zur Geschichte der RAF. Berlin: ID-Verlag, 32003. Hier: p. 57. 726 Ebd.: p. 39. 727 Berendse: p. 320. 728 Barthes’ konsequente Kursivschreibung gewisser Schlüsselbegriffe wird hier übernommen.

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Barthes interessiert sich primär für die Fotografie – »manifestieren« kann: Das studium »verweist« den Rezipienten des Bildes »stets auf eine konventionelle Information«; es geht also nicht um eine »Gemütsbewegung« – oder wenn, dann wird sie »durch das vernunftbegabte Relais einer moralischen und politischen Kultur gefiltert« –, sondern um »eine Art allgemeiner Beteiligung«, die Fotografien beispielsweise »als Zeugnisse politischen Geschehens«729 versteht. Und immer begegnen im studium die »Intentionen des Photographen«, und immer sieht man sich gezwungen, sich mit ihnen zu »beschäftigen«: »Das studium ist eine Art Erziehung«730. Ebendieser Kategorie des studiums, die eine rein intellektuelle, illustrative und didaktische Wirkungsästhetik bezeichnet, entsprechen die »Dokumentationen des Todes, wie sie im bundesrepublikanischen Blätterwald erschienen«: Durch die Einbettung der Bilder in der Gattung der modernen Emblematik und durch die allegorische Disposition bekommen sie den Status der Illustration […]. Das Sistieren der Bedeutungsvielfalt evoziert eine Verengung des Blickfeldes, das in den Bereich der ideologischen Gewissheit, nicht der ästhetischen Verunsicherung und des Staunens münden soll.731

Auf dieser Basis dürfen wir mit Berendse festhalten, dass Gewalt in der Reise zwar sehr präsent ist, aber auf ganz andere Weise codiert und vermittelt wird als in den akribisch inszenierten (und von der Presse effektvoll fotografierten) Taten der RAF. Vesper setzt »alles daran, sich bei der Darstellung von Gewalt und Tod einer statischen Kodierung« im Sinne des studiums »zu widersetzen«732. In seinen Schilderungen physischer und psychischer Gewalt, beispielsweise in den Erinnerungen an Gudrun Ensslin und den Vater, die oft »zugleich liebevoll[] und horrend[]« sind, begegnet eine »Ambivalenz«733, die man in der emblematischen und didaktischen Ikonographie der Terroristen vergeblich sucht. Vesper unterläuft »die tradierte Gewaltikonographie« zuletzt endgültig, »indem er sich selbst in seinen autobiographischen Aufzeichnungen der Destruktion unterzieht«734. Im Unterschied beispielsweise zu den Hungerstreiks der RAF hat Vespers literarischer Masochismus nichts mit einer Selbststilisierung zum Märtyrer zu tun, denn die in der Reise »generierten destruktiven Energien zielen« 729 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989. Hier: p. 33 ff. 730 Ebd.: p. 37. 731 Berendse: p. 322. 732 Ebd.: p. 323. 733 Ebd.; Hervorhebung im Original. Vgl. die eindringliche Beschreibung der Trauer Vespers um den toten und eigentlich ja verhassten Vater oder seine vielen ambivalenten Erinnerungen an das Verhältnis zu Gudrun Ensslin, das er, wie erwähnt, nicht zu Unrecht als »sado-masochistisch[]« bezeichnet (DR: p. 676). 734 Berendse: p. 324; Hervorhebung im Original.

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nicht auf einen propagandistischen Effekt, sondern allein »auf den Privatkörper des Autors«735. Man denke nur an Passagen wie die folgenden, die Vespers Suizid geradezu vorwegnehmen: »Schreiben: Harakiri, ich ziehe meine Gedärme heraus«736 ; »ob es günstiger war, sich nach dieser Geschichte aufzuhängen?«737; »ich kaue rupfend an den Schleimhäuten. Masochismus!«738 Indem Vesper seinen eigenen Körper einem gnadenlosen »anatomischen Blick[]« aussetzt739, entzieht er sich der »Körperpolitik« der RAF und beschreitet somit »einen anderen Weg in Sachen Kodierung von Gewalt«740, abseits des manichäischen »Täter-Opfer-Schema[s]«741 der Terroristen. Vespers Gewaltbilder sind wirkungsästhetisch in erster Linie nicht der Agitation, sondern der Irritation verpflichtet. Ihnen entspricht Roland Barthes’ Begriff des punctum, der das Konzept des studiums ergänzt und erweitert: Im Gegensatz zum studium, das man aus intellektuellem Interesse – oder weil man es sich gewohnt ist – »aufsucht«, »schießt« das punctum »wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um« den Rezipienten zu »durchbohren«742. Das punctum ist »jenes Zufällige« und höchst subjektive Element, das subtile Detail, welches das wohlgeordnete studium »aus dem Gleichgewicht bringt«743. Die in der Reise vorgenommene »Verbildlichung der Gewalt«744 hat also, um die Barthessche Terminologie zu verwenden, wenig mit studium, aber viel mit punctum zu tun: Vespers Schilderungen von masochistischer Gewalt, aber auch beispielsweise von Gewalt gegen Tiere745 sind kaum politisch grundiert, sondern, ganz im Sinne des punctum, »auf die herausstechenden Elemente«746 fixiert (hier ist primär die eindringliche Beschreibung der Augenverletzung zu nennen, die Vesper als Knabe in der Schmiede des Gutshofs erleidet747). Dem punctum eignet ja gerade die Tatsache, dass es eine subjektive Reaktion auf einen ästhetischen Stimulus darstellt, also für gewöhnlich keinen gemeinsamen Nenner mit der Sichtweise Dritter aufweist. Das Resultat sind literarische »Bilder«, die »sich der Deko-

735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745 746 747

Ebd.: p. 320; Hervorhebung nicht im Original. DR: p. 106. Ebd.: p. 21. Ebd.: p. 190. Konsequenterweise stellt er seinen Körper denn auch in einem in der Reise abgedruckten Brief dem anatomischen Institut der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt am Main zur Verfügung (DR: p. 528 f.). Berendse: p. 320. Ebd.: p. 324. Barthes: p. 35. Ebd.: p. 36. DR: p. 324. Vgl. ebd.: p. 318 ff. Berendse: p. 324. DR: p. 383 f.

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dierung [versperren]«, die »irritieren« und »destabilisieren[]«748. Sie entsprechen somit kaum der Symbolik der Gewalt, wie sie die RAF pflegte. Vespers Beschreibungen erlittener, miterlebter oder masochistisch herbeigesehnter Gewalt sind irritierende, kurz aufblitzende Details und Geschichten, nicht propagandistische Statements. Man darf zwar annehmen, dass sie primär eine möglichst verstörende Literarisierung seiner im Kontext der ›Vertrauenskrise‹ erlebten Traumatisierungen zum Ziel und damit in gewisser Weise durchaus agitatorische Funktion haben – dabei lassen sie aber stets eine gewisse Ambivalenz zu und unterminieren in ihrer oft masochistischen Anlage alle simplen Täter-Opfer-Schemata. Damit ist Vesper weit entfernt von den RAF-Terroristen, deren Ambition es ja gerade war, »sich nicht als Opfer zu geben, denn im Kampf [war] jeder ein Täter«749. Berendses Arbeit darf als weitere Stütze für unsere Kritik an der Lubichschen Rezeptionstradition der Reise dienen, welche wir auch bei Koenen und Zschachlitz wiederfinden. Solche ›entlarvenden‹ Interpretationen der Reise tun nicht nur den biographischen Tatsachen Gewalt an. Sie zeugen zudem von wenig sorgfältigen Lektüren des Primärtexts. Wer genau hinschaut, muss die erwähnten selbstkritischen Passagen erkennen, die eine genuin terroristische oder faschistische Denkweise gar nicht zulassen würde, und muss eben auch, wie Berendse, erkennen, dass in der Reise eine Ästhetik der Gewalt begegnet, welche sich von derjenigen der RAF stark unterscheidet. Wenn aber Lubich die in der Reise zur Darstellung gebrachte ›Vertrauenskrise‹ als Manifestation einer kryptofaschistischen Haltung des Autors deutet, lässt das auf noch fundamentalere Irrtümer schließen – in anderen Worten: Lubich verdreht nicht nur Vespers Biographie und den Text der Reise, er verkennt die Zielrichtung, ja den Daseinszweck des Buches. In Bezug auf Die Reise ist es uns vielleicht ausnahmsweise gestattet, die zu recht verpönte Frage nach der ›Autorintention‹ zu stellen. Wir haben es mit einem in weiten Teilen faktualen Text zu tun, der noch dazu in einzigartiger Weise den realen Autor selbst thematisiert, destruiert und dekonstruiert – einem Text also, über den man das Motto »[s]chreiben: Harakiri«750 setzen könnte und der mithin untrennbar mit der Person des Autors verknüpft ist. Man darf ohne Übertreibung sagen, dass der Schreibprozess wohl wesentlich zu Vespers psychischer Erkrankung und seinem Selbstmord beitrug: »Die Arbeit am Buch hängt mit meiner Krankheit unmittelbar zusammen. […] Ist die Psychose praktisch die Antwort auf den Bewusstwerdungsprozess?«751 Angesichts dieser Tatsache darf man schon fragen, welche Ziele ein Schreiben als 748 749 750 751

Berendse: p. 324. Ebd.: p. 330. DR: p. 116. Ebd.: p. 587.

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selbstmörderische Praxis eigentlich verfolgt, welchen Intentionen ein selbstzerstörerischer Text wie Die Reise entspringt. Lubich bietet als Antwort auf diese Frage nichts Substanzielles: Vesper verfolge das »Ziel[] […] eine[r] radikale[n] Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklungsgeschichte […] [und] mit der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland«752. Der Text führt natürlich weit über diese »Ziele« hinaus, und sie erklären nicht die von Vesper empfundene Notwendigkeit eines »Bewusstwerdungsprozess[es]«, der schließlich ein selbstzerstörerisches Buch entstehen lässt. Auch die in dieser Arbeit bislang gewonnenen Erkenntnisse vermögen die Frage nach den ›Zielen‹ der Reise noch nicht in befriedigender Weise zu beantworten. Wir haben festgestellt, dass sich Vespers Aufzeichnungen weder in eine artifizielle literaturgeschichtliche Kategorie wie die der ›Väterliteratur‹ noch in eine unpassende wie die der neuen Subjektivität eingliedern lassen – im Text wird vielmehr im Geiste des um 1968 propagierten ›Todes der Literatur‹ mit agitatorischem Gestus eine objektivierte Darstellung einer allgemein empfundenen ›Vertrauenskrise‹ vorgenommen, deren Wurzeln und Skopus wir ebenfalls untersuchten. Wer nun wie Lubich behauptet, eine solche literarische Tätigkeit entspringe einfach dem »Ziel[]«753, sich mit gewissen Umständen und Gegebenheiten auseinanderzusetzen, vereinfacht zu sehr. Die Grund- und Möglichkeitsbedingungen eines Textes wie Die Reise liegen tiefer und sind komplexer, und wir konnten sie bisher nicht im angemessenen Umfang zur Sprache bringen. Eine große Sensibilität für diese noch kaum behandelten Fragestellungen beweist Andrew Plowman, der sich in seiner nüchternen Lektüre der Reise nicht für ›verkappten‹ Faschismus interessiert und sich auch keine Erklärungen für die Genese des bundesdeutschen Linksterrorismus erhofft, sondern einfach sorgfältig die Fragen herausarbeitet, auf welche Die Reise eine Antwort zu geben scheint. Dieses Vorgehen erfordert »an adequate treatment of the text as autobiography, with all the theoretical and literary considerations that this involves«754. Das bedeutet unter anderem auch, dass man Vespers Interesse an der eigenen Subjektivität nicht einfach instinktiv und anachronistischerweise mit der Epoche der neuen Subjektivität in Verbindung setzen755, sondern ein Bewusstsein für die theoretischen und geistesgeschichtlichen Ursachen dieses Interesses entwickeln sollte. Plowmans Lektüre der Reise soll in der Folge im Detail nachvollzogen werden. So wird es uns hoffentlich gelingen, durch die Kombination und Erweiterung der Ansätze Berendses und Plowmans Die Reise endgültig von allem (fehl-)interpretatorischen Staub zu befreien, einen genuin 752 753 754 755

Lubich: p. 70. Ebd. Plowman: p. 509. Wie das zum Beispiel Berendse (p. 319) und Kosta (p. 220) tun.

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neuen Blick auf den Text zu gewinnen, und damit den Boden zu bereiten für eine abschließende und zusammenfassende Betrachtung der im ersten Teil dieser Arbeit gemachten Erkenntnisse. Um zu einem derartigen neuen und unbefrachteten Verständnis der Reise zu gelangen, muss man sich zunächst und einmal mehr die Mühe machen, den Text in seine spezifischen geistesgeschichtlichen Kontexte einzuordnen (was beispielsweise Lubich unterlässt, mit fatalen Folgen). Bekanntlich ging den »Protestbewegungen des Jahres 1968« sowohl »in den USA« als auch der »Bundesrepublik die Formierung einer intellektuellen neuen Linken bzw. New Left voraus«756. »[S]eit dem Ende der fünfziger Jahre« und nicht zuletzt als Reaktion auf die »Enthüllungen des stalinistischen Terrors« und die »Unterdrückung der Demokratiebewegung in Ungarn durch sowjetische Truppen« erarbeitete diese New Left vor allem in Plattformen wie der New Left Review ein »neues linkes Selbstverständnis«757. Die für uns wichtigste Frage, die durch dieses neue »Selbstverständnis« aufgeworfen und beantwortet wurde, ist die Frage nach dem ›revolutionären Subjekt‹: Die Exponenten der New Left stellten fest, dass die Mitglieder der »Arbeiterklasse«, die Träger der Revolution im orthodoxen Marxismus, in der saturierten Nachkriegsgesellschaft wenig »revolutionären Elan«758 an den Tag legten. Wie auch Habermas erkannte, war »der nach wie vor bestehende Gegensatz sozioökonomischer Klassen«759 durch den Nachkriegsboom in den westlichen Staaten soweit abgeschwächt worden, dass die eigentlich immer noch unterdrückten und ausgebeuteten Klassen pazifiziert worden waren und eben kaum noch »revolutionären Elan« zeigten: »Die Verteilung sozialer Entschädigungen kann, auf der Grundlage eines institutionalisierten wissenschaftlich-technischen Fortschritts, nach allen Erfahrungen so gesteuert werden, dass der systemgefährdende Klassenkonflikt […] mit größter Wahrscheinlichkeit latent bleibt«760. So kamen prominente Vertreter der New Left wie C. Wright Mills zum Schluss, dass »[n]icht mehr nur die Arbeiterklasse, […] sondern […] vielmehr die Studenten und jungen Kulturproduzenten« als »revolutionäres Subjekt zu betrachten«761 seien. In Mills’ Worten: »The independent artist and intellectual are among the few remaining personalities equipped to resist and to fight the stereotyping and consequent death of genuinely lively

756 Schmidtke, Michael: Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA. Frankfurt & New York: Campus Verlag, 2003. Hier: p. 33; Hervorhebungen im Original. 757 Ebd. 758 Ebd.: p. 36. 759 Habermas: p. 194. 760 Ebd. 761 Schmidtke: p. 36.

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things«762. Den Gedanken, dass die Arbeiterklasse »the […] most important historic agency« bilde, hält er aufgrund der »historical evidence« für reine »labor metaphysic«, für »Victorian Marxism«, kurz: für »unrealistic«763. Angesichts der »politischen Apathie« der Arbeiterklasse revidierten reformerische linke Denker wie Mills also Ende der Fünfzigerjahre einen Kernpunkt der marxistischen Theorie, indem sie »der jungen Intelligenz ein politisches Mandat zu[schrieben]«764, das vordem allein dem Proletariat zustand. Denn »who is it that is getting fed up? Who is it that is getting disgusted with what Marx called ›all the old crap‹? Who is it that is thinking and acting in radical ways? All over the world […] the answer’s the same: it is the young intelligentsia«765. Diese Volte, welche einer neuen Klasse das Potenzial zugestand, sozialen Wandel auszulösen, wird in der Theorie auch als »Substitutionalismus«766 bezeichnet; die Arbeiterklasse 762 Mills, C. Wright: »The Powerless People. The Role of the Intellectual in Society«. The Politics of Truth. Selected Writings of C. Wright Mills. Hg. von John H. Summers. Oxford: Oxford University Press, 2008: p. 13 – 23. Hier: p. 19. 763 Mills, C. Wright: »Letter to the New Left«. The Politics of Truth (siehe Fn. 764): p. 255 – 266. Hier: p. 263; Hervorhebung im Original. 764 Schmidtke: p. 39. 765 Mills (Letter to the New Left): p. 264. 766 Vgl. hierzu: Markovits, Andrei S. und Philip S. Gorski: The German Left. Red, Green and Beyond. Cambridge: Polity Press, 1993, p. 50; Bock, Hans Manfred: Geschichte des ›linken Radikalismus‹ in Deutschland. Ein Versuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, p. 228 f. Die substitutionalistische Debatte über die Rolle des Proletariats als ›Träger‹ der Revolution begann allerdings nicht erst mit Mills und der New Left. Bereits Georg Luk‚cs äußerte im 1922 publizierten Essayband Geschichte und Klassenbewusstsein Zweifel am revolutionären Eifer der Proletarier und konstatierte – man denke an Vespers bissige Bemerkung über die »Schrebergärten« der Westermann-Arbeiter – eine »Verbürgerlichung jener Arbeiterschichten […], die aus den Monopolprofiten […] eine – ihren Klassengenossen gegenüber – bevorzugte Stellung erhalten haben. Diese Schicht hat sich mit dem Eintritt in die imperialistische Phase des Kapitals überall entwickelt, und sie ist zweifellos eine wichtige Stütze der allgemein opportunistischen, revolutionsfeindlichen Entwicklung großer Teile der Arbeiterklasse geworden«. Dementsprechend postuliert Luk‚cs für das Gelingen kommunistischer Revolutionen eine Interdependenz zwischen dem Proletariat und anderen gesellschaftlichen Schichten: »[E]s ist ein qualitativer und prinzipieller Unterschied, ob in einer Lage, wo der ökonomische Prozess im Proletariate eine spontane Massenbewegung hervorruft, der Stand der ganzen Gesellschaft ein […] stabiler ist oder sich in ihm eine tiefgehende Umgruppierung aller gesellschaftlichen Kräfte, eine Erschütterung der Machtgrundlagen der herrschenden Gesellschaft vollzieht. Darum gewinnt die Erkenntnis von der bedeutsamen Rolle nicht proletarischer Schichten in der Revolution, von ihrem nicht rein proletarischen Charakter eine so entscheidende Bedeutung« (Luk‚cs, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik. Neuwied und Berlin: Luchterhand, 1970 (= Sammlung Luchterhand 11). Hier : p. 465 f., p. 468 f.). Der Gedanke, den Luk‚cs hier subtil entwickelt, portiert in nuce bereits das Konzept des Substitutionalismus, impliziert Luk‚cs doch, was Mills Jahre später explizit macht: dass es nämlich »[a]ngesichts der sich abzeichnenden fehlenden Handlungsdisposition des Proletariats« noch »andere[] Gruppe[n]« geben müsse, welche »die anzustrebende revolutionäre Bewegung initiieren« könnten – eben zum Beispiel »die literarische Intelligenz«, bei

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wird ›substituiert‹ durch die Studenten und Intellektuellen, die nun einmal einen größeren »revolutionären Elan« haben: [Rudi Dutschke’s and Bernd Rabehl’s] ›anti-authoritarian‹ current saw an objectively depoliticized mass society which only marginalized groups and outsiders could reinvigorate politically. […] [W]e argue[] that one of the New Left’s main characteristics was its substitution of students and other decommodified – often marginalized – groups for the traditional Left’s working class as the subject of history.767

Ebendieser Substitutionalismus – oder besser : das »problem of revolutionary subjectivity«768 – bildet die Grundlage für ein richtiges Verständnis der internationalen Protesterscheinungen um 1968 und damit der Reise. Mit Blick auf diese Zusammenhänge wird deutlich, dass Vespers Ablehnung allen »subjektivistische[n] Blödsinn[s]«769 nicht nur mit dem ›Tod der Literatur‹ zu tun hat, sondern eben auch mit der damals herrschenden Überzeugung, der Intellektuelle habe sich als ›revolutionäres Subjekt‹ neu zu ›erfinden‹. Man vergegenwärtige sich noch einmal den in dieser Hinsicht exemplarischen Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums der Kommune 2, der postuliert, dass »[d]er antiautoritäre Aufstand der bürgerlichen Individuen […] immer auch ein Aufstand gegen sich selbst [ist]«770. Schon die Grundfrage dieses wichtigen Pamphlets scheint sich auf die Theorien der New Left und das Konzept des Substitutionalismus zu stützen und ist ohne Kenntnis dieses geistesgeschichtlichen Hintergrunds kaum verständlich: »Wie können bürgerliche Individuen ihre bürgerliche Herkunft und ihre davon geprägte psychische Struktur soweit überwinden, dass sie zu einer kontinuierlichen Praxis fähig werden?«771 In diesem Kontext wird Die Reise als »revolutionary case history«772 lesbar, als prototypische Fallstudie eines substitutionalistischen Versuchs des Autors, sich vom »Kind von Mittelklasseeltern«773 zu einem »subject poised to engage in transformative action«774 zu wandeln. Diese Rolle nämlich, die eigentlich den Proletariern vorbehalten wäre, steht Intellektuellen wie Vesper um 1968 dank der New Left plötzlich offen (wobei wir beim Blick auf Mills’ Schriften noch feststellen werden, dass Vesper und die Kommunarden die Millsschen Thesen missverstanden und höchst unsorgfältig rezipierten). Wie genau diese

767 768 769 770 771 772 773 774

Luk‚cs aber insbesondere auch »die Partei« (Simonis, Linda: »Georg Luk‚cs«. Klassiker der modernen Literaturtheorie. Hg. von Mat†as Mart†nez und Michael Scheffel. München: C. H. Beck, 2010: p. 33 – 56. Hier : p. 45). Markovits und Gorski: p. 50. Plowman: p. 514. DR: p. 632. Kommune 2: p. 308. Ebd.: p. 11. Plowman: p. 513. DR: p. 238. Plowman: p. 513.

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Analyse zutrifft, wird schon bei einer oberflächlichen Lektüre der Reise deutlich: An vielen Stellen behandelt Vesper ganz direkt das Problem der substitutionalistischen Herausbildung einer revolutionären Identität, mit dem sich Individuen konfrontiert sehen, die im orthodoxen Marxismus eben gerade nicht die Revolution vorantreiben. So »beneidet« er beispielsweise Pierre ValliÀres, den geistigen Anführer der Front de lib¦ration du Qu¦bec, um dessen »proletarische Abstammung«; er selber, als »Kind[] der Bourgeoisie«, habe »gar keine andre Wahl als [seine] Klasse zu verurteilen« und müsse ein »viel radikaleres Umdenken, eine tiefgreifende Umstrukturierung«775 am eigenen Charakter vornehmen. An anderer Stelle fragt Vesper : »was sollte man noch tun?« – die Antwort: »sich auf die jugend beschränken[,] hier würde es leichter sein«776. Kurz: »der kampf geht weiter«, und dazu gehört »auch der kampf, den wir gegen die reste der bürgerlichen verblendung in uns führen«777, ein »kampf«, der für einen Intellektuellen wie Vesper also grundsätzlich in der Überwindung seiner bisherigen »bürgerlichen« Identität und im Aufbau einer neuen, genuin revolutionären Identität besteht, wozu ihn das Konzept des Substitutionalismus ermächtigt. Am deutlichsten wird Vespers Bewusstsein für die Frage der revolutionären Subjektivität aber in der bereits diskutierten Passage über den Westermann-Verlag, in welcher – dies zur Erinnerung – eine Inversion der Marxschen Kategorie der ›entfremdeten Arbeit‹ begegnet: Die Arbeit der »Angestellten« wird, wie gezeigt, als wahrhaft entfremdet, die Arbeit der Proletarier im »Maschinenraum« dagegen als »sinnvoll[]«778 definiert. Wir hatten diese Revision eines Kernbegriffs des marxistischen Denkens zuvor als merkwürdiges Detail abgebucht, das aber jetzt, im Kontext von New Left und Substitutionalismus, einen neuen Sinn erhält: Vesper erlebt im Westermann-Verlag gleichsam am eigenen Leib, dass die Arbeiterklasse träge und apathisch geworden ist und sich nur noch für »Schreberg[ä]rten«, »Briefmarken« und »Krimis«779 interessiert, dass die neuen Opfer der kapitalistischen Ausbeutung im Büro, unter den white-collar-workers780, in letzter Konsequenz auch unter den Intellektuellen und 775 776 777 778 779

DR: p. 445 f. Ebd.: p. 665. Ebd.: p. 632. Ebd.: p. 559 f. Ebd.: p. 561. Vespers Enttäuschung über die Westermann-Arbeiterschaft, aus welcher seine Wendung zum Substitutionalismus resultierte, muss durch die Tatsache vertieft worden sein, dass die Erlebnisse im Verlag ausgerechnet dem Vater Recht gaben: »›Was willst Du‹, sagte mein Vater, ›der deutsche Arbeiter ist immun gegen den Bolschewismus. Er war in Russland, er will sein Häuschen, den Blumentopf im Fenster und keine Kolchose. Darauf kann man sich verlassen‹« (DR: p. 461 f.). 780 Über deren problematischen gesellschaftlichen Status Mills übrigens eine Studie verfasste: Mills, C. Wright: White Collar. The American Middle Classes. Fiftieth Anniversary Edition. Oxford: Oxford University Press, 2002.

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Studenten zu suchen sind – und sie werden in der Folge logischerweise die Träger der ersehnten Revolution sein, nicht die Arbeiter. In Vespers Gespräch mit »Herrn Mackensen«, einem der Inhaber des Westermann-Verlags, wird diese Einsicht durch den Kapitalisten persönlich bestätigt: ›In Wirklichkeit liegt das Geheimnis [des Erfolgs des Westermann-Verlags] in den Köpfen unserer Mitarbeiter. Ich werde ihnen das gleich vorführen.‹ Knopfdruck. Tonband. ›Wissen Sie, mein Chef, der kann heute meinetwegen soviel verdienen, wie er will. Ich bin ihm nicht neidisch. […] Ich habe mir drei Aktien zu 100.– DM gekauft – sie kosteten mich 840 Mark; von den rund tausend ersparten Mark, die ich, Gustav Kleinmann, 46 Jahre alt, besitze, wird dann nicht mehr viel übrig sein. Aber ich besitze ein Scheckbuch und zahle bargeldlos – wie unser Direktor. […] Ich will kein Proletarier und kein Kapitalist sein; mehr, als ich bin, will ich nicht gelten, aber auch nicht weniger. Mein Vater […] würde wahrscheinlich vor mir ausgespuckt haben. Schämst Du Dich nicht, würde er gesagt haben – Du, Du Kapitalist! Das war für ihn das schlimmste Schimpfwort, das es gab. Aber mein Vater ist schon eine Weile tot, und die Zeiten haben sich geändert.‹ Klick. Ende.781

Vesper macht demnach noch als Lehrling die Erfahrung, die in den Schriften der New Left zu diesem Zeitpunkt bereits reflektiert worden war und die Theorie des Substitutionalismus gezeitigt hatte: Er sieht sich mit einer Arbeiterklasse konfrontiert, die saturiert und zufrieden ist und keinerlei Interesse an revolutionärer Tätigkeit verspürt. Die Revolution würden er und seine Generationsgenossen schon selber machen müssen – und so erhält Vespers Gang an die Universität unmittelbar nach der Präsentation dieses Tonbands durch Herrn Mackensen auch eine neue Note: Die Revolution würde unter den verkehrten historischen Gegebenheiten – mit einem trägen Proletariat und entfremdeter Arbeit im Büro statt im Maschinenraum – eher an der Universität zu machen sein als im Betrieb. In Vespers Reise begegnet somit ein theoretisch einigermaßen fundiertes Bewusstsein für die Probleme revolutionärer Subjektivität, die sich einem intellektuellen Linken Ende der Sechzigerjahre stellten. Und auf ebendiese Probleme sucht die Reise eine Antwort zu geben, und zwar durch die bereits diskutierte Schilderung eines objektivierbaren Radikalisierungs- und Selbsterfindungsprozesses, dem eine veritable Selbstdestruktion vorausgeht und der durch die Idee des Substitutionalismus legitimiert ist. Diese Stoßrichtung der Reise erkannte zwar auch Brandstädter, der konstatierte, dass Vesper ex post die eigene Persönlichkeitsgenese […] erforsch[t] und die Bedingungen der Möglichkeit einer neuen Identitätsentwicklung […] prüf[t], welche die Deformationen repressiver Erziehung und den über die Kindheitsjahre hinweg internalisierten Fa781 Ebd.: p. 564; Hervorhebung im Original.

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schismus von Vater und Elternhaus amputiert und einen stabileren Selbstentwurf analog sozialistischer Maximen konstruiert.782

Brandstädter versäumt es aber, die theoretischen Grundlagen von Vespers geplanter »Identitätsschöpfung ex nihilo«783 zu spezifizieren. Wie unser Hinweis auf die New Left zeigt, spielt sich diese »Identitätsschöpfung« ja eben gerade nicht »ex nihilo« ab, und es reicht auch nicht aus, einfach von einem »Selbstentwurf analog sozialistischer Maximen«784 zu sprechen. Vespers weitreichendes Projekt der Selbstdesktruktion und Selbsterfindung muss klarer konturiert, seine theoretischen Fundamente müssen deutlicher herausgearbeitet werden. In einem ersten Schritt zur Konstituierung eines neuen ›revolutionären Subjekts‹ bedient sich Vesper in den langen autobiographischen Passagen der Reise der Theorien Wilhelm Reichs. Auf ihrer Basis hofft er, seine Familie, seine Herkunft und seine Klassenzugehörigkeit zu dekonstruieren – das heißt, in den Worten der Kommune 2, seine von seiner »bürgerliche[n] Herkunft […] geprägte psychische Struktur [zu] überwinden«785. In dieser Anfangsphase der literarisierten Identitätsbildung wird gleichsam eine therapeutische Kommunikationssituation zwischen realem Autor und Leser gestaltet, durch die der »Panzer der Angst«786, den der »autoritäre[] Miniaturstaat der Familie«787 Vesper aufgebürdet hat, nach einem »Bewusstwerdungsprozess«788 – der in der Reise zur Darstellung gelangt und in dieser Arbeit nachvollzogen wurde – durchbrochen werden kann: Legt die Karten auf den Tisch, sagt: Hier bin ich und: Ich habe es gesehen. Das heißt: den Panzer der Angst zerknacken, die ›harte‹ Schale – und dann können wir weitersehn. Innenansicht: Schreiben als sich ›zu Wort melden‹, als Hilferuf. Hier bin ich, mir geht es dreckig, ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen. Aber auch: Mir ist das und das zugestossen, vergleichen wir doch einmal, wie geht es Dir?789

In seiner ungeschönten, selbstanalytischen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit entwirft Vesper demnach mit einiger Akribie ein fast schon modellhaft Reichianisches Szenario – man lese in der Entdeckung des Orgons: Durch den Begriff der ›Panzerschichtung‹ eröffneten sich für die klinische Arbeit viele Möglichkeiten. Die seelischen Kräfte und Widersprüche boten kein Chaos mehr, sondern ein geordnetes, historisch und strukturell begreifbares Gewebe dar. Die 782 783 784 785 786 787 788 789

Brandstädter: p. 159 f. Ebd.: p. 167. Ebd.: p. 160. Kommune 2: p. 11. DR: p. 285; vgl. Reich (Entdeckung des Orgons): p. 106. DR: p. 427; vgl. Reich (Massenpsychologie des Faschismus): p. 49. DR: p. 587. Ebd.: p. 285; Hervorhebungen im Original.

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Neurose jedes einzelnen Falles enthüllte eine besondere Struktur. Es gab einen Aufbau der Neurose entsprechend der Entwicklung. […] Die Logik, mit der sich Schicht um Schicht der Abwehrmechanismen enthüllte und aufhob sagte mir, dass die Schichtung real und objektiv […] vorhanden ist. […] Ein Konflikt, der in einem bestimmten Lebensalter ausgekämpft wurde, lässt regelmässig eine Spur im Wesen zurück. Diese Spur verrät sich als Charakterverhärtung. […] Der Kranke empfindet sie […] als Verlust an Lebendigkeit.790

Ganz im Sinne Reichs ist gerade dieser »Verlust an Lebendigkeit« das Symptom, das Vesper überhaupt erst rebellieren lässt – die Tatsache eben, dass »wir alle betrogen worden [sind], um unsere Träume, um Liebe, Geist, Heiterkeit, ums Ficken […]«791. Auf der zweiten Textebene, die von der ›Reise‹ nach Dubrovnik und München erzählt, den Trip mit Burton beinhaltet und schließlich mit Vespers Autofahrt zu seinem Sohn Felix endet, offenbart sodann vor allem die Drogenerfahrung »a vision of alternative, more liberated forms of human existence«792 (namentlich in Form der Erkenntnis, dass Felix »DIE KLEINE SONNE«793 ist). Diese Drogenerfahrung wird auf der essayistisch gehaltenen dritten Inhaltsebene, die in der unmittelbaren Schreibgegenwart zu situieren ist und beispielsweise die Reflexionen zu »linke und lsd«794 enthält, noch theoretisch vertieft. Für diese Ausführungen stand wohl primär Herbert Marcuse Pate, der in seinem Versuch über die Befreiung den Drogentrip zum Katalysator revolutionärer Tätigkeit nobilitierte: Die heutigen Rebellen wollen neue Dinge in einer neuen Weise sehen, hören und fühlen; sie verbinden Befreiung mit dem Auflösen der gewöhnlichen und geregelten Art des Wahrnehmens. Der ›trip‹ schließt ein, dass sich das durch die etablierte Gesellschaft formierte Ich auflöst – künstlich und kurzfristig. Gleichwohl antizipiert die künstliche und ›private‹ Befreiung in einer verzerrten Form ein Erfordernis der gesellschaftlichen Befreiung: die Revolution muss gleichzeitig eine Revolution der Wahrnehmung sein, welche den materiellen und geistigen Umbau der Gesellschaft begleitet und die neue Umwelt hervorbringt.795

Wie schon die Thesen Reichs796 nimmt Vesper auch diese Theorie Marcuses in fast unveränderter Form in die Reise auf. Die Droge, meint Vesper in Marc790 791 792 793 794 795

Reich (Entdeckung des Orgons): p. 112 f.; Hervorhebung im Original. DR: p. 55. Plowman: p. 511. DR: p. 110. Ebd.: p. 504 ff.; Kapitälchen im Original. Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969. Hier: p. 61. 796 Kosta macht hierzu die überzeugende Bemerkung, dass Figuren wie Reich, Marcuse, Adorno, aber auch Che Guevara oder Ho Chi Minh den 68ern als »symbolic fathers«, als Ersatzväter dienten (Kosta: p. 223).

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useschem Duktus, verhelfe zu einer »vorübergehende[n] Desintegration des neurotischen Zwangscharakters, der als Produkt und Stütze der autoritären Strukturen kapitalistischer Gesellschaften vorherrscht« und »vermittelt« dadurch »eine vollkommen neuartige Erfahrung von sich selbst«: Zwangshandlungen, paranoide Zustände und Psychosen werden bewusst empfunden und können, vor allem dort, wo eine Anleitung besteht, bis auf ihre traumatischen Ursachen zurückverfolgt werden […]. Diese Entdeckungen […] ermöglichen es dem Drogenesser in der auf das Drogenerlebnis folgenden Latenzperiode […] die Phasen seiner psychischen Entwicklung noch einmal zu durchlaufen. Die Wissenschaft müsste zeigen, wie er sich gegenüber dieser neuen Genese bewusst, kontrollierend und korrigierend verhalten kann […].797

Drogenkonsum ist in Vespers Augen also nicht »identisch […] mit Unfähigkeit, den Klassenkampf zu führen«798, sondern bietet im Gegenteil Einsichten über die eigenen »Psychosen« und die eigene psychische »Entwicklung«, die einen umso effektiveren Klassenkampf ermöglichen. Zwar behauptet Vesper gleich im Anschluss, dass die »Charakterstruktur« des »Drogenesser[s]« »unveränderlich[]« sei, dass »jede weitere Befreiung nur noch das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung, die Folge des Sturzes der herrschenden Klasse sein kann«799 – aber aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass er die Droge trotz dieser agitatorischen Rhetorik auch als Korrektiv für individuelle charakterliche ›Fehlentwicklungen‹ versteht. Im Verlauf der Reise nimmt Vesper also eine Selbstdekonstruktion vor und postuliert in »linke und lsd« die Möglichkeit, durch Drogenkonsum »korrigierend« in die eigene Psyche einzugreifen: Wenn der Reichsche Charakterpanzer erst geknackt ist, dies offenbar Vespers Annahme, kann durch den von Marcuse angepriesenen Drogenkonsum der Versuch einer Neuerfindung der eigenen Identität gewagt werden. Diese beiden an Reich und Marcuse orientierten theoretischen Grundpfeiler des Textes werden durch eine Vielzahl von »political reflections«800 ergänzt, die im Erzählverlauf immer stärker in den Vordergrund treten: nämlich die bereits erwähnten »bauelemente des zweiten deutschen faschismus«801, die bewundernde Schilderung der

797 DR: p. 514 f. Brandstädter verweist angesichts solcher und ähnlicher Ausführungen in der Reise auf den Band Acid. Neue amerikanische Szene, den Vesper nachweislich kannte (Brandstädter: p. 163, Anm. 451). Den ebenfalls naheliegenden Hinweis auf Marcuses Text gibt er allerdings leider nicht. 798 Ebd.: p. 507. 799 Ebd.: p. 515. 800 Plowman: p. 512. 801 DR: p. 431 f.; Kapitälchen im Original.

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nahöstlichen Guerilla-Ausbildung802 und die zitierten zahlreichen Verweise auf die »false consciousness of the writer«803. Am Ende bleibt kein Zweifel: [T]he text both theorises and seeks to enact a process of radicalization designed to turn its author into a revolutionary subject […]. […] [I]t is certainly the problem of revolutionary subjectivity that represents the correct context for understanding Vesper’s relationship to the emergence of urban terrorism in the Federal Republic of Germany. […] Die Reise belongs in the context of the ›Substitutionalismus‹ explored by student theorists […].804

Die in der Reise verhandelte ›Vertrauenskrise‹ erhält im Lichte dieser geistesgeschichtlichen Zusammenhänge eine neue Ebene: Sie hat nicht nur den familiären, beruflichen und universitären Raum erfasst, sondern infiltriert offenbar auch das politische Denken – den Proletariern ist, im Wortsinn, nicht mehr zu ›vertrauen‹; die Position des ›revolutionären Subjekts‹ muss neu besetzt werden, und die Reise behandelt nicht zuletzt die Schwierigkeit dieses Unterfangens. Vielleicht sollte man aber gar nicht von Schwierigkeit sprechen, sondern direkt von Unmöglichkeit: dass Interpreten wie Lubich diese Stoßrichtung der Reise – den verzweifelten Versuch der Revolutionierung des erzählenden ›bürgerlichen Subjekts‹ im Geiste des Substitutionalismus – übersehen haben, hängt jedenfalls sicherlich mit der Tatsache zusammen, dass es in der Reise eben beim Versuch bleibt. Schon die Überwindung des familiären Charakterpanzers durch Selbstanalyse und Bewusstwerdung scheitert, was Vesper gegen Ende des Buches selber schonungslos feststellt und was sein Suizid 1971 auf makabre Weise bestätigt: Ich war naiv : aufgeputscht von der Lust, mich in vergangene Zustände zu versetzen, übersah ich ihre Fangarme […], die sich über mir schlossen wie über dem Insekt, das sich auf dem [Fang-] Teller der Pflanze niedergelassen hat. [Oder anders: Anfangs glaubte ich, ich könnte von ›heute‹ aus mühelos ein paar Beiträge zum Thema ›Zittern vor Deutschland‹ liefern, jetzt merke ich, dass ich alle Stationen ganz von neuem durchlaufen muss. Und keinesfalls sicher sein kann, die alten Türen, die mir das Entkommen aus dem faschistischen Ghetto ermöglichten, auf Anhieb wiederzufinden.805

Vesper sieht sich zudem mit einem poetologischen Problem konfrontiert, für das er in seinem ›Romanessay‹ keine Lösung zu finden vermag. Wir haben bereits gesehen, dass Vesper – ganz gemäß dem beispielsweise vom Kursbuch bestimmten Zeitgeist – der literarischen Produktion mit einigem Misstrauen be802 803 804 805

Ebd.: p. 435 ff. Plowman: p. 512; vgl. DR: p. 543 ff. Ebd.: 513 f. DR: p. 501; eckige Klammern im Original.

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gegnet806. Er ist sich des zweifelhaften Status der Literatur im revolutionären Kontext von 1968 schmerzhaft bewusst und findet keine frischen und authentischen Ausdrucksformen für seine Gedanken – die »›schonungslose Autobiographie‹«807 steht bei Vesper immer schon in ironisch-verzweifelten Anführungszeichen, oder anders gesagt: »The authentic transcription of experience […] is impossible when the available forms of self-expression are always already figurative«808. Das autobiographische Schreiben muss also unbefriedigend bleiben, ist in letzter Konsequenz immer etwas »›[G]emacht[es]‹«809 (man beachte wieder die Anführungszeichen), und es bleibt stets der Wunsch, [i]m Grunde […] lieber ganz was andres [zu] machen, da mit der Veränderung fort[zu] fahren, wo ich aufgehört habe, statt diese Wirklichkeit in das Hintereinander der Buchstaben zu zwängen, wo sie getrost veröden kann, angenehm für jeden, der seine geilen Augen die Linotype entlanghuschen lässt.810

Vesper ist jedoch dazu verdammt, zu schreiben; der »sklaventrick« der Literatur ist zur Aufarbeitung der Vergangenheit, ihrer Objektivierung, und zur substitutionalistischen Herausbildung einer neuen revolutionären Subjektivität nun einmal »nötig«811. Hier zeigt sich der zentrale Widerspruch, an dem Vesper zerbrechen muss: Wenn literarische Produkte nicht einfach nur politisch verdächtig sind, sondern stets auch einen zweifelhaften Wahrheitswert aufweisen, wenn Geschichten, selbst die persönlichsten, immer »›gemacht‹« sind – wie kann es dann möglich sein, auf dieser Basis eine neue revolutionäre Identität aufzubauen und zu festigen? Mit anderen Worten: In der Reise wird »autobiography as an act of self-invention«812 praktiziert, also eine »revolutionary case history«813 erzählt, die beispielhaft die ›Revolutionierung des bürgerlichen Individuums‹ vorführt; dieser »act of self-invention« ist letzten Endes unglaubwürdig, da im 806 807 808 809

810 811 812

813

Vgl. z. B. DR: p. 17, p. 24, p. 47, p. 283. Ebd.: p. 24. Plowman: p. 517. DR: p. 283. Dieses Authentizitätsproblem reflektiert Vesper an anderer Stelle in der Reise ganz explizit: »Das merkwürdige Verhältnis, das wir zu uns selbst bekommen, durch den Zwang, häufig im Leben stereotype Biographien zu verfassen: Bewerbungen, Lebensläufe« (DR: p. 139). Die Reise hätte als Versuch substitutionalistischer Identitätsstiftung wohl zu einem eben gerade nicht mehr »merkwürdige[n]«, sondern authentischen Verhältnis Vespers zu sich selbst beitragen sollen – aber der Versuch misslang. Ebd.: p. 298. Ebd.: p. 633. Plowman: p. 520. Vgl. Paul John Eakins Konzept des »Doing consciousness«: Eakin begreift autobiographisches Schreiben als performativen Akt, durch den die Identität des Schreibenden überhaupt erst konstituiert – erfunden – wird; er betrachtet »autobiography as performance, as action«, als »act of […] self-fashioning« (Eakin, Paul John: Living Autobiographically. How we Create Identity in Narrative. Ithaca & London: Cornell University Press, 2008. Hier : p. 85). Plowman: p. 521.

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Text die »limits of self-invention« deutlich werden, die Tatsache also, dass »autobiographical truth«814 uneinholbar und unvermittelbar ist815. Vespers ganzes Projekt ist mithin »politically suspect«816 : nicht nur, weil die Literatur angeblich ›tot‹ und konterrevolutionär ist, sondern auch und vor allem, weil sich im Schreibprozess herausstellt, dass Literatur keine zuverlässige Basis für »selfinvention« bildet, dass allein aus der an Marcuse und Reich orientierten Verarbeitung der eigenen Biographie noch kein revolutionäres Subjekt entsteht. Wie wir gleich sehen werden, war sich Vesper dieser Aporie bewusst, dieser Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, gekoppelt an die Unmöglichkeit, im Schreiben zur Wahrheit und zu einer neuen Identität zu gelangen – und sie beförderte letztlich wohl auch seinen psychischen Zusammenbruch. So werden programmatische Äußerungen in der Reise über die Möglichkeit der Konstituierung einer neuen Identität immer wieder durch unvermittelt auftretende Zweifel Vespers subvertiert. Beispielsweise heißt es: 814 Ebd. 815 An dieser Stelle könnte man einwenden, dass doch gerade die Unzuverlässigkeit und Uneinholbarkeit vermeintlicher autobiographischer Tatsachen eine Art Befreiung für Vesper darstellen sollte: Wenn man sich nicht einmal auf die eigenen Erinnerungen und Erfahrungen verlassen kann, liegt dann nicht eine Ermächtigung zum Fabulieren, zum Herbeifantasieren der ersehnten neuen Identität vor, zur Niederschrift einer »Wunschautobiographie« also? (siehe hierzu: Burkhart, Maximilian Giuseppe: »›Wunschautobiographie‹ als Metafiktion«. Autobiographische Zeugnisse der Verfolgung. Hommage für Guy Stern. Hg. von Konrad Feilchenfeldt und Barbara Mahlmann-Bauer. Heidelberg: Synchron, 2005: p. 63 – 82). Das ist eine legitime Frage, die ich aber verneinen würde. Eine solche Wunschidentität wäre nämlich nicht authentisch, und der Wunsch nach Authentizität ist nicht nur in der Reise wichtig, sondern wird wohl von Vespers ganzer Generation geteilt. Die Suche nach authentischen Erfahrungen und Seinsweisen in einer als ›falsch‹, inauthentisch und verlogen empfundenen Gesellschaft prägte die Umwälzungen von 1968 und prägte auch Vespers verzweifelte Suche nach einer neuen Form von Subjektivität. Eine einfache ›Neuerfindung‹ der eigenen Identität ist in diesen komplexen und ambivalenten historischen und psychologischen Zusammenhängen nicht möglich. Oder in Vespers Worten: »Warum kann man nicht genau so legitim ein Neuseeländer sein. (Ich erinnere mich und dann ist es mir verdammt klar, warum ich kein andrer sein kann)« (DR: p. 70). Hinzu kommt womöglich ein weiterer, mit diesem Authentizitätsbedürfnis verbundener Aspekt, den Toni Tholen in einem anderen Zusammenhang erläutert: »Vielleicht haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller […] ein aus ihrem eigenen Metier ableitbares Sensorium für das wachsende Bedürfnis, Identität nicht einfach zu behaupten oder theoretisch zu konstruieren, sondern sie zu erzählen. Und dies schließt die Frage nach der Genese des Ich, nach der eigenen sozialen und familiären Herkunft eo ipso mit ein« (Tholen, Toni: »Heillose Subjektivität. Zur Dialektik von Selbstkonstitution und Auslöschung in Familienerzählungen der Gegenwart«. Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hg. von Thomas Martinec und Claudia Nitschke. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang, 2009: p. 35 – 54 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft Bd. 95). Hier: p. 37). So könnte man durchaus auch Vespers Bedürfnis erklären, Identität nicht einfach nur zu postulieren oder zu beanspruchen, sondern eben (ausschweifend und mit Authentizitätsanspruch) zu erzählen. 816 Plowman: p. 521.

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Ich habe nicht darum gebeten, Europäer werden zu dürfen, geboren als Deutscher im Jahre 1938 […] als Kind von Mittelklasseeltern, die einem vertrottelten Traum vom Tausendjährigen Reich anhingen. Ich werde mir die Freiheit nehmen, die man mir vorenthalten hat, ich werde mich verwandeln, bis ich alle Stadien durchlaufen habe.817

Solcher Optimismus wird systematisch relativiert, zum Beispiel in folgender Passage, die gleichsam als verzweifelte Antwort auf die soeben zitierte Stelle gelten darf: »Warum kann man nicht genau so legitim ein Neuseeländer sein. (Ich erinnere mich und dann ist es mir verdammt klar, warum ich kein andrer sein kann)«818. Besonders deutlich zeigt sich die Problematik des potenziell unzuverlässigen identitätsstiftenden Schreibens aber in den verräterischen Auslassungen, auf die bereits eingegangen wurde (Vesper behält Teile seines jugendlichen rechtsextremistischen Engagements für sich und verschweigt sein problematisches Will-Vesper-Editionsprojekt), das heißt: in der allzu sichtbaren Aussparung biographischer Tatsachen, die nicht in Vespers Vision einer neuen revolutionären Subjektivität passen. Vespers eigenes Gespür für die Schwierigkeit seiner literarischen Identitätssuche ist sodann in jenen Passagen festzustellen, in denen er sich fremde Lebensläufe anfantasiert, sich gleichsam selber in sie hineinhypnotisiert. Die Stelle beispielsweise, die mit den Worten »mit zwölf holten mich die Franzosen als Geisel in den Steinbruch«819 beginnt, ist zunächst nicht als Zitat ausgewiesen, und man fragt sich kurz, ob Vesper hier von sich selbst erzählt, bevor auf der nächsten Seite klar wird, dass ein anderer spricht. Auch die eindringliche Schilderung der Baader-Befreiung aus der Perspektive Ulrike Meinhofs ist hier zu nennen: Der Wunsch Vespers, dabeigewesen zu sein, ebenfalls den »Sprung aus dem Fenster«820 in den politischen Untergrund zu vollziehen, ist bei der Lektüre förmlich spürbar. Paradigmatisch für dieses verzweifelte Spiel mit Fiktion in der Autobiographie ist aber besonders die Beschreibung einer Reise über den »San Bernardino« nach Italien, die Vesper mit Andreas Baader zusammen unternommen haben will: »mit andreas am zürich-see entlang, high wie die Teufel, […] über Chur zum San Bernardino, die alte Passstrasse ist wenig befahren […]«821. Gerd Koenen hat als erster bemerkt, dass diese Autofahrt so nicht stattgefunden haben kann. Der betreffende Manuskriptteil ist mit »Milano, 3. 8. 1970«822 datiert, und »zu dieser Zeit [waren Baader und die entstehende RAF] längst in einem Palästinenserlager in Jordanien[,] [u]nd es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass Bernward Vesper irgendwann früher mit 817 818 819 820 821 822

DR: p. 238. Ebd.: p. 70; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 233; Kapitälchen im Original. Ebd.: p. 158; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 288; Kapitälchen im Original. Ebd.: p. 596.

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Gudruns Geliebtem so high und konspirativ die Alpen überquert hätte«823. In solchen Inventionen offenbart sich nicht nur »ein tragisch anmutendes Konfabulieren, dessen Energie und Emphase sich […] aus der Identifizierung des verlassenen Autors B. mit dem Aggressor A. speist[]«824, sondern auch ein starkes Bedürfnis, an der revolutionären Praxis (die hier von Baader gleichsam personifiziert wird) zu partizipieren. In den erwähnten Passagen entlarvt Vesper selbst die ›Gemachtheit‹ der Autobiographie, sprengt die Grenzen der »selfinvention«, und verweist so auf die Crux der Reise, eben die Unmöglichkeit, auf der dubiosen Basis der Literatur eine authentische neue Identität aufzubauen: [I]f we accept the concept of autobiography as self-invention, Vesper seems to be asking, where do we set its limits? If the autobiographical act represents in effect the fictional production of the self, what is to prevent the autobiographer from breaking what Vesper terms the ›Kausalitätskette‹825 that binds him to the material social conditions of his origin? The problem for Vesper is that self-invention is a slippery slope. Potentially boundless, it risks losing sight of the material realities of his social and political experience […]; and this would in turn render meaningless his goal of preparing himself for transformative social action.826

So wie also der Substitutionalismus um 1968 auf einer Makroebene scheitert – den Studenten gelingt es ja nicht, eine Revolution in die Wege zu leiten –, so scheitert Vesper auf einer Mikroebene in der Reise. Die Konstituierung revolutionärer Subjektivität im literarischen Text misslingt, was den Autobiographen desillusioniert. Mit diesen Erkenntnissen sind wir dem ›Daseinszweck‹ und der Stoßrichtung der Reise nun doch näher gekommen als Lubich, der in ihr einfach nur den Versuch einer »radikale[n] Auseinandersetzung«827 Vespers mit sich selbst und seinem Land sieht. Es handelt sich bei der Reise durchaus um eine »radikale Auseinandersetzung« des Autors mit sich selbst, aber stets mit dem Ziel einer Revolutionierung der eigenen Identität. Im Misslingen dieses radikalen Versuchs liegt denn wohl auch der Grund dafür, dass Vesper sich nie an terroristischen Aktivitäten beteiligte. Die Theorie, die er in der Reise doch so sorgfältig in Praxis umzusetzen versuchte, Marcuse, Reich, der Substitutionalismus, alles hat sich als unzureichend erwiesen: »Zehn Jahre lang habe ich versucht, die Verhältnisse zu verändern. Aber sie haben sich nicht geändert«828 – denn, so das vernichtende Urteil: »es war mir unmöglich, eine verbindung zwischen der von mir verbreiteten theorie und meiner praxis herzustellen«829. Hier muss vielleicht 823 824 825 826 827 828 829

Koenen: p. 276. Ebd. DR: p. 214. Plowman: p. 521. Lubich: p. 70. DR: p. 237; im Original kursiv. Ebd.: p. 692.

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auch festgehalten werden, dass diese »unmöglich[keit]«, dieses Scheitern des substitutionalistischen Projekts in der Reise, nicht von ungefähr kam. Wer sich mit Mills’ Thesen auseinandersetzt, merkt schnell, dass sich Vesper, wenn überhaupt, nur sehr oberflächlich mit dem wichtigen Werk des Soziologen befasst hat und illusorischen Vorstellungen erlag, die Mills schon Ende der Fünfzigerjahre als solche erkannt hatte. Wenn Mills das Potenzial zur Erzeugung sozialen Wandels neu bei den Intellektuellen ortet, so geht es ihm bei dieser Feststellung keinesfalls um hochfliegende und selbstquälerische Projekte wie eine ›Revolutionierung‹ des bürgerlichen Individuums. Der Substitutionalismus besteht, anders als Vesper und die Kommune 2 glaubten, nicht darin, dass sich der bürgerliche Intellektuelle durch Selbstanklagen von seiner ›Bürgerlichkeit‹ reinigt und fortan nur noch ›praktisch‹ tätig ist. Was die linken Intellektuellen in Mills’ Theorie zur Revolution beitragen, ist mithin nicht das, was die deutschen 68er für revolutionäre Tätigkeit hielten – Guerillaaktivitäten, Happenings, Ausstieg aus den konventionellen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen; was Mills’ Intellektueller pflegt, ist vielmehr eine Form analytisch fundierter Gesellschaftskritik, öffentlich praktizierte Wahrheitsliebe, die allein die Machthaber und Kapitalisten als Lügner und ›Klassenfeinde‹ enttarnen kann830 : Left […] means structural criticism and reportage and theories of society, which at some point or another are focused politically as demands and programmes. These criticisms, demands and programmes are guided morally by the humanist and secular ideals of Western civilization – above all, reason and freedom and justice. To be ›Left‹ means to connect up cultural with political criticism, and both with demands and programmes. And it means all this inside every country in the world.831

Diese Verbindung von kultureller und politischer Kritik, gekoppelt an konkrete Ideen, Programme und Aktivitäten, wird von Vesper eigentlich in Perfektion realisiert – nur bürdet er sich zusätzlich eine selbstquälerische Suche nach einer neuen, genuin revolutionären Identität auf, die, wie wir gesehen haben, im 830 Auf E. P. Thompsons Frage, was die linken Intellektuellen denn tun sollten, wenn die von den Kapitalisten kontrollierten Medien sie aus der Debatte ausschließen, fiel Mills keine andere Antwort ein als »we can only embarrass them« (zitiert in Mattson, Kevin: Intellectuals in Action. The Origins of the New Left and Radical Liberalism, 1945 – 1970. University Park PA: Pennsylvania State University Press, 22003. Hier : p. 93). Mills’ Intellektueller würde also in einer solchen Situation nicht etwa zur Waffe greifen – solche Aktivitäten sind in seiner Theorie gar nicht vorgesehen, zumindest nicht für die Intellektuellen –, sondern durch seine demonstrative Nicht-Partizipation versuchen, die Zensoren lächerlich zu machen. Hier zeigt sich, dass Mills die revolutionäre Aktivität der Intellektuellen im Grunde als diskursive, analytische – eben intellektuelle – Tätigkeit konzeptualisiert. Die für die deutsche Studentenbewegung paradigmatischen Verbiegungen und Verrenkungen, die Vesper auf der Suche nach einer nebulösen revolutionären Subjektivität vornimmt, sind beim wichtigsten Theoretiker der New Left somit keineswegs vorgesehen. 831 Mills (Letter to the New Left): p. 260; Hervorhebung im Original.

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Medium der Literatur nur scheitern kann und die Mills in dieser Form nie propagierte. In der Tat riet Mills den Intellektuellen, sich stets Gewissheit über ihre eigene Position im gesellschaftlichen Gefüge zu verschaffen, die Grenzen der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zu erkennen, und keineswegs eine andere gesellschaftliche Rolle – etwa die der Proletarier – zu usurpieren. Ein mangelndes Rollen- und Selbstbewusstsein auf Seiten der Intellektuellen, so Mills, habe nur politische Paralyse zur Folge: If he is to think politically in a realistic way, the intellectual must constantly know his own social position. This is necessary in order that he may be aware of the sphere of strategy that is really open to his influence. If he forgets this, his thinking may exceed his sphere of strategy so far as to make impossible any translation of thought into action, his own or that of others.832

Vesper fehlt diese von Mills empfohlene realitätsbewusste Nüchternheit, mit den prophezeiten Konsequenzen. Wenn Vesper, in vollkommener Überschätzung der Möglichkeiten der Literatur, in einem ›Romanessay‹ versucht, eine neue revolutionäre Subjektivität zu konstituieren, so verlässt er damit sicherlich seine »sphere of strategy«. Dass sich Vesper dessen im Grunde bewusst war, dass er ja selber am identitätsbildenden Potenzial der Literatur zweifelte und in der Reise diesbezüglich eine gewisse ›cognitive dissonance‹ herrscht, haben wir bereits festgestellt. Wiederum finden wir schon bei Mills eine Warnung vor einer Überschätzung des geschriebenen Worts (und in dieser Warnung antizipiert er Vespers Auffassung der Literatur als »sklaventrick«, der allein durch die herrschenden Verhältnisse nötig gemacht wird): The writer tends to believe that problems are really going to be solved in his medium, that of the word. […] As the channels of communication become more and more monopolized […], his opportunities to act and to communicate politically are minimized. The political intellectual is, increasingly, an employee living off the communicational machineries which are based on the very opposite of what he would like to stand for.833

Die Rolle, welche die New Left für die dank dem Substitutionalismus historisch relevant gewordenen Intellektuellen vorsah, war demnach bescheidener als Vesper und seine Generationsgenossen in der Kommune 2 wahrhaben wollten. Zumindest ihre masochistische Selbstproletarisierung auf der Suche nach einer revolutionären Identität scheint auf einem Missverständnis oder einer mangelnden Kenntnis von Mills’ Thesen zu beruhen. Das Scheitern von Vespers Versuch, mit Hilfe eines gewagten substitutionalistischen Experiments »eine verbindung zwischen der von mir verbreiteten theorie und meiner praxis her832 Mills (Role of the Intellectual): p. 20. 833 Ebd.: p. 23; Hervorhebungen im Original.

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zustellen«834, lässt sich also nicht nur, wie dies Plowman tut, mit der ›Unzuverlässigkeit‹ autobiographischen Schreibens erklären. Vesper hat in seinem manischen Eklektizismus offenbar auch einfach gewisse Elemente »der von [ihm] verbreiteten theorie«835 missverstanden. Dieser Exkurs zu den Lücken und Fehllektüren in Vespers Rezeption der Theorien der New Left soll aber nicht von unserem früheren Befund ablenken: Vespers Zeit-, Selbst- und Institutionskritik ist offensichtlich weit mehr als eine simple »Auseinandersetzung« mit bestimmten Problemen und Sachverhalten. Sie ist vielmehr an den gängigen zeitgenössischen Theorien der New Left geschult (wenn diese auch in problematischer Weise verarbeitet und weitergedacht werden) und greift besonders auf den Gedanken des Substitutionalismus zurück. Wie wir gesehen haben, stellt Vespers »Einsteinsche Formel«836, die er eingangs der Reise formuliert, kombiniert mit seinen verallgemeinerten und objektivierten Erfahrungen als Opfer der ›Vertrauenskrise‹, eine implizite Aufforderung an den Leser dar, die eigene »ERFAHRUNG«837 in die Formel einzusetzen. Dieses Vorgehen macht die ›Vertrauenskrise‹ als kollektives Phänomen begreifbar und steht, wie wir nach obigen Ausführungen feststellen dürfen, im theoretischen und geistesgeschichtlichen Kontext des Substitutionalismus. So wird Die Reise als singuläres und auf spektakuläre Weise gescheitertes revolutionäres Projekt fassbar, dessen Implikationen bislang erst ein einziger Interpret reflektiert hat – der besagte Andrew Plowman. Ohne die problematischen und dubiosen Passagen der Reise verharmlosen zu wollen, dürfen wir abschließend mit Plowman und Berendse konstatieren: Wenn Vespers ›Romanessay‹ in Teilen hasserfüllt, apodiktisch und extremistisch wirkt, so handelt es sich doch um einen durch Selbstzweifel und Reflexion relativierten und gelähmten Extremismus, einen rein rhetorischen Extremismus. Wenn Vesper agitiert, dann nicht als »verkappter Faschist«, sondern im Sinne eines Substitutionalismus nach dem (im Detail missverstandenen) Vorbild der New Left, eines Substitutionalismus, der das bürgerliche Subjekt zur revolutionären Aktion ermächtigen will – und scheitert, im Buch wie in der Realität. Und wenn Vesper Gewalt zur Darstellung bringt, dann stets mit einem anderen Impetus als dem theatralisch-didaktischen der Terroristen, nämlich als irritierendes, ambivalentes Phänomen, das sich selten mit einem Täter-Opfer-Schema begreifen lässt. Die Reise ist in diesem Teil unserer Studie als zeitkritisches und repräsentatives Werk lesbar geworden, das auf komplexe Weise mit den geistesgeschicht834 835 836 837

DR: p. 692. Ebd. Ebd.: p. 13. Ebd.; Grossschreibung und Kursivierung im Original.

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lichen Zusammenhängen seiner Entstehungszeit verzahnt ist. Vespers ›Romanessay‹ schildert mithin nicht nur eine kollektiv empfundene ›Vertrauenskrise‹, die offenbar auch das Vertrauen in den revolutionären Tatendrang der Arbeiterklasse untergrub und den Substitutionalismus nötig machte – der Text entwirft auch ein ambitioniertes, aber zum Scheitern verurteiltes Programm zur Überwindung dieser Krise, und zwar durch eine aufwendige literarische Neuerfindung der Identität des Autors auf der theoretischen Basis des Substitutionalismus. Das Misslingen dieses Selbstbefreiungsversuchs hatte, wie wir sahen, wahrscheinlich einen gewissen Anteil an Vespers psychischem Kollaps838. Diese Erkenntnis erlaubt uns einerseits, von simplifizierenden und schlicht falschen Lesarten, wie wir sie beispielsweise bei Lubich vorfinden, Abstand zu nehmen, und andererseits gibt sie uns Gelegenheit, Die Reise neu in der Literaturgeschichte zu verorten, das heißt: sie herauszulösen aus oberflächlichen Konstrukten oder schlicht unpassenden Begrifflichkeiten wie ›Väterliteratur‹ oder neue Subjektivität, den neuen Begriff der ›Vertrauenskrise‹ zu etablieren und denselben mit Verweisen auf die Theorien der New Left weiter zu festigen.

838 Siehe ebd.: p. 587.

6. Fazit des ersten Teils

In der Einleitung wurde angekündigt, dass sich der nun an sein Ende gelangte erste Teil dieser Arbeit gleichsam auf einer Mikroebene mit dem Problem der ›Väterliteratur‹ befassen werde. Unsere Detailanalysen der beiden angeblichen Grundtexte des Genres, der Reise von Bernward Vesper und des Suchbilds von Christoph Meckel (unter Berücksichtigung des Suchbilds über die Mutter), haben gezeigt, dass die Vorstellung einer in der neuen Subjektivität verwurzelten ›Väterliteratur‹ auf diese Werke nicht anwendbar ist. Aus der Erkenntnis, dass zwei vermeintlich prototypische Autoren der ›Väterliteratur‹ offensichtlich keine ›Väterliteratur‹ geschrieben haben, ergeben sich weitreichende Konsequenzen, denn wenn die Germanistik den in diesem ersten Teil der vorliegenden Arbeit besprochenen Texten bislang oft mit ungeeigneten Begriffen begegnet ist, lässt das auf tiefer gründende Probleme schließen. Anders ausgedrückt: Probleme der Terminologie, wie wir sie hier auf einer Mikroebene in Bezug auf Vesper und Meckel beleuchten konnten, implizieren immer auch Probleme des wissenschaftlichen Umgangs mit einem ganzen Feld. Im Zuge unserer bisherigen Untersuchungen ist deutlich geworden, dass es der Literaturwissenschaft bislang nicht nur nicht gelungen ist, die weitreichenden analytischen Ansätze, die in Meckels Suchbildern und vor allem in Vespers Reise begegnen, in angemessene Worte zu fassen – wir haben auch gesehen, dass es der Rezeption überhaupt an Verständnis für den Skopus, die Radikalität, die kultur- und geistesgeschichtliche Fundiertheit und die historiographische Stringenz dieser Werke gefehlt hat. Diesen Mängeln und Versäumnissen suchten wir im ersten Teil dieser Arbeit entgegenzuwirken. Dafür wurde zunächst der Begriff der ›Vertrauenskrise‹ eingeführt, der, dies die Arbeitshypothese, in seiner semantischen Breite den von Vesper und Meckel zur Darstellung gebrachten Phänomenen eher gerecht wird als das sehr enge Konzept der ›Väterliteratur‹. Eine Grundsatzkritik an der ›Väterliteratur‹ nahmen wir schon in der Einleitung dieser Studie vor, und in der Folge versuchten wir zu zeigen, dass diese Begrifflichkeit auf die Suchbilder und die Reise, diese angeblich paradigmatischen ›Väter-Bücher‹, nicht anwendbar ist – zu wichtig sind die Rollen, welche die

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Fazit des ersten Teils

Mütter in den Texten spielen, zu fundamental und kulturhistorisch aufgeladen ist ihre Problematisierung der sozialen Institution der Familie. Es wurde sichtbar, dass sich die Beschäftigung der Autoren mit dem Themenkomplex der Familie keineswegs auf die Vaterfiguren beschränkt –, dass Vesper und Meckel vielmehr Konflikte und Konfigurationen inszenieren und verhandeln, die sich bis zu Wilhelm Riehl ins 19. Jahrhundert, oder aber, auf der Basis von Albrecht Koschorkes Forschungsergebnissen zur Heiligen Familie, bis in die Bibel zurückverfolgen lassen. Diese Kontextualisierung der Werke gestattete uns – mit dem Vokabular und dem Modell der Heiligen Familie – einen unverstellten Blick auf die ganze Familie in den hier besprochenen Werken und vermochte zu zeigen, dass der Begriff der ›Vertrauenskrise‹ tatsächlich fundiert ist. In einem Folgeschritt sahen wir jedoch, dass die ›Vertrauenskrise‹ nicht nur aus einer intellektuellen Auseinandersetzung der beiden Autoren mit den arbiträren Wurzeln der patriarchalen familiären Ordnung entstand. Diese Ordnung war nämlich durch die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erst richtig unter Druck geraten. Schon als Kind hatte Christoph Meckel erlebt, dass der Vater nicht unverzichtbar war, dass die Mutter diese Rolle im Haushalt auszufüllen vermochte, und bei der Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft musste der Knabe schmerzhaft begreifen, dass der einst so Bewunderte ein schwacher, geschlagener, beschädigter Mann geworden war. Meckels spätere Entdeckung der Kriegstagebücher des Vaters, die schließlich den Anstoß zur Niederschrift von Suchbild. Über meinen Vater gab, machte die Desillusionierung perfekt. Ähnlich verhielt es sich bei Bernward Vesper, dem sein Vater schon während der Kriegsjahre, besonders aber in den restaurativen und von Verdrängung geprägten Fünfzigerjahren nicht nur als übermächtiger Tyrann, sondern vermehrt auch als Feigling erschien, der sich einer menschenverachtenden Ideologie verschrieben hatte und ihr bis zum Tode anhing. Die analytische Breite, mit der die Autoren die Familie kritisieren, die im Grunde schwachen Väter, aber auch die Tatsache, dass sich die Lieblosigkeit und Bösartigkeit der Mütter mit derjenigen der Väter perfekt ergänzt: das alles ließ uns den Begriff der ›Väterliteratur‹ für diese Texte immer weniger geeignet erscheinen. Die Einführung des neuen Konzepts der ›Vertrauenskrise‹ schien gerechtfertigt. Zumindest für Bernward Vesper konnte in der Folge denn auch gezeigt werden, dass sich die ganze Welterfahrung dieses Autors, wie sie in der Reise dem Rezipienten entgegentritt, auf die ›Vertrauenskrise‹ zurückführen lässt. Die ideologischen und institutionskritischen Weiterungen der ›Vertrauenskrise‹ konnten anhand der Schilderungen von Vespers Schulzeit, seiner Lehre im Westermann-Verlag und seinem Studium in Tübingen in wünschenswerter Deutlichkeit nachvollzogen werden. Dabei wurde klar, dass sich Vesper mit großer Hingabe um eine zeitkritische Objektivierung seiner Erfahrungen bemühte, dass hier mithin, wie in der Einleitung angekündigt, der Literat als (wenn auch parteiischer) Historio-

Fazit des ersten Teils

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graph auftritt. Die auf den ersten Blick sehr persönlichen Erlebnisse in Elternhaus, Schule, Lehre und Studium werden in Vespers Gestaltung in der Tat lesbar als geteilte, kollektive Erfahrungen, die eine ganze Generation prägen, wobei sogar Vespers institutionskritische Ausführungen zum Universitätsbetrieb auf zeitgenössische Sammelbände wie Ansichten einer künftigen Germanistik zurückzuführen sind. Die ›Vertrauenskrise‹ kann also als kollektives Phänomen beschrieben werden, und als ebensolches manifestiert sie sich in der Reise. Dementsprechend sollte man Vespers ›Romanessay‹ nicht der Strömung der neuen Subjektivität zuordnen, wie das in der literaturgeschichtlichen Rezeption oft geschah; auch die Suchbilder aber, die ein – nach Meckels eigener Aussage, vorgebracht im Duktus des Historikers839 –, Generationenproblem, und nicht ein individuell-subjektives Problem zur Darstellung bringen, sollten nicht dieser literarischen Strömung zugerechnet werden und sind am ehesten als Hybrid von Literatur und Geschichtsschreibung zu fassen. So fußt beispielsweise Meckels Anspruch auf Repräsentativität durchaus auf einem stringenten, evidenzbasierten Vorgehen, bedient er sich doch bei seiner Arbeit an den Suchbildern des Kriegstagebuchs des Vaters, also einer wertvollen Primärquelle. Auch der Begriff des ›Generationenkonflikts‹ entpuppte sich schließlich als unzureichend angesichts der Komplexität der Revolte von 1968 und der bedenklichen Kontinuität der elterlichen Ideologie in Texten wie der Reise, aber auch beispielsweise im ›linken Antisemitismus‹ der RAF. Damit haben wir letzten Endes nur eine Erkenntnis umgesetzt und ernst genommen, die Jürgen Habermas schon 1968 festhielt und die im Grunde sowohl dem Selbstverständnis der Protestbewegung als auch dem Bedürfnis der Öffentlichkeit nach einfachen und spannenden Erklärungen für die Umwälzungen jener Zeit widerspricht: Die Erkenntnis nämlich, dass »[d]ie Studenten- und Schülerbewegung […] aus einem Potential [hervorging], das keine ökonomische«, sicherlich aber auch keine ideologische, »sondern eine sozialpsychologische [in diesem Falle vor allem eine geistesgeschichtliche, Anm. v. J. R.] Erklärung verlangt« und dass sich »[d]er Protest dieser Jugendlichen aus bürgerlichen Elternhäusern […] dem Muster des seit Generationen üblichen Autoritätskonflikts [entzieht]«840. Die erwähnte Kontinuität des elterlichen Gedankenguts, die uns vom Begriff des ›Generationenkonflikts‹ Abstand nehmen liess, hatte jedoch einige Interpreten dazu verleitet, Die Reise als Manifestation einer Art ›Linksfaschismus‹ zu lesen. Ihnen wurde in einem letzten Analyseschritt kritisch begegnet, und es zeigte sich, dass diese Lesart der Reise kaum haltbar ist. Sodann gelang es uns, die Erkenntnisse über die kollektive Natur der Vertrauenskrise mit dem geis839 »[Die Kinder] wussten noch nicht, dass diese Vaterschaft – der entthronte, hilflos gewordene Despot – bezeichnend war für die ganze Generation« (SV: p. 123). 840 Habermas: p. 192 f.

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tesgeschichtlichen Kontext der Reise zu synthetisieren: Weit entfernt davon, ein linksfaschistisches Manifest zu sein, bringt Die Reise vielmehr eine allgemein empfundene ›Vertrauenskrise‹ zur Darstellung und entwirft zugleich ein damals als tragfähig wahrgenommenes Programm zur Überwindung ebendieser Krise, namentlich das einer am Substitutionalismus der New Left geschulten Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Diese ambitionierte Neuerfindung der als unerträglich empfundenen eigenen bürgerlichen Subjektivität scheitert in der Reise, und zwar zunächst aufgrund eines poetologischen Problems, das zuerst von Andrew Plowman bemerkt wurde: nämlich aufgrund der Unmöglichkeit, in einer literarischen Fiktion (auch die Autobiographie ist eine solche) eine konsistente und ungeteilte neue Identität zu konstituieren. Hinzu kommt, dass C. Wright Mills, der wohl wichtigste Theoretiker der New Left, solche selbstquälerischen Verrenkungen in seinen Schriften nicht vorschlug, sondern im Gegenteil ein realistischeres und nüchterneres Bild des politisch aktiven Intellektuellen postulierte. Die Reise scheitert als substitutionalistischer Versuch mithin nicht zuletzt an einer unzulässigen Auslegung oder Erweiterung der ihr zugrundeliegenden Theorien. Mit diesen Ausführungen sind nun nicht nur die Suchbilder und besonders Die Reise neuen Perspektiven zugänglich gemacht und in Teilen von Fehlurteilen befreit worden: Mit dem Begriff der ›Vertrauenskrise‹ wurde zudem ein adäquates neues Konzept eingeführt und zur Interpretation der ›Väterliteratur‹ fruchtbar gemacht. Im zweiten Teil dieser Studie werden wir, getreu der Feststellung, dass terminologische Unschärfe auf tiefer liegende Probleme der Forschung schließen lässt, die anderen Texte aus dem Korpus der ›Väterliteratur‹ kritischen Relektüren unterziehen – stets im Bewusstsein der bislang erzielten Erkenntnisse.

II. Uneinholbare Heterogenität und literarische Geschichtsschreibung im Zeichen der ›Vertrauenskrise‹: Zum weiteren Korpus der ›Väterliteratur‹

Unser eingangs etablierter Terminus der ›Vertrauenskrise‹ hat sich auf der Mikroebene des ersten Teils dieser Arbeit als tragfähig erwiesen. Ebenso zeigte sich am Beispiel der Reise und der Suchbilder, dass unsere Sicht der ›Väterliteratur‹ als eine Form von Geschichtsschreibung zumindest in Bezug auf Vesper und Meckel fundiert ist; beide Autoren legen in ihren Romanen einen ausgreifenden analytischen Gestus an den Tag, der durchaus dem Anspruch zu entspringen scheint, in der Literatur Historiographie betreiben zu wollen. Es gilt nun im zweiten Teil dieser Studie, die bisher gemachten Erkenntnisse auf die anderen kanonischen ›Väterbücher‹ anzuwenden: Die Detailanalysen, die wir auf einer Mikroebene an den beispielhaften Werken Vespers und Meckels vornahmen, werden in der Folge ergänzt durch eine Gesamtschau des Korpus der ›Väterliteratur‹. In diesem Zusammenhang werden wir unser Konzept der ›Vertrauenskrise‹ auf die in der Einleitung genannten einschlägigen Texte anwenden. Wir werden zudem bestrebt sein, die eingangs konstatierte Heterogenität des Genres wieder und wieder zu belegen, wo immer möglich auf die oft vernachlässigte Rolle der Mütter zu verweisen und wie zuvor die Einordnung der ›Väterliteratur‹ in die neue Subjektivität zu kritisieren. Letzteres ist nur möglich, wenn wir, wie im Rahmen unserer Untersuchungen zu Vesper und Meckel, ein Sensorium für den politischen Impetus der fraglichen Werke entwickeln. Hinzu kommt, dass wir diese individuellen Zeugnisse der ›Vertrauenskrise‹ wiederum konsequent als – um es so auszudrücken – fiktional-faktuale Hybride am Scheidepunkt von Literatur und Historiographie begreifen werden. Auf die Gesamtübersicht folgt, bevor wir zu einer Zusammenfassung der Ergebnisse kommen, ein Exkurs über die kulturgeschichtliche und literarhistorische Genese der ›Väterliteratur‹, der existierenden Erklärungsversuchen für das Aufkommen des Genres einige zusätzliche Facetten und Hintergründe verleihen wird. Im Folgenden sind die einzelnen Werke nur lose gruppiert – in der bisherigen Forschung zur ›Väterliteratur‹ wird der Schematismus schon zur Genüge gepflegt –, und wir werden in den jeweiligen Kapiteln immer wieder auf die genannten Grundfragen nach Heterogenität, ›Vertrauenskrise‹ und Hybridität

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Uneinholbare Heterogenität und literarische Geschichtsschreibung

zurückkommen. Wir besinnen uns aber im Grundsatz auf die grobe Trennung in ›monologische‹ und ›dialogische‹ Texte, die wir in der Einleitung vornahmen: Erstere schildern eine intergenerationelle Auseinandersetzung, die erst posthum stattfindet, zweitere speisen sich aus Debatten und Konfrontationen, die noch vor dem Tod des Vaters stattfanden. Diese Unterscheidung bringt, das sei hier deutlich erwähnt, keine großen zusätzlichen Erkenntnisgewinne; wir nahmen sie in der Einleitung primär vor, weil sie uns erlaubte, die Kommunikationskrise als ungeeignetes definitorisches Kriterium einer ›Väterliteratur‹ auszumachen und überhaupt zu zeigen, dass das angebliche Genre keineswegs so homogen und konsistent ist wie die bisherige Forschung suggeriert. Die Heterogenität der ›Väterliteratur‹ bleibt, wie ja gezeigt werden soll, uneinholbar : Die einzelnen ›monologischen‹ und ›dialogischen‹ Texte unterscheiden sich jeweils auch untereinander sehr stark und stehen im Grunde immer für sich allein. Die grobe Aufteilung des Korpus in zwei Gruppen gestattet uns aber, die folgenden Überlegungen in eine einigermaßen übersichtliche Form zu bringen. Zu den ›dialogischen‹ Büchern, denen wir zuerst unsere Aufmerksamkeit widmen werden, zählen aus noch zu erläuternden Gründen Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters, Ruth Rehmanns Der Mann auf der Kanzel und Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel. Die Gruppe der ›monologischen‹ Texte wird sodann aus E. A. Rauters Brief an meine Erzieher, Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit, Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder bestehen. Zwei (ebenfalls ›monologische‹) Spezialfälle bilden Peter Härtlings Nachgetragene Liebe und Jutta Schuttings Der Vater : Diese Texte weisen so tiefgreifende Differenzen zu den anderen ›Väterbüchern‹ auf, dass wir ihnen ein eigenes Kapitel widmen, in welchem wir dafür argumentieren werden, sie ganz aus dem Korpus der ›Väterliteratur‹ herauszulösen, egal wie man diese nun definiert.

7. Die ›dialogischen Väterbücher‹: Henisch, Rehmann und Plessen

Die in diesem Kapitel zu untersuchenden Werke von Henisch, Rehmann und Plessen weisen nicht nur allesamt das Merkmal einer (allerdings jeweils unterschiedlich gestalteten) ›Dialogizität‹ auf. Zumindest die Romane von Henisch und Rehmann sind außerdem von tiefgreifenden Differenzen zur etablierten Sichtweise der ›Väterliteratur‹ gezeichnet, die wir zwecks einer profunderen Hinterfragung des Terminus herausarbeiten werden. In Bezug auf Plessens Text werden wir zu ähnlichen, aber weniger dramatischen Schlüssen gelangen. Jedenfalls sollen hier die distinkten Charakteristika aller drei ›dialogischen Väterbücher‹, die normalerweise von der homogenisierenden Begrifflichkeit der ›Väterliteratur‹ und der neuen Subjektivität überdeckt bleiben, beleuchtet werden. Dabei ist analog zu unserem Vorgehen im ersten Teil der Arbeit jeweils auch kurz nach der Rolle der Mutter zu fragen; hinzu kommt, im Rückgriff auf die in der Einleitung wiedergegebenen Beobachtungen von Aleida Assmann, ein Interesse an der Präsenz der Großeltern. Schließlich soll immer auch der Begriff der ›Vertrauenskrise‹ auf die einzelnen Werke angewendet und somit ihre politische Grundierung bewusst gemacht werden. Dieses Vorgehen ermöglicht im Einzelnen eine Auflösung der problematischen Bande zwischen den hier diskutierten Romanen und der neuen Subjektivität; die Texte können, wie in der Einleitung angekündigt, als Hybride von Dichtung und Geschichtsschreibung mit politischem Impetus neu in der Literaturgeschichte situiert werden.

7.1. Dialoge gegen das Vergessen: Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters ist eines der ersten ›Väterbücher‹ überhaupt, und allein das frühe Publikationsdatum des Werks (die Erstausgabe erschien 1975) ist schon Beleg genug, dass hier ein Autor ohne jede Rücksicht auf Trends oder gar eine irgendwie geartete ›Väterliteratur‹ schreibt – ein Begriff

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Die ›dialogischen Väterbücher‹

übrigens, der seinerzeit noch nicht einmal geprägt worden war. Henisch841 bemerkt selbst, dass sein Roman »noch keinen Bezug zu einem erst nachher festgestellten Trend haben«842 könne; als Einflüsse konzediert er allein Peter Handkes ›Mutterbuch‹ Wunschloses Unglück sowie den eher abstrakten Umstand, »[d]ass die Auseinandersetzung mit der vorangegangenen Generation damals in der Luft lag«843. Nun ist das ›Genre‹ der ›Väterliteratur‹ unserer Meinung nach sowieso geprägt von Widersprüchen, Irrtümern und einer noch nicht hinreichend gewürdigten und erklärten Heterogenität der Texte, die es umfasst. Der Begriff der ›Väterliteratur‹ zerfasert aber endgültig, wenn er sogar Werke bezeichnen soll, die bereits einige Zeit vor dem Beginn des betreffenden literarischen Trends publiziert wurden. Dementsprechend ist Die kleine Figur meines Vaters, wie wir in der Folge sehen werden, im Vergleich mit den anderen ›Väterbüchern‹ ein besonders idiosynkratischer Text. Das zentrale Alleinstellungsmerkmal von Henischs Buch ist die bereits in der Einleitung erwähnte spezifische Kommunikationssituation, der es entsprang: Kein anderes ›Väterbuch‹ basiert wie Die kleine Figur meines Vaters auf Tonbandinterviews, was beispielsweise auch Craig Decker festhält: In contrast to the documented inability of most children to question their parents directly, […] Henisch – through autobiography – do[es] indeed depict a direct meeting between […] two generations and the ensuing dynamics of questioning, confrontation, repression, externalization, and guilt.844

Auch Jeffrey Schneider zollt in seinem Aufsatz über Die kleine Figur meines Vaters der ›dialogischen‹ Struktur des Textes Respekt und erwähnt die ›Väterliteratur‹ nicht einmal. Die besondere Stellung von Henischs Buch im Kontext der ›Väterliteratur‹ kann mithin kaum überschätzt werden; auch der Autor ist sich ihrer bewusst: »[Die kleine Figur meines Vaters] ist […] eines der wenigen, wenn nicht das einzige ›Vaterbuch‹, das noch zu Lebzeiten des Vaters« – und in Zusammenarbeit mit diesem – »begonnen und zu zwei Dritteln geschrieben wurde«845. Henischs Roman ist damit im eigentlichen Sinne ›dialogisch‹, und die These, dass in ›Väterbüchern‹ »immer nur«846 tote und demnach diskursiv wehrlose Väter in Erscheinung treten, trifft auf kein Buch weniger zu als auf 841 Da es sich beim Text im Wesentlichen um ein faktuales Werk handelt (zum Status des Buches als Roman später mehr) und der reale Autor die Ereignisse als handelndes Subjekt vorantreibt, wird hier keine Unterscheidung zwischen Peter Henisch und einer Erzählerfigur vorgenommen. 842 Freundliche Mitteilung von Peter Henisch, 7. 9. 2010. 843 Ebd., wobei Henisch betont, dass »Handke und ich […] zweifellos sehr verschiedene Temperamente [sind]«. 844 Decker : p. 149. 845 Freundliche Mitteilung von Peter Henisch, 7. 9. 2010. 846 Seeba: p. 181.

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dieses. Auch der Umstand, dass sich autobiographisches Schreiben in der ›Väterliteratur‹ mit historiographischem Interesse vermählt, tritt selten so klar zu Tage wie bei Henisch: In seinem als ›oral history‹ abgefassten Roman bemüht sich Henisch, wie das ein Historiker auch tun würde, um eine einigermaßen neutrale Position und begegnet dem Vater keineswegs mit einem anklägerischen Gestus847; Die kleine Figur meines Vaters ist damit nicht in erster Linie ein frühes Beispiel für ›Väterliteratur‹848, sondern bildet primär ein literarisches Pendant zu den fast zeitgleich erschienenen »[i]nterview anthologies«849 von Historikern wie Dan Bar-On850 oder dem bereits erwähnten Peter Sichrovsky, auf die auch Decker verweist. Neben dem Umstand, dass hier ein Zeitzeuge interviewt wird, lässt auch die Einbindung von Fotografien auf den dokumentarisch-historiographischen Impetus des Textes schließen851. Dass Henisch gemäß seinem Selbstverständnis ohnehin »Erfahrungsliteratur, nicht Erfindungsliteratur«852 schreibt, mithin als »recherchierender Erzähler«853 die Tatsachen dem Fabulieren vorzieht, ist belegt; das Persönliche ist somit auch in diesem Roman faktual und besitzt, wie wir sehen werden, »political import«854. Dazu steht Henisch übrigens ungeniert: Er hält sein Buch »für viel politischer als manche der vordergründig politischen Texte jener Zeit« und verortet es klar im Umfeld der »Dialektik von Privatem und Politischem, von der um 1968 und danach viel 847 Henisch: p. 22 f. Siehe v. a. p. 23: »Ich komme mir vor, als wäre ich auf einen Berg gestiegen und sähe plötzlich gleich gut nach vorne und hinten. […] Denn der Generationenkonflikt, in dem ich bisher ganz eindeutig Partei ergriffen habe, und selbstverständlich war ich auf der Seite der Söhne, ist plötzlich in mir. Trau keinem über dreißig: Ich stehe vor dem Spiegel und schaue mir selbst mit wachsendem Mißtrauen ins Gesicht. […] [Ich habe] auf einmal das Bedürfnis […], Dich [den Vater, Anm. v. J. R.] zu verstehen. Das Bedürfnis, Bedingungen zu finden für Konsequenzen, die ich auch jetzt nicht gutheiße, aber möglicherweise besser begreife«. 848 Als solches sieht beispielsweise Christoph Parry den Text. Siehe Parry, Christoph: »Von den Vorzügen der Fiktionalisierung. Peter Henischs und Peter Handkes Elternbiographien und die Suche nach einer adäquaten literarischen Form der Wahrheitsfindung«. Jahrbuch für internationale Germanistik 33.2 (2001): p. 81 – 100. Hier: p. 83. 849 Decker : p. 148. 850 Bar-On, Dan: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern. Hamburg: Edition Körber Stiftung, 2004 [1970]. 851 Obwohl Henisch auf die Methoden der Historiker zurückgreift, pflegt er natürlich nicht unbedingt einen wissenschaftlichen Stil; der historiographische Gestus wird vielmehr von einem eher journalistischen Duktus (auch in der Kombination von Text- und Bildmaterial) gestützt und aufgelockert. Henischs Erfahrung als Journalist – unter anderem als Mitbegründer der Zeitschrift Wespennest – wird im Text also durchaus greifbar (siehe auch Hanlin: p. 87). 852 Peter Henisch in einem Interview mit dem Regisseur Wolfgang Glück. Henisch, Peter : Die kleine Figur meines Vaters. München: Langen-Müller, 1980. Hier: p. 267. Siehe auch Ulmer: p. 57; Hanlin: p. 87. 853 Parry : p. 84. 854 DeMeritt: p. 62.

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die Rede war«855. Dass dieser Umstand die Einordnung des Romans in die »entpolitisierte Wendung zur Innerlichkeit«856 der neuen Subjektivität (über den Umweg seiner Klassifizierung als ›Väterliteratur‹) problematisch macht, ist klar (Henisch bezeichnet sie sogar als »völlig verfehlt«857) – darüber später mehr. Das eingangs erwähnte Interesse der historischen Forschung an der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegszeit, das in den Siebziger- und Achtzigerjahren aufkam, manifestiert sich in der Kleinen Figur meines Vaters jedenfalls in exemplarischer Weise858. Außerdem ist die empathische, wenn nicht positive Attitüde des Autors zu seinem Vater im Kontext der ›Väterliteratur‹ nahezu einzigartig: »What is striking about Henisch’s work is the absence of those moments of extreme animosity that have been a feature of other well-known examples, such as […] Bernward Vesper’s Die Reise«859. Henischs Text sticht demnach in mindestens zweierlei Hinsicht aus dem restlichen Kanon der ›Väterliteratur‹ heraus860. Die ›Vertrauenskrise‹ manifestiert sich bei Henisch dementsprechend in sehr charakteristischer und subtiler Form: Wenn es im Roman auch nicht zu hitzigen Konfrontationen zwischen Vater und Sohn kommt, so basiert er doch, wie wir gleich im Detail zeigen werden, auf einem alternativen und subversiven Geschichtsbild – hier wird, im Dialog mit einem Zeitzeugen, der Verdrängung und 855 856 857 858

Freundliche Mitteilung von Peter Henisch, 7. 9. 2010. Ebd. Ebd. Wobei Henisch, wie Decker betont, die Methode der hier genannten Historiker natürlich gleichsam invertiert: Bar-On und Sichrovsky »interview[ed] children of former National Socialists«, während bei Henisch der Sohn das Interview durchführt und der Vater befragt wird (Decker: p. 148 f.). 859 Bushell: p. 103. 860 Zur Rolle der Mutter sei nur kurz erwähnt, dass sie tatsächlich, gemäß den Prämissen des Genres, im Hintergrund steht. Sie bildet aber, neben der Großmutter, eine wichtige mündliche Quelle, und die Beziehung zwischen ihr und Henisch muss intensiv gewesen sein: Sie war mit dem kleinen Sohn vor den herannahenden Russen »von Gmünd nach Otten« geflohen und hatte in Abwesenheit des Vaters sehr viel Zeit mit ihm verbracht, nahm also temporär die bereits geschilderte prototypische Rolle der starken ›Heimatfront-Mutter‹ ein (Henisch: p. 27 f.). Sie tritt innerhalb der Familie auch bestimmt auf und setzt dem übermütigen und etwas naiven Vater immer wieder Grenzen: »Bist du übergeschnappt, sagte darauf meine Mutter, du willst dich beruflich verändern, in deinem Alter?«; »Du spinnst, sagte meine Mutter, wie stellst du dir das vor […]« (ebd.: p. 219 f.). Diese Befunde, wie auch die Tatsache, dass Henisch später ein ›Großmutterbuch‹ verfasste (Eine sehr kleine Frau), lassen vermuten, dass die weiblichen Familienmitglieder signifikanter sind als Die kleine Figur meines Vaters verrät. Die Zurücknahme der Mutterfigur ist hier wohl zum einen der spezifischen Versuchsanordnung des Romans geschuldet – im Zentrum steht der Vater, aber als Zeitzeuge, nicht als Vater –, und zum anderen liegt der Verdacht nahe, dass auch diese Mutter, die den Vater überlebt, geschont werden soll. Gehrkes Beobachtung, wonach Henisch »ein inniges Verhältnis« zu ihr pflege und sie »vor Verletzungen schützen« wolle, ist zuzustimmen (Gehrke: p. 80).

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dem Vergessen entgegengewirkt. Henischs Roman darf mithin durchaus als provokativer Gegenentwurf zu einem unredlichen, auf Verdrängung abzielenden öffentlichen Geschichtsverständnis betrachtet werden und enthält damit den besagten politischen Impetus, welcher der Einordnung des Textes in die neue Subjektivität widerspricht. Die institutionalisierte Verdrängung wird gleich auf den ersten Seiten des Romans geschildert; Henischs Kritik an ihr ist programmatisch und bildet einen Anstoß für die Niederschrift des Romans861. Der Text setzt mit einer »Feierstunde« im »Saal des Wiener Rathauses« ein, in deren Verlauf Henischs Vater und andere »Personen« mit »dem goldenen Anerkennungszeichen für Verdienste um das Land Wien ausgezeichnet«862 werden. Die »Frau Vizebürgermeister« stellt die Preisempfänger kurz vor und springt bei der Laudatio auf Walter Henisch von der Ausbildung zum Fotografen direkt zum »Ende des Zweiten Weltkrieges« – und hier schaltet sich das kritische Bewusstsein des Erzählers ein: »[D]as geht verdammt schnell, denke ich«863. Ergänzt wird diese Geschichtsklitterung durch den grotesken Kommentar der Großmutter des Erzählers, die ihm zuflüstert, dass das Verdienstkreuz »gut zu« Walter Henischs »eisernen Kreuzen«864 passen würde. In dieser Eröffnungsszene wird also nicht nur von einer Repräsentantin des demokratischen Österreich – der »Frau Vizebürgermeister« – die nationalsozialistische Vergangenheit verdrängt; die Einlassung der Großmutter über die einander ergänzenden Auszeichnungen suggeriert zudem eine gewisse Kontinuität zwischen dem nationalsozialistisch regierten Österreich (der ›Ostmark‹) und dem demokratischen Nachkriegsösterreich. Die öffentlich praktizierte Verdrängung und die Tatsache, dass zumindest ein Familienmitglied noch nicht in der Republik angekommen zu sein scheint, zwingen den Erzähler, Kritik zu üben, das heißt: selber Geschichte zu schreiben, um das Vergessen zu überwinden. Dass Peter Henisch sich bereits in der Anfangsszene der Kleinen Figur meines Vaters akribisch und programmatisch mit der Konstruktion von Geschichte und Überlieferung befasst, hat Craig Decker gezeigt: Decker hat als erster darauf verwiesen, dass die »Wochenschaumenschen« mit ihren »Kameras«865 die Festszene gleichsam einrahmen; sie werden ganz zu Beginn eingeführt und »packen« am Ende der Feier »ihre Kameras ein«866. Die Tätigkeit der Fotojournalisten ist hier analog zu Walter Henischs Aktivitäten als »Goebbels’ most 861 Siehe hierzu auch Schneider, Jeffrey : »›Henisch, Father and Son‹: Masculinity, Art, and the Narrative of (Austrian) Shame«. Balancing Acts. Textual Strategies of Peter Henisch. Hg. von Craig Decker. Riverside CA: Ariadne Press, 2002: p. 7 – 39. Hier: p. 12 f. 862 Henisch: p. 9. 863 Ebd. 864 Ebd.: p. 10; Kapitälchen im Original. 865 Ebd.: p. 9 f. 866 Ebd.: p. 10.

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celebrated propaganda photographer«867 zu betrachten: So wie Henisch mit seinen beeindruckenden Kriegsbildern Geschichte konstruierte und verfälschte, so konstruieren Fotojournalisten mit ihren Pressebildern der Preisverleihung wiederum eine gleichsam staatlich abgesegnete Geschichte – und zwar eine Geschichte, in der die Zeit des Nationalsozialismus bedenklicherweise ausgespart wird868. Damit wird von Anfang an »the tension between historical events and officially sanctioned discourse about them« zum »primary focus«869 von Henischs Roman. Es geht also in diesem frühen ›Väterbuch‹, das angeblich die »Massstäbe setzt«870, an denen sich die ›Väterliteratur‹ generell misst, keineswegs um einen Generationenkonflikt, eine Auseinandersetzung mit einem schuldigen toten Vater oder um anklägerische Agitation, sondern um Geschichte und Verdrängung. Den in der bisherigen Forschung zur ›Väterliteratur‹ postulierten Grundannahmen wird gerade in diesem vermeintlichen Vorbildtext keineswegs entsprochen. Vor dem Hintergrund der öffentlichen Ehrung des Vaters durch eine Politikerin und eine gesellschaftliche Elite, deren Verlogenheit gleich am Anfang des Romans deutlich wird, kann Die kleine Figur meines Vaters mithin kaum als Text einer entpolitisierten neuen Subjektivität oder einer ›Väterliteratur‹, welche dieser literarischen Strömung angehört, gelesen werden. Henischs Interesse gilt nicht der Anklage oder der Schuldfrage; es gilt den peinlichen Lücken in der Laudatio der »Frau Vizebürgermeister«, gilt der Geschichte, ihrer Konstruiertheit und ihrer Verdrängung, die er im Privaten anhand seines problematischen Vaters akribisch offenbart – und damit gibt er die oberflächlichen Ausführungen der »Frau Vizebürgermeister« zu Beginn des Buches der Lächerlichkeit preis, entlarvt die öffentlich sanktionierte und gepflegte Verdrängung und Geschichtsvergessenheit und verleiht seinem Buch großen »political import«871. Henischs Vorgehen bei dieser Objektivierung und Politisierung des Privaten, die eigentlich eher an die 68er als an die neue Subjektivität gemahnt, ist subtil und facettenreich und wird, wie gesagt, mit einem beinahe wissenschaftlichen Gestus erreicht. Zunächst gelingt es Peter Henisch auf einfühlsame Weise, den Vater auf der Ebene des direkten Dialogs zu Reflexionen über das eigene Mitläufertum zu zwingen – der Autor spricht diesbezüglich von einer »vom Sohn vorgeschlagene [n] und vom Vater nach anfänglicher Reserve akzeptierte[n] Vater-Sohn-Therapie«, von »Teamwork in investigativer und kreativer Hinsicht«872. Dass die 867 868 869 870

Decker : p. 153. Siehe ebd.: p. 153 f. Ebd.: p. 154. Gehrke: p. 70. Vgl. zur angeblichen Vorbildfunktion der Kleinen Figur meines Vaters für die gesamte ›Väterliteratur‹ Frieden: p. 68. 871 DeMeritt: p. 62. 872 Freundliche Mitteilung von Peter Henisch, 7. 9. 2010.

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Unsicherheit, die den Vater überhaupt erst anfällig machte für fatale politische Verstrickungen, ursächlich mit dessen brutalem Stiefvater Albert Prinz zusammenhängt, überrascht schon kaum mehr : Auch hier treibt ein grausamer Großvater sein Unwesen. Prinz, ein Nationalsozialist avant la lettre873, quälte seinen Stiefsohn Walter, den er als »Problembündel[]«874 empfand und dessen »undeutsche[] Abkunft«875 (hierzu später mehr) ihm ein Dorn im Auge war. Die täglichen Demütigungen durch Prinz führten beim kleingewachsenen Walter Henisch nicht nur zu einem brennenden Hass auf den Sadisten, sondern machten ihn auch zu einer »person whose core sense of himself is inflected by shame«876. Dieser »shame« entkam er, von den Schulkameraden als »Giftzwerg«877 verhöhnt, nur unter der »Tarnkappe« der »Uniform«, unter der er »als der Schrapp, der ich bis dahin einzig und allein war, zu existieren auf[]hör [te]«878. Zu diesem Kompensationsmechanismus fügte sich als ergänzender »coping mechanism«879 Walter Henischs fotografisches Talent: [I]ch habe schon damals eine ganz spezielle Methode gehabt, meine Umgebung zu betrachten. Mit Vorliebe habe ich durch ein der Länge nach zusammengerolltes Stück Papier geschaut. Durch dieses Fernrohr war alles gewissermassen weiter entfernt und genauer umgrenzt. […] Ich habe den Krieg […] in erster Linie vom fotografischen Standpunkt betrachtet.880

Das Gespräch zwischen Vater und Sohn offenbart also eine fatale Gleichzeitigkeit ungünstiger Umstände: Der Selbsthass führte Walter Henisch in das entindividualisierte Kollektiv der Armee, und die distanzierte, rein fotografische Weltwahrnehmung erlaubte es ihm, die moralischen Implikationen seiner Tätigkeit als Kriegsfotograf zu verdrängen. Diese Flucht- und Kompensationsmechanismen sind es, die Walter Henisch in die Reihen der Nationalsozialisten trieben, und sie entstanden erst aus dem stiefväterlichen Terror ; Walter Henischs Kriegs- und Uniformaffinität »has very little to do with militaristic impulses. Indeed, [the uniform’s] importance for him rests in [its] ability to mitigate his sense of shame about himself«881. Walter Henisch ist mithin kein Ideologe, sondern selber ein ›Vatergeschädigter‹, für den der Nationalsozialismus nicht nur eine Chance darstellte, endlich einmal »der Größere und

873 874 875 876 877 878 879 880 881

Henisch: p. 30 ff. Ebd.: p. 32. Ebd.: p. 35; Kapitälchen im Original. J. Schneider: p. 14. Henisch: p. 55; Kapitälchen im Original. Ebd.: p. 54. Hanlin: p. 89. Henisch: p. 20; Kapitälchen im Original. J. Schneider: p. 15.

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Stärkere zu sein«882, sondern auch einen Kontext bot, in dem sein Talent für die Fotografie geschätzt und belohnt wurde. Dementsprechend war es ihm »im Grund genommen […] wurscht, von welcher Seite ich meine Fotos schieße«883, wenn er nur Fotos schießen konnte – kurzum, er »genoss[]« die kriegerische »Atmosphäre«, die »Männer, die Waffen, die Lieder, die Uniformen… Welche Uniform war nicht so wichtig«884. Die Tätigkeit als waghalsiger Propagandafotograf an vorderster Front bot dem Vater eine Kompensationsmöglichkeit für seine Ich-Schwäche, die er begierig wahrnahm, ohne sich über die moralischen Implikationen seines Tuns und des Tuns der Armee, der er angehörte, irgendwelche Gedanken zu machen. Der Krieg war ihm ein rein ästhetisches Phänomen, eine gigantische photo-op: »[D]as waren schon ganz hübsche Bilder. […] Hier zum Beispiel ein schöner Sturmangriff […]. Und da der klassische Einsatz eines Flammenwerfers […]. Und Artillerieeinschläge, recht anständig, was […]. Hier hast du ein perfekt getroffenes englisches Kampfflugzeug […]«885. Um sich den von Reflexionen und Skrupeln ungetrübten fotografischen Blick – die »brutale[] Neugier«886 – zu erhalten, spaltete sich der Vater in Mensch und Fotograf: »Menschlich gesehen war das natürlich eine Tragödie, aber vom fotografischen Standpunkt…«887 – und an anderer Stelle: »Wenn ich vor einem brennenden Haus stehe […], so wird mir das als Mensch furchtbar leid tun. Als Fotograf aber wird es mir Motiv sein […]«888. Nun ist das Gespräch zwischen Vater und Sohn, in dem solche Erklärungen geäußert werden, weder Tribunal noch Generalbeichte; der Vater erlebt keine plötzlichen Einsichten (eine Ausnahme bildet eine Anekdote am noch zu diskutierenden Ende des Romans) und entschuldigt sich nicht tränenreich für seine vergangenen Verfehlungen. Unbelehrbar scheint er allerdings nicht zu sein. Walter Henisch steht zu seiner – um es diplomatisch auszudrücken – ideologischen Flexibilität (siehe oben) und scheint im Rahmen der dialogischen »VaterSohn-Therapie«889 zumindest einzusehen, dass sein Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus erklärungsbedürftig ist. Er lässt auch durchblicken, dass ihm im Krieg die »primitive Abenteuerlust« schnell »vergangen«890 sei, dass ihn die Behandlung der russischen Kriegsgefangenen schockiert habe891 und dass spätestens an der Ostfront das »ganze beschissene Reckentum« von ihm »ab882 883 884 885 886 887 888 889 890 891

Ebd.: p. 58. Ebd.: p. 132. Ebd.: p. 202 f.; Hervorhebung nicht im Original. Ebd.: p. 80 f. Ebd.: p. 106; Kapitälchen im Original. Ebd.: p. 82; Kapitälchen im Original. Ebd.: p. 48; Kapitälchen im Original. Freundliche Mitteilung von Peter Henisch, 7. 9. 2010. Henisch: p. 92. Ebd.

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gefallen« sei und er nur noch »funktionier[]t«892 habe. Ob Walter Henischs Erklärungen für sein Mitläufertum (der Verweis auf die traumatische Kindheit mit Albert Prinz) und sein stilles Verweilen an der Front (wofür unter anderem die bedrohliche Präsenz der Feldgendarmerie als Grund genannt wird893) überzeugen, sei dahingestellt. Dass der Vater aber überhaupt Erklärungsversuche unternimmt, ist angesichts der vielen vollkommen unbelehrbaren Väter in den hier untersuchten Texten doch sehr bemerkenswert und ein Verdienst von Peter Henischs ›dialogischer‹ und investigativ-therapeutischer Vorgehensweise. Diese Ebene des direkten verbalen Austausches zwischen den Generationen dient der evidenzbasierten Aufarbeitung einer beispielhaften Mitläufergeschichte und ist in dieser Form, wie gesagt, in der ›Väterliteratur‹ singulär. Außerdem erhält die Tatsache, dass hier ein direkt Beteiligter sein Schweigen bricht und sich keineswegs nur in oberflächlicher Selbstrechtfertigung ergeht, eine gewisse politische Brisanz angesichts der um Verdrängung bemühten Führungsschicht des demokratischen Österreich – hier personifiziert durch die »Frau Vizebürgermeister«. Diese politische Stoßrichtung wird noch verstärkt durch die idiosynkratische formale Gestaltung des Romans, die im Stil einer Assemblage das Persönliche und das Öffentliche, das Private und das Politische vermischt. Wie wir oben gesehen haben und wie auch Craig Decker bemerkt, strebt Peter Henisch eben nicht nur die Niederschrift einer »biography of his father« an, sondern konstruiert zugleich »an alternative discourse on recent Austrian history«894. Über das Ziel dieses »discourse« haben wir bereits Klarheit erlangt: Im offenen Dialog mit einem Zeitzeugen versucht Henisch, die Vergangenheit zu verstehen und das institutionalisierte Vergessen zu überwinden. Auf der formalen Ebene stützt sich Henischs Alternativgeschichte aber nicht nur auf die Methoden einer ›oral history‹, sondern eben auch auf das erwähnte Stilmittel der Assemblage von Privatem und Politischem. Besonders deutlich wird das in einer Passage, auf die auch Decker verweist: Henisch sucht im Labor des Vaters nach einem Foto seiner Mutter im Badeanzug, auf das er bei seinem letzten Besuch gestoßen war895. Aber [d]a waren nichts als Einsatzbefehle, Zensuren der Bildprüfstelle und Feldpostbriefe in der steilen, manchmal etwas engen Schrift meines Vaters. Ich las, ohne zu begreifen […]. Schließlich jedoch stieß ich auf eine Reihe um die Jahreswende 42 / 43 geschriebener Briefe. Und das verschwundene Foto für einige Augenblicke beinahe vergessend, begann ich zu lesen. Mein liebes Herzerl, las ich, nur noch wenige Tage und ich 892 893 894 895

Ebd.: p. 102 f. Vgl. ebd.: p. 167. Decker : p. 154. Henisch: p. 100.

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bin endlich bei Dir. […] Ich glaube bestimmt, wir werden in diesem Urlaub grenzenlos glücklich sein. Diesem Urlaub, sagt die Stimme meines Vaters auf dem Tonband, habe ich wahrscheinlich mein Leben zu verdanken. Während sich nämlich an der Front die Tragödie von Stalingrad angebahnt hat, bin ich mit deiner Mutter im Bett gelegen. Kurze Zeit später hat sie mir dann geschrieben, dass ihre Regel ausbleibt. Dass also Du diesem Urlaub dein Leben zu verdanken hast, ist sicher.896

Was hier gestaltet wird, ist, in Deckers prägnanter Formulierung, ein »nexus of personal and political significance«897. In Henischs Schilderung kollabiert nicht nur jegliche »chronology«898 (in obigem Zitat beispielsweise werden drei Zeitebenen übergangslos vermischt: in die Suche nach einer Fotografie unbestimmten Alters, die in der Gegenwart stattfindet, mischen sich plötzlich Informationen aus der Jahreswende 1942 / 43); auch das Private (die Zeugung von Peter Henisch) erscheint dem Historischen (der Schlacht um Stalingrad) gleichgeordnet. Das Private wird somit gleichsam ›öffentlich‹; es wird in einen größeren Zusammenhang integriert und zugleich der dem Vergessen und der Verdrängung zugeneigten Privatheit entrissen, indem Henisch es einem potenziell unendlich großen Rezipientenkreis zugänglich macht: Henisch erweitert »the individual moment« und »relate[s] it to a continuum of events and thus establish[es] a context«899. In letzter Konsequenz konstruiert Henisch somit »a narrative unity insistent on documenting its temporal and textual multiplicity«, macht also »the constructive nature of his undertaking explicit«900. Wenn Henisch in Passagen wie der oben zitierten durch Autoreferenzialität auf die Gemachtheit seiner Geschichte verweist, schärft er so das eigene Bewusstsein und dasjenige der Leserschaft für die Konstruiertheit jeder Geschichte: Hier sind nicht nur die Geschichten des meisterhaft und wohl nicht immer ehrlich erzählenden Vaters gemeint, die Peter Henisch, wie in der Einleitung dieser Arbeit gezeigt, cum grano salis wiedergibt, sondern eben auch das in der Öffentlichkeit verankerte und gepflegte Geschichtsverständnis einer »Frau Vizebürgermeister«, das die nationalsozialistische Epoche tunlichst ausblendet. Nun wird auch klar, weshalb das Buch trotz seiner historiographischen, faktualen und (auto)biographischen Anlage im Paratext als »Roman«901 bezeichnet wird: Der Autor verzichtet womöglich ganz bewusst auf eine Genremarkierung wie ›Biographie‹, die den Text zum Tatsachenbericht nobilitieren würde – ein verständlicher Verzicht, wenn man sich Henischs Misstrauen gegenüber Geschichte und Geschichten vergegenwärtigt, das einem in der Kleinen 896 897 898 899 900 901

Ebd.: p. 126; Kapitälchen im Original. Decker : p. 154. Ebd. Hanlin: p. 97. Decker : p. 155. Vgl. das Titelblatt der Kleinen Figur meines Vaters.

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Figur meines Vaters auf der formalen Ebene entgegentritt902. Jedenfalls gelingt es Henisch, mittels einer dialogischen Befragung des Vaters und einer autoreferenziellen Assemblagentechnik die eklatanten »gaps«903 in der Lobrede der Politikerin zu füllen. Wenn Fotografien, wie Susan Sontag sagt, »a way of imprisoning reality«904 sind, so ›befreit‹ Henisch in seinem Roman mittels der soeben beschriebenen formalen Gestaltung gleichsam die »reality« der vom Vater gemachten Bilder, versetzt die auf ein Negativ gebannten Szenen wieder in Bewegung: Indem er die »images« des Vaters – sowohl die tatsächlichen Fotografien, die im Buch abgedruckt sind, als auch die bildhaften Erinnerungen – »into a larger narrative context«905 integriert, nämlich einen »nexus of personal and political significance«906, transformiert Henisch die ursprünglich statischen und zusammenhanglosen Fotos und Erinnerungsbilder »into dynamic tools for understanding [the past]«907. Henisch zeigt sich somit keineswegs, wie Parry behauptet, »anfällig für den Reiz der Bilder«908 und die gleisnerischen Geschichten des Vaters: Mit seiner Assemblagentechnik setzt er der arretierenden, propagandistischen Bildgewalt der Fotografie und der väterlichen Erzählungen 902 Auch Brandstädter konstatiert den Widerspruch zwischen der paratextuellen Ausweisung der Kleinen Figur meines Vaters als ›Roman‹ – also als fiktionales Werk – und dem im Text unternommenen ›autobiographischen Pakt‹, der »nahelegt, das Erzählte anhand der Kriterien eines Wirklichkeitsberichts zu lesen« (Brandstädter: p. 176). Er deutet Henischs Vorgehen nicht zu Unrecht als »Spiel kategorialer Vermischung«, in dem »literarische Ambitionen und die Popularität und Dramatik der Schilderung authentischen biographischen Geschehens […] Hand in Hand« gehen (ebd.: p. 177). Die ›verspielte‹ Oszillation zwischen fiktionalen und faktualen Erzählmodi ist aber mehr als nur ein Zugeständnis an eine interessierte Leserschaft, mehr als nur ein »Grund für die enorme Popularität des Genres Väterliteratur« (ebd., Anm. 500). Es gibt, wie wir zeigen konnten, textinterne Erklärungen für die gattungstypologische Ambivalenz der Kleinen Figur meines Vaters: Trotz seiner faktualen Grundierung kann oder will sich der Text nicht als Tatsachenbericht ausgeben, da er in weiten Teilen eben auch vom Misstrauen gegen angeblich gesicherte historische Tatsachen erzählt; dieses Misstrauen manifestiert sich auf einer Meta-Ebene durch die paratextuelle Selbstidentifikation des Werks als ›Roman‹. Diese Markierung kommuniziert einen Verzicht auf jeglichen Wahrheitsanspruch, und dieser Verzicht ist vielleicht mehr als nur eine ästhetische Entscheidung des realen Autors oder ein Versuch, den Erwartungen der Buchmarkts zu entsprechen: Man könnte ihn gleichsam als ethisches Statement lesen, als eine Art ›fabula docet‹ – schliesslich wird am Beispiel des Vaters gezeigt, dass es historische Tatsachen womöglich gar nicht gibt, sondern nur, in Brandstädters treffender Formulierung, die »pervertierte[] Erinnerung« (ebd.: p. 183). 903 Decker : p. 154. 904 Sontag, Susan: On Photography. New York: Farrar, Straus & Giroux, 1977. Hier : p. 144. Siehe auch die Aussage des Fotografen John Berger, wonach »[a] photograph arrests the flow of time in which the event photographed once existed« (Berger, John und Jean Mohr: Another Way of Telling. New York: Vintage, 1995. Hier : p. 86. Siehe auch Parry : p. 87). 905 Decker : p. 156. 906 Ebd.: p. 154; Hervorhebung nicht im Original. 907 Ebd.: p. 156. 908 Parry : p. 88.

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ja gerade eine gleichsam kaleidoskopische, eine autoreferenzielle, sprunghafte, verunsichernde und kontextualisierende Ästhetik entgegen. Die kritische, der Verdrängung im privaten und öffentlichen Bereich entgegenwirkende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit findet aber noch auf einer dritten Ebene statt, welche den Dialog und die Assemblage ergänzt. Wie Linda DeMeritt richtig feststellt, präsentiert der Roman nämlich auch den Holocaust »on two interdependent levels, the political and the personal«909 : Die »obliteration of Jews«910 ist im Text nicht nur als historisch singuläres Verbrechen präsent, subtil angetönt durch die Beschreibungen der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie; Peter Henisch vermag außerdem zu zeigen, wie sein Vater die Judenvernichtung im Privaten gleichsam symbolisch nachvollzog. Walter Henischs leiblicher Vater, ein »Jaroslav Hemisˇ oder Henisˇ«911, war nämlich Jude, der junge Walter ein »Judenstämmling«912 – die konsequente und makabre »repression of the family’s Jewish background« ist somit als »[c]oncomitant with […] [the family’s] uninterrupted approbation of Hitler and Nazism«913 zu verstehen. Mit anderen Worten: »So wie der Vater seine eigene jüdische Herkunft vor dem Krieg verdrängte, so wird nicht nur der Antisemitismus, sondern auch die frühere Existenz einer grossen jüdischen Bevölkerung in Wien überhaupt in der Öffentlichkeit weitgehend verdrängt«914. Auch diese »repression« versucht Peter Henisch in der Kleinen Figur meines Vaters behutsam, aber bestimmt zu überwinden: Das im Familienraum durch den Vater symbolisch vernichtete, da verdrängte Judentum lebt in Henischs Erzählung und im Gespräch mit dem Vater wieder auf. Der Sohn erinnert sich zum Beispiel an den jüdischen Redakteur Katz, mit dem Walter Henisch in der Nachkriegszeit zusammenarbeitete und dessen »jiddische[] Witze […] wie angegossen« zum »Wesen« des Vaters »passte[n]«915, erinnert sich aber auch daran, dass er selber in der Mittelschule das jüdische Erbe seiner Familie affirmierte, ohne davon eigentlich Kenntnis zu haben: [E]in Schulkollege, Bovo hiess er, [fragte mich,] ob ich ein Jud sei. Es war mir nicht klar, ob ich mit meiner auf diese Frage letzten Endes gegebenen Antwort meinen Vater eher verleugnete oder bekannte. – Wieso, du weißt doch, ich geh in den katholischen Religionsunterricht! – Das ist noch lang kein Grund, Juden verstellen sich manchmal. Damals ging etwas Seltsames in mir vor. Ich wollte schon wiederholen: Ich bin kein Jud.

909 910 911 912 913 914 915

DeMeritt: p. 66. Ebd. Henisch: p. 14. Ebd.: p. 13. DeMeritt: p. 66. Parry : p. 84. Henisch: p. 213.

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Aber die Antwort kehrte sich einfach um. Ja, sagte ich, du hast recht – du hast mich durchschaut.916

Am Ende des Romans und damit der offenbar durchaus wirksamen »VaterSohn-Therapie«917 zeigt sich der Vater selbst nahezu bereit, seine lange verdrängte Herkunft zu akzeptieren: »Entweder sie lassen mich wieder raus, oder sie lassen mich nicht mehr raus«, sagt er zu Peter Henisch in Bezug auf seinen bevorstehenden Krankenhausaufenthalt, und »[g]anz letzten Endes sind der Möglichkeiten immer noch zwei. Entweder ich werd vergessen, oder ich werd nicht vergessen. Du weisst ja, ein Jud hat immer zwei Möglichkeiten. Aber wieso ein Jud? fragte ich. Nu, sagte er, wieso nicht?«918 Ein explizites Bekenntnis ist das zwar nicht, wohl aber eine deutliche Anspielung, die den Sohn überrascht und wahrscheinlich erst in der Sicherheit der stundenlangen, die Verdrängung durchbrechenden Gespräche überhaupt möglich wurde919. Dieser Durchbruch (wie auch das Fehlen besonders deutlicher oder bemerkenswerter antisemitischer Züge beim Vater) widerspricht Gehrkes Behauptung, der »Judenhass« sei in Walter Henisch »fest verwurzelt«920. In der Kleinen Figur meines Vaters wird also auf drei Ebenen gegen das Vergessen angeschrieben: Zunächst füllt Peter Henisch im Dialog mit dem Vater 916 917 918 919

Ebd.: p. 232. Freundliche Mitteilung von Peter Henisch, 7. 9. 2010. Henisch: p. 243 f.; Kapitälchen im Original. Peter Henischs vorsichtige Aufarbeitung der jüdischen Herkunft seiner Familie weist allerdings auch eine sehr diffizile Komponente auf, die nicht unerwähnt bleiben darf: Das Judentum wird im Roman nämlich offenbar nicht einfach als Konfession konzeptualisiert, sondern gleichsam als Bündel intrinsischer Charakterzüge (hier vor allem Schlauheit, Schalk und eine spezifische Form von Humor), als »Wesen«, dem man sich nicht entziehen kann, selbst wenn man wollte (Henisch: p. 213). Daraus folgt: Wenn der Jude nicht aufgrund seiner Konfession Jude ist, sondern aufgrund seines »Wesens«, dann kann er ein noch so großes »Talent der Assimilation« sein – früher oder später wird er sich ›verraten‹, wie Walter Henisch im Gespräch mit dem Redakteur Katz, in dessen »jiddischen Witzen« er »etwas gefunden zu haben [schien], das wie angegossen zu seinem Wesen passte, etwas, das er eigentlich gar nicht zu suchen brauchte, weil er es […] ganz einfach in sich hatte« (Henisch: p. 213). Peter Henischs Formulierungen sind sichtlich wohlmeinend, aber, darauf sei hier klar verwiesen, äußerst problematisch. Mögen sie auch nicht so intendiert sein: Sie reihen sich doch ein in die lange Tradition eines bestimmten Sprechens über das Judentum; eines Sprechens, das den Juden nicht als Angehörigen einer Religionsgemeinschaft sieht, sondern als Mitglied einer Gruppe mit spezifischen Charakterzügen und Verhaltensweisen, im Extremfall gar als Mitglied einer distinkten Rasse. Gemäß dieser Sichtweise, auf deren fatale Weiterungen nicht eigens hingewiesen werden muss, sind die angeblich genuin jüdischen Merkmale gleichsam Teil der biologischen und psychologischen Identität der einzelnen Gruppenmitglieder geworden – sind eben Teil ihres »Wesen[s]«, etwas, das sie »ganz einfach in sich« tragen und aufgrund dessen man sie, wie das in Bezug auf Walter Henisch in der Kleinen Figur meines Vaters suggeriert wird, auch unfehlbar als Juden erkennen kann (Henisch: p. 213). 920 Gehrke: p. 82.

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die Lücken in der peinlichen Laudatio der »Frau Vizebürgermeister« und überwindet die institutionalisierte Verdrängung. Mittels seiner Assemblagentechnik gelingt ihm sodann auf der formalen Ebene der autoreferenzielle Verweis auf die Konstruiertheit jeder, auch der vermeintlich wissenschaftlich gesicherten ›Geschichte‹. Zuletzt scheint die subtile Aufarbeitung der jüdischen Herkunft von Henischs Familie einen therapeutischen Effekt auf den sterbenden Vater zu haben und offenbart die Kontinuität des Antisemitismus im Nachkriegsösterreich – warum sonst hat Walter Henisch seine Herkunft auch nach dem Krieg verschwiegen, und warum sonst bewahrt die Großmutter noch während der erzählten Zeit einen »großen Ariernachweis« für den Autor auf, weil man ja »nicht wissen« könne, »ob [man] ihn nicht noch einmal brauch[]t«921? Auf diesen drei Ebenen spielt sich Henischs Versuch ab, im Roman die Vergangenheit ans Licht zu bringen, sie zu verbalisieren, zu kontextualisieren und damit letztlich »the precondition for critical differentiation«922 zu schaffen. Henisch gelingt es, »the seemingly natural flow of the officially sanctioned story« zu unterminieren und zu stören; seine »questions, comments, insertions, variations, and alternatives subvert claims to unequivocal truth«923. Das in der Kleinen Figur meines Vaters unternommene Projekt ist also erfolgreich, wobei Henisch sich diesbezüglich vorsichtig und melancholisch ausdrückt. Sein Text habe, wie er gleich zu Beginn ankündigt, einen »versöhnlichen, relativ hoffnungsvollen Schluss«924, und dieser bleibt in der Tat, entsprechend dem »einschränkende[n] Adverb«925, ›relativ‹ offen. Die zweite, »frohe[]« Geschichte eines »Ballonstarts«926 aber, die den nota bene vom Vater vorgeschlagenen Schluss des Buchs bildet, suggeriert durchaus, dass eine Veränderung stattgefunden hat, dass durch die intergenerationellen Gespräche eine gewisse Klärung erreicht wurde. In dieser Geschichte, die sich erst kurz vor der erzählten Zeit zugetragen hat, obliegt es Walter Henisch, im Rahmen eines Ballonstarts am »Tag des Kindes« den »Nationalrat Soundso«927 zu fotografieren – er ignoriert aber seinen Auftrag und widmet sich stattdessen einem »kleine[n] Mädchen«928, das offenbar ein perfektes Motiv abgibt; schließlich sei es ja der »Tag des Kindes, nicht ein Tag der Abgeordneten und Funktionäre«929. Wie zu erwarten war, quittiert ein »Funktionär«, der sich gerne auf einem Foto mit dem Nationalrat verewigt ge921 922 923 924 925 926 927 928 929

Henisch: p. 67. Decker : p. 158. DeMeritt: p. 70. Henisch: p. 5; Hervorhebung nicht im Original. Gehrke: p. 87. Henisch: p. 244. Ebd.: p. 247. Ebd.: p. 248. Ebd.: p. 249.

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sehen hätte, Henischs Verhalten mit Unverständnis und den (das Buch beendenden) Worten: »[D]u bist auch nicht mehr der alte!«930 Wenn nun Gehrke diese Geschichte als reine Selbstinszenierung des Vaters deutet, die auf die gleiche Stufe zu stellen sei wie die weltfremde Lobrede der »Frau Vizebürgermeister« am Anfang des Buches, so ist das zynisch931. Letztlich entscheidet sich Peter Henisch ja bewusst, den Vorschlag des Vaters anzunehmen und ihm dieses anrührende Schlusswort im Buch zuzugestehen: Der Autor wäre also, wenn es sich hier um einen verlogenen Selbstinszenierungsversuch des Vaters handeln sollte, dessen Komplize, was überhaupt nicht zu Henischs ansonsten durchaus offen kritischem und analytischem Gestus passen würde. Zudem wird dem Vater vom korrumpierten Funktionär ja attestiert, dass er sich verändert habe, dass er eben »nicht mehr der alte« sei – und die positive Veränderung des Vaters besteht gerade darin, dass er sich weigert, eine politische Instrumentalisierung des Tags des Kindes mitzutragen. Damit legt er, wie DeMeritt richtig bemerkt, genau den Opportunismus ab, der ihn überhaupt erst zu den Nazis getrieben und berühmt gemacht hatte, ohne den es also die lückenhafte Lobrede am Anfang des Buches gar nicht gegeben hätte932 – oder, wie es Brzovic´ mit leichter Übertreibung ausdrückt: »Papa Henisch is freed from the anxiety of influence […] to act as a full autonomous individual for the first time in his life«933. Der Titel des dritten und letzten Teils des Romans – »Versuch eines Ausbruchs«934 – bezieht sich mithin, wie auch Hanlin935 bemerkt, keineswegs nur auf den Sohn, der sich vom Vater zu lösen sucht, sondern eben auch auf den Vater selbst, der am Ende seiner höchst problematischen Karriere zumindest bei einer Gelegenheit aus seinem opportunistischen modus operandi auszubrechen vermochte. Diese Geschichte muss auch den Sohn positiv überrascht haben, heißt es doch kurz vor dem Ende des Romans noch, die letzte Affäre des Vaters mit einer jungen Frau sei auch sein »letzter [Ausbruchsversuch]«936 gewesen, ein gescheiterter Ausbruchsversuch natürlich, nach dem »er wirklich nur mehr [eine] tragikomische Figur«937 war. Dem Ehebruch, nach dessen Auffliegen Walter Henisch noch den letzten Respekt bei Familie und Freunden verliert938, steht also am Ende des Buchs noch ein wirklich letzter, diesmal positiver und 930 931 932 933 934 935 936 937 938

Ebd. Gehrke: p. 87. Siehe DeMeritt: p. 69. Brzovic´ : p. 46; Hervorhebung im Original. Henisch: p. 155. Hanlin: p. 88. Henisch: p. 220. Ebd.; Kapitälchen im Original. Ebd.: p. 220 f.

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gelungener Ausbruchsversuch gegenüber. Gehrkes Auslegung des Schlusses ist somit zu widersprechen. Das Ende mag durchaus nur »relativ« versöhnlich sein – die Erkenntnisse, die Walter Henisch im Pensionsalter gewinnt, entschuldigen ja nicht seine unreflektierte Tätigkeit als Propagandafotograf; Peter Henisch will und kann letztlich kein »clear verdict as to the father’s complicity in the horrific events of the Third Reich«939 abgeben940. Man darf aber doch konstatieren, dass Peter Henischs Versuchsanordnung in der Kleinen Figur meines Vaters aufgeht: Der von hohen Stellen praktizierten Verdrängung vermag er mit seinem Roman etwas entgegenzusetzen, und der Vater scheint vor seinem Tod gewisse, wenn auch sehr subtile, positive Veränderungen zu erleben – zumindest ist die letzte Geschichte, die er dem Sohn erzählt, ausgerechnet eine Geschichte, in deren Verlauf er »against the very opportunism he previously applauded«941 aufbe939 Hanlin: p. 91. 940 Im Roman wird tatsächlich kein finales Urteil über den Vater gefällt (meines Erachtens überwiegt eine versöhnlich-empathische Haltung, aber das Ende bleibt zugegebenermaßen offen). Hanlin verweist allerdings zu Recht auf die diesbezügliche Aussagekraft des Romantitels und vor allem auf den frappierenden Kontrast zwischen der deutschen und der englischen Titelei. Der deutsche Titel führt den Vater als ›kleine‹, mithin auch harmlose oder bemitleidenswerte »Figur« ein (er litt ja auch ein Leben lang unter seiner kleinen Statur). Wenn man denn will, kann man diese Titelwahl wie Hanlin als womöglich unbewussten Entschuldungsversuch lesen, als Versuch, den Vater eben nur als »tiny cog in the wheels of war« erscheinen zu lassen (Hanlin: p. 91). Wichtig ist aber – und das erwähnt Hanlin nicht –, dass die mögliche Entstehung einer positiven Erwartungshaltung durch den Titel im Roman direkt reflektiert wird. In einer fast schon meta-meta-fiktionalen Passage liest Walter Henisch das Romanmanuskript und stellt fest: »Wenn du das Buch über mich Die kleine Figur meines Vaters nennst, erwartet man sich doch etwas eher Heiteres« (Henisch: p. 207; Kapitälchen im Original). Demgegenüber wirkt der englische Titel, Negatives of my Father, »more provocative«, spielt er doch nicht nur auf den »act of photographing« an, sondern auch auf »the father’s possible negative qualities, such as his distanced, possibly inhumane observation of human suffering and his seemingly blind obedience to his superiors« (Hanlin: p. 92). Daher ist es letzten Endes vielleicht primär der deutsche Titel, der bei meiner Lektüre den Eindruck eines eher versöhnlichen Endes aufkommen ließ, und womöglich wäre meine Rezeptionserfahrung unter dem Eindruck des englischen Titels anders verlaufen. Brzovic´ vermag ihrerseits dem enigmatischen Ende des Romans eine nuancierte Deutung zu geben, wenn sie es als Metapher für die »eternally deferred« – die immer nur aufgeschobene und nie zu verwirklichende – »salvation« der Kriegsgeneration durch die nachfolgende Generation liest: Diese intergenerationelle Auseinandersetzung, welche in der Kleinen Figur meines Vaters auf paradigmatische Weise betrieben wird, sei »ultimately a journey, whether taken vertically [wie eine Ballonfahrt, Anm. v. J. R.] or horizontally [wie das Kunststück der im Roman mit Vater und Sohn verglichenen Seiltänzer, Anm. v. J. R.], without end« – in Ermangelung eines erlösenden Augenblicks der »absolute transformation« muss die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit die Form eines »eternal ›coming-to-terms-with‹ the past« annehmen, und so kann auch Henischs ›Väterbuch‹ kein eindeutiges Ende haben (Brzovic´ : p. 49 f.) (und dementsprechend bleibt auch sein Anfang undeterminert, ein »Beginn einer Biografie«, und nicht etwa der Beginn der Biografie, Henisch: p. 9). 941 DeMeritt: p. 69.

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gehrt, gegen den Opportunismus, der ihn überhaupt erst zum Mitläufer der Nazis werden ließ. So geht auch Regina Kecht fehl, wenn sie behauptet, dass es Henisch in der Kleinen Figur meines Vaters zu keinem Zeitpunkt »geling[e] […], echte Kommunikation herzustellen und Erinnerungsarbeit zu leisten«942. Sie hält den Roman für eine »collagehafte Zusammenstellung, in der Vater und Sohn einzeln zu Wort kommen« und die »keinen Dialog«943 ergebe, wobei sie tatsächlich ein absurdes Komplizenverhältnis zwischen Peter Henisch und seinem Vater postuliert: Beiden gehe es darum, eine erneute »Annäherung und persönliche Bestätigung, ja sogar […] neuerliche Identifikation« zu erreichen und eine »politische[] ›Gewissenserforschung‹« tunlichst zu »verdräng[en]«944. Dass diese Lesart der Kleinen Figur meines Vaters die Tatsachen vollkommen verkennt, sollte nach unseren bisherigen Ausführungen klar sein. Es kommt in der Kleinen Figur meines Vaters durchaus zu einer dialogischen »Gewissenserforschung«, in deren Verlauf nicht nur erreicht wird, dass Vergangenes und Verdrängtes ans Licht kommt und der Vater seine jüdische Herkunft zögerlich akzeptiert, sondern sich auch der Sohn selbstkritisch zu seinem eigenen künstlerischen Antrieb befragt und bei sich »dieselbe[] brutale[] Neugier«945 wie beim Vater vermutet. Kecht übersieht, dass gerade die »collagehafte« Struktur des Textes – wir sprachen von einer Assemblagentechnik –, gepaart mit Peter Henischs Angst, seinerseits »brutale[] Neugier« an den Tag zu legen, zu einer produktionsästhetischen Situation führen muss, in der es keine einfachen Antworten geben kann, ebensowenig wie klare Schuldzuweisungen und kathartische Auflösungen. Eine ähnliche Fehllektüre müssen wir bei Hanlin konstatieren, der Peter Henisch vorwirft, eine »apologia« für seinen Vater verfasst zu haben: »[B]y allowing the father to dictate – in both senses of the word – the development of this story, we are left with an apologia for the life of Walter Henisch«946. Wie Kecht ignoriert Hanlin in seiner Auslegung des Romans einige zentrale Tatsachen: Zunächst ist es keineswegs so, dass der Vater die Diskursherrschaft behält und einem naiven Sohn eine geschönte Geschichte vordiktiert; Peter Henisch ist ein kritischer Rezipient, was sich nicht nur anhand seiner nahezu wissenschaftlichen Methodik und seiner expliziten und gleichsam editorischen Kommentare zeigt (siehe die Einleitung dieser Arbeit) – in seiner durchdachten autoreferenziellen Assemblagentechnik, die ihrerseits den Re942 Kecht, Regina: »Faschistische Familienidyllen – Schatten der Vergangenheit in Henisch, Schwaiger und Reichart«. Austrian Writers and the Anschluss. Understanding the Past Overcoming the Past. Hg. von Donald G. Daviau. Riverside CA: Ariadne Press, 1991: p. 313 – 337. Hier: p. 317; Hervorhebung im Original. 943 Ebd.: p. 318. 944 Ebd. 945 Henisch: p. 106; Kapitälchen im Original. 946 Hanlin: p. 100.

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zipienten des Romans zur kritischen Lektüre anregt, manifestiert sich Henischs Misstrauen gegenüber jeglicher Diskurshoheit. Die kritische Rezeptionshaltung dem Vater gegenüber ist in Henischs Augen durchaus eine programmatische Eigenschaft des Romans, den er treffend als »Buch« beschreibt, »das im Gespräch eine neue Nähe zum Vater sucht, aber auch die kritische Distanz immer aufs Neue definiert und wahrt«947. Schließlich gilt, dass die erlösende »apologia« ja gerade nicht erteilt wird: Das Ende ist zwar zaghaft positiv, aber der Vater erhält keine Absolution. In der Kleinen Figur meines Vaters wird, das dürfen wir zusammenfassend festhalten, ›Väterliteratur‹ gemäß unserer Definition praktiziert, wenn Henischs Text auch aus bereits genannten Gründen aus dem Korpus heraussticht: Die etablierte Historiographie und die altbekannten Erzählungen des Vaters sind für den Sohn nicht mehr glaubwürdig, was zu einer ›Vertrauenskrise‹ führt. Im Versuch, diese Krise zu überwinden, durchbricht Peter Henisch mit den Methoden und dem Duktus der Geschichtswissenschaft die Verdrängungsmechanismen und erreicht – in dieser Hinsicht ist sein Roman in der ›Väterliteratur‹ eben einzigartig – im Gespräch mit dem Vater sogar kleine versöhnliche Einsichten und diskursive Zugeständnisse. Das angesichts der institutionalisierten Verdrängung politisch brisante Interesse des Autors, dem Vergessen entgegenzuwirken, das über eine ›Politisierung‹ des Privaten erreicht wird, lässt eine Einordnung des Romans in die neue Subjektivität absurd erscheinen948. In Peter Henischs prägnanter Formulierung: »Wer [Die kleine Figur meines Vaters] für unpolitisch hält weil [der Roman] an der privaten Beziehung ansetzt, ist erstens sehr unsensibel, hat zweitens die Dialektik von Privatem und Politischem, von der um 1968 und danach viel die Rede war, nicht begriffen oder

947 Freundliche Mitteilung von Peter Henisch, 7. 9. 2010. 948 Ebenso abstrus wirkt Parrys Behauptung, Walter Henisch werde im Roman »nicht als […] Pressefotograf, sondern als Vater zum Problem« (Parry : p. 85): Gerade die Schilderung des prototypischen Mitläufer-Werdegangs und die Reflexionen über die problematische Ästhetik der Fotografie mit ihrer »brutalen Neugier« weisen doch weit über den Vater als Privatperson hinaus; er wird mithin durchaus in seiner öffentlichen und beruflichen Rolle in den Fokus genommen (angeregt wird das Romanprojekt ja bezeichnenderweise durch eine im prototypischen Sinne öffentliche – da von einer Repräsentantin der politischen Elite in einem Rathaus vorgetragene – Laudatio auf den Vater). Die »brutale[] Neugier« ist denn auch kein privates oder individuelles Problem des Vaters, sondern wird von Peter Henisch gekonnt als ethische Frage präsentiert, mit der sich alle Künstlerinnen und Künstler, auch der Autor selbst, konfrontiert sehen. Das gilt auch in Bezug auf die Offenlegung der verschwiegenen jüdischen Herkunft des Vaters: Diese Aufarbeitung wird ebenfalls nicht als private oder rein väterliche Problemstellung inszeniert. Vielmehr dient der Vater als Beispiel für die makabre Gleichzeitigkeit der Vernichtung und Verdrängung des Judentums in der Öffentlichkeit und in der privaten Wahrnehmung (hier im Familienraum der Henischs).

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hat den Text […] nicht wirklich gelesen«949. Von ›Väterliteratur‹ im konventionellen und in dieser Arbeit kritisierten Sinne kann in Bezug auf Henischs Text nicht die Rede sein, fungiert der Vater hier doch ›nur‹ als wichtiger Zeitzeuge im Rahmen eines analytisch abgestützten und facettenreichen Versuchs, durch private Aufarbeitung der Vergangenheit dem öffentlich praktizierten Verdrängen und Vergessen entgegenzuwirken. Die kleine Figur meines Vaters ist somit ein paradigmatisches ›Väterbuch‹ im Sinne der vorliegenden Studie: Das Werk, entstanden durch den Impetus einer ›Vertrauenskrise‹ und geprägt von einem historiographischen Interesse und der entsprechenden Methodik, entspricht in prototypischer Weise unserer Sicht der ›Väterliteratur‹ als Hybrid von Literatur und Geschichtsschreibung.

7.2. Institutionskritik und deutsche Pfarrer: Ruth Rehmanns Der Mann auf der Kanzel Für Ruth Rehmanns950 Mann auf der Kanzel gilt, was wir zuvor über Henischs Roman sagten: Das Werk stellt aus verschiedenen Gründen einen Einzelfall innerhalb der ›Väterliteratur‹ dar, sprengt also wie Die kleine Figur meines Vaters 949 Freundliche Mitteilung von Peter Henisch, 7. 9. 2010. 950 Einmal mehr sind reale Autorin und Erzählerin meines Erachtens identisch. Anzumerken ist allerdings, dass die Erzählerfigur in zwei Teile zerfällt: Eine Erzählerin, die man wahrscheinlich getrost mit Ruth Rehmann ineinssetzen darf, und, in der Rückschau, »das Kind« (siehe z. B. Rehmann: p. 23). Die Teilung der Erzählinstanz in zwei distinkte Figuren – in eine Frau mittleren Alters, die mit kritischem Gestus ihren Kindern die Geschichte ihrer Familie nahezubringen sucht (hierzu gleich mehr) und ein »Kind« – verdeutlicht den Reifungsprozess, den die Erzählerin hinter sich hat, und auch die eigene Befangenheit in dieser Erzählerrolle (siehe hierzu Rehmann: p. 223). Die Spaltung hat aber noch einen weiteren Grund: Im Zuge ihrer Nachforschungen wird sich die Erzählerin auch der eigenen Verfehlungen bewusst, die sie als junges Mädchen in der Zeit des Nationalsozialismus begang. So erinnert sich erst die ›erwachsene‹ Erzählerin, im Gespräch mit dem Lehrer Limbach, an Hannchen Heilmann, ein jüdisches Mädchen, dessen Familie deportiert wurde und mit dem die Erzählerin als ›Kind‹ zur Schule ging: »›Hannchen Heilmann, die kenne ich gar nicht‹, sagte ich, ›den Namen hab‹ ich noch nie gehört‹, und als ich das sagte, zersprang eine Haut in meinem Kopf und ein Gesicht trat hervor […]. ›Kommst du zu meinem Geburtstag?‹ ›Was der bloss einfällt‹, sage ich zu meiner Mutter, ›die habe ich doch zu meinem Geburtstag auch nicht eingeladen‹ […]. Aber am Geburtstag ist Hannchen Heilmann nicht in der Schule. ›Wird wohl krank sein‹, sagt die Lehrerin, und Hilde Krämer, die hinter mir sitzt, flüstert in meinem Nacken: ›Die ist nicht krank! Der ihren Vater haben sie heute nacht abgeholt, der ist doch ein Jüdd.‹ Und ich atme erleichtert auf: ›Dann brauchen wir nicht zu ihrem Geburtstag. Bei denen stinkt’s.‹« (Rehmann: p. 163 f.). Als die Erzählerin – oder eben ›das Kind‹ – an anderer Stelle vom Lehrerssohn, »der immer noch nicht in der HJ ist«, für das Mitläufertum ihrer Familie kritisiert wird, »schreit sie ihn an« (ebd.: p. 175 f.). Diese Residuen einer genuin eigenen Schuld, welche der Erzählerin erst im Laufe ihrer Arbeit am Roman bewusst wird, machen die Dissoziation in gereifte ›Erzählerin‹ und

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die engen Grenzen des Genres. Eine Randbemerkung vorab: Was die Rolle der Mutter angeht, ist festzuhalten, dass diese – wie so oft in der angeblichen ›Väterliteratur‹ – nicht ganz so marginal ist, wie beispielsweise Gehrke951 postuliert. Ihr ist das ganze vierte Kapitel des Romans gewidmet, und sie rückt in dieser äußerst Heiligen Familie in die bereits beschriebene Position der distanzierten, verehrten Jungfrauenmutter (bezeichnenderweise lernte der Vater sie an einem »evangelischen Jungfrauen-Nachmittag«952 im Pfarrhaus des Großvaters kennen). Dieser Befund ist erwartbar, wurde bislang aber in der Sekundärliteratur noch nicht formuliert. Einzigartig ist der Text innerhalb der ›Väterliteratur‹ nun insofern, als die 1922 geborene Ruth Rehmann signifikant älter ist als die meisten anderen ›Väterliteraten‹ – und damit ist natürlich auch ihr Vater Reinhold mit Jahrgang 1875 nahezu eine Generation älter als die anderen porträtierten Väter. Reinhold Rehmann (im Buch stets Reinhold genannt), Pfarrer in Auel, stirbt schon 1940; somit geht es hier nicht primär um Schuldfragen und schon gar nicht um die Familienproblematik der Nachkriegszeit. Auch mit der Studentenbewegung und der darauffolgenden ›Tendenzwende‹ der Siebzigerjahre hat Rehmann – da zu alt – wenig zu tun. In den Augen ihres scharfzüngigen Sohnes Thomas, Student der Geschichte, ist die Autorin gar in einer ähnlichen Position wie die Eltern der anderen ›Väterliteraten‹: Sie, die 1968 sechsundvierzig Jahre alt war, steht nach der Ansicht des hitzigen Thomas schon für das Establishment; er attestiert ihr ein »bürgerliches Bewußtsein«953 (hinter Thomas verbirgt sich der Historiker Jan Rehmann, der eine noch zu erwähnende Studie über Kirchen im NS-Staat vorlegte954). An dieser »Störung in der Leitung«955 zwischen den Generationen arbeitet sich der Text ab: Angestrebt wird eine ausgewogene, ausgreifende, repräsentative und geistesgeschichtlich fundierte Darstellung einer bestimmten Sozialisation und eines bestimmten Milieus, die den Vater in Bezug auf die Gefahren des Nationalsozialismus blind machten. Diese Darstellung will die

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naiv-blindes ›Kind‹ notwendig. Erst am Ende des Textes beginnen die Figuren sukzessive zu konvergieren, scheint die gespaltene Erzählinstanz langsam eins zu werden: Die Erzählerin ist dem ›Kind‹ »näher[ge]kommen, aber noch nicht so nah, dass ich anfangen könnte (oder wollte), Ich zu sagen zu dem Mädchen« (ebd.: p. 208). Diese Dualität der Erzählerfigur ist zwar erwähnenswert, aber meines Erachtens durch ganz bestimmte produktionsästhetische Faktoren bedingt, namentlich Schuldgefühle auf Seiten der realen Autorin, die sich an ihre Kindheit erinnert. Besagte Dualität soll uns also nicht davon abhalten, im Falle des Manns auf der Kanzel die Erzählerin und die reale Autorin als weitgehend identische Entitäten zu taxieren. Gehrke: p. 133. Rehmann: p. 42. Ebd.: p. 12. Siehe Gehrke: p. 123, Anm. 2. Ebd.: p. 17.

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Autorin im Roman den eigenen Kindern vermitteln. Diese produktionsästhetische Grundsituation ist in der ›Väterliteratur‹ einzigartig, allein aufgrund der generationellen Konstellation mit dem alten Vater, der ›alten Tochter‹ und den direkt angesprochenen und im Text präsenten Kindern, beziehungsweise Enkeln, die ja bereits erwachsen sind. Somit ist Rehmanns Buch nicht in dem Sinne ›dialogisch‹, dass direkt mit dem Vater kommuniziert würde, der bei der Publikation des Romans ja schon seit vierzig Jahren tot war. Die intergenerationelle Kommunikation, die den Mann auf der Kanzel von der übrigen ›Väterliteratur‹ abhebt, findet hier vielmehr zwischen der Autorin und ihren Kindern statt. Das intendierte Publikum des Romans bilden Rehmanns Kinder, denen der Text gewidmet ist956, die die Recherchen der widerwilligen Autorin in Gang setzen957 und die in einer programmatischen Passage gleichsam angesprochen werden: Es hat eine Störung in der Leitung: Nazizeit, Krieg, Zusammenbruch. Wie überliefert man Väter, die weder Naziverbrecher noch Widerstandskämpfer waren? Wie bringt man sie einzeln und lebendig durch die Mühle der Pauschalvorstellungen und -urteile? Wie schützt man sie vor der Verzerrung durch Schreckens- oder Wunschbilder?958

Rehmanns Ziel, das sie »auf Veranlassung ihrer Kinder«959 und im Dialog mit ihnen verfolgt, ist mithin die ungeschönte, aber gerechte »[Ü]berliefer[ung]«960 der Geschichte des Vaters an die Enkelgeneration – ein Erkenntnisinteresse, das wiederum eher an die Geschichtswissenschaft als an literarische Tätigkeit gemahnt und das auch mit den Methoden der Wissenschaft verfolgt wird: Genau wie Henisch hat Rehmann nämlich eine mündliche Quelle, einen Zeitzeugen, den sie befragt und dessen Aussagen sie protokolliert und in den Roman einbindet. Es handelt sich um den zweiundneunzigjährigen »rote[n] Lehrer Limbach«961, einen Freigeist, der Rehmanns Vater zeitlebens kritisch, aber respektvoll begegnete. Entsprechend diesem Forschergestus ist auch der Großvater väterlicherseits im Roman präsent, der für einmal kein Tyrann ist, sondern – selbst Pfarrer – ein imposanter und gutmütiger Patriarch. Das Motiv der Heiligen Familie mag für männliche Autoren, die über die eigene Familie schreiben, attraktiver sein als für Autorinnen wie Ruth Rehmann, ganz einfach darum, weil Erstere sich, wie bereits gezeigt, leicht in die Rolle des messianischen Sohnes hineinschreiben können. Trotzdem wird der Topos im Mann auf der Kanzel aktualisiert, nur ist er gleichsam um eine Generation verschoben: Als messianischer Sohn tritt in Rehmanns Text der Vater Reinhold in Erscheinung, 956 957 958 959 960 961

Ebd.: p. 6. Ebd.: p. 12 ff. Ebd.: p. 17. Gehrke: p. 124. Rehmann: p. 17. Ebd.: p. 14.

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und in die Position des Gott-Vaters rückt der Großvater. Dessen Hoffnungen liegen dementsprechend auf dem Sohn – »[i]st er nicht köstlich, der Kleine[;] [d] arf man nicht stolz auf ihn sein?«962 –, und Reinhold ist tatsächlich »der Leichteste und Schnellste in der Familie«, gilt als »›helle‹, ›brillant‹«, und scheint, kurzum, »›zu Höherem bestellt‹«963. Wiederum ist also die Großelterngeneration im Roman vorhanden, und wie schon Peter Henisch zeigt Ruth Rehmann eine gewisse Empathie für die Bedingungen, unter denen der Vater aufwuchs – eine Empathie, die hier nahezu in Identifikation übergeht, denn wenn die Pfarrerstochter über ihre Kindheit schreibt, so schreibt sie in gewisser Weise zugleich über die Kindheit des Vaters, des Pfarrerssohns: Pfarrers Kinder – man kennt den Spottvers – werden mit Müllers Vieh verglichen, das selten oder nie gedeiht. […] Sie gehören nirgends richtig dazu. […] Der Anspruch der Lehrer ist hoch, ihre Leitung zu Vater direkt. Was für andere ein Spaß ist, ist für sie ein Vergehen […]. […] Sie fühlen sich unverstanden und heimlich auserwählt. […] Aus Pfarrhäusern sind, wie man weiß, ausgezeichnete Leute hervorgegangen, auch Terroristen und ungezählte Psychopathen, aber die kennt man nicht. […] In allem, was sie tun, haben [die Pfarrerskinder] es außer mit den leibhaftigen Eltern mit dem allmächtigen Übervater zu tun […].964

So ist das »ganze Leben des ›Kleinen‹« – als der Rehmanns Vater bis ins Erwachsenenalter gilt – »von väterlicher Fürsorge umfasst«965, die sich beispielsweise in einfühlsamen »Briefe[n]« manifestiert, in denen aber das »Zeitgeschehen«966 jeweils tunlichst ausgeblendet wird. Unter den Fittichen des fürsorglichen Vaters (oder, aus Ruth Rehmanns Sicht, Großvaters) entwickelt sich Reinhold mit seinem »reine[n], kindliche[n] Gemüt«967 zu einem wohlmeinenden und kompetenten, aber naiven Kirchenmann. Ziel dieser weit ausgreifenden Analyse, die beim Großvater beginnt, ist, wie noch im Detail zu zeigen, eben die Erhellung der Sozialisation und des Verhaltens von Ruth Rehmanns Vater für dessen Enkel, Rehmanns Kinder – diese halten ihn nämlich aufgrund der erwähnten »Störung in der Leitung«968 wahlweise für einen »lange Pfeifen rauch[enden]«969 Repräsentanten einer völlig fremden Welt oder für einen »Pfaffen«970, der sich zum Komplizen der Nazis machte. Diese (auto-)biographischen Betrachtungen einer Autorin, die sich kei962 963 964 965 966 967 968 969 970

Ebd.: p. 35. Ebd: p. 35 f. Ebd.: p. 37 ff. Ebd.: p. 39. Man beachte, wie hier abermals das Motiv eines ›kleinen‹ Vaters begegnet. Ebd.: p. 40. Ebd.: p. 43. Ebd.: p. 17. Ebd.: p. 11. Ebd.: p. 12.

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neswegs der ›zweiten Generation‹ im Sinne dieser Arbeit und im Sinne Mauelshagens zuordnen lässt, entziehen sich, man muss es kaum erwähnen, dem Begriff der ›Väterliteratur‹: Rehmann arbeitet sich keineswegs nur an der Person des eigenen Vaters ab, sondern bezieht den Großvater und die Sozialisation des Vaters in ihre Betrachtungen mit ein. Vergegenwärtigt man sich zudem die Tatsache, dass Rehmanns Kinder die Adressaten des Romans sind, so muss man im Mann auf der Kanzel die Gegenwart von insgesamt vier Generationen konstatieren – von ›Väterliteratur‹ kann keine Rede sein, zumal Reinhold noch von zwei weiteren, und zwar rein politisch-historischen »Vaterfiguren«971 geprägt wird: Namentlich von den beiden Kaisern des Zweiten Deutschen Reichs, vom »Alte[n] und […] Junge[n], […] fast so fern wie der Liebe Gott und auf ähnliche Weise geliebt und verehrt«972. Die literarische Historikerin Rehmann ist sich im Zuge ihrer Untersuchungen der eigenen Befangenheit als Tochter bewusst und macht sie, wie jede gute Forscherin, explizit, auch im direkten Gespräch mit dem Sohn Thomas973. Besonders deutlich wird das historiographische Interesse der Autorin in den Passagen, welche die Eltern als repräsentative Typen schildern974 und im langen Exkurs des Lehrers über den »Kirchenkampf«975, der im ›Dritten Reich‹ die deutschen Protestanten spaltete: Den Kampf nämlich zwischen den nazifreundlichen »Deutsche[n] Christen«976 und der etablierten »offiziellen Kirche«, vor allem im »Pfarrernotbund« und der »Bekenntniskirche«977 (der Vater steht beiden Parteien skeptisch gegenüber und pflegt eine traditionalistische und staatstragende Theologie). Diesen Vortrag hält Limbach »über die Hornbrille 971 Mauelshagen: p. 225. 972 Rehmann: p. 53. Man denke an die Verse, die der dreizehnjährige Reinhold nach dem Tod Wilhelms I. »in sein Poesiealbum« schrieb: »Kaiser Wilhelm ging in Frieden / Ein zu seiner Väter Ruh, / Schloß die treuen, nimmermüden, / Milden Vateraugen zu. / Ihren Blick, den lichten klaren, / Laßt uns tief im Herzen wahren, / Weil ein Vater daraus spricht« (Rehmann: p. 55 f.; Hervorhebungen nicht im Original). 973 Vgl. die dem Roman vorangestellte kurze Passage über das innige Verhältnis, das Ruth Rehmann als Kind zu ihrem Vater pflegte – hier legt die Autorin ihre Loyalitäten offen; eine brutale Demontage des Vaters ist demnach nicht zu erwarten (p. 8). Das Elternhaus bezeichnet sie dementsprechend mehr als einmal als »intakt[], liebreich[]« (Rehmann: p. 79) – von einem ›Generationenkonflikt‹ kann zumindest zwischen Ruth Rehmann und ihrem Vater keineswegs die Rede sein. Am Ende des Buches hält sie gegenüber Thomas resümierend fest: »›So ist das mit den befangenen Zeugen‹, sage ich. ›Die Schuld ist ihnen so nah, dass sie nie pur erscheint, sondern in undurchsichtigen Mischungen, die sich der sauberen Trennung entziehen. Je genauer sie zu schneiden versuchen, desto näher geraten sie an die eigene Person, desto tiefer und schmerzhafter ins eigene Fleisch, […] so dass sie am Ende die Prüfung gar nicht fortsetzen können, ohne sich selbst zu prüfen […]« (ebd.: p. 223). 974 Siehe z. B. ebd.: p. 28 ff.; p. 53 ff. 975 Ebd.: p. 128. 976 Ebd.: p. 130. 977 Ebd.: p. 132.

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hinweg« und im Duktus einer »Belehrung, eine[r] Art Colloquium«978. Nun zielt ein Roman, der seinen Lesern ›Colloquiumsnotizen‹ zumutet, unbestreitbar auf einen Grad an Erkenntnisgewinn und Erkenntnisvermittlung ab, der über die einzelne Vaterfigur weit hinausgeht. Und obwohl die ›Vertrauenskrise‹ eigentlich ein zeit- und kulturgeschichtliches Phänomen ist, das Ruth Rehmann gar nicht direkt erfassen dürfte – sie ist, wie gesagt, selber im Alter der Feindbilder der 68er –, manifestiert sie sich wie bei Henisch zwangsläufig im subversiven historiographischen Interesse der Autorin. Indem sie dem von »›treue[n] Gemeindemitglied[ern]« geschnittenen »rote[n] Lehrer«979 eine Plattform bietet, rettet sie seine wertvollen Erinnerungen vor dem Vergessen, vor der von der Aueler Gemeinde offenbar gewünschten Verdrängung. Hinzu kommt, dass Rehmann die Blindheit ihres Vaters gegenüber dem Nationalsozialismus mit seinem Berufsstand in Verbindung bringt; das heißt, sie sucht auf kultur- und kirchengeschichtlicher Ebene eine Erklärung für die allzu geringe ideologische Widerstandskraft der Evangelischen Kirche: Das Buch erhält durch diesen Angriff auf die väterliche Diskurshoheit (die im konservativen und dem Romanprojekt ablehnend begegnenden Bruder der Autorin fortlebt) eine institutionskritische und damit eminent politische Komponente, die wir in der Folge herausarbeiten werden. Wir dürfen aber schon jetzt festhalten, dass Anne Critchfields Behauptung, wonach Der Mann auf der Kanzel »evad[es] an engagement with historical issues«980, absurd anmutet. Wenn Walter Hinck schreibt, dass sich »die Gestalt« von Rehmanns Vater »in dreierlei Art von Beziehungen« herauskristallisiere, namentlich »zu seiner Familie, zu seiner Gemeinde und zum Staat«981, so ist das sicherlich nicht falsch. Alle diese Beziehungen gründen aber auf einer holistischen und unerschütterlichen Weltsicht, die dem Vater, wie Rehmann zeigt, schon als Kind vermittelt wurde: Auf einem Protestantismus nämlich, der im Familienraum die Unterwerfung unter den Patriarchen und im politischen Leben die bedingungslose Gefolgschaft gegenüber der jeweiligen staatlichen Autorität einfordert. Das vom Großvater verkörperte und von Reinhold weitergetragene Christentum transportiert mithin ein »Modell der Heiligen Familie«, das dem »Staat« als »ideologische[r] Bündnispartner«982 dient; Familienvater und Monarch und Sohn und Subjekt sind gleichsam homologe Positionen. Aus dieser zugleich privaten und politischen »Autoritätsgebundenheit«983 des Vaters erklärt 978 979 980 981

Ebd.: p. 128. Ebd.: p. 14. Critchfield: p. 93. Hinck, Walter: Germanistik als Literaturkritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983. Hier: p. 107. 982 Koschorke: p. 187. 983 Mauelshagen: p. 223.

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sich sein lebenslanger radikaler Monarchismus984, erklärt sich auch seine Unfähigkeit zu eigenständiger kritischer Reflexion, seine Gebundenheit an »Ideologie oder Doktrin […] [und die] Erfüllung einer bestimmten Rolle«985. Was den Vater demnach unfähig zu Kritik und Widerstand macht, ist eben nicht nur die »Vereinzelung des bürgerlichen Individuums«, beziehungsweise »die Sehnsucht nach der Aufhebung dieses Zustandes«986, wie Mauelshagen behauptet. Natürlich ist der Vater zunächst ein Traditionalist im Mannheimschen Sinne (siehe Kap. 2.1.), der eine reflexartige Abwehrhaltung gegenüber aller Politik987 und jeglichen neuartigen Entwicklungen in Kunst und Gesellschaft hegt988. Neben seinem bürgerlich-traditionalistischen Stand ist es aber doch gerade die protestantisch fundierte Geisteshaltung, die den Vater zu Loyalität selbst gegenüber den Nationalsozialisten zwingt, und diese Geisteshaltung analysiert Rehmann in ihrem Roman akribisch – ohne zu rechtfertigen und stets mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns für ihre Kinder. Sie geht dabei, wie gesagt, konsequent mit dem Gestus des Historikers vor, verschafft sich beispielsweise beim Lehrer Limbach den erwähnten Crashkurs in der Kirchengeschichte des Dritten Reichs und exzerpiert im »Institut für evangelische Theologie aus Kirchenzeitungen« Passagen, die auch mein Vater damals gelesen haben muss […]: ›Wie die Kirche sich in Christus, so offenbart sich der Staat in der Person des Herrschers‹… ›Das Königtum in Preußen ist uns Evangelischen tausendmal mehr als eine politische Frage, es ist uns Glaubensfrage‹… ›Parteiwesen verträgt sich nicht mit dem Geist der evangelischen Kirche‹989

Es sollte nun klar geworden sein, dass einer potenziellen kritischen Haltung des Vaters eben keineswegs nur das Bedürfnis nach einer »Aufhebung« der »Vereinzelung des bürgerlichen Individuums«990 im Weg stand, sondern primär 984 Dieser Monarchismus mündet bei Reinhold trotz allem Mitläufertum und trotz aller Anpassung an die gegebenen Verhältnisse niemals in genuin nationalsozialistisches Denken. Vertiefte Auseinandersetzung mit Politik ist dem Traditionalisten Mannheimscher Prägung ohnehin zuwider ; zudem fehlt dem als proletenhaft empfundenen »[b]raune[n] Pack« nach Ansicht des Vaters jegliche ›kaiserliche‹ Würde. So akzeptiert Reinhold die Nazi-Obrigkeit gemäß seiner staatstragenden, traditionalistisch-religiösen Haltung, respektiert sie aber nicht (Rehmann: p. 121, p. 125). 985 Mauelshagen: p. 224. 986 Ebd.: p. 231. 987 »Politik gehört zu den Themen, die einem den Appetit verderben wie Sexualität, Verbrechen, Geld« (Rehmann: p. 121). 988 Besonders deutlich wird das in Rehmanns Beschreibung des elterlichen Bücherregals, in dem sich Werke von »Rückert, Arndt, Uhland, Lenau, Liliencron, Freiligrath; […] Wilhelm Schäfer« finden, aber keine von »Thomas oder Heinrich Mann, […] Hauptmann, Shaw, Ibsen, Strindberg, […] Döblin, Werfel, Tucholsky, Brecht« oder anderen zeitgenössischen Schriftstellern. 989 Rehmann: p. 75. 990 Mauelshagen: p. 231.

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»Römer 13«, wo es heißt: »[s]eid untertan der Obrigkeit«991. Aber Rehmann befasst sich auch mit dem Theologen Adolf Schlatter, einem »Leitbild[]«992 des Vaters: Dieser interpretierte die im Römerbrief genannte Obrigkeit als »›irgendeine […], die besteht und vorhanden ist‹«, womit der Christ »Gehorsam schuldig [ist] ›allen, denen die Vollmacht zur Regierung gegeben ist, einerlei, in welcher Weise diese geordnet und bemessen ist‹«993. Für Menschen, die so denken, ist »Loyalität […] ein Wert an sich, wem sie erwiesen wird, ist unwichtig«994 ; der Staatsmacht dürfte ein Christ dieser Prägung höchstens dann Widerstand leisten, wenn sie »ihn […] an der Ausübung seiner Christenpflicht hinder[n]«995 sollte. Wie so oft stellt Rehmann die gleichen Fragen wie die Historiker, welche die Ausdehnung »des vierten Dekaloggebots […] auf alle kirchlichen und weltlichen Abhängigkeitsverhältnisse[,] […] [und den] Einbezug der weltlichen Obrigkeiten unter den Elterntitel […] [nach] Luthersche[m] Beispiel«996 ja ebenfalls analysiert haben. Durch diese stringenten und geistesgeschichtlich untermauerten Untersuchungen kann im Roman der Umstand, dass es dem Vater »nicht in den Sinn« kommt – kommen kann –, »[g]egen Verhältnisse zu kämpfen«997, erhellt (aber nicht entschuldigt) werden. Das naive »Vorverständnis« des Vaters, das ihn in den Nazis zwar degoutante, aber doch irgendwie staatstragende (und ab 1933 ja regierende) Kräfte, in den kirchenfeindlichen »Roten« aber »ein[en] Funke[n] im Heuhaufen«998 sehen ließ, wird so verständlich. Sein moralisches Versagen in mindestens zwei Fällen kann dank der geistes- und kirchengeschichtlichen Untersuchungen der Tochter am Ende des Buches zumindest begriffen werden: Dass er, als 1933 ein SS-Mitglied im Kampf mit Gewerkschaftsmitgliedern starb, die Schuld automatisch und zu Unrecht bei den »Roten« suchte und damit an der Verurteilung eines Unschuldigen maßgeblich beteiligt war, ist mit dem Verweis auf das entsprechende »Vorverständnis« des Vaters erklärbar (wird im Roman aber keinesfalls entschuldigt): Dieses »Vorverständnis« sei in ihm »so sicher […] verankert« gewesen »wie die

991 Rehmann: p. 124. In der Version der Neuen Jerusalemer Bibel: »Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam« (Brief an die Römer 13.1. Neue Jerusalemer Bibel [siehe Fn. 359]: p. 1646). 992 Rehmann: p. 74. 993 Ebd.: p. 124. 994 Mauelshagen: p. 227. 995 Rehmann: p. 76. 996 Münch, Paul: »›Vater-Staat‹. Staatsmänner als Vaterfiguren?« Sturz der Götter? Vaterbilder im 20. Jahrhundert. Hg. von Werner Faulstich und Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989: p. 67 – 97. Hier: p. 70. 997 Rehmann: p. 96. 998 Ebd.: p. 218 f.

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Prämisse seiner Theologie«999. Dasselbe gilt für seine Blindheit gegenüber den Leiden seiner jüdischen Mitbürger, darunter sein Freund »Herr Jacobi«1000, der eines Abends den Pfarrer verzweifelt um Hilfe anfleht, bevor er schließlich emigriert: Reinhold spielt die berechtigten Ängste des Juden herunter. Nicht etwa aus Boshaftigkeit, sondern weil er, gemäß seinem »Vorverständnis« und seiner naiven Disposition »zum Vertrauen«1001, auch und gerade gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern, gar nicht glauben kann, dass derartige Grausamkeiten überhaupt möglich sind: »Sie doch nicht«, sagt er zu Jacobi, und verweist darauf, dass der Jude ja »Weltkriegsteilnehmer, Träger von Frontauszeichnungen« sei – »[n]ein, ich kann das nicht glauben«1002. Rehmanns extensive historische Analysen offenbaren somit an einem Einzelbeispiel die Mechanismen, welche auf einer Makroebene eine gesellschaftliche Institution – die Evangelische Kirche – für den Nationalsozialismus anfällig oder zumindest weitgehend zum Widerstand unfähig machten. Wie bei Henisch ist also auch hier, ganz entgegen den Grundsätzen der neuen Subjektivität, das Private politisch. Die »Strategie des Selbstbetrugs«1003, die Hinck beim Vater Reinhold ortet, ist mithin, das zeigt der Roman, nicht einfach nur eine individuelle Verdrängungsleistung, sondern ein institutionelles und sogar 999 Ebd.: p. 218. Der Begriff »Vorverständnis« hat, wie Rehmann hier durchblicken läßt und ihr Bruder Gerhard an anderer Stelle bestätigt, auch eine theologische Bedeutung: Er denotiere, so Gerhard, die Überzeugung der Theologen, »dass Gott ist« und bilde »die unerläßliche Voraussetzung ihrer Wissenschaft« (Rehmann: p. 74). Im Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie entspricht dieser Terminus ungefähr der hermeneutischen Kategorie des »Vorurteil[s]«, hier »im Sinne eines Schon-eine Meinung-Habens von etwas zu Verstehendem«, ohne das »es zu keinem Verstehen kommen« kann (Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie. Hg. von Albert Franz, Wolfgang Baum und Karsten Kreutzer. Freiburg im Breisgau: Herder, 22007. Hier : p. 433). Dieses »Vorverständnis« ist es Gerhard zufolge, was ihn und den Vater von Ruth Rehmann unterscheide; sie sei deshalb gar nicht in der Lage, sich über die komplexen theologischen und historischen Zusammenhänge, die sie in ihrem Roman angeht, Klarheit zu verschaffen – kurzum, Gerhard hält seine Schwester für eine »Unbefugte[]« (Rehmann: p. 74). Rehmann nimmt diesen Gedanken auf und kehrt den Spieß zugleich um, wenn sie den Fachterminus anwendet, um das politische Versagen des Vaters zu erklären: Gerade das »Vorverständnis«, das sich beim konservativen Vater eben auch auf die politische Weltwahrnehmung erstreckte – seine Meinung zu den »Roten« ist ja »so sicher […] verankert[] wie die Prämisse seiner Theologie« –, machte ihn unfähig zu kritischer Reflexion (Rehmann: p. 218). Rehmanns Anwendung des Begriffs ist also brisant, wenn nicht polemisch: Sie suggeriert nämlich, dass zumindest die konservativen Theologen wie der Vater Reinhold und der Bruder Gerhard allesamt an derselben politischen Blindheit litten und leiden, dass diese Blindheit mithin eine fatale Berufskrankheit darstellt; der Vorwurf der Unbedarftheit und Arroganz wird hier gleichsam, in verstärkter Form, an den Bruder und andere Theologen seiner Prägung zurückgegeben, womit die Autorin Ideologiekritik übt. 1000 Ebd.: p. 186. 1001 Ebd.: p. 162. 1002 Ebd.: p. 185; Hervorhebung nicht im Original. 1003 Hinck: p. 108.

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in der Theologie (beispielsweise eben bei Schlatter) lokalisierbares Problem – man vergegenwärtige sich nochmals den Begriff des Vorverständnisses, sowohl in seiner theologischen Bedeutung als auch in der Bedeutung, die ihm Rehmann verleiht (siehe Fn. 1001). Und wenn Rehmann auch mit Empathie und Einfühlungsvermögen vom Vater erzählt, so bewahrt sie doch, wie Henisch, jederzeit die nötige Distanz; der Roman soll erklären, nicht rechtfertigen. Den Anspruch der Autorin, ein repräsentatives Einzelschicksal zu schildern und dabei aller »[B]efangen[heit]«1004 zum Trotz die nötige Distanz zu wahren, darf am Ende des Buches Sohn Thomas nochmals programmatisch formulieren, aber auch kritisieren: ›Es gibt so viele Geschichten dieser Art‹, sagt er. ›Sie werden im Ton der Wahrheit erzählt von Leuten, die man mag und achtet. Jede von ihnen dreht und wendet ein Stückchen Schuld, bis es menschlich verständlich, beinah schon sympathisch aussieht. Schau sie doch an: Menschen wie du und ich, durchwachsen, mit guten Seiten und schlechten – wer hat die nicht? Und weit weg, ganz woanders liegt in einem Morast von Feigheit und Gemeinheit die unbegreifliche Schuld, fremd wie ein Meteor, als wäre sie von einem anderen Stern gekommen. Aber sie ist ja nicht gekommen, sondern gemacht, nicht von einem oder wenigen, sondern von […] fast allen. Ich frage mich nur, wo ist sie geblieben in euren liebenswürdigen sympathischen Geschichten?‹1005

Mit dieser Relativierung der elterlichen »Geschichten« ist auch und vor allem die soeben von Ruth Rehmann erzählte gemeint. Diese Kritik an den Erzählungen der Eltern, welche uns mittlerweile als wichtiges Merkmal der hier diskutierten historiographisch orientierten Werke vertraut sein muss, nimmt in diesem angeblichen ›Väterbuch‹ verwirrenderweise der Sohn der Autorin vor; ein Umstand, der wahrscheinlich mit den bereits erwähnten verschobenen und erweiterten generationellen Konstellationen im Mann auf der Kanzel zusammenhängt. Jedenfalls scheint klar, dass Rehmann die Kritik ihres Sohnes an ihrer Befangenheit zumindest akzeptiert und nicht auf eine versöhnlich-rechtfertigende Auflösung abzielt, wenn sie dem Vater auch mit Sympathie begegnet; übergeordnetes Ziel bleibt der Erkenntnisgewinn mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft und die Erkenntnisvermittlung an die nachfolgende Generation. Das zeigt sich auch daran, dass Rehmann den Lebensweg des Vaters stets mit Blick auf Alternativen erzählt, die ihm offengestanden hätten, wenn er sich nur zwischenzeitlich von seinem festgefahrenen Denken, seinem »Vorverständnis«, hätte freimachen können. So verweist Rehmann zum Beispiel auf die Theologen Christoph Blumhardt1006 und Paul Tillich: Letzterer sei bei Verdun (in der Nähe war auch Reinhold als Feldgeistlicher tätig) an das »Ende der ideal1004 Rehmann: p. 223. 1005 Ebd.: 222 f. 1006 Ebd.: p. 76; hier als »Blumhard«.

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istischen Seite [seines] Denkens« gestoßen, was natürlich zur Frage berechtigt, weshalb der Vater nicht zu einer ähnlichen Einsicht kommen konnte: »Hat mein Vater je Sinnlosigkeit empfunden?«1007 Die rückwärtsgerichtete Engstirnigkeit des Vaters tritt schließlich in einem Gespräch mit seiner Vikarin, das die Tochter literarisch aufbereitet, in vernichtender Deutlichkeit zu Tage: Die Vikarin erzählt Reinhold von einem Pfarrer namens Hesse, dem »bei einem Eisenbahngespräch mit Karl Barth […] die Augen aufgegangen« seien über die »Gefahren der natürlichen Theologie«1008 – dieser hängt auch Reinhold an, und sie ist, das impliziert die Vikarin immerhin, durch ihre unkritische Haltung längst in ein Verhältnis der Komplizität mit den Nationalsozialisten geraten. Die Vikarin fordert ihn auf, wie Pfarrer Hesse »Konsequenzen zu ziehen«, sich der »theologischen Konfrontation«1009 zu stellen, was Reinhold natürlich ablehnt. Er bringt verschiedene Gründe vor, wobei der wichtigste und verräterischste seine Sichtweise Barths als »Spaltpilz«1010 ist. Statt Barths neue Impulse in der Theologie ernst zu nehmen, sorgt sich der Vater, dass die Diskussionen die politischen Machthaber verärgern könnten: »Wie soll der Staat eine Kirche achten, in der nicht nur die verschiedenen Lager verfeindet sind, sondern auch noch innerhalb dieser Lager […] gestritten wird?«1011 Bei aller Empathie zeichnet Ruth Rehmann also ein Bild ihres Vaters, das in gewisser Hinsicht schonungslos ist: Reinholds moralisches Versagen wird ohne scharfen, anklägerischen Gestus erklärt, aber niemals gerechtfertigt, und die Hinweise der Autorin auf Theologen, die einen ganz anderen Weg gingen, zeigen, dass Widerstand nicht unmöglich war, dass Alternativen existierten und dass es für den Vater mithin keine Ausreden und Entschuldigungen geben kann. Obwohl die Autorin ihre Sympathie zum Vater nicht aufgibt und auch offenlegt, wird im Mann auf der Kanzel die väterliche Schuld nicht als »fremd« konzeptualisiert und damit abgewiesen, wie Thomas befürchtet. Rehmann fabriziert keine verharmlosende »liebenswürdige[]« und »sympathische[]« Geschichte, steht aber zugleich zu ihrer Befangenheit und zu ihren eigenen Dispositionen und anerkennt das Misstrauen der jüngeren Generation gegenüber den »Geschichten« der Eltern – auch gegenüber ihrer eigenen Geschichte. Dass Rehmanns geistesgeschichtlich stringente Institutionskritik große politische Sprengkraft enthält (die den Begriff der neuen Subjektivität denkbar ungeeignet erscheinen lässt), wird vor allem im Gespräch der Autorin mit ihrem Bruder Gerhard deutlich. Dieser sieht seine innerfamiliäre Diskurs- und Deutungshoheit, die er als männlicher Nachkomme und Theologe offenbar vom 1007 1008 1009 1010 1011

Ebd.: p. 93. Ebd.: p. 181. Ebd. Ebd.: p. 183. Ebd.

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Vater geerbt zu haben glaubt, gefährdet und reagiert äußerst feindselig auf Ruth Rehmanns Romanprojekt: »›Seid ihr mal wieder bei der Vergangenheitsbewältigung? Kommt euch das nicht allmählich bei den Ohren heraus?‹«1012 Zu einer Verständigung kann es nicht kommen, da der Bruder keine Kritik an der Institution der evangelischen Kirche zulässt und jede zeitkritische Aufarbeitung der Vergangenheit strikt ablehnt – gelten lassen will er im Vergangenheitsdiskurs der Familie Rehmann höchstens »das im Familiengedächtnis aufbewahrte Private, ohne Bezug auf das Zeitgeschehen«1013. Die erhitzte Debatte zwischen Bruder und Schwester, die sich ja kurz vor der Publikation des Romans zugetragen haben muss, zeigt, wie umstritten das Thema des Romans damals noch war. Gehrke hält mit Recht fest, dass Der Mann auf der Kanzel »[d]em damaligen Stand [gemeint sind die ausgehenden Siebzigerjahre, Anm. v. J. R.] des öffentlichen Bewusstseins […] einen Schritt voraus« war : Rehmann »konfrontiert [e]« die Leserschaft nämlich wie ihren Bruder »mit einem Wissen […], das zu dieser Zeit in der Öffentlichkeit kaum verbreitet« war, denn die »protestantische Kirche [galt] bezogen auf die NS-Zeit im historischen Bewusstsein der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit Ende der siebziger Jahre in erster Linie als ein Ort des Widerstands«1014. Rehmann bedient sich somit in ihrem Roman nicht nur der Mittel der Geschichtswissenschaft, sondern leistet einen genuinen Beitrag zur Forschung. Der beste Beleg für diese Tatsache ist die bereits erwähnte geschichtswissenschaftliche Studie Kirchen im NS-Staat von Ruth Rehmanns Sohn Jan Rehmann: Der Lebenslauf des Vaters, den Ruth Rehmann literarisch verarbeitete, dient Jan Rehmann als Anschauungsbeispiel für seine Analyse der Rolle der Kirchen im ›Dritten Reich‹. Jan Rehmann greift die von seiner Mutter begonnene Untersuchung des gestörten Wahrnehmungsvermögens des Pfarrers auf: Reinholds fatale Reaktion auf die oben erwähnte Schießerei zwischen ›Roten‹ und SS-Männern sieht er als Beweis, dass »eine vertikal strukturierte Nächstenliebe als integraler Bestandteil der faschistischen Herrschaftsverhältnisse dienen kann«1015. Das heißt konkret: In der betreffenden Situation vermögen sich Reinholds »Nächstenliebe« und Pflichtgefühl nur auf das vermeintlich »›Wesentliche‹« zu richten, also auf den sterbenden SS-Mann, und »[d]ie Frage, ob der Abgeführte wirklich der Mörder ist, kommt ihm gar nicht in den Sinn«1016 – diese Verengung des Blickfelds ist offenbar ideologisch fundiert; für sie interessiert sich der Historiker. Jan Rehmann aktualisiert in seiner historischen Forschung also genau das Erkenntnisinteresse, 1012 1013 1014 1015

Ebd.: p. 76. Ebd.: p. 77. Gehrke: p. 144. Rehmann, Jan: Kirchen im NS-Staat. Berlin: Argument-Verlag, 1986 (= Ideologische Mächte im deutschen Faschismus Bd. 2). Hier: p. 98. 1016 Ebd.

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mit dem sich Ruth Rehmann in ihrem literarischen Werk diesem vergangenen Ereignis näherte: Er untersucht das »Einrasten der Wahrnehmung […] bevor das Wahrnehmbare in Sichtweite kam«1017. »Entscheidend« ist für ihn, genau wie für seine Mutter, nicht das moralische Problem, warum der Pfarrer geschwiegen hat, sondern vielmehr, warum er nicht (hin)gesehen hat. Der […] häufig gebrauchte Topos der ›Blindheit‹ […] könnte hier zu einem erklärungsfähigen Begriff umfunktioniert werden, unter der Bedingung, daß man ihn nicht statisch als Fehlen von Erkenntnis und Einsicht, sondern als aktiven Vorgang der Realitätsabwehr liest. Dabei geht es um mehr als um ein aktuelles Wegsehen oder Augenzumachen. Die Wahrnehmungsfähigkeit ist ideologisch strukturiert. Das Sehen und Nicht-Sehen wird organisiert durch eine vorgebaute Anordnung des ›Wesentlichen‹ und des ›Unwesentlichen‹, die in vielfältigen Praxen religiöser Vergesellschaftung im Inneren der Subjekte verankert wurde.1018

Hier sehen wir die historiographische Funktion der ›Väterliteratur‹ in Aktion: Ruth Rehmann hat in einem literarischen Text offenbar konstruktive Vorarbeit geleistet, die wenige Jahre später von einem Historiker in einer wissenschaftlichen Studie fruchtbar gemacht werden konnte. Die einzigen Unterschiede, die zwischen diesen Vorgehensweisen noch bestehen, sind formalästhetischer Natur : Während die Autorin Ruth Rehmann in kunstvoller Manier den Fachbegriff des ›Vorverständnisses‹ aufgreift, um die väterlichen Wahrnehmungsdefizite zu umschreiben, bemüht sich der Historiker Jan Rehmann um eine prägnante und wissenschaftliche Ausdrucksweise – am Ende aber geht es beiden um die gleiche Problematik, namentlich um das Phänomen einer »ideologisch strukturiert[en]« Weltwahrnehmung, und der Roman hat in diesem Fall dem geschichtswissenschaftlichen Text zweifellos den Boden bereitet. Wir dürfen uns wie zuvor bei Peter Henisch in unserer Sichtweise der ›Väterliteratur‹ bestätigt fühlen: Im Mann auf der Kanzel begegnet eine komplexe ›Vertrauenskrise‹, die sich zunächst vom kritischen Sohn Thomas auf die anfänglich eher widerwillige Autorin überträgt, dann aber als Katalysator für ihre 1017 Ebd. 1018 Ebd.: p. 99; Hervorhebung im Original. Auf die »ideologische [S]trukturiert[heit]« der Wahrnehmungsfähigkeit verweist im Roman auch der Lehrer Limbach, der den Kontrast zwischen seiner kritischen Haltung und der obrigkeitstreuen Position der Pfarrers mit einem Verweis auf die Klassenzugehörigkeit zu erklären versucht: »Ich war nur von Anfang an anders disponiert, nicht zum Vertrauen, […] sondern zum Misstrauen. Nicht weil ich von Natur aus ein misstrauischer Mensch war, wie Ihr Herr Vater angenommen und sich weidlich darüber amüsiert hat, sondern weil ich aus einer anderen Schicht stamme, in der Vertrauen Luxus und Hindernis bedeutet. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum die aufgeklärten Arbeiter immer vom Klassenkampf reden und die Unternehmer nur ›alle in einem Boot‹ erkennen können? Von unten sieht die Welt anders aus, weil man sie mit anderen Augen sieht, und diese anderen Augen erwirbt man sich nicht willkürlich, sondern durch Erfahrungen […]« (Rehmann: p. 162).

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historischen Untersuchungen wirkt. Diese sind geistesgeschichtlich derart fundiert und methodisch so stringent, dass es im Text keinesfalls nur um ein Einzelschicksal gehen kann – vielmehr haben wir gesehen, dass am Beispiel des Vaters Reinhold ein breites historisches Panorama gestaltet wird, vor dessen Hintergrund nicht nur die individuelle Komplizität, sondern die Verstrickung einer ganzen gesellschaftlichen Institution erklärbar wird. Der Roman entwickelt damit einen starken politischen, das heißt: institutionskritischen Impetus und zeigt auf beeindruckende Weise, was am Schnittpunkt von Literatur und Geschichtsschreibung möglich ist, geht sein Erkenntnisinteresse doch, wie oben gezeigt, sogar über dasjenige der zeitgenössischen historischen Forschung hinaus – und schließlich bildete der Text einen nicht zu unterschätzenden Impetus für die zukünftige Forschung eines Jan Rehmann. Aufgrund all dieser Faktoren, aber auch wegen der Präsenz der Mutter und insgesamt vier Rehmannscher Generationen im Text, ist eine Einordnung des Manns auf der Kanzel in eine angeblich mit der neuen Subjektivität verwandte ›Väterliteratur‹ abzulehnen.

7.3. Institutionskritik und deutscher Adel: Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel Elisabeth Plessen – eigentlich Elisabeth Charlotte Marguerite Augusta Gräfin von Plessen – präsentiert in ihrem Roman Mitteilung an den Adel einen Vater, der wie die Väter von Bernward Vesper, Christoph Meckel und Ruth Rehmann als beispielhafter Traditionalist im Sinne Karl Mannheims gelten darf: C. A. (so nennt Plessen den Vater ; von sich selbst spricht sie in der dritten Person als Augusta1019) ist ein »überzeugter Vertreter«1020 des Adelsstands, dessen »politische Uhr« zur erzählten Zeit natürlich »längst abgelaufen ist«1021. Für ihn ist die »[b]is 1900 […] intakt[e]« Gesellschaft »[m]it dem Jahrhundertwechsel […] an ihr Ende gekommen«1022 – Politik ist ihm fremd; allein die Pflege und Aufrechterhaltung der längst in leerer Heuchelei erstarrten Traditionen liegt ihm am Herzen: »Alles in allem: die Welt war weit weg und die eigene in Ordnung. Was nicht in Ordnung war, das war tabu. Krankheiten waren tabu. […] Belästigungen waren tabu. Fragen waren Belästigungen. […] Politik war tabu. Politik 1019 Da es sich bei Augusta nicht um einen fiktionalen Charakter handelt, sondern um eine mit der Autorin vermutlich weitgehend identische »Zentralfigur« (Kenkel: p. 177), die zum Zwecke einer objektivierenden Distanzierung eingeführt wird (hierzu später mehr), differenzieren wir in der Folge nicht immer klar zwischen Autorin und Erzählerin. 1020 Gehrke: p. 90. 1021 Ebd. 1022 Plessen: p. 41.

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gehörte nicht ins Haus«1023. So diente C. A. ohne Begeisterung als Offizier in der Wehrmacht, schottete sich nach dem Krieg auf seinem Gut ab und verlor sich im Alkoholismus1024 : »Er zog sich zurück und wurde unsichtbar«1025. Was an einem solchen Vater herausfordernd wirkt, ist, ähnlich wie bei Henisch und besonders Rehmann, die gleichsam bewusst gepflegte Blindheit gegenüber den passiv erlebten politischen Geschehnissen, die Unfähigkeit zur kritischen Reflexion. Ein gemeinsames Muster der in diesem Kapitel diskutierten ›dialogischen Väterbücher‹ zeigt sich also im Umstand, dass es meist nicht um Täterschaft und konkrete Schuld geht1026, sondern um ein Interesse der Autoren an Wahrnehmungsmustern, die das Aufkommen des Nationalsozialismus begünstigten. Dabei kommen die jeweiligen Analysen zu verschiedenen Ergebnissen: Walter Henisch, so zeigt es sich in der Kleinen Figur meines Vaters, wird von Selbsthass und kompensierender Abenteuer- und Todeslust in die Dienste der Nazis getrieben; das Mitläufertum von Ruth Rehmanns Vater wird sodann im Zuge einer institutionskritischen Erzählung sozusagen als Berufskrankheit des konservativen evangelischen und daher unbedingt staatstragenden Pfarrers erklärbar. In C. A.s Fall tritt nun klar der Traditionalismus entsprechend der Mannheimschen Definition in den Vordergrund: Dieser Vater ist gefangen in einem phrasenhaften, unhinterfragten »anerzogene[n] Vokabularium«1027, in einer Sprache und damit einem Denken, das nicht »privat«, sondern »verbreitet«1028 und vor allem standesgemäß ist. C. A.s »formelhafte Sprache«1029 führt zu einem unkritischen und »faul[en]«1030 formelhaften Denken und schliesslich zu einem formelhaften Leben: Es war für C. A. so selbstverständlich, sich den Formen zu unterwerfen, dass er beim Betreten einer modern, funktional und nach den Bedürfnissen ihrer Bewohner eingerichteten Wohnung zurückfuhr und tatsächlich fragte, wie man so leben könne, ohne Tradition und Herkunft, ohne Familiensilber und so unbeseelt.1031

Dabei erstreckt sich Plessens Interesse an diesen paralysierenden »Formen« wiederum auch auf frühere Generationen. Gerade im Kontext der von Rehmann und Plessen unternommenen Analyse verheerender milieuspezifischer Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen scheint diese Erweiterung des Fokus von 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031

Ebd.: p. 73. Siehe z. B. ebd.: p. 44. Ebd.: p. 165. Siehe auch Plessens Zugeständnis an den Vater: »C. A., du warst kein Nazi, ich weiß es, ich glaube es dir« (Plessen: p. 136). Ebd.: p. 237. Ebd.: p. 126. Mauelshagen: p. 233. Plessen: p. 126. Ebd.: p. 69; Hervorhebung im Original.

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großer Wichtigkeit zu sein. Wie schon Rehmann und Henisch kommt Plessen also auf den Großvater zu sprechen, der dem Vater das phrasenhafte »Vokabularium« und die standesgemäße Denkfaulheit »anerzog[]«. Mit ihm stand sich C. A. »nicht gut«1032, was kaum mehr überraschen sollte; die Tante des Vaters teilt Augusta mit, dass C. A. ihren Bruder – seinen Vater – »[ge]haßt[]« habe, »weil der so hart mit ihm umsprang«1033. Mit seinen eigenen Kindern habe C. A. alles »anders machen«1034 wollen, aber eine Überwindung der traditionsreichen und destruktiven »Formen« gelang ihm augenscheinlich nicht (Augusta und ihre Geschwister erleben den Vater als distanziert und lieblos und werden von einem brutalen Kindermädchen aufgezogen). Einer weiteren Tradierung der »Lebensangst«1035, die schon C. A. vom eigenen Vater übertragen wurde, stünde somit nichts mehr im Wege, wenn Plessen nicht mit dem vorliegenden Roman den Teufelskreis durchbräche. Das »formelhafte[] Bewußtsein«1036 des Vaters bildet jedenfalls das Hauptthema der Mitteilung an den Adel und gemahnt an das von Ruth Rehmann bei ihrem Vater diagnostizierte »Vorverständnis«1037, welches keinerlei Widerstandskraft gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie zuließ. Aus dem Korpus der ›Väterliteratur‹ sticht nun die Mitteilung an den Adel nicht ganz so klar heraus wie die Bücher von Rehmann und Henisch, die ja beide jeweils gewisse Alleinstellungsmerkmale aufweisen. Trotzdem muss die Einordnung des Textes in die ›Väterliteratur‹ und den Kontext der neuen Subjektivität erstaunen. Denn auch für Plessens Vater gilt, dass er nicht als Individuum, sondern als Typus dargestellt wird – genau wie Rehmanns Vater Reinhold repräsentiert C. A. einen etablierten und traditionalistisch eingestellten gesellschaftlichen Stand –, und in ebendieser Darstellungsweise liegt, wie wir schon bei Rehmann sahen, ein zeit- und institutionskritischer Impetus. Wir haben es wiederum mit einem Roman zu tun, dessen Erkenntnisinteresse beim Vater keineswegs Halt macht und der nicht die für die neue Subjektivität typische private Innerlichkeit sucht und darstellt; vielmehr fungiert die Beschäftigung mit der Familiengeschichte in Mitteilung an den Adel als Basis für fundierte Beobachtungen über eine bestimmte Gesellschaftsschicht, ein bestimmtes Milieu. Mit anderen Worten: Mittels einer Analyse des »formelhafte[n] Bewusstsein[s]«1038 eines beispielhaften Adligen kann Plessen die Komplizität des Adelsstands im Nationalsozialismus aufarbeiten und sich zugleich mit ihrer 1032 1033 1034 1035 1036 1037 1038

Ebd.: p. 237. Ebd. p. 143. Ebd. Mauelshagen: p. 233. Ebd. Rehmann: p. 218. Mauelshagen: p. 233.

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eigenen Herkunft auseinandersetzen (dass hier ein Problem vorliegt, verrät schon der Paratext des Romans, in dem Plessen bewusst auf eine Nennung ihres Adelstitels verzichtet). Zwecks dieser Analysen erweitert Plessen ihren Blick nun nicht nur über den Vater hinaus auf den Großvater : Auch die Mutter Olympia ist – zugegebenermaßen am Rande – präsent; ihr kommt bei der Aufrechterhaltung und Tradierung der überkommenen Lebens- und Denkformen eine wichtige Rolle zu. Die ersten rebellischen Ausbruchsversuche der Tochter richten sich denn auch nicht direkt gegen den Vater, sondern gegen das von der Mutter vorgelebte Rollenbild: Olympia fristet ein Dasein als »repräsentatives Accessoire«1039 und als Gebärmaschine – »Heckt wie die Kaninchen, hatte ihr Großvater ihnen gesagt«1040 –; sie hat sich »für ihre Unzulänglichkeit«1041 zu entschuldigen, als sie C. A. nicht nur eine, sondern gleich zwei Töchter gebiert, und sie entspricht im Übrigen ganz dem von C. A. gegenüber Augusta ewig wiederholten Satz »[y]oung ladies are to be seen but never to be heard«1042. Dieser Satz, und mit ihm die von der Mutter verkörperte Lebensweise, bildet den Anlass für die erste Empörung der Tochter gegen die Eltern: Im Alter von »siebzehn« Jahren beginnt Augusta, sich gegen das starre höfische Prozedere zu wehren; der oben zitierte Satz »[verlor] seine zeitlose Gültigkeit«1043 – die erste Offensive gegen die väterliche Diskurshoheit, wie sie sich in der Person der Mutter manifestierte, war damit perfekt. Den Anstoß für Augustas ›Vertrauenskrise‹ und ihre kritische Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft gab also das negative Beispiel der Mutter. Ihr kommt mithin im Gefüge des Romans eine wichtige und bislang im Schatten des Begriffs der ›Väterliteratur‹ unterschätzte Rolle zu. Alles in allem eignet Mitteilung an den Adel ein ähnlich gelagertes Erkenntnisinteresse wie dem zuvor analysierten Mann auf der Kanzel. Zwar ist Plessens historiographischer Duktus weniger ausgeprägt als derjenige Rehmanns: Es werden beispielsweise keine Zeitzeugen befragt; Plessen schöpft zu weiten Teilen aus den eigenen Erinnerungen. Dennoch verfolgen beide Autorinnen das Ziel einer kritischen, geistesgeschichtlich gestützten Aufarbeitung der Verstrickungen einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht. Zu diesem Zweck wird bei beiden je ein repräsentatives Individuum in den Blick genommen – Reinhold, der konservative Theologe, und C. A., der traditionalistische Junker –, und auf der Basis objektivierender Analysen werden Schlüsse über die sozialen Stände möglich, welche die jeweiligen Väter verkörpern. Das Buch heißt ja dementsprechend auch Mitteilung an den Adel, und nicht ›Mitteilung an den Vater‹ oder ähnlich. Im Zuge dieser Analysetätigkeit treffen zudem beide Autorinnen 1039 1040 1041 1042 1043

Gehrke: p. 95. Plessen: p. 149; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 153. Ebd.: p. 74; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 75; Hervorhebung im Original.

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auf Antagonisten, welche die väterliche Diskurshoheit und damit die fest etablierten Verdrängungs- und Entschuldungsmechanismen zu perpetuieren suchen: Rehmann gerät an ihren feindseligen Bruder Gerhard, während Plessen in ebenso endlosen wie fruchtlosen Dialogen gleich direkt auf einen Vater trifft, der seine Deutungshoheit über Geschichte, Normen und Werte zu affirmieren sucht (hierzu gleich mehr). Keine der Schriftstellerinnen verliert angesichts des Widerstands den Mut; ihre evidenzbasierte, analytisch fundierte Institutions- und Gesellschaftskritik kann den emotionalisierten Gegenreaktionen weitgehend standhalten. Eine Einordnung des Textes in die neue Subjektivität, wie sie beispielsweise Forster und Riegel explizit vornehmen1044, ist vor diesem Hintergrund jedenfalls ebenso abzulehnen wie Gehrkes Behauptung, dass »C. A. nicht so sehr als Vertreter des Adels vorgestellt« werde, sondern vielmehr »als ein Repräsentant jener Generation, die Nationalsozialismus und Krieg wie selbstverständlich mitgemacht hat«1045 – wie wir oben anmerkten und noch vertieft zeigen werden, scheint gerade die adlige Herkunft des Vaters für Plessens kritische Untersuchungen von zentraler Bedeutung zu sein. Nun gibt es zwar Passagen in Mitteilung an den Adel, welche die Annahme stützen, dass sich hier eine linke Akademikerin in der zeittypischen »Phase der Ernüchterung« nach den studentischen »Protestaktionen«1046 befindet: Die Erzählerin äußert beispielsweise Verständnislosigkeit über die Aktivitäten der sich formierenden RAF1047 und konstatiert: Revolutionen waren kaum zu erwarten, solange die politische Autorität eines Landes funktionierte. […] Das Ende der Studentenbewegung war 1968 schon eingeläutet. […] Übriggeblieben waren Auflösung, Selbstzerfleischung, Zersplitterung in Subgruppierungen […]. […] Augusta war zur Zeitung gegangen. Die wirklichen Revolutionen fanden woanders statt.1048

Plessens Reaktion auf diese wahrhaft desillusionierende Situation ist aber gerade nicht der Rückzug in die »private[n] Erfahrungsräume«1049 der neuen Subjektivität, wie Forster und Riegel behaupten1050. Stattdessen nimmt Plessen den 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050

Forster und Riegel: p. 112. Gehrke: p. 105. Forster und Riegel: p. 112. Plessen: p. 53. Ebd.: p. 53 f. Forster und Riegel: p. 112. Dass Elisabeth Plessen mit der neuen Subjektivität nicht viel zu tun hat, zeigt sich in einem Aufsatz, den sie in den frühen Achtzigerjahren schrieb. Dort konzeptualisiert sie die Siebzigerjahre als Zeit der »Revanche« der »totgesagten Erzeuger« gegen die »68er Generation«, mithin als politisch sehr bewegte und zumindest in Bezug auf sie selber keineswegs von Rückzugsgedanken geprägte Epoche. Das zynische »›Geschäft mit der Angst‹«, welches die reaktionären Kräfte angesichts des in den Siebzigerjahren auf-

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Tod des Vaters zum Anlass, ihre dysfunktionale Beziehung zu ihm aufzuarbeiten, und dazu gehört eben auch eine politisch aufgeladene kritische Auseinandersetzung mit dem Adelsstand. Die »private[n] Erfahrungsräume« verlässt sie dabei gleich auf den ersten Seiten des Romans: Zunächst nimmt Augusta die Nachricht vom Tod des Vaters ohne Regung, »wie eine Wasserstandmeldung«1051 entgegen, aber der Vorwurf der Schwester Johanna, Augusta habe C. A. »auf dem Gewissen«1052, setzt das kritische Romanprojekt in Gang. Auf dem Gewissen habe Augusta den Vater deshalb – das wird im Verlauf des Romans deutlich –, weil sie, anders als ihre angepassten Geschwister, die Phrasen und Denkformeln des Vaters stets in Frage stellte: So kam es immer wieder zu Konfrontationen mit dem Vater, bis die Beziehung schließlich nach einem letzten erbitterten Streit kurz vor dem Tod des Vaters zerbrach1053. Der Roman ist also nicht zuletzt ein Versuch Augustas, sich angesichts des schweren schwesterlichen Vorwurfs zu rechtfertigen und sich aus dem »Schuldzusammenhang«1054 zu befreien, in den sie der Tod des Vaters versetzte – auch deshalb erarbeitet sie das detaillierte Profil des Vaters, der nicht richtig denken kann oder will, und protokolliert die vielen gescheiterten Gespräche und Diskussionen, die sie mit ihm führte. Dabei bemüht sich Plessen um eine Objektivierung ihrer Darstellung, die ihrer ganz und gar nicht »private[n]«1055 Analyse der Beziehung zum Vater Nachdruck verleiht. Auf der formalästhetischen Ebene manifestiert sich diese Objektivierung dahingehend, dass Plessen sich in der dritten Person als »Zentralfigur« Augusta einführt und vom Vater nur als C. A. spricht: So kreiert sie in Mitteilung an den Adel einen distanzierenden und »objektivieren[den] […] auktoriale[n] Freiraum«1056, in dem

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kommenden linksextremen Terrorismus betrieben, war zwar erfolgreich, habe aber, so Plessen, »[d]ie Kluft zwischen den Generationen […] nur vertieft« – das »Klima, das sich im Land breitmacht[e]« sei von »extremem, neuem Druck geprägt« gewesen (Plessen, Elisabeth: »Abschied von den Vätern«. Vatersein. Hg. von Hans Jürgen Schultz. München: dtv, 1984: p. 19 – 40. Hier: p. 24). Diese Meinungsäußerung suggeriert, dass Plessen auch in den Siebziger- und den frühen Achtzigerjahren keineswegs den Rückzug in das Subjektive und Private vollzogen hat, sondern vielmehr aufmerksam das Zeitgeschehen beobachtete, in welchem sie einen »extreme[n] […] Druck« konstatierte – und eine Lektüre der 1976 publizierten Mitteilung an den Adel zeigt, dass die zeitkritischen Beobachtungen, die Elisabeth Plessen als Bürgerin und Intellektuelle machte, auch in ihr literarisches Schaffen einflossen, dass mithin in Bezug auf Mitteilung an den Adel nicht von neuer Subjektivität gesprochen werden kann. Plessen: p. 5. Ebd.: p. 7. Siehe ebd.: p. 224; p. 234. Dazu Plessen im oben erwähnten Text: »[Meinen Schwestern] gelang es […], sich vor seinem Tod wieder mit ihm zu versöhnen. Mir gelang es nicht. […] Bei seinem Tod kam ich erneut in einen Schuldzusammenhang« (Plessen 1984: p. 26). Plessen 1984: p. 26. Forster und Riegel: p. 112. Kenkel: p. 177.

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eine kritische Auseinandersetzung mit dem Adelsstand, mithin mit der eigenen Herkunft möglich wird. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung wird sodann nicht nur, wie bei Rehmann, eine profunde Analyse der standesbedingten Schwächen des Vaters (des erwähnten »formelhafte[n] Bewusstsein[s]«1057) vorgenommen (hier vor allem im Zuge von Augustas close reading des väterlichen Kriegstagebuchs, auf das gleich eingegangen werden soll). Die Erzählerin beweist auch ein Sensorium für die subtile, aber andauernde Präsenz nationalsozialistischen Denkens im Nachkriegsdeutschland1058 und problematisiert – auch das eine politisch aufgeladene Passage – den Adelsstand als solchen: C. A., was ich frage, hast du dir nie vorgestellt, was andere – Leute einer anderen Klasse, Fremde – empfinden, sobald sie deinen Namen hören, dass sie dir aufgrund deines Namens mit Zynismus oder Ablehnung oder dich verletzender Ironie […] oder geteilter Bewunderung, mit Katzbuckelei begegnen? […] C. A., weshalb redest du darüber nie? […] Weil du dir durch Zufall noch ein Leben und eine Einstellung leisten kannst, beinahe wie ein Herr des achtzehnten Jahrhunderts?1059

Auf die kritischen Fragen folgt eine polemische Verzichterklärung der Erzählerin: [I]ch will nicht, dass für andere, mir Fremde oder nicht weiter Bekannte mein Name in ihrem Verhältnis zu mir eine Rolle spielt. […] [Ich habe] Hemmungen, C. A., die Tochter eines Großgrundbesitzers […] zu sein, dazu die Qual der Anrede […]. Ich mag es, unerkannt herumzufahren, mir ist dann, als fühlte ich mein Verhältnis zu anderen weit wahrer […].1060

Das Verhältnis zwischen dem deutschen Adel und den Nationalsozialisten rückt ebenfalls in den nun historisch interessierten Blick der Erzählerin. Es sind also keineswegs nur die individuellen Verfehlungen des Vaters, die an der Wurzel von Augustas ›Vertrauenskrise‹ stehen: Sie erkennt vielmehr, dass die Möglichkeitsbedingung dieser Verfehlungen, namentlich das traditionalistische »formelhafte[] Bewußtsein«1061, kein spezifischer Charakterfehler des Vaters ist, sondern ein Problem des Adels als solchem. Schließlich zwang der »Ehrenjar1057 Mauelshagen: p. 233. 1058 Man denke an die Passage über den Bundeswehrhauptmann, der sich an einem festlichen Anlass auf dem Gut der Plessens in den Sechzigerjahren zum Faschismus bekennt: »Wenn das Bruttosozialprodukt steige, gebe es kaum noch Argumente gegen den Faschismus« (Plessen: p. 66). Auf ihrer Fahrt an die Beerdigung des Vaters – sie bildet die Rahmenhandlung des Romans – begegnet Plessen zudem einem »[g]esprächigen« Deutschen in Strassburg, der ihr mit Bedauern versichert: »Es waren schöne Zeiten in Paris, aber darüber darf man ja heute kein gutes Wort mehr sagen« (Plessen: p. 83). 1059 Plessen: p. 178. 1060 Ebd.: p. 178 f. 1061 Mauelshagen: p. 233.

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gon«1062 adlige Offiziere wie C. A. in eine »Dienstverpflichtung« für den »Unrat«1063, die pöbelhaften Nazis – denn einen »Eid« darf ein adliger Ehrenmann »nicht verweigern«1064. Die Jargon-Scheuklappen und die fatale Denkfaulheit lähmten mithin nicht nur den Vater, sondern den ganzen Adelsstand, und dementsprechend äußert sich Augusta denn auch: »Wenn ihr« – gemeint sind die Adligen – »keine Nazis wart, dann wart ihr Zuschauer«1065. C. A. will sich nach diesem Vorwurf mit einem Verweis auf die heilige Eidespflicht, auch gegenüber Hitler, herausreden, verliert sich also wiederum in hohlen Phrasen. Sein Versuch, den Adel in revisionistischer Manier als Hort des Widerstands zu inszenieren – »[n]ach dem 20. Juli sind ganze Familien ausgerottet worden«1066 –, wird von Augusta mit Recht zurückgewiesen: Die Tochter erinnert den Vater daran, dass der von ihm verehrte Generalfeldmarschall von Reichenau ein Kriegsverbrecher war (was C. A. mit Bestürzung zur Kenntnis nimmt) und dass große Teile des deutschen Adels durchaus bereitwillig kollaborierten: Wir wollen das nicht, was ihr gewollt oder zugelassen habt. […] Für uns – für dich und mich – heißt das zum Beispiel: Ich würde meinen Klassenjargon aufgegeben haben, wenn ich erlebt hätte, daß ein adliger Bankier andere Bankiers und Schlotbarone zu sich zum Tee lädt, dazu den Unrat, und so dem Unrat das Geld zuschanzt, das dieser braucht, um ein Jahr oder ein halbes Jahr später die Macht in meinem Staate zu übernehmen. Wenigstens den Jargon würde ich aufgegeben haben.1067

Bei aller anzunehmenden und stellenweise explizit gemachten politischen »Ernüchterung«1068 auf Seiten der Autorin erhält der Roman durch solche Passagen und seine Analysen des »formelhafte[n] Bewußtsein[s]«1069 doch eine ausgeprägte und kämpferische politische Komponente. Die von Forster und Riegel postulierte Zugehörigkeit der Mitteilung an den Adel zur neuen Subjektivität erscheint nun unhaltbar, und angesichts der offenbar durchaus profunden und kontroversen Auseinandersetzung der Autorin mit dem Adelsstand ist auch Gehrkes oben zitierte Behauptung abzulehnen, wonach der Vater im Text »nicht so sehr als Vertreter des Adels vorgestellt«1070 werde. Kenkel stellt insgesamt mit Recht fest, dass die Konfrontation zwischen Vater und Tochter hier »auf zwei Ebenen« stattfindet: »auf einer emotional-individuellen Ebene und einer po-

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Plessen: p. 136; Hervorhebung im Original. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd.: p. 136. Ebd.: p. 133. Ebd.: p. 137. Forster und Riegel: p. 112. Mauelshagen: p. 233. Gehrke: p. 105.

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litisch-gesellschaftlichen«1071. Von neuer Subjektivität kann in Bezug auf die Mitteilung an den Adel keine Rede sein, gerade weil der Roman eine pointierte »politisch-gesellschaftliche[]« Ebene aufweist – und auf dieser Ebene betreibt der Roman fundierte Institutionskritik, auf die in der Folge eingegangen werden soll. Die beiden von Kenkel erwähnten Ebenen verbinden sich im Roman in den zahlreichen ziellosen Diskussionen zwischen Augusta und C. A. In diesen Auseinandersetzungen über die Komplizität des Adelsstands (siehe oben), über die hohlen Phrasen und Formen, denen der Vater anhängt und über die sich vergrößernde Kluft zwischen Augusta und C. A. vermählen sich das »[I]ndividuelle« und das »[P]olitisch[e]«1072. Hier wird also, entgegen den Prämissen der neuen Subjektivität, das Private politisch und Mitteilung an den Adel zum tragischen ›dialogischen Väterbuch‹: Der Roman zehrt von den fruchtlosen Diskursen zwischen Augusta und C. A., welche Vater und Tochter immer nur weiter auseinandertreiben1073, bis zum Bruch, den Plessen in einem anderen Text so beschreibt: [Mein Vater] war noch nicht tot, da hatte ich ihm schon meine Liebe aufgesagt, fristlos, wortlos, enttäuscht, angeekelt gekündigt. […] Um die Krise [seines Todes, Anm. v. J. R.] zu überleben, besann ich mich – schreibend. […] Gelassene, klärende und erklärende Gespräche über die Nazizeit waren nicht möglich. [Eltern und Kinder] fanden keinen Blickpunkt. Sie blieben vieräugig. Sie fanden keine gemeinsame Sprache. Die Schlinge der Wörter zog sie voneinander weg.«1074 1071 Kenkel: p. 177 f.; Hervorhebung nicht im Original. 1072 Ebd.: p. 177. 1073 Wobei nicht immer klar wird, welche der vielen protokollierten und teils nummerierten »Anläufe, mit C. A. zu reden« auf tatsächlich geführte Gespräche zurückgehen und welche nur fingiert sind (siehe Plessen: p. 127 ff.). Der Roman suggeriert zwar, dass die meisten Gesprächsfragmente erfunden sind – »[s]ie malte sich aus, wie sie vor ihm stehen werde und er aufnahm, was sie sagte« –, aber abschließend lässt sich das in den meisten Fällen nicht bestimmen (Plessen: p. 127). Erfunden ist mit Sicherheit der konstruktive »[s]iebente[] Anlauf, mit C. A. zu reden«, in dessen Verlauf der Vater der Meinung der Tochter folgt und die phrasenhaften Passagen aus seinem Kriegstagebuch streicht (dieser Absatz ist denn auch mit der zögerlichen Frage »[v]orstellbar?« unterschrieben, Plessen: p. 139). Wirklich ereignet hat sich dagegen wohl zum Beispiel das letzte Gespräch Augustas und C. A.s über das Kriegstagebuch, denn es wird nicht mehr als »Anlauf, mit C. A. zu reden« präsentiert. Hier scheitert die Kommunikation zwischen Vater und Tochter ; der Verständigungsversuch des Vaters, der Augusta sein Kriegstagebuch zur Lektüre überliess, misslingt: »Ich habe dich nicht verstanden«, konstatiert die Tochter (Plessen: p. 140). Ebenso faktual scheint die letzte Konfrontation der beiden zu sein, die zum endgültigen Bruch führt (denn zu diesem Bruch kam es ja offensichtlich vor dem Tod des Vaters tatsächlich). Der Vater fordert die Tochter auf, ihre »Einstellung in Zukunft in Berlin [zu lassen], wenn [sie] herkomm[]t« und droht ihr nach der Lektüre eines Artikels über studentische Demonstrationen in Berlin: »Wenn du mit deinen Genossen kommst, stehe ich in der Tür und schieße euch über den Haufen! Dich zuerst!« (Plessen, p. 224; p. 234). 1074 Plessen 1984: p. 21 f.

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Mit seiner dialogischen Anlage, in welcher das tragische Fehlen einer »gemeinsame[n] Sprache« und die »Schlinge der Wörter« nachgezeichnet werden, steht Mitteilung an den Adel klar im Widerspruch zu den bereits diskutierten Behauptungen Seebas, Assmanns und Schneiders, wonach die ›Väterliteratur‹ stets Auseinandersetzungen mit toten und wehrlosen Vätern dokumentiere1075. Augusta sucht jedenfalls die (zugespitzte) Konfrontation und geht mit »siebzehn« zur offenen Rebellion über, indem sie sich dem von der Mutter repräsentierten standesgemäßen »Ritual«1076 entzieht und den Vater wissen lässt, dass er sie »[an]kotze«1077. Die Tragik der scheiternden Diskussionen zwischen Vater und Tochter liegt nun darin begründet, dass Augusta, wenn sie der Vater auch »[an]kotz[t]«, im Grunde durchaus an einer konstruktiven Verständigung mit C. A. interessiert ist – und dasselbe gilt umgekehrt für den Vater1078. Mit anderen Worten: Hier wird kein unversöhnlicher Bruch zwischen den Generationen zur Darstellung gebracht, sondern, ganz entgegen der Prämisse einer angeblich ›monologischen‹ und von grundlegenden Antagonismen geprägten ›Väterliteratur‹, das Misslingen vieler Kommunikationsversuche, bis es schließlich zu spät ist. »Wie hart Augusta den Vater auch attackieren mag«, stellt Gehrke richtig fest, »man merkt ihren Angriffen an, dass sie im Grunde genommen von Reflexen einer Schonhaltung gesteuert werden«1079. So sieht das auch die reale Autorin: »Sie [Vater und Tochter, Anm. v. J. R.] wollten aufeinander zu laufen und wussten nicht wie«1080. Augusta findet im Roman für dieses Dilemma eine passende Metapher in einer der prahlerischen Jagderzählungen des Vaters: »C. A., fragte sie laut, warum haben wir uns so schlecht gestanden? Wie die Hirsche mit dem ineinander verhakten Geweih, die du gesehen haben willst«1081. Wenn also Augusta bedauert, dass sie sich mit dem Vater »schlecht gestanden« hat, wenn sie konzediert, dass sie C. A. keineswegs für einen Nazi hält1082 und sich ein »Verhältnis«1083 zum Vater ersehnt, wird deutlich,

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Das bemerkt in Bezug auf Plessen auch Gehrke: p. 97. Plessen: p. 75. Ebd. Man denke an die Passage über die »Notizen«, die sich der Vater nach einer der vielen erhitzten Diskussionen in seinem Arbeitszimmer macht: »Ich will sie nicht verlieren – Gedankenstrich Ich – alter, kranker – liebe sie, hasse sie Mann. Gedankenstrich. Mann. Gedankenstrich. Verstehe sie nicht« (Plessen: p. 223; Hervorhebungen im Original). Auch hier wird allerdings nicht deutlich, ob diese Notizen tatsächlich in dieser Form vom Vater niedergeschrieben wurden oder ob es sich um eine von der Erzählerin vorgenommene Fiktionalisierung handelt. Gehrke: p. 98. Plessen 1984: p. 22. Plessen: p. 243. Ebd.: p. 136. Ebd.: p. 38.

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dass sie »[n]icht den Bruch […], sondern die Annäherung«1084 wünscht – und der Hirschvergleich zeigt, dass Augusta nicht an unüberbrückbare Differenzen zwischen ihr und dem Vater glaubt, dass sie vielmehr sich und ihn als Hirsche, als Angehörige derselben Art sieht. Eine Bedingung für eine solche Annäherung wäre aber eine gewisse Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten; vor allem müsste C. A. eine Antwort auf Augustas ›Vertrauenskrise‹ in Hinsicht auf die von ihm verkörperten Normen und Diskurse finden. Der Vater scheint denn auch einen vielversprechenden ersten Schritt zu unternehmen, als er Augusta sein persönliches (aber fingiertes, da 1947 »post festum«1085 verfasstes) Kriegstagebuch zur Lektüre überlässt: »Lies das mal, damit du siehst, worum es geht«1086. Obwohl die paternalistische Geste anderes vermuten lässt, sucht der Vater später durchaus das Gespräch über das Dokument: »Hast du mein Tagebuch gelesen?«1087 Der »Rechenschaftsbericht«1088 des Vaters bildet im Verlauf des Romans den Verhandlungsgegenstand, an dem die Verständigung zwischen C. A. und Augusta letztlich für immer scheitern muss. In seinem Tagebuch schreibt C. A. von sich in der dritten Person, erfindet eine Figur, den »Oberleutnant Becker«1089, durch die das Kriegsgeschehen und das Kriegsende fokalisiert werden. Zu den eher platten rhetorischen Fragen im Text – »[w]arum muss Krieg sein?«1090 – gesellt sich eine Polemik, für deren Niederschrift man anno 1947 nicht mehr viel Mut brauchte: »Ich hasse Hitler, hasse die Nazis«1091, schreibt C. A., und richtet Vorwürfe an Hitler, die in ihrer standesgemäßen Dezenz geradezu grotesk anmuten (er attestiert dem Diktator »Wahnwitz«, »würdelose Überheblichkeit« und »Eifersucht«1092). Die altbekannten Phrasen durchziehen natürlich trotz dieser zumindest rhetorischen Distanzierung vom Nationalsozialismus den Text: Ein unbelehrbarer »Rittmeister«, der noch bei Kriegsende an Wunderwaffen glaubt, ist in Beckers Augen trotz seiner Verblendung ein »grundanständige[r], auch feinfühlige[r]«, nur leider »[v]erführte[r]«1093 Zeitgenosse. C. A.s literarischer Stellvertreter ereifert sich außerdem über die Rücksichtslosigkeit »seelenlose[r] Waffen« wie Bomben und Granaten, nicht aber, wie Augusta feststellt, über die »Rücksichtslosigkeit derer, die die Bomben werfen«1094. Der wie C. A. traditio1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094

Gehrke: p. 98. Plessen: p. 104; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 103. Ebd.: p. 140. Gehrke: p. 91. Plessen: p. 104. Ebd.: p. 105; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 62; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 104; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 63; Hervorhebungen im Original. Ebd.: p. 106; Hervorhebungen im Original.

Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel

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nalistisch eingestellte Oberleutnant Becker macht die modernen Technologien – »Fetisch[e] des Untergangs« – für den »Aufschwung der Barbarei«1095 verantwortlich. Seiner Meinung nach ist »ein[] wahnwitzige[r] Mensch[]«1096 für das ganze Übel verantwortlich; Individuen tragen keine Schuld und können sich auch nicht mehr wehren – ihr Schicksal liegt nun in »Gottes Hand«1097. Schnell wird klar : Das nach dem Krieg geschriebene Tagebuch ist ein einziger »Entschuldungsversuch[]«1098 und strotzt vor »hilflose[m] Pathos«1099. Dieses könnte Plessen dem Vater noch verzeihen, denn womöglich waren die »Gefahren und Ängste« ja tatsächlich so »gross gewesen, […] dass er keine Wahl gehabt haben mochte als die zwischen Schweigen und Konfektion«1100. »Aber dann«, so Augusta, »mehrten sich wieder die heiligen Eide und die Heldentode, die Truppen, die sich in misslicher Lage eng um ihre Führer scharten […]: Gewäsch, Gewäsch plus Badenweiler Marschmusik«1101. Diese Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, so viel wird schnell klar, kann nicht zielführend sein, da sie in ihrer Flachheit und Phrasenhaftigkeit jede »analytische Schärfe«1102 vermissen lässt. Eine Annäherung zwischen Vater und Tochter wäre nur möglich, wenn es dem Vater gelänge, das verlogene Geschichtsbild seines Kriegstagebuchs zurückzunehmen, zu korrigieren. Der Versuch einer ergebnisoffenen Diskussion mit dem Vater über diese Problematik ist aber zum Scheitern verurteilt. Als ihn Augusta auf die hohlen Phrasen in seinem Text aufmerksam macht, reagiert er beleidigt und behauptet: »Ich habe genau geschrieben, was ich dachte«1103. Hier aber liegt das Problem, denn wie Augusta richtig bemerkt, gilt gerade das Umgekehrte: C. A. hat »gedacht, wie [er] [] schrieb[]«, in einem leeren »Ehrenjargon«, in »Klasse, Schablone«1104. Wenn der Vater nur seinen »Jargon aus dem Spiel gelassen hätte[]«, zeigt sich Augusta überzeugt, wäre er »bestimmt zu anderen Überlegungen gekommen«1105. Diese »anderen Überlegungen« aber bleiben für C. A. unerreichbar und undenkbar – eine Ablösung von den Phrasen würde eine Überwindung seiner »Lebensangst«1106 und seiner »Wahrnehmungsselektion«1107 bedingen; der Vater 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107

Ebd.; Hervorhebungen im Original. Ebd.: p. 105; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 110; Hervorhebung im Original. Gehrke: p. 91. Plessen: p. 126. Ebd. Ebd.; Hervorhebungen im Original. Gehrke: p. 91. Plessen: p. 136. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd. Mauelshagen: p. 233. Ebd.: p. 234.

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Die ›dialogischen Väterbücher‹

müsste sich mithin von seiner ganzen Sozialisation befreien, von jahrhundertealten Traditionen, die ihm von Geburt an vermittelt wurden, und er müsste seine Diskurshoheit gegenüber der Tochter aus der Hand geben. Eine solche Leistung wäre psychisch kaum zu bewältigen, ebensowenig wie Bernward Vespers zuvor beschriebener Versuch der Identitätskonstitution in der Reise: In der Auseinandersetzung über das Kriegstagebuch des Vaters zeigt sich mithin, wie übermächtig die fatalen tradierten Wahrnehmungsweisen sind; die »ideologische[] Fassade« erweist sich als unzerstörbar, und hinter ihr muss die »Individualität des Vaters […] ihre Konturen« verlieren – er wird somit wie Reinhold im Mann auf der Kanzel zum tragischen (aber nicht schuldlosen) »Repräsentanten seiner Generation und Gesellschaft«1108. Die Fronten bleiben unverrückbar, und der Vater beendet die Diskussion mit einem Totschlagargument – »[d]u warst nicht dabei«1109 –, während die Tochter zu Protokoll gibt, dass sie den Vater »nicht verstanden«1110 habe. Was diesen missglückten Dialog zwischen Vater und Tochter umso interessanter macht, ist Augustas Einsicht in ihre eigenen Verfehlungen. Wie Peter Henisch das, was ihn am Vater schockiert – die »brutale[] Neugier«1111 – auch bei sich selbst diagnostiziert, so kommt auch Augusta zum Schluss, dass sie es ebenfalls »nicht verstanden hat, dem Vater als Tochter gegenüberzutreten, die, und sei es nur für einen Augenblick, sich aus ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Prägung löst, um der Entwicklung einer emotionalen Beziehung eine Chance zu geben«1112. Die »Annäherung« wird demnach nicht nur vom »starre[n] Festhalten des Vaters an moralischen und politischen Scheinwerten« unmöglich gemacht, sondern auch vom kompromisslosen »Ringen der Tochter um neue Werte«1113 – in dieser Hinsicht ist Augusta, wie Plessen in einem Aufsatz richtig bemerkt, durchaus »das alter ego des Vaters«1114. Dahingehend äußert sich denn auch Augustas Freundin Lore: »Ich glaube, dass du deinem Vater gar keine Chance gelassen hast, etwas anders zu tun, als diesen Unsinn zu brüllen« – und Augusta ist einsichtig: »Vielleicht nicht, sagte Augusta. Wir haben uns beide keine Chance gelassen«1115. Die Erkenntnis kommt jedoch zu spät; der Vater ist bereits tot. Am Ende bleibt nur die Feststellung, dass »die Kluft zwischen dem deutsch-nationalen Patrioten und der APO-Anhängerin und studentischen Aktivistin« aufgrund der auf beiden Seiten

1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115

Kenkel: p. 179. Plessen: p. 133. Ebd.: p. 140. Henisch: p. 106; Kapitälchen im Original. Kenkel: p. 180. Siehe auch Gehrke: p. 100. Ebd. Plessen 1984: p. 22. Plessen: p. 234.

Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel

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mangelnden Kompromissbereitschaft »unüberbrückbar ist«1116 – die Auseinandersetzung zwischen Augusta und C. A. ist unter den gegebenen Vorzeichen nicht zu gewinnen ohne eine fundamentale Gefährdung der Identität einer Konfliktpartei. Das wird besonders deutlich, wenn sich der Vater zwecks eines letzten Annäherungsversuchs an die Tochter bereit erklärt, mit ihr zusammen die Wohngemeinschaft von Augustas Freunden in Berlin zu besuchen. Der weltgewandte Adlige manövriert sich zwar geschmeidig durch die etwas groteske Situation: Es kommt zu angeregten Gesprächen, und C. A.s Vorurteile bestätigen sich ebensowenig wie die Vorurteile der linken Studentinnen und Studenten. Am Ende aber erweisen sich C. A.s tradierte Denkmuster als zu stark, um von einem überraschend friedlichen Mittagessen mit ideologischen Gegnern erschüttert zu werden. Für einen kurzen »Moment[]« erliegt Augusta der »Täuschung, dass das, was nur Augenblicke waren, doch auch C. A.s wirkliches, jetziges Leben sei«: »C. A.«, fragt sie nach dem Essen, »warum können wir nicht so miteinander auskommen?«1117 Der Vater pflichtet ihr zwar bei – »[n]icht wahr?«1118 –, erinnert sie aber sogleich daran, dass ihm ein derartiges ideologisches Zugeständnis unmöglich ist, wie es der Tochter unmöglich ist, auf das Gut Einhaus zurückzukehren als hätte sie nie in Berlin studiert und protestiert: »[N]ur, wie? Ich müsste in dieser Stadt leben, du weisst, wohin ich aber gehöre, auf gar keinen Fall nach Berlin«1119. Nun ist zumindest Augusta, wie Gehrke bemerkt »sehr wohl bereit […], ihren Standpunkt in Frage zu stellen«1120, aber diese Bereitschaft erklärt sie, wie gesagt, erst nach dem Tod des Vaters in Form eines »Selbstvorw[urfs]«1121; während der Diskussionen mit C. A., in denen diese Flexibilität von Nutzen gewesen wäre, ist Augusta ebensowenig in der Lage, von ihrer Meinung abzurücken, wie der Vater. Am Ende kann man das Dilemma nicht prägnanter resümieren als Augusta selbst: »Einer von beiden sollte sich aufgeben. Das kann nicht ich sein, das bin ich dir schuldig«1122. Diese Einsicht setzt Augusta mit bemerkenswerter »intellectual honesty«1123 in die Tat um, wenn sie sich am Ende des Romans entscheidet, dem Begräbnis des Vaters fernzubleiben, sich also weigert, so zu tun, als hätte sein Tod sie mit ihm versöhnt oder ihre Differenzen bereinigt. Die Verweigerung der letzten Ehrbezeigung an den Vater markiert den endgültigen Ausbruch aus den verhassten Konventionen, der sich bei Augusta ja schon im 1116 1117 1118 1119 1120 1121 1122 1123

Kenkel: p. 180. Plessen: p. 210. Ebd. Ebd. Gehrke: p. 100. Plessen: p. 211. Ebd.: p. 244. Schlant: p. 91.

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Die ›dialogischen Väterbücher‹

Teenageralter vorbereitete – somit kann dieser Akt, genau wie Augustas frühe Selbstbefreiungsversuche und ihr Aufbegehren gegen jegliche vom Adel betriebene Selbstvergewisserung und Selbstrechtfertigung, als politische Handlung gelesen werden. Mitteilung an den Adel mag sich vom Korpus der ›Väterliteratur‹ nicht ganz so deutlich abheben wie die bislang diskutierten Texte, aber auch dieser Roman zeigt, wie problematisch die etablierten literaturwissenschaftlichen Meinungen und Begrifflichkeiten zum Thema ›Väterliteratur‹ sind. Gerade dieser Terminus wird ja im Roman durch verschiedene Faktoren gleichsam widerlegt: Zum einen durch die subtile, aber wichtige Präsenz des Großvaters und der Mutter der Autorin, zum anderen durch Plessens Interesse an übergeordneten, gleichsam soziologischen und institutionskritischen Problemstellungen, für die der Vater nur als paradigmatisches Beispiel fungiert. Plessens weit über den Vater hinausgehender analytischer Blick erfasst den Großvater und die Mutter als Wegbereiter und Repräsentanten einer starren, formelhaften und historisch gewachsenen Denk- und Lebensweise, die sich im Vater beispielhaft manifestiert und in seiner unglücklichen historischen Situation zu einer Verstrickung in die Gräuel des Nationalsozialismus führt. Das Erkenntnisinteresse der Autorin erschöpft sich also nicht in einer Betrachtung des Vaters, sondern gilt spezifischen Verhaltensweisen und tradierten ideologischen Residuen, welche die gesellschaftliche Institution des Adels für die Verlockungen des Nationalsozialismus anfällig oder zumindest blind für seine Gefahren machten. Während der Vater dieses Ideologiegebäude kraft seiner patriarchalischen Diskursherrschaft zu verteidigen sucht, greift es die Tochter unermüdlich an, und zwar mittels fundierter kritischer Analysen in herausfordernden Gesprächen mit dem Vater. Plessens Bemühungen wohnt also durchaus ein politischer, primär ideologiekritischer Impetus inne. In diesem Roman begegnet keineswegs ein für die neue Subjektivität typischer Rückzug in die Privatheit. Vielmehr mündet die Ernüchterung der Autorin nach dem Scheitern der Studentenbewegung und dem Tod des Vaters in ein analytisches Unterfangen, das eine gewisse politische Brisanz und einigen Erklärungswert aufweist. Obwohl Plessen, anders als Rehmann und Henisch, auf Interviews mit Zeitzeugen verzichtet, ist Mitteilung an den Adel letzten Endes doch ein ›Väterbuch‹ in unserem Sinne: Der vom Vater verkörperte problematische Wertekatalog führt bei Plessen zu einer beispielhaften ›Vertrauenskrise‹, die keineswegs nur den Vater betrifft, sondern die ganze von ihm personifizierte Gesellschaftsschicht. Die dialogischen Passagen, in denen die Autorin die ›Vertrauenskrise‹ erfolglos zu überwinden sucht, werden ergänzt durch profunde Analysen der ideologischen Dispositionen, die den Vater und den Adel überhaupt für den Nationalsozialismus anfällig machten. Spätestens in diesem Zusammenhang wird Plessen doch noch zur genuinen Geschichtswissen-

Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel

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schaftlerin: Zunächst beharrt sie konsistent auf der historischen Wahrheit angesichts der väterlichen Verdrängungsversuche – »[e]s gibt Bücher über den Krieg«1124, wirft sie C. A. einmal an den Kopf. Ihrem Forschergestus entsprechend, hegt Plessen ein tröstliches Vertrauen in den eigenen Intellekt: »Du kannst deine Herkunft durchschauen (du hast einen Kopf). Du kannst deine Herkunft in die Ecke stellen (du hast einen Kopf). Du kannst sie loswerden (du hast einen Kopf)«1125. Mit Hilfe dieser mantraartigen Selbstvergewisserung erhält die Erzählerin ihr Vertrauen in die eigene Sichtweise und die aus eigener Kraft erlangten Erkenntnisse aufrecht, auch gegen die Verunsicherungs- und Überzeugungsversuche der eigenen Familie. Das Beharren auf intellektueller Redlichkeit und historischer Evidenz ist aber auch hier eine verzweifelte Aufforderung an den Vater – der ja ebenfalls einen »Kopf« hätte –, von seinem euphemistischen Jargon Abstand zu nehmen. Schließlich unternimmt Plessen eine textkritische Auseinandersetzung mit einer schriftlichen Primärquelle, dem Kriegstagebuch des Vaters. Dieses Schriftstück entlarvt sie im Zuge eines in diesem Unterkapitel nachgezeichneten close reading, das nicht nur einem Historiker, sondern auch einem Literaturwissenschaftler alle Ehre machen würde, als hohlen und revisionistischen Versuch einer Selbstrechtfertigung, auf dessen Basis keine Verständigung zwischen den Generationen möglich ist. Wie in den bisher besprochenen Texten paaren sich also auch bei Elisabeth Plessen Fiktionen und Tatsachen, private Probleme und politisches Engagement, sowie subjektive Kritik und fundierte historische Analyse – unsere Sichtweise der ›Väterliteratur‹ als Schreiben im Nexus von Dichtung und Historiographie wird erneut bekräftigt.

1124 Plessen: p. 134. 1125 Ebd.: p. 90.

8. Die ›monologischen Väterbücher‹: Rauter, Schwaiger, Gauch und Seuren

Die Einzelbetrachtungen der drei ›dialogischen Väterbücher‹ haben unsere bisherigen Hypothesen bestätigt. Eine nicht wegzuerklärende Heterogenität scheidet die Texte voneinander und lässt ihre Einordnung in ein- und dasselbe Genre unsinnig erscheinen. Die Romane von Henisch, Rehmann und Plessen weisen zudem, wie wir zu zeigen vermochten, jeweils eine starke analytische Komponente auf: Alle drei Autoren unternehmen akribische Annäherungsversuche an Verdrängtes und Verschwiegenes; sie bedienen sich dabei gemäss unseren Thesen des Rüstzeugs der Geschichtswissenschaft (wobei dieses bei Henisch und Rehmann mit etwas größerer Stringenz zur Anwendung kommt als bei Plessen). Außerdem ließ uns die politische Sprengkraft dieser Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein weiteres Mal Abstand nehmen von einer Situierung dieser Literatur im Umfeld der neuen Subjektivität. Die bislang besprochenen Texte – Die Reise und die Suchbilder eingeschlossen – mögen in ihrer Heterogenität die etablierten Terminologien und literaturwissenschaftlichen Klassifikationsversuche unzureichend erscheinen lassen, aber gewisse Ähnlichkeiten weisen sie doch auf: Wenn man sich bemüht, genau zu lesen und sich nicht zu generalisierenden Schlüssen verleiten lässt, so darf man konstatieren, dass der Begriff der ›Vertrauenskrise‹ offen, aber auch prägnant genug ist, um die bis anhin diskutierten Werke in ihrer noch kaum gewürdigten Verschiedenheit adäquat zu beschreiben. Ausserdem, das sei ein weiteres Mal betont, weisen bisher alle hier beschriebenen ›Vertrauenskrisen‹ den durchaus politisch engagierten historiographischen Gestus auf, der nach Meinung des Verfassers für die angebliche ›Väterliteratur‹ charakteristisch ist. In diesem Kapitel werden wir nun das Feld für die ›monologischen Väterbücher‹ öffnen – für Texte also, in denen die Auseinandersetzung mit den Vätern oder den Eltern tatsächlich, gemäß der bereits als problematisch erkannten verbreiteten Forschermeinung, erst nach dem Tod des Vaters beginnt. Konkret sind hier die Werke von E. A. Rauter, Brigitte Schwaiger, Sigfrid Gauch und Günter Seuren gemeint. Die ›monologischen Väterbücher‹ von Jutta Schutting (Der Vater) und Peter Härtling (Nachgetragene Liebe) werden wir getrennt be-

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Die ›monologischen Väterbücher‹

handeln, da sie in ihrer Heterogenität wirklich aus allen Rastern fallen und sich sogar unseren neuen Begriffen und Situierungsversuchen entziehen. So ist Schuttings Text, im Unterschied zu allen anderen besprochenen Werken, vollkommen apolitisch (wie auch der beschriebene Vater) und verfolgt überhaupt kein historiographisches Interesse. Vielmehr wird in Der Vater, wie wir noch sehen werden, eine ganz bestimmte Form von Trauerarbeit durchgeführt. Bei Härtling wird sodann eine Situation präsentiert, die man nur als totale Inversion der in der ›Väterliteratur‹ üblichen Konstellationen beschreiben kann: Hier ist es in vieler Hinsicht der Sohn, der sich gegenüber dem früh verstorbenen Vater zu rechtfertigen hat, denn der junge Peter war ein durchaus begeisterter Nazi, während der Vater stets Distanz zu den Machthabern zu wahren suchte und als Anwalt noch kurz vor der Deportation stehende jüdische Mandanten verteidigte. Die Konsequenz, die wir aus diesem Befund zu ziehen haben, ist eine Abtrennung der Texte von Schutting und Härtling vom Korpus der ›Väterliteratur‹ – deshalb werden wir Nachgetragene Liebe und Der Vater später ein eigenes Kapitel widmen. Die restlichen ›monologischen Väterbücher‹ werden unsere Annahmen sodann weitgehend bestätigen. Unser Vorgehen wird sich in der Folge denn auch nicht wesentlich von demjenigen im vorhergehenden Kapitel unterscheiden: Wiederum wollen wir versuchen, die Heterogenität der behandelten Texte zu erhellen und, wo vorhanden, auf ihre Alleinstellungsmerkmale zu verweisen. Nach der Rolle der Mütter und anderer Familienmitglieder ist dabei ebenso zu fragen wie nach der Plausibilität der (wenn auch meist indirekten) Einordnung der Texte in die neue Subjektivität. Wo immer möglich sollen die ›Vertrauenskrisen‹ nachgezeichnet, der Fokus über die Vaterfiguren hinaus erweitert und der politisch-historiographische Impetus der Autorinnen und Autoren herausgearbeitet werden. Unser Ziel bleibt die Hinterfragung der etablierten literaturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten und Modelle, und wir werden sehen, dass auch die ›monologischen Väterbücher‹ kaum als Beispiele einer wie auch immer gearteten ›Väterliteratur‹ im Rahmen der neuen Subjektivität zu verstehen sind.

E. A. Rauters Brief an meine Erzieher

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8.1. Bernward Vesper als Proletarier: E. A. Rauters Brief an meine Erzieher Es überrascht zunächst nicht, dass sich zu Ernst Alexander Rauters1126 Brief an meine Erzieher bislang kaum jemand geäußert hat, erst recht nicht mit Blick auf die Zuordnung des Textes zur ›Väterliteratur‹. Nicht etwa, weil es über diesen kurzen Prosatext wenig zu sagen gäbe, sondern weil er im Wesentlichen in ein Muster zu fallen scheint, das man in detaillierterer und ergiebigerer Form in Bernward Vespers Reise findet. Man tut Rauter sicherlich nicht Unrecht, wenn man annimmt, dass Die Reise einen beträchtlichen Einfluss auf den 1979 erschienenen Brief an meine Erzieher ausübte: Das Werk scheint tatsächlich stark an Vespers ›Romanessay‹ geschult zu sein, verhandelt es doch eine lebensweltliche ›Vertrauenskrise‹, wie man sie in ähnlicher Schärfe nur in der Reise findet. Gerade eine Untersuchung der trotzdem vorhandenen Differenzen zu Vespers Text ist aber fruchtvoll; in ihrem Verlauf kommt man zum Schluss, dass Rauter eine in der ›Väterliteratur‹ singuläre Form der ›Vertrauenskrise‹ verhandelt und dass der intertextuelle Bezug zur Reise aus literaturgeschichtlicher Sicht von großer Wichtigkeit sein könnte. Die Alleinstellungsmerkmale des Textes und die ambivalenten Anspielungen auf Die Reise werden also den Fokus dieses Unterkapitels bilden. Die grundsätzlichen Fragen sind dabei schnell geklärt: Schon der Titel von Rauters Roman signalisiert, dass es sich bei diesem schonungslosen literarischen Rundumschlag ebenso wenig um ›Väterliteratur‹ handeln kann wie im Falle der Reise, denn schließlich liegt ein (›monologischer‹, da unbeantworteter) Brief an die Erzieher vor, nicht an den Vater oder auch nur die Eltern. Auch eine Einordnung des Werks in das Umfeld der neuen Subjektivität wäre nicht haltbar ; hierzu folgen am Ende des Unterkapitels einige Bemerkungen. Rauters Hass richtet sich, dem Titel entsprechend, gegen seine brutalen Erzieher, besonders die Pflegeeltern. Seinen leiblichen Vater, der aus Angst vor der Sippenhaft der Nazis Österreich verlassen musste, bezeichnet er dagegen, in diametraler Opposition gegen die Prämissen der ›Väterliteratur‹, als »Traumvater«1127. Dabei schlägt der Autor schon auf der ersten Seite des Romans einen assoziativen Bogen von den Erziehungsmethoden der Pflegeeltern zum Nationalsozialismus: Er habe sich als Kind »unter dem Gehorsamsterror der Kätner, der Besitzer von Katen, Hütten, der Hüttler, bayrisch Hitler«1128 befunden. Die »Arbeit« am Sohn haben sich die Pflegeeltern »geteilt« – »[e]s heißt nicht nur

1126 Wie zuvor gilt: Autor und Erzähler sind in diesem autobiographisch geprägten Text identisch. 1127 Rauter : p. 68. 1128 Ebd.: p. 5.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

›Pflegemutter‹, es heißt auch ›Pflegevater‹«1129 –, womit wir es mit einer zwischen den Elternteilen ausbalancierten Brutalität zu tun haben: Die Pflegemutter hängt derselben brutalen »[H]üttlerpädagogi[k]«1130, demselben »Konzentrationslagerstil«1131 an wie der Pflegevater ; die Familienkonstellation ist zumindest in dieser Hinsicht analog zu derjenigen bei Bernward Vesper gestaltet. Bevor Rauter zu den Pflegeeltern kam, hatte er sich beim Bauern Pirker verdingt, wo er »im Stall« auf einem »Bündel Stroh« schlafen musste und wegen dem allgegenwärtigen »Dung«1132 am ganzen Körper an Ekzemen litt. Weitere ›Erzieher‹, die dem Knaben Rauter das Leben schwer machten, traf er im »Erziehungsheim« an, in das ihn die Pflegeeltern »wegen angeblicher Schwererziehbarkeit«1133 schickten; auch ein anderer »neue[r] Erzieher«, ein »junger sogenannter Kinderarzt«, verhielt sich ihm gegenüber »kätneresk, hittlerhaft [sic]«1134 – kurzum: in kaum einem anderen ›Väterbuch‹ – ausser eben der Reise – wird der Bezug zwischen den Eltern (oder den ›Erziehern‹) und dem Nationalsozialismus so unverblümt und wütend hergestellt, und kaum ein anderer Autor – ausser eben Vesper – begegnet seinen ›Erziehern‹ mit derartigem Hass. Der Brief an meine Erzieher ist sogar noch ein wenig extremer gestaltet als Die Reise: Es handelt sich hier meines Erachtens um das einzige ›Väterbuch‹, welches einen wirklich undifferenzierten und ungemilderten Abrechnungsgestus aufweist; dieser Text ist eine vernichtende Vorwurfslitanei, auf die der Autor keine Antwort zu erwarten scheint, obwohl er die Textgattung ›Brief‹ gewählt hat (man denke an Kafkas Brief an den Vater). Hier werden fast schon manichäisch anmutende Trennlinien zwischen gut und unschuldig (Rauter) und böse und nationalsozialistisch (die ›Erzieher‹) gezogen. Die quälenden Selbstzweifel und die hysterischen politischen Reflexionen eines Bernward Vesper sucht man bei Rauter weitgehend vergeblich (dafür werden wir in der Folge eine Erklärung finden): Hier wird eine hundertzwanzig Seiten umfassende Anklageschrift gestaltet, in deren Verlauf jede Verletzung, jeder Misserfolg und jede Demütigung, die Rauter je erfahren hat, akribisch auf die ›Erzieher‹ zurückgeführt wird. Im Brief an meine Erzieher wird somit von allem Anfang an eine Vespersche, das heißt, eine ›lebensweltliche‹ und allumfassende ›Vertrauenskrise‹ zur Darstellung gebracht (auf die Rauter allerdings anders reagiert als sein Leidensgenosse Vesper, hierzu gleich mehr). Dabei wird von einer Kindheit erzählt, in der ausgerechnet der abwesende leibliche Vater den einzigen Lichtblick darstellt und der Erzähler von allen anderen Autoritätspersonen terrorisiert wird – auch von 1129 1130 1131 1132 1133 1134

Ebd.: p. 6. Ebd.: p. 7. Ebd.: p. 52. Ebd.: p. 18. Ebd.: p. 15. Ebd.: p. 21.

E. A. Rauters Brief an meine Erzieher

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den weiblichen. Somit entpuppt sich der Begriff der ›Väterliteratur‹ schon nach wenigen Seiten als ungeeignet oder zumindest irreführend; hier werden eben, wie bei Vesper, allerdings stark verkürzt, die Prämissen einer radikalen ›Vertrauenskrise‹ geschildert, die in alle Lebensbereiche ausgreift. So ergibt sich aus Rauters Erkenntnis, dass es für die Erziehungsmethoden, unter denen er leidet, keine »Erklärung« gibt, dass sie vielmehr auf dem »Dogma« des »Gehorsam [s]«1135 basieren, eine extremistische Haltung, die er mit Vesper gemeinsam hat und die er ebenfalls aus dem familiären Raum in die Gesellschaft trägt: »Es gibt mehr vernünftige Gründe für Ungehorsam als für Gehorsam«1136. Dementsprechend durchläuft Rauter denn auch ähnliche »Station[en]«1137 wie Vesper : zunächst die noch immer nationalsozialistisch geprägte Volksschule (»Ich habe […] folgende Verszeilen auswendig lernen müssen: ›Sei treu und wahr, lass nie die Lüge deinen Mund entweihn. Von alters her im deutschen Volke war der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein‹«1138), und später die Berufslehre als Schriftsetzer, die er nur als entfremdende »Verkleinerung des Menschen zum Schrumpfmenschen« und aufoktroyiertes »Erwachsenengebrauchsleben«1139 empfindet. Ein ebenfalls aus der Reise entlehntes Leitmotiv ist das (berechtigte) Gefühl, betrogen worden zu sein: um Liebe, Erfahrungen, oder, in Rauters Fall, vor allem Bildung – in letzterem Punkt zeigt sich eine ganz wichtige Differenz zum Intellektuellen Bernward Vesper, auf die wir gleich zu sprechen kommen werden: »Was mich von den Schäden, die ihr mir […] zugefügt habt, am meisten ärgert, ist die Beeinträchtigung meiner Intelligenz«1140 ; »Meine Ignoranz war gigantisch. Ich war ohne Orientierung, ohne Kenntnisse darüber, wie diese Gesellschaft funktioniert. […] Ich hatte […] sieben Klassen Volksschule«1141. Rauter schildert sogar eine Art ›Burton-Erlebnis‹: Er empfindet einen brennenden Hass auf seinen temporären Nachbarn »Retmann«, einen privilegierten Medizinstudenten, der sich erlaubt, seinen »dunkelmetallicgrünen Mercedes 450 S«1142 vor Rauters Tür zu parken. Die schiere Existenz eines jungen Nachbarn, »der das neueste Mercedes-Modell fuhr und studierte«1143, stellt in Rauters Augen eine unglaubliche Provokation dar, und er ergeht sich in Gewaltfantasien, die sich wie

1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143

Ebd.: p. 25. Ebd. Ebd.: p. 30. Ebd.: p. 28. Ebd.: p. 30. Ebd.: p. 25. Ebd.: p. 91. Ebd.: p. 77. Ebd.: p. 80.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

eine explizite Ausformulierung dessen lesen, was bei Vesper in Bezug auf Burton nur delirierend impliziert wird: [W]enn ich Polizist geworden […] wäre, Retmann lebte heute nicht mehr […]. Einen Grund hätte ich leicht gefunden, ihn abzuschießen, ich hätte ihn einfach auf der Straße gestoppt, durch die Windschutzscheibe geschoßen. Er wollte immer ›Murmel‹ genannt werden. In den Minuten, in denen er verblutet wäre, hätte ich ihm meinen Harn in die Augen gespritzt […].1144

Brisanterweise hat Retmann, genau wie Burton, jüdische Wurzeln, die Rauter mit faustdickem Antisemitismus beschreibt: Retmanns Vater sei ein armer Jude gewesen, der nach dem Krieg mit schwarzen Geschäften den Grund gelegt habe zu seinen Millionen. […] Man merkt an deinem Verhalten, sagte ich cool [zu Retmann, Anm. v. J. R.], daß du von einem Schieber und Schwarzhändler abstammst.1145

Ein Jude, der undurchsichtige Geschäfte treibt und dessen Sohn man die Abstammung anmerkt – zu dieser unheimlichen Gemeinsamkeit zwischen der Reise und dem Brief an meine Erzieher erübrigt sich jeder Kommentar. Man darf jedenfalls festhalten, dass Rauters Buch, wie erwähnt, an der Reise geschult zu sein scheint, dass es gleichsam an Vespers ›Romanessay‹ entlanggeführt ist, so frappierend muten die Parallelen an. Auf den ersten Blick ist Rauters Text also schnell analysiert: Der Autor beschreibt eine ›Vertrauenskrise‹ Vesperscher Prägung und spielt deutlich auf die Reise an; die Begrifflichkeit der ›Väterliteratur‹ greift somit aus denselben Gründen wie bei Vesper nicht, zumal Rauter noch herausstreicht, dass sein leiblicher Vater sein »Traumvater« sei. Man würde allerdings vorschnell handeln, wenn man Rauter auf der Basis dieses bislang noch nicht untersuchten intertextuellen Bezugs als Vesper-Epigonen abtäte. Setzt man sich eingehender mit dem Brief an meine Erzieher auseinander, konstatiert man nämlich, dass hier eine bemerkenswerte und in Teilen geradezu satirische Variation auf das von Vesper vorgegebene Thema gestaltet wird: Rauter durchlebt, wie gesagt, ähnliche Krisen und fühlt einen ähnlichen Zorn wie Bernward Vesper, wendet aber notgedrungen andere Strategien an als der Autor der Reise – und dieser Kontrast impliziert vielleicht, wie wir sehen werden, auch ein nicht unbedingt positives Urteil Rauters über Vespers Buch. Man vergegenwärtige sich, dass Vespers verhasste bürgerliche Herkunft, mit ihrer gymnasialen Ausbildung und dem Universitätsstudium, ihm ironischerweise das intellektuelle Rüstzeug verschaffte, mit dem er sich von ebendieser Herkunft befreien zu können glaubte – wir haben im ersten Teil dieser Studie gezeigt, dass Vespers Reaktion auf die 1144 Ebd.: p. 81. 1145 Ebd.: p. 88.

E. A. Rauters Brief an meine Erzieher

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lebensweltliche ›Vertrauenskrise‹ primär intellektueller und ideologischer Natur war ; er verließ sich in seinem auf tragische Weise gescheiterten Versuch einer literarischen Identitätskonstitution auf den Marxismus, die Theorien der New Left und die Thesen der Kommune 2. Rauter muss einen anderen Umgang mit der von ihm erfahrenen ›Vertrauenskrise‹ und seinem Erziehertrauma pflegen, da ihm, wie oben erwähnt, Bildung weitgehend verwehrt geblieben war. In der Tat könnte man sagen, dass das gedemütigte Pflegekind Rauter – der ungebildete Sohn eines Nazi-Gegners – über genau den genuin ›proletarischen‹ Lebenslauf verfügt, den sich Vesper als Sohn gutbürgerlicher und nationalsozialistisch vereinnahmter Eltern ersehnt (man vergegenwärtige sich Vespers Bewunderung für Pierre ValliÀres1146). Dass Rauters literarischer Zornesausbruch so viel kompakter ausfällt als Die Reise, ist mithin kein Zufall: Hier gibt es keine ideologisch fundierten zeitkritischen Analysen, die politischen Statements bleiben radikal und oberflächlich, und es wird auch keine masochistische Selbstanalyse im Vesperschen Gestus durchgeführt. Anders ausgedrückt: Vespers Flugblattduktus mit seinen ideologisierten Erklärungs- und Sinnstiftungsversuchen sucht man im Brief an meine Erzieher vergeblich. Rauters Wut, als ›proletarisches‹ Pendant zu Vespers intellektualisiertem revolutionärem Elan, ist nicht vom (in Vespers Fall ja fatalen) studentischen Vertrauen in Ideologie und Theorie getragen und bleibt somit gleichsam egoistisch: Während Vespers Bildung es ihm gestattet, sich zum berufsrevolutionären Autor und Herausgeber zu entwickeln, gerät der perspektivund beziehungslose Rauter einfach auf die schiefe Bahn. Das Abgleiten in die Halbwelt der Kleinkriminalität erlebt er als Befreiung: »Wie liebe ich jene Zeit der nächtlichen Einbruchsdiebstähle!«1147; »Das Leben hatte zum ersten Mal Sinn für mich. Ich war auf angenehme Weise aufgeregt und die Aufregung ernährte mich. […] Es war ein erfülltes Leben«1148. Besonders interessant ist nun, dass Rauter diese Differenz zum studentischen Revoluzzertum in seinem Text durchaus reflektiert. Im Westberlin der frühen Sechzigerjahre, wo Rauter zur Zeit des Mauerbaus als Boh¦mien in einer »Müllkammer«1149 lebte, knüpfte er Kontakte zu studentischen Aktivisten, wobei er wie Vesper den Umweg über nationalistisches Gedankengut nahm: Irgendwann taucht ein blaßer, hellblonder Maschinenbaustudent auf, in einer der siebentausend Westberliner Kneipen. […] Den verweichlichten, blaßen jungen Mann elektrisierte die Idee, Deutschland aus dem Untergrund von den Besatzungsmächten zu befreien, und die beiden Stücke wieder zusammenzubringen. […] Endlich konnte 1146 1147 1148 1149

DR: p. 445 f. Rauter : p. 90. Ebd.: p. 97. Ebd.: p. 50.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

ich meine Privatwut anhängen an eine Staatswut. […] Ich badete in einem Meer von Übereinstimmung. […] Ein riesiger Triumph erfüllte mich. Die Leute mit feinerem Elternhaus, mit Gymnasien und Semestern – ich, der Schweinehirt und Hühnerdieb war allen überlegen durch die Kätnerqualität meiner Wut.1150

Rauters »Wut« ist der Zorn eines Zukurzgekommenen. Seine ausschweifenden Reden, die von bewundernden Mitverschwörern protokolliert werden1151, gemahnen an die rhetorischen Rausche der Nationalsozialisten. Für den politischen Idealismus des »hellblonde[n] Maschinenbaustudent[en]« hat er nur Verachtung übrig, denn dieser »unerfahrene Hintern wollte große Politik machen ohne Menschenleichen. […] Wir redeten lange mit ihm, um ihm begreifen zu helfen, daß Politik und Mord zusammengehören«1152. Während wir in Bezug auf Vesper zeigen konnten, dass die literaturwissenschaftlichen Entlarvungsversuche seines angeblich gewaltverherrlichenden ›Romanessays‹ fehlgehen, ist Rauter definitiv terroristisches Potenzial zu attestieren. Erst nach einem Einbruch in eine »Baufirma«, wo sich seine Gruppe »Sprengstoff«1153 zu verschaffen hoffte, kommt sein gewaltbereiter Aktivismus an sein Ende. Das schonungslose Schlusswort des Buchs lautet denn auch: »Es ist Zufall, dass ich kein Mörder geworden bin«1154. Man darf somit, nicht zuletzt aufgrund der intertextuellen Anspielungen auf Die Reise, annehmen, dass dieser akribisch gestaltete Zorn eines Unterprivilegierten auch eine sardonische Replik auf Vespers ›Romanessay‹ darstellt: Über studentische Theorie- und Ideologiegläubigkeit macht sich Rauter lustig, und er zeigt, dass der revolutionäre Eifer eines genuinen ›Proletariers‹, den sich Vesper sehnlichst wünscht, nichts Nobles oder Edles an sich hat, sondern in blinde Zerstörungslust mündet. Rauter steht also zu seiner »Wut«, und anders als später die Terroristen der RAF schützt er keine hehren Ziele vor, um sein Denken zu rechtfertigen. Es ist ergiebig, Rauter als gewaltbereites, ›proletarisches‹ Pendant zum intellektuellen Revolutionär Vesper zu sehen, nicht nur, weil so eine andere Perspektive auf Die Reise möglich wird – Rauter repräsentiert gleichsam die »Randgruppen der Gesellschaft«, in denen die studentischen linken Aktivisten, auch die ›erste Generation‹ der RAF, »Potential für gesellschaftliche Veränderungen«1155 orteten. Man bedenke, dass die erste Aktion der Gruppe um Baader und Ensslin nach der Freilassung aus dem Gefängnis 1969 auf die Rekrutierung von Jugendlichen wie Rauter abzielte: »›Die Baader-Gruppe […] besticht die Lehrlinge mit 1150 1151 1152 1153 1154 1155

Ebd.: p. 114. Ebd.: p. 119. Ebd. Ebd.: p. 120. Ebd. Aust: p. 126.

E. A. Rauters Brief an meine Erzieher

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Abenteuerspielchen, mit […] Aktiönchen gegen alles und jeden‹«1156. So übernahmen Baader und Ensslin denn auch »die Führung« eines »Lehrlingsprojekts« und gruppierten »[e]ine rasch wachsende Zahl entlaufener Fürsorgezöglinge«1157 um sich, zu denen auch Rauter hätte gehören können, wenn er jünger gewesen wäre. Randständige Jugendliche wie Rauter bildeten also gegen Ende der Sechzigerjahre eine neue »Zielgruppe revolutionärer Ambitionen«; linke Studenten bemühten sich, eine »Allianz von Intellektuellen mit den Gefallenen am Rande der Gesellschaft zu schmieden«1158. Eine ›Erfolgsgeschichte‹ dieser Tätigkeit ist sicherlich die Konditionierung des siebzehnjährigen Peter-Jürgen Boock zum loyalen Gefolgsmann der späteren RAF, aber grundsätzlich war das Projekt von Baader und Ensslin naiv und zum Scheitern verurteilt: Bald waren, weil sich das »lockere Leben außerhalb der Mauern von Fürsorgeheimen« herumgesprochen hatte, die »studentischen Ressourcen aufgebraucht« – [v]or allem aber begannen sich die Wohngemeinschaften zu wehren, in denen die Jugendlichen untergebracht worden waren: Plattensammlungen verschwanden, in den Regalen fehlten plötzlich Bücher, ganze Stereoanlagen wurden abgebaut. […] Wenn ihnen irgend etwas gefiel, dann nahmen sie es mit. Wenn jemand widersprach, dann gab es etwas auf die Fresse. Nur wenige widersprachen. Es war unbequem und unangenehm, aber auch irgendwie chic, vom militanten Proletariat […] ausgenommen zu werden.1159

Obwohl der 1929 geborene Rauter nie Teil dieses sozialaktivistischen Experiments war, ist der Brief an meine Erzieher aufschlussreich, wenn man das weitgehende Misslingen der proletarisch-studentischen-Allianz verstehen will. Rauters Text zeigt ja, dass ein wütender Benachteiligter womöglich auch für vermeintliche ideologische Verbündete nichts als Verachtung übrig hat, dass der Zorn eines brutalisierten Pflegekindes ein chaotischer und anarchischer ist, der sich nicht einfach so in die Bahnen einer wohlgeordneten Ideologie lenken lässt. Überspitzt ausgedrückt, empfindet Rauter somit auch den »hellblonde[n] Maschinenbaustudent[en]« als ›Erzieher‹. Der Brief an meine Erzieher wird mithin lesbar als wertvolles Dokument einer Perspektive, die in der Diskussion um 1968 – auch in dieser Studie – meist zu kurz kommt. Hier spricht für einmal kein Bürgersohn, kein Intellektueller, und es gelangt keine akribisch gestaltete, politisch fundierte und historiographisch interessierte ›Vertrauenskrise‹ zur Darstellung. In Rauters Text tritt einem vielmehr der nicht einmal von irgendwelchen Ideologien gezähmte Hass eines Verachteten und Zukurzgekommenen entgegen. Damit wird, wie wir zeigen 1156 1157 1158 1159

Ebd. Ebd. Ebd.: p. 127. Ebd.: p. 136 f.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

konnten, ein Kuriosum der 68er-Revolte – die weitgehend missglückten Annäherungsversuche zwischen dem linken Studentenmilieu und entlaufenen Problemjugendlichen – besser verständlich. Der eng an Die Reise angelehnte Text gestattet zudem einen neuen Blick auf Vespers ›Romanessay‹: Die Dispositionen der beiden Autoren sind sehr ähnlich, bringen sie doch beide allumfassende, radikale ›Vertrauenskrisen‹ zur Darstellung. Diese aber täuschen nicht darüber hinweg, dass Vesper und Rauter sehr unterschiedlichen Milieus entstammen, und so wirkt der Brief an meine Erzieher stellenweise wie eine spöttische ›proletarische‹ Replik auf Vespers studentisch-ideologisierte Ausführungen. Die Singularität dieses Blickwinkels sowie die intertextuelle Verzahnung mit der Reise machen eine Klassifizierung des Briefs an meine Erzieher nicht einfach. Um ›Väterliteratur‹ handelt es sich bei dieser hasserfüllten Auseinandersetzung mit den Erziehern – nicht aber dem leiblichen Vater –, wie gesagt, keineswegs. Auch unsere Vorschläge für ein neues Verständnis der ›Väterliteratur‹ greifen jedoch nur bedingt; Rauters ›Vertrauenskrise‹ ist nämlich im Korpus der ›Väterliteratur‹ ebenfalls einzigartig, da sie, wie wir auch zeigen konnten, nicht in ein konsistentes politisches Denken eingebettet ist, sondern auf dem blinden Hass eines Gedemütigten gründet. Ein systematischer historiographischer Ansatz fehlt demzufolge ebenso. Auch von neuer Subjektivität kann aber nicht die Rede sein: Der Text hat ja durchaus eine – sogar sehr radikale – politische Grundierung, wenn diese auch in einer für die ›Väterliteratur‹ sehr idiosynkratischen Weise gestaltet ist, eben im Zeichen blinder Wut und nicht im Kontext eines intellektualisierten Erkenntnisstrebens, das für die ›Väterbücher‹ charakteristischer ist. Der emotionalisierte und oftmals melancholische Grundton der neuen Subjektivität ist in Rauters eiskaltem Hasspamphlet natürlich ebenfalls nicht gegeben. Am sinnvollsten erscheint es mir daher, den Brief an meine Erzieher einerseits als aufschlussreiches Zeitdokument zu lesen, das von einem zornigen, ›proletarischen‹ revolutionären Elan erzählt, der im Kontext der Umwälzungen von 1968 auch wichtig war, aber weniger Beachtung findet als die zeittypischen Laufbahnen der Studentenrevolutionäre. So werden Dynamik und Scheitern der Versuche auf linksradikal-studentischer Seite, sich mit benachteiligten und kriminellen Jugendlichen zu verbünden, verständlicher, auch wenn Rauter selber nie Teil dieses Prozesses war. Andererseits darf der Brief an meine Erzieher mit einigem Recht als Paralleltext – vielleicht gar als leicht ironische Kontrafaktur – der Reise gelten. Dass Rauters Buch mit Vespers ›Romanessay‹ gleichsam verlötet ist und in gewisser Weise auf ihn reagiert, ihn gar persifliert, ist meines Erachtens wegen der vielen oben ausgeführten Parallelstellen unbestreitbar. In diesem Umstand liegt vielleicht letztlich die (literaturgeschichtliche) Relevanz dieses schwer fassbaren Textes für die ›Väterliteratur‹ begründet: Der Brief an meine Erzieher ist mit seiner an der Reise orientierten Struktur das

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erste Beispiel für ein ›Väterbuch‹, das sich gleichsam seiner selbst und seiner Zugehörigkeit zum ›väterliterarischen‹ Trend bewusst ist. Bei Rauter konstatieren wir mithin eine Art Meta-Ebene, auf welcher über ›Väterliteratur‹ – oder jedenfalls über Vespers paradigmatisches ›Väterbuch‹ – reflektiert wird. Damit unterscheidet sich der Text stark von der restlichen ›Väterliteratur‹ der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre, in der klar das Primat der autobiographischen Spezifität gilt und die, wie beispielsweise Äusserungen von Julian Schutting und Sigfrid Gauch zeigen1160, keineswegs im Bewusstsein des kuriosen Väter-Trends am Buchmarkt geschrieben wurde. Rauter scheint mir dagegen die zweite Welle der ›Väterbücher‹, die Mitte und Ende der Achtzigerjahre erschien, zu antizipieren: In diesen Werken, vor allem in Peter Schneiders Vati (1987), ist bereits eine Art Genre-Bewusstsein zu konstatieren; das einstmals originelle oder skandalträchtige Interesse an der eigenen problematischen Familiengeschichte ist zum generischen Feature einer im Feuilleton bereits ausgiebig behandelten Textschwemme geworden. Schneider ist natürlich ein extremer Fall – sein Text weist überhaupt keine autobiographische Komponente auf, sondern bildet, boshaft gesagt, einen verspäteten Beitrag zu einer bereits vergangenen literarischen Mode: Schneider erzählt am Beispiel von Josef Mengeles Sohn Ralf eine zur Publikationszeit bereits sehr klischierte Vater-Sohn-Geschichte, die zudem stellenweise aus der Bunten plagiiert ist1161. Mit diesem outlier hat Rauters autobiographischer Brief an meine Erzieher natürlich wenig gemein, aber seine Anspielungen auf formale und inhaltliche Muster, die sich in Vespers Bestseller finden, markieren womöglich den Beginn eines Stereotypisierungsprozesses, der erst die zweite Charge der ›Väterbücher‹ prägte. Anders ausgedrückt: Mit dem Brief an meine Erzieher wird die ›Väterliteratur‹ topisch. Zusammenfassend halten wir fest: Rauters Text erhellt gewisse Aspekte der Geschehnisse um 1968 und enthält implizite und satirische Kritik an Vespers Reise, wodurch der Text bestimmte formal- und produktionsästhetische Entwicklungen der ›Väterliteratur‹ vorwegnimmt. Mit seiner einzigartigen ›Vertrauenskrise‹ nimmt der Text nicht nur in den konventionellen Definitionen der ›Väterliteratur‹, sondern auch im Kontext unserer Präzisierungs- und Rekontextualisierungsversuche eine zugegebenermaßen erratische Position ein; unter den soeben ausgeführten Gesichtspunkten bietet sich aber meines Erachtens doch eine Lesart an, die Erkenntnisgewinn birgt.

1160 Deutsche Väter : p. 50; p. 85. 1161 Siehe hierzu Gerda-Marie Schönfelds vernichtende Rezension im SPIEGEL: Schönfeld, Gerda-Marie: »So eine Nachbarschaft. Ist Peter Schneiders Vati ein schlichtes Illustrierten-Plagiat?« DER SPIEGEL 11 (1987): http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13521967. html (7. 11. 2010; keine Paginierung).

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Die ›monologischen Väterbücher‹

8.2. Anamnese und Sprachkritik: Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit Von den ›monologischen Väterbüchern‹ kommt Brigitte Schwaigers1162 Kurzroman Lange Abwesenheit der konventionellen Sicht auf die ›Väterliteratur‹ noch am nächsten: Hier steht prima facie tatsächlich die Verhandlung einer traumatischen Beziehung zu einem bereits verstorbenen Vater im Vordergrund, der im ›Dritten Reich‹ Schuld auf sich geladen hat1163. Die Eröffnungsszene des Buches, in der die Tochter vor dem Grab des Vaters dessen anhaltende »Macht«1164 affirmiert, scheint modellhaft die nicht nur von Seeba vorgebrachte These zu bestätigen, wonach in der ›Väterliteratur‹ »immer nur«1165 tote und dennoch übermächtige Väter figurieren. Es kommt weder zu einer Versöhnung noch zu einer irgendwie gearteten Distanzierung; der Vater geistert auch am Ende des Romans noch als unheilvolles Phantom durch das Leben der Tochter : »Er ist tot, aber ich kämpfe gegen ihn, noch immer. Er hat viele Stimmen, viele Arme und Beine, ist unsichtbar und kann mir jederzeit und überall auflauern«1166. Man könnte meinen, dass Schwaiger tatsächlich die private und letztlich fruchtlose Auseinandersetzung mit dem toten Vater sucht, gegen den sie nach eigener Aussage nichts einzuwenden hat, »außer daß er mein Vater ist«1167 – ganz ohne ›Vertrauenskrise‹ und historiographisches Interesse, ganz im Sinne der neuen Subjektivität. Das Buch ist aber komplexer und vielschichtiger als ein erster Blick vermuten lässt. Wenn die Tochter auch primär auf den Vater fokussiert und klar ein kon1162 Dieses Unterkapitel wird zeigen, dass die Identität von Autorin und Erzählfigur in kaum einem anderen ›Väterbuch‹ so augenscheinlich ist wie in Lange Abwesenheit. Zugleich aber fallen Autorin und Erzählerin in einer signifikanten Hinsicht auseinander, namentlich in den Passagen, die durch den Vater tradierte antisemitische Denkweisen wiedergeben: Hier handelt es sich um Figurenrede (oder ›Figurendenken‹) der Erzählinstanz, welche von der realen Autorin schonungslos nachgezeichnet wird. Dass dieses Vorgehen Teil eines kritischen Projekts ist, wird dieses Unterkapitel nachzuweisen versuchen. 1163 Siehe Hulse: p. 137. Der Vater vollzieht allerdings gegenüber der Tochter hilflose Gesten der Reue, nennt Hitler einen »Verbrecher« und bedauert, »dass Hitler es fertiggebracht hatte, ihn, den gutgläubigen Studenten in etwas verstrickt zu haben« (Schwaiger, Brigitte: Lange Abwesenheit. Wien und Hamburg: Paul Zsolnay Verlag, 21980. Hier: p. 33). Diese larmoyante Selbstinszenierung als Opfer beeindruckt die Tochter jedoch nicht und täuscht nicht über die Kontinuität des Antisemitismus in der Familie Schwaiger hinweg: »Aber die Juden. Augenzwinkern. Das kann doch kein Zufall sein, dass die Juden nirgends beliebt sind […] (ebd.: p. 33 f.); »[S]ie verhalten sich so, daß sie immer wieder vertrieben werden und sich woanders einnisten, bis man sie wieder vertreibt, weil sie keiner haben will« (ebd.: p. 32). 1164 Schwaiger : p. 9. 1165 Seeba: p. 181. 1166 Schwaiger : p. 124. 1167 Ebd.: p. 104.

Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit

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fliktbehaftetes Verhältnis zu ihm hat, so ist doch die Art der Auseinandersetzung mit dem Vater im Korpus der ›Väterliteratur‹ nahezu einzigartig – und hier erhält eine Lesart, die Lange Abwesenheit als ›Väterbuch‹ im Sinne der etablierten Definitionen deutet, erste Risse. Schwaigers Fokus liegt nämlich nicht auf Anklage- und Enthüllungsgesten im Sinne eines ideologisch fundierten ›Generationenkonflikts‹ – sie hat ja auch »nichts gegen meinen Vater, außer daß er mein Vater ist«1168 –, sondern auf der langen Geschichte der kleinen und großen Lieblosigkeiten und Demütigungen, die ihr der Vater zufügte. Eine ›Vertrauenskrise‹ in unserem Sinne kann man also nicht konstatieren, ebenso wenig aber liegt ein ›Generationenkonflikt‹ im Sinne der herkömmlichen Definitionen der ›Väterliteratur‹ vor. Schwaigers Vater ist eben nicht in erster Linie ein Nazi-Vater (obwohl er das natürlich auch ist), sondern ein »Vater, […] den man nicht umarmen darf«1169, der seine Töchter als »Huren«1170 beschimpft und seinem Enkel Bernhard die Zuneigung schenkt, die er ihnen stets verwehrte, weshalb Schwaiger auf dem Weg zum Begräbnis des Vaters »nach Bernhards Hand« greift, »um mir ein wenig von Vaters Wärme zu holen«1171. Getragen wird dieses Nachdenken über eine lieblose Beziehung von einem ebenfalls apolitischen Subtext, der einen Missbrauch der Tochter durch den Vater andeutet: »Leg deine Hände auf meine Hüften, wie ich das nie haben wollte«1172, sagt die Tochter zum toten Vater, und sie erinnert sich, wie er »das sagte[] von der kleinen Geliebten, wie eine kleine Geliebte, wie eine heimliche Geliebte«1173. Lange Abwesenheit scheint gleichsam eine Anamnese anzustreben: im Vordergrund steht eine selbsttherapeutische Aufarbeitung der zahllosen Demütigungen und Erniedrigungen, welche die Tochter durch den Vater erfuhr, eine Darstellung der »persönliche[n] Deformation und Zerstörung durch den Vater«1174. Dessen ideologische Verirrungen werden erst in zweiter Linie überhaupt wichtig. Das etablierte Verständnis der ›Väterliteratur‹, welches den politischen Antagonismus zwischen den schuldigen Vätern und den schreibenden Nachkommen zum hervorragenden Charakteristikum aller ›Väterbücher‹ erhebt1175, wird Schwaigers Buch somit nicht unbedingt gerecht. Das zeigt sich in noch größerer Deutlichkeit, wenn man auch die Rolle der Mutter bedenkt, die in Lange Abwesenheit eine Figur von eminenter Wichtigkeit 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175

Ebd. Ebd.: p. 24. Ebd.: p. 69. Ebd.: p. 119. Ebd.: p. 9. Ebd.: p. 10 f. Diese Erinnerung wird später nochmals aktualisiert: ebd.: p. 104. Mauelshagen: p. 46. Siehe nochmals beispielsweise Kosta: p. 220; Figge 1990: p. 193; Schmitz: p. 65; Schlant: p. 85.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

ist. Schwaiger macht sie mitverantwortlich für das Scheitern des Vaters als Familienoberhaupt: »Ohne diese Frau, die meine Mutter ist, wäre er nicht der geworden, der er ist, denke ich«1176. Der Hass, den Schwaiger für den Vater empfindet, erstreckt sich auch auf die Mutter – was allein schon den Begriff der ›Väterliteratur‹ zur Beschreibung dieses Werks ungeeignet macht –, und hinzu kommt, dass das Verhältnis der Erzählerin zur Mutter eine ganz eigene Qualität aufweist. Assmann ist zuzustimmen, wenn sie eine »Konkurrenz«1177 zwischen Tochter und Mutter konstatiert, und diese Konkurrenz erwächst aus dem »Wunsch der […] Tochter nach einer Nähe zum Vater, die durch den Platz der Mutter besetzt ist«1178. Bei einem Besuch der Tochter beim todkranken Vater manifestiert sich dieser Konkurrenzkampf um die Liebe des Vaters in aller Deutlichkeit: Mutter sagt, dass sie sich beide freuen über meinen Besuch. Sei still, denke ich, wer redet mit dir, was mischst du dich ein, warum nimmst du immer alles vorweg, was von meinem Vater zu mir kommen könnte? Mach dich nicht so wichtig! Ich bin seine Tochter. Dich hat er nur geheiratet. […] Ich bilde mir ein, ich hätte ihn besser verstanden und besser zu lieben gewußt als Mutter. Ich hätte es nicht zugelassen, dass er mich und meine Töchter verkrüppelt.1179

An anderer Stelle »möchte« sich die Erzählerin »vor meinem Vater die Kleider ausziehen, mich nackt vor ihn hinstellen«1180. Assmann attestiert Schwaiger mit Recht das weibliche Pendant eines Ödipuskomplexes – einen »Elektra-Komplex«1181. Wenn dem Vater in Lange Abwesenheit auch mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als der Mutter, so darf man doch festhalten, dass Letztere nicht besser wegkommt als Ersterer und mithin nicht klar wird, »welches Verhältnis gestörter ist: das zum Vater oder das zur Mutter«1182. Damit nicht genug: Einmal mehr stört ein tyrannischer Großvater die ›väterliterarische‹ Konfiguration; hier wird, wie Assmann richtig feststellt, das »Großvater-Syndrom […] in […] emblematische[r] Form«1183 gestaltet. »Meine Eltern« – so äußerte sich Schwaigers Vater zu Lebzeiten – »könnte ich heute noch erwürgen dafür, dass sie mich in ihr Haus zurückgelockt haben«1184 ; der Großvater kam »jeden Abend betrunken heim[], der Koloß, den sein schmächtiger Sohn die Stiegen hinaufschob in den

1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184

Schwaiger : p. 72. Assmann: p. 208. Ebd. Schwaiger : p. 71 f. Ebd.: p. 55. Assmann: p. 208. Ebd. Ebd.: p. 211. Schwaiger : p. 17.

Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit

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zweiten Stock […]«1185. Obwohl Lange Abwesenheit also zunächst tatsächlich eine vermeintlich typische ›monologische‹ Konfrontation mit einem toten Vater zur Darstellung zu bringen scheint, sind auch die Mutter und der Großvater der Erzählerin für den Plot höchst relevant. Wiederum stellt allein die Figurenkonstellation eines Textes die Eignung von Begriffen wie ›Väterliteratur‹ und ›Väterbuch‹ in Frage. Schwaigers Bearbeitung des Themas sticht aber noch in einer weiteren Hinsicht aus dem Korpus der ›Väterliteratur‹ heraus, und wie wir sehen werden, wirft dieser Aspekt des Textes doch noch die bekannten, hier aber kaum mehr erwarteten politischen Fragen um Verdrängung und Geschichte auf. Im Zentrum des Romans steht nämlich eine äußerst kuriose und diffizile Dreiecksgeschichte: »Weil ihr die Liebe ihres Vaters gefehlt hat, sucht [Schwaiger] sich als Geliebten einen Mann im Alter ihres Vaters […]. Weil ihr Vater aus seinem Antisemitismus auch nach dem Krieg kein Hehl macht […], muß der Geliebte Jude sein«1186. Dieser »Vaterersatz«1187 ist Peter Birer, ein Jude, der die Nazizeit als Emigrant in der Schweiz überlebte, und in der Beziehung zu ihm aktualisiert sich in schonungsloser Weise auch die Beziehung zum Vater : Birer bietet der Erzählerin »in sehr ambivalenter Weise Identifikationsmöglichkeiten sowohl der Schuld als auch der Rache«1188 und, man muss es hinzufügen, des Selbstmitleids. In dichten und atemlosen Passagen verarbeitet die Erzählerin jeweils die ganze Bandbreite dieser für die ›Väterliteratur‹ einzigartigen Dreieckskonstellation, die den antisemitischen Vater, den väterlichen jüdischen Liebhaber und die psychisch labile Tochter umfasst: Geiler alter Jud, dachte ich. Und: Vielleicht ist er jung, im Bett. […] Ja, dachte ich, […] mit ihm werde ich mich behaupten gegen Vater. […] Er hat alles vorbereitet. […] Ich betrete sein Schlafzimmer, obwohl ich schon nicht mehr will. Ein Bett steht an der Wand. Hier will er mich demütigen. […] Er ist Jude. Juden soll man nicht trauen. Warum habe ich meinem Vater nicht geglaubt? […] Ich habe vieles, was Vater über Juden sagte, nachgesagt. Der Alte bestraft mich jetzt dafür.1189

Von tradiertem Antisemitismus (»[g]eiler alter Jud«) über Rachefantasien (»mit ihm werde ich mich behaupten gegen Vater«; »Ich will nicht deine Tochter sein! […] Ich möchte meinen Kopf retten, Nazidrecksau!«1190) bis hin zu einem gewissen Bewusstsein für die der Situation innewohnende Pathologie (»[i]ch 1185 Ebd.: p. 121. 1186 Ayren, Armin: »Ein Sturz vom hohen Sockel. Lange Abwesenheit – Brigitte Schwaigers dritte Prosaveröffentlichung«. Frankfurter Allgemeine Zeitung 9. 2. 1980: p. 5 (Seite »Literatur / Bilder und Zeiten«). 1187 Kecht: p. 324. 1188 Ebd. 1189 Schwaiger : p. 37 f. 1190 Ebd.: p. 51.

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werde nie den Mut haben, [Birer] zu sagen, warum ich mich wirklich mit ihm eingelassen habe«1191) durchläuft die Erzählerin alle vorstellbaren Gefühlsstadien, die zuweilen in groteske Ausbrüche von Selbstmitleid münden: »Und ich dachte, dass die vielen Mädchen, die in Waggons gepfercht wurden, ja auch Angst gehabt hatten«1192. Diesem komplexen Beziehungsgefüge vermochten bisher die wenigsten Interpreten einen konsistenten Sinn zu geben. Armin Ayren scheint in seiner Rezension des Werks gleichsam vor ihm zu kapitulieren, wenn er rhetorisch fragt: »[W]as ist an solchen autobiographischen Texten Analyse […], und was entspringt dem Bedürfnis nach Selbsttherapie?«1193 Die von Michael Hulse vorgebrachte positive Lesart des Verhältnisses der Erzählerin mit Birer muss sodann naiv anmuten, wenn man sich die soeben zitierten Passagen vergegenwärtigt: In loving Peter Birer, the narrator topples the authority that her father so didactically preserves; in loving Peter Birer, she establishes a physical intimacy with a man whose flesh would have been rendered ash by men like her father, and thus annihilates the evil her father‹s belief perpetuates.1194

Wir haben soeben gezeigt, dass eine solche Interpretation vom Text nicht gestützt wird. Die Beziehung zu Birer bleibt ambivalent; die antisemitische Indoktrination durch den Vater bricht sich immer wieder Bahn, was auch Birer selbst gegenüber der Erzählerin konstatiert: »Jetzt spricht der Nazi aus dir«1195. Das Wechselspiel von antisemitischen Ausbrüchen und verzweifelter Ablehnung des väterlichen ideologischen Erbes wird zu keinem Zeitpunkt wirklich aufgehoben; keine Seite scheint den Sieg davonzutragen. So kann die Erzählerin in Lange Abwesenheit im Abstand von wenigen Zeilen zunächst ihrem Ekel über Birers »Judennase«1196 Ausdruck verleihen und befürchten, dass der Jude an ihr »Rache«1197 für den Holocaust nehmen wolle, und dann trotzdem den verhassten Nazi-Vater angreifen: »Was haben deine Gedanken in meinem Kopf verloren?«1198 Das »evil« des Vaters wird hier somit keineswegs überwunden, wie Hulse glaubt. Regina Kecht nimmt eine differenziertere, aber ebenfalls problematische Lektüre vor. Ihrer Meinung nach unternimmt Schwaigers Erzählerin eine »Deutung der Verhältnisse«, in der sie »in jedem Fall« als »Opfer« figurieren muss, da sie eine »Parallele herstell[t] zwischen dem psychologischen Miss1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198

Ebd.: p. 47. Ebd.: p. 54. Ayren: p. 5. Hulse: p. 137. Schwaiger : p. 47. Ebd.: p. 53. Ebd.: p. 54. Ebd.: p. 55.

Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit

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brauch, den sie durch ihren autoritären Vater« und demjenigen, den sie durch ihren jüdischen »Liebhaber[] erlitten hat«1199. Die drastischen Reflexionen der Erzählerin versteht Kecht allein als platte, auf Entlarvung und Schockwirkung abzielende Nachahmung der »faschistoide[n] Gedankenwelt des Vaters«1200 ohne jeden kritischen oder analytischen Gehalt. Nun ist es in der Tat so, dass die Erzählerin die wirren Ansichten des Vaters mehr oder minder kommentarlos wiedergibt; auch stimmt es, dass Birer und die Vaterfigur im Verlauf von Lange Abwesenheit konvergieren: »Birer war ein gescheiter Mann. So wie Vater, wenn nicht gescheiter«1201; »Wenn Birer wüsste, wie ähnlich er oft meinem Vater ist«1202 ; »Seit er es zum erstenmal ausgesprochen hat, wiederholt er es: Mein Kind«1203 ; »Im Steireranzug fühlte [der Vater] sich am wohlsten. Birer trug auch einen Steireranzug«1204. Kecht geht aber sehr voreilig vor, wenn sie in dieser Gestaltung eine »Schuldzuschreibung« an den Vater sieht, mittels derer sich die Autorin von aller Verantwortung freizumachen sucht – wenn sie das Buch mithin als entschuldenden »Schutzmechanismus« liest, »der das Erbe der NS-Ideologie auch bei der Nachfolgegeneration fest verankert hält«1205, da er dieses Erbe weder zu verstehen noch zu überwinden suche. Vielmehr ist, wie Hinrich Seeba richtig festhält, der unkommentierte und ungefilterte Antisemitismus der inneren Monologe in Lange Abwesenheit ein Wagnis mit kritischem Potenzial, denn die reale Autorin Schwaiger »riskiert« in der Gestaltung der namenlosen Erzählerin »das Mißverständnis […], um es zu benennen«1206. Anders ausgedrückt: Was in Passagen wie den oben zitierten zur Darstellung kommt, ist nicht eine plumpe »Schuldzuschreibung an andere« als »Schutzmechanismus«1207, sondern eine schonungslose »Offenlegung von verinnerlichten Denkmustern, die der Tochter eine vom tyrannischen Vater abgelöste Identität verwehrt haben«1208. Diese »Offenlegung« der fortbestehenden antisemitischen Sprach- und Denkmuster wird durch deren »distanzierende Wiederholung« in sorgfältig konstruierter Figurenrede erreicht, aber auch durch die Gestaltung einer Verschmelzung von Nazi-Vater und jüdischem Liebhaber. Man darf Lange Abwesenheit angesichts dieser Akribie mit Seeba als Projekt »sprachkritischer Identitätsbildung«1209 betrachten. Schwaigers gelungene 1199 1200 1201 1202 1203 1204 1205 1206 1207 1208 1209

Kecht: p. 325. Ebd. Schwaiger : p. 36. Ebd.: p. 58. Ebd. Ebd.: p. 73. Kecht: p. 326. Seeba: p. 178. Kecht: p. 326. Seeba: p. 178. Ebd.

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Herausarbeitung des Nachlebens nationalsozialistischer Ideologie weist sogar noch einen größeren kritischen und analytischen Mehrwert auf als Seeba annimmt; sie offenbart nämlich nicht nur die Kontinuität der fatalen Denkweisen, sondern zeigt auch, auf welche Weise diese Kontinuität grundsätzlich gesichert und etabliert wurde: namentlich durch die vor allem sprachlich fundierte Vermittlung nationalsozialistischer und antisemitischer Diskurse an die ›zweite Generation‹, der Schwaiger angehört. Der Versuch »sprachkritischer Identitätsbildung« ist also nur ein Aspekt der antisemitischen Rollensprache in Lange Abwesenheit – diese erhält zudem eine kritische, politisch relevante und vielleicht gar historiographische Komponente, indem Schwaiger die seelischen Verkrüppelungen protokolliert, welche die Nachkommen von Nationalsozialisten erlitten. Dieses Erkenntnisinteresse verfolgte Schwaiger schon mit der bereits beschriebenen privaten und apolitischen Anamnese des Vatertraumas. Der private Aufarbeitungsversuch der väterlichen Lieblosigkeit verschmilzt im Laufe von Lange Abwesenheit mit Schwaigers riskanter Sprachkritik und entfaltet am Ende doch noch eine zeitkritische, politische Wirkung: denn die Erkenntnisse über die durch den Vater erlittenen Schädigungen werden ergänzt durch die Einsicht, dass man als Nachgeborene »[n]icht für die Schuld des Vaters, wohl aber für die Sprache«1210 verantwortlich ist. Soviel lernt die Erzählerin auch von Birer, der sie zwar wissen lässt, dass sie für ihre »Eltern nicht verantwortlich« sei, sie aber auch schonungslos darauf hinweist, wenn »der Nazi aus dir [spricht]«1211. Wir haben also womöglich eine Antwort auf Ayrens Frage – »[W]as ist an solchen autobiographischen Texten Analyse […], und was entspringt dem Bedürfnis nach Selbsttherapie?«1212 – gefunden: In Schwaigers Roman scheinen sich »Selbsttherapie« und »Analyse« zu ergänzen, denn das Vatertrauma wird nicht nur anamnetisch und selbsttherapeutisch aufgearbeitet, sondern in der Schilderung der dysfunktionalen Beziehung zu Birer, welche auf Seiten der Autorin die nationalsozialistisch geprägten Gedanken und Formeln zu Tage fördert, auch sprachkritisch spezifiziert und analysiert. Dabei ist es nicht so, dass die Beziehung zu Birer allein schon zu einer Überwindung des Konflikts mit dem Vater führt (wie Hulse behauptet), aber die Literarisierung dieser Beziehung birgt definitiv einen gewissen Erkenntnisgewinn, wenn auch keinen tröstlichen: »Er ist tot, aber ich kämpfe gegen ihn, noch immer«1213, denn dieser 1210 1211 1212 1213

Ebd. Schwaiger : p. 47. Ayren: p. 5. Schwaiger : p. 124. Hinzuzufügen wäre, dass sich der andauernde ›Kampf‹ der Erzählerin gegen den eigenen Vater nicht nur in der antisemitischen Figurenrede gegenüber Birer abspielt – das Beziehungsdreieck ist natürlich auch aus gendertheoretischer Sicht relevant. Die Tragik der Erzählerin besteht aus diesem Blickwinkel nicht nur darin, dass sie das vom

Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit

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Kampf, das zeigt Schwaigers Text, ist nicht ein Kampf mit einem Individuum, das sterben kann, sondern ein Kampf mit Worten und Gedanken, der nie aufhört. Was diese Facette von Lange Abwesenheit angeht, konvergieren – leider – die reale Autorin und die verzweifelte Erzählerin: Brigitte Schwaiger wurde im Juli 2010 tot in einem Seitenarm der Donau aufgefunden; man geht von einem Suizid aus. Kecht ist demnach zu widersprechen, wenn sie behauptet, dass in Lange Abwesenheit die »politische Tragweite und die gesellschaftlichen Folgen des väterlichen Antisemitismus und Autoritarismus […] nicht analysiert« werden und »das Selbstmitleid der Erzählerin [überwiegt]«1214. Das Gegenteil ist der Fall: In Schwaigers schmerzhaftem Bewusstsein um das vom Vater korrumpierte Denken und Sprechen – ein Bewusstsein, mit dem sie nicht zuletzt die eigenen Vorurteile und psychischen Schädigungen ans Licht bringt – manifestiert sich ein scharfes analytisches Interesse. Vor dem Hintergrund von Schwaigers Reflexionen, welche die Generation der Nachgeborenen in die (sprachliche) Verantwortung nehmen, erhält der Text, wie wir gesehen haben, eine politische Dimension und kann schwerlich der neuen Subjektivität zugeordnet werden. Aber auch die Charakteristika von Lange Abwesenheit, die auf den ersten Blick eine Lesart im Sinne eines traditionellen Verständnisses von ›Väterliteratur‹ erlauben, sind, wie wir zeigen konnten, in Wirklichkeit sehr komplex und facettenreich; der Begriff wird ihnen nicht gerecht: Zwar kommt es hier zur in der Sekundärliteratur gleichsam vorausgesetzten ›monologischen‹ Konfrontation mit einem toten Nazi-Vater – diese aber wird überlagert durch die Präsenz eines tyrannischen Großvaters und vor allem durch den Hass der Autorin auf die Mutter, der sich, wie Assmann erkannte, im Sinne eines Elektra-Komplexes artikuliert. Schwaigers Text entspricht den etablierten Definitionen der ›Väterliteratur‹ zugegebenermaßen eher als viele andere hier diskutierte Werke, aber sogar dieser relativ stereotype Kurzroman sticht in Teilen sehr deutlich aus den Patriarchen personifizierte antisemitische Denken in Form verseuchter Sprachformeln gleichsam in sich trägt: Hinzu kommt, dass sie als Frau die fatalen patriarchalischen Machtanmaßungen auch im Zuge ihrer Ausbruchsversuche antrifft und nicht zuletzt an ihnen scheitert. So ist Birer eben nicht nur ein »›Opfer‹ des Antisemismus«, mit dem sich die Erzählerin identifizieren und von dem sie lernen könnte – der Jude ist auch ein Mann, der, wie oben gezeigt, gegenüber der Erzählerin in eine patriarchalische Vaterrolle rückt und »teil[nimmt] an der Bevormundung und Unterdrückung der Frau« (Eigler, Friederike: »Trauerarbeit in Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit als konfliktreiche Suche nach einer weiblichen Identität«. Germanic Review 67.1 (1992): p. 26 – 34. Hier: p. 31). So muss man konstatieren, dass die Erzählerin »[a]ls Tochter wie als Geliebte« zum »›Opfer‹ patriarchaler Verhaltensmuster« wird, wodurch es »weder zu einer Harmonisierung noch zu einer vollendeten Loslösung vom Vater« kommen kann; die vom Text geschilderte Vergangenheit wird nicht »›bewältigt‹«, sondern droht im Gegenteil jederzeit, die Gegenwart der Autorin zu stören. 1214 Kecht: p. 331.

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engen und homogenisierenden Begrifflichkeiten und Klassifikationen wie ›Väterliteratur‹ und neue Subjektivität heraus. Das spricht, einmal mehr, keineswegs für diese Begrifflichkeiten und Klassifikationen.

8.3. Väter als Täter, oder: »[D]ie Toten vor satten Tischgesprächen und vollen Bäuchen retten«1215. Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder Wir erlauben uns, die beiden verbleibenden ›monologischen Väterbücher‹ gemeinsam im gleichen Unterkapitel zu behandeln. Nicht etwa, weil eine Analyse von Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder kurz ausfällt – im Gegenteil –; vielmehr sind die beiden Texte aus einem bestimmten Grund distinkt von den bislang behandelten ›Väterbüchern‹ und sind einem speziellen Paradigma zuzurechnen (wenn sie auch nicht gerade aus allen soweit versuchten Definitionen und Klassifikationen herausfallen, wie das bei Schutting und Härtling der Fall ist – hierzu im nächsten Kapitel mehr). Bei Gauch und Seuren kommen nämlich im Unterschied zum restlichen Korpus der ›Väterliteratur‹ genuine Nazi-Täter zur Darstellung. Wir hatten es bis jetzt ja nur mit mehr oder weniger radikalen Mitläufern zu tun – die bei Gauch und Seuren beschriebenen Vaterfiguren haben eine ganz andere Qualität; sie waren nicht nur überzeugte Nationalsozialisten, sondern Verantwortungsträger innerhalb des verbrecherischen Systems: Sigfrid Gauchs Vater Hermann Gauch, Arzt und Rassentheoretiker und seit den Zwanzigerjahren Mitglied der NSDAP, verfasste Werke wie Neue Grundlagen der Rassenforschung, die zur »Pflichtlektüre« in nationalsozialistischen »Schulungskursen«1216 zählten, und erklomm die Karriereleiter im ›Dritten Reich‹: Ende 1933 kam die Reichsregierung zu uns nach Kiel, erzählte Vater […], und da unterhielt ich mich mit mehreren Reichsleitern und Reichsministern, vor allem mit Darr¦, dem Reichsbauernführer, mit Rosenberg und Rudolf Heß […]. Spontan hätten sie ihm Referentenstellen angeboten, und so ging er dann als volkskundlicher Stabsleiter zu Darr¦ nach Berlin. Sein Dienstsitz sei dann bald […] ins Gestapa in der PrinzAlbrecht-Straße verlegt worden […]. Das Telefon auf meinem Schreibtisch blieb aber weiterhin unmittelbar mit der Reichskanzlei verbunden, erzählte Vater stolz; und die Akten zeichnete ich mit Rotstift ab, in der Rangfolge unmittelbar nach dem grünen Stift des Ministers. So saßen wir im Kreise um Himmlers Zimmer herum: Heydrich, der Begleit- und Polizeiadjutant und ich; Himmler ernannte mich zu seinem kulturpolitischen Adjutanten.1217 1215 Seuren, Günter : Abschied von einem Mörder. Hamburg: Rowohlt, 1980. Hier: p. 136. 1216 Mauelshagen: p. 242. 1217 Gauch, Sigfrid: Vaterspuren. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 21997. Hier: p. 98.

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In dieser Rolle wirkte Gauch, wie wir annehmen dürfen, am alltäglichen Vernichtungsgeschäft mit und konzipierte darüber hinaus die »Idee«, »Kinder aus polnischen Familien, die blond und blauäugig waren, ihren Angehörigen weg [zunehmen], nach Deutschland [zu bringen], um auf Napola-Schulen als Führernachwuchs erzogen zu werden«1218. Hermann Gauch war somit zweifellos ein Täter, der nicht nur ideologische Vorarbeit für die Nazis leistete, sondern laut seinem Sohn auch der Schöpfer mindestens eines unmenschlichen Selektionsprogramms war. Dementsprechend wurde Hermann Gauch »im EichmannProzess vom Hauptankläger als Schreibtischmörder bezeichnet[]«1219 und blieb seiner Ideologie bis zum Tod treu, glaubte noch, wie Will Vesper, »fünfzehn Jahre nach dem letzten Krieg […] an eine Machtergreifung der Neonazis«1220. Hermann Gauch war also »kein Allerweltsnazi«1221, ebensowenig wie Günter Seurens Vater Karl Seuren in Abschied von einem Mörder : Dieser eher proletarische Vater, ein Dreher und zum Zeitpunkt der Machtergreifung »[e]iner von Millionen Arbeitslosen«1222, machte allerdings nicht als Schreibtischtäter Karriere, sondern als ausführendes Organ, namentlich als Mitglied eines SS-Sonderkommandos, das an Massenerschießungen von Juden beteiligt war1223. Die Geschichten und Charaktere der beiden Väter mögen noch so unterschiedlich sein, die Schuld haben sie gemeinsam, und es ist eine ganz andere, konkretere Form von Schuld als diejenige, die wir in den übrigen ›Väterbüchern‹ antreffen. In der Auseinandersetzung mit den eigenen Vätern sind Gauch und Seuren gezwungen, sich mit Verbrechen auseinanderzusetzen, die sich der Vorstellungskraft und konventionellen Erklärungsversuchen entziehen. Die produktionsästhetische Ausgangssituation dieser Texte ist mithin singulär, und die bislang beschriebenen Strategien der Vergangenheitsbewältigung greifen angesichts dieser Vaterfiguren nicht. Die Mitläuferväter, wie wir sie bei Meckel, Plessen, Rehmann oder Henisch beispielhaft beschrieben sehen, verkörpern eine Tragik, die den Vätern bei Gauch und Seuren abgeht: Die Schuld der Erstgenannten war vermeidbar und resultierte aus Feigheit oder Verblendung; sie kann, teils im Gespräch mit den jeweiligen Vätern, kritisch und mit historiographischer Stringenz analysiert werden, wobei die Analyse stellenweise gar ein gewisses empathisches Verständnis ermöglicht, wie im Fall von Walter Henisch – die Schuld von Hermann Gauch und Karl Seuren dagegen ist »mons-

1218 1219 1220 1221

Ebd.: p. 128. Ebd.: p. 9. Ebd.: p. 52. Grimm, Reinhold: »Schizophrenie und Faschismus. Sigfrid Gauchs erste Erzählung ›Vaterspuren‹«. Frankfurter Allgemeine Zeitung 3. 3. 1980: p. 53. 1222 Seuren: p. 12. 1223 Ebd.: p. 73.

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trös«1224. Erklärungs- und Verständigungsversuche müssen zwangsläufig ins Leere führen. Aber auch eine fundamentale Ablehnung der Väter scheint beiden Autoren nicht möglich zu sein: Das Ausmaß und die Tragweite der väterlichen Schuld lassen nicht einmal die kämpferische Formulierung alternativer Theorien und Denkweisen im Sinne einer ›Vertrauenskrise‹ zu. Trotzdem verstummen Gauch und Seuren nicht, aber der bisherige Befund bleibt bestehen: Ihre Texte sind kaum mit den anderen ›Väterbüchern‹ vergleichbar, denn die überwältigende Schuld der hier beschriebenen Väter würde einen rein analytischen oder gar verständnisvollen Impetus und eine systematisch beschriebene ›Vertrauenskrise‹ der Lächerlichkeit preisgeben; die Leistung von Gauch und Seuren besteht mithin primär im gelungenen Versuch, für die Verbrechen der Väter überhaupt Worte zu finden. Der Grundton von Sigfrid Gauchs Vaterspuren ist dementsprechend melancholisch: Die erzählte Zeit setzt mit dem Tod des Vaters ein, als der Autor1225 bereits selber ein Familienvater und fest im Beruf verwurzelt ist; Versuche eines Aufbegehrens gegen den Vater werden, auch in den Rückblenden, kaum geschildert. Sie scheinen auch zwecklos angesichts der Schwere der väterlichen Schuld, und wären schmerzhaft, da Gauchs Vater, anders als die meisten Väter in der ›Väterliteratur‹, in dieser Rolle nicht einmal unbedingt versagte und gegenüber dem Sohn »ganz rührende Gesten zeigen«1226 konnte. Angesichts der für die ›Väterliteratur‹ untypischen Konstellation mit einem ›echten‹ Täter-Vater scheint es ohnehin angezeigt, Gauchs Geschichte nicht in erster Linie mit den anders gelagerten Texten der übrigen ›Väterliteraten‹ zu vergleichen, sondern beispielsweise mit Peter Sichrovskys zuvor erwähnten Untersuchungen über Kinder von NS-Tätern. Das Ergebnis eines solchen Vergleichs könnte allerdings überraschen. In seinem R¦sum¦ aus langen Gesprächen mit Nachkommen von Kriegsverbrechern konstatiert Sichrovsky zwei grobe Strategien, welche die Interviewten im Umgang mit der schweren Erblast anwenden: »Eine sehr häufige ist die, sich selbst als einen Leidenden darzustellen. […] Eine andere sehr typische Reaktion war das In-Schutz-Nehmen des Vaters«1227. Interessanterweise fällt Gauch, wie wir sehen werden, in keine dieser beiden Kategorien. Zwar ist er sich der durch den Vater erfahrenen Schädigungen akut bewusst; er würdigt aber auch Hermann Gauchs wenige positive Qualitäten und versucht am Ende der Erzählung, der Opferrolle zu entfliehen – und ganz bestimmt verharmlost er nicht die Taten seines Vaters (zu alledem gleich mehr). In Sichrovskys Studie begegnet nirgends die von Gauch gelebte Souveränität, die (noch näher zu er1224 1225 1226 1227

Grimm 1980: p. 53. Einmal mehr sind der reale Autor und die Erzählerfigur weitgehend identisch. Gauch: p. 131. Sichrovsky : p. 21.

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läuternde) mehr oder minder erfolgreiche Abgrenzung von der unfassbaren väterlichen Vergangenheit – aber Vaterspuren erzählt die Geschichte einer erfolgreichen Distanzierung vom Vater und ist damit Beweis genug, dass es diese Souveränität eben auch gab. Sichrovskys Pessimismus, was den Beitrag der ›zweiten Generation‹ zur Aufarbeitung der Vergangenheit betrifft – »die Sache ist bereits gelaufen«1228 – ist, wie in der Einleitung erwähnt, abzulehnen. Der Verweis auf Sichrovsky hilft also nicht unbedingt weiter, aber das Konzept einer ›Väterliteratur‹ ist ebensowenig auf Vaterspuren anzuwenden. Der Text entstand ohnehin, wie Gauch betont, nicht als Teil eines wahrnehmbaren literarischen Trends: »Als ich dieses Buch schrieb, gab es noch kein ähnliches«1229. Der Umstand, dass die Erzählung ohne kämpferischen Gestus und ohne offensichtlichen politischen Impetus abgefasst wurde, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Gauch ein spezifisches Erkenntnisinteresse verfolgt – und zwar, wie so viele andere ›Väterliteraten‹, mit dem Rüstzeug der Geschichtswissenschaft. Die Frage, die den Ausgangspunkt des Textes bildete, war laut Gauch diese: Wie war das Unbegreifliche möglich geworden, dass im Zwanzigsten Jahrhundert in dem hochzivilisierten Land Deutschland in dieser […] penibel bürokratischen Art unschuldige Frauen, unschuldige Kinder, unschuldige Männer ›fabrikmäßig‹ […] ermordet wurden […]? Wie dieses fabrikmäßige Töten möglich war, ist das, was mir bis heute einfach nicht begreifbar ist. Und das passierte in der Generation eben dieser Väter. […] Mein Wunsch war, einen Vater aus dieser Generation zu beschreiben, um dadurch zu einer allgemeineren Diskussion über diese Väter beizutragen. […] [D]iese Diskussion findet ja jetzt statt.1230

Auf den ersten Blick handelt es sich bei Vaterspuren also um einen Diskussionsbeitrag, der eine unmöglich zu beantwortende Frage beantworten soll (zu diesem Problem später mehr) – angesichts dieses Vermittlungsinteresses auf Seiten des Autors wäre es verfehlt, die Erzählung der neuen Subjektivität zuzuordnen. Grimms Feststellung einer »Psychologisierung, die zugleich eine Privatisierung ist«1231, muss widersprochen werden, obwohl es im Text tatsächlich eine Rückbesinnung auf die Privatheit gibt, die allerdings anders gestaltet ist als Grimm anzunehmen scheint (auch hierzu später mehr). Die historiographische Anlage des Textes hat allerdings keine politische Färbung – die politische Position des Erzählers bleibt im Dunkeln; er ist nicht einmal der Studentenbewegung zuzuordnen –, sondern wird entsprechend dem von Gauch selbst betonten Interesse an Aufarbeitung und öffentlicher Vermittlung gestaltet. 1228 1229 1230 1231

Ebd.: p. 23. Deutsche Väter : p. 81. Ebd.: p. 80 f. Grimm 1980: p. 53.

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So präsentiert Gauch weitgehend kommentarlos eine materialreiche Nacherzählung der Biographie des Vaters und der eigenen Kindheit. In dieser Nacherzählung fungieren als Primärquellen ein früher literarischer Versuch des Vaters, der Aufschluss über seine schon in den Zwanzigerjahren gefestigte nationalsozialistische Gesinnung gibt1232, und des Vaters »Geistiges Besuchsbuch […], eine Art Poesiealbum mit Briefen von Personen, die« der Vater »verehrte []«1233 – darunter Rudolf Hess, Heinrich Himmler, Martin Bormann, Julius Streicher, Karl Dönitz und, wenig überraschend, Will Vesper. Viele dieser Briefe belegen die in dieser Studie bereits des öfteren konstatierte Kontinuität der nationalsozialistischen Ideologie, welcher Gauch auch in einem der seltenen Gespräche mit dem Vater (es handelt sich hier um ein ›monologisches Väterbuch‹) nachspürte. Als Hermann Gauch dem Sohn in einem Caf¦ von seiner terroristischen Tätigkeit nach dem Ersten Weltkrieg erzählt (er war beteiligt an der Ermordung des pfälzischen Separatisten Franz Josef Heinz), horchen die Menschen an den Nebentischen auf, und Sigfrid Gauch konstatiert nüchtern: »[I]n der Pfalz schien man diese Geschichten immer noch zu genießen«1234. Im Zuge dieser historiographischen Bemühungen um eine Erhellung der Vaterfigur begegnet in Vaterspuren gar ein Erklärungsversuch für die Hinwendung Hermann Gauchs zum Nationalsozialismus, der äußerst problematisch wäre, wenn er im Text einfach so stehenbliebe (was er nicht tut, dazu gleich mehr): Sigfrid Gauch erzählt die Geschichte des Großvaters, der »in Afrika Diamantenfelder gekauft« habe, später aber »von Amsterdamer Juden« um seine »Funde«1235 betrogen worden sei; das habe zum Ruin der Familie und zur Traumatisierung des Vaters geführt. Wir haben es prima facie also tatsächlich mit einem Text zu tun, der gemäß dem vom Autor formulierten Programm an historiographisch fundierter Aufarbeitung interessiert ist und abgesehen vom soeben zitierten Erklärungsversuch keine politischen oder analytischen Interpretationen vornimmt. Dementsprechend wurde Vaterspuren denn auch rezipiert; beispielsweise beschimpfte man Gauch bei Lesungen in seiner pfälzischen Heimat als »Nestbeschmutzer […], der den größten Sohn des Dorfes verunglimpft habe«1236. Ob der gleichsam evidenzbasierten und historiographischen Anlage des Textes darf man aber nicht ignorieren, dass Gauchs geschichtswissenschaftliche Forschung im Grunde scheitert – dass sich seine Antworten auf die oben formulierten Fragen als unzulänglich entpuppen und er dem Vater letztlich doch

1232 1233 1234 1235 1236

Gauch: p. 46 ff. Ebd.: p. 54. Ebd.: p. 87. Ebd.: p. 38. Deutsche Väter : p. 76.

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»eher hilflos und fassungslos gegenübersteht«1237. Am Ende des Textes kommt er mit Hilfe seines jüdischen Freundes Herbert zur Einsicht, dass seine bisherigen »Erklärungsversuche lahm«1238 und untragbar sind, dass beispielsweise die Geschichte mit den betrügerischen Amsterdamer Juden eine inakzeptable Folgerichtigkeit des Völkermords suggeriert und überhaupt nichts erklärt oder gar entschuldigt. Schließlich bleibt die im Gespräch mit Herbert erhärtete und mittlerweile ebenfalls zur Banalität verkommene Erkenntnis, dass das vom Vater verkörperte Böse – eben – banal war : »Dein Vater hielt sich für einen dieser großen Idealisten, sagt Herbert, die an das glaubten, was sie sagten oder schrieben. In Wirklichkeit war er aber wohl ein unbelehrbarer, verstockter Nazi bis zu seinem Tod. Ich protestiere nicht«1239. Solche Passagen relativieren Sigfrid Gauchs akribische historiographische Bemühungen und vermitteln die Perspektive der Opfer, hier personifiziert durch Herbert, dem Gauchs Vatertrauma und seine larmoyanten Erklärungsversuche lächerlich, wenn nicht gefährlich erscheinen müssen. Somit nimmt diese löbliche Selbstrelativierung im Buch einen eminent wichtigen Platz ein – sie verweist mit großer Sensibilität auf die kaum zu bewältigenden Ausmaße der im Text verhandelten Komplexe und erlaubt es Gauch schließlich, das Grundproblem herauszuarbeiten, das ihn quält, namentlich »meine eigene schizophrene Situation: den Vater als Person zu lieben und vor seiner Persönlichkeit entsetzt zu sein«1240. Dass sich Gauch nach den Unterhaltungen mit Herbert auf die Bearbeitung dieses Problems beschränkt, also eine (bereits erwähnte) Rückbesinnung auf die schmerzhafte private Dimension des Vaterkomplexes vornimmt, ist eine sehr reife Leistung. Sein oben zitierter Diskussionsbeitrag, wonach Vaterspuren ein Versuch sei, die Möglichkeitsbedingungen des »fabrikmäßige[n] Töten[s]«1241 zu erhellen, muss nun befremden: Schließlich wird in der Erzählung ja gerade aufgezeigt, dass selbst historiographisch fundierte Erklärungsversuche für das väterliche Verhalten immer problematisch sein müssen, nicht zuletzt, weil sie einerseits tendenziell die Täterperspektive bevorzugen und die Opfer aussparen und andererseits, wie Herbert bemerkt, vergessen machen könnten, dass es »damals auch andere Deutsche«1242 gab. Die wahre Leistung des Textes, auf der Gauch meines Erachtens in seinem Diskussionsbeitrag zu wenig insistiert, besteht womöglich darin, dass er Worte findet für eine eigentlich fast unbeschreibbare Täterfigur, dass er Abschied nimmt von verführerischen, aber in letzter Konsequenz ungeeigneten Erklärungsmustern, und dass er die Problematik auf ihren Kern 1237 1238 1239 1240 1241 1242

Mauelshagen: p. 246. Gauch: p. 129. Ebd.: p. 97. Ebd.: p. 130. Deutsche Väter : p. 80. Gauch: p. 97.

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herunterbricht – die erwähnte »schizophrene Situation«. Die Besinnung auf den subjektiven Kern dieses spezifischen Vatertraumas steht aber, das ist zu betonen, nicht im Zeichen eines übergeordneten Interesses an »Privatisierung« und einer »für unsere gegenwärtige Lage [t]ypische« Rückführung der Thematik »aufs Individuelle«1243, wie Grimm kritisch schreibt. Als Signum der neuen Subjektivität ist Gauchs »Privatisierung« der Thematik gerade nicht zu deuten: Der Autor arbeitet in seinem Text ja auf vorbildliche Weise die »gesellschaftlichen Bezüge«1244 heraus, indem er auf historische Tatsachen verweist und am Beispiel seines Vaters demonstriert, dass die Entnazifizierungsverfahren der Alliierten eine Farce waren1245 und die nationalsozialistische Ideologie in der Bundesrepublik eine zumindest punktuelle Kontinuität hat. Erst am Ende des Buchs nimmt Gauch eine Subjektivierung der Problematik vor, die, wenn man sich die Gespräche mit Herbert vergegenwärtigt, nicht als zeittypische ästhetische Volte im Sinne der neuen Subjektivität zu verstehen ist, sondern als moralischer Akt – als Distanzierung von der Prätention, dass es für die schrecklichen Verbrechen des Vaters stringente Erklärungen geben könnte. Gauchs Verzicht auf allzu einfache Erklärungen, aber auch auf Theorien und Utopien, und die folgerichtige »Privatisierung« des Vatertraumas, ist somit keinen zeitgenössischen literarischen Trends geschuldet. Gerade weil diese »Privatisierung« aus der in der ›Väterliteratur‹ nahezu einzigartigen Situation Gauchs als Sohn eines genuinen Täters entspringt, kann sie nicht ›typisch‹ sein: Mit der moralischen Problematik, die den Erklärungsversuchen für Verbrechen wie die von Hermann Gauch begangenen eignet, sehen sich die anderen hier behandelten Autorinnen und Autoren in der Regel gar nicht konfrontiert. Hier zeigt sich die Paradoxie des Textes, die auch Schneider erkannt hat1246 : Mag sein, dass Gauch den Abgründen des Vaters am Ende »hilflos und fassungslos gegenübersteht«1247, aber gerade das Eingeständnis dieser Hilflosigkeit und gerade die Rückbesinnung auf die private Komponente der ganzen Problematik ermächtigt (oder zwingt) ihn, die Initiative zu ergreifen und, gemäß einer Aufforderung des Freundes Herbert, das Möglichste zu tun, um sich vom Vater »frei«1248 zu machen. Denn wer unablässig versucht, das Unverständliche zu verstehen, läuft Gefahr, sich wie Vesper in wirren Theoriegebäuden zu verlieren, wie Rauter vom Hass verzehrt zu werden oder wie Schwaiger psychisch krank zu werden. Erst in der Konfrontation mit einem an Schrecklichkeit kaum zu überbietenden Vater wie Hermann Gauch gelingt hier einem Sohn endlich 1243 1244 1245 1246 1247 1248

Grimm 1980: p. 53. Gehrke: p. 121. Gauch: p. 63 f. Schneider: p. 42. Mauelshagen: p. 246. Gauch: p. 142.

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eine Art Selbstbefreiung, mag sie auch etwas resignativ anmuten – und der zitierte Nestbeschmutzervorwurf verbürgt erst noch, dass Gauch offenbar trotz allem einige prägnante Enthüllungen gelungen sind. Die Paradoxie von Vaterspuren liegt also darin begründet, dass hier zwar, gemessen an seinen Taten, der schlimmste Vater der ganzen ›Väterliteratur‹ geschildert wird, dass Gauch aber zugleich neben Meckel, Henisch und eventuell Rehmann der einzige Nachkomme ist, dem der Aufbau einer genuin eigenen Identität und die Abgrenzung vom Vater gelingen. Schließlich hat Sigfrid Gauch eine Frau geehelicht, mit welcher der Vater »kaum ein Wort« wechselte, »weil sie braune Augen und dunkle Haare hat«, und auch seine Enkel hat Hermann Gauch »wenig beachtet, weil sie nicht, wie er wünschte, Sigrun und Swanhild heißen, sondern Susanne und Elisabeth«1249. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zudem der Beruf, den der Autor zum Zeitpunkt der Niederschrift von Vaterspuren ausübte: Er unterrichtete als Sonderschullehrer an einer integrierten Gesamtschule in Mainz – unterrichtete also auch solche Kinder und Jugendliche, die sein Vater ohne zu zögern mit einem Federstrich der Vergasung anheimgeführt hätte. Es wäre zu kurz gedacht, diese Lehrtätigkeit als »Wiedergutmachungsfunktion«1250 zu deuten, wie das eine Diskussionsteilnehmerin an der Loccumer Tagung tat (auch Michael Schneider interpretiert Gauchs Lehrtätigkeit einfach nur als »assumption of guilt by proxy«1251): Gauchs Beruf kommt vielmehr einer schweigenden und äußerst konstruktiven Ablehnung all dessen gleich, wofür der Vater steht. Der (paradoxe) Befund ist demnach, um es nochmals zu betonen: »Gauch has been more successful in freeing himself from his father […] than have been the sons and daughters who have tried to break free of their Nazi fathers by belatedly distancing themselves from them, denying them, or hating them«1252. Gauch darf mit größerem Recht als fast alle anderen hier diskutierten Autorinnen und Autoren sagen: »[I]ch bin meine eigenen Wege gegangen, habe mich durchgesetzt gegen ihn«1253. Im Grunde erzählt Vaterspuren also eine Erfolgsgeschichte, wie sie in der ›Väterliteratur‹ nahezu einzigartig ist. Das hat man so bisher allerdings selten festgehalten, da zumindest die Erstfassung des Buches diesbezüglich einige unglückliche Missverständnisse zuließ. Die Rede ist hier vom Schluss, der an der Loccumer Tagung auch rege diskutiert wurde und den Gauch bezeichnenderweise für die in dieser Arbeit bislang verwendete zweite Auflage änderte. In der Erstausgabe endet Vaterspuren mit der Entscheidung des Erzählers, die Nacht im Bett des toten Vaters zu verbringen – eine Handlung, von der er sich eine nicht 1249 1250 1251 1252 1253

Ebd.: p. 130. Deutsche Väter : p. 79. Schneider: p. 42. Ebd. Gauch: p. 130.

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weiter erklärte Befreiung vom Vater zu erhoffen scheint: »Wie [Herbert] wohl reagiert hätte, frage ich mich. […] [Er] hätte […] vielleicht gesagt[:] […] mach dich frei von ihm. Deshalb schlafe ich in dieser Nacht in Vaters Bett«1254. Gauch expliziert diesen Satz als »merkwürdig symbolische Art, sich noch einmal mit [dem Vater] zu identifizieren und ihn dabei zu überwinden«1255, als »den Beginn eines Versuches […], mich mit ihm auseinanderzusetzen und mich dann von ihm zu lösen«1256. Die Problematik dieses Schlusses liegt meines Erachtens darin begründet, dass er sich nicht eignet, die schizophrene Situation des zwischen Liebe zum Vater und schockierter Distanzierung vom Vater oszillierenden Erzählers wiederzugeben: Die Nacht im väterlichen Bett suggeriert wohl eine »Identifikation«, nicht aber eine Überwindung, einen »Versuch, […] mich dann« – also nach der fraglichen Nacht – »von ihm zu lösen«. Der propositionale Gehalt des Schlusses lässt sich ungefähr so zusammenfassen: ›Um mich von meinem toten Vater zu befreien, wie es mein Freund Herbert wollen würde, schlafe ich heute im Bett des Vaters‹. Dieser Gedankengang erscheint weder sinnvoll noch stringent; der Schluss wirkt im Grunde nicht wie eine Identifikation mit dem und Überwindung des Vaters, sondern eher wie eine Trotzreaktion Gauchs auf Herberts Aufforderung, sich vom Vater »frei« zu machen – anders ausgedrückt: das »[d]eshalb« ist fehl am Platz, da es zwar Folgerichtigkeit suggeriert, aber zwei Informationen verbindet, die nichts miteinander zu tun haben oder einander sogar diametral entgegenstehen (aus der Aufforderung, sich vom Vater zu befreien, folgt nicht, dass man in dessen Bett schlafen sollte). Nun stimmt genau genommen natürlich Gauchs verteidigende Erklärung, dass die Nacht im Bett des Vaters »zwar am Ende« des Buchs steht, aber in Wirklichkeit »vor dem Beginn des Schreibens«1257 liegt, also durchaus als letzte Annäherung an den Vater vor der Niederschrift eines distanzierenden Enthüllungstextes gesehen werden könnte. Die Positionierung dieses symbolischen Akts ganz am Ende des Werks privilegiert aber trotz allem seinen rein identifikatorischen und unkritischen Gehalt, was verwirrend wirken muss: Schließlich ist dem Autor, wie wir zeigen konnten, die Darstellung einer Dialektik von Nähe und Distanz zum Vater, mit dem endgültigen Sieg einer resignativ-melancholischen Distanz, im Rest des Buches hervorragend gelungen. Die scheinbare Restitution der Nähe zum Vater am Ende der Erzählung ergibt also keinen Sinn – von der erwähnten mangelnden internen Logik des Schlusses ganz zu schweigen. Entsprechend konfus wurde das Ende der Erzählung rezipiert. Grimm deutet es als »forcierte Geste« und als problematisches »paradoxe[s] Ja«, als »Bejahung 1254 Gauch, Sigfrid: Vaterspuren. Eine Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982. Hier: p. 142; Hervorhebung im Original. 1255 Deutsche Väter : p. 77. 1256 Ebd.: p. 81. 1257 Ebd.

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des unverbesserlichen Nazis«1258, während Gehrke es wohlwollender liest: Gauch wolle durch den symbolträchtigen Schlaf im Bett des Vaters dessen »Schuld anerkennen«, um in der Folge besser »über seine Taten reden [zu können]« und »um […] durch aufrichtiges Reflektieren die eigene Identität zu sichern«1259. Beide Lesarten sind nicht besonders überzeugend. Eine »Bejahung« des Vaters, wie sie Grimm im Schluss von Vaterspuren verwirklicht sieht, stünde im Widerspruch zum ganzen Rest der Erzählung, in dem, wie oben ausgeführt, eine im Grunde erfolgreiche Distanzierung vom Vater zur Darstellung kommt. Eine gelungene Anerkennung der Schuld des Vaters, wie Gehrke meint, ist der Schluss aber auch nicht; der Schlaf im väterlichen Bett ist, wie wir soeben ausführten, eine klar identifikatorische Geste, keine objektive intellektuelle Handlung, die als glaubwürdiger Beginn eines »aufrichtige[n] Reflektieren[s]«1260 (wie es ja ansonsten im Buch betrieben wird) gelten darf. Es überrascht kaum, dass die Diskussionsteilnehmer an der Loccumer Tagung mehrmals auf den Schluss zu sprechen kommen und sich nicht mit Gauchs zitierten Erklärungsversuchen zufriedenzugeben scheinen1261. Das Ende des Buches muss irritieren; es ist nicht geglückt und verleitet die Tagungsteilnehmerin Jutta Schutting zum spöttischen Kommentar : »So wie der liebe Augustin, der in der Pestgrube schläft und stolz aufsteht, sich nicht infiziert zu haben, so kommt mir das vor«1262. Die Kritik muss Gauch mit einiger Verspätung getroffen haben, denn der umstrittene Satz fehlt in der revidierten Ausgabe von 1996 / 97. Auch in dieser Version sucht der Erzähler am Ende das Zimmer des Vaters auf; im Bett des Vaters wird allerdings nicht geschlafen: Mutter kommt ins Zimmer. Was suchst du denn, fragt sie. Nichts, sage ich; ich nehme Abschied von meinem Vater. Wieder fällt mir Herbert ein […]. Wie er wohl reagiert hätte, frage ich mich. Im Gegensatz zu dir kann ich stolz sein auf meinen toten Vater, an dem ich hing wie du, hätte er vielleicht gesagt […], und: mach dich frei von ihm.1263

Die Tatsache, dass nun Herbert das letzte Wort hat, wenn es auch immer noch nur eine imaginierte Äußerung ist (»hätte er vielleicht gesagt«), gibt diesem Ende einen ganz anderen Akzent1264. Der Gang in das Zimmer des Vaters steht 1258 1259 1260 1261 1262 1263 1264

Grimm 1982: p. 175. Gehrke: p. 118. Ebd. Siehe Deutsche Väter : p. 77, p. 81. Ebd.: p. 81. Gauch: p. 142; Hervorhebung nicht im Original. Übrigens hat Gauch das Ende in der erweiterten Neuausgabe von Vaterspuren aus dem Jahr 2005 nochmals abgeändert (es wäre generell interessant, die Änderungen und Erweiterungen in dieser signifikant längeren Version des Textes zu untersuchen; eine solche Analyse würde dieses Unterkapitel aber ungebührlich aufblähen und sollte am besten im Rahmen einer Studie getätigt werden, die sich in erster Linie den Vaterspuren widmet). In der Version von 2005 wird die Nacht im väterlichen Bett wieder erwähnt, allerdings in

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hier klar im Zeichen des »Abschieds«; es kommt nicht zu einem symbolträchtigen identifikatorischen Schlaf im väterlichen Bett, der über diesen Abschied Zweifel zulassen würde. Die Vereindeutigung des Endes eliminiert mithin den Grund für die Irritation der Rezipienten und Tagungsteilnehmer und legt den Fokus auf die Stärke von Vaterspuren: Namentlich auf die gelungene Erzählung einer »schizophrenen« Situation, in der die Distanzierung von einem schrecklichen Vater ausnahmsweise gelingt. Vaterspuren ist ein sehr komplexer Text, dem der herkömmliche Begriff der ›Väterliteratur‹ aus verschiedenen Gründen nicht gerecht wird. Zunächst liegt hier, um es nochmals zu betonen, eine ungewöhnliche Ausgangssituation vor, die das Werk von den anderen ›Väterbüchern‹ (mit der Ausnahme von Günter Seurens Roman Abschied von einem Mörder, auf den wir gleich zu sprechen kommen werden) trennt: Hermann Gauch ist kein Mitläufer, sondern ein hochrangiger und zweifelsohne schuldiger Täter. Hier hat man es, produktionsästhetisch gesehen, mit einer Prämisse zu tun, die den Text als distinkt von allen anderen Werken im Korpus der ›Väterliteratur‹ erscheinen lässt. Man denke zudem an unsere mittlerweile kaum mehr überraschende Feststellung, dass auch Sigfrid Gauch seine Geschichte mit den Mitteln eines Historikers erzählt, dass er mithin um die Faktizität und öffentliche Wirksamkeit seines Textes bemüht ist: »Mein Wunsch war, […] zu einer allgemeineren Diskussion über diese Väter beizutragen«1265. Mit neuer Subjektivität hat ein Werk, das unter subtilerer und weniger verwirrender Form als in der Erstausgabe: »Jetzt sitze ich auf seinem Bett, in seinem Sterbezimmer. In diesem Bett werde ich heute Nacht schlafen. Macht es mir etwas aus? Vielleicht schon: Einerseits ergibt sich die Konstellation aus den Schlafverhältnissen im Haus meiner Schwester, andererseits will ich es bewusst tun. Will ich ihm noch einmal nahe sein? Über diese letzte, allerletzte Nähe mich von ihm entfernen? Vielleicht. […] Mutter kommt ins Zimmer. ›Was suchst du denn?‹, fragt sie nicht ohne Mißtrauen. ›Nichts‹, sage ich, ›ich nehme Abschied von meinem Vater.‹ Wieder fällt mir Herbert ein […]. Wie er wohl reagiert hätte, frage ich mich. […] [V]ielleicht [hätte er] gesagt […]: ›Mach dich frei von ihm‹« (Gauch, Sigfrid: Vaterspuren. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 62005. Hier: p. 247 f.). Dieser Schluss ist weit überzeugender strukturiert als derjenige der Erstausgabe: Es wird klargestellt, dass die Entscheidung, im Bett des Vaters zu schlafen, einerseits aus einem banalen Umstand resultiert (das Haus ist voll; für Gauch steht keine andere Schlafgelegenheit bereit), andererseits aber auch etwas ist, das den Autor beschäftigt und das er reflektiert. Die Nacht im väterlichen Bett wird also nicht mehr gleichsam bezugslos im letzten Satz des Buches erwähnt und über ein unlogisches »[d]eshalb« mit der vorhergehenden syntaktischen Einheit verknüpft – wie bereits erwähnt, war es wohl primär diese missglückte Gestaltung des ursprünglichen Schlusses, die zu Verwirrung und Irritation führte. Der Schlaf im Bett des Vaters ist auch in der aktuellen Version ein identifikatorischer Akt, aber er schließt nicht mehr syntaktisch an die Aufforderung an, sich vom Vater zu befreien, und er wird zumindest kurz begründet und erklärt. Das Buch endet, wie die hier verwendete zweite Auflage, mit einer adäquaten Betonung des Abschiednehmens vom Vater und mit Herberts imaginierter Aussage: »Mach dich frei von ihm«. 1265 Deutsche Väter : p. 85.

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solchen Zielsetzungen verfasst wurde, wenig zu tun. Wir müssen allerdings konstatieren, dass sich Vaterspuren auch in unsere Sicht der ›Väterbücher‹ nicht besonders elegant einfügen will: Historiographische Bestrebungen sind zwar zweifellos vorhanden, aber einen politischen Impetus, der sich im Verbund mit einer ›Vertrauenskrise‹ manifestiert, sucht man in diesem Text vergeblich – eine solche Gestaltung würde, wie wir in diesem Unterkapitel mehrfach festhielten, auch unangemessen wirken angesichts der von Hermann Gauch verschuldeten Taten. In der Tat wurde Gauchs in der ›Väterliteratur‹ exzeptionelle Abgrenzung vom Vater womöglich makabrer- und tragischerweise gerade durch die Schwere der väterlichen Verbrechen ermöglicht: Hermann Gauchs Schuld ist so grotesk und immens, dass sein Sohn Sigfrid die von den anderen Autorinnen und Autoren der ›Väterliteratur‹ angewendeten Strategien auch dann nicht übernehmen könnte, wenn er das möchte; sowohl eine kämpferisch-ablehnende ›Vertrauenskrise‹ als auch groß angelegte analytische Aufarbeitungsversuche würden hier eher lächerlich erscheinen, oder eben, in Gauchs Worten, »lahm«1266 – für Sigfrid Gauch blieb offenbar nur der Zwang, sich selber eine tragfähige, dem väterlichen Zugriff entzogene Existenz zu schaffen, wenn er nicht zerbrechen wollte, und das ist ihm auch gelungen. So folgt Gauchs Erzählung einer anderen Logik als die bisher diskutierten Werke: Geschildert wird, wie Gauch die Erklärungsmodelle für das Verhalten des Vaters, denen er zu Beginn der erzählten Zeit noch anhängt, sukzessive und unter Berücksichtigung der Sichtweise der Opfer des Nationalsozialismus aufgibt. Demnach kommt es nicht zu einer perpetuierten ›Vertrauenskrise‹ wie bei vielen anderen ›Väterliteraten‹, sondern zu einer melancholischen Distanzierung vom Vater. Auf dieser darf Gauch mit Recht bestehen, da er tatsächlich gegen den starken Widerstand des Vaters eine eigene Identität aufbauen konnte. Dieser Erfolg kommt in der Erstfassung nicht genügend zur Geltung, was mit dem verwirrenden Ende zu tun haben könnte – dieses wurde, womöglich aus solchen Erwägungen, für die zweite (und wie, oben in einer Anmerkung erwähnt, die dritte) Fassung abgeändert. Im Zuge dieser Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass es sinnvoll ist, Gauchs ›Täterbuch‹ in einer gewissen Distanz zu den anderen ›Väterbüchern‹ zu situieren: Besonders der Umstand, dass hier nicht ein Mitläufer, sondern ein Kriegsverbrecher zur Darstellung gelangt und dass dem Sohn in der Folge eine auf den ersten Blick paradoxe, da erfolgreiche Distanzierung vom Vater gelingt, verleiht dem Text eine enorme Spezifität, ein »exceptional element«1267, wie Schneider schreibt. Für die bisherige interpretatorische Praxis, welche die Vaterspuren trotz diesem

1266 Gauch: p. 129. 1267 Schneider: p. 41.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

Umstand einer angeblich homogenen Gruppe von ›Väterbüchern‹ zuordnete, gibt es keine Rechtfertigung. Günter Seurens Abschied von einem Mörder unterscheidet sich zunächst vom Rest der ›Väterliteratur‹ in derselben Weise wie Gauchs Vaterspuren, weshalb die beiden Romane hier auch im gleichen Unterkapitel diskutiert werden: Wie bereits erwähnt, hat sich Seurens Vater als SS-Mitglied an Massenmorden an der Ostfront beteiligt. Die Erzählung fällt aber auch inhaltlich und formalästhetisch aus dem engen definitorischen Rahmen der ›Väterliteratur‹. Abschied von einem Mörder ist in zwei Teile gegliedert, von denen nur der erste, mit dem Titel »Die Abschußprämie«, autobiographisch ist. Der zweite Teil, »Die Überlebenden«, ist eine fiktionale Fortsetzung der zuvor erzählten autobiographischen Geschichte1268 ; hier kommen also nicht mehr die Erlebnisse von Günter Seuren zur Darstellung, vielmehr wird die Nachkriegszeit aus der Perspektive eines Porträtfotografen geschildert, der als fiktionales alter ego des Autors fungiert. Unter den in dieser Arbeit diskutierten Texten stellt Seurens Buch somit eine Anomalität dar, denn die eigentlich selbstverständliche Unterscheidung zwischen realem Autor und Erzähler kann und sollte hier mit grösserer Trennschärfe vorgenommen werden als bei so gut wie allen anderen ›Väterbüchern‹ (wie bereits erwähnt ist die Differenzierung zwischen Autor und Erzähler ansonsten vor allem in den Werken von Schwaiger und Vesper von Belang). Diese Beobachtung sollte deutlich machen, wie groß der Abstand zwischen Abschied von einem Mörder und den anderen ›Väterbüchern‹ ist. Außerdem ist Seurens Erzählung, mehr noch als alle anderen ›Väterbücher‹, ein Porträt von insgesamt vier Generationen: Der Großvater Edmund Porten spielt eine tragende Rolle im Text, und der ganze zweite Teil ist den Erlebnissen des (fiktionalisierten) Sohnes in der Bundesrepublik gewidmet, der mittlerweile selber Vater ist, und kommt mithin fast ohne Erwähnung des Vaters aus »Die Abschußprämie« aus, der seit Kriegsende an der Westfront verschollen ist (dass es sich hier um ein ›monologisches Väterbuch‹ handelt, erklärt sich aus dieser Tatsache von selbst). Hier liegt in letzter Konsequenz ohnehin kein ›Väterbuch‹ vor, sondern ein Generationenpanorama: Seurens Erzählung bietet eine originelle Gesamtschau von über vierzig Jahren deutscher Geschichte und kapriziert sich nicht auf eine spezifische Vaterfigur. In diesem panoramischen Werk tritt der Sohn im Übrigen auf eine für die ›Väterliteratur‹ sehr untypische Weise in Erscheinung: Nicht nur, dass er im zweiten Teil des Buches durch eine fiktionale Figur repräsentiert wird – im ersten Teil ist Günter Seuren ein »beinahe schon fanatische[r]«1269 Hitlerjunge. Hier entfällt also die ansonsten relativ typische intergenerationelle Kon1268 Siehe Gehrke: p. 146. 1269 Mauelshagen: p. 247.

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frontation zwischen einem in irgendeiner Weise schuldigen oder suspekten Vater und einem empörten Nachkommen, der Rechenschaft, Aufarbeitung und überhaupt politische und gesellschaftliche Veränderungen fordert. Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch bei Seuren die Mutter eine zentrale Rolle spielt und von ›Väterliteratur‹ schon nur deshalb nicht die Rede sein dürfte. Bereits die Schilderungen der Vorkriegszeit machen stets deutlich, »dass die Erziehung des Kinds in gemeinsamer Verantwortung beider Elternteile liegt«1270, und nach dem (mutmasslichen) Kriegstod des Vaters erhält die Beziehung der Mutter zum Sohn eine neue Qualität: Seuren entwickelt sich zum jugendlichen Beschützer der mütterlichen Ehre (»[s]ie nahm mich mit zu den Dorffesten, um zu zeigen, dass sie einen Sohn hatte und nicht befingert werden wollte«1271). Die Notwendigkeit zwingt Mutter und Sohn zu einer kuriosen Solidarität: »Ich liebte an ihr den armseligen Stolz. Jetzt erinnere ich mich wieder an die spröden Momente unserer Liebe. Immer, wenn sich beide verteidigen mussten, haben sie ihre unterdrückte Liebe freigemacht«1272. Bereits zuvor, als die Mutter begriff, welche ›Arbeit‹ ihr Gatte an der Ostfront verrichtete, zog eine Ehekrise herauf, in deren Verlauf sie eine Position der Stärke einnahm und keineswegs marginalisiert oder unterdrückt wurde: »Von mir aus«, lässt sie den Sohn wissen, »kannst du [dem Vater] schreiben, dass ich seine Briefe wegwerfe«1273. Man ahnt es: Wer Abschied von einem Mörder als ›Väterbuch‹ oder, wie Gehrke, als »Abrechnung mit dem Vater«1274 betrachtet, macht es sich viel zu einfach. Nicht einmal im ersten, autobiographischen Teil der Erzählung ist der Vater als solcher besonders relevant: Der Fokus liegt hier vielmehr auf der gleichsam »doppelt[en]« Beschreibung einer »individuelle[n] Hinwendung zum Nationalsozialismus«, denn die SS-Laufbahn des Vaters parallelisiert die »Entwicklung des Sohnes zum beinahe schon fanatischen Hitlerjungen«1275. In der »Abschußprämie« geht es also nicht primär um einen besonders bemerkenswerten Vater, sondern um die Möglichkeitsbedingungen und die Prozesshaftigkeit von Täter- oder Mitläuferkarrieren im Nationalsozialismus: Hier wird, in anderen Worten, »geschildert, wie jemand zu einem Nationalsozialisten wird«1276. Seuren strebt eine historiographisch fundierte Erklärung für das Abdriften seiner kleinbürgerlichen Familie in den Nationalsozialismus an, und im Rahmen dieses Projekts ist der Vater als Individuum so unwichtig und marginal, dass sein Name, Karl, nur wenige Male überhaupt genannt wird: Er ist 1270 1271 1272 1273 1274 1275 1276

Gehrke: p. 151. Seuren: p. 95. Ebd.: p. 98 f. Ebd.: p. 74. Gehrke: p. 148. Mauelshagen: p. 247. Ebd.; Hervorhebung im Original.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

ein Typus, ein Fall, »[e]iner von Millionen Arbeitslosen, die Hitler später backsteinerne Heiratssiedlungen mit Kartoffelgärten verdanken«1277. Im »arischen Nachweis« des arbeitslosen Drehers »stehen Knechtsberufe: Dienstmagd, Schneidergehilfe, Ackerknecht, 1917 ist ein katholischer Laternenwärter gestorben« – dieses »armselige[] Blutszeugnis« dient dem dichtenden Historiker Seuren als Primärquelle und macht deutlich, dass dem Vater als einzige Karrierechance der »Eintritt in die SS«1278 blieb. Die klaren, mit historiographischer Stringenz formulierten Beschreibungen im Abschied von einem Mörder zeigen, dass Seurens Eltern keine Ideologen waren: Auf einen antisemitischen Ausbruch seines Schwiegervaters reagiert Seurens Vater gelangweilt (»[d]ie Juden interessierten ihn nicht«1279), und noch in den Dreißigerjahren kauft die Mutter bedenkenlos »falsche Perlen aus dem jüdischen Warenhaus Dietz in der Stadt«1280. Es ist mithin, anders als Mauelshagen behauptet, nicht »Abenteuerlust«1281, die den Vater zur SS treibt, und auch kein brennender Antisemitismus, sondern seine äußerst prekäre soziale Stellung, kombiniert mit der Überzeugung, zu kurz gekommen zu sein. So hat Günter Seuren »durch Hitler einen Vater bekommen, der vor sich selber vorläufig geschützt war, der nicht mehr gegen das Gefühl, unter seinem Wert zu leben, ankämpfen musste«1282. Somit steht der Weg in den Nationalsozialismus bei Seuren, anders als bei den meisten anderen hier diskutierten Familien, nicht im Zeichen eines gutbürgerlichen Mitläufertums oder eines pathologischen Fanatismus, sondern repräsentiert für seine proletarischen Eltern die einzige gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeit, die einzige Lösung für ein rein ökonomisches Problem: Ihre neue Ideologie gibt ihnen – oder zumindest dem Vater – Karriere, Status, und das befriedigende »Gefühl, etwas geleistet zu haben«; der »Faschismus war auf einmal schön, eine Art Glück, als die Lebensangst überwunden war«1283. Entscheidend für den Vater ist das Gefühl, endlich »gebraucht« zu werden, endlich auch einmal »etwas Besseres« zu sein »als die anderen«1284. Kurzum: Hier fungiert Faschismus, im Unterschied zu den meist bessergestellten Mitläufereltern, die in dieser Studie bislang besprochen wurden, in erster Linie als Mittel der Sinnstiftung und der finanziellen Existenzsicherung. Der Preis für den gesellschaftlichen Aufstieg des Vaters ist eine seelische Verhärtung, die Bereitschaft, die schlimmsten Aufträge der Machthaber zu verrichten: die Vernichtungsarbeit 1277 1278 1279 1280 1281 1282 1283 1284

Seuren: p. 12. Ebd. Ebd.: p. 27. Ebd.: p. 14. Mauelshagen: p. 248. Seuren: p. 16. Ebd.: p. 20. Ebd.: p. 38.

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im Osten. Schon vor dem Eintritt des Vaters in die SS konstatiert der Sohn überrascht, »wie undurchdringlich und hart mein Vater geworden war«1285. Auf die Pogrome der ›Reichskristallnacht‹ stößt der Vater mit Seurens Großvater völlig mitleidlos an1286. Nach kurzer Schulung wird aus dem »Enttäuschten« endgültig ein »Befehlsempfänger«1287, der sich von der Richtigkeit auch der grausamsten »Aufgabe« selber zu überzeugen vermag: »Der steht ja nicht allein da, der Jude«, schreibt der indoktrinierte Vater an seinen Sohn, das sind Tausende, Hunderttausende, die uns für dumm gehalten haben. Darin ist der Jude ein Meister. Falsches Mitleid können wir uns jetzt nicht leisten. […] Die sehen Dich an, wenn sie vor den Maschinengewehren stehen, als wärst Du nur für heute und morgen hochgekommen. […] Anfangs habe ich gedacht, was für ein Glück, dass man nicht ein paar Meter weiter auf dem Fleck steht, wo der Jude steht. […] Es ist kein Glück, daß wir an der richtigen Stelle stehen. Wir haben sie uns erkämpft. Wie kannst Du fragen, ob wir verlieren? Schreib das nie wieder. Hätte man nicht diesen Halt, könnte einem schwindlig werden.1288

Diesem leitmotivischen Verhärtungsprozess, in dessen Verlauf der Vater zum Massenmörder wird, entspricht eine ähnliche Entwicklung, die der Sohn durchläuft und die Seuren mit großer Akribie nachzeichnet: Der vernachlässigte Knabe tötet und quält zum Vergnügen Tiere1289, genießt »das unterwürfige Wohlwollen, das die anderen beim Anblick einer Pistole zeigten«1290, bricht einem anderen Jungen den Arm1291 und zielt mit der Pistole des Vaters auf einen älteren Mann1292 – kurz, er lebt sich im Nationalsozialismus ein, trägt »[m]it zehn […] eine schöne hündisch braune Uniform« und wird zum »Oberhordenführer«1293 befördert. Sichrovskys These, wonach die meisten Täter-Nachkommen »ihre Eltern nie als Täter [erlebten]«1294, greift hier nicht; der Sohn vollzieht die Täterlaufbahn des Vaters im Kleinen nach und verbrüdert sich mehrfach mit ihm1295. Als die Kriegsniederlage naht, droht der Sohn im ›Volkssturm‹ verheizt zu werden, was der Vater mit seiner einzigen genuin väterlichen Tat zu verhindern weiß: Du bleibst hier. Es dauert nicht mehr lange. Er ging von der Backsteinmauer weg, er wollte mir nicht in die Augen sehen. […] Vielleicht hat er ihnen einen Wink gegeben, 1285 1286 1287 1288 1289 1290 1291 1292 1293 1294 1295

Ebd.: p. 22. Ebd.: p. 27. Ebd.: p. 40. Ebd.: p. 73. Ebd.: p. 34. Ebd.: p. 35 f. Ebd.: p. 39. Ebd.: p. 47. Ebd.: p. 50. Sichrovsky : p. 17. Siehe ebd.: p. 45, p. 74.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

oder sie haben mich vergessen. Das ist alles, was er für mich getan hat: vielleicht hat er mir das Leben gerettet.1296

Die ultimative Demütigung der Niederlage erlebt der Vater nicht mehr, und womöglich hat er, wie Claudia Mauelshagen überzeugend argumentiert, in seiner letzten Schlacht bei Rocherath bewusst den Tod gesucht. Denn die Niederlage wäre für diesen Täter-Vater weitaus schwieriger zu ertragen als für einen normalen Mitläufer, würde sie doch »das Außerkraftsetzen der die Verbrechen ermöglichenden […] Gewissenswerte« bedeuten, oder anders ausgedrückt: Die Massenmorde bleiben für den individuellen Täter nur so lange erträglich, wie der »Glaube[] an eine zukünftige Herrschaft des Nationalsozialismus […] die Richtigkeit dessen, was getan worden ist, weiterhin bescheinigt«1297. Der Vater sagt es in seinem Brief an den Sohn selbst: »Wenn die anderen schuldlos wären, könnten wir uns ja beim Rasieren nicht mehr in die Augen sehen«1298. Ein Sieg der Alliierten bedeutet nichts anderes als die »Zweifelhaftigkeit der ›Schuld‹ derer, die vernichtet worden sind«, oder sogar den »Beweis ihrer Schuldlosigkeit«1299. Abschied von einem Mörder vermag also zu zeigen, dass und warum eine Täternatur wie der Vater des Autors nach einer »Niederlage […] psychisch nicht mehr [zu] existieren«1300 vermöchte: Die schiere Tatsache der Niederlage würde lebensnotwendige »Rechtfertigungsmechanismen«1301 außer Kraft setzen, die für die Durchführung der Massenmorde notwendig waren. Für einen mehr oder minder bewussten Gang in den Tod spricht auch, dass Seurens Grossvater dem Vater vor dessen letztem und (wahrscheinlich) tödlichem Einsatz Beihilfe zur Desertion anbietet – der Vater lehnt ab1302. Nicht, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg keine heimkehrenden Massenmörder gegeben hätte, die für ihre Taten nie zur Rechenschaft gezogen wurden, aber Seurens Vater kann man sich nach der Lektüre von Abschied von einem Mörder nur schwerlich als Kriegsheimkehrer vorstellen: Die narrative Logik des Textes verlangt gleichsam den Tod oder zumindest das Verschwinden dieses Charakters, und er selber sucht den Tod, denn Karl Seuren fehlt der Fanatismus eines Hermann Gauch, der es auch einem besiegten Kriegsverbrecher noch erlaubt, die alten »Rechtfertigungsmechanismen« aufrechtzuerhalten. Der Sohn sodann, von den Nazis erst zum potenziellen Täter herangezüchtet, kann sich der erlittenen Gehirnwäsche nach Kriegsende offenbar weitgehend entziehen; es kommt zur bereits er-

1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302

Ebd.: p. 84 f. Mauelshagen: p. 250. Seuren: p. 73 f. Mauelshagen: p. 250. Ebd.: p. 251. Ebd.: p. 250. Seuren: p. 93.

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wähnten Annäherung an die Mutter, und mit ihrem Tod endet der erste, autobiographische Teil der Erzählung. Unsere überblicksartige Analyse sollte gezeigt haben, worauf Seuren in der »Abschußprämie« Gewicht legt: Hier wird mit großer Sorgfalt und sogar mit Berufung auf Primärquellen (man denke an den zitierten Brief des Vaters) eine Analyse von faschistischen Indoktrinationsprozessen vorgenommen, und zwar gleich anhand zwei prägnanter Beispiele, wobei der Großvater als Vertreter einer dritten Generation ebenfalls Beachtung findet und an einer Schlüsselstelle zu Wort kommt (hierzu gleich mehr). Das Werk zeichnet mit großer Plausibilität den Weg des Vaters in und durch die nationalsozialistischen Institutionen nach, und zeigt, dass am Anfang dieses Wegs nicht etwa ideologische Überzeugung stand, sondern Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not. Ergänzt wird diese Untersuchung durch den parallel verlaufenden ›Aufstieg‹ des Sohnes, der schon als kleines Kind vollkommen in die Jugendorganisationen des Regimes integriert ist (man denkt bei einigen Passagen an Erika Manns Studie Zehn Millionen Kinder). Das Erkenntnisinteresse erfasst dabei kaum den Vater als Individuum oder überhaupt die Familie – das Modell der Heiligen Familie ist bei den kleinbürgerlichen Seurens überhaupt nahezu suspendiert, anders als bei den gebildeten und großbürgerlichen Vespers und Meckels, die, wie wir im ersten Teil dieser Arbeit zeigen konnten, Wert darauf legen, zumindest den engsten familiären Raum vor dem Zugriff der Machthaber zu bewahren1303. Im bisher besprochenen ersten Teil der Erzählung geht es tatsächlich primär um historiographisch fundierte Faschismusanalyse, um eine behutsame intellektuelle Annäherung an die Täterschaft des Vaters, aber auch an die eigenen Jugendsünden. Das nüchterne R¦sum¦, welches allerdings erst im zweiten Teil der Erzählung begegnet, wirkt prägnant: Töten gleich heilen, säubern, sich selbst nicht mehr verachten müssen, einen Auftrag ausführen, ausrotten, verscharren, an der richtigen Stelle stehen, zielen, abdrücken, in die Grube […], der Bessere tötet anständig, das spürt man, die Rasse, das eigene Blut, das höhere Leben, nicht mehr unten sein, arm, dumm, in sich selber verhaßt, mit der Hundepeitsche zusammentreiben, Fußtritte, heimzahlen, Genickschüße, Sonderzulage.1304 1303 Das einzige klassisch-bürgerliche Residuum im Abschied von einem Mörder ist das Motiv des ›messianischen Sohnes‹: »[Die Eltern] erwarteten von mir, daß ich ›steigen‹ würde« – der kleine Günter muss beispielsweise unbedingt das Gynasium besuchen (Seuren: p. 58). Davon abgesehen ist das traditionalistische Familienbild im Sinne des Modells der Heiligen Familie oder der Schriften Wilhelm Riehls bei Seuren kein Thema mehr ; vor allem Vater und Sohn sind ganz und gar in die NS-Organisationen eingebunden. Bezeichnend hierfür ist auch die leitmotivische Distanzierung der Familie von ihrem katholischen Glauben, der sukzessive durch das nationalsozialistische Religionssurrogat verdrängt wird (siehe Seuren: p. 19, p. 43 f., p. 52 f., p. 98, p. 101). 1304 Seuren: p. 133.

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Gehrke macht es sich zu einfach, wenn er in dieser Passage eine Erklärung der »Mordtaten […] als eine wahnhafte Attacke gegen berohlich [sic] scheinende Selbstanteile«1305 ortet. Die zitierte Explikation ist eben nicht nur eine psychologische, sondern auch – und das ist konsistent mit dem ersten Teil des Buches – eine ökonomische: Der Genozid wird hier nicht zuletzt als Rache der Proleten, der Arbeitslosen, der Ausgebeuteten interpretiert, die »nicht mehr unten sein« wollen. Von der Ausführung der Mordaufträge versprechen sich Menschen wie Seurens Vater nicht oder nicht nur eine »wahnhafte«, rein psychologische Befriedigung, sondern die Erfüllung einer sehr konkreten Hoffnung auf materielles Glück und gesellschaftlichen Aufstieg auf Kosten der Ermordeten. Die Seurens waren, wie bereits erwähnt, keine Ideologen; ihr linientreuer Antisemitismus – und in einem weiteren Sinne das Verbrechertum des Vaters – ist einfach nur die Bedingung für die Karriere im NS-Staat und den Umzug in eine »Führersiedlung«1306, und diese Bedingung erfüllen sie offenbar gerne. Wir haben es hier, in Hans Mommsens Worten, mit »Antisemitismus aus Anpassung«1307 zu tun, und zwar in einer Form, die so in der ›Väterliteratur‹ ansonsten nicht begegnet. Dieser Antisemitismus tritt exemplarisch im Aufstiegswillen des Karl Seuren hervor, aber auch in einem Gespräch, das dieser mit dem Großvater Edmund Porten nach der ›Reichskristallnacht‹ führt: Porten, der »seit der Volksschule in der Lederfabrik gearbeitet [hatte], die den Juden gehörte«, empfindet die Pogrome als »späte Genugtuung« – schließlich verdankte er [den Juden] die Holzgaloschen und die feuchten Kartoffelsäcke um die Waden, durchnäßt von stinkenden Laugen, sein[en] Lebensgeruch, für den er einen verantwortlich machen mußte, sonst hörte ja keiner hin, aber die Juden waren jetzt auserwählt, ihm endlich einmal zuzuhören.1308

Der revanchistische Antisemitismus von Seurens Großvater und der anpässlerische, unideologische Antisemitismus seines Vaters haben ganz offensichtlich eine andere Qualität als die biologistisch-theoretisch fundierten Antisemitismen eines Will Vesper oder Hermann Gauch: Als einziger Text im Korpus der ›Väterliteratur‹ beschreibt Seurens Erzählung den Judenhass auch als ökonomisches Ressentiment. Antisemitismus ist hier nicht in erster Linie ein wahnhafter Hass, sondern vielmehr ein Ausdruck von Sozialneid (im Falle des Großvaters) und die Bedingung für gesellschaftlichen Aufstieg (im Falle des Vaters), eben auch und vor allem auf Kosten der Juden, die »am Tag nach der 1305 Gehrke: p. 150. 1306 Seuren: p. 15. 1307 Mommsen, Hans: »Was haben die Deutschen vom Völkermord an den Juden gewußt?«. Der Judenpogrom 1938. Hg. von Walter Pehle. Frankfurt am Main: Fischer, 1988. Hier: p. 182. 1308 Seuren: p. 27.

Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder

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Kristallnacht« aus dem Heimatdorf des Großvaters »überstürzt«1309 fliehen und viele Besitztümer zurücklassen. Es mag eine überspitzte Assoziation sein, aber mit dieser Darstellung des Antisemitismus nimmt Abschied von einem Mörder in gewisser Weise Götz Alys kontroverse Studie Hitlers Volksstaat (2005) vorweg, in welcher der Holocaust – grob vereinfacht ausgedrückt – als eine Art ›Massenraubmord‹ begriffen wird. Wie dem auch sei: Unsere Ausführungen zum ersten Teil von Seurens Erzählung sollten gezeigt haben, dass der Fokus in diesem Text nicht auf einer Auseinandersetzung mit einem übermächtigen, patriarchalischen Vater liegt und schon gar nicht im Zeichen einer auf Privatisierung bedachten neuen Subjektivität stattfindet. Hier kommt es vielmehr zu einer stringenten, geschichtswissenschaftlich anmutenden Analyse der Motive und Bedingungen nationalsozialistischer Täterschaft. Diese Untersuchung ist breit gefächert: Sie umfasst drei Generationen (im zweiten Teil kommt mit Philipp eine vierte hinzu) und arbeitet, wie wir soeben gesehen haben, auch Aspekte des mörderischen Antisemitismus heraus, die in den anderen ›Väterbüchern‹ nicht berücksichtigt werden. Dieser erweiterte Blickwinkel mag zum einen aus der Tatsache resultieren, dass wir es hier mit einem Kriegsverbrecher und nicht mit einem feigen Mitläufer zu tun haben. Zum andern aber ist Seurens idiosynkratische Perspektive sicher auch durch die für die ›Väterliteratur‹ äußerst untypische (von Rauter abgesehen) proletarische Stellung der Familie Seuren bedingt. Die eingangs gemachten Feststellungen bleiben nach unserem kurzen Blick auf die »Abschußprämie« jedenfalls bestehen: Selbst in diesem autobiographischen Teil der Erzählung ist der Vater nur von marginalem Interesse, oder zumindest nicht primär in seiner Eigenschaft als Vater relevant. Im Zentrum steht eine schonungslose Faschismusanalyse, die auf Betrachtungen über Angehörige von insgesamt drei Generationen fußt und auch hellsichtige Selbstkritik umfasst, denn schließlich war Seuren als Jugendlicher selber ein begeisterter Nazi. Die für die meisten ›Väterbücher‹ wichtige Opposition zwischen der Elterngeneration und ihren Nachkommen ist hier also nicht gegeben – und einmal mehr spielt auch die Mutter eine zentrale Rolle im Text. Von ›Väterliteratur‹ kann mithin nicht die Rede sein, ganz zu schweigen von neuer Subjektivität: In seinem ersten Teil präsentiert sich Abschied von einem Mörder als historiographisches, nüchternes und offenbar weitgehend evidenzbasiertes Werk, und keineswegs als Emanation subjektiver Innerlichkeit. Eine Qualität, die wir bei Gauch konstatierten, fehlt allerdings zumindest in diesem ersten Teil von Seurens Erzählung: Die Erklärungsversuche für das väterliche Tun werden hier zunächst nicht relativiert; es entsteht tatsächlich der Eindruck, als sei Karl Seurens Mörderkarriere mit seiner proletarischen Frustration und seinem un1309 Ebd.: p. 26.

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bedingten Aufstiegswillen zu erklären. Allerdings fungiert der zweite Teil, betitelt »Die Überlebenden«, als Ergänzung und dient, wie wir sehen werden, einem ähnlichen Zweck wie bei Gauch die ›Subjektivierung‹ der Väterthematik. Hier werden die Erklärungsversuche des ersten Teils zwar nicht kassiert, wohl aber um fiktionale und breit angelegte Reflexionen zur Nachkriegsgesellschaft erweitert. »Die Überlebenden« macht deutlich, dass mit der »Abschußprämie« vielleicht tatsächlich ein Individuum und seine Motivationen versteh- und erklärbar geworden sind, dass aber faschistisches Denken auch nach dem Krieg Kontinuität hat und nicht mit autobiographischen Analysen wegzuerklären ist – und schliesslich tut Seuren in »Die Überlebenden« das, was Gauch in Vaterspuren ebenfalls tut: Er zieht die Perspektive der Opfer in Betracht. Der besagte zweite Teil ist, wie oben erwähnt, im Kontext der ›Väterliteratur‹ ein Kuriosum: Es handelt sich um eine fiktionale Erzählung, in der die Person Günter Seuren nicht zu figurieren scheint – zumindest verfolgte Günter Seuren nach den Informationen des Verfassers nie eine Karriere als Porträtfotograf und hatte auch keinen Sohn namens Philipp. Eine derartige Distanzierung und Fiktionalisierung, über deren Sinn wir uns noch Gedanken machen werden, sucht man in allen anderen ›Väterbüchern‹ vergeblich1310. Man kann deshalb diesem zweiten Teil der Erzählung nicht unbedingt eine historiographische Funktion attestieren. Allerdings wird in »Die Überlebenden« scharfe und treffende Zeitkritik geübt, sodass zumindest der Gestus des einigermaßen objektiv beobachtenden und um Vermittlung bemühten ›Väterliteraten‹ definitiv erhalten bleibt. Geschildert wird ein kurzer Zeitabschnitt in den Siebzigerjahren; ein Porträtfotograf1311 erzählt von seiner gescheiterten Beziehung zur Schauspiele1310 Entfernt Vergleichbares geschieht höchstens in Plessens Mitteilung an den Adel, wo die Autorin durch die stilisierte Namensgebung – Augusta und C. A. – eine Distanz zwischen sich und dem Text herstellt. Diese Distanzierung bleibt aber oberflächlich, ist doch Augusta tatsächlich einer von Plessens Vornamen und entsprechen die erzählten Ereignisse weitgehend autobiographischen Tatsachen. Im Gegensatz dazu ist »Die Überlebenden« eine Fiktion und nicht direkt mit dem Lebenslauf von Günter Seuren in Einklang zu bringen. 1311 Es ist zumindest am Rande bemerkenswert, dass Seuren das Medium der Fotografie ganz anders konzeptualisiert als Henisch. Im Abschied von einem Mörder wirkt Fotografie aufklärerisch; sie entlarvt und dient der Wahrheitsfindung: »Ich wünschte mir später eine Kamera, nicht als Waffe, nein, das wäre ein zu simpler Vergleich mit [der] Pistole [des Vaters]. Mit den Jahren sieht man hinter der Kamera, wie die Lüge in den Gesichtern der Macht altert, das ist ein Trotz, in meinem Archiv lagern die Masken. Ich fotografiere das Fleisch, die Haut der Macht, die wohlwollend verzogenen Mundwinkel, das Verdauungslächeln. Ich bin käuflich, zugegeben, aber nichts tarnt mich besser als das Honorar meiner Kundschaft. Ich muß grinsen, wenn ich den Lohn kassiere« (Seuren: p. 136 f.). Diese etwas naive Wahrnehmung ist mit einem kurzen Blick auf Peter Henischs Roman leicht zu relativieren: Dort parallelisiert der väterliche »Finger am Drücker« der Kamera tatsächlich »das MG-Feuer«, und es wird gezeigt, dass die Fotografie eben durchaus im Dienste der Vertuschung oder Beschönigung der Wahrheit stehen kann (Henisch: p. 108).

Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder

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rin Hilde, vom gemeinsamen vierzehnjährigen Sohn Philipp und von seinem Alltag in der Bundesrepublik. Auf den ersten Blick frappiert die Diskrepanz zwischen dem Wohlstandsalltag, der in diesem zweiten Teil begegnet, und dem akkuraten Porträt einer kleinbürgerlichen nationalsozialistischen Familie des ersten Teils. Der Vater des fiktionalen Erzählers, der verwirrenderweise mit Karl Seuren aus dem ersten Teil identisch zu sein scheint, figuriert in »Die Überlebenden« scheinbar nur noch als unangenehme Erinnerung, als fremdes Phantom, mit dessen Erwähnung Hilde den Erzähler im Streit quälen kann: »Gespräche dieser Art endeten meistens damit, daß sie sagte: Dein Vater hat ja auch aufgeräumt. Einmal ist es mir zuviel geworden, ich habe zugeschlagen […]«1312. Die Exponenten des untergegangenen ›Dritten Reichs‹ scheinen zur erzählten Zeit auszusterben – so macht sich der Erzähler einen Namen als Fotograf von »Witwengesichtern«, der seine »Kamera […] auf die alternde Eitelkeit der Republik gerichtet«1313 hat. Offenbar ist der verlorene Krieg, der Männer wie Karl Seuren hervorgebracht hat, kein Thema mehr. In Wahrheit aber verweist der zweite Teil von Seurens Erzählung immer wieder auf das Fortbestehen nationalsozialistischen Gedankenguts in der Bundesrepublik und macht deutlich, dass sich der im ersten Teil beschriebene faktuale Fall Karl Seuren jederzeit wiederholen könnte. Dabei entspricht die akkurat geschilderte bundesrepublikanische Verdrängungsleistung in »Die Überlebenden« der von den Mitscherlichs diagnostizierten ›Unfähigkeit zu trauern‹: Hier kommt die in der Einleitung erwähnte »intensive[] Abwehr von Schuld, Scham und Angst« zur Darstellung; »[d]ie Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht«1314. Dementsprechend sind Täter wie Seurens Vater in der kollektiven Fantasie, wie erwähnt, zu geisterhaften und halbvergessenen Figuren geworden. Die Statussymbole der postWirtschaftswundergesellschaft lenken nach der gescheiterten Studentenrevolte endgültig von den überfälligen Aufarbeitungsprozessen ab – die ›Generationenproblematik‹ überhaupt wird in dieser auf Verdrängung bedachten Gesellschaft hysterisch suspendiert, eben »intensiv[]« abgewehrt: »Es gibt keine Kinder mehr, auch keine Eltern, es gibt nur noch kleine seßhafte Luxushorden mit Fortpflanzungstrieb, Zentralheizung und Bildschirm«1315 – wenn es »keine Kinder« und »keine Eltern« mehr gibt, also die Generationenabfolge mitsamt ihren komplexen Mechanismen der Identifikation und der konfliktbehafteten Abgrenzung gleichsam suspendiert ist, dann gibt es auch keine Geschichte

1312 1313 1314 1315

Gerade weil die Fotografie wie kein anderes Medium Wahrhaftigkeit suggeriert, ist sie stets der Gefahr ausgesetzt, vereinnahmt zu werden. Seurens Erzähler in »Die Überlebenden« ist sich dieser Gefahr offenbar nur in geringem Maße bewusst, deshalb hier der präzisierende Hinweis auf Henischs nüchterneres Bild der Fotografie. Ebd.: p. 118. Ebd.: p. 107. Mitscherlich: p. 34. Seuren.: p. 109.

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mehr ; die Beschäftigung mit der Geschichte – also ein Interesse an diachronischen Prozessen – gestaltet sich schwierig in einer Gesellschaft, die sich augenscheinlich bevorzugt dem rein synchronischen Genuss der Früchte des Wirtschaftswunders widmet. Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Angehörigen der Elterngeneration, die womöglich über das Geschehene hätten Auskunft geben können, tot sind – es sind die »Professoren, Chefärzte[], Generäle[], Schauspieler[], Brauereibesitzer[], Dichter[], Fabrikanten, Bundestagsabgeordneten, Staatssekretäre[]«1316, deren Witwen der Erzähler fotografiert. Das Land scheint bevölkert von »Nachkriegsschwätzern und hohlen Genießern«1317; es entsteht der Eindruck einer Stasis, in der das schwere und stets ungenannte Erbe der Toten auf einer ganzen verbissen schweigenden Gesellschaft lastet: Die Toten haben die Deutschen im Griff, wie sie ihre Witwen im Griff haben, die sich in regelmäßigen Abständen auf dem Friedhof vom Erzähler fotografieren lassen. Für diese Gesellschaft, die gerade wegen ihrer aufwendigen Verdrängung der Vergangenheit in ebendieser Vergangenheit gefangen ist, prägt der Erzähler das prägnante Diktum des »alternde[n] Gehege[s]«1318. In den spärlichen Momenten, da sich die verdrängte Vergangenheit zurückmeldet, versucht der Erzähler sie zu entmystifizieren, versucht, um einen Begriff der Mitscherlichs aufzugreifen, ihre ›Entwirklichung‹ zu durchbrechen. In dieser Hinsicht verfährt Seurens Erzähler ähnlich wie Gauch, der im Gespräch mit Herbert die ›Banalität‹ des väterlichen ›Bösen‹ herausarbeitet. Beispielsweise verwahrt sich der Erzähler bei einem »Abendessen« mit einem »ehemalige[n] Hauptmann der Wehrmacht« und dessen Frau, Trägerin des »Mutterkreuz[es]«, gegen die von dieser Dame getätigte Euphemisierung der Kriegszeit: [F]ünf Kinder hat sie dem Führer gemacht […]. Alle sind durchgekommen […], sie wollte an dem Abend alle von der Güte der Menschen und Mütter überzeugen. Ich sagte: Sie machen aber einen feinen Unterschied. Da haben Sie Glück gehabt, dass Sie der Güte begegnet sind. […] [Der Hauptmann a. D.] hörte zu, wie seine Frau protzte, dass die Mütter auch den verlorensten Krieg gewinnen. […] Ich sagte zu ihm: Haben Sie damals nicht auch abgedrückt, Auge in Auge, wenn Sie oben waren, und der andere lag unten? Seine Frau stellte sich schützend vor ihn: Lassen Sie ihn in Ruhe. Ich sagte: Ich laß ihn nicht in Ruhe. Das war doch das schönste Gefühl. Ein Volk wird groß, das Feinde hat. […] Er ist betrunken, laß dich nicht darauf ein, rief sie ihrem Mann zu. Der wollte aber aus seinem Tiefschlaf geweckt werden, deshalb sagte ich kameradschaftlich, so vertraulich deutsch, dass er sich verjüngt fühlte: Lieber aufrecht sterben als auf den

1316 Ebd.: p. 107. 1317 Ebd.: p. 136. 1318 Ebd.: p. 132.

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Knien um etwas betteln. Er sah ängstlich und scheu zu seiner Frau hinüber. […] [E]r sagte: Ja, eigentlich… bitte, reg dich nicht auf… ich glaube, so waren wir.1319

Die immer wieder bestätigte Einsicht in die Tatsache, dass der Vater und seine ›Kameraden‹ nichts als gewöhnliche Mörder waren, wirkt auf Seurens Erzähler allerdings nicht befreiend – bei Gauch hatte diese Erkenntnis, wie wir zeigen konnten, ja zu einem Ende der Grübeleien und zu einer Distanzierung von den unzureichenden Erklärungsversuchen für die Verbrechen geführt. Das könnte damit zu tun haben, dass dieser Erzähler, anders als Gauch, viel von seinem Vater in sich trägt, dass er vom toten Täter gründlich seelisch verstümmelt wurde und ihm die alltägliche Distanzierung im Berufs- und Familienleben deshalb nicht gelingt. Der Erzähler »fürchtet sich vor den Wünschen, die mein Vater hatte«1320 ; beim Fernsehen spielt er mit seiner Frau ein seltsames »Jägerspiel«, in dem »die Mächtigen« auf dem Bildschirm »umgelegt«1321 werden und das wie ein bizarrer Nachvollzug der Taten der RAF wirkt. Er glaubt generell, keine Kontrolle über sein Leben zu haben: »Offenbar habe ich in den letzten zwanzig Jahren einen katastrophalen Fehler gemacht. Irgendwem gehöre ich mit Leib und Seele, nur nicht mir«1322 – so ›gehören‹ die porträtierten Witwen den toten Gatten, so ›gehört‹ der Erzähler dem toten Nazi-Vater, und so ›gehört‹ die Gesellschaft der pathologisch verdrängten Vergangenheit. Im Kontext dieser psychischen Paralyse können auch die seltenen Aussetzer der Verdrängungsmechanismen – wie im oben zitierten Gespräch mit dem Hauptmann a. D. – keine therapeutische Wirkung entfalten. Am Ende bleiben nur die Einsicht, dass man die eigenen »Verhältnisse […] prächtig verpfuscht«1323 hat, und die vage Furcht, »dass die Nazis wiederkommen«1324. Denn, soviel ist dem Erzähler klar, »[e]s liegt in der Luft, man hat wieder Heimweh nach dem Töten«, und »[w]enn die Unzufriedenen, die Zukurzgekommenen, die Bewußtseinskrüppel in unserer Mitte ihre Chance wittern, tapezieren sie ihre Zimmerwände mit Hakenkreuzen«1325. Die Distanzierung von der Vergangenheit, ohne sie dabei zu verdrängen oder zu verharmlosen, gelang Gauch in Familie und Beruf, misslingt aber bei Seurens fiktionalem Erzähler ; dieser zieht sich angesichts der überwältigenden, nicht aufgearbeiteten privaten und gesamtgesellschaftlichen Schuld »in die Passivität des zynischen Beobachters zurück«1326, die letzten Endes auch nichts anderes ist als eine raffinierte Form von Verdrängung. 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326

Ebd.: p. 121. Ebd.: p. 148. Ebd.: p. 149. Ebd.: p. 146. Ebd.: p. 149. Ebd.: p. 148. Ebd.: p. 133. Gehrke: p. 154.

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Die Lebenskrise, in welche der Erzähler nach der Trennung von Hilde verfällt, bietet ihm allerdings eine Möglichkeit, diesen Zustand neu zu evaluieren, die Nachkriegs-Stasis eventuell zu durchbrechen – und das gelingt, wie wir sehen werden, mittels einer ähnlichen Rückbesinnung auf den privaten Lebensbereich, wie wir sie auch bei Gauch konstatieren konnten (und diese hat, ebenfalls wie bei Gauch, wenig mit neuer Subjektivität zu tun). Die radikale Selbsthinterfragung im Zuge der Trennung, das Gefühl, »[i]rgendwem [zu] gehöre[n] […], nur nicht mir«1327, ereilt den Erzähler zu einem Zeitpunkt, da er Gefahr läuft, einer der von Sichrovsky eruierten Bewältigungsstrategien zu verfallen, namentlich der Überzeugung, »Opfer der eigenen Eltern zu sein«1328. Ähnlich wie Gauch in Vaterspuren muss Seurens Porträtfotograf zur Einsicht kommen, dass er auf die Opferrolle keinen moralischen Anspruch hat. In der Schockstarre nach dem Scheitern der Beziehung zu Hilde unternimmt der Erzähler mit Philipp eine Reise in die Niederlande, in deren Verlauf er den jüdischen Straßenmaler Joseph Silbereisen trifft, eine alte Zufallsbekanntschaft. Die unangenehme Begegnung mit diesem Opfer des nationalsozialistischen Regimes – Silbereisen entging dem Holocaust nur knapp, seine Familie wurde »in Dachau ausgerottet«1329 – klärt Einiges. Silbereisen stellt eine Gefahr für die Persona des »zynischen Beobachters«1330 dar, welche sich der Erzähler angeeignet hat, denn der Jude »erinnert« ihn »an zu vieles«1331. Das Problem ist hier nicht in erster Linie, dass sich der Erzähler gegenüber Silbereisen für seinen Vater schämt, sondern, schlimmer, dass ihn der Jude an die eigene verdrängte Indoktrination erinnert: »Ich habe gelernt, wie man tötet. Er hat gelernt, wie man getötet wird«1332. Diese Einsicht resultiert vor allem aus der akribischen und entnervten Beobachtung von Silbereisens »verdammte[m] Fliegentick«1333 (der Jude weigert sich, harmlose Fliegen zu töten). Der reisende Fotograf legt in seiner unbestreitbar aggressiven Reaktion auf Silbereisens »Überlebensleiden«1334, wie schon Gehrke bemerkte, »eine[] neue[] Variante der alten antisemitischen Disposition«1335 an den Tag: namentlich den von Henryk M. Broder so genannten Antisemitismus »wegen Auschwitz«, der das »Immernoch-da-sein« der Opfer, welche die Schuld gleichsam personifizieren, als

1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333 1334 1335

Seuren: p. 146. Sichrovsky : p. 21. Seuren: p. 128. Gehrke: p. 154. Seuren: p. 129. Ebd.: p. 131. Ebd. Ebd. Gehrke: p. 155.

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»kaum erträgliche Provokation«1336 empfindet. Kurzum, Silbereisen ruft beim Erzähler heftige Reaktionen hervor, die dessen zwecks Selbstschutz errichtete Fassade des distanzierten Zynismus gefährden. Silbereisen bedroht aber nicht nur durch seine schiere Existenz das Selbstbild des Erzählers, er enttäuscht auch alle Erwartungen, die dieser mit einer gewissen Dreistigkeit an das NS-Opfer stellt: Das autobiographische Manuskript, an dem Silbereisen angeblich arbeitet und das der Erzähler gerne lesen möchte, entpuppt sich als reine Fiktion, von Silbereisen erfunden, um sich zu »schützen«: Ich muss etwas zwischen uns stellen. Sie wollten gleich dafür zahlen, dass ich mich von Ihnen fotografieren ließ. […] Einen Juden will er kaufen für seine Sammlung, habe ich gedacht. Wir sind uns nähergekommen, Sie haben mich eingeladen. Und immer habe ich gedacht, ich muss mich schützen. Was will er von mir? Die Personalien kennen Sie, die habe ich Ihnen gesagt. Und dann habe ich gedacht: bevor wir es uns gegenseitig schwermachen, uns ausfragen und ein falsches Bild machen, muss ich es verhindern. Da habe ich gesagt, ich schreibe ein Buch. Damit sie denken sollten, da steht alles drin, darüber will er jetzt nicht sprechen, weil man es später sowieso lesen kann. […] Ich habe das Buch erfunden, sagt er, es existiert nicht. Es hat mir geholfen. Es hat mich beschützt.1337

Nicht genug, dass Silbereisen dem Erzähler die Verteilung der Opfer- und Täterrollen in schmerzhafter Deutlichkeit vor Augen führt: Der Jude sperrt sich gegen das »Wiedergutmachungsspiel«1338, gibt keine Antworten auf unbeantwortbare Fragen, weigert sich, zu erklären, was nicht zu erklären ist. Wie Gauchs Erzähler im Gespräch mit dem Emigranten Herbert wird hier Seurens Erzähler durch die Konfrontation mit einem genuinen Opfer des Nationalsozialismus gezwungen, seine Weltwahrnehmung zu korrigieren: Die Opferrolle1339 wird ihm verweigert, ebenso wie leicht verdauliche Erklärungen des Grauens im Buchformat. Mit seinem erfundenen Buch hat Silbereisen »die vollkommene Lösung gefunden[,] [d]en Rest überläßt er mir«1340 – dem Erzähler. Dieser nicht zu eliminierende »Rest« – das traumatische Erbe des Vaters, die noch immer als 1336 Broder, Henryk M.: Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls. Frankfurt am Main: Fischer, 1986. Hier: p. 11 f. 1337 Seuren: p. 134 f. 1338 Gehrke: p. 155. 1339 Dass gerade der Entzug der Opferrolle die beiden Täter-Söhne Gauch und Seuren zu produktiven Reflexionen über die eigene Situation anregt, ist wahrscheinlich kein Zufall. Sichrovsky hat jedenfalls in seinen Gesprächen mit Nachkommen von NS-Tätern eine ähnliche Dynamik beobachtet: Die Interviewten bestätigten ihm, dass es einen großen »Unterschied« mache, mit einem Gesprächspartner konfrontiert zu sein, der ihnen »die Opferrolle verweiger[t]«; die Implikation ist, dass solche Dialoge zwar schonungsloser, aber auch konstruktiver sind als Diskussionen mit anderen »Leidenden«, welche die Gefühle des Selbstmitleids tendenziell verstärken dürften (Sichrovsky : p. 21). 1340 Seuren: p. 135.

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faschistoid wahrgenommene Gesellschaft, die allgegenwärtige Schuld und Verdrängung – muss nach der erschütternden Begegnung mit Silbereisen zumindest bewusst gemacht werden. Denn auch die Trennung von Hilde, welche dieser Begegnung voraus ging, sie erst ermöglichte, stand im Zeichem dieses »Rest[s]«: Hilde leidet ebenfalls an ihrer »›seelischen Erbmasse‹«1341, wegen der sie eigentlich keine Kinder in die Welt setzen wollte (Philipp war ein ›Unfall‹). Ihr »Antifaschismus [ist] ebenso unreflektiert wie hilflos«1342 : An einer Party bezeichnet sie einen anwesenden Hirnforscher als »weißes Herrenschwein«1343, und auch im Streit mit dem Erzähler schreckt sie, wie wir gesehen haben, vor dem »Faschismusvorwurf«1344 nicht zurück. Zudem glaubt sie, »daß die Nazis wiederkommen«1345 und pflegt eine neurotische Angst vor »Vernichtungsakt [en]«1346, obwohl der Anblick der »Menschenfreunde« in Fernsehwerbung und Nachrichtensendungen sie zum Ausspruch verleitet: »Man müsste sie abknallen«1347. Kurzum – und das begreift der Erzähler nach der Konfrontation mit Silbereisen –: Hilde wird »von den gleichen Vernichtungsphantasien« und Ängsten »beherrscht«1348 wie er selber, und nicht zuletzt deshalb scheiterte die Beziehung. Nach diesen Erkenntnissen, die durch die Trennung und die folgenschwere Begegnung mit Silbereisen ermöglicht und katalysiert wurden, kann sich der Erzähler nicht mehr in seinen zur Gewohnheit gewordenen Zynismus zurückziehen. Ähnlich wie Gauch am Ende von Vaterspuren muss er Bilanz ziehen und sich von bequemen Illusionen – von der eigenen Opferrolle und den Erklärungsversuchen für die Verbrechen der NS-Zeit – verabschieden: Ich habe keinen Haß und keine Trauer für den [Vater] empfunden, der sich von der Macht anlernen ließ und uns die Prämien schickte, der vielleicht aus Scham nicht heimkehren und sich nicht im Familienkreis verkriechen wollte, der wahrscheinlich lieber mit dem Dreck unter den Fingernägeln starb. […] Jetzt verstehe ich Silbereisen, der mir vorlog, er schreibe ein Buch über seine Toten […]. Und dann existierte nicht eine einzige Seite dieses Buches. Und Silbereisen sagte: Gerettet. Er meinte, so könnte man die Toten vor satten Tischgesprächen und vollen Bäuchen retten. […] Später habe ich verstanden, daß [der Vater] eine Figur der Macht war, die mich dressierte und zerstörte, so daß aus mir ein williger Handlanger der Macht geworden wäre, wenn mein Vater sein Reich behauptet hätte. Er hat etwas für mich getan. Er hat verloren. […] Ich

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Ebd.: p. 114. Gehrke: p. 156. Seuren: p. 141. Gehrke: p. 157. Seuren: p. 148. Ebd. Ebd.: p. 147. Gehrke: p. 157.

Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder

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danke ihm, dass wir keinen Heimkehrer am Tisch haben. Wenn er jetzt an unserem Tisch säße, würde man seinen abgeseiften Händen nichts ansehen.1349

Der Erzähler durchbricht hier – endlich – sein bisheriges zynisches Schweigen und findet abschließende Worte für den problematischen Vater. Er verfällt keinem der von Sichrovsky bei den Täter-Kindern diagnostizierten pathologischen Grundmuster1350 : Weder nimmt er eine Opferrolle in Anspruch (das hat ihm Silbereisen ausgetrieben) noch verharmlost er den Vater. Wie schon in den Vaterspuren kommt es im Abschied von einem Mörder nach dem letzten unverzerrten und hellsichtigen R¦sum¦ über den Vater zu einer gewissen Bescheidung. »Eine vollkommene Erlösung von diesem schrecklichen Erbe« wird konsequenterweise nicht als Möglichkeit dargestellt, wohl aber ein »Zustand relativer Gelassenheit«1351. In diesem Zeichen stehen die Worte, die der Erzähler nach der Silbereisen-Episode an einem holländischen Strand an die ferne Hilde richtet und die das Buch beenden: »Aber komm zurück, wir leben zusammen und schielen nicht nach etwas Besserem. […] Man muss hier aufpaßen, wohin man tritt, zwischen all dem Fleisch, das sich unter der Sonne ausruht. Du kannst Dir vorstellen, wie ich hinke«1352. In der schlichten Ehrlichkeit dieser resignativen und dennoch hoffnungsvollen Mitteilung blitzt zumindest vorübergehend die Möglichkeit auf, ein neues (Familien)Leben aufzubauen, zum Versagen und zu den Irrtümern der Vergangenheit zu stehen und alles daran zu setzen, sie nicht zu wiederholen. Denn zumindest die nächste Generation, personifiziert durch Philipp – und übrigens bereits die vierte Generation, die in diesem angeblichen ›Väterbuch‹ präsent ist – lässt hoffen: »[Philipp] haben wir so gemacht, daß er sich vielleicht gerade noch vor uns retten kann«1353. Eine solche ›Privatisierung‹ oder Rückbesinnung auf den Raum der Familie entspricht aber, wie gesagt, nicht dem für die neue Subjektivität charakteristischen Rückzug in die Innerlichkeit. Schließlich werden politische Bezüge, wie bei Gauch, auch im Abschied von einem Mörder mit großer Sorgfalt hergestellt: von der äußerst akkuraten und nahezu historiographischen Schilderung einer nationalsozialistischen Kleinfamilie in »Die Abschußprämie« bis hin zur pessimistischen und schonungslosen Zeitkritik im fiktionalen Porträt der Bundesrepublik in »Die Überlebenden«. Die Subjektivierung, die Seuren und Gauch vornehmen, ist, man muss es immer wieder betonen, im Grunde ein moralischer Akt, und nicht ein ästhetischer : Die kurze Bilanz über den Vater im Abschied von einem Mörder, das Ende des Haderns und die anschließenden versöhnlichen 1349 1350 1351 1352 1353

Seuren: p. 136 f. Siehe Sichrovsky : p. 21. Gehrke: p. 160. Seuren: p. 151. Ebd.: p. 112.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

Worte an die verlorene Partnerin – diese Handlungselemente entspringen nicht etwa einem Versuch, die Ästhetik der neuen Subjektivität zur Anwendung zu bringen, sondern der im Gespräch mit Silbereisen gewonnenen Erkenntnis, dass nur das respektvolle Schweigen »die Toten vor satten Tischgesprächen und vollen Bäuchen retten«1354 kann. Man könnte sogar so weit gehen, in Silbereisens nicht existierendem Manuskript eine autoreferenzielle Erklärung der in »Die Überlebenden« begegnenden Fiktionalisierung zu sehen: Silbereisen will nicht über die Toten schreiben, weil er weiß, dass es nichts mehr über sie zu sagen gibt, und Seuren will womöglich die im ersten Teil der Erzählung begonnenen autobiographischen Betrachtungen aus demselben Grund nicht fortschreiben. So gestaltet er in »Die Überlebenden« eine Fiktion – eine weniger radikale Lösung als Silbereisens fiktives, also inexistentes Buch, aber doch eine Lösung, die Ähnliches impliziert. Die Fiktionalisierung im zweiten Teil ist mithin mehr als eine Erweiterung des »Spielraum[s] für eine sowohl interne als auch nach außen gerichtete Kommunikation«1355 : Wenn Seuren »den konventionellen Weg des autobiographischen Schreibens verläßt«1356, so ermöglicht das nicht nur allgemeiner gefasste Zeitkritik (das meint Gehrke wohl mit »nach außen gerichtete[r] Kommunikation«), sondern auch eine Überwindung der autobiographischen Beschränkung auf ein spezifisches Täterschicksal. Seurens Vorgehen öffnet die Erzählung für Reflexionen, die nichts mit Karl Seuren oder der eigenen Kindheit zu tun haben, sondern sich mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit und dem Streben nach einer moralisch vertretbaren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit befassen. Die komplexen und ambivalenten Schlüsse der Erzählungen von Gauch und Seuren sind somit vielleicht lesbar als Auseinandersetzungen mit einem moralischen Problem, das sich nur in den ›Täter-Texten‹, nicht aber in den anderen hier besprochenen ›Väterbüchern‹ mit ihren harmloseren Vätern stellt. Es handelt sich um ein Grundproblem aller Literatur, die sich mit den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs befasst: Die vor allem bei autobiographischen Texten gegebene Privilegierung einiger spezifischer Einzelschicksale ist angesichts der Millionen Opfer ethisch schwer zu rechtfertigen1357. Gauch umschifft diesen Komplex, indem er die Opferperspektive berücksichtigt, von seiner obsessiven Beschäftigung mit einem bestimmten Täter Abstand nimmt, und in seiner Lebensführung eine beispielhafte Distanzierung von allem vornimmt, was ihm der Vater vorlebte. Seuren gibt die limitierte autobiographische Perspektive einfach 1354 1355 1356 1357

Ebd.: p. 136. Gehrke: p. 161. Ebd. Beispielhaft für den adäquaten Umgang mit dieser Problematik ist W. G. Sebalds Roman Austerlitz (2001), siehe hierzu Elsaghe, Yahya: »Das Kreuzworträtsel der Penelope. Zu W. G. Sebalds Austerlitz«. Gegenwartsliteratur 6 (2007): p. 164 – 184.

Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder

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in der Mitte von Abschied von einem Mörder auf; er erzählt sodann eine breit angelegte zeitkritische Fiktion, in der mit Silbereisen auch ein Opfer mit einer idiosynkratischen – und in Bezug auf Seurens Erzählung, wie erwähnt, auch programmatischen – Bewältigungsstrategie zu Wort kommt: Wie Silbereisens ungeschriebenes Buch es dem Juden erlaubt, sinnlose Fragen abzublocken, so gelingt Seuren mit der Fiktionalisierung in »Die Überlebenden« das Kunststück, zugleich in verklausulierter und verallgemeinerter Weise über sein eigenes Schicksal zu sprechen und doch in gewisser Hinsicht zu schweigen. Die Suspendierung des autobiographischen Modus und die Konstitution einer Fiktion bewahrt »die Toten vor« den erwähnten »satten Tischgesprächen und vollen Bäuchen«1358 ; Seuren zieht, um mit Ralf Konersmann zu sprechen, einen ›Schleier des Timanthes‹ vor das Grauen1359. Im Zuge unserer Ausführungen zu Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder sollte klar geworden sein, dass diese Texte am besten in gebührendem Abstand zu allen anderen ›Väterbüchern‹ zu situieren sind. Sie weisen die üblichen Marker der Heterogenität auf – die Präsenz weiterer Generationen (bei Seuren sind es insgesamt vier), die Wichtigkeit der Mutter (bei Seuren), historiographisches Interesse, das der neuen Subjektivität zuwiderläuft – aber das wichtigste Merkmal dieser Werke ist die Täterschaft der in ihnen geschilderten Väter. In diesem Unterkapitel ist deutlich geworden, dass sich die Bücher von Seuren und Gauch primär aufgrund dieser produktionsästhetischen Prämisse vom restlichen Korpus der ›Väterliteratur‹ fundamental unterscheiden. In keinem anderen ›Väterbuch‹ finden wir genuin verbrecherische Väter. Demzufolge sind in Vaterspuren und Abschied von einem Mörder ganz andere Bewältigungsstrategien wirksam als in den bisher diskutierten Texten. Bemerkenswerterweise entsprechen diese Strategien gerade nicht den von Peter Sichrovsky herausgearbeiteten typischen Reaktionsmustern: Anders als die von Sichrovsky porträtierten Täter-Kinder vermeiden Gauch und Seuren sowohl eine Selbstidentifikation als Opfer als auch Verharmlosungen der Väter. 1358 Seuren: p. 136. 1359 Timanthes war ein antiker Maler, der sich wie Seuren und Gauch mit dem Problem der Darstellbarkeit des Grauens konfrontiert sah: Er malte die Opferung der Iphigenie – aber wie war das Gesicht Agamemnons darzustellen, das Gesicht eines Vaters, der die eigene Tochte opfert? Timanthes’ Lösung: Er »verzichtet auf die konkrete Abbildung des Gesichtes, das dem Betrachter kraft des vordergründigen Augenscheins Auskunft über das innere Befinden des Agamemnon hätte geben können« (Neher, Michael: »Rezension zu Ralf Konersmanns Der Schleier des Timanthes«. Arbitrium 15.2 (1997): p. 148 – 150. Hier: p. 148). Timanthes’ Kunstgriff dient Konersmann in seinem Buch als metaphorischer Ausgangspunkt für allerlei Gedankengänge, die hier nicht näher ausgeführt werden sollen (siehe Konersmann, Ralf: Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik. Berlin: Parerga Verlag, 22006). Wir übernehmen aber dankend den Begriff des ›Schleiers des Timanthes’, da er uns, wie angemerkt, für die Beschreibung der von Seuren getätigten Fiktionalisierung im Abschied von einem Mörder geeignet scheint.

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Die ›monologischen Väterbücher‹

Stattdessen entwickeln sie jeweils einen individuellen konstruktiven Umgang mit dem väterlichen Erbe, das bei ihnen so viel schwerer wiegt als bei den anderen hier behandelten Autorinnen und Autoren. Auch wenn Sichrovskys Interviews fast immer die erwähnten Bewältigungsstrategien zu Tage förderten, gelingt Seuren und Gauch im Medium der Literatur offenbar tatsächlich eine therapeutische Aufarbeitung der Verbrechen ihrer Väter, ganz ohne Larmoyanz oder Verharmlosung. Ich würde zögern, in Bezug auf diese Texte unseren Terminus der ›Vertrauenskrise‹ zur Anwendung zu bringen – das diesem Begriff innewohnende verallgemeinernde und politische Moment kann man so bei Gauch und Seuren nicht unbedingt konstatieren: Die Väter sind hier als Täter mit einer spezifischen Schuld relevant, und diese Schuld, beziehungsweise der Umgang der Nachkommen mit dieser Schuld, steht im Zentrum der Texte; die analytischen Abstraktionen, welche die ›Vertrauenskrisen‹ in den anderen ›Väterbüchern‹ mit sich bringen, werden hier vermieden. Sie weichen einem behutsameren, aber ebenfalls stringenten Aufarbeitungsverfahren, an dessen Ende es zu ambivalenten und erklärungsbedürftigen Subjektivierungsprozessen kommt. So kann Gauch in Vaterspuren die zermürbenden und wenig zielführenden Grübeleien über Hermann Gauch und dessen Motivationen und Dispositionen nicht zuletzt aus Respekt vor den Opfern des Vaters aufgeben und sich wirklich in gewisser Weise vom Vater »frei«1360 machen. Sein Lebensweg, der in allen Facetten der väterlichen Ideologie widerspricht, bezeugt auch eine gelungene praktische Abstandnahme vom Vater1361. Seuren entscheidet sich sodann für eine zweiteilige Analyse der Schuld- und Täterproblematik, wobei nur der erste Teil autobiographisch ist und der zweite eine allgemeiner gehaltene, fiktionalisierte Untersuchung von Verdrängungsprozessen in der Bundesrepublik zur Darstellung bringt. Auch hier gelingt, wie wir zu zeigen versuchten, der Schritt von der historiographisch fundierten Analyse subjektiver Probleme hin zu einer nüch-

1360 Gauch: p. 142. 1361 Dass Gauch hier eine bewundernswerte Leistung erbrachte, verdeutlicht ein ähnlich gelagerter Fall bei Sichrovsky, der einen weniger positiven Ausgang nahm: Der Vater dieses Interviewpartners protestierte – wie Hermann Gauch – gegen die Partnerwahl des Sohnes (seine neue Freundin war scheinbar jüdischen Glaubens) und gab ihm zu verstehen, dass seine »Türe […] für [die Freundin] […] zu[bleiben]« würde (Sichrovsky : p. 19). Es kam offenbar in der Folge zum Bruch zwischen dem Sohn und den Eltern, und groteskerweise stellte sich Jahre später heraus, dass das fragliche Mädchen – mittlerweile längst eine Exfreundin – gar keine Jüdin war. Angesichts solcher zerrüttender Hysterie wird klar, dass Gauchs ruhige Verteidigung seiner Gattin und der Namen seiner Kinder gegen die abstrusen Ansprüche und Vorstellungen des Vaters wohl einen großen diplomatischen Effort und viel Geduld bedingte. Dass die Familie trotz dieser Widersprüche irgendwie zusammenhielt, dass Gauchs Beziehung zum Vater nicht zerbrach, ist alles andere als selbstverständlich.

Sigfrid Gauchs Vaterspuren und Günter Seurens Abschied von einem Mörder

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ternen Bestandesaufnahme, an deren Ende eine gewisse Bescheidung, eine idiosynkratische ›Privatisierung‹ des Problems steht. Ebensowenig wie Gauch usurpiert Seuren die Opferperspektive; spätestens die Begegnung mit Joseph Silbereisen zeigt klar, wem diese wirklich gebührt. Die Subjektivierungs- und Rückzugsbestrebungen, die jeweils am Ende der beiden Erzählungen manifest werden, sind dabei Ausdruck eines ethisch fundierten Respekts für die Opferperspektive, für die von den Vätern verschuldeten Toten, und keineswegs ein Signum der neuen Subjektivität. Beiden Autoren gelingt so das Kunststück, ein Schlaglicht auf ein subjektives Problem zu werden, ohne dabei die subjektive Perspektive in problematischer Weise zu privilegieren: Gauch und Seuren bemühen sich um eine panoramische Sichtweise, sind historiographisch tätig, üben Zeitkritik, berücksichtigen die Opfer und hinterfragen simplizistische Erklärungsansätze für die nationalsozialistischen Greuel. In Vaterspuren und Abschied von einem Mörder kommt es somit zur produktiven Vermählung von fundierter Analyse und literarischer Selbsttherapie, die so in den anderen ›Väterbüchern‹ kaum begegnet – denn die dort beschriebenen Väter machen ein solches Vorgehen gar nicht nötig. Dass zwei Autoren, die von derart spezifischen und atypischen Gegebenheiten ausgehen, nicht unter einen Schirmbegriff wie ›Väterliteratur‹ fallen können, dass ihre hochkomplexen literarischen Bemühungen außerdem wenig mit neuer Subjektivität zu tun haben – das sollte nun klar sein.

9. Zwei Spezialfälle: Jutta Schuttings Der Vater und Peter Härtlings Nachgetragene Liebe

Wir ergänzen unsere Einzelanalysen mit einem Kapitel über zwei Spezialfälle, zwei Texte, die nun wirklich in jeder Hinsicht aus den Rastern der ›Väterliteratur‹ herausfallen, ihr aber trotzdem immer wieder zugeordnet werden1362. In gewisser Weise war schon das letzte Unterkapitel zu Sigfrid Gauch und Günter Seuren zwei Ausnahmetexten gewidmet, aber diese Täter-Bücher erfüllten immerhin noch im Groben bestimmte Prämissen der ›Väterliteratur‹ (beispielsweise ging es in ihnen ja tatsächlich um den Umgang mit der schweren nationalsozialistischen Hinterlassenschaft der Väter). Jutta Schuttings Der Vater und Peter Härtlings Nachgetragene Liebe entziehen sich aber tatsächlich allen Klassifikationsversuchen, die wir in dieser Studie bislang angetroffen oder selbst unternommen haben: Das Fehlen der typischen politisch grundierten Generationenkonflikte lässt uns schließen, dass es sich hier weder um ›Väterliteratur‹ im konventionellen (und in dieser Studie kritisierten) Sinne noch um Darstellungen von ›Vertrauenskrisen‹ handelt. Selbst bei den zuvor verhandelten Ausnahmefällen Gauch und Seuren hatten wir es immerhin mit genuinen Nazi-, beziehungsweise Täter-Vätern zu tun. Auch solche Konstellationen sucht man bei Schutting und Härtling vergeblich. Hinzu kommt, dass sowohl Der Vater als auch Nachgetragene Liebe stark an andere Werke im Schaffen der beiden Autoren angelehnt sind und im Grunde gemeinsam mit diesen Werken betrachtet werden müssten: Im Falle Schuttings ist Der Vater erst verstanden, wenn man auch den 1997 erschienenen Roman Der Tod meiner Mutter berücksichtigt, und Peter Härtling leistete wichtige Vorarbeit zu Nachgetragene Liebe im Roman Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung. Davon abgesehen, dass eine Analyse der relevanten Texte auch die jeweiligen Paralleltexte berücksichtigen sollte, gilt: Der Vater und Nachgetragene Liebe sind vollkommen apolitisch und fallen somit aus 1362 Nachgetragene Liebe beispielsweise bei Grimm 1982: p. 167; Assmann: p. 201; Seeba: p. 179; Kenkel: p. 181; Barner : p. 618; Forster und Riegel: p. 108; Kosta: p. 220; Hanlin: p. 86; Der Vater beispielsweise bei Grimm 1982: p. 169; Assmann: p. 213; Schmitz: p. 64; Bagley : p. 21; Figge 1990: p. 239; Kosta: p. 220; Hanlin: p. 86.

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Jutta Schuttings Der Vater und Peter Härtlings Nachgetragene Liebe

dem definitorischen Rahmen der ›Väterliteratur‹. So kann es in Bezug auf die ›Ausreißer‹ Härtling und Schutting nicht unsere Aufgabe sein, bestehende Forschermeinungen zu präzisieren und für ein neues Verständnis von ›Väterliteratur‹ zu argumentieren – die in der Folge zu diskutierenden Texte beider Autoren sind für eine wie auch immer geartete ›Väterliteratur‹ nicht zu retten. Vielmehr gehen wir davon aus, dass beide, Schutting und Härtling, Werke verfasst haben, die vom restlichen Korpus der ›Väterliteratur‹ vollkommen distinkt und ganz anderen Traditionen zuzuordnen sind. Die markanten Unterschiede, die uns diese Herauslösung zweier Autoren aus dem Kontext der ›Väterliteratur‹ vornehmen lassen, bedürfen der Analyse, und diese soll im vorliegenden Kapitel geleistet werden.

9.1. Idiosynkratische Trauerarbeit: Jutta Schuttings Der Vater Jutta Schuttings Erzählung Der Vater1363 ist, wie bereits angemerkt, ein sehr schwer zu fassender Text. Er verweigert sich sowohl den etablierten Auffassungen der ›Väterliteratur‹ als auch unseren in dieser Studie vorgebrachten Vorschlägen und Thesen: Hier wird weder ein ›Generationenkonflikt‹ verhandelt noch ein Nazi-Vater geschildert, aber ebensowenig darf man eine ›Vertrauenskrise‹ oder ein historiographisches Interesse auf Seiten des Autors konstatieren. Für einmal erscheint der Verweis auf die neue Subjektivität tatsächlich nicht ungerechtfertigt: Diese Erzählung, welche (in ›monologischer‹ Manier) die drei Tage zwischen dem Tod des Vaters – des Amstettener Tierarztes Hans Schutting – und seinem Begräbnis in den Blick nimmt und mit einigen Erinnerungen an den Vater anreichert, ist frei von politischen Fragestellungen; vielmehr gestaltet Schutting eine ganz besondere und idiosynkratische Form der Trauerarbeit (dazu später mehr). Einen ähnlichen Impetus verfolgt Schutting (seit einer Geschlechtsumwandlung 1989 als Julian Schutting1364) im 1997 erschienenen Roman Der Tod meiner Mutter, der, wie schon bei Meckel, parallel zum Buch über den Vater zu lesen ist: Die beiden Texte bilden gleichsam ein Diptychon literarischer Trauerarbeit. Damit ist Der Vater schwerlich im Kontext 1363 Grimms interessante These, wonach der Titel eine Anspielung auf den gleichnamigen Roman von Jochen Klepper aus dem Jahre 1937 darstelle, wird leider durch die Tatsachen nicht gestützt (Grimm 1982: p. 177). Schutting selber hält fest, dass ihm der Titel vom Verlag mehr oder weniger aufgezwungen wurde und er Grauer Fährten, Fadenkreuz oder Tannengraß bevorzugt hätte (Deutsche Väter : p. 50). 1364 Aus Respekt vor dieser Entscheidung figuriert Schutting in dieser Arbeit fortan als Mann, obwohl Der Vater noch vor der Geschlechtsumwandlung verfasst wurde. Der Grundsatz, dass Autor und Erzähler in dieser faktual-autobiographisch grundierten Literatur als weitgehend identisch zu betrachten sind, gilt auch hier.

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einer ›Väterliteratur‹ anzusiedeln, ob man diese nun wie bisher simplizistisch und widersprüchlich definiert oder, wie es diese Studie vorschlägt, als Manifestation einer ›Vertrauenskrise‹ und als Hybrid von Dichtung und Geschichtsschreibung. Stattdessen figurieren Schuttings Elternbücher – um die hier durchaus tragfähige Einordnung in die neue Subjektivität zu präzisieren – in einer langen Tradition des Schreibens über den Tod eines geliebten Menschen. Paradigmatisch für solche literarische Trauerarbeit sind die einschlägigen Sonettzyklen von Friedrich Rückert (Agnes’ Totenfeier, 1812) und Klabund (Sonette auf Irene, 1920), und natürlich, näher an der Gegenwart, Peter Handkes wichtiger Roman Wunschloses Unglück (1972). Die Aufarbeitung der (nationalsozialistischen) Vergangenheit, für die sich die anderen hier diskutierten Autorinnen und Autoren so brennend interessieren, ist für Schutting also kaum von Interesse und kommt nur einmal zur Sprache – und zwar ausgerechnet als Hinweis auf die Tatsache, dass solche Vergangenheitsbewältigung in diesem Fall gar nicht nötig ist: »wieso bist du kein Nazi gewesen«, fragt die Tochter den toten Vater, »was hat dich vor den Nazis gewarnt, außer deine Abneigung gegen Ordnung und Pflichten?«1365 Während also [t]he West German texts exhibit an obsession with the unknown father comparable to the intensity with which the detective attempts to find the truth[,] […] Schutting on the other hand sees herself as accepting her father as ›einen, der [mir] immer schon fremd gewesen ist‹1366«1367. Das Porträt bleibt, wie Michael Hulse richtig feststellt, stets »non-political« (es ist aber nicht zu jedem Zeitpunkt »essentially tender«1368, wie Hulse ebenfalls behauptet – hierzu später mehr). In der Tat scheint Schutting sich mit seinem Text über einen auf ganz singuläre Weise problematischen und doch geliebten Vater bewusst von den anderen ›Väterliteraten‹ abzugrenzen. Er hat die Erzählung nach eigener Aussage in Unkenntnis eines ›väterliterarischen‹ Trends geschrieben1369 und bemüht sich in den Podiumsdiskussionen der Loccumer Tagung zur ›Väterliteratur‹ auch um eine gewisse Distanz zum politisch grundierten Aufarbeitungsgestus der anderen ›Väterbücher‹. Schutting scheint »aware of a hidden discourse of national identity that is negotiated in the West German father literature« und »rejects«1370 denselben vehement – Der Vater ist für Schutting »eine individuelle Sache«1371, ihn hat »dieser eine konkrete Fall

1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371

Schutting 1983: p. 115; Hervorhebung nicht im Original. Ebd.: p. 107. Schmitz: p. 66. Hulse: p. 138. Siehe Deutsche Väter : p. 60. Schmitz: p. 67. Deutsche Väter : p. 60.

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beschäftigt, für alles andere bin ich nicht kompetent«1372. Entsprechend dankbar zeigt er sich, als die Diskussionsteilnehmer auf formale Fragen zu sprechen kommen: »Sie wissen gar nicht, was Sie mir für eine Freude machen, […] dass über Punkte und Sätze geredet wird und nicht über meine Abwesenheit von aktuellen politischen Fragen!«1373 Die apolitische und ahistorische Gestaltung des Textes hat in Schuttings Augen nicht zuletzt mit seiner österreichischen Herkunft zu tun: [W]ir Österreicher sind nicht so ernst wie die Deutschen. […] [D]ie Vorstellung, daß heute ein Jugendlicher seinem Vater, der vielleicht ein Arzt ist, sagt, er hätte doch gegen die Umweltzerstörung […] etwas tun sollen, also das erscheint mir völlig absurd. […] In Österreich sagt man: Da kann man halt nichts machen, es tut allen leid, aber daß deswegen eine Abrechnung stattfinden soll, ist mir unvorstellbar.1374

Diese These ist zwar etwas dubios, wenn man bedenkt, dass zwei der radikalsten »Abrechnung[en]« im Korpus der ›Väterliteratur‹ von österreichischen Autoren stammen (Rauter und Schwaiger) – wichtig ist hier jedoch, dass Schutting selber eine bewusste und provokative Distanzierung von politischen Fragen und vom Diskurs der Vergangenheitsbewältigung vornimmt: »[M]ich hat so vieles daran [an diesem Thema, Anm. v. J. R.] interessiert. Am allerwenigsten, mit meinem Vater abzurechnen«1375. Besonders deutlich wird diese Abgrenzung im bereits zitierten Kommentar Schuttings an Sigfrid Gauch, der ebenfalls an der Diskussion teilnimmt. Gauch wird, dies zur Erinnerung, zur Schlussszene in seinem Roman Vaterspuren befragt, in welcher er sich entscheidet, im Bett des verstorbenen Vaters zu schlafen. Er sieht die Passage als »Versuch […], eine Identifikation mit dem Vater symbolisch auszudrücken[,] […] den Vater verstehen zu lernen […] und mich dann von ihm zu lösen«1376. Schutting meint darauf spöttisch: »Ich würde das ganz anders sehen. So wie der liebe Augustin, der in der Pestgrube schläft und stolz aufsteht, sich nicht infiziert zu haben, so kommt mir das vor«1377. Schuttings bewusste Distanzwahrung gegenüber poli1372 1373 1374 1375 1376 1377

Ebd.: p. 52. Ebd.: p. 59. Ebd.: p. 53 f. Ebd.: p. 49. Ebd.: p. 81. Ebd. Interessanterweise aktualisiert Schutting diesen Gedanken – wissentlich oder unwissentlich – im Tod meiner Mutter : »vor achtzehn Jahren hatte ich im Eintreten in das Zimmer des schon weggeschafften Vaters die Mutprobe verworfen, mich für eine Nacht in sein Bett zu legen, wozu auch – um mir in einer Pestgrube vorderhand gegen den Tod immun zu sein zu beweisen? um mir mittels Abhärtungsbades in Drachenblut seinen Seelenpanzer zuzuziehen oder um alles an ihm nicht Gemochte ins Vergessen zu schlafen und nach solch einem Versöhnungsschlaf als er in jungen Jahren aus seinem Bett aufzustehen?« (Schutting, Julian: Der Tod meiner Mutter. Salzburg und Wien: Residenz Verlag, 1997. Hier: p. 167).

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tischen Fragen und der von anderen Autorinnen und Autoren angestrebten Aufarbeitung der Vergangenheit, im Verbund mit diesem fast schon bösartigen Kommentar an die Adresse Sigfrid Gauchs, gibt Helmut Schmitz recht: »Der Vater […] has to be considered apart from the bulk of West German father literature«1378. Der Vater kann aber auch nicht, wie das Schmitz tut, ohne Verweis auf den Paralleltext Der Tod meiner Mutter abgehandelt werden. Wie schon erwähnt, haben wir es hier, entsprechend den Suchbildern von Christoph Meckel, mit einem literarischen Diptychon zu tun. Wir wollen also in der Folge versuchen, einerseits die für Der Vater charakteristische Art der Trauerarbeit zu beschreiben und andererseits zu zeigen, wie der Text mit dem Tod meiner Mutter verknüpft ist; der Hauptfokus wird allerdings auf Der Vater liegen. Am Ende dieses Unterkapitels sollte somit der Irrtum geklärt sein, welcher der Einordnung von Schuttings Der Vater in die ›Väterliteratur‹ zugrunde liegt. Bei der Lektüre des letzgenannten Werks wird schnell deutlich, dass Schutting vor allem eine adäquate Schilderung einer komplexen Vaterfigur anstrebt, und eine solche Schilderung scheint eine so große Herausforderung darzustellen und wird vom Autor mit solcher Akribie unternommen, dass für politische oder historische Fragen wahrlich kein Platz bleibt. Hans Schutting tritt in der Erzählung mithin als enorm ambivalente und facettenreiche Figur in Erscheinung: Er ist ein guter, aber nicht besonders engagierter Veterinär – ein »›Diagnostiker mit intuitiver Begabung‹« –, hat ein »›schwieriges Temperament, das es ihm und den Seinen oft schwer gemacht hat‹« und hegt »Verachtung« für »Besitz und Konventionen«1379 (dies Schuttings Notizen für die Todesanzeige des Vaters). Im Grunde existieren offenbar »zwei Personen des Vaters«1380 – da ist einerseits der »Alletagevater«, der seinen Kindern gegenüber stets gleichgültig bleibt, aber in seiner »Seltsamkeit« doch liebenswürdig ist: seine Autorität war dank der Tatsache, daß er Füchse, wühlende Wildschweine und springende Pferde mit wenigen Strichen zeichnen konnte, gerettet […]. […] [B]ei uns zuhause war eine […] längst vergangene Zeit, deren Zerrbild in Ganghoferfilmen, Jägerschwänken, Wildererliedern und Altes-ForsthausGeschichten [sic] zu entdecken war […]. […] welcher Vater kam schon aus der Praxis auf einem Schimmel heimgeritten […], […] eigentlich war er eine Figur aus einem wahrscheinlich russischen Roman […] und lebte die absonderliche Biographie eines Gelehrten, Künstlers oder ins Privatleben verbannten Raubritters […].1381

Dieser Vater ist im Korpus der ›Väterliteratur‹ einzigartig: Er ist ein MöchtegernBoh¦mien, eine romantische Figur, ein Tagedieb, ein komischer Kauz, der »er1378 1379 1380 1381

Schmitz: p. 67. Schutting 1983: p. 28. Ebd.: p. 86. Ebd.: p. 86 ff.

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staunlich viel schlafen«1382 kann und sich gerne auch von den eigenen Kindern »verleugnen«1383 lässt, wenn Bittsteller und Kunden anrufen – »[e]r hat sich um keine Ordnung gekümmert […] und hat am Vormittag im Bett gelegen«1384. Diese Züge sind Schutting noch im Erwachsenenalter am Vater sympathisch, und er geht davon aus, dass sie ihn vor den ideologischen Abgründen des Nationalsozialismus zu schützen vermochten: [M]ir ist an diesem Vater als seelenverwandt lieb gewesen, daß er, ein Nichtvater, anders als viele andere Väter keinerlei Ordnung und Ordnungsmacht repräsentiert hat, der Familie wenig zugehörig und am Was-werden seiner Kinder uninteressiert, vor allem seinen Passionen gelebt hat und in den Tag hinein, von Gewaltausbrüchen abgesehen schwach war und dank seiner (intuitiv-diagnostischen) Künstlernatur und egozentrischen Überschätzung der ›Persönlichkeit‹, dank seiner Verachtung gegenüber Dilettantismus, vor allem naturwissenschaftlicher Art, und vor allem dank seiner Unfähigkeit und Unlust, sich an Vorschriften zu halten, gefeit war vor dem NaziUngeist.1385

Seine kuriose Seelenverwandtschaft mit dieser randständigen »Künstlernatur« reflektiert Schutting auch im Gedicht »Tränen«: »rotäugig er und ich vor unnützem Weinen / sind wir schon, als ich noch ein Kind war, / von den anderen gemieden / beisammengesessen«, heißt es dort, und der Vater erscheint als »Jäger / den Malern und Dichtern verwandt«1386 (mit Letzteren ist er ja tatsächlich »verwandt«). Der Verweis auf die »Gewaltausbrüche[]« lässt aber erraten, dass »es auch noch den anderen Vater« gab, den »Ausnahmezustandsvater«1387, den Säufer, der die Familie terrorisierte1388. Der dunklen Seite des Vaters ist gegen Ende des Buches eine düstere Litanei gewidmet: In einem langen Katalog werden alle Verfehlungen des Vaters aufgezählt, an die sich Schutting erinnert, verbunden durch ein anaphorisches und anschuldigendes »er hat« und »nie hat er«1389. Dabei fällt allerdings auf, dass die Charakterfehler und Missetaten des Vaters zwar teils substanziell sind – so lässt er beispielsweise das Lieblingspferd der Mutter schlachten und spricht »davon […] wie von einem lustigen Streich«1390 –, dass sie aber weit hinter den Schrecklichkeiten zurückbleiben, die Vesper, Rauter, Schwaiger und andere ›Väterliteraten‹ erlebten1391. Hans Schut1382 1383 1384 1385 1386 1387 1388 1389 1390 1391

Ebd.: p. 103. Ebd.: p. 138. Deutsche Väter : p. 47. Schutting, Julian, und Wolfgang Siegmund: Väter. Graz: Droschl, 1991. Hier: p. 17. Ebd.: p. 19. Schutting 1983: p. 87. Siehe ebd.: p. 87 ff. Ebd.: p. 137 ff. Ebd.: p. 139. Eine Traumpassage ganz zu Beginn der Erzählung ist jedoch erschütternder als der ganze Vorwurfskatalog an ihrem Ende. Jutta Schutting sitzt in diesem Traum »mit […] ge-

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ting war eben kein Nationalsozialist, kein Ideologe, kein Ordnungsfanatiker, ganz bestimmt kein (Mannheimscher) Traditionalist, und »patriarchalisch und so, das war er überhaupt nicht«1392. Selbst in der Vorwurfslitanei konzediert spreizten Beinen« im Schreibtischsessel des Vaters und erwartet seine Rückkehr : »ich drücke die Arme noch fester auf die Armlehnen, damit er weiß, wie es sein wird, wenn ich ihn umarme […]. ›so komm nur!‹, wiederhole ich leise, aber auch nicht zu leise, denn wenn ich auch wieder ein Kind bin, streift mich doch, als der Vater langsam auf mich zukommt und dann zwischen meinen Beinen stehenbleibt, die Peinlichkeit, mit der ich zehn Jahre später die peinlichsten Augenblicke der ersten Erwachsenenabenteuer erlebt habe – was wird jetzt sein? hörst du mich, Vater?, frage ich ihn, […] ich bin es, das alles bin ich, du spürst mich doch, ach bitte, du mußt nur wollen! ich kann nicht so lange stehen!, antwortet der Vater […][.] ach bitte!, wiederhole ich und drücke meine Handflächen gegen seine Fäuste, es geht ja schon, das wird dir gut tun!« (ebd.: p. 8 f.). Diese Missbrauchsszene, in der allem Anschein nach die Tochter sexuelle Handlungen mit dem Vater zu initiieren sucht, ist verstörend und womöglich nur imaginiert – die relativ genaue Datierung lässt aber durchaus vermuten, dass hier Verdrängtes an die Oberfläche gelangt (»wenn ich auch wieder ein Kind bin, streift mich doch […] die Peinlichkeit, mit der ich zehn Jahre später […]«). Die Passage ist im Roman singulär ; es gibt keine weiteren Hinweise auf ein mögliches missbräuchliches Verhältnis zwischen Vater und Tochter – ein solches wird sogar explizit verneint: »mich hat er nie angerührt« (ebd.: p. 143). Dennoch muss dieser Abschnitt in diesem Kontext, da wir uns mit der ›dunklen Seite‹ von Hans Schutting befassen, erwähnt werden, wie immer man ihn auch verstehen will. 1392 Deutsche Väter: p. 47. An dieser Stelle ist Anne Critchfield zu widersprechen, die in Der Vater eine Apologie des Patriarchats und eine Identifikation Schuttings mit der Rolle des Vaters sieht, nicht zuletzt zum Zwecke der Legitimierung der später vorgenommenen Geschlechtsumwandlung: Hans Schutting sei ein »ideal patriarch«, und sogar seine »failings« würden »excused and seen in a positive light« (Critchfield: p. 97). Der Vater sei der »hero of [Schutting’s] life« (ebd.), der Text mithin eine »literary restoration of the patriarchy […] to justify [Jutta’s] […] later gender change« (ebd.: p. 106). Diese Argumentation muss zunächst befremden, weil Critchfield suggeriert, dass Schuttings Geschlechtsumwandlung zum Zeitpunkt der Niederschrift von Der Vater bereits fest geplant war – das kann sie nicht wissen. Tatsächlich literarisiert Schutting den Effekt, den seine Wandlung von der Tochter zum Sohn auf die Beziehung zum (toten) Vater hat, erst nach der Operation, im Gedicht »Himmelskreise« (dazu später mehr). Es gibt aber keinen Grund, davon auszugehen, dass Schutting im mehr als zehn Jahre zuvor verfassten Erzähltext bereits eine Legitimitation des womöglich geplanten Eingriffs vornimmt. Auch sonst simplifiziert Critchfield in ungebührlicher Weise. Die Widerstandskraft des Vaters gegen den Nationalsozialismus beispielsweise, die Critchfield unter anderem auf die »moral and ethical quality« (ebd.: p. 98) seiner patriarchalischen Neigung für die Jagd zurückführt, hat in Schuttings Schilderung keine derart noblen Züge: Der Vater wird bekanntlich nicht aus Einsicht oder moralischer Standfestigkeit nicht zum Nazi, sondern »dank seiner (intuitiv-diagnostischen) Künstlernatur und egozentrischen Überschätzung der ›Persönlichkeit,‹ dank seiner Verachtung gegenüber Dilettantismus, vor allem naturwissenschaftlicher Art, und vor allem dank seiner Unfähigkeit und Unlust, sich an Vorschriften zu halten« (Schutting 1991: p. 17 f.). Anders ausgedrückt: Der Vater wurde allein aus Faulheit und Arroganz nicht zum Nazi. Wer aus diesen Gründen dem Nationalsozialismus widersteht, hat Glück gehabt, ist aber bestimmt kein nobler »ideal patriarch«. Kommt hinzu, dass Schutting ja selber an vielen Stellen hervorhebt, dass der Vater dieser Rolle keineswegs entsprach: »patriarchalisch und so, das war er überhaupt nicht, diese Autorität hat er nicht gehabt, hat er auch gar nicht wollen. Meine Mutter hat alles bestimmt und verwaltet, und er ist nie gefragt worden, was mit dem Geld geschieht. Er

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Schutting »die Harmlosigkeit oder Lächerlichkeit dieser und jener Schandtat«1393. So strebt Der Vater denn auch nicht unbedingt eine Versöhnung mit dem Vater an, was auch Schuttings sarkastische Reaktion auf Sigfrid Gauchs literarischen Annäherungsversuch an den Vater vermuten lässt. Zu verzeihen gibt es ja eigentlich wenig, und selbst die unvergessenen Demütigungen, die Hans Schutting seiner Familie antat, sind im Vergleich zu den Untaten anderer Väter nicht gravierend und verblassen vor der Tatsache, dass Schutting pÀre eben kein Nationalsozialist war1394 (ganz davon abgesehen, dass dem Vorwurfskatalog nicht nur der Verweis auf den liebenswerten »Alletagevater« gegenübersteht, sondern auch ein entsprechender Katalog mit Gemeinsamkeiten zwischen Vater und Tochter und positiven Zügen des Vaters1395). Damit bleibt die hier beschriebene problematische und distanzierte Beziehung zu einem janusköpfigen Vater auch im Schreibakt konstant: »Meine Art Beziehung zu ihm war mir eigentlich immer klar. Ich habe sie halt nur jetzt formuliert. Es sind schon kleine musste zu ihr kommen, er möchte gern für eine Melange Geld, in großen Verhandlungen hat sich meine Mutter dann mit kleinem Sadismus revanchiert: kriegt er das Geld, kriegt er es nicht« (Deutsche Väter : p. 47); »[Der Vater] hat […] nichts zu sagen gehabt und wollte auch nicht. Er war halt vorhanden als eine nicht sehr leicht einreihbare Figur, er ist unser Vater, aber Vater ist er doch wirklich keiner« (Deutsche Väter : p. 61; Hervorhebung im Original). Um Der Vater zu zitieren: »[Die] Mutter [verwaltete] […] alle Autorität und auch alles Wissen« (Schutting 1983: p. 56); »nach dem Krieg bleibt der Mutter einiges von der inzwischen erworbenen Selbständigkeit erhalten, […] sie verwaltet das kleine Gehalt […] und ist für keine Ausgabe Rechenschaft schuldig« (ebd.: p. 145). An Hans Schutting ist also gerade das Gegenteil dessen bemerkenswert, was Critchfield in ihm zu sehen glaubt: bemerkenswert ist nämlich, dass er »ein Nichtvater« (Schutting 1991: p. 17) war. Sogar das für einen Patriarchen essenzielle Interesse an der (patrilinearen) Genealogie und der wunschgemäßen Entwicklung seiner Kinder fehlt ihm vollkommen: »Jeder andere weiß, wann seine Kinder Geburtstag haben, er hat es nicht gewußt« (Deutsche Väter : p. 47); »[er war] am Was-werden seiner Kinder uninteressiert […] [und hat] vor allem seinen Passionen gelebt« (Schutting 1991: p. 17). In der Schilderung des Vaters wird mithin auch das Gegenteil einer »literary restoration of the patriarchy« bezweckt, und es ist unverständlich, wie es zu Critchfields Fehllektüre kommen konnte. Der Hinweis auf die Geschlechtsumwandlung ist aber vielleicht trotz allem treffend, allerdings überhaupt nicht im von Critchfield intendierten Sinne, sondern in einer spezifischen Hinsicht: Gerade die vollkommene Gleichgültigkeit des Vaters gegenüber Konventionen und tradierten patriarchalischen Rollenerwartungen könnte als Vorbild für Jutta Schuttings Wandel zu Julian Schutting gedient haben. Jedenfalls hat diese Gleichgültigkeit den Sohn auf seinem Werdegang zum Schriftsteller zweifellos inspiriert, und zwar, weil der Vater eben kein Patriarch, kein ›Vater‹ im tradierten und prototypischen Sinne war – »Vater ist er doch wirklich keiner« –, sondern ein bohÀmehaft lebender Egoist und mithin ein Vorbild für den aufstrebenden Autor Julian Schutting: »[I]ch bin […] überzeugt, ich wäre kein Künstler geworden, wenn mein Vater nicht so absonderliche Züge gehabt hätte und eigentlich kein Vater gewesen wäre« (ebd.: p. 46). 1393 Schutting 1983: p. 137. 1394 Was Schutting selber zu Protokoll gibt: »[S]päter ist es mir leichter gefallen, ihm all das nachzusehen, dadurch, dass er kein Nationalsozialist gewesen war« (Deutsche Väter : p. 48). 1395 Schutting 1983: p. 63 ff.

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Korrekturen durchs Schreiben und durchs Zurückblicken, aber für mich hat sich im ganzen nichts verändert«1396. Schutting weiss also um die Unwiederholbarkeit des Versäumten, die Tatsache, dass man sich angesichts eines »alten Vater[s]« immer so »verhält […], wie es einem einmal leid tun wird« – »[z]ugleich« aber »weiss man, dass man unter dieser Bedrohung […] mit dem Tod […] gar nicht anders handeln kann. Und ich habe immer gewusst, wenn er heute wieder da wäre, wäre natürlich die alte Befangenheit und Scheu und Distanz wieder da. Daran hätte sich gewiss nichts geändert«1397. Dementsprechend hat Schutting »vieles von dem, was ich dem Vater zuliebe hätte tun können, […] unterlassen, obwohl ich wusste, dass mir das einmal leid tun wird«1398 – und daran ist zur erzählten Zeit auch nichts mehr zu ändern. Man denkt unweigerlich an den Satz, der Schutting zufolge für die Österreicher so charakteristisch ist: »Da kann man halt nichts machen«1399. Wenn das eigene Fehlverhalten ohnehin unvermeidlich war, lohnt es sich auch nicht, es groß zu bedauern: Dementsprechend begegnet in Der Vater keine Larmoyanz; es geht, wie gesagt, weder um Versöhnung noch Aufarbeitung noch Anklage. Es geht vielmehr, wie auch im Tod meiner Mutter, um Trauerarbeit, um die Auseinandersetzung mit dem Tod eines schwierigen und dennoch geliebten Menschen, aber auch mit dem Tod an sich. Denn wie Schmitz richtig feststellt1400, ist die schiere Evidenz des Todes im Text fast erdrückender als die Tatsache, dass der Vater gestorben ist: »der Tod des Vaters […] [macht mich] vor allem als ein in meiner Nähe eingetretener Tod betroffen«1401. Das Buch ist mithin weniger eine Auseinandersetzung mit dem Tod eines Individuums als vielmehr an account of how death transforms everything in its vicinity and subjugates life to its rituals […][,] an attempt to open up the finality of death and public burial rites by means of a narrative strategy that transforms the dead person’s banishment to some fixed past into a living presence.1402

In seiner »Angst vor der Prozedur und Vollstreckung des Todes«1403 bemüht sich Schutting also um eine poetische Verlebendigung des Verstorbenen, um einen literarischen Protest gegen die »finality of death« – in diesem »Zauberkunststück«, das »einen toten Vater wieder ins Leben«1404 bringt, besteht die eigenwillige Trauerarbeit, die in dieser Erzählung geleistet wird. Auf der formalen 1396 1397 1398 1399 1400 1401 1402 1403 1404

Deutsche Väter : p. 80. Ebd. Schutting 1983: p. 40. Deutsche Väter : p. 54. Schmitz: p. 70. Schutting 1983: p. 106. Schmitz: p. 69. Schutting 1983: p. 106. Schutting 1991: p. 13 f.

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Jutta Schuttings Der Vater und Peter Härtlings Nachgetragene Liebe

Ebene bereitet Schutting dieser Trauerarbeit den Boden, indem er in assoziativer Manier »every perception and occurrence into a comprehensive web« integriert, »creating a level of symbolism out of her reality as participant in the social structure of death and burial«1405. Die Erzählung ist im Präsens gehalten – die Verwendung dieses Tempus, gekoppelt mit der »apparently random structure […] [of] the daughter’s associations, grants each temporal moment equal opportunity and breaks the dominance of the present«1406. So kreiert Schutting eine »inner simultaneity of times«, eine »temporal deceleration approaching stasis«1407. Das Resultat dieser verlangsamten und zugleich sprunghaften Sehweise sind traumartige und detaillierte Szenen, in denen Schutting mit nahezu kindlichem Blick in freiem Fluss Eindrücke protokolliert, als möchte er mit Hilfe dieser hyperpräzisen und vernetzten Perzeption den Schock eines Todesfalls in seiner nächsten Nähe überwinden. Die Verarbeitung des traumatischen Ereignisses auf der Basis dieser assoziativen Wahrnehmungsweise beginnt schon während der Zugfahrt in die Heimatstadt Amstetten: der Schritt ›ist gestorben‹ – ›wird begraben werden‹ stellt sich am Zugfenster in der Station St. Pölten ein (besorgt von dem Wort Träger auf der Kappe eines alten Mannes) und wird, schlimmer als dann in Wirklichkeit, an einer Baustelle auf freier Strecke vollzogen (unser Zug hält an, und einige Eisenbahner schleppen ein Faß die Schienen entlang und lassen es dann auf einen Tiefladewagen fallen).1408

Dass solchen Gedankengängen etwas Groteskes und – angesichts ihres Anlasses – Peinliches oder Pietätloses innewohnt, ist kein Zufall, sondern Teil der von Schutting betriebenen Strategie der Trauerarbeit. Der Tod wird nämlich im Verlauf von Der Vater stets als groteskes, im Grunde obszönes und skandalöses Ereignis konzeptualisiert. Beispielhaft dafür sind Schuttings Reflexionen über die makabre Nähe des Schlachthofs zum Sterbezimmer des Vaters: wie merkwürdig muß es für Passanten gewesen sein […], das Auto der Leichenbestattung den Fleischhauerhof verlassen zu sehen, dort hat es gewartet, auch der Lastwagen mit der Aufschrift Tierkörperverwertungsanstalt war zur selben Zeit eingetroffen. […] [ich] stoße […] in der Küchenabwasch (selbstverständlich kann man den Hund dem Vater zu Ehren nicht hungern lassen) auf ein blutiges Herz, als ob es kurz davor nicht schon genug des Befremdens gewesen wäre, daß ich, in der Absicht, das Schweinegeschrei auszusperren, ans offenstehende Vorzimmerfenster getreten, auf dem Fensterbrett […] ein […] ›Totenbeschaubefund‹ überschriebenes Formular

1405 1406 1407 1408

Schmitz: p. 71. Ebd.: p. 78. Ebd.: p. 79. Schutting 1983: p. 14; Kapitälchen im Original.

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liegen sehe und während des drüben im Kesselhaus plötzlich stockenden Maschinenlärms in einer der des Vaters ähnlichen Schrift ›Herzstillstand‹ lese.1409

Wenig später liest Schutting in der Zeitung über eine junge[] Klosterschwester, die in einem Linzer Warenhaus ein ›schwarzes Miederhöschen‹ probiert (das läßt mich begreifen, daß der Tod und alles Drum und Dran mit Recht als etwas Anstößiges in die Sphäre des Schlüpfrigen verbannt worden ist) und deshalb von der sie durch einen Spalt der Umkleidekabine beobachtenden Verkäuferin […] als verkleidete Terroristin verdächtigt wird.1410

Die eingeklammerte Bemerkung ist hier entscheidend. Schuttings Auffassung des Todes als »something obscene«1411, als Anlass großen »Befremdens«1412, bildet die Basis für sein ganzes »poetic project«: Der Vater ist mithin ein »aesthetic effort« der »resistance to the absoluteness and finality with which burial rites proclaim death and relegate the departed to a fixed past that does not extend into the present«1413. Kurzum und wie gesagt: Schuttings literarische Trauerarbeit besteht gerade im Widerstand gegen die Endgültigkeit des Todes und vor allem gegen die Besiegelung dieser Endgültigkeit durch Rituale, die als hohl erkannt und vom wachen assoziativen Blick des Autors subvertiert werden. Die hier gepflegte Ästhetik entspricht damit interessanterweise genau dem von Peter Henisch gegenüber seinem Vater vertretenen Literaturkonzept: Der Vater ist wie Die kleine Figur meines Vaters »ein Buch […] gegen den Tod und daher fürs Leben«1414. Der Text strotzt vor exemplarischen Stellungnahmen »gegen den Tod«: Als Schuttings Bruder beispielsweise die an den Vater adressierten »Geschäftsbriefe […] von Arzneimittelfirmen« mit dem Vermerk »›verstorben‹« versieht, kommt dem Autor diese banale Handlung brutal vor: »er [ist] es, der mit dem Tod des Vaters als erster ernst macht«1415. Eine ähnliche Abneigung erwecken die Kränze mit dem Schriftzug »›Letzte Grüße‹« auf der Schleife, ist […] doch das ›Letzte Grüße‹ auf den ersten Blick eine dem Vater geltende Drohung: nach diesen uns aus seinem Tod erwachsenden Kosten habt ihr in seinem Namen nichts mehr zu erwarten, keine einzige Erinnerung an ihn werden wir ausgraben oder wachhalten, denn mit dem Verblühen unserer letzten Grüße ist er für uns gestorben […].1416

1409 1410 1411 1412 1413 1414 1415 1416

Ebd.: p. 15 f. Ebd.: p. 19; Hervorhebung nicht im Original. Schmitz: p. 72. Schutting 1983: p. 16. Schmitz: p. 72. Henisch: p. 244. Schutting 1983: p. 19. Ebd.: p. 101.

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Solche Gedankengänge bezeugen einerseits Schuttings erwähnte »heftige Abneigung gegen das den Tod sanktionierende Begräbnisritual«1417 und gehören andererseits zu seinem bereits skizzierten »aesthetic effort«1418 gegen den Tod, zum »set of alternative private rituals«, die er dem »Begräbnisritual«1419 als »act [s] of imagination« und »effort[s] of remembrance«1420 entgegenstellt. Diese den Tod ablehnende Form der Trauerarbeit zielt, wie gesagt, auf eine Vergegenwärtigung des Vaters, auf eine Art Totenbeschwörung ab: In vielen mit kindlichem »vergeistigte[m] Spieltrieb«1421 vorgetragenen Reflexionen manifestiert sich Schuttings »poetic resistance to the frightful finality and absoluteness of death«1422, so beispielsweise, wenn er die unschuldigen Fragen der Enkelkinder am Begräbnis ernst nimmt und sich selber fragt, »ob die Kirchenglocken und die Blasmusik den Vater ohnehin nicht wecken würden«1423. Dementsprechend attestiert Harriet Murphy Schutting in einem anderen Kontext einen im positiven Sinne »childish mind« und sieht im Werk des Autors eine Manifestation einer »kind of childhood playing transfigured by a deeply sympathetic and appreciative ›older,‹ ›literary‹ mind« – auch Der Vater fügt sich in diese Ästhetik, ist »symbolic of our ability to use the skills we have at […] playfulness, at inventing, […] to create and stimulate our imaginative environment«1424. Wenn Schutting an einer Stelle überlegt, ob nicht der Blick auf die Leiche des Vaters »der wichtigste Schritt ins Ganzerwachsenwerden«1425 wäre und es in der Folge eben gerade nicht mehr zu diesem Blick kommt1426, dann ist Der Vater in toto, wie Schmitz richtig schreibt, als »refusal to step into ›full adulthood‹«1427 lesbar. Diese kindhafte Wahrnehmung ist es, die eine Wiederbelebung des Vaters in der Literatur erlaubt: So kann Schutting den Vater weiterleben lassen in seinen grünen (auch von mir nicht als ›Schneuzhadern‹ verwendeten und daher zu seinem Gedenken immergrünen) Taschentüchern; und vor 1417 1418 1419 1420 1421 1422 1423 1424 1425 1426

1427

Ebd.: p. 29. Schmitz: p. 72. Schutting 1983: p. 29. Schmitz: p. 73. Als solchen definiert Schutting »Virtuosität« in Schutting, Julian: Leserbelästigungen. Graz und Wien: Droschl, 1993. Hier: p. 102. Schmitz: p. 75. Schutting 1983: p. 97. Murphy, Harriet: »Schutting’s Transfiguration of Childhood in Am Morgen vor der Reise«. Critical Essays on Julian Schutting. Hg. von Harriet Murphy. Riverside CA: Ariadne Press, 2000: p. 45 – 63. Hier: p. 58. Schutting 1983: p. 25. Sogar den Blick auf den geschlossenen Sarg verweigert Schutting während der Totenfeier : »nicht einmal scheinbar-zufällig lasse ich meinen Blick den Sarg berühren«; »ich werde ihm keinesfalls entgegenschauen, höchstens aufstehen wie am Beginn der Messe […]« (Schutting 1983: p. 148, p. 152). Schmitz: p. 77.

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allem wird er für mich lebendig bleiben in […] dem von einem alten Pensionisten gebauten kleinen Eisenhammer, betrieben von einem meist nur handbreiten Kanalbach […].1428

»[W]eiterleben« wird der Vater laut Schutting aber auch in seinen mit dem Vater »geteilten […] Unarten«, in gewissen absonderlichen Zügen und Verhaltensweisen also, die das sympathische Porträt des »Alletagevaters« prägen – eine Perspektive, die Schutting ebenfalls als »tröstlich«1429 empfindet. Diesem Bemühen, »den Vater weiterleben [zu] lassen«, entspricht in Der Vater die oben erwähnte formalästhetische »stasis«1430 : Die Zeit wird hier gleichsam in einem immerwährenden Präsens eingefroren; dem »den Tod sanktionierende[n] Begräbnisritual«1431 wird so die Schärfe genommen, wie es auch durch Schuttings kindlichen Blick immer wieder subvertiert wird. Der Gestus, mit dem diese apotropäische und fast schon animistisch anmutende Form der Trauerarbeit geleistet wird, ist aber nicht auf die kindlich-assoziative Wahrnehmungsweise des Autors zu reduzieren, wie das Schmitz tut. Letzterem erscheinen die zitierten »musings«1432, in denen Schutting seine Abneigung gegen den Tod kundtut, eben nur kindlich, oder im negativen Sinne kindisch, kurz: »disrespectful and irreverent«; Schuttings Duktus kreiert nach Schmitz’ Ansicht eine »atmosphere from which the reader feels alienated«1433. Damit verkennt Schmitz in seinem ansonsten exzellenten Aufsatz den ganz eigenartigen schwarzen Humor, der Schuttings kindhaften Assoziationen eine große Souveränität verleiht und den Blick auf einen wichtigen ›coping mechanism‹ eröffnet: das Lachen über die Absurdität, über die groteske und lächerliche Natur des Todes, das Lachen aber auch in der Erinnerung an die guten Zeiten und Erlebnisse mit dem Verstorbenen. Es ist eben nicht zuletzt der humorvolle Impetus hinter Schuttings oft absurden Reflexionen und Parallelisierungen (man denke an die zitierte Passage, in der sich Sterbezimmer und Schlachthof zu verbinden scheinen), welcher die Verlebendigung des Vaters ermöglicht, der ja selber einen sonderlichen und kauzigen Humor pflegte – der freche Galgenhumor, der Schuttings Alternativritualen in Der Vater eignet, erfüllt somit sein Bedürfnis nach einem Komplott mit dem Vater, welcher […] bei Familienfeiern und ›öffentlichen Anlässen‹ dann ja doch nicht den von der Mutter vorbereiteten dunklen Anzug getragen hat und den es genauso wie mich belustigt hat, wenn sich die Mutter für ihn und für mich zu genieren müssen glaubte, und so schlage ich mich einen Tagtraum lang auf seine Seite […]: am Grab ist in meinem Auftrag heimlich der Wein vorbereitet 1428 1429 1430 1431 1432 1433

Schutting 1983: p. 80. Ebd.: p. 79. Schmitz: p. 79. Schutting 1983: p. 29. Schmitz: p. 75. Ebd.

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worden, nach welchem der Vater seinen Wirt ›Zöbinger Franzi‹ benannt hat, jeder Abschiedsteilnehmer muß den Vater mit einem letzten ›Prost‹ besprengen, ich streue die Asche seiner letzten Zigarette hinunter […]; und da auch von Kranzspenden zugunsten der Rettung stehender Gewässer abgesehen werden mußte, setzt jeder, der dem Begräbnis beiwohnen wollte, während der eigentlichen Beerdigung die ihm am Friedhofstor in einem Glas Wasser in die Hand gedrückten Schleien im Parkteich […] aus […].1434

Wenn der Vater schon tot im verhassten »dunklen Anzug« im Sarg liegen muss, so scheint es, muss wenigstens der Sohn stellvertretend die für den Vater charakteristischen charmanten Absonderlichkeiten imaginieren. Schmitz’ Kritik an den »disrespectful and irreverent musings« in Der Vater ist also entgegenzuhalten, dass es sich hier um feinen schwarzen Humor handelt, der dem Autor zu helfen scheint, den Tod des Vaters zu verarbeiten und der Schuttings Poetik im Grunde perfekt entspricht: Er betont an der Loccumer Tagung nicht umsonst, daß Kinder oder Erwachsene [die Gleichordnung überrascht nicht, pflegt doch der Erwachsene Schutting in der Erzählung einen kindlichen Blick, Anm. v. J. R.] die Courage haben sollen, an etwas Unangenehmem auch die Komik zu sehen; der tierische Ernst, finde ich, ist das Schrecklichste, das es gibt. Daß man also der betrüblichsten und peinlichsten Situation doch oft etwas wirklich Komisches und Amüsantes abgewinnen kann […] [Satzfragment, Anm. v. J. R.].1435

So überrascht es kaum, dass während der »›Zehrung‹« nach dem Begräbnis vor allem herzhaft gelacht wird: »eine Jugendfreundin aus Wien macht [den Vater] […] so lebendig, dass wir lachen […]«1436 – und eine ganz ähnliche Situation ergibt sich nach der Beerdigung der Mutter ungefähr zwanzig Jahre später, wobei kurioserweise auch dann noch der Vater im Mittelpunkt der Unterhaltung steht (hierzu später mehr): »Leichenzehrung im Bräustüberl. an unserem Tisch und von mir gelenkt, Anekdoten über den Vater – die Umsitzenden lachen, und es ist, wie wenn wir erst ihn begraben hätten«1437. Zusammenfassend dürfen wir festhalten: Die in Der Vater zur Darstellung gebrachte Trauerarbeit basiert auf einer kindlichen, assoziativen Perzeption, die das Gesehene mit subversivem Humor ausgestaltet und verarbeitet – Ziel dieser Versuchsanordnung, die formal auf einer verlangsamenden, »stasis« erzeugenden Schreibweise gründet, ist die Verlebendigung und Beschwörung des toten Vaters. Diese Vorgehensweise ist von einer gewissen Zärtlichkeit getragen, die vor allem durch Schuttings subtilen Humor generiert wird, weshalb wir Schmitz’ negativer Beurteilung der Ästhetik der vorliegenden Erzählung wi1434 1435 1436 1437

Schutting 1983: p. 29; Hervorhebung im Original. Deutsche Väter : p. 46. Schutting 1983: p. 163. Schutting 1997. Hier: p. 158.

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dersprachen. Bevor wir Schuttings Vorgehen in Der Vater nun mit dem Tod meiner Mutter in Beziehung setzen, sind noch einige präzisierende Worte zu dieser sehr idiosynkratischen Form der Trauerarbeit zu sagen. Denn Schutting tut in Der Vater gerade das Gegenteil dessen, was genuine Trauerarbeit laut Freud anstrebt. Man vergegenwärtige sich Freuds Aufsatz »Trauer und Melancholie«: Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet? […] Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen. Dagegen erhebt sich ein begreifliches Sträuben […]. Dies Sträuben kann so intensiv sein, dass eine Abwendung von der Realität und ein Festhalten des Objekts durch eine halluzinatorische Wunschpsychose […] zustande kommt. Das Normale ist, dass der Respekt vor der Realität den Sieg behält. Doch kann ihr Auftrag nicht sofort erfüllt werden. Er wird nun im einzelnen unter großem Aufwand von Zeit und Besetzungsenergie durchgeführt und unterdes die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt. Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.1438

Schuttings Trauerarbeit erfüllt die Vorgaben des »Normale[n]« nun keineswegs: In Der Vater »behält« gerade nicht »der Respekt vor der Realität den Sieg«, sondern der Autor protestiert gegen ebendiese Realität, die ihm in Form des den Tod besiegelnden Begräbnisrituals entgegentritt. Zwar geht auch Schutting die Erinnerungen an den Vater »im einzelnen« durch, aber nicht mit der Intention, eine »Lösung« vom Erinnerten zu vollziehen, sondern, im Gegenteil, um den Vater aufleben zu lassen, um ihn zu animieren. Noch das Ende des Buches erhält diesen Protest gegen das Realitätsprinzip, gegen die Obszönität des Todes aufrecht, obwohl es ganze zwei Jahre nach dem Begräbnis spielt. Es erzählt von einem Besuch Schuttings in der Klosterschule, in welcher der Vater einen großen Teil seiner Kindheit verbrachte. Nach einer Lesung sucht Schutting noch einmal die Kapelle auf, und die »Erlösung« des Vaters, die er dort erlebt, währt eben auch nur »eine Täuschung lang«: »eine Schwalbe, eben noch hat sie sich, nicht und nicht begreifend und immer wilder den falschen Weg versuchend, an den Fensterscheiben gestoßen, steigt zu dem Deckenfresko auf und verschwindet in dem blauen Himmel der Gerechten«1439. Der Himmel, in dem die assoziativ mit dem toten Vater verbundene Schwalbe verschwindet, ist nur ein gemalter – auch an ihm wird sie sich »[]stoßen«, auch er ist der »falsche[] Weg«, und mit dieser kurzen »Täuschung« endet die Erzählung. Das suggeriert, dass Schuttings Auseinandersetzung mit dem Vater noch keineswegs abgeschlossen ist: Hans Schutting ist in den Augen des Autors 1438 Freud, Sigmund: »Trauer und Melancholie«. Psychologie des Unbewussten. Hg. von Alexander Mitscherlich et al. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1975: p. 194 – 212 (= FreudStudienausgabe Bd. 3). Hier: p. 198 f. 1439 Schutting 1983: p. 173.

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noch nicht ins Totenreich eingegangen, sondern irrt unerlöst in einem Himmelssurrogat herum, in einem gemalten Himmel, der metaphorisch auf das vom Sohn kreierte literarische Kunstwerk verweisen könnte. In der »stasis« der Erzählung ist der Vater nämlich gefangen wie die Schwalbe im Deckenfresko – das ist nicht der Tod, das ist Limbo. So wird auch die für sich genommen widersinnige Beobachtung Schuttings verständlich, wonach auf einer im Stift angebrachten Gedenktafel für die Weltkriegstoten der Name des Vaters nicht vorkommt – »kein SCHUTTING HANS ist unter den Toten«1440. Der Vater ist nicht nur nicht »unter den« Toten der beiden Weltkriege (was ja von Anfang an klar ist), er ist eben überhaupt nicht »unter den Toten«, oder anders ausgedrückt: Der »Sieg« der »Realität«, der laut Freud für einen erfolgreich verlaufenen Trauerprozess charakteristisch wäre, hat bei Schutting nicht stattgefunden; vielmehr scheint Der Vater mit den vielen Versuchen, Hans Schutting zu verlebendigen und zu vergegenwärtigen, tatsächlich einer »Wunschpsychose« zu entspringen. Schuttings Trauerarbeit ist beim Ende der erzählten Zeit allem Anschein nach (und anders als Wolfgang Siegmund behauptet1441) noch nicht zu Ende geführt. Wenn Schutting also Freuds Definition der Trauerarbeit gleichsam invertiert und in seiner Erzählung einen Trauerprozess gestaltet, in dessen Verlauf die »Lösung der Libido« nicht nur nicht vollzogen, sondern rundweg abgelehnt wird, dann hat das seine Gründe. Diese sind wahrscheinlich in der problematischen und ambivalenten Beziehung Schuttings zu seinem Vater zu suchen, wie auch in den Schuldgefühlen, die Schutting nach dem Todesfall empfindet. Noch auf der letzten Seite des Romans sieht sich der Autor als »Verschulder«1442 des Todes, und immer wieder bedauert er die Versäumnisse, welche ihm und dem Vater das Leben schwer machten – die eigenen und die väterlichen: Entsprechend der resignativen Einsicht, dass man sich sowieso immer so »verhält […], wie es einem einmal leid tun wird«1443, hat Schutting vieles von dem, was ich dem Vater zuliebe tun können hätte, […] unterlassen, obwohl ich wußte, dass mir das einmal leid tun wird; manches von dem, was ich, mit dem Gedanken an seinen Tod mich bedrohend, ihm zuliebe getan habe, hat sich mir schon damals als viel zu wenig zu erkennen gegeben […].1444

Die Schuld wird noch gesteigert durch eine kurz vor dem Tod des Vaters unternommene »Reise ins Weihnachtsitalien«1445, vor deren Antritt Schutting den Eltern keine Adresse hinterlassen hatte. Um ihn zu erschrecken, schickte ihm die 1440 1441 1442 1443 1444 1445

Ebd.: p. 171. Schutting 1991: p. 15. Schutting 1983: p. 173. Deutsche Väter : p. 80. Schutting 1983: p. 40 f. Ebd.: p. 10.

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Mutter sadistischerweise einen Brief in einem »schwarzgerandete[n] […] Kuvert«1446, der Schutting bei seiner Rückkehr erwartete und zu einem nachhaltigen Schock führte. Die nächste Begegnung mit dem Vater war denn auch von einer zu spät entdeckten Liebe getragen; Hans Schutting merkte »gottseidank nicht, mit welcher Dankbarkeit ich die Fragen höre, die zeit seines Lebens ungeduldig beantwortet zu haben mir nun doch nicht auf immer leid tun muß«1447. Dieses Erlebnis nahm den Tod des Vaters vorweg und führte zu einem Aufleben der »jahrelang […] scheintot gewesenen Zuneigung«1448. Aber die Schuldgefühle traten nur sechs Monate später beim tatsächlichen Tod des Vaters wieder an die Oberfläche, wohl noch verstärkt durch die kurze Phase der Annäherung, die dem Tod unmittelbar vorausging. Die Beziehung zum Vater war also stets schuldbesetzt – durch den gemeinen Streich der Mutter wurde Schutting diese Tatsache noch kurz vor der erzählten Zeit vor Augen geführt –, und natürlich war sie geprägt von einer komplexen Dialektik aus Liebe und Abneigung, welche auf den bereits geschilderten janusköpfigen Charakter des Vaters zurückzuführen ist. Aus dieser Gemengelage erklärt sich wohl die Notwendigkeit von Schuttings anti-Trauerarbeit, die eben gerade nicht auf eine Lösung vom, sondern auf eine Vergegenwärtigung und Verlebendigung des toten Vaters abzielt: Es existieren ja zum Zeitpunkt des Todes gar keine besonders starken libidinösen Bindungen an den Vater, die der Auflösung durch Trauerarbeit bedürften – diese Distanziertheit und Ambivalenz der Beziehung zum Vater ist es gerade, die bei Schutting Schuldgefühle auslöst. Deshalb wird eine beschwörerische ›Animation‹ des toten Vaters erst nötig. Um sich nicht in Schuldgefühlen über das Versäumte und in Gram über das nicht Verziehene zu verlieren, muss Schutting den toten Vater poetisch wiederbeleben und sich klar werden über dessen Qualitäten und charakterliche Defizite – daher die Verweigerung des Realitätsprinzips und der Versuch, den »Vater weiterleben [zu] lassen«1449, daher die Entschleunigung der Ereignisse bis hin zur Stasis in der formalen Gestaltung. Mit der Ruhe und Distanz, die aus dieser formalen Anlage entstehen, aber auch mit Hilfe des bereits erwähnten humorvoll-kindlichen Blicks, kann der Autor schließlich erinnernd und assoziierend ein Vaterbild kreieren, zu dem eine libidinöse Beziehung möglich wird. Anders ausgedrückt: Die akribische Trennung des sympathischen »adventurous, semi-mythical«1450 Vaters vom brutalen Säufer erlaubt es Schutting, eine liebevolle Beziehung zum toten Vater aufzubauen, die in dieser Form zum lebenden Vater nicht möglich war. Denn erst nach dem Tod 1446 1447 1448 1449 1450

Ebd. Ebd.: p. 11. Ebd. Ebd.: p. 80. Schmitz: p. 81.

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des Vaters kann Schutting dessen Qualitäten nüchtern und objektiv anerkennen und sich vor allem im Vater wiederfinden: in der »Künstlernatur«1451 des »Alletagevaters« nämlich, dessen bohÀmehafte Lebensweise, »den Malern und Dichtern verwandt«1452, ihn nicht zuletzt vor den Verheißungen des Nationalsozialismus schützte. Mit diesem Vater möchte er ein »Komplott«1453 eingehen, und im Prozess des Erinnerns und literarischen Wiederbelebens fällt es Schutting letztlich »tröstlich leicht«, sich zu vergegenwärtigen, »wie der Vater in mir weiterleben wird«1454. Noch zu Beginn des Textes, in der ersten Schockstarre der Schuldgefühle, bedauerte Schutting »unsere[] wenigen Gemeinsamkeiten«1455 ; es hat also offenbar, da es Schutting zuletzt leicht fällt, sich vorzustellen, wie der Vater in ihm weiterleben wird, eine »tröstlich[e]« Entwicklung stattgefunden. Wie gesagt: Erst im Rückblick, erst nach dem Tod des Vaters kann sich Schutting in dieser Form über seine Beziehung zum Vater Klarheit verschaffen, denn zu Lebzeiten ist man seiner Meinung nach ja gerade dazu verdammt, die dysfunktionalen und kränkenden Mechanismen zu perpetuieren – »man […] weiss [immer schon], man verhält sich, wie es einem einmal leid tun wird […] [und] man [weiss], dass man unter dieser Bedrohung […] mit dem Tod[] gar nicht anders handeln kann«1456. So kann Schutting zwar zugeben, dass sein Bruder, wie der Vater ein leidenschaftlicher Jäger, diesen »mehr geliebt [hat] als ich und besser verstanden« – »aber« nun, nach dem Tod des Vaters, darf Schutting auch feststellen: er war trotzdem mehr mein Vater als der deine […]. du hast Waffenkataloge studiert, verschiedene Waffen ausprobiert und ihm dann die Vorzüge und Nachteile dieser und jener Waffe erklärt, aber er hat dann doch immer nur die gekauft oder eingetauscht, deren Namen er vertraut hat wie ein Dichter seinen Worten!1457

Diese Feststellung einer überraschenden Geistesverwandtschaft mit dem Vater wird erst möglich im Verlauf der literarischen Herausarbeitung seines künstlerhaften Naturells, seiner Gemeinsamkeiten mit »den Malern und Dichtern«1458, seiner »intuitive[n] Begabung« und seiner »Verachtung von Besitz und Konventionen«1459 – Züge, mit denen sich Schutting zu identifizieren vermag und die er im Kontext seiner sorgfältigen dichterischen Arbeit von den Schandtaten des Vaters trennen kann (und besagte Schandtaten figurieren nach wie vor »als 1451 1452 1453 1454 1455 1456 1457 1458 1459

Schutting 1991: p. 17. Ebd.: p. 19. Schutting 1983: p. 29. Ebd.: p. 79. Ebd.: p. 22. Deutsche Väter : p. 80. Schutting 1983: p. 82. Schutting 1991: p. 19. Schutting 1983: p. 28.

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Nichtvergessenes und daher auch Nichtverziehenes«1460 im Buch). So lässt sich das in Der Vater realisierte Projekt beschreiben als »transformation of the real father into a poetic construct for which the narrator is allowed to have tender and fatherly feelings«1461, oder einfach als Realisierung der von Schutting selbst formulierten Hoffnung: möge sein Tod in der Weise väterlich gewesen sein, wie er es nicht gewesen ist, ohne daß ihm deshalb im letzten Augenblick die versäumte Väterlichkeit leid tun mußte; möge meiner Erinnerung ein einziges Etwas als väterlich-umsichtig, väterlich-mild oder väterlich-besorgt aufgehen, damit mir zu ›väterlich‹ nicht nur ›väterlicherseits keine Verwandten‹ einfällt.1462

Dieses liebenswerte »poetic construct« des Vaters ist aber, wie wir gesehen haben, kein verfälschtes; der Vater wird nicht kanonisiert, und Einiges bleibt »[n]ichtvergessen[] und […] [n]ichtverziehen[]«1463. Nun sollte klar geworden sein, weshalb Schutting in Der Vater gerade das Gegenteil der konventionellen Freudschen Trauerarbeit betreibt: Er muss sich eben zuerst schreibend an den Vater herantasten, dessen positive Seiten von den schlechten scheiden ohne letztere zu vergessen oder zu verzeihen, muss im Schreibakt eine libidinöse Bindung an das tote Objekt überhaupt erst aufbauen, die dann mittels konventioneller Trauerarbeit gelöst werden könnte – sie wird es aber, wie wir gesehen haben, nicht; das Buch hat ein offenes Ende, der Vater bleibt (vorerst) unerlöst. Was in Der Vater geleistet wird, ist mithin nicht die Trauerarbeit selbst, sondern deren Vorarbeit: Schutting schafft in der Erzählung die Prämissen, die es ihm in den Jahren nach dem Tod des Vaters erst erlauben werden, das traumatische Ereignis zu überwinden, und so lange bleibt der Vater als Schwalbe im gemalten Himmel der Erzählung bewahrt. Schutting nimmt mit diesem Vorgehen gleichsam einige aktuellere Beiträge zur Trauerforschung vorweg, die ebenfalls nicht (mehr) von einem Freudschen Phasenmodell mit der »Notwendigkeit einer restlosen Distanzierung vom Toten«1464 ausgehen, sondern verschiedene »Traueraufgaben« postulieren, worunter eine der wichtigsten genau das vorsieht, was Schutting in seiner Erzählung tut: für die tote Person im emotionalen Leben einen neuen Platz finden, der es erlaubt, sich an sie zu erinnern. […] [D]ie Beziehung [zum Toten] [bleibt] bestehen, sie wird nur der neuen Realität angepaßt und entsprechend verändert. In der Erinnerung bleiben die 1460 1461 1462 1463 1464

Ebd.: p. 172. Schmitz: p. 82. Schutting 1983: p. 46; Hervorhebung im Original. Ebd.: p. 172, siehe auch Schmitz: p. 83. Langenmayr, Arnold: »Trauer und Trauerverarbeitung aus psychologischer Sicht«. Totengedenken und Trauerkultur. Geschichte und Zukunft des Umgangs mit Verstorbenen. Hg. von Markwart Herzog. Stuttgart: Verlag Kohlhammer, 2001: p. 23 – 39. Hier: p. 26.

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Bande bestehen, können die positiven wie auch die negativen Aspekte und Einflüße weiter wirken.1465

Erst wenn diese Aufgabe bewältigt ist, so darf man annehmen, wird eine therapeutische Aufarbeitung der Beziehung zum Toten möglich. Der Vater schildert genau diesen Prozess der Suche nach »eine[m] neuen Platz« für den toten Vater »im emotionalen Leben« des Autors, unter Bewahrung der »positiven wie auch [der] negativen Aspekte und Einflüsse« – am Ende der Erzählung scheint dieser Platz gefunden, und die ›echte‹ Trauerarbeit, die Verarbeitung des Todes des Vaters und der Beziehung zu ihm, kann nun erst beginnen. Wir haben uns bislang stark an Helmut Schmitz’ anschlussfähigem Aufsatz zu Der Vater orientiert, den wir nur in einem Punkt zu präzisieren hatten (namentlich in Bezug auf Schuttings Humor, für den Schmitz kein Sensorium zu besitzen scheint1466). Nun ist aber noch eine weitere Ergänzung zu Schmitz’ Vorgehensweise zu machen, denn Der Vater ist, wie gesagt, parallel zum Roman über den Tod meiner Mutter zu lesen. Das in jener Erzählung begonnene und soeben skizzierte Projekt einer idiosynkratischen Trauerarbeit wird in diesem Roman nämlich wieder aufgenommen und zum Abschluss gebracht. Julian Schuttings ganz und gar nicht ›väterliterarischer‹ Protest gegen die Obszönität des Todes liegt eben in der Form eines Diptychons vor, in Form eines eng verzahnten Romanpaars über Sterben und Tod von Vater und Mutter. Der größte Unterschied zwischen den beiden Werken ist sicherlich, dass Schutting den langwierigen Sterbeprozess der Mutter aus nächster Nähe miterlebt, während der Vater ganz plötzlich einem Herzstillstand erlag – anders als Der Vater behandelt Der Tod meiner Mutter also auch »[d]ie Hilflosigkeit, wenn man, ohne helfen zu können, bestimmt ist, ein Sterben ›mitzuerleben‹«1467. Auch ist die Beziehung zur Mutter weit weniger ambivalent und komplex als diejenige zum schrulligen Vater: Schutting dankt ihr für »zeitlebens erfahrene Mutterliebe«1468. Der Gemeinsamkeiten zwischen Der Vater und Der Tod meiner Mutter sind allerdings viele, besonders im Hinblick auf Schuttings Attitüde zu Tod und Sterben und natürlich auf die oben herausgearbeiteten Versuche einer Trauerbewältigung. Auch das ›Mutterbuch‹ ist ganz unpolitisch. Zwar habe sich die Mutter offenbar, da sie, anders als der Vater, kein stadtbekanntes Original mit einer Abneigung gegen Autoritäten war, einiger »Jugendirrtümer« schuldig ge1465 Ebd. Siehe auch: Worden, James William: Beratung und Therapie in Trauerfällen. Ein Handbuch. Bern et al.: Huber, 1987. 1466 Natürlich würden wir auch der von Schmitz getätigten Klassifizierung der Erzählung als ›Väterliteratur‹ scharf widersprechen; der Text hat, wie gesagt, kaum etwas mit den anderen ›Väterbüchern‹ gemeinsam, und wir verorten ihn in einer ganz anderen Tradition – wir werden das am Ende des Kapitels nochmals klar herausstreichen. 1467 Schutting im Klappentext zu Der Tod meiner Mutter. 1468 Schutting 1997: p. 84.

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macht – aber für diese, so eine etwas sadistisch anmutende Reflexion Schuttings, scheine sie nun in ihrem tödlichen Krankheitsleiden zu büßen, und außerdem habe sie bereits unmittelbar nach dem Krieg nichts als Reue in Bezug auf die Nazizeit verspürt: »›wären danach doch wir alle, die am Anfang dafür gewesen sind, umgebracht worden!‹«1469 Ihre Liebe zu den Kindern sei zudem so natürlich und instinktiv gewesen, dass sie es »nie mit der faschistischen Kunst gehabt« haben könne, da diese »Selbstverständliches, wie daß Mütter ihre Kinder umsorgen […] mit hohlem Pathos aufbläht«1470. Dem Tod und dem Sterben begegnet Schutting in diesem Text mit derselben Haltung wie in Der Vater, und die im ›Mutterbuch‹ geleistete Trauerarbeit hat einen ganz ähnlichen Impetus: Der Tod ist ein Skandal, und eine bestimmte Wahrnehmungsweise, gestützt von subtilem schwarzem Humor und dem Versuch, »an etwas Unangenehmem auch die Komik zu sehen«1471, kann einem helfen, diese Obszönität zu ertragen. Durch die Begleitung des qualvollen Sterbens der Mutter erhält Schuttings literarischer Protest gegen den Tod allerdings noch eine neue und schärfere Note: gegen Abend liegt die Mutter allein, im Nebenzimmer […], und dieser weit größere Raum ist ausgefüllt von dem Gestank, welcher zirka zwölf Stunden vor einem Wettersturz aus Kanälen aufsteigt. an diesen Übelruch läßt es sich nicht gewöhnen. […] dieses um [die Mutter] nun zum Zerreißen Geblähte ist sie selber, ihr Bauch! und nun erst zu sehen, daß das ein schwarzer, nämlich brauner Tag ist: was sie in die Papierschale und in Zellstofftücher erbricht, ist von dunkelbrauner Farbe (und gibt diesen Kloakengeruch ab).1472

Dass dieses Leiden zudem ein institutionalisiertes ist, gibt ihm noch eine weitere Dimension; die Mutter wird, wie viele Schwerkranke, zum Spielball der Ärzteschaft: die unversehens entblößte Achselpartie gibt deinen Blicken das dem Rücken der Frau Welt Angedichtete frei – ›Pusteln‹ also nennt sie, was Knospen von Pestbeulen sein könnte auf kaktusähnlich sprießendem faustgroßem Gewächs […]. ›war heute schon Visite?‹ mit einem um sie gelegten Ärzteschwanz sei der Herr Primar kopfschüttelnd dagestanden; ob ihr ein Eingriff noch zumutbar sei, hänge von der diesbezüglichen Freigabe seitens der Internisten ab (eine solche wird noch folgen, freilich erst die zur Transferierung in die Leichenhalle).1473

»›Spitzenreiter in Menschenrechtsverletzungen‹« ist somit nach Schuttings Ansicht – wiederum vorgebracht mit dem schon für Der Vater charakteristi1469 1470 1471 1472 1473

Ebd.: p. 114. Ebd.: p. 84. Deutsche Väter : p. 46. Schutting 1997: p. 28. Ebd.: p. 68.

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schen Galgenhumor – nicht etwa »Kuba«, was Amnesty International zur erzählten Zeit ermittelt zu haben glaubt, sondern »doch wohl der liebe Gott«1474. An anderer Stelle ruft Schutting »schnell in Wien an« und verkündet launig, dass er der Mutter »ein Ultimatum gestellt« habe: [›]siebzehn Uhr punkt alles erledigt, tutto finito, oder sie sei für mich gestorben. Siebzehn Uhr pünktlich, oder ich hab von Stund an kein Mütterchen mehr!‹, und lache. so geschmacklose Witze mache man nicht einmal am Telephon. (mich aber hat dieses Scherztreiben mit Tieftraurigem für ein paar gnadenvolle Sekunden von der tieftraurigen Wahrheit befreit […]).1475

Nur so, nur mit todesverneinendem Lachen, kann Schutting offenbar den hilflos miterlebten Qualen beikommen – diese »Erfahrung« beschreibt der Autor schon im Klappentext des Buches: »beim Sterben zuzuschauen wird einem leichter dann, wenn man sich nolens volens aus dem Betrüblichen Helleres aufsteigen läßt an vergleichbaren Anschauungsbildern…«1476. Was bei der Trauerarbeit im Tod meiner Mutter allerdings fehlt, sind die animistischen Verlebendigungsversuche – Schuttings Beziehung zur Mutter ist, wie gesagt, im Gegensatz zu seiner Beziehung zum Vater intakt und liebevoll, was das aufwendige Vorgehen aus Der Vater unnötig macht (die libidinösen Bindungen zur Mutter bestehen also bereits und müssen nicht erst posthum in schwerer literarischer Arbeit etabliert werden). Außerdem trifft der Tod die Familie nicht unvorbereitet, und so bleibt Schutting viel Zeit, sich mit dem Unvermeidlichen auseinanderzusetzen und es zu akzeptieren. Mit anderen Worten: Die Leistung, die Der Vater vollbringt, ist die einer Vergegenwärtigung des geliebten, aber problematischen Vaters, einer ambivalenten quasi-Versöhnung mit einem, der für Versöhnungen eigentlich gar nicht mehr zur Verfügung steht, da er schon tot ist – so schafft die sorgfältig komponierte Erzählung, wie wir zeigen konnten, die Voraussetzungen für eine konstruktive Trauerarbeit und eine echte Verarbeitung des Verlusts: Sie ermächtigt den Autor, Schuldgefühle und alte unvergessene Streitigkeiten und Demütigungen zumindst temporär zu überwinden und mit den Mitteln der Dichtung einen neuen Bezug zum Vater herzustellen. Die Herausforderung im Tod meiner Mutter ist dagegen schlicht eine andere: Nicht die Beziehung zur Mutter ist zu verhandeln, diese war, wie oben erwähnt, positiv und keineswegs schuldbeladen. Schuttings apotropäische Poetik ist hier in anderer Weise gefordert, nämlich in der Auseinandersetzung mit dem bereits geschilderten langen und qualvollen Sterbeprozess. Ist dieser erst überstanden – und im Buch ein zweites Mal überstanden, indem es Schutting gelingt, ihn in einer tröstlichen und würdevollen Weise darzustellen –, so ist das Schlimmste 1474 Ebd.: p. 56. 1475 Ebd.: p. 122 f. 1476 Schutting im Klappentext zu Der Tod meiner Mutter.

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überwunden. Dementsprechend zeigt sich Schutting befremdet, wenn man ihn, nachdem die Mutter endlich gestorben ist, ermahnt, er müsse »jetzt […] ganz stark sein«: »wieso eigentlich, und noch dazu jetzt, wo alles ausgestanden ist? […] nein, wir brauchen jetzt gar nicht stark zu sein. danken Gott, nicht eine Sekunde Vernichtendes wie das erlebt zu haben: daß eine Mutter die eigenen Kinder seit drei Jahren nicht mehr erkennt!«1477 Im Gegensatz zum Tod des Vaters scheint also der Tod der Mutter eine befreiende Wirkung zu haben. So kann im Tod meiner Mutter auch, zwanzig Jahre nach dem Tod des Vaters, das offene Ende von Der Vater subtil vereindeutigt werden. Wir erinnern uns: Die Erlösungsszene am Ende von Der Vater ist eine Täuschung; die Erzählung hat nur die Bedingungen für erfolgreiche Trauerarbeit geschaffen, und diese liegt nach der Niederschrift des Textes noch vor dem Autor. Im Tod meiner Mutter kommt die Verarbeitung des Todes des Vaters endlich an ihr Ende: Dass jetzt beide Eltern tot sind, macht eine wohlwollende und abschließende Rückschau möglich, erlaubt in Anbetracht der Tatsache, dass die Mutter »zweiundachtzig gesunde Jahresringe« mehrheitlich glücklich »durchlaufen«1478 hat, vielleicht gar die Verzeihung der zuvor noch »[n]ichtverziehene[n]«1479 Untaten des Vaters. Ein Zeichen dafür mag der Umstand sein, dass die Mutter »wie der Vater an einem 20. Juni gestorben ist« – zwar warnt Schutting davor, diesen Zufall zu »mißdeute[n] […] als […] Beweis für eine Zusammengehörigkeit zweier, die besser niemals zusammengekommen wären«1480. Er schließt aber nicht aus, dass man angesichts des geteilten Todesdatums zum »Aberglauben« gelangen könnte, »zwischen den beiden habe ihnen zeitlebens verborgen Gebliebenes achtzehn Jahre lang unter und auf der Erde fortbestanden; nun endlich komme sie ihm in sein Bett nach […]«1481. In der Folge lässt Schutting diesem Zufall entsprechend den Tod der Mutter und den Tod des Vaters gleichsam miteinander zerfließen. Die Begräbnisrituale zum Beispiel subvertiert Schutting in beiden Texten mit einer ganz ähnlichen Strategie der assoziativen Groteskerie. Bei der Beerdigung der Mutter fällt ihm auf, dass die Sargträger, als sie die Mutter in ihr Grab senken, »an den Zugseilen wie Fischer an ihren Netzen«1482 wirken – dieselbe Beobachtung machte der Autor beim Begräbnis des Vaters mit Bezug auf den »alte[n] Kamerad[en]«, der am offenen Grab eine Fahne mit der Aufschrift »›Dem Volk und der Heimat treu‹« schwenkte (»wenn nicht er, so bin ich beim falschen Begräbnis«, bemerkt Schutting sardonisch): »[er] senkt […] die Fahne (diese Bewegung könnte der Traum eines Fischers vom Fischen sein 1477 1478 1479 1480 1481 1482

Schutting 1997: p. 148 f. Ebd.: p. 148 f. Schutting 1983: p. 172. Schutting 1997: p. 135. Ebd. Ebd.: p. 155.

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[…])«1483. Auch die beiden »Leichenzehrung[en]«1484 verlaufen, wie gesagt, ganz ähnlich: In beiden Fällen tröstet das gemeinsame Lachen die Trauernden. Bemerkenswerterweise wird aber beim Leichenschmaus für die Mutter, wie oben gezeigt, zuerst lachend des Vaters gedacht, bevor sich der heilsame Humor der Mutter zuwendet. An dieser Stelle verschmelzen die beiden Trauerprozesse endgültig: an unserem Tisch und von mir gelenkt, Anekdoten über den Vater – die Umsitzenden lachen, und es ist, wie wenn wir erst ihn begraben hätten. zwischen Hauptspeis und Nachspeis schnell hinüber in die Rathausstraße, zum Schaukasten des Turnerbundes: und aus der gehabten Herzensleere steigen dir die Tränen auf: lachend sitzt sie in einem Sportpullover an einem Holztisch unter Bäumen: so, genau so, hat sie noch letzten Sommer ausgesehen; du jedoch hattest das über ihrer Krankheit vergessen! aber mit ihrem aus dem Verschwimmen zurückgeholten Lachen ist dir Mitaufgestiegenes gelöscht: daß du sie wirklich nie mehr wiedersehen wirst.1485

Die Eltern sind am gleichen Tag gestorben, ruhen im gleichen Grab1486, und wenn, wie oben beschrieben, die Traueraufgaben in Der Vater und Der Tod meiner Mutter auch entsprechend der Unterschiede zwischen den Eltern differieren, so werden beide doch auf ähnliche Weise verabschiedet und erinnert: namentlich im Zeichen eines tröstlichen Lachens. So überrascht es nicht, dass auch das offene Ende von Der Vater mit seinem Vogelmotiv im Tod meiner Mutter nochmals aufgenommen und, wie schon vorweggenommen, vereindeutigt wird: Auch am Ende dieses Buches steht ein Besuch in einem »Stift«, im Rahmen einer der letzten gemeinsamen Wanderungen, die Schutting mit der Mutter unternahm. Auch in diesem Stift ist eine verirrte Schwalbe in der Deckenkuppel gefangen; die tierliebe Mutter verlässt das Gebäude mit den Worten »das kann ich nicht mitansehen«1487. Anders als die Schwalbe in Der Vater wird diese Schwalbe aber nun tatsächlich ›erlöst‹: »[ich] hatte mich vor die rasch dem Sonnenlicht geöffnete Tür gesetzt, Schwalbenpfiffe nachgeahmt und wenig später war sie über mich hinweg hinausgeflogen«1488. Die Schwalbe ist hier zwar nicht wie in Der Vater klar mit dem toten Vater assoziiert. Die frappierende Ähnlichkeit der Passagen, wie auch die ›Gegenwart‹ des Vaters in den Begräbnisszenen der Mutter, lässt jedoch die Annahme plausibel erscheinen, dass Schutting hier eine Anspielung auf und eine Revision des Endes 1483 1484 1485 1486

Schutting 1983: p. 160. Schutting 1997: p. 158. Ebd.: p. 158 f. Der Sarg der Mutter liegt laut Schutting »auf oder neben de[m] des Vaters« (Schutting 1997: p. 155). 1487 Schutting 1997: p. 159. 1488 Ebd.

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von Der Vater vornimmt. Die nur vorgetäuschte »Erlösung«1489 des Vaters im gemalten Himmel wird zwanzig Jahre später, auf der letzten Wanderung mit der Mutter, aufgehoben – und die durch dieses »Kunststück« der Schwalbenbefreiung implizierte Versöhnung mit dem Vater geschieht allein der Mutter »zuliebe […], die eher Kinder herumirren sehen könnte als herrenlos gewordene Hunde: weil jene leichter zu trösten«1490. Mit dem Tod der Mutter, der, wie wir gesehen haben, auch Erinnerungen an den Vater weckte, erhält die Episode für Schutting offenbar eine noch profundere Bedeutung, weshalb er sie im Tod meiner Mutter berücksichtigt. Nach der Befreiung der Schwalbe und dem Tod beider Eltern gibt es mithin keine Differenzierungen mehr, weder zwischen Vater und Mutter noch im Kleinen zwischen dem ›guten‹ und dem ›bösen‹ Vater – die Eltern ruhen zusammen, sind im Tod versöhnt, und der Sohn gedenkt ihrer beider mit denselben liebenden Gefühlen: soll mir recht sein beider Verschwimmen, wohnen nun ja auch wieder zusammen, wie zu seinen Lebzeiten als nicht feinsäuberlich Geschiedene; und so unterbleibe jede posthum doppelt kleinliche Unterscheidung wie: heute, an seinem Geburtstag, besuch

1489 Schutting 1983: p. 173. 1490 Schutting 1997: p. 159. Allerdings kam Schutting schon vor dem Tod seiner Mutter nochmals auf das Vogelmotiv zurück. Im in Fn. 1394 erwähnten Gedicht »Himmelskreise« beobachtet der Autor am frühen Morgen des »13. Todestag[s]« des Vaters einen Bussard über den Dächern von Wien, den er mit dem Vater assoziiert: »welch ein Morgen, mit einem Bussard / am Himmel den Tag zu beginnen, / Bussardmorgen in Wien, das wäre etwas, / dem Vater zu erzählen, / und dass solche Sohnesschaftsnachweise / seit Jahren unterbleiben müssen / […] einzig dafür könnte ich / sein Tot-sein für immer bedauern!« (Schutting 1991: p. 24). »in dem Bussard lebe er fort«, wünscht sich Schutting, »den als meinen ersten / er mir als kleinem Kind gezeigt hat, / an einem Donautalhimmel« (ebd.: p. 26). Schuttings ornithologisches Wissen bildet hier die Basis für eine Annäherung an den toten Vater, für einen mit Stolz erbrachten »Sohnesschaftsnachweis[]«. Dieser könnte dem Autor aus einem ganz spezifischen Grund dreizehn Jahre nach dem Tod des Vaters plötzlich wichtig geworden sein: Der Vater verstarb 1977, lange vor Schuttings Geschlechtsumwandlung, und so muss das Gedicht 1990 entstanden sein, also nur ein Jahr nach der Operation – Grund genug, das Verhältnis zum toten Vater gleichsam neu zu verhandeln und, eben, einen literarischen »Sohnesschaftsnachweis[]« zu kreieren. Der versöhnliche Ton dieses Gedichts und besonders der abschließende Wunsch, der Vater möge »in dem Bussard« fortleben, nimmt auf jeden Fall die Erlösungsszene in Der Tod meiner Mutter vorweg – aber was hier gestaltet wird, ist meines Erachtens in erster Linie eine poetische Selbstbehauptung des Dichters, der dem Vater in »Himmelskreise« wohl erstmals als frisch geborener Julian Schutting begegnet. Critchfield postulierte bekanntlich, dass diese Selbsthauptung bereits in Der Vater geschehe, aber wir lehnen diese Interpretation ab (siehe abermals Fn. 1394) – ein kurzer Blick auf »Himmelskreise« offenbart, dass Schutting eine literarische Reflexion der Beziehung zum Vater im Lichte der Geschlechtsumwandlung wohl tatsächlich erst nach der Operation vornimmt, eben im hier diskutierten Gedicht. Critchfields Interpretation von Der Vater bleibt spekulativ und ist kritisch zu sehen.

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ich nur ihn, dafür wird am Muttertag nur vor ihrem Grab gestanden!, höchste Zeit, dir doch noch den Begriff ›Eltern‹ zu eigen zu machen!1491

Zusammenfassend gilt: Die vielen Lötstellen, welche die Texte verbinden, zeigen, dass unsere erste Einschätzung korrekt war. Der Vater und Der Tod meiner Mutter bilden ein akribisch gestaltetes und stark vernetztes Romanpaar, das keineswegs im Umfeld einer wie auch immer gearteten ›Väterliteratur‹ zu situieren ist, sondern in der zu Beginn dieses Unterkapitels erwähnten Tradition einer mit trauerndem und apotropäischem Gestus verfassten ›Todes-‹ oder ›Trauerliteratur‹. Es geht in Schuttings Diptychon literarischer Trauerarbeit weder um Politik noch Geschichte noch Abrechnung und Aufarbeitung, sondern allein um die Bewältigung zweier schmerzhafter Verluste im engsten Familienkreis. Diese Bewältigung geschieht in beiden Werken auf der Basis einer ganz spezifischen Wahrnehmungsweise des Autors und Erzählers in Personalunion: Schutting schildert Sterben und Tod in assoziativer, oft kindlich-grotesker und humoristischer Manier und mildert so den Schmerz über die schlimmen Ereignisse. Dabei haben wir in Bezug auf Der Vater zeigen können, dass hier eine im Grunde invertierte Trauerarbeit stattfindet, welche auf eine literarische Wiederbelebung des Verstorbenen abzielt – diese frappierende (und im freudianischen Sinne psychotische) Anlage des Textes haben wir mit der Notwendigkeit erklärt, die Beziehung zum Vater zunächst neu zu verhandeln, bevor die Ablösung von ihm vollzogen werden kann. Das offene Ende der Erzählung ließ uns vermuten, dass erst mit der Vollendung dieses sorgfältig gezeichneten Vaterporträts eine genuine Trauerarbeit beginnen konnte. Der Tod meiner Mutter bestätigte sodann diese Annahme: Hier wird ein grausames und schmerzhaftes Sterben geschildert, an dessen Ende ein tröstliches und befreiendes Trauern steht, das den Vater endlich ebenfalls zu seinem Recht kommen lässt und die gemeinsam begrabenen Eltern für Schutting als solche – eben als Eltern – begreifbar macht, derer gemeinsam gedacht werden darf und soll. Man könnte sich an dieser Stelle mit einigem Recht fragen, weshalb wir einem Autor und zwei Werken, die offenbar keineswegs zur ›Väterliteratur‹ gehören und nicht einmal mit unseren neu geschöpften Begrifflichkeiten zu fassen sind, in dieser Arbeit so viel Platz eingeräumt haben. Schließlich stellen sich Schuttings Texte nun wirklich zu allem quer, sowohl zu den bisherigen Auffassungen der ›Väterliteratur‹ als auch zu unseren Vorschlägen einer Neudefinition und Rekontextualisierung dieser literarischen Strömung; sie sind mithin, wie mehrfach gesagt, einer ganz anderen Tradition zuzuordnen (wobei man die beiden Bücher im Groben durchaus der neuen Subjektivität zurechnen dürfte; ihre Zugehörigkeit zu einer langen Tradition der ›Trauerliteratur‹ sollte darob 1491 Ebd.: p. 169 f.

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aber nicht vergessen gehen). Es ist aber ein erklärtes Anliegen dieser Studie, bestehende Missverständnisse und literaturwissenschaftliche Fehlurteile aufzuzeigen und zu revidieren, und eines dieser Fehlurteile ist nun einmal, wie wir in diesem Unterkapitel zeigen konnten, die Klassifizierung von Der Vater als ›Väterliteratur‹. Auch dieser Befund stellt meines Erachtens einen genuinen Erkenntnisgewinn dar, ebenso wie die hier erstmals unternommene Analyse der Trauerarbeit in Der Vater im Vergleich mit dem Paralleltext Der Tod meiner Mutter.

9.2. Ein Werk der neuen Subjektivität: Peter Härtlings Nachgetragene Liebe In Bezug auf Schutting konnten wir zeigen, dass der Autor einen privaten Akt der Trauerbewältigung literarisiert. Die ansonsten für die ›Väterliteratur‹ typische ›Vertrauenskrise‹ und das historiographisch-politische Interesse fehlen vollkommen. Wir ordneten Schuttings Romanpaar über den Tod der Eltern aus diesem Grund der Tradition einer ›Trauerliteratur‹ zu, die schon von Rückert und Klabund oder, in jüngerer Zeit, von Peter Handke gepflegt wurde. Was nun Peter Härtlings Nachgetragene Liebe betrifft, so ist es neben der wie bei Schutting fehlenden ›Vertrauenskrise‹ primär die Grundkonstellation des Romans, die ihn von allen anderen ›Väterbüchern‹ unterscheidet und letztlich aus dem Korpus einer wie auch immer gearteten ›Väterliteratur‹ ausscheiden lässt. Hier liegt nämlich eine nahezu vollkommene Inversion der für die ›Väterliteratur‹ konstitutiven Ausgangssituation vor: In Härtlings Roman forscht nicht der zornige Sohn, aus späterer Erfahrung, nach den Feigheiten, gar Untaten, des Vaters. Umgekehrt hat es den Bruch gegeben zwischen dem begeisterten kleinen Hakenkreuzler, dem zwölfjährigen Peter, und seinem Vater, der zwar der Partei seines Führers angehört, jedoch mürrisch, widerwillig, im Verlauf des Krieges und Untergangs mit wachsender Widersetzlichkeit.1492

Härtling erzählt schuldbewusst, wie er als Knabe »im Deutschen Jungvolk […] unter den Einfluss deutschtümelnder ›völkischer‹ Lehrer und grossmäuliger Gleichaltriger«1493 geriet, während der Vater als Anwalt standhaft noch dann jüdische Klienten verteidigte, als solche Mandanten bereits eine Gefahr darstellten. Der noch zu Lebzeiten des Vaters geäußerte Vorwurf des Sohnes betraf also die mangelnde Begeisterung der Eltern für den Nationalsozialismus – eine Konfiguration, die in der ›Väterliteratur‹ ansonsten nie vorkommt: »Ihr seid 1492 Mayer, Hans: Die unerwünschte Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1968 – 1985. Berlin: Siedler Verlag, 1989. Hier : p. 140. 1493 Forster und Riegel: p. 110.

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nicht so wie die andern, du und Mutter, ihr macht nicht mit, ihr zieht euch zurück, seid ängstlich und kleinlich. Ihr macht euch lustig über die Helden, die wir in der Schule ehren und an die ich glaube. Ihr redet nicht mit mir und habt Geheimnisse, die mich einschüchtern«1494. Als erwachsener Literat versucht Härtling nun, seine kindliche Verblendung zu erklären, aber zur Aussprache mit dem Vater kann es nicht mehr kommen: Rudolf Härtling starb als sowjetischer Kriegsgefangener ; der Text ist ein ›monologisches Väterbuch‹, das sich mehr als drei Jahrzehnte nach dem Tod des Vaters mit ihm auseinandersetzt. Nachgetragene Liebe hat mithin einen völlig anderen Impetus als die ›Väterbücher‹, denen wir uns bislang widmeten (Schuttings Der Vater einmal ausgenommen): Die Schuld, wenn es eine gibt, liegt primär beim Sohn, nicht beim Vater, und der Autor widmet sich nicht der Vergegenwärtigung von Verdrängtem, sondern richtet seinen Fokus auf eine Aufarbeitung der dysfunktionalen Familienverhältnisse, welche ihn als Knaben zu den Nationalsozialisten abdriften ließen. Der Gestus ist somit eher ein entschuldigender als ein anklagender, und von einer ›Vertrauenskrise‹ fehlt jede Spur. Auf den ersten Blick teilt der Text aber durchaus ein Merkmal mit einigen anderen ›Väterbüchern‹: Das Schweigen des Vaters bildet ein Hauptmotiv ; die vielbeschworene Kommunikationskrise zwischen den Generationen, die, wie wir schon in der Einleitung zeigen konnten, kein besonders konsistentes Charakteristikum der ›Väterbücher‹ darstellt, ist im Text sehr präsent. Peter Härtling kann sich die »stumme Strenge« des Vaters, die schon seine Kindheit prägte »nicht erklären«: »Warum hast du damals dein Schweigen begonnen und es so gut wie nie gebrochen?«1495 Nachgetragene Liebe strotzt vor solchen Passagen, und auf ihrer Basis konstatiert Kenkel, dass bei Härtling »ein zentrales Thema aus den anderen Väterromanen« anklinge und er »den Vorwurf [des Schweigens, Anm. v. J. R.] in gleicher Schärfe«1496 erhebe wie die anderen Autorinnen und Autoren. Das ist allerdings ein Irrtum, wie auch Gretchen Wiesehan bemerkt, denn das Schweigen von Härtlings Vater entspricht in keiner Weise dem verdrängenden, schuldbewussten väterlichen Schweigen, das vor allem Michael Schneider als charakteristisches Merkmal der ›Väterliteratur‹ beschrieben hat (das es aber eben auch nur angeblich ist1497). Peter Härtlings Vater ist vielmehr in jeder Hinsicht ein Opfer, 1494 1495 1496 1497

Härtling, Peter : Nachgetragene Liebe. München: dtv, 122009. Hier: p. 35. Ebd.: p. 9 f. Kenkel: p. 182. Siehe Wiesehan, Gretchen: »Facing the Father, Facing the Past. Three Texts by Peter Härtling«. Clio 19.1 (1989): p. 17 – 29. Hier: p. 18. Bei Schneider ist das Schweigen der Väter immer ein Totschweigen, ein Schweigen von Tätern: Die Väter bezwecken nach Schneiders Ansicht mit ihrer Stummheit »suppression[] and mystification[]«, und wenn es doch einmal zu Wortwechseln komme, würden die Väter sofort »a hysterical grimace, distorted by hatred and fear« aufsetzen, während die »children […] frozen in horror« die »demons of the past« aufsteigen sähen (Schneider: p. 8). Dass diese Sichtweise äußerst eindimen-

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nicht nur des eigenen Sohnes, sondern, das wird im Buch betont, auch des Nationalsozialismus: Er wird im Roman verschiedentlich als »Verfolgte[r]«1498 beschrieben, und Härtling insistiert subtil auf der ›nicht-arischen‹ Herkunft des Vaters und der Mutter, auf dem »›Webfehler‹«1499 in der eigenen Genealogie1500. Hier ›schweigt‹ (besser : verdrängt) also im Gegensatz zur restlichen ›Väterliteratur‹ gerade ein Unschuldiger, ein von einem Schreckensregime Marginalisierter, der noch dazu befürchten muss, von seinem eigenen radikalisierten Sohn denunziert zu werden: »Härtling has inverted the discussion of guilt and silence. […] In Belated Love, […] the father’s silence obscures his true innocence«1501. Wenn man dem Vater einen Vorwurf machen kann, dann den, dass sein Schweigen (und das Schweigen der Mutter) den Sohn gleichsam in die Arme der Nazis treiben musste: Vater und Mutter hatten mich nicht ins Vertrauen gezogen, sie hatten mich belogen und hintergangen, sie hatten, meinte ich, ein falsches Spiel gespielt. Nemec [der Freund, der den jungen Peter radikalisiert, Anm. v. J. R.] und der Bann boten mir ein neues, gleichsam unangreifbares Zuhause.1502

Die in Nachgetragene Liebe verhandelte intergenerationelle Kommunikationskrise ist also insofern einzigartig und für die ›Väterliteratur‹ völlig atypisch, als das Schweigen des Vaters nicht der Kaschierung vergangener Schuld dient, sondern einen Effekt seiner ›inneren Emigration‹ darstellt. Das versteht der Sohn fatalerweise nicht und macht ihm die Ersatzfamilie der Nationalsozialisten schmackhaft – zur ambivalenten Kommunikationskrise in Nachgetragene Liebe später mehr. Zusammenfassend dürfen wir jedenfalls feststellen: Dieser Roman sticht nicht nur aus dem Korpus der ›Väterliteratur‹ heraus, sondern fällt vollkommen aus dem Rahmen, da er, wie Schuttings Der Vater, im Grunde kein einziges der Merkmale aufweist, die für die ›Väterliteratur‹ konstitutiv sein könnten (›Vertrauenskrise‹, politisches Interesse an Vergangenheitsbewältigung etc.). Der Vergleich zwischen Nachgetragene Liebe und der restlichen ›Väterliteratur‹ ist noch zu vertiefen. Nur in wenigen Punkten ähnelt Härtlings Roman den anderen ›Väterbüchern‹, und meistens weisen die Ähnlichkeiten einen eigen-

1498 1499 1500

1501 1502

sional ist, beweist nicht nur Härtlings Roman: Allein die Existenz der bereits diskutierten ›dialogischen Väterbücher‹ zeigt ja, dass Schneiders These einer näheren Betrachtung nicht standhält. Ebd.: p. 70. Siehe auch ebd.: p. 60; p. 65. Ebd.: p. 60. »Unsere Familie stammt eigentlich aus Ungarn, sagte er einmal« (ebd.: p. 11); »Wir ziehen die Köpfe ein, […] wenn Vater sich zornig gegen Gerüchte wehrt: Was heisst schon jüdischer Typ […] Du benimmst dich anders als sie. Du bist ihnen zu schön, zu frei« (ebd.: p. 25). Wiesehan: p. 27. Härtling: p. 107 f.

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artigen ›Twist‹ auf. Zum einen tritt auch hier ein übermächtiger Großvater in Erscheinung, von dem sich Härtlings Vater, ein eher schwacher Charakter, zeitlebens nie zu lösen vermochte: Ohne Zweifel hat Großvater ihm nicht nur finanziell geholfen, er hat ihn auch geschützt. Dieser einzige Sohn aus zweiter Ehe war nicht nur sein Liebling, ihm trug er auch auf, das zu erreichen, was ihm versagt geblieben war : eine akademische Karriere. […] Der junge Mann […] ordnete sich unter und war nach [dem Tod des Großvaters] erst einmal nicht fähig, für sich zu entscheiden. Er neigte zur Entschlußlosigkeit. Seine Ängstlichkeit war groß. Bisher hatte er es vorgezogen, im Schatten des Vaters zu stehen […]. Er hatte es in Kauf genommen, dass Mutter ihm Abhängigkeit und Unselbständigkeit vorwarf, denn er war […] ein Primus ohne viel Kraft und mit schwankender Hoffnung.1503

Das beharrliche Schweigen des Vaters entsteht nicht zuletzt aus dieser Charakterschwäche, die ihm, wie die soeben zitierte Passage zeigt, auch die Verachtung seiner Frau einbringt. So schildert der Roman auch und vor allem private Familienprobleme, zuvörderst eine Ehekrise, die aus der Abhängigkeit und Ängstlichkeit des Vaters erwächst: »Seit acht Jahren war er verheiratet und mit jedem Tag stieg seine Furcht, die Frau, die er aus Liebe und gegen den Willen seiner Eltern geheiratet hatte, zu verlieren«1504. Sie mündet in beiderseitigen Ehebruch1505 und lässt während der kriegsbedingten Abwesenheit und der darauffolgenden Krankheit des Vaters ›matriarchalische‹ Strukturen aufkommen, die, wie bereits erwähnt, durchaus zeittypisch waren: »Die Frauen übernahmen […] die Herrschaft, obwohl sie sich kaum auf der Strasse zeigten, die Russen mieden. Sie […] entmündigten den kranken Vater, schleppten ihn in ihrer Vorstellung mit wie uns Kinder, lebendiges und manchmal lästiges Gepäck«1506. Die weiblichen Familienmitglieder sind es bezeichnenderweise auch, die das väterliche Schweigen brechen und dem Sohn die ideologische Verblendung austreiben: Sie streichelten jede Aufsäßigkeit aus mir heraus […], erlaubten mir nicht, den zukünftigen Führer zu spielen, sie machten meine Uniform, die ich ständig trug, lächerlich, fanden nur, der Stoff sei strapazierfähiger als alle andern, also solle ich sie ewig anbehalten. Sie duckten mich und ich gab ihnen nach.1507

Was die Wichtigkeit der Rollen des Großvaters, der Mutter und der anderen weiblichen Verwandten betrifft, hat der Roman also einiges mit den anderen ›Väterbüchern‹ gemeinsam – auch dort wurden, wie wir mittlerweile wissen, die 1503 1504 1505 1506 1507

Härtling: p. 38. Ebd.: p. 57. Siehe ebd.: p. 108. Ebd.: p. 164. Ebd.: p. 135.

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Mütter und Großväter bislang durch die kurzsichtige Begrifflichkeit der ›Väterliteratur‹ unterschätzt und kaum beachtet. Die Art aber, wie bei Härtling zumindest die Mutter in Erscheinung tritt, ist in der ›Väterliteratur‹ wiederum einzigartig: Ihr obliegt es, durch einen Bruch des drückenden väterlichen Schweigens die nationalsozialistische Indoktrination des eigenen Sohnes zu bekämpfen. Schließlich dürfen wir festhalten, dass die Auseinandersetzung mit dem toten Vater bei Härtling in jeder Hinsicht auch ein historisches Forschungsprojekt ist, beinahe mehr noch als in den ebenfalls historiographisch gefärbten Romanen, die wir schon diskutierten. Bereits im Buch Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung (1973)1508 machte sich Härtling auf, den Todesort und die Begräbnisstätte des Vaters zu suchen – der Untertitel verrät den Forschergestus; es geht um eine empirische »Nachprüfung«. Die in Zwettl unternommene ›Feldforschung‹ wird in Nachgetragene Liebe durch eine akribisch gestaltete emotionale Annäherung an den Vater ergänzt, die sich zwar nicht auf Aussagen von Zeitzeugen oder Quellenmaterial stützt, aber durchaus den Wahrheitsanspruch einer Familienchronik wahrt (man denke beispielsweise an die vielen mit präzisen Jahreszahlen und Altersangaben ergänzten Erinnerungen, welche die Faktualität des Textes ausweisen1509). Dieses historiographische Interesse unterscheidet sich aber stark von den geschichtswissenschaftlichen Bemühungen, die in der restlichen ›Väterliteratur‹ begegnen: Es geht nicht oder nicht primär um die Aufarbeitung des Verdrängten und die Vergegenwärtigung einer irgendwie gearteten Schuld, und ebensowenig wird eine väterliche Diskursherrschaft angegriffen. Vielmehr betreibt Härtling ganz persönliche und apolitische historische Nachforschungen. Die vermeintlichen Gemeinsamkeiten zwischen Nachgetragene Liebe und anderen ›Väterbüchern‹ entpuppen sich also bei näherem Hinsehen als Täuschungen: Wenn Härtling auch teilweise ähnliche Komplexe aufgreift wie die anderen in dieser Studie behandelten Autorinnen und Autoren, so tut er dies doch stets auf äußerst idiosynkratische Weise; wir finden mithin für sein Vorgehen in Nachgetragene Liebe keine Entsprechung in der übrigen ›Väterliteratur‹. Was nun die subjektiv empfundene Notwendigkeit der in Zwettl begonnenen Forschungsarbeit betrifft, so ist diese wohl nicht zuletzt mit der späten Einsicht des Autors in seine kindliche ideologische Verblendung und den daraus resultierenden Schuldgefühlen gegenüber dem Vater zu erklären – in diesem Kontext werden wir wieder auf die Thematik der Kommunikationskrise zu sprechen 1508 Wir sprechen in der Folge der Prägnanz halber von Zwettl und Nachgetragene Liebe als einem Romanpaar. Im Sinne größtmöglicher Präzision sei hier angemerkt, dass der erstgenannte Text eigentlich eher eine stellenweise relativ lose Ansammlung von kurzen Prosastücken ist. 1509 Siehe z. B. Härtling: p. 10; p. 79.

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kommen. Zunächst zeichnet Härtling, wie gesagt, in Zwettl die Suche nach der Grabstätte des Vaters nach und unternimmt sodann in Nachgetragene Liebe eine emotionale, in Teilen entschuldigende Annäherung an den Toten. In Wiesehans Worten: Whereas in Zwettl, the search for the father is described as the search for his physical remains, in Belated Love the narrator seeks to reconstruct his relationship with his father during his lifetime, from one of the narrator’s earliest memories of him until the last time he saw him alive.1510

Härtling schafft also vorerst in Zwettl Gewissheit über grundlegende Tatsachen, primär über den Verbleib der »physical remains« des Vaters. Fast drei Jahrzehnte lang waren die »circumstances of [the father’s] death, the exact date, and the location of the grave«1511 unklar gewesen, aber am »Montag, 26. 7. 1971«1512 – man beachte die Genauigkeit der Datierung – kommt Härtling zum erwünschten Forschungsergebnis: Wir fuhren zur Bezirkshauptmannschaft, ich fragte nach Herrn F. […]. Er bat mich in sein Büro […], zeigte mir die Mappe ›H‹, die schon umfangreich geworden war, viele Briefe, Papiere, er sagte mir : Ich weiß jetzt, wo Ihr Vater begraben liegt. Die Skizze, die Sie mir geschickt haben, hat mir geholfen. […] [E]s gibt tatsächlich drei Gräberreihen, und das Grab Ihres Vaters ist nicht das letzte.1513

Allein durch Härtlings Vorarbeit – die erwähnte »Skizze« – wurden die Gräber im ehemaligen Gefangenenlager überhaupt entdeckt; das Forscherinteresse des Autors zeitigt hier tangible Resultate: Die Skizze […] wiederholte sich auf diesem Feld. Dahinter der Wald, der eingezeichnet ist auf dem Plan, die Waldecke, ganz genau. Ich wußte, daß in der dritten Reihe, am Rand, das Grab meines Vaters sein mußte. […] Herr F. sagt: […] [D]as erste Grab in der dritten Reihe ist das Grab Ihres Vaters. Es stimmt überein mit der Skizze. Durch Ihren Aufsatz über Zwettl sind wir auf alles gekommen.1514

Diese stringente, mit dem Gestus eines Historikers ausgeführte »Nachprüfung einer Erinnerung« schafft die Voraussetzungen für die literarische Aufarbeitung der Beziehung zum Vater in Nachgetragene Liebe. Eine solche wird nötig, weil die in Zwettl positivistisch erhärtete Gewissheit über den letzten Ruheort des Vaters Härtling offenbar noch nicht befriedigt. So resümiert der Erzähler am Ende des jüngeren Textes:

1510 1511 1512 1513 1514

Wiesehan: p. 21. Ebd. Härtling, Peter : Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung. München: dtv, 2008. Hier: p. 133. Ebd.: p. 134. Ebd: p. 141 f.

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Ich bin dort gewesen, Vater, ich habe aus dem Fenster der Baracke geschaut, in der du krank gelegen hast. […] Es war fünfundzwanzig Jahre später. […] Ich sah, was du zuletzt gesehen hast, aber es half mir nicht, dass ich deinen Blick wiederholte. Ich mußte weiter zurück, wieder die Hand im Nacken spüren, wieder von deinem Schweigen gedrückt werden, ich mußte aufhören, mich zu wehren und die Spuren lesen, die du mir hinterlassen hast. Ich fange an, dich zu lieben. Ich bin älter als du. Ich rede mit meinen Kindern, wie du nicht mit mir geredet hast, nicht reden konntest. Nun, da ich die Zeit verbrauche, die dir genommen wurde, lerne ich, dich zu verstehen.1515

Härtlings Vater starb 1945; der geschilderte Besuch in der Baracke bei Zwettl muss sich also 1970, drei Jahre vor der Publikation von Zwettl, ereignet haben. Peter Härtling beschreibt hier, wie wir annehmen dürfen, die Situation kurz vor der Niederschrift von Zwettl, respektive die darauffolgende Einsicht, dass die mittels Feldforschung in Zwettl gewonnenen Erkenntnisse über die Todesumstände des Vaters durch eine profundere Auseinandersetzung mit dieser Figur ergänzt werden müssen. Dieser Vorsatz, in autobiographischer Manier »weiter zurück« zu gehen und das »Schweigen« des Vaters zu analysieren, wird in Nachgetragene Liebe umgesetzt. Dass nach den Recherchen in Zwettl in Nachgetragene Liebe die abstraktere Problematik der Kommunikationskrise zwischen Peter und Rudolf Härtling im Mittelpunkt steht, überrascht nicht. Der Roman wäre ja ziemlich banal und larmoyant, wenn Peter Härtling sich nur für sein Fehlverhalten als Jugendlicher beim toten Vater entschuldigen würde – die Selbstrechtfertigung des Autors schließt, wie einige Zitate vielleicht bereits vermuten ließen, Kritik am Vater und an dessen beharrlichem Schweigen nicht aus. Konkret wird im Roman das für den Vater charakteristische verzweifelte Schweigen, wie oben gezeigt, als einer der Gründe für den ideologischen Sündenfall des jungen Peter ausgemacht. Rudolf Härtling wird mithin nicht nur, wie ebenfalls erwähnt, als Opfer inszeniert, sondern auch als zur Kommunikation unfähiger Vater, der sich durch seine Stummheit am naiven und autoritätsbedürftigen Sohn versündigt, da er dessen Abgleiten zu den Nationalsozialisten gleichsam wortlos in Kauf nimmt: »Ich gab dir die Schuld, Vater : Daß man mich nicht ernst nahm, mußte an dir liegen. Du hattest auf mich abgefärbt. Alles, was ich von dir nicht wußte, plagte mich. […] Du warst da und zogst dich zurück. Du schwiegst oder schlugst«1516. Der einzige Kommunikationsversuch des Vaters mit dem Sohn bleibt symbolisch-didaktisch: Statt die offene Konfrontation mit dem indoktrinierten Knaben zu suchen, nimmt Rudolf Härtling ihn zu einem Besuch bei einem kurz vor der Deportation stehenden jüdischen Mandanten mit. Diese im Grunde passive und paternalistische Annäherung muss ihre Wirkung verfehlen: 1515 Härtling: p. 168 f. 1516 Ebd.: p. 129.

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Du hast mir, ich bin sicher, mit dieser Fahrt zu Herrn Glück [dem jüdischen Klienten, Anm. v. J. R.] auf Nemec antworten wollen. Das konnte dir nicht gelingen, Vater. Du hättest reden, dich redend mit dem Unglück des Mannes verbünden müssen. Du hättest, gegen meinen Unglauben, erzählen müssen, was ihn in Theresienstadt erwartete. Wahrscheinlich fürchtetest du meine Fragen, meinen naiven, von Nemec und anderen bestärkten Widerstand. Ich begriff deinen Mut und deine Herzlichkeit nicht. Ich fragte mich nur, wie du dazu kamst, Herrn Glück, einen Fremden, zu umarmen.1517

Die Forderung des Erzählers nach »historical information« – nach Informationen über Theresienstadt – ist, wie Wiesehan richtig bemerkt, wahrscheinlich gar nicht so brennend: Was sich der junge Peter in dieser Situation erhofft, ist wohl kein spezifisches Wissen, das er sowieso als konträr zu seiner Ideologie ablehnen würde, sondern vielmehr ein Bemühen des Vaters um einen »emotional bond«1518, der sich nur im offen und auf Augenhöhe geführten Gespräch konstituieren kann. Der Vater aber unternimmt keine dahingehenden Versuche, sondern geht davon aus, dass die Ereignisse, also der Besuch bei Herrn Glück, für sich – oder besser : für ihn – sprechen. In der Erinnerung an diese verfehlte Möglichkeit eines kritischen Austausches zwischen Vater und Sohn werden weitere Vorwürfe laut, die sich gegen das elterliche Schweigen richten: »Weshalb duldeten sie meine kindische Renitenz, fügten sich ihr sogar […][?]«1519 Da sich der Sohn als unbelehrbar erweist und der Vater die Anstrengung einer Debatte mit offenem Visier nicht auf sich nehmen will, verschlechtert sich ihre Beziehung zusehends, verschärft sich die Kommunikationskrise. Als der junge Peter schließlich den gehörnten Vater verspottet, indem er durchblicken lässt, dass er um die außereheliche Affäre der Mutter weiß, kommt es zu einem brutalen und schweigend ausgeführten Racheakt des Vaters – den Peter, wie um den Vater noch lächerlicher zu machen, ebenfalls schweigend erduldet: Ich legte mich hin […] und wachte daran auf, daß mich eine Hand im Nacken packte. Er war es. Er hat mir seine Wut den Abend lang nachgetragen. Er hatte kein Licht gemacht. Die Schläge waren schwer und unberechenbar. Erst nach einer Weile merkte ich, daß er mich mit dem Koppel prügelte. Ich preßte die Lippen zusammen. Er sollte, selbst wenn ich stürbe, keinen Ton von mir zu hören bekommen. Er wollte offenbar nicht aufhören, bis ich schrie.1520

Das ist die zuvor erwähnte »Hand im Nacken«1521, deren Vergegenwärtigung Härtling am Ende des Romans als essentiellen Teil der Erinnerungsarbeit aus1517 1518 1519 1520 1521

Ebd.: p. 103 f. Wiesehan: p. 25. Härtling: p. 105. Ebd.: p. 114 f. Ebd.: p. 168.

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macht. Der Gewaltausbruch mit der »Hand im Nacken« (ein – man beachte die auf den Titel anspielende Wortwahl – Instrument »nachgetragen[er]« Wut) markiert das Ende der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Es folgt die kriegsbedingte väterliche Abwesenheit, die ›Machtergreifung‹ der Frauen – und der Vater muss sich kurz nach seiner Rückkehr in Kriegsgefangenschaft begeben, wo er, krank und geschwächt, stirbt. Es überrascht nicht, dass sich für Peter Härtling an diesen Tod in der Retrospektive starke Schuldgefühle heften – nicht zuletzt deshalb, weil es ihm nicht gelungen war, dem Vater lebensnotwendige Medikamente zu überbringen: Du kannst deinem Vater helfen, sagte Mutter. Versuch ihm die Medikamente zu geben. Du mußt den Zug nur abpassen. […] Der Zug ist bald zu hören […]. Voraus fährt ein Pritschenwagen, auf dem Männer stehen. […] Er geht in der Mitte, zwischen anderen Männern. Ich rufe. […] Ich halte die Schachtel hoch. Einer der Begleitsoldaten schiebt mich zur Seite. Vater schüttelt den Kopf. Er lächelt. Dann winkt er. Mutter hat mir aufgetragen, ihm die Tabletten zuzuwerfen. Er hat sie nötig. Ein Rotarmist kommt auf mich zu, drückt mir den Gewehrkolben gegen die Brust. Ich habe Vater aus den Augen verloren. Er ist fort.1522

Spätestens diese Passage macht deutlich: Die Schuldgefühle, mit denen Peter Härtlings Beziehung zum Vater belastet ist, sind so tief, dass sie mit der in Zwettl getätigten Recherche über die Todesumstände Rudolf Härtlings nicht zu überwinden waren. Angesichts der in Nachgetragene Liebe geschilderten verheerenden Kommunikationskrise, die ungelöst bleibt, und angesichts des frühen Todes des Vaters, an dem sich der Sohn mitschuldig fühlen muss, wird Härtlings Fazit aus der Zwettl-Forschung verständlich: »Ich sah, was du zuletzt gesehen hast, aber es half mir nicht, dass ich deinen Blick wiederholte«1523. Die für sich allein genommen unbefriedigende Gewissheit über die Todesumstände des Vaters musste eben ergänzt werden durch die in Nachgetragene Liebe gestaltete literarische Vergegenwärtigung der traumatischen Beziehung zum Vater. So gesehen hat Härtling wie Julian Schutting ein Romanpaar verfasst, in dem Trauerarbeit geleistet wird: Zwettl und Nachgetragene Liebe beschreiben gleichsam zwei aufeinanderfolgende Phasen eines Trauerprozesses. Nach der ›Feldforschung‹ in Zwettl wird in Nachgetragene Liebe die komplementäre Erforschung der Emotionen und Dysfunktionen realisiert, von denen Härtlings Beziehung zum Vater geprägt war. Eine wichtige Differenz zu Schuttings Vorgehensweise besteht nun darin, dass dieser noch die Möglichkeit hatte, in der Begleitung des Sterbens der Mutter die negativen Emotionen, welche sich für ihn an den Vater hefteten, endlich zu überwinden – für Härtling dagegen gibt es keine Ansprechpartner mehr ; seine monologische Trauerarbeit speist sich 1522 Ebd.: p. 167 f. 1523 Ebd.: p. 168.

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vielmehr aus einer dialektisch anmutenden und therapeutisch wirksamen Aufarbeitung und Versöhnung der Widersprüche und Missverständnisse zwischen ihm und dem Vater. In anderen Worten: Wenn die dominante Erinnerung an den Vater diejenige an dessen charakteristisches »Schweigen«1524, an »nachgetragen[e]« Wut und an die gewaltsame »Hand im Nacken«1525 ist, dann muss diese Erinnerung zum Zwecke der Überwindung des Vatertraumas und der Schuldgefühle eben in eine positive umgemünzt werden. Dem Erzähler bleibt nichts anderes übrig, als das traumatische Vermächtnis des Vater paradoxerweise als »positive presence« und »ground[] of his love«1526 zu begreifen und die »nachgetragen[e]« Wut des Vaters in die titelgebende Nachgetragene Liebe zu transformieren. Im Zuge dieses Versuchs, den Vater über sein fatales Schweigen und seinen Anfall von Brutalität zu verstehen, ergründet Härtling die väterlichen Beweggründe, Ängste und Sorgen (vor allem natürlich um den nationalsozialistisch vereinnahmten Sohn), die ihn als Knaben verwirrten und ärgerten und die er erst im Schreibakt empathisch nachvollziehen kann; die Stummheit des Vaters wird so, endlich, zum Sprechen gebracht. Solche Klarheit über das Wesen und die Verhaltensweisen des Vaters erlangt Härtling beispielsweise in der Nacherzählung des oben geschilderten Besuchs bei Herrn Glück: Dieses Ereignis, mitsamt der Rolle, die der Vater darin spielte, wird für den erzählenden Peter Härtling in einer Weise verständlich, wie es der Knabe Peter Härtling nicht verstehen konnte und wollte, wobei der Vater für diesen unzureichenden Kommunikationsversuch auch kritisiert wird (»[d]u hättest reden […] müssen«1527). Auf diese Weise gelingt es Härtling, der »nicht erfinden woll[te]«, sich in Nachgetragene Liebe an die im Grunde sehr traurigen Tatsachen zu halten und trotzdem eine Annäherung an den Vater zu unternehmen, in deren Verlauf eine Verarbeitung der Schuldgefühle möglich wird: Ich habe nicht erfinden wollen, darum kommen die Geschichten auf mich zu. Du warst weit weg, Vater, jetzt nähern wir uns einander. […] Ich bin vierunddreißig Jahre von mir und von dir entfernt. […] Ich fange an, deine Hand im Nacken, dich zu verstehen, zu lieben. Ich bin soweit, dass ich dich von nun an mit jedem Satz zu mir heranholen möchte.1528

Diese für den Roman konstitutive Ambivalenz, die den Versuch kennzeichnet, aus negativen Erinnerungen eine neue und liebevolle Beziehung zum Vater zu schaffen, kündigt sich bereits im Titel an, wie Wiesehan1529 zuerst bemerkte. Das 1524 1525 1526 1527 1528 1529

Ebd. Ebd.: p. 114 f.; Hervorhebung nicht im Original. Wiesehan: p. 27. Härtling: p. 103. Ebd.: p. 144. Wiesehan: p. 27. Im Titel der englischsprachigen Übersetzung – Belated Love – geht diese Subtilität leider verloren.

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Verb ›nachtragen‹ ist hier durchaus im Doppelsinne zu verstehen: Der Autor trägt dem Vater einerseits gleichsam seine Liebe in den Tod nach, andererseits aktualisiert und subvertiert Härtling hier auch die negative Bedeutung des Verbs, also die Unfähigkeit oder die Weigerung, vergangene Verletzungen zu verzeihen – statt der Abneigung aber, die man Menschen normalerweise ›nachträgt‹ und statt der »Wut«1530, die ihm der Vater nachtrug, entscheidet sich Härtling, dem Vater Liebe ›nachzutragen‹ und auf diese Weise die zerrüttete Vater-Sohn-Beziehung neu zu begreifen. Wenn mit diesem künstlerischen Vorgehen den Traumata auch scheinbar die Schärfe genommen werden kann, so gelingt es doch nicht, das Vater-Sohn-Verhältnis zum längst toten Rudolf Härtling als solches zu restituieren: Zu tief gründen Härtlings Schuldgefühle, zu groß ist aber auch das Versagen des Vaters – mithin haben beide ihren jeweiligen Rollen nicht wunschgemäß zu entsprechen vermocht, weshalb der Autor am bereits zitierten Ende des Romans eine elegante Volte vornimmt und die Beziehung zum Vater ganz einfach in eine »Brüderlichkeit[,] […] die darum keineswegs unkritisch ist«1531, umwandelt: »Nun, da ich die Zeit verbrauche, die dir genommen wurde, lerne ich, dich zu verstehen. Kehrtest du zurück, Vater, wie der Mann aus dem Bergwerk von Falun, könntest du mein jüngerer Bruder sein«1532. Wir dürfen festhalten, dass Peter Härtlings Nachgetragene Liebe wie Julian Schuttings Der Vater aus dem Korpus der ›Väterliteratur‹ herauszulösen ist. Der Text weist kaum eines der Charakteristika auf, die man in den anderen ›Väterbüchern‹ findet, und wenn Gemeinsamkeiten vorliegen, dann stets mit singulären Variationen. Hier gibt es keine ›Vertrauenskrise‹, keinen ›Generationenkonflikt‹1533 und keine Politik und Zeitkritik; Rudolf Härtling wahrt im Gegensatz zum stereotypen Vater der ›Väterliteratur‹ große Distanz zum nationalsozialistischen Regime und wird im Text gar als Opfer des ›Dritten Reichs‹ inszeniert – hier ist es, wie gesagt, der Sohn, der sich vereinnahmen lässt und dies im Roman schließlich bedauert. Wie schon bei Meckel und Schutting gibt es im Übrigen auch hier mit Zwettl einen Paralleltext, der für ein adäquates Verständnis von Nachgetragene Liebe wichtig ist, aber in der Sekundärliteratur nur bei Wiesehan berücksichtigt wird: Vergleicht man nämlich die beiden Werke, so wird deutlich, dass sie zwei verschiedene Abschnitte eines langen Trauerprozesses und einer – allerdings privaten und apolitischen – historischen Forschung darstellen. Härtlings Anliegen in Zwettl ist zunächst die Suche nach dem Grab des Vaters, worauf in Nachgetragene Liebe eine akribisch gestaltete Aufarbeitung 1530 1531 1532 1533

Härtling: p. 115. Grimm 1982: p. 174. Härtling: p. 169. Oder höchstens einen in der ›Väterliteratur‹ einzigartigen: nämlich einen Konflikt zwischen einem Nazi-Sohn und einem kritischen Vater.

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der Beziehung zum Vater folgt. In deren Verlauf werden, wie wir gesehen haben, aus der Notwendigkeit der Trauerbewältigung heraus die negativen und traumatischen Erinnerungen an den Vater in positive umgemünzt – am Ende wird das Vater-Sohn-Verhältnis als brüderliche Beziehung neu konstituiert. Dieser Impetus ist in der ›Väterliteratur‹ ebenso einzigartig wie Julian Schuttings idiosynkratische Trauerarbeit in seinen Elternbüchern. Zur ›Väterliteratur‹ ist Härtlings Nachgetragene Liebe also mit Sicherheit nicht (mehr) zu zählen; eine Neueinordnung des Textes gestaltet sich allerdings schwierig. Bei Schutting lag der Verweis auf die Tradition einer ›Trauerliteratur‹ auf der Hand, aber Härtlings Roman fügt sich schlecht in eine solche Klassifizierung: Nachgetragene Liebe geht im Gegensatz zu den ›Trauertexten‹ von Schutting oder Handke nicht aus einem unmittelbar erfahrenen und sofort dichterisch ver- und bearbeiteten Todesfall hervor; der Fokus liegt eher auf einer subjektiven literarischen Auseinandersetzung mit einem problembehafteten zwischenmenschlichen Verhältnis. Vielleicht ist eine Situierung von Nachgetragene Liebe im Kontext der neuen Subjektivität tatsächlich gerechtfertigt, eher noch als im Fall von Schutting, dessen ›Vaterbuch‹ der neuen Subjektivität ja auch, wie wir gesehen haben, näher steht als die restliche ›Väterliteratur‹. Vor allem der Vergleich mit Zwettl bekräftigt diese Annahme: er verdeutlicht nämlich, dass Nachgetragene Liebe der oben beschriebene Status einer emotionalen, subjektiven und apolitischen Auseinandersetzung mit dem Vater zukommt – dass der Text also mehrheitlich den Mustern der neuen Subjektivität entspricht, während die grundlegenden Tatsachen zuvor in positivistischer Manier in Zwettl etabliert wurden. Man muss sich zudem vergegenwärtigen, dass Peter Härtling sich bereits früher – ausgerechnet im Jahr 1968 – mit dem Vaterthema befasste, namentlich als Herausgeber einer Anthologie mit dem Titel Väter. Die ambitionierte Textsammlung bietet Vaterporträts von Autorinnen und Autoren »aus vier Generationen«1534. Mag sein, dass der Band aufgrund dieser breit gefächerten Anlage keine »Gegenrede gegen eine bestimmte Generation«1535 darstellt, wie Gehrke schreibt; das kritische Potential der heterogenen, aber im Grundtenor fast nur negativen Vaterbilder ist allerdings bemerkenswert, und so – als kritisches historiographisches Projekt, ganz gemäß der in dieser Arbeit vertretenen Sichtweise der ›Väterliteratur‹ – will Härtling den Sammelband auch verstanden wissen: [Die Beiträge] sind Variationen nicht nur über das Thema Vater, auch über das Thema: Hundert Jahre deutsche Geschichte. Väter machen Geschichte, die ihre Söhne nicht akzeptieren, die sie verändern, die sie weitertreiben, revidieren und […] wiederholen. 1534 Gehrke: p. 65. 1535 Ebd.

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Sie nehmen sich von der Schuld aus und bekommen sie übertragen. Sie befragen die verflossenen Ideale und predigen neu. Oft heben sie sich im Widerspruch auf. Das Gespräch mit dem Vater ist ein fortwährender Widerspruch – die einen lassen ihn in der Gegnerschaft, die anderen im Einverständnis. Und die Geschichte redet hinein […]. Die Wahrheit der Söhne ist nie die der Väter, aber in der Anrede, selbst im Aufruhr, kann sie von beiden begriffen werden.1536

Diese im Kontext von 1968 entstandenen Auseinandersetzungen mit einer Auswahl von Vätern sind, Härtlings einleitenden Worten entsprechend, zugleich kämpferisch und differenziert; sie nehmen in ihrer Heterogenität und dem in ihnen oft artikulierten historiographischen Gestus unsere Erkenntnisse über die spätere ›Väterliteratur‹ der Siebzigerjahre vorweg. Wir dürfen festhalten, dass Härtlings Herausgebertätigkeit seinen weitgehend zeittypischen Einstieg in die Thematik markiert. So gesehen ist es denkbar, dass das Romanpaar aus Zwettl und Nachgetragene Liebe nach dem Sammelband Väter für eine vertiefte und personalisierte Auseinandersetzung mit dem Komplex steht, die nun nicht mehr im Zeichen von 1968 stattfindet, sondern unter der Prämisse der post-revolutionären Ernüchterung und »Rückbesinnung auf die eigene Individualität«1537 – also tatsächlich im Umfeld einer neuen Subjektivität. Härtlings Annäherung an die Väterproblematik scheint sich demnach in Phasen abgespielt zu haben, die grob der zeit- und kulturgeschichtlichen Chronologie entsprechen: Der 1968 entstandene Band Väter könnte eine erste und im Sine des Zeitgeistes eher kritische Phase repräsentieren, während die 1973 und 1980 erschienenen Texte Zwettl und Nachgetragene Liebe eine apolitische und individuelle Beschäftigung mit einem spezifischen Vater zur Darstellung bringen, der als Opfer und Unschuldiger1538 in keines der um 1968 gängigen Raster passt. Peter Härtling, das 1536 Die Väter. Berichte und Geschichten. Hg. von Peter Härtling. Frankfurt am Main: Fischer, 1968. Hier: p. 10. 1537 Schnell: p. 637. 1538 Diese schon einige Male erwähnte Inszenierung des Vaters als Opfer des Nationalsozialismus (siehe zu dieser Tendenz einmal mehr Sichrovsky : p. 21) wurde Härtling verschiedentlich zum Vorwurf gemacht, weshalb ich abschließend kurz Position in dieser Frage beziehen möchte. Dieser Aspekt des Porträts sei »self-serving«, schreibt Wiesehan, denn Härtling versäume es, den Vater für nicht geleisteten Widerstand gegen das NaziRegime zu kritisieren: »The narrator never questions the effectiveness of his father’s resistance nor asks why he did not do more« (Wiesehan: p. 28). Auch Barner problematisiert die Art, wie der Vater präsentiert wird, wenn er Nachgetragene Liebe als »allzu gefällig und harmoniesüchtig« bezeichnet (Barner : p. 619). Diese Vorwürfe könnten in eine Debatte über den ethischen Status der ›inneren Emigration‹ münden, wie sie Härtlings Vater wohl pflegte; diese Diskussion gehört allerdings nicht in die vorliegende Arbeit. Grundsätzlich halte ich die von Barner und Wiesehan geäußerte Kritik für übertrieben: Härtlings Vater wurde als einfacher Soldat eingezogen – Widerstand wäre nicht praktikabel gewesen –, und als Anwalt vertrat er, wie gesagt, Mandanten wie Herrn Glück, was ihm bestimmt nicht die Freundschaft der Nationalsozialisten eintrug. Der Opferstatus kommt Rudolf Härtling, nicht zuletzt aufgrund seines elenden Todes in einem Gefange-

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verdeutlicht der Verweis auf die lange Geschichte seines Nachdenkens über Väter, ist offenbar tatsächlich ein Autor, der sich seinem Vater – gerade weil dieser ein Spezialfall ist – mit dem Rüstzeug der neuen Subjektivität nähert. Jedenfalls hat Nachgetragene Liebe kaum etwas mit den anderen in dieser Studie behandelten Texten und folglich auch nichts mit der ›Väterliteratur‹, wie immer man sie definieren mag, zu tun – der Text befasst sich in zeittypischer Manier, das heisst: im apolitischen und emotionalisierten Stil der neuen Subjektivität, mit einem besonderen Vater, der einen Einzelfall darstellt.

nenlager, durchaus zu – eine Lektüre des Romans als ungerechtfertigter Entschuldungsversuch durch einen traumatisierten Sohn ist mithin forciert und wird von den biographischen Tatsachen nicht gestützt.

10. Zu Genese und Tradition der ›Väterliteratur‹ unter Berücksichtigung des historischen Romans des 19. Jahrhunderts

Wir beschließen den zweiten Teil dieser Studie mit einigen exkurs- und skizzenhaften Ausführungen über die Entstehung und den literaturgeschichtlichen Hintergrund der ›Väterliteratur‹. Wir haben uns im Verlauf dieser Arbeit bemüht, die Unzulänglichkeit des Begriffs ›Väterliteratur‹, aber auch die Verfehltheit der literaturgeschichtlichen Einordnung der hier diskutierten Texte in das Umfeld der neuen Subjektivität darzulegen. Es stellt sich somit nach dem Abschluss unserer Einzelanalysen die Frage, ob die ›Väterbücher‹ in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts einen erratischen Solitär bilden oder ob sich nicht doch gewisse Traditionslinien festmachen lassen, mittels derer ein besseres Verständnis der hier behandelten Werke möglich wird. Dieser Frage widmet sich das vorliegende Kapitel, bevor wir in der Folge ein Fazit aus den in dieser Arbeit gemachten Erkenntnissen zu ziehen versuchen. Die etablierte Forschungsmeinung verortet die ›Väterliteratur‹ zumeist in einer Tradition, die auf den Expressionismus zurückgeht und natürlich auch Kafkas Brief an den Vater umfasst. So verweist Gehrke in seinen Ausführungen zur »Tradition« der ›Väterliteratur‹ auf Kafka, aber auch auf Walter Hasenclever und Arnolt Bronnen, die »mit ihren für die Kunst des Expressionismus typischen Exaltationen eine Abrechnung mit den Vätern des wilhelminischen Deutschlands«1539 anstrebten. Armin Ayren assoziierte die ›Väterliteratur‹ schon in seiner Rezension zu Schwaigers Lange Abwesenheit im Jahre 1980 mit dem Expressionismus1540 – Hasenclevers Der Sohn, Bronnens Vatermord, und überhaupt »die Expressionisten«1541, fungieren auch bei Grimm als Garanten einer ›väterliterarischen‹ Tradition. Assmann, Mauelshagen und Hermand postulieren schließlich in ihren Historisierungen der ›Väterliteratur‹ neben den »expressionistischen Auseinandersetzung[en]«1542 einen weiteren Ausgangspunkt 1539 1540 1541 1542

Gehrke: p. 61. Ayren: p. 5. Grimm 1982: p. 177. Mauelshagen: p. 15.

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Zu Genese und Tradition der ›Väterliteratur‹

der Tradition der ›Väterliteratur‹: die Epoche des Sturm und Drang1543. Wenn man sich nun die Erkenntnisse vergegenwärtigt, die wir im Zuge unserer Einzelanalysen der ›Väterbücher‹ gewinnen konnten, so muss man feststellen, dass dieser doppelte Hinweis auf Sturm und Drang und Expressionismus die ›Väterliteratur‹, wie sie uns in dieser Studie begegnet ist, nicht ausreichend erklärt. Der Mangel an profunden diachronischen Analysen der ›Väterliteratur‹ überrascht nicht. Es handelt sich bei den ›Väterbüchern‹, wie wir des öfteren zeigen konnten und in diesem Kapitel noch weiter ausführen werden, ja durchaus in gewisser Weise um nahezu ›traditionslose‹, kasuistische, einem spezifischen historischen Augenblick zuzuordnende analytische Momentaufnahmen. Sie sind in vieler Hinsicht tatsächlich »Ausdruck des Status quo zeitgeschichtlicher und generationeller Debatten«1544, auch wenn Brandstädter diese Lesart tendenziell ablehnt. Die Autorinnen und Autoren selber zeigen sich hinsichtlich der literarischen Traditionen, auf die sich ihre Werke womöglich stützen, äußerst zurückhaltend: Schutting situiert sein Buch abseits von Trends und Traditionen und scheint es als eher persönliches Werk zu verstehen1545 ; Gauch verneint überhaupt jegliche Einflüsse (»als ich dieses Buch schrieb, gab es noch kein ähnliches«1546), und Peter Henisch konzediert als Vorbildtext allenfalls Peter Handkes Wunschloses Unglück – ein Roman, der nur kurz vor der Kleinen Figur meines Vaters erschien. Unter diesen Vorzeichen ist es, wie gesagt, kaum erstaunlich, dass sich die bisherige Sekundärliteratur mit einer Historisierung der ›Väterliteratur‹ entweder gar nicht erst befasst oder aber oberflächliche Hinweise auf Sturm und Drang und Expressionismus für befriedigend erachtet. Nun mag es ja sogar sein, dass die literarische Konfrontation der Generationen im Sturm und Drang ihren Anfang nimmt und dass die ›Väterthematik‹ im Expressionismus besonders prominent figuriert – aber die ›Väterliteratur‹ hat doch, wie wir zeigen konnten, noch mindestens eine wichtige und erklärungsbedürftige Facette, die in diesen Traditionen nicht angelegt ist. Gemeint ist der mit der ›Vertrauenskrise‹ verknüpfte historiographische Duktus, den wir in fast allen ›Väterbüchern‹ beobachten konnten: Dieses komplexe Charakteristikum der ›Väterliteratur‹ entstammt wohl weder dem Sturm und Drang noch dem vatermörderischen Expressionismus. Ich möchte deshalb in diesem Kapitel auf eine weitere literarische Tradition zu sprechen kommen, in deren Schuld die ›Väterliteratur‹ meines Erachtens steht, die aber bislang noch nicht in diesem 1543 Siehe Mauelshagen: p. 15, Assmann: p. 198, Hermand, Jost: »Oedipus lost. Oder der im Massenerleben der 20er Jahre ›aufgehobene‹ Vater-Sohn-Konflikt des Expressionismus. Die sogenannten zwanziger Jahre. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Bad Homburg: Gehlen, 1970: p. 203 – 224. 1544 Brandstädter: p. 277. 1545 Deutsche Väter : p. 60. 1546 Ebd.: p. 81.

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Zusammenhang genannt wurde: Die Rede ist vom historischen Roman, der Ende des 19. Jahrhunderts Hochkunjunktur hatte; wir werden hier insbesondere die Zyklen Die Ahnen (1872 – 1880) von Gustav Freytag und Vor dem Sturm (1878) von Theodor Fontane in Betracht ziehen1547. Auf den ersten Blick muss ein Vergleich der ›Väterliteratur‹ mit Freytags Bestsellern und Fontanes wichtigem, aber weniger populärem Romanzyklus1548 irritieren. Erst dieser Vergleich hilft jedoch, den politischen und historiographischen Impetus der ›Väterbücher‹ in eine Tradition einzuordnen. Man bedenke: Die bisher in dieser Studie besprochenen Texte behandeln im Grunde eine krisenhafte historische Situation. Die saturierte Nachkriegsgesellschaft, aus der sie hervorgehen, hat die nationalsozialistische Vergangenheit ungenügend aufgearbeitet; die Studentenrevolution, die eine solche Aufarbeitung zu forcieren suchte, ist gescheitert, und die Hüter der dunklen Geheimnisse – primär die Väter, aber im Grunde beide Elternteile – sind im Begriff, ihr Wissen mit ins Grab zu nehmen. In und aus dieser sehr grob umrissenen geschichtlichen Situation konstituiert sich die ›Vertrauenskrise‹, bricht sich bei den Autorinnen und Autoren die Erkenntnis Bahn, dass sie selber gleichsam zu Historikern werden müssen, um mit dem Geschehenen und von den Eltern Mitverschuldeten zu Rande zu kommen. Nun stehen auch die Romanprojekte von Freytag und Fontane im Zeichen eines spezifischen historischen Augenblicks: Sie entstanden kurz nach der Reichsgründung von 1871 und suchen diese Umwälzung zu legitimieren (Freytag) oder zumindest subtil zu reflektieren (Fontane). Der historische Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts und die ›Väterliteratur‹ der Siebzigerjahre sind im Grunde, um Benedict Andersons berühmte Studie Imagined Communities zu zitieren, »narratives«, die zwangsläufig aus »profound 1547 Ein weiterer literaturgeschichtlicher Bezugspunkt für die ›Väterliteratur‹ könnte auf den ersten Blick die Bekenntnistradition sein, die mit Augustinus ihren Anfang nahm und von Rousseau und Benjamin Franklin ausgeformt wurde (siehe Perkins, Jean: »The Confessional Mode in Autobiography : Saint Augustine, Rousseau, and Benjamin Franklin«. Approaches to teaching Rousseau’s Confessions and Reveries of the Solitary Walker. Hg. von John C. O’Neal und Ourida Mostefai. New York: Modern Language Association, 2003: p. 21 – 27). Augustinus, Rousseau und Franklin stehen aber für sehr unterschiedliche Paradigmen bekenntnishaften Schreibens, von denen im Grunde nur das Franklinsche für die ›Väterliteratur‹ relevant sein könnte: Franklin tritt in seiner Autobiographie mit seinem Sohn in Zwiesprache und entwirft gleichsam ein »model for a younger generation of Americans« (Perkins: p. 27). Auch dieser spezifische »confessional mode« wäre allerdings nur auf eine eingeschränkte Anzahl von ›Väterbüchern‹ anwendbar, namentlich diejenigen, in denen jüngere Generationen figurieren und direkt angesprochen werden (und das ist, streng genommen, nur bei Vesper, Seuren und Rehmann der Fall) (Perkins: p. 21). Das Bekenntnismotiv wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels also nicht berücksichtigt. 1548 Siehe hierzu Woodford, Charlotte: »Contrasting Discourses of Nationalism in Historical Novels by Freytag and Fontane«. German Literature, History and the Nation. Papers from the Conference ›The Fragile Tradition‹, Cambridge 2002, vol 2. Hg. von Christian Emden und David Midgley. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang, 2004: p. 253 – 276. Hier : p. 266.

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changes in consciousness«1549 hervorgehen und diese historischen Veränderungen reflektieren: denn derart radikale Veränderungen zeitigen stets einen »need for a narrative of ›identity‹«, ein Bedürfnis nach, überspitzt ausgedrückt, »the nation’s biography«1550. In gewisser Weise versuchen sowohl die ›Väterliteraten‹ als auch die beiden beispielhaften Autoren historischer Romane dieses von Anderson angesprochene Bedürfnis nach identitätsstiftender Explikation geschichtlicher Paradigmenwechsel zu erfüllen: Sie alle pflegen ein Sensorium für Geschichte und für die literarische Darstellung historischer Ereignisse – und bei allen Genannten begegnet Literatur als Hybrid von Tatsache und Fiktion, von Geschichtsschreibung und Dichtung. So sind Die Ahnen und Vor dem Sturm in vieler Hinsicht eminent politische Werke, genau wie die ›Väterbücher‹, deren politisch-historiographische Komponente aufgrund der voreiligen Einordnung der ›Väterliteratur‹ in die Strömung der neuen Subjektivität oft nur unzureichend erklärt oder gar nicht erst registriert wurde. Dabei gilt es aber zunächst zu beachten, dass die Autorinnen und Autoren der ›Väterliteratur‹ auf eine ganz bestimmte Weise historiographisch tätig werden, um den von Anderson beschriebenen »need« zu erfüllen: Ihre Überlegungen zur Geschichte sind, wie wir im Verlauf dieser Arbeit immer wieder gesehen haben, in den meisten Fällen nüchtern, stringent, und skeptisch gegenüber Ideologien und grand r¦cits (Vespers revolutionärer Eifer ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt); Ziel der Analysen scheint grundsätzlich die vermittelnde und objektivierende Aufarbeitung einer oppressiven Vergangenheit zu sein. Damit entspricht das in der ›Väterliteratur‹ manifeste Interesse an Geschichtsschreibung keineswegs dem von Gustav Freytag verkörperten Paradigma historischer – oder eben historiographischer – Literatur : Freytags Ahnen stehen klar im Dienste des »identity building«1551 der Gründerzeit. Der Autor ist Teil eines ansonsten primär mit Felix Dahn (Ein Kampf um Rom, 1874) assoziierten Trends der patriotischen Selbstvergewisserung im Medium der Literatur, des künstlerischen »search for a tradition«1552, welche den deutschen Nationalsstaat legitimiert und ihm eine historische Folgerichtigkeit zuschreibt: Die Ahnen exemplified a national literature appropriate to solidifying the new national aggregate that had come into being under Prussian leadership. […] [The cycle is an] example of the invention of a common German past, an idealized and monumentalized one that was to promote in German-speaking readers […] universal identification with the newly formed empire.1553 1549 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London & New York: Verso, 2006. Hier: p. 204. 1550 Ebd.: p. 205. 1551 Woodford: p. 254. 1552 Ebd.: p. 257. 1553 Tatlock, Lynne: »›In the Heart of the Heart of the Country‹: Regional Histories as National

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Wie diese »invention of a common German past« in Freytags Monumentalzyklus genau bewerkstelligt wird, wollen und können wir hier nicht im Detail zeigen. Es genügt ein kurzer Blick auf den ersten Band der Ahnen – Ingo und Ingraban –, um sich ein Gefühl für Freytags nationalistische »credentials«1554 zu verschaffen. Schon auf den ersten Seiten ist die Rede von »römische[r] Untreue« (der Roman spielt in der Zeit der Völkerwanderung) – »die welsche Sitte schleicht wie eine Pest durch unsere Täler«1555. Freytag gelingt hier nicht nur die Einführung einer homogenen und offenbar ›germanischen‹ Identität, deren ›untreues‹ Gegenbild die dekadenten Spätrömer sind (keine leichte Aufgabe, wenn man die enorme historische und emotionale Distanz der intendierten Leserschaft zur beschriebenen Epoche bedenkt), sondern auch ein subtiler, aber für ein zeitgenössisches Publikum bestimmt sofort verständlicher Seitenhieb: denn »welsch[]« sind natürlich nicht nur die Römer, sondern auch der besiegte ›Erbfeind‹ Frankreich1556 (›welsch‹ taucht in dieser Form übrigens auch in Dahns Kampf um Rom auf1557). Von der ersten Seite an bemüht sich Freytag offensichtlich um die Konstruktion der besagten »common German past«, sodass sogar der Kampf germanischer Stämme gegen römische Soldaten in gleichsam typologischer Manier auf den gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg zu verweisen scheint. Es überrascht kaum, dass ein Werk mit einer derart doppelbödigen Appellstruktur, das im Geschichtenerzählen zugleich auf eine für die intendierte Leserschaft befriedigende Weise Geschichte erzählt, zum Verkaufserfolg wurde: »Freytag’s novels were popular because his readership recognized itself as the subject of history, and shared the values which the novels advocate«1558. Die Ahnen verfolgt mithin eine klar ideologische Absicht, eine »programmatic intention«1559 : Hier nimmt die Historie einen teleologischen Verlauf; die Ereignisse führen allesamt auf das ideale Ziel der »unification of the nation« zu, das laut Freytag »the pinnacle of historical development«1560 darstellt. Die Ahnen endet 1848, nimmt aber in prophetischen Anspielungen die Reichsgründung

1554 1555 1556 1557 1558 1559 1560

History in Gustav Freytag’s Die Ahnen (1872 – 80)«. A Companion to German Realism 1848 – 1900. Hg. von Todd Kontje. Rochester NY: Camden House, 2002: p. 85 – 108. Hier: p. 85. Woodford: p. 261. Freytag, Gustav : Die Ahnen. Vollständige Ausgabe in einem Bande. Berlin: Verlag von Th. Knaur Nachf. (o. J.). Hier: p. 16. Zur Bedeutung von ›welsch‹, siehe Durrell, Martin: »Political Unity and Linguistic Diversity in Nineteenth-Century Germany«. German Federalism: Past, Present and Future. Hg. von Maiken Umbach. Houndmills et al.: Palgrave, 2002: p. 91 – 112. Hier: p. 95. Siehe Woodford: p. 258. Ebd.: p. 265. Ebd.: p. 259. Ebd.: p. 260.

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vorweg und macht am Ende noch einmal die Geschichte als »chain of connected events«1561 lesbar : Vielleicht wirken die Taten und Leiden der Vorfahren noch in ganz anderer Weise auf unsere Gedanken und Werke ein, als wir Lebenden begreifen. Aber es ist eine weise Fügung der Weltordnung, daß wir nicht wissen, wie weit wir selbst das Leben vergangener Menschen fortsetzen, und daß wir nur zuweilen erstaunt merken, wie wir in unsern Kindern weiterleben. Vielleicht bin ich ein Stück von jenem Manne, welcher einst an dieser Stelle von dem Reformator gesegnet wurde […]. Aber […] keiner sah wie wir von dieser Höhe hinab in die Landschaft eines großen deutschen Volkes, welches über der Arbeit ist, das Haus seines Staates zu zimmern. Was wir uns selbst gewinnen an Freude und Leid durch eigenes Wagen und eigene Werke, das ist doch immer der beste Inhalt unseres Lebens, ihn schafft sich jeder Lebende neu. Und je länger das Leben einer Nation in den Jahrhunderten läuft, um so geringer wird die zwingende Macht, welche durch die Taten des Ahnen auf das Schicksal des Enkels ausgeübt wird, desto stärker aber die Einwirkung des ganzen Volkes auf den einzelnen […]. Dies aber ist das Höchste und Hoffnungsreichste in dem geheimnisvollen Wirken der Volkskraft.1562

Allerdings wird am Ende des Romanzyklus, wie obiges Zitat ebenfalls zeigt, die linear durch die Ahnen vererbte ›deutsche‹ Identität offenbar relativiert: Das Telos der Geschichte scheint in der Staatsgründung erreicht – auch wenn hier von den gescheiterten Bemühungen um 1848 die Rede ist; gemeint ist wohl wiederum, im Sinne der erwähnten typologischen Doppelbödigkeit, die Gegenwart, also die erfolgreiche Reichsgründung von 1871. Die Geschichte scheint an ihrem Ende angelangt zu sein, und so nimmt der Einfluss der Ahnen ab: Schließlich suggeriert der ganze Zyklus, dass die »foundation of the German nation state […] the life’s work of each of the forefathers« war und »by each successive generation«1563 weiterverfolgt wurde. Mit der erfolgreichen Realisierung dieses ›Projekts‹ emanzipiert sich das Volk behutsam von der »zwingende [n] Macht« der vorhergehenden Generationen, es ist reif geworden und kann nun, im eigenen Staat, auf seine ureigene und »geheimnisvolle[] […] Volkskraft« vertrauen. Dieses Ende verdeutlicht, wie straff teleologisch Freytags Geschichtskonzeption wirklich war : Historische Ereignisse sind in den Ahnen gleichsam ›plot devices‹, die sich bruchlos in die narrative der angeblich jahrhundertelangen Bemühungen der Deutschen um einen eigenen Nationalstaat fügen. Es wird nicht nur postuliert, dass der Wunsch nach einem eigenen Staat bereits in der Zeit der Völkerwanderung die Germanen beschäftigt habe, sondern auch, wie gesagt, dass es immer schon eine homogene, die Zeiten überdauernde ›deutsche‹ Identität gegeben habe, die in krassem Gegensatz zum 1561 Ebd.: p. 262. 1562 Freytag: p. 1327 f. 1563 Woodford: p. 262.

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›welschen‹ Wesen stehe und sich nicht zuletzt aus dem verzehrenden Bedürfnis nach einem ›deutschen‹ Staat speise. Gustav Freytags zielgerichtetes, naives und nationalistisches Geschichtsbild hat somit wenig mit dem kritischen und skeptischen historiographischen Interesse der ›Väterliteratur‹ zu tun. Die Einordnung der ›Väterliteratur‹ in die Tradition des historischen Romans des 19. Jahrhunderts ist aber trotzdem sinnvoll. Zum einen ganz einfach deshalb, weil ein spezifischer Vergleich der ›Väterbücher‹ mit Freytags Zyklus den Blick auf zwei sehr verschiedene literarische Ansätze freigibt, die aber ähnlichen Bedingungen entspringen: In Zeiten geschichtlicher Umwälzungen kommt es, wie bereits erwähnt, offenbar zu literarischen Bearbeitungen ebendieser Umwälzungen; diese Bearbeitungen können die Form ideologisch-geschichtsphilosophischer Reflexionen annehmen, wie das bei Freytag der Fall ist, aber auch rationalere und kritische Ansätze sind möglich, wie die ›Väterliteratur‹ zeigt. Ein Vergleich der ›Väterbücher‹ mit Freytags Zyklus offenbart also die ganze Bandbreite historiographisch motivierter Dichtung, das ganze politische und erkenntnistheoretische Spektrum, das diese Hybride aus Geschichtsschreibung und Literatur abzudecken vermögen. Zieht man nun noch den anderen zuvor erwähnten historischen Romanzyklus in Betracht – Fontanes Vor dem Sturm –, so zeigt sich, dass das Verhältnis der ›Väterliteratur‹ zu den historischen Romanen des 19. Jahrhunderts nicht nur eines der der frappierenden Differenz trotz Familienähnlichkeit ist, sondern dass es in Bezug auf historiographisches Schreiben offenbar auch bemerkenswerte Kontinuitäten gibt. In Vor dem Sturm begegnet nämlich ein ganz anderes Paradigma historiographischer Literatur als bei Freytag, und man muss überraschende Gemeinsamkeiten zwischen Fontanes Geschichtsbild und demjenigen der ›Väterliteraten‹ konstatieren. Vor dem Sturm umspannt nicht wie Freytags Zyklus ganze Jahrhunderte, sondern spielt im Winter 1812 / 13, kurz vor den Befreiungskriegen, in einer »period of relative calm«1564, die sich eigentlich nicht für eine literarische Verarbeitung anbietet. Auch inhaltlich verzichtet Fontane auf jegliche Anbiederung an ein breites Publikum: »he eschews the action which is expected by the reader of a historical novel«1565. Dementsprechend erreichte Fontanes historischer Romanzyklus, wie schon erwähnt, nie die Auflagen von Freytags Ahnen, und Julius Rodenberg, Kritiker bei der Deutschen Rundschau, schrieb am 27. Dezember 1878 in sein Tagebuch: An Fontane’s Vor dem Sturm würge ich nun schon bald acht Wochen; es ist nicht zu sagen, was das für ein albernes Buch ist. Ein Roman in vier Bänden, mit gewiß nicht

1564 Ebd.: p. 266. 1565 Ebd.

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weniger als 100 Personen und dabei nicht so viel Handlung, um auch nur einen halben Band daraus zu machen. Und das muß man lesen und darüber auch noch schreiben!1566

Am deutlichsten äußert sich Fontanes Widerstand gegen die Erwartungen von Kritik und Leserschaft aber in seiner Weigerung, ein nationalistisch-teleologisches Geschichtsbild im Sinne der Ahnen zu transportieren1567. Erst nach hunderten Seiten, die Exposition und Beschreibungen gewidmet sind1568, bietet Fontane im vierten Teil von Vor dem Sturm die von den Konsumenten historischer Romane gemeinhin erwarteten »intrigues, set-piece battle scenes, rescue missions«, weigert sich aber auch dann noch, eine »clear differentiation between morally right and wrong«1569 vorzunehmen, wie man sie in Form von Freytags Schmähung der ›Welschen‹ schon im ersten Band der Ahnen antrifft. Obwohl Fontane in Vor dem Sturm durchaus einen historiographisch fundierten Patriotismus zu artikulieren suchte, äußerte er sich mit Abscheu über ideologisierte Geschichtsklitterung im Stile Freytags und überhaupt über tumben Nationalismus: Das Buch ist der Ausdruck einer bestimmten Welt- und Lebensanschauung; es tritt ein für Religion, Sitte, Vaterland, aber es ist voll Haß gegen die ›blaue Kornblume‹ und gegen ›mit Gott für König und Vaterland‹, will sagen, gegen die Phrasenhaftigkeit und die Karikatur jener Dreiheit.1570

Unter diesen Prämissen pflegt Fontane in Vor dem Sturm eine ähnliche Form historiographischer Dichtung, wie wir sie in der ›Väterliteratur‹ konstatierten: Die Komplexität historischer Ereignisse wird stets in den Vordergrund gestellt, und Fontane postuliert keinen teleologischen Geschichtsverlauf im Sinne eines deutschen Nationalismus. Zudem betont Fontane die Heterogenität der brandenburgischen Provinz, verweist auch auf die ganz und gar ›undeutschen‹ oder jedenfalls ›unpreußischen‹ Einflüsse – ganz anders Freytag, der die Legitimation für und das Bedürfnis nach einer Überwindung aller Differenz in einem deutschen Nationalstaat bereits in der Peripherie, in der Provinz, ortet, und für den »local histories represent the German nation«1571. Einige Beispiele für Fontanes differenzierte historiographische Aktivität 1566 Fontane, Theodor : Briefe an Julius Rodenberg. Eine Dokumentation. Hg. von HansHeinrich Reuter. Berlin: Aufbau Verlag, 1969. Hier: p. 175. 1567 Auf diese Verweigerung verweisen auch Woodford: p. 267, und Osborne, John: Meyer oder Fontane? German Literature after the Franco-Prussian War 1870 / 1, Bonn: Bouvier, 1983. Hier : p. 109. 1568 Siehe Woodford: p. 266. 1569 Ebd.: p. 267. 1570 Fontane, Theodor : Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München: Carl Hanser Verlag, 31990 (= Werke, Schriften und Briefe I, Bd. 3). Hier : p. 764 (Brief an Wilhelm Hertz vom 24. November 1878). 1571 Tatlock: p. 92.

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seien kurz genannt. Da ist zunächst das Kapitel »Durch zwei Tore«, in welchem der Protagonist – der adlige Student Lewin von Vitzewitz – in Berlin auf eine Schar geschlagener französischer Soldaten trifft, die aus Russland zurückkehren: Er war noch kaum dreihundert Schritt’ darüber hinaus, als er auf dem breiten Fahrdamm […] einen ungeordneten Trupp Menschen auf sich zukommen sah […]. […] [E]s waren keine raschen Fußgänger mehr, die da heranmarschierten. […] [B]ei genauer Musterung zeigte sich der ganze Jammer ihres Zustandes. Die Stiefel, soweit sie derer hatten, waren aufgeschnitten, um die verschwollenen Füße minder schmerzvoll hineinzuzwängen, und wenn der Wind den Mantel auseinanderschlug, sah man, wie die Gamaschen herabhingen oder völlig fehlten. Alles desolat. […] Sie sahen nach Lewin hin und grüßten ihn artig, aber scheu. […] Lewin faßte sich ein Herz, trat an [einen der Soldaten] heran und sagte: ›Vous venez…‹, aber die Stimme versagte ihm, und ›de la Russie‹, ergänzte der Korporal, während er die Hand an den Tschako legte. Im nächsten Augenblick war der Zug vorüber, ein Leichenzug, der sich selber zu Grabe trug. Lewin sah ihm minutenlang nach, und Empfindungen, wie sie seine Seele nie gekannt, durchwühlten ihn. ›Das sind die, denen wir aufpaßen und Fallen legen und die wir dann hinterrücks erschlagen sollen. […] [D]as wäre schlimmer als den Schlaf morden, schlimmer als das Schlimmste‹.1572

Nicht nur, dass dem Krieg hier jegliche Glorie genommen wird – die Passage ist tatsächlich »voller Hass« gegen nationalistische »Phrasenhaftigkeit« –, auch die französischen Soldaten, eigentlich Lewins Feinde, werden mit Empathie und Mitleid geschildert; sie sind tapfer, anständig, und grüßen den Deutschen sogar »artig, aber scheu«. Fontane weigert sich offenbar, an die üblichen Ressentiments gegen die ›Welschen‹ zu appellieren, wie das Freytag in den Ahnen sehr bereitwillig tut: »The issue of patriotism is lost amidst a humanist compassion which overrides national boundaries«1573. Auch Fontanes Darstellung der Mark Brandenburg in Vor dem Sturm musste zeitgenössische Lesererwartungen enttäuschen: Wie bereits angemerkt, wird hier nicht anders als bei Freytag die provinzielle Szenerie gerade nicht als pars pro toto für das ersehnte Deutsche Reich inszeniert, sondern vielmehr ein respektvolles Bewusstsein für lokale Differenz und Vielfalt gepflegt. Ein teleologisches Geschichtskonzept, das solche Differenz zu Gunsten eines monolithischen Nationalstaats zu nivellieren sucht, wird verworfen: »rather than locating the German spirit in the regional setting of his novel, [Fontane] tried to highlight the particularity of the ethnically mixed regional identity and emphasize the richness in which it results«1574. So kommt Fontane an vielen Stellen auf den Umstand zu sprechen, dass Brandenburg eben »ethnically mixed« und keines1572 Fontane: p. 434 f. 1573 Woodford: p. 268. 1574 Ebd.: p. 269 f.

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wegs »simply […] German«1575 ist, also viele Einwohner mit polnischen (oder, wie es im Roman meist heisst, ›wendischen‹) Wurzeln hat1576. Das Konzept einer homogenen ›deutschen‹ Identität, die allem Fremden misstraut und auf die Gründung eines genuin ›deutschen‹ Staates erpicht ist, wird in Fontanes historischem Roman mithin systematisch unterminiert und kritisiert – nicht zuletzt durch die Präsenz von Charakteren wie dem pfälzischen ›Immigranten‹ Kniehase, der »treu wie Gold«1577 ist, oder durch die Erinnerung an die Tatsache, dass am Hof Friedrichs des Großen französisch gesprochen wurde. Besonders deutlich wird Fontanes Widerstand gegen ein zielgerichtetes nationalistisches Geschichtsbild aber in seiner Darstellung des Pfarrers Seidentopf in Vor dem Sturm: In der Figur dieses begeisterten Heimatforschers und Sammlers von »Altertumsfunden«1578, der, wie der Erzähler spöttisch bemerkt, wohl manchmal zu »Bekmanns historische[r] Beschreibung der Kurmark Brandenburg«1579 greife statt zur Lutherbibel, persifliert er nämlich ebendiese teleologische Geschichtskonzeption. Seidentopf ist »ein archäologischer Enthusiast trotz einem, und ausgerüstet mit all den Schwächen, die von diesem Enthusiasmus so unzertrennlich sind wie die Eifersucht von der Liebe. Er phantasierte, er ließ sich hinters Licht führen; […] er sammelte nicht, um zu sammeln, sondern um einer Idee willen. Er war Tendenzsammler«1580. Die »Idee« und »Tendenz«, die Seidentopf vertritt, ist, eben, die des historisch fundierten Nationalismus, die »idea that the past can be used to demonstrate the German identity of the Heimat throughout the ages«1581: [S]obald es sich um Urnen und Totentöpfe handelte, [hatte Seidentopf] die Dogmenstrenge eines Großinquisitors. Er duldete keine Kompromiße, und als erstes und letztes Resultat seiner Forschungen stand für ihn unwandelbar fest, daß die Mark Brandenburg nicht nur von Uranfang ein deutsches Land gewesen, sondern auch durch alle Jahrhunderte hin geblieben sei. Die wendische Invasion habe nur den Charakter einer Sturzwelle gehabt, durch die oberflächlich das eine oder andere geändert, dieser oder jener Name slawisiert worden sei. Aber nichts weiter. In der Bevölkerung […] habe deutsche Sitte und Sage fortgelebt […].1582

Seidentopf wird schon mit milder Ironie eingeführt; endgültig lädiert wird sein Weltbild dann durch seinen Freund und ideologischen Gegenspieler, den slawenfreundlich eingestellten Justizrat Turgany. Dieser zeigt dem Pfarrer bei 1575 1576 1577 1578 1579 1580 1581 1582

Ebd.: p. 269. Siehe z. B. Fontane: p. 70, p. 73, p. 131, p. 213, p. 83, p. 97. Fontane: p. 221. Ebd.: p. 85. Ebd. Ebd.: p. 86. Woodford: p. 271; Hervorhebung im Original. Fontane: p. 86; Hervorhebung im Original.

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einem Besuch ein prachtvolles Fundstück, »einen kleinen Bronzewagen«, bei dessen Anblick »der Pastor […] geblendet« ist und nur noch die »naive[] Freude des Sammlers«1583 empfindet. Turgany bringt den Geistlichen in große Nöte, als er ihm enthüllt, dass es sich beim Artefakt um ein wendisches Kunstwerk handle – um das hervorragende Produkt einer Schaffenskraft also, die der Pfarrer bis dato stets negiert hatte. Überhaupt, so Turgany, seien »[d]ie Deutschen dieser Gegenden […] Wilde« gewesen, und damit nicht in der Lage, solche Kunstwerke zu kreieren: »sie hatten Menschenopfer, sie schlitzten ihren Feinden die Bäuche mit Feuersteinen auf. Sie aber, die gesitteten Wenden, die du verleugnest, sie hatten Tempel, trugen feine Gespinste und schmückten sich und ihre Götter mit goldenen Spangen«1584. Nur mit Hilfe einer sophistischen Volte kann Seidentopf seine dogmatische Sichtweise vor solchen Anfechtungen schützen: Er ringt Turgany das Zugeständnis ab, »daß die Bronze der gemanischen Zeit mit Ausschließlichkeit angehört, wie das Eisen der wendischen«, und dass daher der Bronzewagen, »weil er bronzen ist«, eben doch irgendwie »germanisch« sei – »[w]as er innerhalb der germanischen Welt war«, so der Pfarrer in kleinlichem Triumph, »das ist erst von zweiter Bedeutung«1585. Schon ein kurzer Blick auf Vor dem Sturm zeigt also, dass Fontane auf verschiedenen Ebenen – beispielsweise in der Beschreibung der französischen Soldaten und der Geschichte der Mark Brandenburg oder in der Figur des Pfarrers Seidentopf – systematisch die zeittypischen Lesererwartungen enttäuscht und subvertiert. Vor dem Sturm ist ein historischer Roman, der gleichsam auf einer Meta-Ebene das »genre of the historical novel«1586 kritisch reflektiert und die gängige, bei Gustav Freytag exemplarisch verwirklichte teleologische Geschichtskonzeption problematisiert. Stattdessen legt Fontane den Fokus auf die »complexities of the past, and uses them to shed light on the moral ambiguities of nationalism in his own time«1587. Ganz Ähnliches leistet, wir betonen es nochmals, die ›Väterliteratur‹. Eine bereits erwähnte wichtige Gemeinsamkeit von ›Väterliteratur‹ und historischem Roman soll am Ende dieses Kapitels nochmals betont werden – denn auf ihrer Basis können wir vielleicht, wie im Titel des Kapitels versprochen, die Bedingungen der Genese der ›Väterliteratur‹ in den Siebzigerjahren näher erklären: Wie wir feststellten, entspringen die ›Väterbücher‹ genau wie die besprochenen Werke von Freytag und Fontane einem spezifischen historischen Moment. Es handelt sich sowohl bei der ›Väterliteratur‹ als auch bei den diskutierten historischen Romanzyklen um Literatur, die Umwälzungen und Ver1583 1584 1585 1586 1587

Ebd.: p. 96. Ebd.: p. 98. Ebd.: p. 100; Hervorhebung im Original. Woodford: p. 274. Ebd.

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änderungen konstatiert, reflektiert und analysiert. Dabei steht Freytag, wie wir zeigen konnten, für ein anderes Paradigma als Fontane und die ›Väterliteraten‹, aber der Impetus ist ein ähnlicher : Fontane und Freytag reagieren beide auf die historische Wende der Reichsgründung von 1871. Die Autorinnen und Autoren der ›Väterliteratur‹ verarbeiten ihrerseits den komplexen geschichtlichen Augenblick, in dem sie sich wiederfinden: Als Angehörige der ›zweiten Generation‹, als direkte Nachkommen der Mitläufer und Täter des ›Dritten Reichs‹, sehen sie sich in den Siebzigerjahren nicht nur mit problematischen sterbenden Vätern konfrontiert (die klassische Definition der ›Väterliteratur‹ reduziert die Texte ja auf diesen Komplex) – die unverarbeitete Schuld der Eltern, das zeigen die ›Väterbücher‹ immer wieder, spiegelt sich vielmehr auf einer Makroebene in der ganzen Gesellschaft. Also kommt es in den ›Väterbüchern‹, wie diese Arbeit zu zeigen suchte, zumeist zu einer Krise des Vertrauens in die eigenen Eltern und die eigene Gesellschaft; es kommt mithin neben der Auseinandersetzung mit den Taten und Versäumnissen der Eltern auch zur Konfrontation mit der institutionalisierten Verdrängung und der von den Erzählinstanzen oft konstatierten Kontinuität des nationalsozialistischen Gedankenguts in der Bundesrepublik – und diese Konfrontation geschieht, wie unsere Einzelanalysen ebenfalls zeigten, meist im Zeichen einer bemerkenswerten und durchaus historiographisch zu nennenden Stringenz. Hier wäre womöglich eine Brücke zu schlagen zur Gedächtnistheorie Aleida Assmanns, die zwei fundamentale »Modi der Erinnerung«1588 unterscheidet: Das Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis. Das Funktionsgedächtnis begreift Assmann als »bewohntes Gedächtnis«, als ein Gedächtnis also, dessen Erinnertes einen Gegenwartsbezug aufweist: Das Funktionsgedächtnis ist »mit einem Träger« verbunden, »der eine Gruppe, eine Institution oder ein Individuum sein kann«, vermittelt in identitätsstiftender Weise »Werte«, und verfährt dabei »selektiv«1589. Kurz, das Funktionsgedächtnis ist, um es vereinfacht auszudrücken, kanonisch, es zeichnet sich aus durch »Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung«1590, es ist »konstruiert, komponiert« und »verbunden« und stiftet somit »Sinn«1591. Das Speichergedächtnis dagegen ist gleichsam ein »Gedächtnis zweiter Ordnung«, das »in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat«1592. Dieses Gedächtnis ist »unbewohnt«1593, handelt es sich bei seinen Inhalten doch um »Relikte und 1588 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck, 41999. Hier: p. 130. 1589 Ebd.: p. 133. 1590 Ebd.: p. 134. 1591 Ebd.: p. 137; Hervorhebung im Original. 1592 Ebd.: p. 134. 1593 Ebd.: p. 133; Hervorhebung im Original.

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besitzerlos gewordene Bestände«1594, die im Gegensatz zu den Inhalten des Funktionsgedächtnisses nicht kulturell und politisch funktionalisiert sind: also das »unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, […] aber auch das Repertoire verpasster Möglichkeiten«1595. Das im Speichergedächtnis aufbewahrte Vergangene kann jedoch durchaus, wie es bei Assmann etwas diffus heißt, »auch so wieder aufbereitet werden, daß [es] neue Anschlußmöglichkeiten zum Funktionsgedächtnis biete[t]«1596. Genau an diesem Angelpunkt zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis könnte man die ›Väterliteratur‹ situieren: Den in dieser Arbeit diskutierten Texten ist daran gelegen, Vergangenes aus dem »unbewohnten« Speichergedächtnis herauszulösen und in das Funktionsgedächtnis der bundesdeutschen und österreichischen Gesellschaften der Siebzigerjahre einzugliedern. Wenn man beispielsweise einmal mehr an die Eröffnungsszene der Kleinen Figur meines Vaters denkt, wird dieser Impetus besonders deutlich, denn Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis prallen hier direkt aufeinander. Das von der »Frau Vizebürgermeister« und einer Mehrheit der Anwesenden ›bewohnte‹ und funktionalisierte Gedächtnis spart die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich schlicht aus. Dieses Funktionsgedächtnis entspricht exakt der Assmannschen Definition: Es ist »verbunden mit einem Träger« – hier einer Trägerin, die eine »Institution« vertritt –, es »schlägt eine Brücke über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« – in Form der panegyrischen Auflistung von Walter Henischs Lebensleistungen –, es verfährt dabei »selektiv, indem es dieses erinnert und jenes vergisst«, und es »vermittelt Werte«1597, da es einen Bürger von Staates wegen zum Vorbild nobilitiert. Die im Speichergedächtnis bewahrte nationalsozialistische Verstrickung des Fotografen wird dabei nur vom Erzähler aktualisiert, dessen ganzes Unterfangen im Gefolge dieser Anfangsszene darauf abzuzielen scheint, das von der »Frau Vizebürgermeister« vertretene Funktionsgedächtnis durch Aufarbeitung der Vergangenheit zu delegitimieren. Auch das Speichergedächtnis tritt hier also im Assmannschen Sinne in Erscheinung: Als von der Gegenwart abgeschnittenes und kulturell nicht funktionalisiertes »unbewohntes« Gedächtnis, das aber durchaus als »Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse« zu begreifen ist, als »Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens und […] Bedingung der Möglichkeit kulturellen Wandels«1598. Die Assmannsche Gedächtnistheorie ist mithin durchaus geeignet, die spezifische Krisensituation zu charakterisieren, mit welcher sich die hier behandelten Autorinnen und Autoren auseinandersetzen. Die ›Väter1594 1595 1596 1597 1598

Ebd.: p. 134. Ebd.: p. 137. Ebd. Ebd.: p. 133. Ebd.: p. 140.

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bücher‹ zeugen nicht zuletzt von einem historischen Moment, in dem das kollektiv verankerte Funktionsgedächtnis unglaubwürdig geworden ist und der »Austausch«1599 zwischen Funktions- und Speichergedächtnis aufgrund der kollektiven Verdrängungsleistung nicht mehr gewährleistet ist. Eine Möglichkeit, mit dieser »Verabsolutierung und Fundamentalisierung« eines delegitimierten Funktionsgedächtnisses umzugehen, ist die in der ›Väterliteratur‹ begegnende nahezu gewaltsame Aktualisierung des Verdrängten, das aus der »Ressource« des Speichergedächtnisses geborgen wird – so kann das Speichergedächtnis wieder als »Korrektiv für aktuelle Funktionsgedächtnisse«1600 dienen. Einmal mehr zeigt sich, dass die Reflexionen der hier behandelten Autorinnen und Autoren, wie Assmann in ihrem Aufsatz über die ›Väterliteratur‹ richtig festhält, aus »besonderen historischen Umständen« resultieren; die »Rolle« dieser Autorinnen und Autoren ist daher, wie diejenige der »68er«, »vorwiegend eine symptomatologische: Sie agieren eine historische Psychodynamik aus, in die sie verstrickt sind […]«1601, eben indem sie der Krise der herrschenden Funktionsgedächtnisse mit einem produktiven Rückgriff auf das Speichergedächtnis begegnen. Es ist auch und gerade diese historische Spezifität der ›Väterliteratur‹, die Vergleiche mit dem Sturm und Drang und dem Expressionismus problematisch macht: Diese literarischen Strömungen sind ja in jeweils eigenen historischen Kontexten anzusiedeln und hatten distinkte literaturexternen Probleme und »Psychodynamik[en]« zu verhandeln, für die es in der ›Väterliteratur‹ keine direkte Entsprechung gibt (beispielsweise das Verhältnis von Adel und Bürgertum im Sturm und Drang und die Abrechnung mit den kriegslüsternen Vätern des wilhelminischen Deutschland im Expressionismus). Unser Verweis auf die historischen Romane des 19. Jahrhunderts zeigt aber, dass die in der ›Väterliteratur‹ begegnende produktionsästhetische Haltung – die dichterische Auseinandersetzung mit geschichtlichen Veränderungen – als solche durchaus eine Tradition in der deutschsprachigen Literatur hat. Unsere Sicht der ›Väterliteratur‹ erhält auf der Basis der Ausführungen in diesem Kapitel also eine weitere Dimension: Die behandelten Texte sind nicht nur als Manifestationen einer ›Vertrauenskrise‹ und als Hybride von Dichtung und Geschichtsschreibung lesbar geworden, auch für ihre Genese in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts haben wir womöglich, nicht zuletzt dank Aleida Assmanns Gedächtnistheorie, eine Erklärung gefunden. Gezeigt wurde nämlich, dass die ›Väterliteratur‹, wie die Zyklen von Fontane und Freytag, in erster Linie eine Auseinandersetzung mit einem besonderen geschichtlichen Moment dar-

1599 Ebd. 1600 Ebd. 1601 Assmann 2010: p. 199.

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stellt, in welchem ein abgelebtes Funktionsgedächtnis der wirksamen Erneuerung aus dem Reservoir des Speichergedächtnisses harrte. Der Zusammenhang der ›Väterliteratur‹ mit »besonderen historischen Umständen« wurde in der Forschung bislang kaum reflektiert, ebensowenig wie die Tatsache, dass dieser Zusammenhang im Grunde als Anknüpfung an die Tradition des historischen Romans verstanden werden kann. Was an der ›Väterliteratur‹ spezifisch und auf den historischen Moment bezogen ist, hat man tendenziell ignoriert oder als Banalität abgehandelt, im Glauben, dass eine Einordnung der ›Väterbücher‹ in Kontexte wie denjenigen der neuen Subjektivität profundere und vielversprechendere Erklärungen für das Aufkommen der ›Väterliteratur‹ bieten würde. Symptomatisch verfahren in dieser Hinsicht Karl Ermert und Brigitte Striegnitz in der Einleitung zum Tagungsband der Loccumer Konferenz über ›Väterliteratur‹: Eines der wichtigsten situationsbezogenen Momente in der Genese der ›Väterliteratur‹ – die Tatsache, dass »[d]ie Väter der jüngeren und mittleren Schriftstellergeneration sterben« und die Nachkommen dadurch gezwungen sind, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen – wird als »einfacher Grund« für die »erstaunliche Zahl von Büchern«1602 abgetan und sodann nicht weiter erwähnt. Dabei könnte man, wie wir das in diesem Kapitel im Groben getan haben, unter anderem von diesem »einfache[n] Grund« ausgehen, um den besonderen geschichtlichen Augenblick zu erklären, an dem sich die ›Väterliteratur‹ abarbeitet. Als »wichtigere[n] Gr[u] nd[]« für die Popularität der ›Väterbücher‹ erachten Ermert und Striegnitz ihre steile und im Verlauf der vorliegenden Arbeit wohl widerlegte These, dass die »Väter-Bücher […] die konsequente Fortsetzung der ›Neuen Subjektivität‹ [darstellen]«1603. Auch Mauelshagen vermeidet es, das Phänomen der ›Väterliteratur‹ zu historisieren und stringent in literarische Traditionen einzuordnen (abgesehen von den erwähnten oberflächlichen Verweisen auf den Expressionismus); sie erstickt solche Fragestellungen im Keim, indem sie pauschal festhält, dass die ›Väterliteratur‹ »vor allem […] in der sogenannten ›Neuen Subjektivität‹ der siebziger Jahre verwurzelt«1604 sei. Nun haben unsere Einzelanalysen in hinreichender Deutlichkeit gezeigt, dass eine Klassifikation der ›Väterbücher‹ als Werke der neuen Subjektivität nicht zielführend ist. Die allgemeiner gehaltenen Überlegungen zur historiographischen Komponente der ›Väterliteratur‹, die wir in diesem Kapitel vorbrachten, zeigen nun noch klarer, wie irreführend der Verweis auf die neue Subjektivität in Bezug auf die hier diskutierten Texte ist: Wir konnten demonstrieren, dass in den ›Väterbüchern‹ eine bestimmte historische Situation literarisch bearbeitet wird und dass dieses 1602 Deutsche Väter : p. 1. 1603 Ebd. 1604 Mauelshagen: p. 18.

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Vorgehen in einer Tradition steht, die auf den deutschsprachigen historischen Roman zurückführt. Die neue Subjektivität unterscheidet sich nun ja gerade insofern von der kämpferischen Literatur, die im Umfeld von 1968 entstand, als sie Rückzüge in und Reflexionen über prinzipiell ahistorische Innerlichkeiten und subjektive Befindlichkeiten zur Darstellung bringt. Der historiographische Impetus der ›Väterliteratur‹ lässt sich mithin auf keiner Ebene mit den Charakteristika der neuen Subjektivität in Einklang bringen: Weder unsere detaillierten Einzelanalysen noch die in diesem Kapitel unternommenen generelleren Betrachtungen zu einer Historisierung der ›Väterliteratur‹ gestatten eine Taxierung der ›Väterbücher‹ als Beispieltexte der neuen Subjektivität. Wenn wir also über die Bedingungen der Genese der ›Väterliteratur‹ Klarheit erlangen wollen, so müssen wir von der hier erlangten Erkenntnis ausgehen, wonach diese literarischen Arbeiten ganz spezifischen historischen Konstellationen entsprangen und durchaus auch mit der Begrifflichkeit der Assmannschen Gedächtnistheorie zu beschreiben sind. Gibt man demnach den angeblichen Bezug zwischen der ›Väterliteratur‹ und der neuen Subjektivität auf und versucht man eine unvoreingenommene Bestandesaufnahme, erscheinen die Gründe für das Aufkommen dieses »Phänomen[s]« in der Tat »einfach[]«1605, aber nicht unbedingt banal, wie oft impliziert wird. Neben den bereits umrissenen geschichtlichen Begebenheiten und der – gedächtnistheoretisch betrachtet – drängenden Ausgangssituation gab es auch inner- und außerliterarische Einflüsse, welche die Auseinandersetzung mit den für die ›Väterbücher‹ typischen Themenkomplexen begünstigten: Die amerikanische Fernsehserie Holocaust, die 1979 erstmals in Deutschland ausgestrahlt wurde, wird bisweilen genannt1606, und natürlich ist nicht abzustreiten, dass gewisse Werke der neuen Subjektivität auch von den Autorinnen und Autoren der ›Väterliteratur‹ rezipiert und reflektiert wurden1607. Im Verlauf dieser Studie wurde allerdings deutlich, dass die Sekundärliteratur noch keineswegs »in ausreichendem Maße« auf »konkrete Einflüsse [hingewiesen]«1608 hat, wie Gehrke allen Ernstes behauptet. Die Sekundärliteratur übersieht nicht nur geflissentlich die im vorliegenden Kapitel und überhaupt in dieser Arbeit beschriebenen Traditionslinien und Kontexte, in die sich die ›Väterbücher‹ einfügen, sondern auch einen sehr naheliegenden weltliterarischen Einfluss auf die ›Väterliteratur‹. Die Rede ist von Gavino Leddas erfolgreichem Roman Padre Padrone aus dem Jahr 1975, der 1977 von den Gebrüdern Taviani verfilmt wurde. Leddas autobiographische Schilderung seines Werdegangs vom analphabetischen sardischen Hirten zum Pro1605 Deutsche Väter : p. 1. 1606 Gehrke: p. 52; Schneider: p. 3. 1607 So bezeichnet Peter Henisch Handkes Wunschloses Unglück explizit als Einfluss auf Die kleine Figur meines Vaters. Freundliche Mitteilung von Peter Henisch, 7. 9. 2010. 1608 Gehrke: p. 57.

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fessor für Sprachwissenschaft hat auf den ersten Blick wenig mit den Werken der ›Väterliteraten‹ gemein, aber viele der in der ›Väterliteratur‹ verhandelten Problemstellungen sind in Leddas ungemein populärem Werk bereits angelegt: Ledda zeichnet ein scharfes Bild einer extrem patriarchischen Kultur (der tyrannische Vater heißt zu allem Überfluss Abramo, was die Typisierung in Padre Padrone noch unterstreicht), kritisiert diese fundiert und verweist auch auf die Bedrohungen durch die (Post-)Moderne, mit denen sich diese jahrhundertealte archaische Ordnung konfrontiert sieht1609. Der Roman enthält neben dieser historiographischen und ideologiekritischen Untersuchung der traditionellen sardischen Gesellschaftsordnung auch analytische und politisch fundierte Passagen, wie sie für die deutschsprachige ›Väterliteratur‹ typisch sind: Ledda wendet sich gegen »dieses ganze hemmungslose Wettrennen um die Vermehrung von Geld und Gut« und nimmt eine marxistisch fundierte Abrechnung mit dem kleinbürgerlichen »Erwerbskampf« der Hirten vor, denen er »unbewusstes Bürgertum«1610 attestiert. So unterschiedlich die Ausgangssituation in Padre Padrone und die Möglichkeitsbedingungen der deutschsprachigen ›Väterliteratur‹ auch sein mögen: Den Versuch einer fundierten und analytischen Kritik einer von der Elterngeneration vorgelebten und als problematisch empfundenen Kultur unternimmt bereits Gavino Ledda – hier geht es, wie in der deutschsprachigen ›Väterliteratur‹, um mehr als einen simplen Generationenkonflikt; hier wird ein groß angelegtes »Drama des Patriarchen« verhandelt, hier prallen »zwei gleichermassen hartnäckige Kulturen aufeinander[]«1611, jeweils verkörpert durch Vater und Sohn. Im Umfeld der Entstehung der ›Väterliteratur‹ wurde Leddas autobiographisches Werk breit rezipiert: Die deutsche Übersetzung erreichte 1978 bereits die zweite Auflage – dies im Jahr der Erstausgabe –, und die Filmversion von den Gebrüdern Taviani wurde an den Internationalen Filmfestspielen Berlin 1977 mit dem Interfilm Grand Prix ausgezeichnet. Der Stoff erregte weitere Aufmerksamkeit als sich eine »Gruppe von Regisseuren, Verleihern und Kinobesitzern« – darunter Werner Herzog – im April 1978 »vor einem Kino in München öffentlich anketten ließen, um dagegen zu protestieren, dass […] Padre Padrone […] in der Bundesrepublik nur im Fernsehen laufen sollte«1612. Ob und wie stark Padre Padrone das Aufblühen der ›Väterliteratur‹ beeinflusst hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Fest steht aber, dass unser Versuch einer literarhistorischen Rekontextualisierung der ›Väterbücher‹ in 1609 Siehe beispielsweise: Ledda, Gavino: Padre Padrone. München: dtv, 42008. Hier: p. 7 ff., p. 92, p. 115, p. 171. 1610 Ebd.: p. 148 f. 1611 Ebd.: p. 262. 1612 Herzog, Werner : »Paolo und Vittorio Tavianis grosser Film Padre Padrone. Vom Ende des Analphabetismus«. Die Zeit 48 (24. 11. 1978): http://pdf.zeit.de/1978/48/VomEnde-desAnalphabetismus.pdf (7. 11. 2010; keine Paginierung).

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dieser Arbeit und besonders in diesem Kapitel erstmals den Blick für Einflüsse wie Leddas Roman und dessen Verfilmung eröffnet hat, welche in der bisherigen Forschung durch die vorschnelle Klassifizierung der ›Väterliteratur‹ als Begleiterscheinung der neuen Subjektivität überblendet wurden. Was mögliche Erklärungen für die Genese der ›Väterliteratur‹ betrifft, kann man also festhalten, dass die neue Subjektivität wohl entgegen der dominanten Forschermeinung einen untergeordneten Einfluss darstellte – das haben nicht nur unsere Einzelanalysen demonstriert, in deren Verlauf immer wieder deutlich wurde, dass die ›Väterbücher‹ sich kaum der neuen Subjektivität zuordnen lassen; auch der allgemeiner gefasste Versuch dieses Kapitels, die Traditionslinien und Möglichkeitsbedingungen der ›Väterliteratur‹ zu erhellen, lässt die Verweise auf die neue Subjektivität alles andere als überzeugend anmuten. Die ›Väterliteratur‹ erscheint nach unseren bisherigen Ausführungen überspitzt ausgedrückt als Zufallsprodukt einer spezifischen historischen Situation1613, welche sie mit den Mitteln der Dichtung und der Geschichtsschreibung reflektiert – ähnlich wie das die historischen Romane des 19. Jahrhunderts nach der Reichsgründung 1871 taten, und in einer Weise, die beschreibbar ist mit der von Aleida Assmann eingeführten gedächtnistheoretischen Terminologie. Der beste 1613 Aus diesem Grund habe ich es vermieden, Linda Hutcheons bekannten Terminus der »historiographic metafiction« auf die ›Väterliteratur‹ anzuwenden. Der Begriff ist Teil von Hutcheons umfangreicher Poetics of Postmodernism, und in diesem Rahmen leistet er Bedeutsames, denn er verweist auf die Tatsache, dass Literatur nicht unter einem Code von »truth« versus »falsity« zu lesen ist, dass es vielmehr gerade in postmodernen Texten zu spannungsvollen Konfrontationen des »metafictive and the historiographic« kommt, wodurch »the nature of historical knowledge« problematisiert wird (Hutcheon, Linda: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. New York und London: Routledge, 1988. Hier: p. 109; 111). Hutcheon hat allerdings den Anspruch, generelle Aussagen über »[p]ostmodern fiction« zu treffen (ebd.: p. 110); sie »erhebt« den Begriff der »historiographic metafiction« zum »Synonym für postmoderne Literatur« (Nünning, Ansgar: »›Beyond the Great Story‹. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion«. Anglia 117 (1999): p. 15 – 48. Hier: p. 22). Wenn diese Begrifflichkeit also auch grundsätzlich auf die ›Väterliteratur‹ passen mag, so trägt sie doch deren Heterogenität und Spezifität nicht Rechnung. Zur groben Charakterisierung der ›Väterliteratur‹ erscheint mir die von Ansgar Nünning geprägte Kategorie des »revisionistische[n] historische[n] Roman[s]« passender : Dieser Romantypus setze sich, so Nünning, »kritisch mit der Vergangenheit, dem kulturellen Erbe und literarischen Konventionen auseinander. [Er zeichnet sich dabei] dadurch aus, daß [er] der Gattung neue Themenbereiche erschließ[t], experimentelle Erzählverfahren zur Geschichtsdarstellung verwende[t], den Akzent vom vergangenen Geschehen auf dessen Auswirkungen auf und Bedeutung für die Gegenwart verlager[t] und historiographische Neuerungen reflektier[t]« (Nünning: p. 27). Solcherart gestaltete Texte – zu denen wohl auch die ›Väterbücher‹ zu zählen sind – ›revidieren‹ nicht nur Geschichtsverständnis und Geschichtsbewusstsein, sondern auch die Gattung des historischen Romans selbst, was sich in unserem Vergleich der ›Väterliteratur‹ mit dem Freytagschen Ansatz besonders deutlich zeigt (Nünning: p. 28, siehe auch McHale, Brian: Postmodernist Fiction. London: Methuen, 1987. Hier: p. 90).

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Beweis für die grosse geschichtliche Spezifität der ›Väterbücher‹ liegt in ihrer Publikationsgeschichte: Viele der hier besprochenen Texte, darunter auch solche, die seinerzeit durchaus populär waren und öffentlich diskutiert wurden, werden längst nicht mehr aufgelegt und sind nur noch antiquarisch erhältlich. Das überrascht kaum, wenn man eben die oben ausgeführte besondere Konstellation bedenkt, in welche diese Werke eingebettet sind: Die Auseinandersetzung der Mitglieder der ›zweiten Generation‹ mit der Vergangenheit fällt auf einen singulären geschichtlichen Moment, in welchem die Täter und Mitläufer der Elterngeneration wegzusterben beginnen und eine solche Auseinandersetzung mit dem herrschenden Funktionsgedächtnis neue Dringlichkeit erhält – und natürlich gehörten auch die intendierten Leserinnen und Leser der ›Väterbücher‹ dieser ›zweiten Generation‹ an und konnten unter Umständen direkte persönliche Bezüge zu den Geschichten herstellen. Solche Literatur florierte demnach in einem bestimmten Zeitfenster, das sich ungefähr von der Mitte der Siebzigerjahre bis in die frühen Achtzigerjahre erstreckte, und geriet später weitgehend in Vergessenheit. Man kontrastiere diese Entwicklung mit derjenigen der neuen Subjektivität: Die bekannteren Werke dieser Strömung sind aufgrund ihrer Beschäftigung mit subjektiven und damit in gewisser Weise zeitlosen Problemstellungen auch für heutige Rezipienten attraktiv und werden nach wie vor aufgelegt und gelesen, auch an den Schulen (man denke einmal mehr an Handkes Wunschloses Unglück, an Frischs Montauk oder an Schneiders Lenz). Von den ›Väterbüchern‹ dagegen sind im Grunde nur diejenigen in den Verlagsprogrammen geblieben, die auch unter überzeitlichen Gesichtspunkten rezipierbar sind – die also die hier beschriebene geschichtliche Situation in gewisser Weise transzendieren und die man als Leser mit relativ geringer Abstraktionsleistung aus ihrem spezifischen Zusammenhang herauslösen kann. So lassen sich Vespers Reise und Plessens Mitteilung an den Adel im weitesten Sinne als Dokumente der Studentenproteste von 1968 lesen, an denen offenbar ein ungebrochenes Interesse besteht: Beide Texte sind weiterhin problemlos greifbar. Peter Henischs Kleine Figur meines Vaters ist sodann ein ausnehmend spannend und süffig geschriebener Roman, der zudem nicht primär einen ›Vater‹ porträtiert, sondern eine für sich genommen hochinteressante historische Persönlichkeit; ähnliches gilt für Rehmanns Buch, in dem die Generationenverhältnisse ohnehin verschoben sind – auch diese Texte werden weiterhin aufgelegt und finden offenbar Leser. Meckels Suchbild, ebenfalls noch erhältlich, profitiert womöglich vom Nimbus der Originalität, der ihm von der Literaturgeschichtsschreibung verliehen wurde, welche den Roman oft als genrebegründendes ›Väterbuch‹ darstellt (eine problematische Behauptung, erschien doch Henischs erfolgreicher Roman vier Jahre vor dem Suchbild). Dass schließlich Härtlings Text noch leicht verfügbar ist, sagt wenig aus, da es sich bei Nachgetragene Liebe, wie wir zeigen konnten, nicht um ein ›Väterbuch‹ im Sinne

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der anderen hier diskutierten Texte handelt. Die restlichen Werke aber – die Bücher von Rauter, Gauch, Seuren, Schwaiger und Schutting – wurden seit den Achtzigerjahren kaum mehr oder nur in geringer Zahl neu aufgelegt und müssen heute antiquarisch erstanden werden. Ein kurzer Blick auf die publikationsgeschichtlichen Verhältnisse zeigt also, wie stark ausgeprägt die Zugehörigkeit dieser Texte zu einem bestimmten historischen Moment ist, welche die Genese der ›Väterliteratur‹ ermöglichte und begünstigte. Die Väter- oder Elternthematik als solche ist natürlich für Autorinnen und Autoren und auch für die Leserschaft interessant geblieben, hat sie doch eine Tradition, welche auf den Sturm und Drang zurückgeht1614. Die sehr spezifische und idiosynkratische Behandlung des Themenkomplexes, die man in der ›Väterliteratur‹ antrifft, scheint heute aber nicht mehr von allzu großem Interesse zu sein. Zusammenfassend dürfen wir festhalten: Unser Verweis auf eine mögliche Traditionslinie, die zwischen dem historischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der ›Väterliteratur‹ der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts verläuft, hat sich als sinnvoll erwiesen. Denn dieser Verweis leistet, was die bisherigen Versuche, die ›Väterbücher‹ literarhistorisch zu verorten, nicht zu leisten vermochten: Er gibt uns die Möglichkeit, den historiographischen Impetus der ›Väterliteratur‹ in einem übergeordneten Zusammenhang zu sehen und die hier diskutierten Werke zumindest in Bezug auf dieses Motiv als Wiedergänger historischer Romane des 19. Jahrhunderts zu betrachten. Im Zuge dieses Vergleichs frappierte zunächst die Diskrepanz zwischen dem Geschichtsbild der ›Väterliteraten‹ und demjenigen von Gustav Freytag; aber auch dieser Kontrast stellt einen interessanten Befund dar. Wir konnten auch konstatieren, dass in zumindest einem historischen Romanzyklus jener Zeit ein historiographisch-literarisches Paradigma verwirklicht ist, das dem in der ›Väterliteratur‹ anzutreffenden erstaunlich nahekommt: Im Gegensatz zu Freytag vertritt Theodor Fontane in Vor dem Sturm nämlich eine Geschichtskonzeption, der jeglicher bornierte Nationalismus abgeht; wie die ›Väterbücher‹ hundert Jahre später stellt sich Fontanes historiographische Dichtung nicht in 1614 Zwei aktuelle Beispiele seien kurz genannt. In Thomas Hettches Roman Die Liebe der Väter (2010) geht es um einen Sorgerechtsstreit, der aus der Perspektive eines leidenden Vaters beschrieben wird. Peter Wawerzinek, der als Kind von seiner Mutter in einem DDRWaisenheim ausgesetzt wurde, verarbeitet sein Lebenstrauma in Rabenliebe (2010). Diese jüngsten literarischen Bearbeitungen der Elternthematik sind sehr weit entfernt von der Konfrontation einer bestimmten geschichtlichen Konstellation, wie sie in der ›Väterliteratur‹ betrieben wird: Die Anliegen der ›zweiten Generation‹ – Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit, Überwindung der Lügen und der Schuld der Eltern – haben für diese Autoren keine Relevanz mehr ; im Zentrum stehen aktuelle Probleme wie die Rolle der Väter in Trennungsprozessen und die Auseinandersetzung mit der DDR, oder aber subjektive und persönliche Traumata wie, im Falle Wawerzineks, die Aussetzung durch die Mutter.

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den Dienst übergeordneter Ideologien oder Geschichtsphilosophien, sondern offenbart und verarbeitet die überwältigende Komplexität, Mannigfaltigkeit und Ambivalenz aller Historie und Überlieferung. Mit seinen Ahnen partizipiert Freytag an der fatalen Tradierung von Feindbildern und Trugschlüssen über ethnische Homogenität und Identität (man denke an die Passagen über die ›Welschen‹) – auf der Basis eines skeptischeren und unideologischen Geschichtsbilds wird solche Tradierung dagegen bei Fontane kritisch analysiert und problematisiert, und dasselbe geschieht in den meisten ›Väterbüchern‹. Man denke nur an Schwaigers Kritik an der nationalsozialistisch verseuchten Sprache, in der alte Ressentiments weiterwuchern, oder auch an Seurens und Gauchs produktive Auseinandersetzung mit der väterlichen Ideologie durch eigene Forschung und Analyse, oder an das Aufbegehren von Vesper, Henisch, Plessen, Rehmann und anderen Autoren gegen institutionalisierte Verdrängungsakte und an ihren Einsatz für ein ungeschöntes Geschichtsverständnis ohne Blindstellen und Ellipsen. Das politische und kritische Potenzial der ›Väterliteratur‹, in welcher im Rahmen einer weitläufigen ›Vertrauenskrise‹ Geschichte geschrieben und umgeschrieben wird und deren Autoren gegen die allzu deutlichen Diskrepanzen zwischen dem etablierten Funktionsgedächtnis und dem Wissensstand des Speichergedächtnisses aufbegehren, ist also meines Erachtens in der historischen Literatur des 19. Jahrhunderts bereits angelegt: Zunächst im nationalistischen Gegenbild der nüchternen historiographischen Bemühungen der ›Väterliteratur‹ – in Form von Gustav Freytags Instrumentalisierung historiographischen Schreibens für eher sinistre politische Zwecke –, dann aber spiegelbildlich in Theodor Fontanes eigenwilligem historischem Romanzyklus Vor dem Sturm. Dieser hinterfragt die »national stereotypes to which [readers] had become accustomed«1615 mit einem ähnlichen Gestus wie die ›Väterliteratur‹ ein Säkulum später die stereotypen elterlichen Überlieferungen, das öffentliche Geschichtsbewusstsein (oder den Mangel desselben) und überhaupt den problematischen Umgang der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Etablierung dieser Traditionslinie hat uns auch geholfen, einige skizzenhafte Erklärungsversuche für die Genese und die Entstehungsbedingungen der ›Väterliteratur‹ in den Siebzigerjahren zu erarbeiten. Wir haben nämlich gesehen, dass die ›Väterliteratur‹ im Grunde wie die besprochenen historischen Romane auf einen spezifischen historischen Augenblick reagieren, dass sie also mitnichten in eine ahistorische Tradition wie die neue Subjektivität einzuordnen sind. Als Beleg für diese Spezifität der ›Väterliteratur‹ diente zum einen der Umstand, dass die gedächtnistheoretische Begrifflichkeit Aleida Assmanns auf sie angewendet werden kann. Zum andern verriet ein Blick auf die Publikationsgeschichte der 1615 Woodford: p. 274.

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hier behandelten Werke, dass sie offenbar zumeist nur innerhalb des Zeitfensters, in welchem sie entstanden, für Verlage und Rezipienten von Interesse waren. Ausgehend von diesen Beobachtungen konnten wir den geschichtlichen Moment der Entstehung der ›Väterliteratur‹ umreißen, ohne dabei durch die unpassende Kategorie der neuen Subjektivität abgelenkt zu werden. So wurde deutlich, dass die in dieser Studie diskutierten Texte aus einer Situation mit großer produktions- und wirkungsästhetischer Spezifität entstanden und wohl zudem durch bislang kaum oder überhaupt nicht berücksichtigte Einflüsse geformt wurden, zum Beispiel die Fernsehserie Holocaust und vor allem Gavino Leddas Roman Padre Padrone, einschließlich dessen Verfilmung durch die Gebrüder Taviani. Eine eingehende Analyse dieser Einflüsse würde über den Skopus dieser Arbeit hinausgehen und hätte eine eigene Studie verdient. Es bleibt jedenfalls die Erkenntnis, dass ein Verweis auf die neue Subjektivität auch in Bezug auf das Aufkommen der ›Väterliteratur‹ nur geringen Erklärungswert hat und dass ein Zugang zu diesen Texten stärker die historische Situation berücksichtigen sollte, in der sie entstanden – genau das tut diese Arbeit, indem sie Konzepte wie das der ›Vertrauenskrise‹ einführt und ein Schlaglicht auf das historiographische Erkenntnisinteresse der ›Väterbücher‹ wirft. Dieses exkursartige Kapitel sollte gezeigt haben, dass unsere Ergänzung und Präzisierung einer historischen Einordnung der ›Väterliteratur‹ fruchtbar ist: Die in dieser Studie diskutierten ›Väterbücher‹ stehen nicht nur, wie bisher in der Sekundärliteratur behauptet, in der Schuld des Sturm und Drang und des Expressionismus, sondern sind, im Hinblick auf ihren (historiographischen) Gestus, auf komplexe Weise verwandt mit den historischen Romanen des späten 19. Jahrhunderts. Auf der Basis dieser Konfiguration können wir einerseits eine Traditionslinie etablieren, in welcher die ›Väterliteratur‹ figuriert – es handelt sich offenbar nicht um einen erratischen Solitär, wie wir das zu Beginn dieses Kapitels ausdrückten –; andererseits werden die ›Väterbücher‹ begreifbar als literarische Antworten auf Fragen, die durch einen bestimmten geschichtlichen Moment aufgeworfen sind, und auch in dieser Hinsicht sind sie nahe mit dem historischen Roman verwandt.

11. Ausblick

Wir haben einleitend festgehalten, dass diese Arbeit im Grunde ein terminologisches Problem behandeln werde. Obwohl auch ganz andere Fragestellungen und Thesen zur Sprache kamen, bildet die Begriffskritik immer noch den Kern der hier angestellten Überlegungen: Ziel war stets die Identifizierung begrifflicher und literaturgeschichtlicher Unschärfe. Wir haben uns bemüht, mit größtmöglicher Transparenz und Stringenz den Komplex der ›Väterliteratur‹ unter ein Schlaglicht zu stellen und die simple Frage zu beantworten, ob dieser Begriff einer näheren Betrachtung standhält und ob er überhaupt irgendeinen Erkenntnisgewinn bringt. Unsere Einzelanalysen der ›Väterbücher‹ in den beiden Teilen dieser Studie haben deutlich gemacht, dass das Konzept der ›Väterliteratur‹ eine adäquate Analyse der diskutierten Texte erschwert. Dies einerseits, weil ›Väterliteratur‹, wie wir bereits in der Einleitung zeigten, ein widersprüchlich und oberflächlich definierter Begriff ist, und andererseits, weil die einzelnen ›Väterbücher‹ den widersprüchlichen Prämissen dieses Begriffs selten entsprechen. Das Korpus der ›Väterliteratur‹ ist gezeichnet von Heterogenität. Immer wieder wurde im Verlauf dieser Studie deutlich, dass die besprochenen Autorinnen und Autoren nicht einfach nur eine Konfrontation mit ihren Vätern im Sinne eines plumpen ›Generationenkonflikts‹ suchen, wie das der Terminus ›Väterliteratur‹ suggeriert. Ebensowenig entsprechen die einzelnen Werke der neuen Subjektivität, in welche die ›Väterliteratur‹ von der Forschung oft eingeordnet wird. Das wichtigste Charakteristikum der ›Väterbücher‹ scheint das der Heterogenität zu sein: In jedem diskutierten Text begegnen genuin eigene Zugänge zu komplexen Problemstellungen, wobei die formal- und wirkungsästhetische Variabilität so groß ist, dass die Etablierung eines gemeinsamen Genres abstrus erscheinen muss: Auch eine sehr flüchtige Lektüre der vorliegenden Arbeit sollte gezeigt haben, dass Werke wie Die Reise, die Suchbilder, Die kleine Figur meines Vaters oder Nachgetragene Liebe nur mit enormer interpretatorischer Anstrengung in denselben Topf geworfen werden können. In der Tat ist die Heterogenität, die wir in unserer Auseinandersetzung mit der ›Väterliteratur‹ an-

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treffen, so frappierend, dass man sich zunächst fragen muss, wie es je zur Etablierung der homogenisierenden Kategorie der ›Väterliteratur‹ kommen konnte. Diese nivelliert ja alle Differenzen zwischen den hier behandelten Werken in geradezu gewaltsamer und offensichtlich problematischer Weise, weshalb es überrascht, dass die Vorstellung einer ›Väterliteratur‹ bislang nur von Reinhold Grimm grundsätzlich und von Ralph Gehrke äußerst oberflächlich kritisiert wurde. Heute sind diese kritischen Stimmen weitgehend verstummt. In einem der jüngeren Sekundärtexte zur ›Väterliteratur‹ – Aleida Assmanns Aufsatz über »Hilflose Despoten« – begegnen interessante Gedankengänge, aber der Begriff ›Väterliteratur‹ wird gedankenlos und vollkommen unhinterfragt verwendet. Ich selber machte eine einschlägige Erfahrung, als ich im Oktober 2010 an die University of Cincinnati reiste, um im Rahmen einer germanistischen Tagung mit dem Titel »(Not) Talking About My Generation« ein Expos¦ der vorliegenden Arbeit vorzustellen. Meine aufgrund der kurzen Vortragszeit etwas polemisch gefärbte Grundsatzkritik am Konzept der ›Väterliteratur‹ wurde mit Interesse aufgenommen, und der vielleicht interessanteste Befund der auf den Vortrag folgenden Debatte war die Erkenntnis einiger Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmer, dass auch sie in Arbeiten und Seminaren bereits von ›Väterliteratur‹ gesprochen hatten, ohne sich jemals über die Praktikabilität und Angemessenheit des Begriffs Gedanken zu machen. Den aktuellsten Beitrag zum Thema bildet Mathias Brandstädters Studie Folgeschäden, deren Leistung meines Erachtens primär in der fundierten Kritik an der bisherigen Forschung zur ›Väterliteratur‹ und der akribischen Herausarbeitung der literaturwissenschaftlichen Desiderate besteht – Brandstädters Studie mündet aber, wie gezeigt wurde, dennoch in einen Versuch, die ›Väterliteratur‹ als »Genre«1616 mit einer langen Geschichte und einem breiten Korpus neu zu fassen, statt das Konzept grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Die Tatsache, dass die Vorstellung einer ›Väterliteratur‹, mit all ihren Widersprüchen und Unklarheiten, in die Literaturgeschichte eingegangen ist, gibt zu denken – ebenso wie die Tatsache, dass aktuellste Beiträge wie derjenige von Brandstädter die Probleme des Konzepts zwar hellsichtig erkennen, es aber dennoch gleichsam noch zu ›retten‹ und als praktikablen, »philologisch untersucht[en]«1617 Genrebegriff am Leben zu halten versuchen. Vielleicht wird die Karriere des Terminus aber verständlicher, wenn man sich die Paradoxie vergegenwärtigt, die wir schon in der Einleitung erwähnten und die womöglich für die ›Väterbücher‹ konstitutiv ist: Die in diesen Texten geschilderten individuellen Problemstellungen weisen zwar ein hohes Maß an autobiographischer Spezifität auf – daher die Heterogenität der ›Väterbücher‹ –, entstehen aber vor 1616 Brandstädter: p. 295. 1617 Ebd.

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dem Hintergrund übergeordneter geschichtlicher und gesellschaftlicher Konstellationen, die auch die Generationsgenossen der Autorinnen und Autoren betreffen. Die ›Väterliteratur‹ ist also ein paradoxes Gemisch aus subjektiver Reflexion über private Anliegen und zeitkritischen, historiographischen Bemühungen, was auch einige Autorinnen und Autoren selber mit einer gewissen Verwirrung bemerkten: »Ich glaube, über Privates zu schreiben, und plötzlich sieht man, das hat auch etwas mit Sozialem und Politischem zu tun«1618, äußert sich beispielsweise Schutting. Dieses Zusammentreffen von subjektiven und politisch-historiographischen Anliegen hängt, wie wir zu zeigen versuchten, mit der spezifischen Situation zusammen, in welcher die ›Väterliteratur‹ Ende der Siebzigerjahre entstand: Durch den Tod oder die Krankheit der Väter, also primär aufgrund eines privaten Problems, das sich im Familienraum konstituiert, waren die Autorinnen und Autoren zur analytischen Auseinandersetzung nicht nur mit der elterlichen Vergangenheit gezwungen, sondern überhaupt mit dem verfestigten Funktionsgedächtnis jener Zeit (wobei diese Auseinandersetzung, wie wir präzisierend zeigten, in vielen Fällen lange vor dem Tod der Väter begann und auch einen dialogischen Verlauf nehmen konnte). Indem nun die bisherige Forschung die ›Väterliteratur‹ wahlweise als Phänomen der neuen Subjektivität oder als Ausdruck eines kämpferischen ›Generationenkonflikts‹ begriff, hat sie in widersprüchlicher Weise mal den einen, mal den anderen Aspekt des erwähnten paradoxen Gemischs privilegiert. Am Ende dieser Entwicklung in der germanistischen Forschung steht die heutige Situation, in der ein ganzes Korpus facettenreicher Texte mit einem widersprüchlichen Terminus bezeichnet und einer unpassenden literarhistorischen Kategorie – derjenigen der neuen Subjektivität – zugeordnet wird. Nun darf man, auch wenn man die in dieser Arbeit gemachten Beobachtungen nicht rundweg ablehnt, mit einigem Recht fragen, ob einer solchen Problematik wirklich mehrere hundert Seiten zu widmen sind. Den Vorwurf, in dieser Arbeit ad infinitum ausgewalzte pedantische Begriffskritik betrieben zu haben, würde ich durchaus gelten lassen, aber eine kurze Selbstrechtfertigung sei an dieser Stelle gestattet. In den letzten Jahrzehnten haben mannigfache theoretische Anliegen – ›-ismen‹ aller Art – Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden. Man mag von diesen Entwicklungen halten, was man will: Mir aber ist die Feststellung wichtig, dass die Germanistik im Kern nach wie vor eine historische Wissenschaft ist, und wenn eine historische Wissenschaft mit unzureichenden und mangelhaft geprüften Terminologien und Klassifikationen operiert, so ist das fatal. Unsere Analyse des problematischen Konstrukts der ›Väterliteratur‹ soll mithin auch eine einfache Tatsache in Erinnerung rufen: Eine Literaturwissenschaft, zu deren Rüstzeug schwammige und irreführende 1618 Deutsche Väter : p. 132.

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Begrifflichkeiten zählen und die historische Zuordnungen vornimmt, welche ihrem Forschungsgegenstand nicht gerecht werden, begibt sich auf gefährliches Terrain. Im Zuge unserer Ausführungen ist somit, wie in der Einleitung angekündigt, ein spezifisches methodologisches Problem immer stärker in den Vordergrund gerückt: Wenn Literaturgeschichtsschreibung, wie Albert Meier sagt, nicht nur »[r]egistrieren« und »[a]uswerten«, sondern auch »Erkenntnisse an andere […] vermitteln« soll – also »Material […] erschließen und dessen Brauchbarkeit […] sichern«1619 –, dann stellt sich die Frage, welche Kompromisse die Forschung zu Gunsten dieser Vermittlungsleistung eingehen soll. Anders ausgedrückt: Der Fall der ›Väterliteratur‹ wirft die in zukünftigen Studien eingehend zu diskutierende Frage auf, welcher Grad an Komplexitätsreduktion und simplifizierender Modellbildung in der Literaturgeschichte überhaupt vertretbar ist. Diese Problemstellung ist im Begriff der »Gattung« selbst ja schon angelegt, jedenfalls wenn man unter Gattungen »Textgruppenbildungen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades«1620 versteht: Das Beispiel der ›Väterliteratur‹ zwingt geradezu zur Grundsatzfrage, ab wann eine derartige »Textgruppenbildung« auf der Basis eines konstatierten »Allgemeinheitsgrades« legitim ist. Und wenn es stimmt, dass sich Gattungen […] am ehesten über den Wittgensteinschen Begriff der ›Familienähnlichkeit‹ beschreiben [lassen], der kein Klassen-, sondern ein Typusbegriff ist und nicht voraussetzt, daß alle ›Mitglieder‹ einer ›Familie‹ durch eine bestimmte Menge gemeinsamer Merkmale charakterisiert sind, sondern daß die Ähnlichkeit zwischen den ›Familienmitgliedern‹ auf jeweils unterschiedlichen Mengen sich unterschiedlich überlappender Merkmale basiert1621

– so fragt sich zudem, ab welchem Grad an ›Familienähnlichkeit‹ eine literarische Gattung postuliert werden kann und wie mit Phänomenen wie den ›Väterbüchern‹ umzugehen ist, deren ›Familienähnlichkeit‹ höchstens oberflächlich und damit trügerisch ist. Was den in dieser Studie behandelten Komplex betrifft, ist zu hoffen, dass unsere bisherigen Analysen Klarheit geschaffen haben: Die Rede von der ›Väterliteratur‹ ist ein Beispiel misslungener literarhistorischer Vereinfachung und Begriffsbildung; ein Beispiel für »historische Reflexion«, die »Modelle expliziert, statt Wahrheit zu ermitteln«1622, ohne je zu fragen, ob eine Anwendung der Modelle auf die Forschungsgegenstände überhaupt einen Erkenntnisgewinn 1619 Meier, Albert: »Literaturgeschichtsschreibung«. Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München: dtv, 62003: p. 570 – 584. Hier: p. 570. 1620 Hempfer, Klaus W.: »Gattung«. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar et al. Berlin & New York: De Gruyter, 2007: p. 651 – 655. Hier : p. 651. 1621 Ebd.: p. 653. 1622 Ebd.: p. 573.

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bringt. So hat diese Arbeit versucht, im Sinne einer für Geschichtsschreibung aller Art unbestritten essenziellen »zweckgebundene[n] Reduktion von Komplexität«1623, neue Modelle einzuführen, um die ›Väterbücher‹ adäquat zu beschreiben und literarhistorisch zu situieren. Eine solche neue Lesart der ›Väterliteratur‹, das hofft der Verfasser gezeigt zu haben, wird am ehesten durch den unverdorbenen Terminus der ›Vertrauenskrise‹ ermöglicht, aber auch durch die konsequente Klassifizierung der ›Väterbücher‹ als Hybride von Literatur und Geschichtsschreibung – eine Klassifizierung, die uns im letzten Kapitel dieser Arbeit sogar einen Brückenschlag zur Tradition des deutschsprachigen historischen Romans des 19. Jahrhunderts ermöglichte, mit der die ›Väterliteratur‹ als historiographische Bearbeitung einer bestimmten geschichtlichen Konstellation verwandt ist. Es mag verwirrend wirken, dass die in der vorliegenden Studie vorgenommene »Reduktion von Komplexität« auf den ersten Blick zu mehr Komplexität führt – schließlich ist ›Vertrauenskrise‹ ein umständlicherer Begriff als ›Väterliteratur‹, und wir haben eine Vielzahl von Präzisierungen und Bezügen eingeführt, die den Zugang zur ›Väterliteratur‹ prima facie nicht erleichtern. Die Tatsache, dass wir trotz unserer Begriffskritik im Verlauf dieser Arbeit stets von ›Väterbüchern‹ und ›Väterliteratur‹ sprachen – allerdings jeweils mit distanzierenden einfachen Anführungszeichen –, belegt die verführerische Prägnanz dieser Termini. Diese Prägnanz ist aber eine illusorische, wie wir immer wieder zeigen konnten, und so besteht unser Forschungsbeitrag gerade in der Rückgängigmachung einer Komplexitätsreduktion, die eben nicht »zweckgebunden []«, sondern immer schon irreführend war, und die nicht zu einem besseren Verständnis der hier behandelten Werke beitrug. Dementsprechend möchte ich die vorliegende Studie als Beitrag zu einem spezifischen germanistischen Problemfall verstanden wissen, aber auch als Präzisierung und Vervollständigung eines nicht zufriedenstellend bearbeiteten Kapitels in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Ich schließe in der Hoffnung, dass meine stellenweise stark zugespitzte Begriffskritik der zukünftigen Forschung über die ›Väterbücher‹ gewisse Impulse verleihen möge, ganz im Sinne von Wolfgang Frühwalds eingangs zitierter Äußerung: »Eine hermeneutische Wissenschaft, die nicht mehr nach Bedeutungen fragt, gibt sich selbst auf«1624.

1623 Ebd.: p. 583; Hervorhebung nicht im Original. 1624 Deutsche Väter : p. 130.

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Palaestra – Untersuchungen zur europäischen Literatur Filippo Smerilli Moderne – Sprache – Körper Analysen zum Verhältnis von Körpererfahrung und Sprachkritik in erzählenden Texten Robert Musils ISBN 978-3-89971-710-5 Sprach- und Körperthematik in Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«, »Vereinigungen« und »Der Mann ohne Eigenschaften«. Wolfgang Struck Die Eroberung der Phantasie Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik ISBN 978-3-89971-769-3 Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Caroline A. Lodemann Regie als Autorschaft Eine diskurskritische Studie zu Schlingensiefs ›Parsifal‹ ISBN 978-3-89971-624-5 Beziehungen von Text und Inszenierung in der Aufführung im Hinblick auf Zuschreibung und Markierung von Autorschaft. Vera Hildenbrandt Europa in Alfred Döblins Amazonas-Trilogie Diagnose eines kranken Kontinents ISBN 978-3-89971-817-1 Döblin mit Papier und Bleistift auf der Spur der Krankheit des modernen Europa.

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Gegenwartsliteratur

Carsten Gansel / Werner Liersch (Hg.) Hans Fallada und die literarische Moderne Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Bd. 6 224 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-689-4 Gerhard Jens Lüdeker / Dominik Orth (Hg.) Nach-Wende-Narrationen Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Bd. 7 217 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-655-9 Carsten Gansel / Heinrich Kaulen (Hg.) Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989 Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Bd. 8 411 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-811-9 Frieder von Ammon / Peer Trilcke / Alena Scharfschwert (Hg.) Das Gellen der Tinte. Zum Werk Thomas Klings Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, Bd. 9 463 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-874-4

Leseproben und weitere Informationen unter www.vr-unipress.de Email: [email protected] | Tel.: +49 (0)551 / 50 84-301 | Fax: +49 (0)551 / 50 84-333